Der Erbe Polens
Karol Wojtyla hat mehrmals gesagt,
dass er das, was seinen Werdegang bestimmt hat, seinem Land und dessen
Geschichte verdankt. Er ist ein Mann, der von der Erinnerung und der
Dankbarkeit für jene geprägt ist, die ihn herangebildet haben.
Polen, das Jahrhunderte lang gelitten
hat, hat ihn Demut, Geduld, Hoffnung, Liebe zu seinem Land gelehrt, über das
er mit Begeisterung spricht, sogar in seinem letzten Buch: Erinnerung und
Identität. Karol ist ein Mann der Wurzeln, ohne die der Mensch ein Strohhalm
ist.
Er hat viel von seiner Familie empfangen: die Dankbarkeit für die
Mutterschaft, die Achtung vor der Frau, die sittliche Geradheit und den Sinn
für den Dienst, den er von seinem Vater und Offizier, und von seinem Bruder
und Arzt geerbt hat. Von seiner Schwester, die früh als kleinkind starb, hat
er für immer die Hochachtung vor dem Leben und die Liebe zu den Kindern
erhalten. Seine Priester und Oberen — von Pater Figlewitz bis zu Kardinal
Sapieha — vermittelten ihm den Geist der Opferbereitschaft, den Sinn für das
Heilige, für den selbstlosen Einsatz.
Der Krieg, der zu den Verlusten
innerhalb seiner Familie hinzukommt, die ihn zum Waisen gemacht haben, weckt
in ihm Schmerz und ein unermessliches Mitleid für andere. Er ist jener junge
Mann, dessen Herz weiter ist als seine Schultern breit sind und der 1945
Elisabeth Tzirer, ein jüdisches junges Mädchen rettet, die ausgemergelt aus
einem Konzentrationslager kam.
Durch seine Erfahrung als Priester,
Bischof und Kardinal erlangte er — vor allem zur Zeit des Konzils — die
unverzichtbare Erfahrung von Kirche. Sie ist nach der Jungfrau Maria
sozusagen seine dritte Mutter geworden. Von dieser Mutter bezieht er einen
«Lebenssaft», der sein seelsorgerliches Handeln immer intensiver anregte, so
dass Paul VI. ihn sozusagen zu seinem Kronprinzen machte.
Das geistliche und
sittliche Erbe von Johannes Paul II.
Seine kirchliche Lehre ist sein
vorrangiges Erbe, verglichen mit seiner Sendung als allumfassender Hirte. Es
ist beträchtlich, sowohl durch seine Dichte als auch durch sein
«lichtreiches» Gepräge (G. Galassi, Dienstältester der Botschafter), durch
seinen Einsatz für die Ökumene und mehr noch für die Neuevangelisation.
Kaum angetreten, setzte der neue
Papst das «Aggiornamento» des Konzils und die Reform von Paul VI. fort, was
die kirchlichen Organe und das Leben der Kirche betraf. Er strukturierte die
Kurie neu, fügte Dikasterien (Zentralbehörden innerhalb der Kurie) hinzu
oder gründete sie neu und schuf die Päpstlichen Räte. Er reformierte und
vermehrte die verschiedenen Synoden und Konsistorien, darunter die der
Kardinäle, modernisierte das Kirchenrecht und verlieh den regelmäßigen
Ad-Limina Besuchen der Bischöfe ein herzlich- mit menschlicheres Gesicht.
Obwohl er die Regierung der Kirche fest in der Hand behielt,
dezentralisierte und demokratisierte er ihre Funktionsweise, um sie unserer
Zeit anzupassen. Er selbst nahm ein einfaches und herzliches Benehmen an
(Schluss mit der Sedia!) und öffnete die Tore des Vatikans wie die seines
Herzens.
Er führte das Lehramt der Kirche zu
einem Hohepunkt, indem er selbst mehr veröffentlichte als alle seine
Vorgänger zusammen. Ein «Sprudeln der Lehre» (A. Frossard): ein
ununterbrochener Strom von Enzykliken (14), Briefen, apostolischen
Schreiben, Konstitutionen und andere Lehren, ohne von seiner wöchentlichen
Katechese, seinen unzähligen Predigten und Reden zu sprechen. Er behandelte
alle Themen der kirchlichen Lehre, ließ nichts im Schatten, ging alle
Irrtümer, Zweifel und Relativierungen an. So erscheint er als «Meister der
Wahrheit», der die Bischöfe unablässig ermahnte, sie überall mit Glauben und
Nachdruck zu fördern.
Diese Wahrheit legte er in seinem
Katholischen Katechismus dar — dem Meisterwerk seines Pontifikates.
Das Tun mit dem Wort verbindend, nahm
er seinen Pilgerstab und wurde auf den Spuren des heiligen Paulus und Pauls
VI. der größte Missionar der Kirche. In 104 apostolischen Reisen zog er über
die ganze Erde, ohne seine Reisen durch Italien und seine Besuche in seinen
etwa 300 Diözesangemeinden zu zählen. Nach dem Jahr 2000, als er schwer von
der Krankheit gezeichnet war, hatte er keine andere Möglichkeit als sie zu
sich in den Saal Paul VI. zu rufen. Dieser erschöpfende Marathon erlaubte
ihm einerseits, frische Luft in den Vatikan zu bringen und sich vor Ort zu
informieren, und andrerseits vor allem die Neuevangelisierung anzufangen,
die das zentrale Leitmotiv seines fruchtbaren Pontifikates war.
Johannes Paul II. hat das Verdienst,
dass er die ökumenische Öffnung seiner beiden Vorgänger noch weiter
vorangebracht hat. Unaufhörlich hat er den anderen christlichen Religionen
die Hand hingehalten. Riesige Fortschritte gab es sowohl in den Diskussionen
wie in den Haltungen, ungeachtet einiger Widerstände (des russischen
Patriarchates). Der interreligiöse Dialog erlaubte, die Versöhnung mit dem
Judentum zu festigen und die Verständigung mit dem Islam zu ermöglichen, der
sich in beunruhigendem Ausmaß in Europa ausbreitet. Der Heilige Vater konnte
den Aufschwung der Sekten in Lateinamerika wie in Afrika nicht aufhalten.
Der Klerus vor Ort wird sich mehr einsetzen müssen.
Seine theologische Ausbildung mit
seinen Gaben als Philosoph verbindend, verlieh er der Sittenlehre den Rang,
den eine in ihren sittlichen Grundlagen zutiefst erschütterte Menschheit
braucht. Mit mutiger Leidenschaft und Beharrlichkeit verkündete er das
Evangelium der Werte, angefangen beim Leben, dessen unermüdlicher
Verteidiger er wird: Das Leben, stets das Leben, von der Empfängnis bis zur
Schwelle des Todes: «Es gibt eine Verschwörung gegen das Leben. Das Leben
ist jedoch ein heiliges Geschenk, über das sich niemand zum Herrn erheben
darf.» Seine persönliche und nationale Erfahrung hat ihn genauso wie das
Evangelium von der Notwendigkeit überzeugt, dass die Kultur des Todes durch
das «Evangelium des Lebens» ausgelöscht werden muss. Unter diesem
Gesichtspunkt benützt er seine ganze frühere, seelsorgerliche Erfahrung
(Taten und Schriften), um über Berg und Tal die Familie und die Ehe als
Geschenk Gottes zu verteidigen, um gegen die dekadenten Laster unserer Zeit
anzukämpfen, um den Jugendlichen Hoffnung zu geben und unsere Generation zu
retten. In dieser Absicht schuf er den Päpstlichen Rat für die Familie sowie
die Akademie für das Leben, zu dessen erstem Präsidenten er Professor Jérôme
Lejeune ernennt. Seine Begegnungen mit den Familien in Rom wie in Rio oder
an anderen Orten, seine manchmal strengen Mahnungen, das Leben zu
verteidigen, sind berühmt geworden. In seinen Beiträgen hat er mit dem
klarem Blick, den ihm der Heilige Geist schenkte, gezeigt wie sehr die
Mächtigen in ihrer Herrschsucht und Gier auf teuflische Weise das Leben
beeinträchtigen und so entgegen ihres eigenen Interesses die Zukunft der
menschlichen Gesellschaft insgesamt gefährden.
Unter den zu fördernden Werten
erscheint auch die Zivilisation. Als sprühender und zutiefst gebildeter
Geist hat er in seiner unvergesslichen Rede vor der UNESCO (1980) sein
päpstliches Programm diesbezüglich dargelegt. Der Papst interessierte sich
für alle aktuellen Fragen innerhalb des erneuerten Rates und stellte sich
Fragen zu den gegenwärtigen Problemen. Er empfing Wissenschaftler und
Forscher, ließ Nachforschungen anstellen (Inquisition), rehabilitierte
Gelehrte (Galilei) oder bestätigte ihre Entdeckungen (Kopernikus). So
vermittelte er die Ansicht der Kirche zu den großen Fragen unserer
Zivilisation, von der Genetik bis zur Umwelt, und er gab der Wissenschaft
ihren Stellenwert, «aber nie ohne das Gewissen», wie Rabelais sagte. Die
Heiligsprechung von Edith Stein veranschaulicht weiter, wie Johannes Paul
II. sich um die Wissenschaft bemühte. Auf höchster Ebene setzte er sich
dafür ein, das Evangelium in die Kultur einzubinden, indem er «ihm im
täglichen Leben gemäß dem den Kulturen entsprechenden Wesen Ausdruck
verleiht» (J. P. II.), sowie die Kultur zu evangelisieren, indem man sie mit
göttlichen und sittlichen Prinzipien erfüllt. Diese Frage ist für ihn so
wichtig, «dass es dabei um die Zukunft der Menschheit geht».
Er selbst schrieb weiterhin Werke,
empfing Persönlichkeiten aus Kultur und Bildung, schuf die Päpstliche
Akademie der Sozialwissenschaften, bestimmte ihre Vertreter — nicht nur
männlichen Geschlechts — für die Delegationen des Heiligen Stuhles
(Marie-Ann Glendon bei der Konferenz in Kairo über die Frauen). Er kümmerte
sich um die Kunst, ließ die Sixtinische Kapelle renovieren und besichtigte
die herrlichen Mosaike von Ravenna unter der Leitung seines Freundes André
Frossard.
Die Liebe zum Menschen:
«Ich will der Zeuge der allumfassenden Liebe sein.» (20.10.1978)
Seine liebevolle Fürsorge für den
Menschen
Gleich zu Beginn des Pontifikates hat
er dieses Versprechen gegeben und es in bewundernswerter Weise gehalten. Im
Mittelpunkt seines Hirtenamtes hinterlässt Johannes Paul II. also ein
entscheidendes Erbe, das eines unerschütterlichen und unermüdlichen Hirten,
der sich in den Dienst der Menschen stellt und keinen Augenblick vergisst,
dass dieser in seiner Würde und in seiner Bestimmung einmalig ist, dass er
in den Augen Gottes so wichtig ist, dass er seinen Sohn gesandt hat, um ihn
zu erlösen. Seine ganze Ausbildung, seine Forschungen, seine Suche nach dem
Nächsten, seine Geschichte, seine seelsorgerliche Ausrichtung führen ihn zu
dem, was er das Studium der Anthropologie oder der Wissenschaft des Menschen
nennt, und darüber hinaus unter dem Blickwinkel des Evangeliums zur Suche
nach dem Nächsten. Für ihn gilt mehr noch als für Terenz: «Nichts von dem
was menschlich ist, war ihm fremd.» Eindrückliche Bilder von dieser Macht
der Liebe bleiben uns in Erinnerung.
Er verteidigte die menschliche Person
gegen alle individuellen oder kollektiven Bedrohungen auf allen Ebenen und
in allen Situationen und kämpfte für eine brüderliche, gerechte, friedvolle
Welt. Von seinem Stuhl in Rom aus brachte er auf internationalem Gebiet und
in allen Himmelsrichtungen das Evangelium in Taten zum Ausdruck, indem er
sich über so viel Not neigte, die Mächtigen beschwor, mit der Dritten Welt
zu teilen. Man begegnete ihm in den Elendsvierteln von Brasilien, wo er ein
armes kleines Mädchen tröstete, wo ein Junge sich in seinen Mantel schmiegt,
wo er in einem Land der Anden einem Arbeiter zuhörte, der unter Tränen die
unmenschlichen Arbeitsbedingungen seiner Brüder darlegte. Und genauso in
Afrika, wo er in die Hütte einer notleidenden Familie ging und für die
Sahelzone eine Hilfsorganisation gründete («Der Aufruf von Ouagadougou»).
Man sah ihn in Kambodscha einen
Flüchtling aus den kommunistischen Lagern zum Priester weihen. Er wusste,
dass die Leiden der Gegenwart ihre Wurzeln in der Schuld der Vergangenheit
haben: Auf der Insel Gorea beklagte er die Sklaverei früherer Zeiten; in
Jerusalem, an der Gedenkstätte von Yad Vashem, sprach er über den Holocaust
der Juden. Vor der Klagemauer bat er um Vergebung für die Irrtümer der
Christen. Alles hat begonnen, als er während des Krieges den Opfern zu Hilfe
kam, Elisabeth Tzirer auf seinen Armen trug und zwanzig Jahre später als
Bischof Wojtyla den Vergebungsbrief des polnischen Episkopates an seine
deutschen Mitbrüder anregte und so die Tür zur Versöhnung öffnete.
Sein ganzes Pontifikat über hat man
gesehen, wie er auf jeden Menschen, auf die Menschenmengen — bis zu 5
Millionen Menschen in Manila — zuging, zuhörte, sich mit ihnen unterhielt,
Ratschläge gab, sie stärkte und tröstete, von den Kindern bis zu den Kranken
(das aidskranke Kind in Los Angeles), von den Seminaristen bis zu den
Häftlingen (er hat seinen Mörder Ali Agça im Gefängnis besucht und ihm dort
von neuem vergeben.) Er hat niemanden von seiner Liebe ausgeschlossen. Er
hat seine Zeit damit verbracht, zu beten und zu lieben. Bei diesem Marathon
der Liebe ist er einer von Gott geschenkte Gehilfin begegnet, die seiner
würdig war: Mutter Teresa, die er kurz nach ihrem Tod seliggesprochen hat.
Bei Privataudienzen und kirchlichen wie internationalen Treffen ist er
Hunderttausenden von Menschen begegnet und wurde vom Fernsehen für jene
übertragen, die nicht zu ihm kommen konnten. Nur wenige haben ihn abgelehnt;
doch wie man sagte, ist er heute gegenwärtiger denn je, er kann wie er will
nach Russland, nach China oder nach Vietnam gehen. Nichts kann der Liebe den
Weg verstellen. Aber der Liebe in der Wahrheit.
Die Diplomatie im Dienst am
Menschen
Deshalb hatte er zu Beginn seines
Pontifikates gesagt: «Als Christ und mehr noch als Papst bin und bleibe ich
der Zeuge der allumfassenden Liebe.» Ohne Einschränkung hat er seine im
Evangelium gründende Nächstenliebe auf die Ebene der internationalen
Gesellschaft übertragen. Ohne in die inneren Angelegenheiten der Staaten
einzugreifen, hat er doch nicht vergessen, dass er ein Herrscher ist, der
den Vatikanstaat leitet und dass er auf Grund seiner liebevollen Fürsorge
für die Menschheit nicht nur über die kirchlichen Angelegenheiten der
christlichen Nationen zu wachen hatte, sondern auch am internationalen Leben
mitarbeiten musste, um die Harmonie und die sittlichen Werte zu erhalten,
die unverzichtbare Grundlagen für das Wohlergehen der Völker sind. Das ist
einer der Gründe für seine ununterbrochenen Reisen.
Als Kardinal aus dem Osten bezeugte
er sehr schnell, dass es keine Kirche des Schweigens mehr gibt, denn von nun
an meldete er sich zu Wort. In der Tat hat kein Papst die Wahrheit über Gott
(das Kerygma) und über den Menschen so deutlich verkündet. Da er auch den
unerlässlichen Kampf um die civitas Dei auf Erden aufgenommen hat,
konzentrierte er ihn zunächst auf die nahe gelegane kommunistische Hölle in
Osteuropa. Mit Hilfe verschiedener Mittel, deren Schwerpunkt die barmherzige
Gnade von Fatima ist, hat er in großem Maße zum Zusammenbruch des
atheistischen Systems beigetragen, und dies gelang ihm in dem Augenblick, da
niemand wusste, wie und wann sich das verwirklichen könnte (1989-90). Am
Rande dessen befreite er sein Land und brachte die scheußliche Mauer von
Berlin und den finsteren Eisernen Vorhang zu Fall. In der Kraft der
Verheißung der «Dame» vom Rosenkranz begann er die berühmte Bekehrung
Russlands, doch er selbst erlebte die Früchte dieser Umkehr nicht mehr. Und
auch wenn er den Schraubstock von Fidel Castro etwas lockern konnte, so
konnte er doch das Maul des chinesischen Drachen nicht zum schweigen
bringen. Maria behält sich selbst den letzten großen Feind ihres Sohnes vor,
der mit Ihr in die «Wüste» geflohen ist.
In Anbetracht seines Elans, seine
Klugheit und seiner Unvoreingenommenheit wurde er mehrmals als Schlichter
bei internationalen Konflikten erwählt, stützte sich dabei auf den großen
Aufruf Pauls VI. («Nie mehr Krieg!») und auf seine eigenen Beiträge bei der
UNO und an anderen Stellen. So schuf er Frieden zwischen Chile und
Argentinien und setzte ohne Unterlass seine Vermittlung fort, wie auch
zwischen Israel und den palästinensischen Autoritäten.
Dank seiner Empfänge, seiner Reisen,
seines Handelns, seiner Spezialisten hat er den diplomatischen
Handlungsfreiraum des Heiligen Stuhls beträchtlich ausgedehnt, und seine
Vertretung bei der UNO und in Genf wurde in dem Maß verstärkt, in dem die
Autorität des Papstes zunahm. Von 1978 bis 2005 hat er die Zahl der
Nuntiaturen von 85 auf 176 (bei 192 Staaten!) erhöht und schuf offizielle
Verbindungen mit Russland, den USA oder Israel, was einen beispiellosen
Erfolg darstellt. Die Zeiten sind längst vorbei, da es 1906 nur zwei
akkreditierte Botschafter des Heiligen Stuhles gab.
Im «offenen Haus» des Vatikans oder
außerhalb ist er mit einer Anzahl von Staatschefs aus allen Gegenden (zu
denen die größten und die unerwartetsten zählen: Gorbatschov, Castro oder
Arafat), mit Regierungschefs, politischen Persönlichkeiten, Botschaftern und
verschiedenen Gesandten zusammengetroffen. Es erübrigt sich, Zahlen zu
nennen.
Das Erbe der Vaterschaft
Wenn wir die väterliche Ausstrahlung
betrachten, begeben wir uns in das Geheimnis und die Schatzkammer der
charismatischen und tiefen Persönlichkeit von Karol Wojtyla.
Die Vaterschaft Gottes umfasst alle Seiten der Liebe. Die des Heiligen
Vaters ist ein ergreifendes Abbild davon. Sie hat auf unserer verfinsterten
Erde einen hellen Strahl des göttlichen Lichtes aufscheinen lassen. Denn es
gilt wie in dem herrlichen Gleichnis vom verlorenen Sohn: Je weiter der
Mensch sich von seinem Vater entfernt, umso mehr braucht er ihn und umso
mehr erlaubt er dem Vater, die menschlichen Grenzen seiner Väterlichkeit zu
überschreiten. So hat Johannes Paul II. das unerreichbare Format seiner Güte
auf die ganze Welt ausgedehnt. Der frühe Verzicht auf alle seine irdischen
Zuneigungen hat ihn schnell in den Ozean der Liebe getaucht.
Ausgehend von seiner Erfahrung als
Katechet in seiner Gemeinde, dann als Studentenseelsorger sowie durch das
Praktizieren seiner Lehre in seinen karitativen Tätigkeiten hat Johannes
Paul II. alle Seiten seiner Väterlichkeit aufgezeigt, in erster Linie der
Jugend gegenüber. Er hat selbst gesagt (in seinen Gedichten und seinen
Büchern), dass diese Väterlichkeit sich bei seinen Studenten im Unterricht
an der Universität ausgebildet hatte. An Ort und Stelle — im wörtlichen Sinn
— haben die Bergwanderungen oder Fahrten auf dem Wasser (bis 1977) seine
jungen Freunde zu sittlichen und geistlichen Gipfeln geführt. Von dort sind
die berühmten Weltjugendtage ausgegangen. Sie sind offiziell 1985
entstanden, setzen sich bis zur Schwelle Kölns (20. Weltjugendtag) fort und
sind das Treffen des gemeinsamen Vaters mit einem der wertvollsten Teile
seiner Kinder, auf den er sich für die Zukunft der Kirche stützt. «Die
Zukunft der Welt leuchtet in euren Augen!», ruft er ihnen 1987 zu. «Ihr seid
meine Hoffnung!» (Paris) «Ihr seid mein Herz und meine Krone... Ihr müsst
die ganze Welt entflammen!» (Tor Vergata)
Die Jugendlichen haben es ihm innig
gedankt. Frossard hat es ihm gesagt: «Heiliger Vater, Sie können Sie
hinführen, wohin sie wollen!» Und er hat unerschrocken geantwortet: «Das
glaube ich!»
Es gab ein ständiges Kommen und
Gehen, ein heimliches Einverständnis der Liebe zwischen ihnen und ihm, einen
Lichtbogen, der durch das Alter stärker statt schwächer wurde, eine tiefe
geistliche, gegenseitige Erfassung. Sie erkannten sich in ihm und er sich in
ihnen und sie nennen ihn ihren Vater. Die Jugendlichen erwärmten sich in
seiner Gegenwart und tranken seine Lehre, denn sie fühlten, dass er sie
liebte — im Unterschied zu den viel zu zahlreichen verlogenen Erwachsenen.
Und bei der Begegnung mit ihnen wurde er von ihrer Zuneigung mitgerissen,
während die Krankheit ihn immer stärker zeichnete. Wer hat nicht jenes
einmalige Bild von diesem jungen Mädchen gesehen, die sich in Ehrerbietung
an ihn wandte und ihm sagte: «Du bist Abba, unser Papa!» Dann kniete sie vor
ihm nieder, und nachdem er ihr lange zugehört hatte, legte er ihren Kopf an
seine väterliche Brust. Deshalb konnte Frédérique Hébrard ausrufen: «Mai
1968 hat sozusagen die Väterlichkeit zerstört, während die Weltjugendtage
von 1997 sie uns in der Person von Johannes Paul II. neu geschenkt haben!»
Und am Vorabend seines Todes waren sie da, die jungen Menschen, kamen treu
zu diesem letzten Treffen und beteten den Rosenkranz auf dem Petersplatz.
Als man das dem erhabenen Todkranken mitteilte, ließ er wissen: «Ich habe
euch gesucht. Jetzt seid ihr zu mir gekommen. Ich danke euch. Dank sei dir,
Vater!»
Diese Väterlichkeit ist nicht
begrenzt. Sie hat nach und nach sozusagen alle Menschen gewonnen, so dass
von einem Ende der Erde zum anderen jeder in diesen Tagen sagt: «Wir haben
unseren Vater verloren, wir sind Waisen. Wir können nicht ausdrücken, was
wir empfinden.»
Freund, Bruder und Vater der
Arbeitenden; ältester Bruder und Vater der Priester, der Bischöfe und der
Kardinäle; alt, krank, taumelnd und doch in Lourdes noch immer Vater der
Kranken: Ja, Johannes Paul II. hat bis zum Schluss eine außergewöhnliche
Vaterschaft für die Völker ausgeübt. Und wie jeder Vater war er wirklich der
Diener seines Nächsten, der seinem Namen «Diener der Diener Gottes, des
Vaters» wirklich Ehre gemacht hat.
Ein Großer der Kirche: der
heilige Vater
Die Welt hat ihn nämlich fast schon
heiliggesprochen. Die Spruchbänder am Beerdigungstag sagen alles: «Santo
subito!» Getragen von seiner Weihe an die Heilige Jungfrau von Tschenstochau
und von der Kraft des Heiligen Geistes hinterlässt er uns ein persönliches
Erbgut von menschlichem und geistlichem Wert, wie es selbst in der
Geschichte der Kirche ganz selten ist.
Geleitet von Maria und von seinem
mystischen Bräutigam hat er sich sein Leben lang von ihnen vorbereiten
lassen, so dass sein Pontifikat im Einflussbereich seines früheren Lebens
stand. Das ist wohl das Erste und Wichtigste, was man über seinen Wert als
Christ sagen kann. Der Pfarrer von Ars sagte, dass man die heiligsten Seelen
daran erkennt, dass sie sich vom Heiligen Geist leiten lassen.
Zu seiner Fügsamkeit kam die gelebte
Weihe an Maria hinzu, eine Hingabe, die er beim Attentat vom 13. Mai 1981
konkret erfahren hat. Überzeugt, dass er überleben würde, wiederholte er
doch auf dem Weg in die Klinik Gemelli unablässig: «Meine Mutter, meine
Mutter!»
Er hinterlässt uns das Bild eines
Mannes der Ausgeglichenheit, der Seelenstärke, der inneren Einheit, die
durch nichts angegriffen werden konnte. Er war der Fels, der auf einem
unerschütterlichen Glauben, einer Intelligenz, einer Unterscheidungsgabe und
einem sicheren Urteil ruhte, die von Gewissheit und Freude gezeichnet waren.
Er war ein ganz innerlicher und
zutiefst mystischer Mensch, wie seine Gedichte bezeugen und vor allem sein
intensives, praktisch ununterbrochenes, «geographisches» Gebet, wie er
sagte. Mit seinen immer wachen Gedanken und seinem stillen Gebet umfasste er
sozusagen alle Probleme der Kirche und der Welt. Er hinterlässt uns als Erbe
eine aufgeschlossene, vorbildhafte Frömmigkeit, in der Maria, die innig
verehrte Jungfrau, Christus wirklich ergeben ist, den er zutiefst anbetet.
Der Heilige Vater hat seinem Pontifikat die Krone aufgesetzt durch seinen
Heimgang während des Eucharistischen Jahres.
Zugleich hat er die schwierige Kunst
beherrscht, den Menschen und Dingen gegenüber realistisch zu sein, so dass
man insgesamt den Eindruck hatte, dass nichts ihm entging.
Angesichts der harten und zunehmenden
Kämpfe seines Lebens bewies er einen Mut, der von allen bewundert wurde. Er
hat wortwörtlich seinen Aufruf gelebt: «Habt keine Angst!»
Was unsere Zeitgenossen auch
beeindruckt hat, ist seine Fähigkeit zu tun, was er sagte. Es ist leicht und
wirkt anstößig, wenn man predigt und den anderen die Umsetzung überlässt. Er
aber setzte in die Praxis um, was er anregte. Das war nicht leichter in der
heutigen Kirche als im kommunistischen Polen oder während des Krieges. Sein
und nicht Haben! Er hat vollkommen auf sich selbst verzichtet, hat alles
hingegeben, hat sich verbraucht. In seinem dreifachen Sarg hat der Heilige
Vater nichts an irdischem Leiden mitgenommen, vielmehr einen für den
Menschen unsichtbaren Reichtum, einen Schatz für Gott: seine Heiligkeit.
Er war ein Pilger, ein Weg, ein
Stern. Er war zugleich Wächter und Führer, er hat die Menschen geführt, um
ihnen wie sich selbst Zugang zum anderen Ufer zu erwirken.
Seine geringen Unvollkommenheiten —
niemand ist vollkommen — tun seiner Größe keinen Abbruch. Die internationale
Meinung war fast einstimmig und hat gezeigt, wie sehr er die übrigen
Sterblichen übertroffen hat.
Nur armselige oder sich dem Glauben
verschließende Geister können jene, die diesen außergewöhnlichen Papst
geliebt haben, übertriebener oder unpassender Würdigungen beschuldigen.
Das priesterliche Vermächtnis für eine erneuerte Kirche
Der Heilige Vater wollte durch und
durch Priester sein, er wollte im Dienst an Gott und an den Menschen stehen.
In Anbetracht seiner Größe und seiner Fähigkeiten wollte Jesus ihm dafür das
vollkommene Priesteramt verleihen: «Weide meine Schafe...» Eine Größe, ein
Dienst, der auf die Liebe ausgerichtet ist: «Liebst du mich? Ja? So weide
meine Schafe.»
Um seine Sendung als allumfassender
Hirte zu erfüllen hat der Priester Johannes Paul II. zwei entscheidende
Mittel eingesetzt: die Bereitschaft und das Leiden.
– Er hat gleich zu Anfang augerufen:
«Öffnet weit die Türen für Christus!» Als er auf die Menschen zuging, hat er
selbst so viele Türen wie möglich geöffnet, indem er sich als ein
einladender und wohlwollender Hirte vorstellte. Er war streng und
unnachgiebig, was die Wahrheit anlangt (er hat sie als Vermächtnis empfangen
und konnte nicht daran rühren), doch er hat die Personen so gut es ging
geschont durch eine Nächstenliebe, die niemand ernsthaft abstreiten kann.
Viele haben die Einladung angenommen, in den Schafstall einzutreten und
Jesus handeln zu lassen. Aber es ist klar, dass die Welt nicht genügend auf
den Aufruf des Stellvertreters Christi geantwortet hat trotz seiner
geisterfüllten Worte und der Heiligkeit seines Lebens und seiner Berufung.
Dennoch hat er unablässig seine
Aufrufe erneuert: Aufruf zur Einheit («Versammelt euch eng um mich!»), zum
Gehorsam («Lasst euch von Christus mitreißen.»), zur Bereitschaft («Seid
Heilige!»). Aber er konnte es nicht allein tun. Die Treuen sind auch auf das
Vorbild der Priester und der Bischöfe angewiesen, damit sie — wie Johannes
Paul II. es oft gesagt hat — «[wie sie] Vorbilder der Heiligkeit» sind,
Nacheiferer ihrer Vorgänger, wie auch die Missionare und Märtyrer des
Glaubens. Und da berühren wir wieder eines der Geheimnisse, die in Fatima
offenbart wurden. Das Vorbild der Märtyrer des 20. Jahrhunderts für die
Wahrheit in den marxistischen Ländern zum Beispiel.
Bei dem Gebetsabend in der
Lateranbasilika am Freitag, nach der Beerdigung des Papstes, beschwor ein
junger Seminarist vor einem Bildnis des Heiligen Vaters die Hirten der
Kirche, in ihrer Wachsamkeit nicht nachzulassen und den heiligen Papst
nachzuahmen. Er erklärte: «Nur unter dieser Bedingung kann sich der
westliche Klerus wieder erheben.»
– Denn der Heilige Vater ist so weit
gegangen, wie er konnte. Wenn er sagte, dass er alles gegeben hat, bedeutet
das, dass er den langen und schmerzlichen Kreuzweg aufgeopfert hat, der in
jenem Geheimnis von Fatima beschrieben ist. Seit 1994 sprach er vom
«Evangelium des Leidens». Jesus hat mehr durch sein Kreuz als durch seine
Worte erlöst. Johannes Paul II. hat das begriffen: Er ist ganz
zurückgetreten und ist in aller Stille gestorben.
Sein Opfer wie seine Person mussten
mit Christus, dem Priester und dem Opfer, identisch sein. In diesem Jahr der
Eucharistie konnte er kein größeres Zeichen setzen. Er hat auf unblutige,
aber ganz wirkliche Weise den Satz des heiligen Stanislaus befolgt: «Mein
Wort hat dich nicht bekehrt? So wird mein Blut dich bekehren!» Jeder Tod ist
ein Unterpfand der Auferstehung. Je größer das Martyrium, desto glorreicher
ist die Auferstehung.
Danken wir Gott für die
heldenhafte Sendung des Papstes; danken wir ihm für sein Martyrium.
Beten wir dafür, dass der neue Papst sein Beispiel nachahmt und treu auf dem
Weg weitergeht, den Johannes Paul II. der Große, der Prophet des dritten
Jahrtausends, eröffnet hat, damit der in Fatima versprochene Sieg so schnell
wie möglich eintritt.
Bernard Balayn