Vision
Maria Valtortas: Hier die wirklich ergreifende Vision der Kreuzigung
aus den Heften 1944. Jesus, der unter furchtbaren Qualen gekreuzigt
wird und Sein Leben für uns dahingibt...
Unter allgemeinen und sehr starken Leiden führe ich die Beschreibung
der Betrachtung, die meine heutige Qual war und noch ist, zu Ende. Als
der Zug der Soldaten und der Verurteilten auf dem Gipfel
des Kalvarienberges ankommt, ist dieser bereits von der Volksmenge
übersät, die über Abkürzungswege dorthin gelangt ist, um für den letzten
Akt der Tragödie einen guten Platz zu ergattern. Die Soldaten treiben
die Menge jedoch mit ihren Speerschäften zurück und räumen den Gipfel
frei.
Das Gipfelplateau hat die Gestalt eines sehr ungleichmäßigen, leicht
ansteigenden Trapezes, dessen höchstgelegene und schmalste Seite dann
steil zu dem Abhang abfällt. Die Himmelsrichtung kann ich nicht
ausmachen, denn da es Mittagszeit ist und die Sonne senkrecht darüber
steht, kann ich mich nicht orientieren.
Der kleine für die Hinrichtungen vorgesehene Platz sieht also so aus:
Die Seite A ist die höchstgelegene, und zu ihr hin sind die Löcher für
die Kreuze in der Erde ausgehoben. Diese werden nicht erst zu dem
betreffenden Anlass gegraben, sondern sie sind schon vorkonstruiert:
gut einen Meter tiefe Gruben, die mit Ziegelsteinen, wenn ich nicht
irre, oder mit Schieferbrocken austapeziert sind, um sie
widerstandsfähiger zu machen. Neben einem jeden sind Steine und Erde
aufgehäuft, ich weiß nicht, wozu. Es gibt da noch mehr Löcher, aber sie
sind mit Steinen angefullt; vielleicht werden sie gebraucht, wenn es
viele Verurteilte zugleich gibt.
Die beiden zu dem Gipfel führenden Wege befinden sich da, wo ich einen
Pfeil: , und die gestrichelte Linie: e gezeichnet habe. Die
gestrichelte Linie e bezeichnet den gepflasterten und steileren Weg,
den sie wegen der Schwäche Jesu hatten aufgeben müssen; man begreift,
dass es dieser ist, auf dem die Verurteilten gewöhnlich zur
Hinrichtungsstätte geführt werden. Der Weg f ist hingegen der, auf dem
die Volksmenge heraufsteigt, um den Hinrichtungen beizuwohnen. Dieses
Mal ist die gewöhnliche Ordnung jedoch verkehrt worden.
Längs der Trapezseite D, aber ungefähr zwei Meter tiefer gelegen, gibt
es so etwas wie eine breite natürliche Bastei: ein zweiter, tieferer
und leicht absteigender Platz, dessen Zugang den makaberen Zuschauern
sehr bequem erreichbar ist. Man kann sowohl von dem Weg e wie von dem
Weg aus dahin gelangen.
Auch auf den Seiten C und B gibt es eine Art breiten Fußsteig, so dass
das Trapez von dem Gipfel aus wie eine von drei Seiten her sichtbare
Schaubühne ist. Lediglich hinter der Seite A fällt das Gelände steil
und ohne Stufen ab.
Auf diesen kleineren Platz treiben die Soldaten nun die Menge, die den
Gipfel überlaufen hat. Es sind die Fußsoldaten, die diesen Dienst
leisten. Die berittenen umgeben die Verurteilten und warten darauf,
dass der Gipfel freigeräumt wird.
Auf dem freien Platz weiter unten, bei dem Punkt, den ich mit dem
Buchstaben h bezeichne, stehen in einer Gruppe Maria, Johannes und die
anderen Marien. In deren Nähe, jedoch ein wenig entfernter, die Gruppe
der Frauen von Jerusalem, nur noch 5 Frauen. Veronika mit ihrer
Dienerin ist nicht mehr dabei.
Die auf dem Gipfel stehenden Juden entdecken die Gruppe der Galiläer
und ergehen sich nun darin, diese zu beschimpfen: “Galiläer! Galiläer!
Nieder mit den Galiläern! Tod dem Gotteslästerer aus Nazareth!” Noch
nicht einmal mit der Mutter haben sie Mitleid. Johannes stützt sie und
umfasst sie mit einem Arm, um sie zu verteidigen; er, der sanfte
Johannes wirft hierhin und dorthin Blicke, in denen Schmerz und Drohung
gegen die feigen Beleidiger sich mischen. Dann kommen die Soldaten an
und treiben alle von der Gipfelplatte herunter.
Der Zenturio steigt vom Pferd, und auch die übrigen. Ein Soldat fasst
die Zügel der Pferde, knotet sie zusammen und führt die Tiere hinter
die Bergwand der Seite B, in deren Schatten. Die anderen steigen zu der
oberen Plattform hinauf. Als der Zenturio vorüberkommt, gehen die
Frauen aus Jerusalem auf ihn zu, und die einflußreichste von ihnen
reicht ihm einen mitgebrachten Krug und, wie mir scheint, auch eine
Geldbörse, vielleicht, damit er dem zum Tode Verurteilten gegenüber
milde sei. Ich weiß nicht. Jesus geht noch einmal an dem angsterfüllten
Blick der Mutter vorbei und steigt zu dem oberen Platz hinan, der
sofort an den Rändern seiner Abhänge in einem Viereck von den Soldaten
umstellt wird. In der Mitte befinden sich die drei Verurteilten und der
Mann aus Zyrene mit dem Kreuz Jesu. Der Zenturio befiehlt Ihm, es
niederzulegen und wegzutreten. Die beiden Schächer haben die ihren
bereits auf die Erde geworfen.
Ich weiß nicht, woher sie plötzlich aufgetaucht sind, es erscheinen
vier mit Stricken und Nägeln bewaffnete Kerle in kurzen Hemden auf der
Bildfläche. Das zeigt mir an, dass es die zu ihrem Handwerk bestimmten
Henker sind.
Der Zenturio reicht Jesus den Krug hin, damit Er vor der Kreuzigung
daraus trinke. Aber Jesus schüttelt das Haupt. Er will nicht trinken.
Stattdessen trinken die beiden Räuber.
Den Verurteilten wird befohlen, sich zu entkleiden. Die beiden Räuber
tun das unverzüglich unter Fluchen. Die Henker geben jedem einen
schmutzigen Stofffetzen, den sie sich um die Lenden binden
sollen.
Den bieten sie auch Jesus an, der sich wegen der qualvollen Wunden und
auch unter seinem verletzten Schamgefühl mit langsamen Bewegungen
entkleidet. Aber die Mutter ist der Geste der Henker schon
zuvorgekommen. Sie hat sich, ohne das Mantelende vom Kopf zu nehmen,
den weißen Schleier darunter hervorgezogen und lässt ihn von Johannes
dem Zenturio übergeben, damit dieser ihn Jesus überlasse. Longinus tut
das ohne Widerstreben.
Nachdem Jesus sich die Sandalen gelöst und die Kleider ausgezogen hat
und sich nun ganz entblößen muss, wendet Er sich der Seite A des
Trapezes zu, an der nur die Soldaten stehen, um sich nicht nackt der
Menge auszusetzen. Da sieht man Seinen Rücken voll blutunterlaufener
Striemen, bläulicher Blasen und offener Wunden oder blutiger Krusten.
Die auf der rechten Schulter ist eine Hand breit und blutet unentwegt.
Und während Er sich niederbeugt, um die Kleider auf die Erde zu legen,
platzen andere, gerade erst verkrustete Wunden wieder auf, und da, wo
die geronnene Kruste abfällt, bricht wieder neues Blut hervor.
Der Zenturio reicht Jesus den Schleier Mariens. Der Herr erkennt ihn
und umwindet sich mit diesem langen und feinen Schleier mehrfach das
Becken und befestigt ihn gut, damit er nicht herunter fallen könne.
Dann wendet Er sich gegen die Volksmenge um und geht auf das Kreuz zu.
Man sieht nun, dass auch die Brust, die Arme, die Beine von den Geißelhieben gezeichnet sind. Die Knie bluten von den Stürzen.
Er ist eine einzige Wunde. Aber die grausamsten fehlen noch. Er wird
als Letzter auf das Kreuz gelegt. Zuvor werden unter Flüchen und
obszönem Rebellieren die beiden Räuber an die ihren gebunden.
Dann ist Jesus an der Reihe. Er
streckt sich ergeben auf Seinem Holzbalken aus. Legt das Haupt dahin,
wo sie es Ihm gebieten, breitet die Arme aus, wie sie es Ihm gebieten,
streckt die Beine aus, wie sie es Ihm befehlen. Jetzt ist Er ein langer
weißer Körper auf dem Hellbraun des Kreuzes und dem gelblichen
Untergrund der Erde.
Die Henker gehen auf Ihn zu. Zwei hocken sich auf Seine Brust, um Ihn
daran zu hindern, sich zu bewegen. Einer ergreift Seinen rechten Arm:
Eine Hand packt Ihn am Gelenk des Unterarms, und die andere hält Seine
Finger fest. Sie prüfen, ob die Handwurzel (der Corpus) über dem
vorgebohrten Loch im Kreuz liegt. Es passt.
Der andere setzt den langen Nagel — lang und sehr dick, mit einer
geschliffenen Spitze und einem so breiten Kopf wie die Münzen früherer
Zeit — auf das Handgelenk, hebt den schweren Hammer und gibt den ersten
Schlag darauf. Die Nagelspitze dringt in das lebendige Fleisch,
durchschlägt den Knochen und trifft die Nerven.
Jesus stößt einen Schrei aus und krampft sich zusammen. Er hatte den
Schlag entweder noch nicht so unmittelbar erwartet oder hat den Krampf
nicht zurückhalten können. Darauf hört man das Aufstöhnen einer
gequälten Kreatur. Es ist Maria, die sich die Hände vor das Gesicht
hält und sich nach unten windet, wie unter einem unmenschlichen Gewicht
niedergebeugt. Jesus schreit nicht mehr. Man hört nur noch die Schläge
des Eisens gegen das Eisen.
Die rechte Hand ist angenagelt. Sie gehen nun zu der linken. Hier
entspricht die Handwurzel nicht dem vorgebohrten Loch. Da reißen sie an
den Stricken, binden das Handgelenk fest und zerren die Sehnen und die
Muskeln so lange, bis sie die Gelenke ausgekugelt haben. Aber es reicht
noch immer nicht.
Da resignieren sie und beschließen, den Nagel einzuschlagen, wo es
gerade geht. Der Nagel dringt in die Mittelhand (den Metacorpus) zwar
leichter ein, ruft jedoch einen noch stärkeren Krampf hervor, weil er
die Nerven zerschneidet.
Aber Jesus schreit auch jetzt nicht mehr, um nicht mit Seinem Schrei
die Mutter zu quälen. Er gibt lediglich ein durch die fest
zusammengebissenen Zähne unterdrücktes Stöhnen von sich.
Nun sind die Füße an der Reihe. Auf dem Kreuz war schon ein kleiner
Klotz angebracht, der als Fußstütze und zum festeren Sitz für den Nagel
dienen sollte, der noch länger und stärker als die für Hände ist.
Jesus, der nicht schreit, aber ein einzig er im Krampf
zusammengezogener Körper ist, vollführt instinktiv eine Bewegung, die
Beine anzuziehen, als Er begreift, dass sie nun angenagelt werden
sollen. Dann aber überlässt Er sich den Henkern. Der linke Fuß bleibt
zu unterst, und der rechte wird darüber gelegt. Einer der Henker drückt
die Knöchel zusammen, um sie festzuhalten und drückt die Zehen
herunter, um die Füsse fest anzudrücken, so dass sie auf den Klotz
passen.
Und der Nagel dringt mühsam über der Fußwurzel (dem Tarsus) durch den
einen und den anderen Fuß. Jesus vibriert in einem Krampf. Maria
entfährt bei jedem Hammerschlag, das verhaltene Stöhnen einer gequälten
Taube; sie steht wie unter Todesschmerzen niedergebeugt. Wie könnte es
nicht so sein, denn die Kreuzigung ist grauenhaft. Es ist, als ob jeder
Hammerschlag mit seinem Nagel in ihr Herz trifft.
Nun sind sie fertig. Als erstes wird das Kreuz Jesu in die Höhe
gestemmt. Er muss bei den Stößen, die es bei dem Hochstemmen erhält,
entsetzlich leiden, denn dabei verschieben sich die durchbohrten
Glieder um das Eisen der Nägel herum; die Wunden müssen wie Feuer
brennen.
Auch die Dornenkrone bekommt Stöße und verschiebt sich und drückt sich
an andere Stellen ein. Aber als dann das Kreuz emporgehoben und bis zu
seinem Loch geschleift wird, und sie es da hineinfallen lassen, nimmt
das Leiden Jesu auf das Grausamste zu. Das ganze Körpergewicht fällt
nun nach vorn und zieht nach unten, und als das Holz auf dem Boden des
Loches aufstößt, reißen die Handwunden, besonders die linke, weiter
auf, und auch das Loch der Fußwunden vergrößert sich, und Blut fließt
von allen Seiten herab, während der ganze Körper von einem starken
Fieberschauer erschüttert wird.
Mit der Erde und den neben dem Loch aufgeschichteten Steinen befestigen
die Henker das Kreuz, stützen es ab und stampfen die Erde fest. Dann
stemmen sie die Schächer in die Höhe. Und der letzte Todeskampf beginnt.
Die Volksmenge grölt und lästert, nicht so sehr zu den Räubern hin wie
zu Jesus. Sie heben die Fäuste gegen Ihn, fluchen Ihm und verhöhnen
Ihn. Unten teilen sich die Soldaten die Kleidungsstücke der
Verurteilten auf, und um sich die Zeit zu vertreiben, würfeln sie um
die Tunika. Dann spielen sie weiter, als ob nichts wäre.
Nicht so Longinus. Er betrachtet die Szene. Bei seinem Umherschauen
erblickt er Maria in ihrem Winkel auf der darunter liegenden Terrasse
und gibt Befehl, sie zusammen “mit dem zweiten Sohn in ihrer
Begleitung" — so drückt sich Longinus aus — nach oben zu dem Kreuz
vorzulassen, falls sie es wünsche. Er meint, Johannes sei ein weiterer
Sohn und macht sich so, ohne es zu ahnen, zum Propheten. Und Maria
durchschreitet mit Johannes den Kordon der Soldaten. Sie allein mit
Johannes. Maria Magdalena, Maria, die Frau des Kleophas, Maria, die
Frau des Zebedäus und die anderen bleiben dort, wo sie sind.
Die Mutter geht, von Johannes gestützt, an ihren glorreichen Pranger.
Das Volk erspart ihr nichts, und so auch nicht der böse Schächer. Nicht
so Dismas. In ihm beginnt die Gnade zu wirken.
Er lästert nicht mehr. Er schaut von seinem Kreuz herab, beobachtet
Jesus und gibt sich seinen Gedanken hin.
Die Kreuze sind so aufgestellt: Maria steht zwischen dem Kreuz des
göttlichen Sohnes und dem des Dismas; sie ist zu Jesus hingewandt,
nimmt jedes Erzittern an Ihm wahr, das sie ersterben lässt.
Jesus spricht sehr wenig. Er keucht. Sein Körper sucht eine Stellung
der Erleichterung zu finden und das Gewicht, das auf den Füßen lastet,
mit der Kraft Seiner Arme auf die Hände zu verlagern. Aber nach wenigen
Minuten zwingen Ihn die Handwunden und das Körpergewicht, sich wieder
auf die Füße fallen zu lassen.
Ich sehe, wie die Beine von dem Zittern der Muskeln erschüttert werden,
so bald sie sich in einer unbequemen, erzwungenen Stellung befinden,
die sie zwingt, sich über ihre Kraft so zu halten. Die Zehen biegen
sich abwechselnd nach oben oder zu der Fußsohle hin, spreizen sich und
gehen wieder zusammen und drücken durch ihre Bewegungen ihre Krämpfe
aus.
Auch die Hände und die Arme zittern, besonders die rechte Hand.
Die linke hat sich nach innen verkrampft, so, als ob alle Fingernerven
zerrissen wären. Jedes Mal, wenn Jesus sich auf die Füße zurückfallen
lässt, reißt die Wunde der Mittelhand tiefer nach dem Daumen hin ein.
Was jedoch am grausamsten mit anzusehen ist, ist die Bewegung des
Oberkörpers, des Rumpfes. Die Rippen, die wegen der Anlehnung an das
Kreuz und der eingenommenen Haltung sehr hochstehen, zeichnen sich
unter der von der Geißelung blutigen und unter der Anstrengung
gespannten Haut und bei dem mühsamen Keuchen ab. Aber sie weiten sich
noch nicht so sehr, dass sie dem Blutandrang der Lungen und des Herzens
Erleichterung geben. Und auch der eingezogene Unterleib des armen,
schlanken und eher mageren Körpers hebt und senkt sich wie ein
flatterndes Segel.
Das Zwerchfell wird von zitternden Stößen geschüttelt, die über den
ganzen Rumpf laufen; sie sind unter dem Rippenbogen sichtbar, der sich
weit über der Zwerchfelllinie wölbt. Man sieht, wie der Schlag der
Herzspitze sich von unter der linken Brustwarze her bis zu der Milz und
der Mittellinie des Brustkorbs fortsetzt.
Die Lenden sind unter der Anstrengung stark zusammengezogen, und der
Rücken haftet deshalb mit den Beckenknochen und den Schulterblättern
fest an dem Holz.
An dem Hals mit der eingesunkenen Kehle springen hingegen die
geschwollenen und bläulichen Halsschlagadern hervor, und durch den
Blutandrang steigt die Röte zum Kopf an, auf den die Sonne unbarmherzig
sticht, die Augen mit Blut anlaufen, die Lippen in ihrer
Aufgedunsenheit unter ihren blutigen Rissen violett werden. Die
Oberlippe trägt noch den Schorf der Wunde, die Ihm gleich nach der
Gefangennahme beigebracht worden war, und von dem rechten Backenknochen
bis zur Nase läuft ein großer Bluterguss; die Wange ist so stark
geschwollen, dass die Nase deformiert und das Auge halb geschlossen
erscheint.
Die Dornenkrone muss qualvoll sein. Jesus lehnt sich immer wieder mit
dem Haupt an das Holz, besonders dann, wenn Er sich auf die Füße zu
stemmen versucht, um den Krampf der Hände zu lindern. Dann bohren die
Dornen sich in Seinen Nacken.
Ach! man kann das alles gar nicht sehen!...
Er muss unheimlichen Durst haben. Hin und wieder versucht der göttliche
Erlöser, der keuchend mit halboffenem Mund atmet, sich die verbrannten
Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Aber auch diese ist ganz trocken.
Und doch schafft Er es noch, den himmlischen Vater um Verzeihung für
alle zu bitten: “Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
tun“.
Dieses unter so grausamen Martern für Seine Peiniger gesprochene Gebet
rüttelt Dismas auf. Es ist der letzte Gnadenstoß. Er kann auch die
Flüche des anderen Räubers nicht mehr ertragen und macht ihm Vorwürfe.
Er anempfiehlt sich Jesus, den er als Herrn anerkennt. Jesus aber
wendet ihm Sein müdes Haupt zu, findet noch ein tröstendes Lächeln, um
ihn zu stärken und ihm den Himmel zu verheißen: “Heute noch wirst du
mit Mir im Paradiese sein“.
Der Himmel verdüstert sich immer mehr. Jetzt fahren ab und zu rasche,
kalte Windstöße durch die schwüle Hitze und treiben dunkle Wolken vor
sich her. In dem grünlichen Licht, das dem Gewitter vorausgeht,
erscheint Jesus noch bleierner. Das Haupt sinkt Ihm auf die Brust
herab, die Kräfte lassen schnell nach.
Er sieht Seine Mutter mit Johannes unter dem Kreuz. „Frau, siehe da deinen Sohn. Sohn, siehe da deine Mutter“.
Maria nimmt dieses Erbe ihres Jesus mit dem Antlitz einer Märtyrerin
auf. Sie bemüht sich jedoch, nicht zu weinen und Stand zu halten, um
ihrem Jesus Mut zu mach en und Ihn nicht mit ihrem Weinen zu bekümmern.
Die Leiden nehmen von Minute zu Minute zu. Die Erstickungsnot und das
Keuchen des Herzens werden immer heftiger. Der Tetanusstarrkrampf setzt
lähmend mit seinen Krämpfen ein. Jesus kann den Mund immer weniger
bewegen; die Kiefer versteifen sich.
Der Rücken beugt sich immer mehr. Die Atmungsbewegung wird immer
schwächer , der Oberkörper bleibt geweitet, ohne dass er sich in der
Ausatmung wieder zusammenziehen könnte. Das Licht nimmt schnell ab und
macht es schwer, die Krämpfe des Sterbenden weiter zu verfolgen.
Nur die Personen ganz nahe am Kreuz, Maria, Johannes und der Zenturio sehen sie noch genau.
Unter größter Mühe hebt Er sich noch einmal auf die Füße und streckt
sich so gleichsam als eine Opfergabe unter Darbietung aller Seiner
Wunden, Seiner Todesangst, dem himmlischen Vater entgegen, um Ihn zum
Mitleid zu rühren, und ruft, indem Er gegen die zusamgezogenen Kiefer,
die verdorrte Kehle, die geschwollene Zunge, die ausgetrockneten Lippen
ankämpft, mit lauter Stimme: “Mein Gott, Mein Gott (Eloi, Eloi), warum
hast Du Mich verlassen ?“.
Aber vom Himmel kommt kein Licht, Es ist die Todesnot ohne
übernatürlichen Trost. Die Todesnot des Opferlammes, des Großen
Opferlammes.
Es herrscht nunmehr eine Dunkelheit wie beim Einbruch der Nacht.
Jerusalem verschwindet in vom Wind aufgewirbelten Staub wolken und in
der Dunkelheit einer vorzeitig hereingebrochenen Nacht. Die Sonne ist
verschwunden. Sie scheint gleichsam gestorben zu sein. Ich komme mir
vor wie in dem Licht, das ich bei der Kontemplation der Auferstehung am
Jüngsten Tage gesehen hatte 158 (158 In der Vision am 29. Januar 1944):
das Licht von erloschenen Sternen, ein Nicht - Licht. Jesus stöhnt
“Mich dürstet!” Auch der Wind quält Ihn, da er Ihm den Mund noch mehr
austrocknet und Ihm mit seinen heftigen Stößen den Atem nimmt; die
Lungen, die zu keiner Reaktion mehr fähig sind, schwellen noch mehr an.
Ein Soldat geht zu einem mörserartigen Gefäß, in dem der mit Galle
vermischte Essig ist, taucht einen Schwamm darein und hebt diese n, auf
ein Schilfrohr gespießt, zu dem Sterbenden empor. Der öffnet
begierig, so weit es ihm möglich ist, den Mund, reckt sich vor und
streckt die Zunge heraus, um eine Erfrischung zu erhalten. Da trifft
Sein verwundeter Mund auf den ätzenden Essig und die bittere Galle als
letzte, ekelerregende Gabe. Angewidert und niedergeschlagen zieht Er
ihn zurück. Er ergibt sich darin.
Jetzt hängt das ganze Körpergewicht auf den Füßen und nach vorn
geneigt. Nur noch die Lenden berühren das Kreuz. Vom Becken aufwärts
ist Er ganz vom Kreuz abgelöst. Das Haupt hängt keuchend vornüber,
immer stärker, aber immer abgerissener röchelnd.
Der
Unterleib bewegt sich schon nicht mehr. Nur noch der Brustkorb hebt
sich dann und wann. Die Lungenlähmung weitet sich aus. Er fühlt den Tod
nahen und sagt:
„Alles ist vollbracht“. Das sagt Er mit unendlicher Ergebung.
Ein Augenblick der Stille, und dann als inniges Gebet: „Vater, in Deine Hände übergebe Ich Meinen Geist“.
Und wieder eine Stille. Dann sieht man in dem dämmerigen Licht den
letzten Krampf Jesu. Eine Konvulsion, die drei Mal von den Füßen
ausgeht und sich über alle die armen gemarterten Nerven ausbreitet, die
den Unterkörper drei Mal hochschnellen und ihn dann schlaff und wie
entleert zusammensinken lässt, dann den Brustkorb drei Mal
außerordendich zusammenzieht und wieder anschwellen lässt, die Arme
erschüttert, das Haupt nach hinten schleudert und ein letztes Mal den
dornengekrönten Nacken gegen das Holz schlägt, die Gesichtsmuskeln
verzerrt und die Augenlider unter ihrer Kruste von Staub und Blut
aufreißt.
So bleibt Er eine gute Minute lang hängen: ausgespannt, zitternd,
gebogen; dann stirbt Er mit einem die Luft durchschneidenden Schrei,
einem durchdringenden Schrei unter der ersten Silbe des Wortes: “Mama”.
Das Haupt fallt auf die Brust herab, der Körper nach vorn, das Beben
endet, und der Atem hört auf. Er hat Seinen Geist ausgehaucht.
Auf den Schrei des göttlichen Umgebrachten antwortet die Erde mit einem
Donnergrollen, während der Wind pfeift, Blitze den Himmel überzucken,
ein Erdbeben den Boden erschüttert. Es scheint, als ob es das Ende der
Welt wäre. Die Menschen heulen vor Schrecken auf, und einer klammert
sich an den anderen.
Maria, die ihre heilige Aufgabe erfüllt hat, sinkt nun ebenfalls
zusammen, und Johannes legt sie zu Füßen des Kreuzes nieder. Die
Soldaten sind ratlos. Ist es möglich, dass Er schon tot ist? Gewöhnlich stirbt einer nicht so schnell.
Während die Menge in Panik flieht, bleiben nur die Soldaten auf dem
Berg, Maria, Johannes und die Marien. Longinus stößt Jesus die Lanze in
die Brust, von unten nach oben hinauf, von rechts nach links. Aber Er
ist wirklich tot. Er bewegt sich nicht.
Nur Serum und Blut sickern heraus. Sickern. Es sprudelt nicht mehr wie
eine Flut in einen Becher, wie es hätte geschehen müssen, wenn ein noch
lebendes Herz getroffen worden wäre. Es fehlen der Atem und der
Herzschlag, um das Blut fließen zu lassen; es ist schon zersetzt und
sickert langsam aus dem schnell erkaltenden Fleisch.
Er ist mit tief über die Brust geneigtem Haupt verblieben, die vornüber
hängenden Haare verschleiern Sein Antlitz. Ein fahlbläulicher Körper,
über dem der Schleier Mariens weht; auf dem Altar des Golgota zu einem
pechfarbenen Himmel hingehoben, neben dem die beiden Kreuze der noch
lebendigen Schächer wie Kerzenständer wirken. Es ist die gleiche Vision
wie die, die ich mehrere Monate lang im Frühjahr 1942 hatte.
Zwei Juden kommen heran und sprechen mit dem Zenturio. Sie erbitten den Leichnam von ihm . Longinus ruft einen Soldaten.
…
Weiterführende Themen: