Vision
Maria Valtortas: Mitte Dezember des Jahres 28 müssen zwei neubekehrte
Jünger Jesu in Sicherheit gebracht werden, da das jüdische Synedrium
nach einem Hinweis des Judas Iskariot diesen nachstellt. Ein Teil der
Apostel begleitet ohne das Wissen des Iskariot die Jünger nach
Antiochien. Während Jesus auf die Rückkehr der Apostel wartet, zieht er
sich alleine für fast drei Wochen zu Buße und Gebet für seinen verräterischen Apostel in eine Höhle bei Jiphtael, in der Nähe des heutigen Yodfat, zurück.
Jesus befindet sich wieder am Fuße des
Bergmassivs, auf dem Jiphtael liegt. Doch nicht auf der Hauptstraße
(wenn wir sie so nennen wollen) oder dem Saumpfad, den er zuvor mit dem
Wagen genommen hat, sondern auf einem Pfad für Steinböcke; so
abschüssig, steinig und zerklüftet ist dieser Weg, der an den Berg
geklebt oder besser gesagt in die steile Bergwand eingeschnitten ist,
wie wenn eine riesige Kralle darübergefahren wäre. An seinem Rand geht es hinunter in eine fürchterliche Schlucht, in deren Tiefe ein reißender Gießbach schäumt.
Hier einen Fehltritt zu machen, würde
bedeuten, rettungslos in die Tiefe zu stürzen, von Dornbusch zu
Dornbusch und anderen wilden Gewächsen, die nicht senkrecht, sondern
waagrecht aus den Felsspalten wachsen, da es ihr Standort nicht anders
zuläßt. Ein Fehltritt würde bedeuten, von all den dornigen Zweigen
dieser Pflanzen zerrissen zu werden oder sich die Rippen zu brechen beim
Aufprall auf die harten Baumstrünke, die über dem Abgrund hängen. Ein
Fehltritt würde bedeuten, von den scharfen Steinspitzen zerfleischt zu
werden, die aus der Felswand der Schlucht herausragen. Ein Fehltritt
würde bedeuten, blutend und zerschmettert in das schäumende Wasser des
reißenden Gießbaches zu fallen und zu ertrinken, auf spitzen
Felssplittern liegend und von den wilden Wellen geschlagen.
Doch benützt Jesus gerade diesen Pfad,
diesen Kratzer im Felsen, der noch gefährlicher wird durch die
Feuchtigkeit, die dampfend vom Gießbach aufsteigt, von der überhängenden
Felswand herabrinnt und von den Bäumen tropft, die auf dieser
vorstehenden, leicht nach innen gewölbten Felswand wachsen. Ich will
mich bemühen, Ihnen (dem Seelenführer) diesen höllischen Ort zu
skizzieren.
Jesus geht langsam, vorsichtig, überlegt
jeden Schritt auf den spitzen Steinen, von denen einige sich losgelöst
haben, und ist manchmal gezwungen, sich an die Wand zu pressen, wenn
sich der Weg stark verengt, und um gefährliche Stellen zu überwinden,
muss er sich an den Ästen festhalten, die von der Felswand herabhängen.
Er geht so um die Westseite herum und gelangt zur Südseite, gerade zu
der Stelle, wo der Berg, nach einem senkrechten Abfall vom Gipfel, eine
Höhlung bildet, so dass der Weg breiter wird, wenngleich er auch an Höhe
verliert. Jesus muss an manchen Stellen mit geneigtem Haupt gehen.
Vielleicht hat er die Absicht, hier
anzuhalten, wo der Pfad wie nach einem Steinschlag plötzlich aufhört.
Doch nachdem er den Ort genauer betrachtet hat, sieht er, dass sich
unter dem Felsvorsprung eine Höhle befindet, mehr ein Felsspalt als eine
Höhle, und lässt sich auf dem Geröll hinab. Er geht hinein. Am Anfang
ist es ein Spalt, doch im Innern wird es eine geräumige Grotte, als ob
der Berg vor langer Zeit, aus ich weiss nicht welchem Grund, mit Pickeln
ausgehauen worden wäre. Man kann deutlich erkennen, wo die natürlichen
Einbuchtungen des Felsens von Menschenhand erweitert worden sind, und
zwar so, dass sich dem Eingang gegenüber ein Gang öffnet, an dessen Ende
Lichtschein eindringt und ferne Büsche zu sehen sind; offensichtlich
zieht sich der Gang also durch den Sporn des Berges von Süden nach
Osten.
Jesus zwängt sich durch diesen
halbdunklen, engen Stollen und erreicht den Ausgang, der oberhalb der
Straße liegt, die er mit den Aposteln und dem Karren genommen hat, um
nach Jiphtael zu gelangen.
Die Berge, die den See von Galiläa
umgeben, liegen vor ihm, jenseits des Tales, und in Richtung Nordosten
glänzt der große Hermon in seinem Gewand aus Schnee. Eine uralte Treppe
ist an dieser Seite des Berges, die nicht so steil abfällt, ausgehauen
worden, und diese Stufen führen zum Saumpfad im Tal und zur Höhe, auf
der Jiphtael liegt.
Jesus freut sich über seine Entdeckung.
Er kehrt in die geräumige Höhle zurück und sucht nach einem geschützten
Platz, wo er trockenes Laub, das der Wind angeweht hat, aufhäuft. Ein
armseliges Lager, ein Schleier trockenen Laubes zwischen seinem Körper
und dem nackten, eiskalten Erdboden… Er lässt sich darauf nieder und
bleibt reglos liegen, die Hände unter dem Haupt, die Augen zur felsigen
Decke gerichtet, gedankenverloren, ich möchte sagen, erschöpft, wie
einer, der eine Anstrengung oder einen Schmerz, die seine Kräfte
übersteigen, hinter sich hat. Dann beginnen langsam und lautlos Tränen
aus seinen Augen zu quellen. Sie rollen an beiden Seiten des Gesichtes
herab, verlieren sich bei den Ohren in den Haaren und enden gewiss im
dürren Laub…
Lange weint er so, schweigend und
regungslos… Dann setzt er sich auf und, das Haupt zwischen den Knien,
die er mit beiden Armen umfangen hat, ruft er mit seiner ganzen Seele
nach der fernen Mutter: “Mutter! Mutter! Meine Mutter! Meine ewige
Wonne! Oh, Mutter! Oh, Mutter, wie gerne hätte ich dich jetzt in meiner
Nähe! Warum habe ich dich nicht immer bei mir, dich, den mir von Gott
gesandten einzigen Trost?”
Nur die Höhle antwortet mit einem leisen
Echo auf seine Worte, auf sein Schluchzen, und es scheint, als weine
und schluchze auch sie in ihren Winkeln, ihren Felsbrocken und den
wenigen und noch kleinen Tropfsteinen, die in der Ecke, die die
unterirdischen Gewässer wohl am stärksten benetzen, herabhängen.
Jesus beruhigt sich etwas, als ob das
Rufen nach der Mutter ihn schon getröstet hätte, und sein Weinen wird
langsam zu einem Selbstgespräch. “Sie sind fortgegangen… Weshalb? Wegen
wem? Warum habe ich ihnen diesen Schmerz zufügen müssen? Warum mir
selbst, da doch die Welt mir schon den Tag mit Schmerz erfüllt? …
Judas!” Wer weiß, wohin nun die
Gedanken Jesu gehen, der das Haupt von den Knien erhebt und vor sich
hinschaut mit weit geöffneten Augen und angespanntem Gesicht, wie
jemand, der in Schauungen künftiger Ereignisse oder tiefe Betrachtung
versunken ist. Er weint nicht mehr, leidet jedoch sichtlich.
Dann scheint er einem unsichtbaren Fragesteller zu antworten und steht auf. “Ich
bin Mensch, Vater. Ich bin der Mensch. Die Tugend der Freundschaft ist
in mir verwundet und zerrissen, sie krümmt sich und klagt
schmerzerfüllt… Ich weiß, dass ich alles erleiden muss. Ich weiß es. Als
Gott weiß ich es, und als Gott will ich es auch, zum Heil der Welt.
Auch als Mensch weiß ich es, denn mein göttlicher Geist teilt es meiner
Menschlichkeit mit, und auch als Mensch will ich es, zum Heil der Welt.
Doch welch ein Schmerz, o mein Vater! Diese
Stunde ist leidvoller, als jene, die ich mit meinem und deinem Geist in
der Wüste erlebt habe… Die jetzige Versuchung, dieses abstoßende und
quälende Wesen, das den Namen Judas trägt, nicht mehr an meiner Seite zu
dulden und zu ertragen, ist stärker. Er ist die Ursache so vieler
Schmerzen, die mich tränken und durchdringen und die Seelen quälen,
denen ich den Frieden geschenkt habe.”
“Vater, ich fühle es. Du wirst immer
strenger mit deinem Sohn, je mehr ich mich dieser meiner Sühne für das
Menschengeschlecht nähere. Deine Güte wendet sich immer mehr von mir ab,
und dein strenges Antlitz erscheint meinem Geist, der immer tiefer in
den Abgrund gestoßen wird, in dem die Menschheit, durch deine Strafe
geschlagen, seit Jahrtausenden seufzt.
Es war mir süß zu leiden, und süß war
der Weg zu Beginn meines Lebens, süß auch, als ich vom Sohn des
Zimmermanns zum Lehrer der Welt wurde, mich von der Mutter losriss, um
dich, den Vater, dem gefallenen Menschen zurückzugeben. Im Vergleich zur
heutigen Stunde war der Kampf mit dem Feind bei der Versuchung in der
Wüste noch leicht. Ich habe mich ihm gestellt mit der Kühnheit eines
Helden, der auf alle seine Kräfte zählen kann… Oh, mein Vater!… Wie sind
jetzt meine Kräfte geschwächt von der Lieblosigkeit und der Kenntnis
vieler, allzu vieler Dinge…
Ich wusste, dass Satan, nachdem er mich
versucht hatte, mich verlassen würde, und er verschwand. Die Engel
kamen, um deinen Sohn zu trösten, da er Mensch und als solcher der
Versuchung Satans ausgesetzt war.
Doch jetzt wird die Versuchung kein Ende
nehmen, nach dieser Stunde, in der der Freund leidet wegen der Freunde,
die weit weggeschickt worden sind, und wegen des verräterischen
Freundes, der ihm in der Nähe und in der Ferne schadet. Sie wird kein
Ende haben. Deine Engel werden nicht kommen, um mich in dieser Stunde
und nach dieser Stunde zu trösten. Doch die Welt wird kommen. Mit all
ihrem Hass, ihrem Spott, ihrer Verständnislosigkeit. Er wird kommen,
immer näher quälender und gemeiner, der Verräter, der Meineidige, der
sich an Satan verkauft hat, o Vater…!”
Es ist wirklich ein herzzerreissender
Aufschrei, ein angstvoller Flehruf, und Jesus wird so unruhig, dass er
mich an Gethsemane erinnert.
“Vater! Ich weiß es. Ich kann ihn sehen…
Während ich hier leide und leiden werde, während ich meine Leiden für
seine Bekehrung aufopfere und für alle, die mir aus den Armen gerissen
wurden und nun mit verwundetem Herzen ihrem Schicksal entgegengehen,
verkauft er sich, um größer zu werden als ich, der Menschensohn!
Nicht wahr, ich bin der Menschensohn?
Ja! Aber ich bin ja nicht der einzige. Das ganze Menschengeschlecht ist
da, die fruchtbare Eva hat ihre Kinder zur Welt gebracht, und wenn ich
Abel, der Unschuldige bin, so fehlt auch Kain nicht in der
Nachkommenschaft der Menschheit. Wenn ich der Erstgeborene bin, so wie
die Menschenkinder es in deinen Augen sein sollten, ohne Makel, so ist
er, der in Sünde Geborene, der Schlimmste von denen, die so geworden
sind, wie sie sind, nachdem sie in die vergiftete Frucht gebissen
haben.”
“Noch nicht zufrieden damit, die
abstoßenden und gotteslästerlichen Triebe der Lüge, der Lieblosigkeit,
des Blutdurstes, der Geldgier, des Stolzes und der Unzucht in sich
herumzutragen, hat er sich mit Satan verbündet; dieser Mensch, der ein
Engel hätte werden können, wird zum Dämon… ‘Luzifer wollte gleich Gott
sein, und daher wurde er aus dem Paradies vertrieben und wohnt, in einen
Dämon verwandelt, in der Hölle.’
Aber Vater! Oh, mein Vater! Ich liebe
ihn… ich liebe ihn noch. Er ist ein Mensch… Einer von denen, derentwegen
ich dich verlassen habe… Um meiner Verdemtütigung willen rette ihn…
Allerhöchster Herr, gewähre mir, ihn zu erlösen. Diese Buße möge mehr
für ihn als für die anderen bestimmt sein! Oh, ich weiß, wie
unangebracht es ist, darum zu bitten, ich, der ich alles weiß!… Doch,
mein Vater, schaue nur einen Augenblick nicht auf mich als dein Wort,
betrachte nur meine Menschlichkeit des Gerechten… und lass mich nur für
einen Augenblick ‘der Mensch’ in deiner Gnade sein, ein Mensch, der das
unvermeidliche Schicksal nicht kennt und deshalb mit absoluter Hoffnung
beten kann, um dir das Wunder zu entreissen.
Ein Wunder! Ein Wunder für Jesus von
Nazareth, für Jesus der Maria von Nazareth, der von uns ewig Geliebten!
Ein Wunder, das die Vorherbestimmung außer Kraft setzt und sie nichtig
macht! Die Rettung des Judas! Er hat an meiner Seite gelebt, hat meine
Worte in sich aufgenommen, die Nahrung mit mir geteilt und an meiner
Brust geruht… Nicht er, nicht er sei mein Satan!...
Ich bitte dich nicht darum, nicht
verraten zu werden… Dies muss sein und wird sein… denn durch meinen
Schmerz, verraten zu werden, mögen alle Lügen vergeben werden, durch
meinen Schmerz, vekauft worden zu sein, möge alle Habgier gesühnt und
ausgelöscht werden, durch meinen Schmerz als Verfluchter mögen alle
Gotteslästerungen wiedergutgemacht werden, dafür, dass man nicht an mich
glaubt und nicht glauben wird, möge den Glaubenlosen der Glaube
geschenkt werden, und durch meine Qual mögen die Menschen von allen
Sünden des Fleisches gereinigt werden. Aber ich bitte dich: nicht er,
nicht er, Judas, mein Freund und mein Apostel!”
“Ich wollte,
dass niemand mein Verräter wäre…Niemand!… Nicht einmal der Entfernteste
in den nördlichsten eisigen Zonen oder im Feuer der heissesten
Gegenden… Ich wollte, dass der Opfernde du allein seist… wie du es schon
andere Male gewesen bist, als du mit deinem Feuer die Brandopfer
entzündet hast. Da ich jedoch durch Menschenhand sterben muss, durch die
Henkershand eines verräterischen Freundes, des Schamlosen, der die
Fäulnis Satans in sich hat und schon danach trachtet, mir an Macht
gleich zu sein – so denkt er in Hochmut und Unzucht – da ich durch
Menschenhand sterben muss; Vater, gewähre, dass nicht er es sei, den ich
Freund genannt und als solchen geliebt habe.
Vermehre,
Vater, meine Qualen, aber gib mir die Seele des Judas. Ich lege diese
Bitte auf den Altar meiner selbst als Sühneopfer… Vater, nimm sie an!…
Der Himmel
ist stumm und verschlossen!… Wird dies also das Schweigen und der Kerker
sein, in dem ich meinen Geist aushauchen werde?
Der Himmel ist stumm und verschlossen!… Wird dies also die größte Pein des Märtyrers sein?…
Vater, dein
Wille geschehe, nicht mein Wille… Doch um meiner Leiden willen, oh,
wenigstens dies! Um meiner Leiden willen gib Frieden und Hoffnung dem
anderen Märtyrer des Judas, Johannes von Endor (*)!
Mein Vater… er ist wahrlich besser als viele andere. Er ist einen Weg
gegangen, den wenige gehen und gehen werden können. Für ihn ist die
Erlösung schon vollzogen. Verleihe ihm daher deinen vollkommenen
Frieden, damit ich ihn einst bei mir in meiner Herrlichkeit habe, wenn
auch für mich alles erfüllt sein wird zu deiner Ehre und im Gehorsam
gegen dich… Mein Vater…!”
Jesus ist allmählich auf die Knie gesunken und weint, das Gesicht am Boden.
Er betet,
während das Licht des kurzen Wintertages in der dunklen Höhle rasch
abnimmt und das Rauschen des Gießbaches scheinbar um so lauter wird, je
länger die Schatten im Tal werden…
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