Es gibt eine andere Dimension des Lebens, die wir – geprägt von der Dominanz von Jugendlichkeit, Gesundheit, Leistung und Erfolg - für gewöhnlich nur schwer wahrnehmen.
Anna Katharina zeigt sie uns. Durch ihr hinfälliges Leben, ihre selbstgewählte Armut, ihre schrankenlose Offenheit für andere, durch ihre Teilnahme am Leben und am Leiden anderer konnte Gott „anwesend” werden, zum Trost für viele.
Anna Katharina wird als fünftes von 9 Kindern am 8. September 1774 in Coesfeld in Westfalen geboren. Ihre Eltern sind arme Tagelöhner eines Bauern. Das Elternhaus ist, wie damals in dieser Schicht üblich, von Not und Krankheit geprägt. Die beiden ältesten der 9 Kinder sterben noch im Kindesalter.
Nicht zuletzt als Folge ihrer ärmlichen Herkunft, ist Anna Katharina von Jugend an schwächlich. In manchen Darstellungen wird die Herkunft Anna Katharinas romantisch idealisiert. Das entspricht allerdings nicht den Tatsachen. Die Kinder werden von den Eltern religiös erzogen. Allerdings ist die Welt ihrer Herkunft und auch ihr kindliches Weltbild nicht heil oder vollkommen. Das vorherrschende Gottesbild der damaligen Zeit ist der strafende Gott und das religiöse Verständnis weitgehend auf die Moral fixiert. Das ist auch der religiöse Ausgangspunkt für Anna Katharina, die allerdings im Laufe ihrer Entwicklung zu einer anderen, eigenständigen Gottesbeziehung gelangen wird.
Anders als die anderen
Zur Schule kann sie nur 4 Monate gehen, aufgrund der vorrangigen Arbeit. Sie nutzt aber jede freie Zeit, ihre Kenntnis von Lesen und Schreiben zu verbessern. Beim Hüten des Viehs, an den Sonn- und Feiertagen sieht man sie lesen. Sie erzählt selbst, dass sie halbe Nächte, wenn die Eltern schlafen, mit der Lesung geistlicher Bücher zubringt.
Eine erstaunliche Gabe der inneren Schau ist ihr schon von Kindesbeinen an geschenkt. Sie sieht und verkehrt mit ihrem Schutzengel und wird nicht selten vom Jesuskind besucht, das sie in ihrer plattdeutschen Mundart das Jüngsken nennt. Auch Johannes der Täufer gehört zu ihren „Besuchern”. Ihn nennt sie: Hännesken, mit sin Fell, Hänschen, mit seinem Fell.
Für die Eltern ist es nicht leicht, ihr Kind, das offensichtlich anders als die anderen Kinder ist, zu verstehen. Oft fragt sie der Vater, wenn sie von den Heiligen oder von Ereignissen im Kirchenjahr erzählt, die ihr gezeigt werden: Kind, woher hast du das alles?
Anna Katharina hat sich selbst als eigensinnig und hitzig bezeichnet. Zeit ihres Lebens kämpft sie mit ihrer lebhaften, schnell aufwallenden Gemütsart. Allerdings deuten diese Charakterzüge auch auf die ihr eigene Kraft hin, das, wofür sie sich entschieden hat, auch durchzusetzen und einsam, ohne Unterstützung ihren Weg zu verfolgen
Wie damals üblich, haben die Eltern für sie vorgesehen, dass sie heiraten soll. Deshalb wollen sie auch, dass ihre Tochter an den damals gebräuchlichen Vergnügungen teilnehmen soll, um so einen Mann zu finden. Hier widersetzt sich Anna Katharina entschieden! Für sie ist klar, dass sie Nonne werden möchte. Sie ist fasziniert von den Erzählungen der Bibel, von den Geschichten der Heiligen, vom Kirchenjahr mit seinen Festgeheimnissen, mit einem Wort – sie ist fasziniert von Gott.
„Die Bauerndirne wollen wir nicht”
Nichts kann sie von ihrer Wahl abbringen. Das ist durchaus erstaunlich, denn angesichts ihrer ärmlichen Herkunft halten ihr alle zu Recht vor, dass für sie sowieso kein Weg ins Kloster führt. Mehr als ein heiratswilliger junger Mann klopft an der Haustür der Emmerichs - jedoch ohne Erfolg. Ohne Rückendeckung oder Verständnis bleibt Anna Katharina bei ihrem Entschluss. Die Eltern machen ihr schwere Vorwürfe und versuchen alles, sie vom Gedanken an das Kloster abzubringen.
Sie bewirbt sich vergeblich bei mehreren Klöstern. Aufgrund ihrer Armut wird sie überall abgelehnt: Die Bauerndirne wollen wir nicht, muss sie mehrmals hören. Was tun? Da sie für die schwere Feldarbeit zu schwächlich ist, beginnt sie eine Ausbildung als Näherin. 5 Jahre arbeitet sie bei einer Näherin in Coesfeld, danach selbständig als Haus und Wandernäherin. Ich hatte mir durch Nähen ein hübsches Sümmchen zusammengespart, denn ich arbeitete flink und jedermann hatte mich lieb, sodass ich Arbeit in Überfluss gehabt hatte.
Während all der Jahre hält sie an ihrem Wunsch Nonne zu werden fest. Als die Klarissen in Münster eine Organistin suchen, sieht sie eine neue Chance. Obwohl sie, mittlerweile 25-jährig, noch nie ein Instrument gespielt hat, ist sie bereit, bei einem Organisten das Orgelspielen zu erlernen.
Schon nach kurzer Zeit allerdings hat sie ihre Ersparnisse für die sehr verschuldete Familie ihres Orgellehrers ausgegeben. Allein die Tatsache, dass die Tochter des Organisten, die auch in das Kloster eintreten will, darauf besteht, dass Anna Katharina auch aufgenommen wird, ermöglicht ihr endlich den Klostereintritt. Die Eltern sind nach wie vor auf das Schärfste gegen ihre Pläne, der Vater sagt ihr sogar: „Lieber wollt ich dein Begräbnis als deine Aussteuer für das Kloster zahlen.”
Die elterliche Autorität spielte zur damaligen Zeit eine außerordentliche Rolle und Anna Katharina brauchte ein großes Maß an Selbständigkeit und Beharrlichkeit um an ihrem Plan festzuhalten. Ihr Weg ist für die damalige Zeit, besonders für eine Frau aus der Unterschicht, sehr ungewöhnlich.
„Gott ist Liebe”
Ihre Entscheidung für ein klösterliches Leben ist auch die Frucht einer eigenständigen religiösen Erfahrung. Der Weg, den sie von Gott geführt wird, ist sicherlich ungewöhnlich, man kann sagen schon von Kindesbeinen an. Die Visionen und Bilder erlebt sie genau so real wie ihre Umwelt im elterlichen Haus. Die Eltern und der Schullehrer sind über ihre Äußerungen erstaunt bis verärgert und sie beginnt über das, was sie sieht zu schweigen, weil sie oft auf Unverständnis oder Mistrauen stößt. Es ist für die Menschen, die je mit Anna Katharina in Berührung kamen, nicht leicht, mit ihrer Andersartigkeit, ihrer Außerordentlichkeit umzugehen. Ihr Weg und ihre Erfahrung sprengen die üblichen Grenzen, das muss man entweder akzeptieren oder man wird sie, was ihr nur zu oft widerfährt, vehement ablehnen und verfolgen.
Oft betet Anna Katharina vor einem Kreuz in einer Kirche in Coesfeld. Im Gebet vor diesem Kreuz erfährt sie prägende Begegnungen mit Gott, der seinen einzigen Sohn dahingab, mit Jesus am Kreuz, der aus Liebe für die Menschen gelitten hat. Wenn man wissen will, wie konkret für Anna Katharina Jesus am Kreuz ist, dann muss man Passagen aus ihrem Buch: Leiden und Sterben unseres Herrn und Heilandes lesen. Ihr Gottesbild vollzog hier, vor dem Kreuz, eine entscheidende Wandlung, denn sie erfährt Gott als den Liebenden, den Barmherzigen, der will, dass alle Menschen gerettet werden: „Alles dieses entsetzliche Leiden war doch lauter Liebe.”
Sie wird zutiefst in das Geheimnis des Leidens und seiner erlösenden Macht eingeführt; das erklärt auch ihren eigenen Lebensweg. Anna Katharina ist kein willenloses Werkzeug Gottes, keine willenlose Dulderin, sondern ein Mensch, der gleichsam eintaucht in den Blick Gottes auf diese verlorene Welt und der Gottes Schmerz
„versteht” und mitleiden möchte. Anna Katharina ist als Erstes eine Liebende und nur von dort her kann man ihr Leben und ihr Leiden richtig verstehen, ohne ihr Bild einseitig zu verzerren.
Im Kloster
Die Säkularisierung hat vor den Pforten des Klosters und seinem Geist nicht halt gemacht. Die Disziplin ist erschlafft und die Ablehnung Anna Katharinas, als zu fromm, von Seiten der Kommunität ist vorprogrammiert. Zudem ist sie mittellos und oft krank; auch das steigert nicht unbedingt ihre Beliebtheit. Es kommt vor, dass man die Kranke einfach unversorgt in ihrem Zimmer liegen lässt. Nachdem das Kloster aufgelassen wird, verlässt sie es 1812 als Letzte. Sie findet Unterkunft bei einem Priester und arbeitet als Haushälterin, allerdings nur ein halbes Jahr. Denn sie ist so krank, dass sie bettlägerig wird. Ihre jüngere Schwester, eine sehr schwierige Person, wird als Hilfe geholt.
In diesem kleinen Kämmerlein beginnt ein neuer Lebensabschnitt für Anna Katharina, den sie sich so weder gewünscht noch ausgesucht hat. Doch sie nimmt das Neue an, im Wissen, dass ihr Leiden, ihr Zustand einen Wert hat. Sie verbringt ihre Zeit mit intensivem Gebet, besonders dem Gebet für andere, und nimmt am Leben der Kirche in vielen Bildern und Visionen teil.
Schon früh hat Anna Katharina bei ihrer Begegnung mit dem leidenden Christus starke Schmerzen am Kopf empfunden, wie von einer Dornenkrone. Am Ende ihrer Klosterzeit entstanden aus den Schmerzen die Wundmale an Händen und Füßen und an der Brust. In ihnen wird ihre tiefe Verbundenheit mit Christus sichtbar.
Gleichzeitig ist sie durch die Wundmale das Objekt bösartiger Verleumdungen und würdeloser Untersuchungen. Sowohl die Autoritäten des Staates als auch die Autoritäten der Kirche unterziehen sie tagelanger, quälender Untersuchungen. Die einen wollen nachweisen, dass die Phänomene der Nahrungslosigkeit, der Stigmata naturwissenschaftlich erklärbar sind, die anderen wollen sie als Betrügerin entlarven. Es gelingt weder das eine noch das andere.
Das Mitleiden
Anna Katharina hat die Not der Menschen und die Anliegen der Kirche zu ihren ganz persönlichen Anliegen gemacht. In ihren umfassenden Visionen wird ihr die Kirche in der Schwäche und Sündhaftigkeit ihrer Glieder gezeigt, aber auch die Herrlichkeit der triumphierenden Kirche und des Himmels. Zwischen diesen beiden Wirklichkeiten, die im Grunde eine einzige Wahrheit sind, ist ihr Leben gleichsam ausgespannt.
Es ist schwer nachzuvollziehen, welche Weite in Raum und Zeit in diesem kleinen Zimmer herrschen. Das Tagebuch ihres Arztes, der sie anfangs ausgelacht hat und später ihr treuer Freund wird, sowie die Aufzeichnungen ihrer Visionen vermitteln uns einen Eindruck von ihrer unglaublich reichhaltigen Welt.
Viele Kranke und Leidende kommen zu ihr um Trost und Hilfe zu erhalten. Auch Menschen, die Rang und Namen haben, die in der Zeit der Aufklärung und der Säkularisierung ihren Glauben verloren hatten, finden in ihrem Zimmer Trost und einen neuen Zugang zu Gott und zur Kirche. Zu diesen gehört auch Clemens Brentano.
Eine erstaunliche Freundschaft
„Ich sitze mit Tränen auf dem Schutt meiner Torheit und beiweine das verlorne Leben.” Diese Zeilen schreibt der Dichter Brentano an einen Freund. Das verblüfft, denn Brentano ist vermögend, gutaussehend, er verkehrt in den vornehmen Abendgesellschaften von Berlin; sein Geist und sein Witz, sein Charme und seine Dichtkunst lassen ihm die Herzen, namentlich der Frauen, zufliegen. Dennoch, er ist ein zutiefst Getriebener und Sklave seiner Leidenschaften. Vom Glauben und von der Religion hat er sich innerlich längst losgesagt und sein Leben ist ziellos geworden.
Nachdem alle Versuche, in seinem Leben Sinn und Halt zu finden, gescheitert sind, beginnt er Gott zu suchen. Auf seinem mühevollen Weg, der ihn in die katholische Kirche führt, begegnet er durch seinen Bruder Christian Anna Katharina Emmerich. Diese Begegnung wird prägend für sein ganzes Leben: Er lässt alles zurück, um 6 Jahre lang, bis zum Tod von Anna Katharina Emmerich, an ihrem Krankenbett zu sitzen und ihre Visionen aufzuzeichnen.
Die Freundschaft zwischen dem Dichter Brentano und der Nonne Anna Katharina Emmerich ist wohl eine der erstaunlichsten. Bei stundenlangem Zuhören notiert er die Visionen, Bilder und Schauungen von Anna Katharina und sammelt so eine unglaubliche Fülle an Material, 16 000 Seiten. Daraus entstehen in fünf Bänden: Die Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich. Am weitesten verbreitet ist der 1.Band dieser Reihe, Das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus. Dieses Buch erreichte im 19. Jahrhundert eine größere Auflage als die Werke von Goethe und Schiller.
Nach langem Leiden stirbt Anna Katharina Emmerich am 9. Februar 1824. Sie ist 50 Jahre alt geworden. Bei ihrem Begräbnis nehmen ungewöhnlich viele Menschen von ihr Abschied.
Im Jahr 2001 spricht ihr der Papst den „heroischen Tugendgrad” zu, eine wesentliche Etappe im Seligsprechungsprozess.
Im Jahr 2004 wird Anna Katharina in Rom selig gesprochen werden.