Hildgard von Bingen
(1)
Der Mensch in
der Verantwortung
(LIBER VITAE MERITORUM)
Zu Beginn meines einundsechzigsten
Lebensjahres also, im Jahre 1158 nach der Menschwerdung des Herrn, da der
Apostolische Stuhl bedrängt war und Kaiser Friedrich das Römische Reich
regierte, da hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sprechen: „Du, der du von
deiner Kindheit an durch den Geist des Herrn nicht auf leibliche Weise, sondern
geistig in der wahren Schau unterwiesen wurdest, verkünde nun das, was du jetzt
siehst und hörst. Denn von Beginn deiner Schau an wurden dir einige
Erscheinungen gleichsam wie flüssige Milch gezeigt; andere wieder wurden dir
gleich einer erquickenden, leichten Speise angeboten; noch andere wurden dir wie
feste und vollkommne Nahrung angewiesen. So rede denn auch jetzt wiederum nach
Mir und nicht nach dir, und schreibe Mir nach und nicht dir nach!“
Auszug:
Das will so verstanden sein: Ermahnt durch den
Heiligen Geist sollen wir in wahrhafter Gesinnung hinzutreten zur höchsten
Glückseligkeit, und in Friedfertigkeit sollen wir das Gute beginnen, um es in
Frömmigkeit zu vollenden. Denn im Frieden entbrennt die brüderliche Liebe, und
die Frömmigkeit beachtet in Gottes Nachfolge alle Lebensbedürfnisse des
Menschen. Und so sollen wir in der reinen und. einfachen Vollendung des wahren
Glaubens unseres Herzens (und nicht in bösartiger Zwiespältigkeit, mit der ein
Mensch in seinem Eigensinn sich dieses aussucht und jenes ablehnt) auch in
unseren Herzen besprengt werden mit den Wassern der Schrift. Das Wissen, das uns
zu bösen Taten treibt, sollen wir von uns abwerfen, um mit den einzelnen Worten
dieser Schrift zu suchen, wer Gott sei und was uns Seine Werke bedeuten. So
machen wir das Gewissen in uns wieder rein, das, durch Adams Fall von den
Schuppen des Todes umdüstert, nur zu oft seinen Glauben und seine Werke
verleugnet. Unser inneres Leben ist nämlich so lange nicht lauter, ehe wir nicht
gereinigt sind von unserer Schuld, und zwar so, daß auch unser Leib sichtbarlich
durchflutet wird vom Wasser der Taufe, das der Heilige Geist unsichtbar läutert
und lebendig macht, damit der Sündenschmutz von der Seele gewaschen und die gar
elende Natur des Fleisches von seinem unreinen Geifer im Bad erfrischt werde.
Wenn dies geschehen sein wird, dann sollen wir auch im festen und lauteren
Glauben das Bekenntnis jener Hoffnung halten, das wir öffentlich bei der Taufe
gelobt haben, indem wir Gott vertrauen und den Teufel verachten. Fürderhin
sollte er uns nicht mehr durch eine Verführung seiner diabolischen Künste von
diesem Glauben ablenken. Unerschüttert sollte er in uns, fest verwurzelt und
wohlgewachsen, bestehen, da wir im Bad der Wiedergeburt auf diese Weise
gezeichnet sind, daß wir in der unverfälschten Gerechtigkeit Kinder Gottes
heißen. Denn der ist treu bei jeder Gabe und in jedwedem Werk, der den
verheißenen Lohn des glückseligen Erbes Seinen Getreuen und allen denen, die
wahrhaftig auf Ihn vertrauen, gewähren wird. Von diesem wahren Gottessohn
selber, der an der Grenze der Weltalter wahrhaft Mensch wurde, werden sie in
dieser Fülle des Glaubens den auf ewig gesicherten Lohn erhalten.
Hildegard von Bingen - Der Mensch in der
Verantwortung
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