Auszug:
BRIEF
Grundlagen und Übung der Hingabe
An Schwester Marie-Antoinette de Mahnet, 1731
Ehrwürdige Schwester, der Herr hat mir etwas Besseres für Sie gegeben, als was
Sie wünschten, etwas, woran Sie gar nicht dachten, nämlich einige allgemeine
Verhaltungsregeln auf Lebenszeit, samt der leichtesten Art und Weise, sie in die
Tat umzusetzen.
1.Regel. Die Urkraft des gesamten geistlichen Lebens bildet der gute Wille,
das heißt das aufrichtige Verlangen, Gott gänzlich anzugehören. Infolgedessen
lässt sich dieses fromme Wollen gar nicht häufig genug erneuern, soll es tiefe
Wurzeln schlagen und Blüten und Früchte zeitigen.
2.Regel. Der feste Wille, Gott anzugehören, muss in uns den Entschluss
reifen lassen, nur Gott im Auge zu behalten. Das geschieht auf zwei Arten.
Vorerst gewöhne man sich, nie absichtlich Gedanken nachzuhängen, die weder
direkt noch indirekt Gott betreffen. Bei den allgemeinen und besondern
Standespflichten ist das ja der Fall. Nutzlose Gedanken jedoch werden am besten
verjagt, nicht etwa, indem man gegen sie ankämpft oder gar sich von ihnen
entmutigen lässt: man lässt sie einfach fallen wie einen Stein ins Meer. Mit der
Zeit gelingt einem dieses Fallenlassen zusehends besser.
- Die zweite Art und Weise, Gott allein im Auge zu
behalten, besteht in einer Art allgemeiner Abkehr von allen Dingen. Sie
vollzieht sich, indem, wie erwähnt, die unnützen Gedanken aufgegeben werden. So
verrinnen allmählich ganze Tage, ohne dass man scheinbar sein Augenmerk auf
etwas Bestimmtes richtet, gerade als wäre man ein Tor. Oft versetzt sogar Gott
gewisse Seelen in diesen Zustand, der die geistliche Leere oder auch das
Im-Nichts-Stehen heißt. Dieses Zunichtewerden unsres eignen Geistes ebnet dem
Geist Jesu Christi wunderbar den Weg. Darin besteht der mystische Tod unsrer
Eigentätigkeit. Er befähigt die Seele, die göttlichen Einwirkungen in sich
aufzunehmen.
Diese große geistige Leere hat oft eine andere im
Gefolge, die noch peinlicher für uns ist, die Leere des Willens. Da geht einem
scheinbar jede Empfindung ab für Gott und die Welt. Allem steht man
gleichermaßen gefühllos gegenüber. Auch hier schafft Gott oft selber diese Leere
in gewissen Seelen. Diesem Zustand also nicht entrinnen wollen. Er legt den
Grund zu den kostbarsten göttlichen Einwirkungen. Er bedeutet einen zweiten
mystischen Tod. Ihm folgt eine herrliche Auferstehung zu einem ganz neuen Leben.
Diese zweifache Leere, dieses doppelte, für Eigenliebe und Hoffartsgeist so
überaus harte Zunichtewerden ist hochzuschätzen und zu lieben. Allmählich sollte
man darin mit einer heiligen innern Freude verweilen.
3.Regel. Lenken wir unsre
gesamte Aufmerksamkeit darauf, Gottes heiligen Willen in seinem Gesamtumfang zu
erfüllen. Alles übrige ihm anheim stellen, so die Sorge um unser irdisches, ja
sogar um unser geistliches Wohl, z. B. unsern Fortschritt in der Tugend. Diese
doppelte Hingabe nimmt folgendermaßen Gestalt an.
Was den ersten Punkt angeht, sollen wir bei jedem
Wunsch, jeder Befürchtung, jedem Plan, der uns selbst, unsre Verwandten oder
Freunde betrifft, zu Gott sprechen: Herr, ich opfere dir das auf, dir überlasse
ich diese Erdensorge, mag geschehen, was dir behagt, was du willst. - Da es
jedoch Fälle gibt, wo die Vernunft fordert, dass man selber überlege und selber
handle, sei es für sich oder andere, weil man die Vorsehung nicht versuchen
soll, gilt es dann zu sprechen: Herr, wenn ich bei dieser oder jener Gelegenheit
überlegen oder handeln muss, flöße mir doch zur rechten Zeit den Gedanken dazu
ein. So werde ich nichts tun, außer auf deine Einsprechung hin; auch bin ich zum
voraus mit Erfolg oder Misserfolg einverstanden.
- Nach dieser Herzenserhebung alle Wünsche und
Befürchtungen gleich einem Stein versenken. Sich nicht mehr darum kümmern,
überzeugt, dass Gott zur rechten Zeit und am rechten Ort uns erleuchtet und uns
gemäß seinem heiligen Willen vorgehen lässt.Und nun zur Übung der zweitgenannten
Hingabe, derjenigen, die den eigenen geistlichen Fortschritt angeht. Wir stoßen
da auf den heikelsten Punkt, wo fromme Seelen am häufigsten scheitern, den Kopf
verlieren und auf Gottes Wegen zurückbleiben. Hier die schlichte Übung, wie sie
Jesus Christus selber in einer Erscheinung der hl. Theresia von Avila
geoffenbart hat: Meine Tochter, so sprach er zu ihr, habe einzig im Sinn, mir zu
gefallen, mich zu lieben und meinen Willen zu tun. So werde ich Sorge für dein
leibliches und seelisches Wohl tragen.
Um diese grundlegende Anweisung gut zu verstehen,
stellen Sie sich vor, jemand trete in den Dienst eines mächtigen Königs, sagen
wir Salomons, dem keiner an Größe, Weisheit und Güte gleichkäme. Hätte der
betreffende Diener auch nur einen Deut von Edelsinn und Feingefühl, gesundem
Menschenverstand und Geschick, so würde er wohl etwa folgendermaßen zu seinem
Herrn sprechen: Herr, du bist miralsmächtiger, guter, freigebiger und
großmütiger Fürst bekannt. Deshalb stelle ich mich dir ganz anheim. Ich will dir
dienen, ohne meinen Taglohn, Jahresgehalt oder auch nur die Endabfindung zu
kennen. Ich verspreche dir, nur auf deine Angelegenheiten Bedacht zu nehmen, die
meinen überlasse ich ganz deiner Klugheit oder vielmehr deiner Güte und deiner
Großmut.
- Machen Sie sich diesen Vergleich oft zunutze, so
dürftig er ist, auf den erhabenen Herrn bezogen, dem wir dienen. Eins ist
sicher: kann der genannte Herrscher sich von keinem seiner Diener an Großmut
übertreffen lassen, so wird unser allmächtiger und unendlich guter Gott noch
weit weniger zurückstehen wollen vor einem seiner gebrechlichen Geschöpfe. Aus
dieser Einsicht ergibt sich folgende Übung:
1. Verspüre ich z. B. ein heftiges Verlangen nach
der Gabe des Gebetes, nach Demut, Sanftmut, Gottesliebe, so sage ich mir: Warum
so viel an mein Wohl denken? Mir obliegt es, mich schlicht und ruhig mit Gott zu
befassen und zu erfüllen, was er im Augenblick von mir verlangt. Das ist meine
Aufgabe. Alles übrige bleibt ihm überlassen. Ihn geht mein Fortschritt an; mir
kommt es zu, mich unablässig mit Gott zu beschäftigen - seinen Anordnungen
nachzuleben.
2. Doch da steigt in einem der Gedanke auf: Du
bist noch so unvollkommen, so voller Fehler und Gebrechen, Untreue und
Schwächen; wie lange wird es noch dauern, bis du davon frei bist? Alsgleich
antworte ich: Mit Gottes Gnade hänge ich keineswegs an meinen Fehlern; vielmehr
bin ich fest entschlossen, sie zu bekämpfen. Frei davon werde ich allerdings
erst sein, wann es Gott gefällt; ihm ist das anheim gestellt. Ich habe diese
Fehler einfach zu hassen, sie zum Prellbock der Geduld, Buße und Demut zu
machen, bis es Gott behagt, mich über sie obsiegen zu lassen.
3. Du bist dermaßen blind, sage ich mir ferner,
siehst deine Fehler gar nicht ein, wenn es gilt, sie vor Gott zu beweinen und zu
beichten. Ich entgegne: Ich möchte aber ernstlich meine Fehler kennen. Also lebe
ich nicht mehr in freiwilliger Zerstreutheit. Dann verwende man ganz ruhig etwas
Zeit zur Gewissenserforschung. Das ist es, was Gott von uns verlangt. Wenn er es
für gut findet, wird er uns später mehr Licht und Einsicht geben; es ist das
seine Sache. Ihm vertraute man ja seinen gesamten geistlichen Fortschritt an.
Für den Augenblick darf man sich also damit begnügen, einige alltägliche
Versehen anzuklagen, wie Gott sie einen erkennen lässt, sowie eine Sünde des
frühern Lebens beizufügen.
4. Doch, so sage ich mir weiter, habe ich in
meinem Leben überhaupt je gut gebeichtet? Hat mir Gott verziehen? Steht es um
meinen Seelenzustand gut oder schlecht? Welchen Fortschritt habe ich im
Gebetsleben und auf Gottes Pfaden zu verzeichnen? - Alsbald entgegne ich: Gott
wollte mir all das verhüllen. Ich soll mich blindlings seiner Barmherzigkeit
ausliefern. So beuge ich mich und bete seine Fügungen an. Nur was er will,
wünsche ich zu kennen und wandle gern im Finstern, in das er mich einhüllen
will. Er muss wissen, wo ich stehe. Lediglich mit ihm soll ich mich befassen,
ihm dienen, ihn möglichst tief lieben. Für alles übrige wird er Sorge tragen;
ich lege es in seine Hände.
5. Aber ich bitte ihn schon so lange um gewisse
Gnaden! Die mächtigsten Fürbitter, so die allerseligste Jungfrau, den hl.
Joseph, die heiligen Apostel, ja den ganzen Himmel rufe ich an: doch nichts
vermag scheinbar Gott zu erweichen. - Meine Antwort: Er ist der Herr; was immer
er will, geschehe in mir. Ich verlange nur so viel an Gnade, Verdienst und
Vollkommenheit, als es Gott behagt. Sein bloßer Wille genügt mir. Dieser Wille
wird mir immerfort als Richtschnur meines Tuns und Lassens dienen. 1 Vgl. die
Anmerkung Seite 87.2 In der hl. Beicht nämlich, damit einwandfrei Stoff zur
Lossprechung vorhanden sei. (Anm. des Übersetzers.)
Jean-Pierre de Caussade - Seelenführung