Kirche Weitental

†  Gott ist die Liebe - Er liebt dich  †

 Gott ist der beste und liebste Vater, immer bereit zu verzeihen, Er sehnt sich nach dir, wende dich an Ihn
nähere dich deinem Vater, der nichts als Liebe ist. Bei Ihm findest du wahren und echten Frieden, der alles Irdische überstrahlt

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Maria Valtorta - Der Gottmensch

Band 2

 

Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte. Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.

Das Werk kann man hier in Buchform erwerben:

Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch

Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
 



Nur zu Testzwecken!

Inhalt
 

Band II:
Erstes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)

95. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus. S. 9
96. Jesus predigt und wirkt Wunder im Hause Petri. S. 15
97. Jesus betet in der Nacht. S. 20
98. Der Aussätzige bei Chorazim wird geheilt. S. 23
99. Heilung des Gelähmten im Haus e Petri in Kapharnaum. S. 27
100. Der wunderbare Fischfang. S. 33
101. Iskariot findet Jesus erneut im Gethsemane und wird als Jünger angenommen. S. 35
102. Jesus wirkt am Fischtor das Wunder der zerbrochenen Klingen. S. 38
103. Iskariot ist im Tempel, wo Jesus predigt. S. 42
104. Jesus belehrt Judas Iskariot. S. 47
105. Jesus begegnet Johannes des Zebedäus im Garten Gethsemane. S. 53
106. "Johannes, der Stammvater aller, die sich als Hostien hingeben aus Liebe zu mir". S. 58
107. Jesus und Judas Iskariot begegnen Simon dem Zeloten und Johannes. S. 59
108. Jesus, Johannes, Simon und Judas gehen nach Bethlehem. S. 63
109. Jesus und die Hirten Elias, Levi und Joseph. S. 66
110. Jesus in der Herberge von Bethlehem - Er predigt auf den Trümmern von Annas Haus. S. 76
111. Jesus und die Hirten Elias, Levi und Joseph. S. 84
112. Jesus in Jutta beim Hirten Isaak. S. 90
113. Jesus in Hebron - Das Haus des Zacharias - Aglaia. S. 98
114. Jesus in Kerioth - Tod es alten Saul. S. 105
115. Jesus mit den Hirten auf dem Rückweg nach Hebron. S. 115
116. Jesus auf dem Berg des Fastens und am Felsen der Versuchung. S. 121
117. Am Übergang des Jordan, Begegnung mit den Hirten Johannes, Matthias und Simeon. S. 131
118. Iskariot verkauft Diomedes die Schmuckstücke der Aglaia. S. 136
119. Jesus weint über Judas. Simon der Zelote tröstet ihn. S. 143
120. "Bei euch stehen die Guten im selben Verhältnis zu den Bösen wie die Apostel zu Judas".S. 147
121. Begegnung Jesu mit Lazarus in Bethanien. S. 148
122. Jesus kehrt nach Jerusalem zurück und hört im Tempel Iskariot - Im Ölgarten. S. 154
123. Jesus spricht mit dem Soldaten Alexander am Fischtor. S. 159
124. Jesus und Isaak bei Doko - Aufbruch nach Esdrelon. S. 164
125. Jesus beim Hirten Jonas in der Ebene von Esdrelon. S. 167
126. Abschied von Jonas und Rückkehr nach Nazareth. S. 173
127. Am Tag darauf im Haus von Nazareth. S. 180
128. Jesus unterrichtet die Jünger im Olivenhain. S. 185
129. Jesus unterweist die Jünger zu Hause. S. 189
130. Unterweisung der Jünger mit der allerheiligsten Jungfrau Maria im Garten von Nazareth. S. 192
131. Heilung der Schönen von Chorazim -Predigt in der Synagoge von Kapharnaum. S. 197
132. Jakobus des Alphäus wird als Jünger angenommen Jesus predigt neben dem Zahltisch des Matthäus. S. 205
133. Jesus predigt vor der Menge in Bethsaida. S. 210
134. Berufung des Matthäus zum Jünger. S. 216
135. Jesus auf dem See in Tiberias - Belehrung der Jünger vor der Stadt. S. 223
136. Jesus sucht Jonathan im Hause Chuzas, in Tiberia. S. 232
137. Jesus im Hause des Onkels Alphäus und danach in seinem eigenen Haus. S. 236
138. Jesus befragt seine Mutter über die Apostel. S. 246
139. "Wieviel Menschliches bei den Aposteln!". S. 247
140. Heilung Johannas des Chuza, bei Kana. S. 249
141. Jesus im Libanon bei den Hirten Benjamin und Daniel. S. 256
142. Jesus erhält in der Stadt am Meer. Briefe über Jonas. S. 262
143. Jesus schliesst im Hause Marias des Alphäus mit dem Vetter Simon Frieden. S. 269
144. "Die Gnade wirkt immer, wo der gute Wille zur Gerechtigkeit vorhanden ist". S. 273
145. Jesus wird in Nazareth schlecht empfangen. S. 274
146. Jesus mit der Mutter im Hause der Johanna des Chuza. S. 277
147. Jesus bei der Weinlese im Hause Annas - Das Wunder am gelähmten Kinde. S. 280
148. Jesus bei Doras - Der Tod des Jonas. S. 286
149. Jesus im Hause des Jakobus am See Meron. S. 299
150. Rückkehr zur Furt des Jordans bei Jericho. S. 304
151. Jesus im Hause des Lazarus - Martha spricht über Magdalena. S. 309
152. Wieder im Hause des Lazarus nach dem Laubhüttenfest - Einladung von Joseph aus Arimathäa. S. 315
153. Jesus begegnet Gamaliel beim Mahle Josephs von Arimathäa. S. 317
154. Heilung des sterbenden Kindes - Der Soldat Alexander - Misstrauen gegen Jesus. S. 324
155. Jesus spricht bei Nacht mit Nikodemus im Gethsemane. S. 329
156. Jesus bei Lazarus, bevor er zum 'Trügerischen Gewässer' geht. S. 339
157. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': Vorbereitung der Jünger auf das Gemeinschaftsleben. S. 343
158. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': "Ich bin der Herr, dein Gott!". S. 349
159. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst keine Götter neben mir haben". S. 357
160. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst meinen Namen nicht unnütz aussprechen". S. 361

 

 

95. DIE HEILUNG DER SCHWIEGERMUTTER DES PETRUS

Petrus spricht mit Jesus: «Meister, ich möchte dich bitten, in mein Haus zu kommen. Ich wagte nicht, es dir am vergangenen Samstag zu sagen. Aber... ich möchte, daß du kommst.»

«Nach Bethsaida?»

«Nein... hier, in das Geburtshaus meiner Frau.»

«Weshalb dieser Wunsch, Petrus?»

«Aus vielen Gründen; und heute ist mir gesagt worden, daß meine Schwiegermutter krank ist. Wenn du sie heilen könntest, vielleicht würde sie ...»

«Sprich zu Ende, Simon.»

«Ich möchte sagen... wenn du dich ihr nähern würdest, dann würde sie aufhören... ja, weißt du, es ist etwas anderes, ob ich über jemand sprechen höre... oder ob ich ihn selbst sehe und höre. Und wenn einer noch dazu geheilt würde... dann ...»

«Dann würde auch ihr Groll aufhören, willst du wohl sagen.»

«Nein, Groll nicht... doch weißt du, der Ort ist in viele Meinungen gespalten, und sie weiß nicht, wem sie recht geben soll. Komm also, Jesus!»

«Ich komme. Laß uns gehen! Sagt den Wartenden Bescheid, daß ich vor deinem Hause zu ihnen sprechen werde.»

Sie gehen bis zu einem niedrigen Haus; es ist noch niedriger als das Haus des Petrus in Bethsaida und liegt auch näher am See. Es ist von diesem durch eine Böschung aus Felsgestein getrennt, und ich glaube, daß bei Sturm die Wellen gegen die Mauern des Hauses schlagen. Das Haus ist wohl niedrig, aber sehr breit und bietet Platz für mehrere Personen.

Im Garten vor dem Hause, dem See zugewandt, steht nur ein alter, knorriger Weinstock, der sich über eine roh gezimmerte Pergola ausbreitet, sowie ein alter Feigenbaum, den der Seewind ganz nach dem Hause hingebogen hat. Die zerzauste Krone berührt die Hauswand und schlägt gegen die Fensterläden, die geschlossen sind, um die pralle Sonne abzuhalten. Es gibt hier nur diesen Weinstock und den Feigenbaum und einen niedrigen Brunnen mit einer grünbemoosten Mauer.

«Tritt ein, Meister!»

Es sind Frauen in der Küche; die einen flicken Netze, die anderen bereiten die Mahlzeit. Sie begrüßen Petrus; dann verneigen sie sich verlegen vor Jesus und werfen ihm einstweilen neugierige Blicke zu.

«Friede diesem Hause! Wie geht es der Kranken?»

9

«Sprich du, denn du bist die ältere Schwiegertochter», sagen drei Frauen zu einer, die sich gerade die Hände an einem Schürzenzipfel abtrocknet.

«Das Fieber ist hoch, sehr hoch. Wir haben den Arzt gerufen; doch er sagt, sie sei zu alt, um gesund werden zu können, und wenn das Übel von den Knochen zum Herz zieht und das Fieber noch mehr steigt, dann führt das, besonders in diesem Alter, zum Tod. Sie ißt schon nichts mehr; ich gebe mir Mühe, gutes Essen für sie zu bereiten; auch jetzt wieder, schau, Simon! Ich koche ihr gerade diese Suppe, die sie immer so gerne mochte. Ich habe vom Schwager den besten Fisch bekommen. Doch ich glaube nicht, daß sie essen kann. Sie ist so unruhig. Sie schreit, weint, klagt, lästert ...»

«Habt Geduld mit ihr, als ob sie eure Mutter wäre; Gott wird es euch lohnen! Bringt mich zu ihr.»

«Rabbi... Rabbi... ich weiß nicht, ob sie dich sehen will. Sie will niemand sehen. Ich wage nicht, ihr zu sagen: "Nun bringe ich dir den Rabbi."»

Jesus lächelt, ohne die Ruhe zu verlieren. Er wendet sich an Petrus: «Also ist es an dir, Simon. Du bist ein Mann und der älteste der Schwiegersöhne, wie du mir gesagt hast. Geh!»

Petrus verzieht vielsagend das Gesicht und gehorcht. Er geht durch die Küche, betritt dann ein Zimmer, und durch die von ihm geschlossene Türe hört man ihn mit einer Frau verhandeln. Er steckt den Kopf heraus, winkt mit der Hand und sagt: «Komm, Meister, mach schnell!» und fügt leise, kaum verständlich hinzu: «Bevor sie ihre Meinung ändert.»

Jesus geht rasch durch die Küche und öffnet die Türe. Auf der Schwelle stehend, sagt er seinen sanften, feierlichen Gruß: «Der Friede sei mit dir!» Dann betritt er das Zimmer, obwohl ihm keine Antwort gegeben worden ist. Er geht zu einem niedrigen Lager, auf dem ein ganz grauhaariges Weiblein liegt. Infolge des hohen Fiebers, das ihr eingefallenes Gesicht stark rötet, atmet sie schwer.

Jesus beugt sich über das Lager und lächelt der Alten zu: «Hast du Schmerzen?»

«Ich sterbe.»

«Nein, du wirst nicht sterben. Vermagst du zu glauben, daß ich dich heilen kann?»

«Warum solltest du dies tun? Du kennst mich doch nicht.»

«Für Simon, der mich darum gebeten hat, und auch deinetwegen, um deiner Seele Zeit zu geben, das Licht zu erblicken und zu lieben.»

«Simon? Er täte besser... Wie kommt es, daß Simon an mich denkt?»

«Weil er besser ist, als du glaubst. Ich kenne ihn und weiß es. Ich kenne ihn und freue mich, seine Bitte zu erfüllen.»

«So willst du mich heilen? Ich werde noch nicht sterben?»

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«Jetzt wirst du nicht sterben. Kannst du an mich glauben?»

«Ich glaube, ich glaube, wenn ich nur nicht sterbe!»

Jesus lächelt wieder. Er ergreift ihre Hand. Sie ist voller Runzeln und geschwollener Adern und verschwindet in der jugendlichen Hand Jesu. Er richtet sich nun auf und nimmt das Aussehen an, das er beim Wunderwirken hat... Dann ruft er: «Sei geheilt! Ich will es! Erhebe dich!» Und läßt ihre Hand los, die wieder zurückfällt, ohne daß die Alte jammert, während sie kurz vorher, als Jesus sie, wenn auch mit großer Zartheit, anfaßte, laut aufschrie.

Eine kurze Weile des Schweigens; dann ruft die Alte auf: «O Gott der Väter! Ich habe nichts mehr, ich bin geheilt! Kommt, kommt!»

Die Schwiegertöchter eilen herbei. «Seht!» sagt die Alte, «ich kann mich ohne Schmerzen bewegen. Ich habe kein Fieber mehr. Schaut, wie ich frisch bin. Und das Herz schlägt nicht mehr wie der Hammer eines Schmiedes. Oh, nun sterbe ich nicht!»

Kein Wort für den Herrn. Doch Jesus macht sich nichts daraus. Er sagt zur ältesten der Schwiegertöchter: «Kleide sie an, sie soll aufstehen! Sie kann es.» Dann will er gehen.

Simon wendet sich ganz beschämt an die Schwiegermutter: «Der Meister hat dich geheilt. Sagst du ihm nichts?»

«Natürlich, ich dachte nicht daran. Danke! Was kann ich tun, um dir meinen Dank zu bezeugen?»

«Gut sein, sehr gut sein. Denn der Ewige war gut zu dir! Und wenn es dir nichts ausmacht, dann lasse mich heute in deinem Hause etwas ausruhen. Ich habe während der Woche sämtliche Ortschaften in der Umgebung besucht und ich bin heute morgen hier angekommen. Ich bin müde.»

«Natürlich, natürlich! Bleibe nur, wenn du willst!» Es liegt jedoch wenig Begeisterung in ihrer Stimme.

Jesus setzt sich mit Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes in den Garten.

«Meister!»

«Mein Petrus?»

«Ich schäme mich.»

Jesus macht eine Handbewegung, als wolle er sagen: «Laß es gut sein!»

Dann fügt er bei: «Sie ist nicht die erste und wird auch nicht die letzte sein, die nicht sofort dankbar ist. Doch ich erwarte keine Dankbarkeit. Es genügt mir, den Seelen die Mittel zu geben, sich zu retten. Ich tue meine Pflicht. Es liegt an ihnen, auch ihre zu tun.»

«Oh, hat es denn auch schon andere dieser Art gegeben? Wo? ...»

«Neugieriger Petrus! Ich will dich zufriedenstellen, obgleich ich unnötige Neugier nicht liebe.

In Nazareth: erinnerst du dich an Saras Mutter? Sie war sehr krank, als wir nach Nazareth kamen, und man sagte uns, daß das Kind weine. Um es, das gut und sanft ist, nicht Waise und später Stieftochter werden zu lassen, habe ich die Frau aufgesucht... ich wollte sie heilen... doch ich hatte den Fuß noch nicht über die Schwelle gesetzt, da jagten mich der Mann und ein Freund von ihm davon: "Weg, weg! Wir wollen keine Scherereien mit der Synagoge!" Für sie, für viele bin ich schon ein Aufrührer... Ich habe sie trotzdem geheilt... wegen ihrer Kinder. Und zu Sara, die im Garten war, habe ich liebevoll gesagt: "Ich heile deine Mutter! Geh nach Hause und weine nicht mehr!" Und die Frau war im gleichen Augenblick geheilt; das Kind hat es ihr, dem Vater und auch dem Onkel erzählt; weil das Kind mit mir gesprochen hatte, wurde es bestraft. Ich weiß es, denn das Kind ist mir nachgegangen, als ich den Ort verließ ...»

«Ich hätte sie wieder krank werden lassen.»

«Aber Petrus!»

Jesus blickt ihn streng an: «Ist dies die Lehre, die ich dir und den anderen verkünde? Was hast du auf meinen Lippen gehört, seit du mich zum ersten Mal reden gehört hast? Worüber habe ich gesprochen, welche Bedingungen habe ich an die gestellt, die meine wahren Jünger sein wollen?»

«Es ist wahr, Meister, ich bin ein Esel. Verzeih, doch ich kann es nicht ertragen, wenn man dich nicht liebt.»

«O Petrus, du wirst noch mehr Undank sehen. Viele Überraschungen wirst du erleben, Petrus; Personen, die von der sogenannten "heiligen" Welt wie die Zöllner verachtet werden, im Gegenteil, werden ein Vorbild für die Welt sein, ein Vorbild, nicht nachgeahmt von denen, die sie verachten; Heiden werden zu meinen Getreuesten gehören; Dirnen, die durch ihre Willenskraft und ihre Buße wieder rein werden; Sünder, die sich bekehren!»

«Höre, daß ein Sünder sich bekehrt, halte ich für möglich; aber eine Dirne und ein Zöllner! ...»

«Du glaubst es nicht?»

«Ich nicht.»

«Dann irrst du, Simon; doch da kommt deine Schwiegermutter zu uns.»

«Meister, ich bitte dich, setze dich an meinen Tisch!»

«Danke, Frau, Gott möge es dir vergelten!»

Sie gehen in die Küche und setzen sich an den Tisch, und die Alte bedient die Männer großzügig mit Fischsuppe und Bratfisch.

«Ich habe nur dies», entschuldigt sie sich. Und um nicht aus der Übung zu kommen, sagt sie zu Petrus: «Alles müssen deine Schwäger machen, seitdem du nach Bethsaida gegangen bist. Wenn du wenigstens meine Tochter reich gemacht hättest; aber ich höre, daß du oft abwesend bist und nicht fischen gehst.»

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«Ich folge dem Meister. Ich war mit ihm in Jerusalem, und auch am Sabbat bin ich bei ihm. Ich verliere die Zeit nicht mit Unsinn.»

«Doch du verdienst nichts. Statt der Diener des Propheten zu sein, würdest du besser tun, wieder hierher zu kommen. So hätte wenigstens meine Tochter, das arme Geschöpf, Verwandte, die sie ernähren, während du den Heiligen spielst.»

«Schämst du dich nicht, so zu sprechen vor ihm, der dich geheilt hat?»

«Ich kritisiere ihn nicht! Er tut sein Handwerk. Ich kritisiere dich, weil du den Nichtstuer spielst. Übrigens, du wirst nie ein Prophet noch ein Priester werden. Du bist ein Dummkopf, ein Sünder und ein Nichtsnutz.»

«Du hast Glück, daß er zugegen ist, sonst ...»

«Simon, deine Schwiegermutter hat dir einen vortrefflichen Rat gegeben. Du kannst auch von hier aus fischen. Du hast vorher ja auch in Kapharnaum gefischt, wie ich höre; du kannst hierher zurückkehren.»

«Und wieder hier wohnen? Aber Meister, du ...»

«Hör zu, mein Petrus! Wenn du hier bist, dann wirst du entweder auf dem See oder bei mir sein. Was macht es dir also aus, in diesem Haus zu wohnen?» Jesus hat die Hand auf die Schulter Petri gelegt, und man hat den Eindruck, daß sich Jesu Ruhe auf den kochenden Apostel überträgt.

«Du hast recht, du hast immer recht. Ich werde es tun! Doch diese?»Er zeigt auf Johannes und Jakobus, seine Gehilfen und Gefährten.

«Können die denn nicht auch hierherkommen?»

«Oh, unser Vater und besonders unsere Mutter sind viel glücklicher, wenn sie uns bei dir wissen, als wenn wir zu Hause sind. Sie werden uns nicht hindern.»

«Vielleicht kommt dann auch Zebedäus», sagt Petrus.

«Bestimmt, nicht nur vielleicht. Und andere mit ihm. Wir werden kommen, Meister, ohne Zweifel; wir werden kommen.»

«Ist Jesus von Nazareth hier?» fragt ein Kind, das am Eingang zum Garten erscheint.

«Er ist hier, komm herein! ...»

Es kommt ein kleiner Junge herein, den ich als eines der Kinder wiedererkenne, die ich in einer der ersten Visionen von Kapharnaum gesehen hatte; es war vor die Füße Jesu gepurzelt und hatte versprochen, brav zu sein, um den Honig des Paradieses kosten zu können.

«Kleiner Freund, komm näher!» sagt Jesus.

Der Junge, ein wenig eingeschüchtert durch so viele Menschen, die ihn betrachten, faßt Mut und eilt zu Jesus, der ihn in seine Arme schließt, auf seine Knie setzt und ihm auf einem Stückchen Brot etwas vom Fisch gibt.

«Hier, Jesus, das ist für dich. Auch heute hat die Person zu mir gesagt: "Es ist Sabbat. Bring dies dem Meister von Nazareth und sage deinem Freund, daß er für mich beten soll"... er weiß nämlich, daß du mein Freund bist.» Das Kind lacht glücklich und ißt nun sein Brot mit Fisch.

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«Fein, kleiner Jakobus, sage der Person, daß meine Gebete für ihn zum Vater aufsteigen.»

«Ist es für die Armen?» will Petrus wissen.

«Ja.»

«Ist es wieder dasselbe Almosen? Laß uns sehen!»

Jesus gibt ihm die Börse. Petrus leert alles aus und zählt. «Immer die gleich hohe Summe. Wer ist die Person? Sag, Kleiner, wer ist es?»

«Ich darf und werde es nicht sagen.»

«Welcher Eigensinn! Los, sei nett, dann gebe ich dir eine Frucht.»

«Ich werde dir nichts sagen, ob du mich nun schimpfst oder mich verwöhnst.»

«Hört, was für eine Zunge!»

«Jakobus hat recht, Petrus. Er steht zu seinem gegebenen Wort; laß ihn in Frieden!»

«Weißt du denn, Meister, wer diese Person ist?»

Jesus antwortet nicht. Er kümmert sich um das Kind, dem er noch ein Stückchen gebratenen Fisch gibt, das er zuvor von allen Gräten befreit hat. Doch Petrus läßt nicht locker, und Jesus muß ihm antworten.

«Ich weiß alles, Simon.»

«Und wir dürfen es nicht wissen?»

«Wirst du nie von deinen schlechten Gewohnheiten loskommen?» Jesus rügt ihn lächelnd und sagt: «Bald wirst du es wissen. Das Böse möchte verborgen bleiben und dies gelingt ihm nicht immer. Doch was das Gute betrifft, selbst wenn es verborgen bleiben möchte, um verdienstvoll zu sein, wird es eines Tages zur Ehre Gottes aufgedeckt, dessen Wesen in einem seiner Kinder aufleuchtet. Das Wesen Gottes ist die Liebe. Und dieser hat es verstanden, denn er liebt seinen Nächsten. Geh, Jakobus, und bringe dem Manne meinen Segen!»

So endet die Vision.

Darauf sagt Jesus nur für mich: «Den Gruß, weicher dir so gut gefällt, meinen Gruß: "Der Friede sei mit dir!", mußt auch du als einzigen Gruß allen gegenüber anwenden. Selbst wenn es mein Stellvertreter wäre, sollst du so grüßen, wie ich gegrüßt und zu grüßen gelehrt habe. Ist denn nicht Gott selber Friede? Der Friede, den wir als das Schönste betrachten. Heißt das nicht Gott selbst loben, wenn man den Frieden lobt? Sage deshalb: "Der Friede sei mit dir", nicht mit Ihnen oder mit euch, sondern mit dir, so wie ich es sagte. Und wenn es geschehen sollte, daß du in ein Haus eintrittst, dann sage: "Frieden diesem Hause!" Es gibt keinen schöneren, vielsagenderen, heiligeren Gruß als diesen, und keinen, der so sehr an mich erinnert.

Auf Wiedersehen! Der Friede sei mit dir!»

14

96. JESUS PREDIGT UND WIRKT WUNDER IM HAUSE PETRI

Jesus ist am Garteneingang des Hauses der Schwiegermutter Petri auf einen Stapel von Körben und Seilen gestiegen. Der Garten ist voller Menschen; andere sitzen am Ufer des Sees, oder in den ans Trockene gezogenen Booten. Es scheint, daß Jesus schon eine Weile spricht, denn die Rede ist in vollem Gange.

Ich höre: «Sicher haben viele von euch in ihren Herzen so gedacht, doch dem ist nicht so. Der Herr hat es an Güte seinem Volke gegenüber nie fehlen lassen, obwohl dieses ihm tausend- und zehntausendmal die Treue gebrochen hat. Hört dieses Gleichnis; es wird euch helfen zu verstehen.

Ein König hatte viele, viele schöne Pferde in seinen Stallungen. Doch eines liebte er besonders. Er hatte alles daran gesetzt, es zu bekommen, und dann, als es ihm gehörte, hatte er es an einem bevorzugten Ort untergebracht, zu dem er immer wieder ging, um den Liebling mit seinen Augen und mit seinem Herz zu betrachten. Er träumte davon, aus ihm das Wunder seines Königreiches zu machen. Und als das Pferd sich den Befehlen seines Herrn widersetzte, ungehorsam war und zu einem anderen Herrn flüchtete, hatte der König in seinem Schmerze und seinem Mißfallen dem Rebellen nach der Strafe Verzeihung versprochen. Getreu diesem Versprechen, wachte er, wenn auch von ferne, über seinen Liebling und sandte ihm Geschenke und Wächter, die die Erinnerung an ihn in seinem Herzen wachhalten sollten.

Doch das Pferd war in seiner Liebe und in seinem Verlangen nach vollständiger Vergebung nicht so standhaft, wie es der König war, obwohl es unter der Verbannung aus dem Reiche litt. Es war manchmal gut, manchmal böse; öfters böse, als gut; doch der König hatte Geduld und versuchte alles, um sein bevorzugtes Pferd zu einem treuen Freund zu machen.

Je mehr Zeit aber verstrich, desto bockiger wurde das Pferd. Es verlangte nach dem König und jammerte über die Peitsche des anderen Herrn, doch es wollte nicht wirklich dem König gehören. Es fehlte ihm der feste Wille dazu. Erschöpft, niedergeschlagen und seufzend gab es aber nicht zu: "Es ist meine Schuld, daß es mir so geht", sondern schob die Schuld auf den König. Nachdem dieser alles unternommen hatte, machte er einen letzten Versuch.

"Bis jetzt", sagte er, "habe ich Boten und Freunde gesandt. Jetzt werde ich ihm meinen eigenen Sohn schicken. Er hat das gleiche Herz wie ich und wird ihm mit der gleichen Liebe zureden - mehr noch, denn mein Sohn ist mein eigenes, aber von der Liebe verklärtes Ich." So sandte er den Sohn.

Dies ist das Gleichnis. Nun sagt: Glaubt ihr, daß der König dieses Tier liebte?»

15

«Grenzenlos liebte er es.»

«Konnte das Tier sich über seinen eigenen Herrn beklagen wegen der Übel, die es erleiden mußte, da es ihn verlassen hatte?»

«Nein, das konnte es nicht», antwortet die Menge.

«Antwortet noch auf diese Frage: Wie hat nach eurer Meinung dieses Pferd den Sohn seines Königs empfangen, der gekommen war, es zu befreien, zu heilen und aufs neue in den besseren Stall zu bringen?»

«Natürlich mit Dank, Freude und Zuneigung.»

«Doch wenn der Sohn des Königs zum Pferd gesagt hätte: "Ich bin gekommen, um dies und das für dich zu tun; doch du mußt nun gut, gehorsam, willig und mir treu ergeben sein"... was glaubt ihr, hätte das Pferd gesagt?»

«Oh, das ist doch keine Frage. Nachdem es erfahren hatte, was es heißt, aus dem Königreich ausgestoßen zu sein, wird es auf das vom Königssohn Verlangte eingegangen sein.»

«Also, was denkt ihr, wäre die Pflicht des Pferdes gewesen?»

«Noch besser zu sein, als es von ihm verlangt wurde, noch anhänglicher und gehorsamer, um die Verzeihung der einstigen Schuld zu erlangen, und aus Dankbarkeit für das empfangene Gute.»

«Und wenn es sich nicht so verhalten hätte?»

«Dann hätte es den Tod verdient; denn es wäre schlimmer als ein wildes Tier gewesen.»

«Freunde, ihr habt gut geurteilt. Tut daher auch ihr das, was ihr von dem Pferd erwarten würdet!

Ihr Menschen, geliebte Geschöpfe Gottes des Königs des Himmels und meines und eures Vaters; ihr, denen gemäß den Propheten Gott seinen eigenen Sohn sendet: ich beschwöre euch zu eurem eigenen Besten, da ich euch liebe, wie nur Gott lieben kann, Gott, der in mir ist, um das Wunder der Erlösung zu wirken, seid wenigstens so, wie nach eurem Urteil dieses Tier hätte sein sollen. Wehe dem, der sich als Mensch noch um eine Stufe unter das Tier erniedrigt! Wenn es für jene, die bis zu diesem Augenblick gesündigt haben, noch eine Entschuldigung geben konnte - zuviel Zeit ist ja vergangen, seit das Gesetz gegeben wurde und zuviel Erdenstaub hat sich inzwischen auf es gelegt - jetzt gibt es keine Entschuldigung mehr! Ich bin gekommen, um euch das Wort Gottes wieder zu bringen. Der Menschensohn ist unter den Menschen, um sie zu Gott zurückzuführen. Folgt mir nach! Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.»

Die gewöhnliche Unruhe unter dem Volke...

Jesus gebietet den Jüngern: «Laßt die Armen nach vorne kommen! Ich habe für sie die reiche Spende eines Menschen, der sich ihrem Gebete empfiehlt, um von Gott Verzeihung zu erhalten.»

Es kommen drei Greise in Lumpen gekleidet, zwei Blinde, ein Krüppel und eine Witwe mit sieben ausgehungerten Kindern nach vorne.

16

Jesus betrachtet einen nach dem anderen genau, lächelt der Witwe und besonders den Kindern zu. Er sagt zu Johannes: «Bringe diese in den Garten! Ich will später mit ihnen sprechen.»

Dann wird er ernst, sein Auge flammt auf, als ein Alter vor ihm erscheint. Doch er sagt noch nichts.

Er ruft Petrus und läßt sich die Börse bringen, die er kurz zuvor erhalten hat, und eine andere, mit kleineren Geldstücken, die unter den Guten gesammelt worden sind. Er leert alles auf das Bänkchen beim Brunnen, zählt und teilt. Er macht sechs Teile: einen sehr großen, alles Silberstücke, und fünf kleine mit vielen Bronzemünzen und nur wenigen größeren Geldstücken. Er ruft die kranken Armen und fragt: «Habt ihr mir nichts zu sagen?»

Die Blinden schweigen. Der Verkrüppelte sagt: «Der, von dem du kommst, möge dich beschützen!» sonst nichts.

Jesus legt in seine gesunde Hand das Almosen.

Der Mann sagt: «Gott möge es dir vergelten; doch mehr als dieses wünsche ich mir von dir die Heilung!»

«Du hast nicht darum gebeten.»

«Ich bin arm und ein Wurm, den die Großen zertreten... ich wagte nicht zu hoffen, daß du Mitleid mit einem Bettler haben könntest.»

«Ich bin das Erbarmen, das sich über alles Elend neigt und mich anruft. Ich weise keinen zurück. Ich verlange nur Liebe und Vertrauen, um sagen zu können: Ich achte auf deine Bitte.»

«O mein Herr! Ich glaube und liebe dich. Hilf mir doch, heile deinen Diener!»

Jesus fährt mit seiner Hand wie liebkosend über den gekrümmten Rücken und spricht: «Ich will, daß du gesund bist.» Unter endlosen Lobpreisungen richtet sich der Mann behende und wohlgestaltet auf.

Jesus gibt den Blinden das Almosen und wartet einen Moment; dann läßt er sie gehen. Er ruft die Alten. Er gibt dem ersten das Almosen, tröstet und hilft ihm, das Geld in den Gürtel zu stecken. Jesus erkundigt sich mitleidig nach dem Befinden des zweiten, der ihm die Geschichte seiner kranken Tochter erzählt.

«Ich habe nur sie! Nun wird sie mir sterben. Was wird aus mir werden? Oh, wenn du kämest! Sie kann nicht kommen, sie kann sich nicht mehr aufrichten, sie möchte gerne, doch es ist ihr unmöglich. Meister, Herr, Jesus, habe Erbarmen mit uns!»

«Wo wohnst du, Vater?»

«In Chorazim. Frage nach Isaak des Jonas, genannt der "Erwachsene". Willst du wirklich kommen? Wirst du mein Unglück nicht vergessen? Und wirst du meine Tochter heilen?»

«Glaubst du, daß ich sie heilen kann?»

«Und wie ich es glaube! Deswegen sage ich es dir!»

17

«Geh nach Hause, Vater, deine Tochter wird dich unter der Türe begrüßen!»

«Aber sie ist doch im Bett und kann nicht aufstehen seit drei... Oh! Nun habe ich begriffen! Oh, danke, danke, Meister! Gepriesen seist du und der, welcher dich gesandt hat! Gott sei gepriesen und sein Messias!»Der Alte geht weinend davon und bemüht sich, so rasch wie möglich vorwärtszukommen. Doch als er schon außerhalb des Gartens ist, wendet er sich um: «Meister, wirst du trotzdem in mein armes Haus kommen? Isaak erwartet dich, um dir die Füße zu küssen, sie mit seinen Tränen abzuwaschen und dir das Brot der Liebe zu reichen. Komm, Jesus, ich werde den Dorfbewohnern von dir erzählen.»

«Ich werde kommen. Ziehe im Frieden und sei glücklich!»

Nun kommt der dritte Greis nach vorne, der zerlumpteste. Doch Jesus hat nur noch den großen Haufen Münzen. Er ruft laut: «Frau, komm mit deinen Kindern!»

Die Frau, noch jung und gelenkig, tritt mit geneigtem Haupte vor. Sie gleicht einer traurigen Henne mit traurigen Kücklein.

«Seit wann bist du Witwe, Frau?»

«Im Monat des Tischri werden es drei Jahre.»

«Wie alt bist du?»

«Siebenundzwanzig.»

«Sind dies alles deine Kinder?»

«Ja, Meister, und ich habe nichts mehr. Alles ist aufgebraucht... Wie kann ich arbeiten, wenn mich niemand mit all diesen Kleinen haben will?»

«Gott verläßt nicht einmal den Wurm, den er erschaffen hat. Er wird auch dich nicht verlassen, Frau. Wo wohnst du?»

«Am See, drei Stadien von Bethsaida entfernt. "Er" hat zu mir gesagt, ich solle kommen. Mein Mann ist im See ertrunken, er war Fischer.»

"Er", das ist Andreas; er ist rot geworden und möchte am liebsten verschwinden.

«Du hast recht getan, Andreas, der Frau zu sagen, daß sie zu mir kommen solle.»

Andreas, ermutigt, murmelt: «Der Mann war mein Freund, er war gut und starb bei einem Gewitter; dabei ging auch sein Boot verloren.»

«Nimm dies, Frau! Es wird dir für längere Zeit reichen. Dann wird eine neue Sonne über deinen Tag aufgehen. Sei gut, erziehe deine Kinder im Gesetz, und Gottes Hilfe wird dir nicht fehlen. Ich segne dich: dich und die Kleinen.» Und er liebkost eines nach dem anderen mit großem Erbarmen.

Mit ihrem Schatz, den sie ans Herz drückt, geht die Frau dann weg.

«Und ich?» fragt der Greis, der allein übriggeblieben ist. Jesus betrachtet ihn und schweigt.

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«Nichts für mich? Du bist nicht gerecht. Ich komme von weither, denn man sagte mir, daß du Geld verteilst; und nun sehe ich, daß du den einen viel gibst und mir nichts. Einem armen Greis, der krank ist; und er will, daß man an ihn glaubt.»

«Aber schämst du dich nicht, so zu lügen? Du bist schon mit einem Bein im Grabe und lügst und versuchst, Hungernde zu berauben. Warum willst du den Brüdern das Almosen stehlen, das ich angenommen habe, um es gerecht zu verteilen?»

«Aber ich ...»

«Schweige! Du hättest aus meinem Schweigen und meinem Handeln verstehen müssen, daß ich dich kenne, und hättest, meinem Beispiel folgend, schweigen sollen. Warum willst du, daß ich dich beschäme?»

«Ich bin arm.»

«Nein, du bist geizig und ein Dieb. Du lebst für das Geld und für den Wucher!»

«Ich habe nie gegen Wucherzinsen geliehen, Gott ist mir Zeuge!»

«Ist es nicht schlimmster Wucher, die zu berauben, die wirklich Not leiden? Geh und bereue, damit Gott dir verzeihe!»

«Ich schwöre dir... !»

«Schweige, ich befehle es dir! Es steht geschrieben: "Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen!" Wenn ich nicht Ehrfurcht vor deinem Alter hätte, dann würde ich dich durchsuchen und an deiner Brust die mit Gold gefüllte Börse finden: dein wahres Herz! Geh weg!»

Der Alte ist nun so beschämt darüber, daß sein Geheimnis entdeckt ist, daß er weggeht, ohne den strengen Ton nötig zu haben, der in der Stimme Jesu liegt. Die Leute lachen ihn aus, verspotten ihn und beschimpfen ihn als Dieb.

«Schweigt! Wenn er gefehlt hat, so sollt ihr nicht auch fehlen! Er hat gegen die Aufrichtigkeit gefehlt; er ist unehrlich. Ihr fehlt gegen die Nächstenliebe, wenn ihr ihn beschimpft. Der Bruder, der fehlt, darf nicht beleidigt werden. Jeder hat seine Fehler. Niemand außer Gott ist vollkommen. Ich mußte ihn beschämen, denn es ist nicht erlaubt zu betrügen, besonders die Armen. Aber nur der Vater weiß, wie sehr es mich geschmerzt hat, dies zu tun. Auch ihr sollt Schmerz empfinden, wenn ihr mit ansehen müßt, wie ein Israelit gegen das Gesetz verstößt, indem er einen Armen und eine Witwe zu betrügen versucht. Seid nicht habgierig! Eure Seele soll euer Schatz sein, nicht das Geld. Seid nicht meineidig! Eure Sprache soll klar und gut sein wie auch eure Taten. Lebt so, daß in der Stunde eures Todes der Friede in eurem Herzen ist. Der Friede dessen, der als Gerechter gelebt hat. Geht nun nach Hause ...»

«Erbarmen, Herr! Dieser mein Sohn ist stumm wegen eines Dämons, der ihn quält.»

«Und dieser mein Bruder ist wie ein unreines Tier, das sich im Schlamm

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wälzt und Kot verzehrt. Soweit hat ihn ein böser Geist gebracht, und nun muß er unfreiwillig schmutzige Dinge tun.»

Jesus geht zu der Gruppe, die ihn anfleht. Er breitet die Arme aus und gebietet: «Fahrt aus ihnen aus! Gebt Gott seine Geschöpfe zurück!»

Unter Schreien und Zuckungen werden die beiden Unglücklichen geheilt. Die Frauen, die sie zu Jesus geführt hatten, fallen vor ihm nieder, loben und preisen ihn.

«Geht nach Hause und erweist euch Gott gegenüber dankbar! Der Friede sei mit euch allen. Geht!»

Die Menschen gehen weg und unterhalten sich weiterhin über das Vorgefallene. Die vier Jünger umringen den Meister.

«Freunde, ich sage euch, in Israel finden sich alle Sünden, und die Dämonen haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. Es gibt eine Besessenheit, welche die Lippen verstummen läßt und dazu verleitet, wie ein Ungeheuer zu leben und Unrat zu essen. Doch schlimmer und weit verbreiteter ist die Besessenheit, die die Herzen der Ehrlichkeit und der Liebe verschließt und aus ihnen schmutzige Lasterhöhlen macht. Oh, mein Vater!» Jesus setzt sich; er ist niedergeschlagen.

«Du bist müde, Meister?»

«Nicht müde, mein Johannes. Doch betrübt bin ich über den Zustand der Herzen und den geringen Willen zur Besserung. Ich bin gekommen... doch der Mensch, der Mensch... oh, mein Vater!»

«Meister, ich liebe dich, wir alle lieben dich ...»

«Ich weiß, doch ihr seid sehr wenige... und mein Wunsch, sehr viele zu retten, ist so groß.»

Jesus schließt Johannes in seine Arme und legt sein Haupt an das des Johannes. Er ist traurig. Petrus, Andreas und Jakobus stehen dabei und betrachten ihn mit Liebe und Traurigkeit.

So endet die Vision.

97. JESUS BETET IN DER NACHT

Ich sehe, wie Jesus das Haus des Petrus in Kapharnaum verläßt und bemüht ist, dabei möglichst wenig Aufsehen zu machen. Ich verstehe, daß er dort übernachtet hat, um seinen Petrus zufriedenzustellen.

Es ist noch tiefe Nacht, und der Himmel ist voller Sterne. Der See spiegelt ihren Glanz nur schwach wider, und man würde das stille Gewässer wohl nicht bemerken, wäre nicht der Wellenschlag am kiesigen Strand, der die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Jesus verschließt die Türe, betrachtet den Himmel, den See, die Straße. Er überlegt, dann geht er nicht den See entlang, sondern in Richtung der Ortschaft, biegt jedoch davor zu

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den Feldern ab und erreicht auf einem kleinen Feldweg einen Olivenhain. In diesem grünen Frieden sinkt Jesus auf die Knie, um zu beten.

Er betet inbrünstig. Zuerst kniend, dann, wie gestärkt, aufrechtstehend, immer wieder den Blick zum Himmel erhebend. Unter dem schwachen Leuchten des aufsteigenden Tages sieht sein Antlitz noch vergeistigter aus. Er betet und lächelt nun, während er zuvor schwer geseufzt hat, als trüge er eine tödliche Last. Er betet mit ausgebreiteten Armen und gleicht einem lebendigen Kreuz, hochgewachsen und engelhaft wie er ist: ein Anblick der Güte und Milde. Es sieht aus, als ob er die ganze Landschaft segnen würde, den beginnenden Tag, die erlöschenden Sterne und den See, der langsam sichtbar wird.

«Meister, wir haben dich so gesucht! Wir haben die Türe verschlossen vorgefunden, als wir vom Fischfang zurückgekehrt sind und haben gedacht, daß du weggegangen bist. Wir konnten dich nicht finden. Endlich hat uns ein Bauer gesagt, der seine Körbe zum Markte fuhr und uns nach dir: "Jesus, Jesus..." rufen hörte: "Ruft ihr den Meister, der zu den Scharen spricht? Er ist diesen Feldweg gegangen, dem Hügel zu. Er muß im Ölgarten des Michäas sein, denn dorthin geht er öfters. Ich habe ihn dort schon andere Male gesehen." Er hatte recht. Warum bist du so früh fortgegangen, Meister? Warum hast du dich nicht ausgeruht? War das Bett nicht bequem?» Petrus, der Jesus endlich gefunden hat, sagt dies alles in einem Atemzug.

«Nein, Petrus, das Bett ist gut und der Raum ist schön. Doch ich bin gewohnt, dies öfters zu tun, um meinen Geist zu erheben und mich mit dem Vater zu vereinigen. Das Gebet ist eine Kraft für uns selbst und für die anderen. Durch das Gebet erreicht man alles. Wenn die erbetene Gnade vom Vater auch nicht immer gewährt wird, so darf man daraus nicht schließen, es sei ein Mangel an Liebe seitens des Vaters.

Man muß vielmehr immer davon überzeugt sein, daß es gemäß einer göttlichen Ordnung geschieht, die das Geschick eines jeden Menschen zu dessen eigenem Wohle leitet. Immer aber gibt das Gebet Frieden und seelisches Gleichgewicht, um vielen auf uns zukommenden Dingen entgegentreten zu können, ohne vom heiligen Wege abzukommen. Es kommt leicht vor, Petrus, du weißt es, daß die Umgebung den Geist verdunkelt und das Herz beunruhigt. Wie kann aber ein verdunkelter Geist und ein unruhiges Herz Gottes Stimme vernehmen?»

«Das ist wahr. Doch wir verstehen es nicht zu beten. Wir können nicht so schöne Worte sagen wie du.»

«Sagt das, was ihr könnt und wie ihr es könnt! Es sind nicht die Worte, sondern die Beweggründe, die sie begleiten, die dem Vater wohlgefällig sind.»

«Wir möchten so beten, wie du betest.»

«Ich werde euch auch beten lehren. Ich werde euch das heiligste Gebet

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lehren. Doch damit es nicht eine leere Formel auf euren Lippen sei, möchte ich, daß eure Seele schon ein bißchen Heiligkeit, Licht und Weisheit besitze; darin will ich euch zunächst unterweisen. Dann werde ich euch das heilige Gebet lehren. Wollt ihr etwas von mir, da ihr mich gesucht habt?»

«Nein, Meister; doch es sind so viele, die etwas von dir wollen. Es waren schon Menschen auf dem Wege nach Kapharnaum; sie waren arm, krank, schmerzgebeugt, Menschen voll guten Willens, mit dem Wunsche, sich belehren zu lassen. Sie verlangten nach dir. Wir sagten zu ihnen: "Der Meister ist müde und schläft. Geht wieder... und kommt am nächsten Sabbat! "»

«Nein, Simon, das sollst du nicht sagen. Es gibt nicht nur einen Tag in der Woche für die Frömmigkeit. Ich bin die Liebe, das Licht, das Heil - an jedem Tage der Woche.»

«Doch bis jetzt hast du nur am Sabbat gesprochen.»

«Weil ich noch unbekannt war. Doch je bekannter ich werde, desto mehr wird jeder Tag von Gnade und Gnaden überfließen. In Wahrheit sage ich dir: eine Zeit wird kommen, in der dem Menschensohn für die Ruhe und Mahlzeit nicht einmal die Spanne bleibt, die dem Spatz gewährt ist, um sich auf seinem Ast auszuruhen und sich mit Körnern zu sättigen.»

«Dann wirst du krank werden; das werden wir nicht zulassen. Deine Güte darf dich nicht unglücklich machen.»

«Und du glaubst, daß mich dies unglücklich machen könnte? Aber Petrus! Wenn alle Welt zu mir käme und mich hören wollte, um über die Sünden zu weinen und die Leiden in meinem Herzen abzuladen, um an Leib und Seele geheilt zu werden, und wenn ich mich erschöpfte im Reden, im Verzeihen, im Verschwenden meiner Macht, dann wäre ich sehr, sehr glücklich, Petrus, daß ich nicht einmal mehr dem Himmel nachweinen würde, wo ich im Vater war (dieser Ausdruck ist zu verstehen im Lichte von Johannes 16,28; 20,17) ... Von woher waren die Leute, die zu mir kommen wollten?»

«Von Chorazim, von Bethsaida, von Kapharnaum und sogar von Tiberias und Gergesa sind sie gekommen und von den hundert kleinen Ortschaften, die zwischen den Städten verstreut liegen.»

«Geht und sagt ihnen, daß ich nach Chorazim, nach Bethsaida und in die umliegenden Dörfer kommen werde.»

«Warum bleibst du nicht in Kapharnaum?»

«Weil ich für alle gekommen bin und alle mich haben sollen; und übrigens erwartet mich der alte Isaak... Er soll in seiner Hoffnung nicht enttäuscht werden.»

«Du wirst also hier auf uns warten?»

«Nein. Ich gehe nun, und ihr bleibt in Kapharnaum, um die Menschen zu mir zu weisen; später werde ich zurückkommen.»

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«So müssen wir allein bleiben ...» Petrus ist betrübt.

«Nicht traurig sein! Der Gehorsam soll dich froh machen, und ebenso die Überzeugung, ein mir nützlicher Jünger zu sein; und mit dir in gleicher Weise diese anderen.»

Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes beruhigen sich.

Jesus segnet sie, und sie trennen sich.

So endet die Vision.

98. DER AUSSÄTZIGE BEI CHORAZIM WIRD GEHEILT

Mit einer fotografischen Genauigkeit habe ich seit dem frühen Morgen einen armen Aussätzigen vor meinem geistigen Auge.

Er ist wahrlich nur mehr ein menschliches Wrack. Ich könnte nicht einmal sagen, wie alt er ist, denn die Krankheit hat sich bei ihm verheerend ausgewirkt. Da er halbnackt ist, gewahrt man seinen zum Skelett abgemagerten Körper, der wie eine zerfressene Mumie aussieht. Hände und Füße sind verkrümmt und es fehlen Teile davon, so daß die kläglichen Gliedmaßen nichts Menschliches mehr an sich haben. Die armen verkrüppelten Hände gleichen den Pfoten eines geflügelten Monstrums, die Füße Ochsenhufen, so plump und entstellt sind sie.

Und erst der Kopf! Ich glaube, der Kopf eines Toten, der unbegraben bleibt und von der Sonne und dem Wind mumifiziert wird, könnte diesem Haupte gleichen. Einige übriggebliebene Haarbüschel da und dort auf der gelblichen Haut, die voller Krusten ist, gleich angetrocknetem Staub auf einem Schädel; halboffene und tiefeingefallene Augen; angefressene Lippen und eine Nase, bei der der Knorpel sichtbar wird; die Ohren, die nur ansatzmäßig vorhandene Muscheln sind; und alles überzogen von einer ledernen, gelblichen Haut, unter der die Knochen hervorstehen. Die Haut scheint nur die Aufgabe zu haben, die armen Knochen in ihrem schmutzigen "Sack" zusammenzuhalten, der mit Narben und eitrigen Wunden bedeckt ist. Eine Ruine!

Beim Anblick dieses von einer vertrockneten Haut überzogenen Gerippes in seinem schmutzigen und zerfetzten Mantel überkommt mich unwillkürlich der Gedanke an den in der Welt umherziehenden "Tod"; nur hält dieser Mann statt der Sense einen knorrigen Ast als Stock in der Hand.

Er steht an der Schwelle einer abseits liegenden Spelunke, die so verwahrlost ist, daß ich nicht sagen kann, ob sie ursprünglich ein Grab oder ein Unterstand für Holzfäller war, oder ob sie der Überrest eines zerstörten Hauses ist.

Er blickt nach der Straße, die etwas mehr als hundert Meter von seinem

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Unterschlupf entfernt liegt, eine staubige Hauptstraße, auf der noch die Sonne brütet. Niemand bewegt sich auf ihr. Soweit das Auge reicht, nur Sonne, Staub und Einsamkeit. Weiter oben, in Richtung Nordwesten, muß ein Dorf oder eine Stadt sein. Ich kann die ersten Häuser in etwa einem Kilometer Entfernung sehen.

Der Aussätzige hält seufzend Ausschau. Dann nimmt er eine verbeulte Tasse, füllt sie an einem ärmlichen Rinnsal und trinkt. Nun schleppt er sich zu einem Gebüsch, bückt sich und reißt einige wilde Rüben aus dem Boden. Er geht zum Bächlein zurück, reinigt die Rüben im seichten Wasser vom ärgsten Schmutz und beginnt, langsam zu essen; unter großer Mühe führt er die verstümmelten Hände zum Mund. Die Rüben müssen hart wie Holz sein, denn er hat Mühe, sie zu kauen; oft muß er ausspucken, da er nicht schlucken kann, selbst wenn er Wasser dazu trinkt.

«Wo bist du, Abel?» ruft eine Stimme. Der Aussätzige wendet sich um, und auf seinen Lippen liegt etwas wie ein Lächeln. Doch es ist nur noch ein Zerrbild davon, denn diese Lippen, von denen nicht mehr viel übrigbleibt, vermögen nicht mehr zu lächeln. Mit eigenartig kreischender Stimme antwortet er: «Hier bin ich. Ich hoffte nicht mehr, daß du kommen würdest. Ich dachte, dir wäre ein Unheil zugestoßen; ich war sehr traurig. Wenn auch du mir fehlst, was bleibt dann dem armen Abel?» Während er so spricht, begibt er sich zur Straße, soweit ihm dies die Vorschriften erlauben.

Auf der Straße kommt ihm ein Mann mit raschen Schritten entgegen.

«Bist du es wirklich, Samuel? Oh, wenn du nicht der bist, den ich erwarte... wer du auch sein magst, tu mir kein Leid an!»

«Ich bin es, Abel, wirklich ich... Und ich bin gesund. Schau, wie ich renne. Ich habe mich etwas verspätet, ich weiß. Ich war in Sorge um dich. Doch wenn du nun erfährst... oh, du wirst glücklich sein! Hier habe ich nicht nur die üblichen Brotkrusten, sondern ein ganzes, frisches, gutes Brot... nur für dich... auch guten Fisch und Käse. Alles für dich. Ich will, daß du feierst, mein armer Freund, um dich auf ein größeres Fest vorzubereiten.»

«Seit wann bist du so reich? Ich verstehe nichts mehr ...»

«Ich werde es dir sagen.»

«Und du bist gesund, ich erkenne dich nicht wieder.»

«Höre also: Ich erfuhr, daß in Kapharnaum der heilige Rabbi sei, und ich bin hingegangen...»

«Bleib stehen, bleib stehen! Ich bin ansteckend! ...»

«Oh, das macht nichts, ich habe vor nichts mehr Angst.»

Der Mann, der niemand anderer ist als der arme Gelähmte, der im Hause der Schwiegermutter des Petrus durch Jesus geheilt worden ist, steht nun wenige Schritte vor dem Aussätzigen. Er hat im Gehen gesprochen und dabei glücklich gelächelt.

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Der Aussätzige sagt wiederum: «Im Namen Gottes, bleibe stehen! Wenn dich jemand sieht...»

«Ich bleibe stehen... Schau, ich lege die Vorräte hierhin. Iß, während ich rede.»

Er legt das Bündel auf einen großen Stein und öffnet es. Dann geht er einige Schritte zurück, während der Aussätzige näherkommt und sich auf die unerwartete Nahrung stürzt. «Oh, wie lange ist es her, seit ich das letzte Mal solche Sachen gegessen habe. Wie gut sie sind! Ich dachte schon, ich müßte mit leerem Magen zur Ruhe gehen. Kein einziger Mitleidiger ist heute gekommen, auch du nicht. So habe ich versucht, Wurzeln zu kauen ...»

«Armer Abel! Ich habe es mir gedacht. Doch ich sagte mir: "Gut, jetzt wird er traurig sein, doch bald wird er glücklich sein."»

«Glücklich, ja, über die gute Nahrung...»

«Nein, du wirst für immer glücklich sein!»

Der Aussätzige schüttelt das Haupt.

«Höre, Abel, wenn du glauben kannst, wirst du glücklich sein.»

«Glauben? An wen?»

«An den Meister, an den Meister, der mich geheilt hat.»

«Aber ich bin aussätzig und im Endstadium. Wie kann er mich heilen?»

«Oh, er kann es! Er ist heilig!»

«Ja, auch Elisäus heilte den aussätzigen Naaman; doch ich... ich kann nicht zum Jordan gehen.»

«Du wirst ohne Wasser geheilt werden. Höre, dieser Meister ist der Messias, verstehst du? Der Messias! Der Sohn Gottes ist er. Und er wird alle heilen, die Glauben haben. Er sagt: "Ich will", und die Dämonen fliehen, die Glieder werden gerade und die blinden Augen sehen!»

«Oh, und ob ich den Glauben habe! Doch wo kann ich den Messias sehen?»

«Deswegen bin ich gekommen. Er ist dort, in jenem Dorf. Ich weiß, wo er heute abend sein wird. Wenn du willst... ich habe mir gesagt: ich werde es Abel berichten, und wenn Abel fühlt, daß er glauben kann, dann werde ich ihn zum Meister begleiten.»

«Bist du verrückt, Samuel? Wenn ich mich Häusern nähere, werde ich gesteinigt!»

«Nicht zu den Häusern. Der Abend bricht an. Ich bringe dich bis zum Wäldchen; dann werde ich gehen und den Meister rufen. Ich begleite dich!»

«Geh, geh schnell weg! Ich werde allein bis dorthin gehen. Ich werde zwischen den Hecken im Graben kriechen. Doch du, geh, geh! Oh, geh, mein guter Freund! Wenn du wüßtest, was es heißt, diese Krankheit zu haben... und was es heißt, auf Heilung hoffen zu können!»

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Der Aussätzige kümmert sich nicht mehr um die Nahrung. Er weint und fleht seinen Freund mit Gesten an.

«Ich gehe, und du kommst nach!» sagt der ehemalige Gelähmte und eilt davon.

Abel kriecht mühsam in den Graben, der längs der Straße verläuft und voller Disteln ist. Nur in der Mitte ist ein dünnes Rinnsal. Der Abend sinkt nieder, während der Unglückliche sich durch das Sträucherdickicht dahinschleppt, immer auf der Lauer, ob er einen Schritt hört. Zweimal legt er sich flach in den Graben. Das erste Mal wegen eines Reiters, der auf der Straße vorbeitrabt; das zweite Mal, weil drei Männer vorbeikommen, die mit Heu beladen zum Dorfe gehen. Dann kriecht er weiter.

Doch noch vor ihm erreicht Jesus mit Samuel das Wäldchen. Samuel sagt zu Jesus: «Gleich wird er kommen. Er kann nur langsam gehen wegen der Wunden. Habe Geduld!»

«Ich habe keine Eile.»

«Wirst du ihn heilen?»

«Glaubt er?»

«Oh! ... Er starb fast vor Hunger; er sah nach vielen Jahren der Entbehrung die erste gute Nahrung; er hat alles bis auf einige Bissen zurückgelassen, um so rasch als möglich hierherzukommen.»

«Woher kennst du ihn?»

«Ich lebte von Almosen, nachdem ich verunglückt war, und ich zog auf den Straßen von einem Ort zum anderen. Hier kam ich jeden siebten Tag vorbei, und so lernte ich den Armen kennen... an einem Tage, da er vom Hunger getrieben bis zur Straße kam, auf der Suche nach etwas Eßbarem. Es war während eines furchtbaren Gewitters. Er wühlte im Abfall wie ein Hund. Ich hatte trockenes Brot im Beutel, eine Gabe mildtätiger Menschen, und teilte es mit ihm. Seitdem sind wir Freunde, und jede Woche versorge ich ihn mit dem, was ich habe... Habe ich viel, bekommt er reichlich, habe ich wenig, erhält er wenig. Ich tue, was ich kann, als wäre er mein Bruder. Und seit dem Abend, da du mich geheilt hast - gepriesen seist du dafür - denke ich an ihn... und an dich!»

«Du bist gut, Samuel. Darum hat die Gnade dich heimgesucht. Wer liebt, erhält alles bei Gott. Doch hier ist etwas im Gebüsch!»

«Bist du es, Abel?»

«Ich bin es.»

«Komm, der Meister erwartet dich hier unter dem Nußbaum!»

Der Aussätzige kriecht aus dem Graben und rutscht mühsam die Böschung hinauf bis zur Wiese. Jesus steht dort, mit dem Rücken an einen sehr hohen Nußbaum gelehnt, und erwartet ihn.

«Meister, Messias, Heiliger, habe Erbarmen mit mir!» ruft der Aussätzige aus und wirft sich im Grase Jesus zu Füßen. Das Gesicht noch auf dem Erdboden, ruft er noch einmal: «O mein Herr! Wenn du willst,

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kannst du mich rein machen!» Dann richtet er sich auf und kniend hebt er die knochendürren Arme mit den verkrüppelten Händen hoch und zeigt das verwüstete Gesicht... Die Tränen rinnen ihm über die Wangen und die wunden Lippen.

Jesus betrachtet ihn voller Erbarmen. Er betrachtet diese Menschenlarve, die zerstört ist durch die schreckliche Krankheit. Nur eine wahre Nächstenliebe erträgt ihre Nähe, so abstoßend und stinkend ist sie.

Doch siehe, Jesus streckt ihm seine schöne, gesunde Hand entgegen, seine rechte Hand, wie um den Armen zu streicheln.

Dieser jedoch wirft sich zurück auf die Fersen und schreit: «Berühre mich nicht! Habe Erbarmen mit dir!»

Doch Jesus macht einen Schritt vorwärts. Feierlich, voller Güte und Milde legt er seine Hand auf das vom Aussatz zerfressene Haupt und sagt mit ruhiger, liebevoller, doch auch machtvoller Stimme: «Ich will! Sei rein!»

Die Hand bleibt einige Augenblicke auf dem armen Haupt. «Steh auf, geh zum Priester und erfülle, was das Gesetz vorschreibt! Erzähle nicht, was ich dir getan habe. Bleibe nur gut! Sündige nie wieder! Ich segne dich.»

«O Herr! Abel! Du bist ganz gesund!» ruft Samuel, der die Verwandlung des Freundes beobachtet hat, freudig aus.

«Ja, er ist gesund. Durch seinen Glauben hat er es verdient. Lebe wohl! Der Friede sei mit dir!»

«Meister! Meister! Meister! Ich gehe nicht weg von dir! Ich kann mich nicht von dir trennen.»

«Tu, was das Gesetz vorschreibt! Dann sehen wir uns wieder. Zum zweiten Mal komme mein Segen über dich!»

Jesus geht und gibt Samuel ein Zeichen, daß er bleiben soll. Die beiden Freunde weinen vor Freude, während sie im Mondschein zum letzten Mal in die Unglückshöhle zurückkehren.

Die Vision endet hier.

99. HEILUNG DES GELÄHMTEN IM HAUSE PETRI IN KAPHARNAUM

Ich sehe die Ufer des Sees Genesareth. Ich sehe die ans Land gezogenen Boote der Fischer. An sie gelehnt, sind Petrus und Andreas damit beschäftigt, die Netze auszubessern, die ihnen die Helfer triefend übergeben, nachdem sie sie im See von den Anhängseln gereinigt haben. In einer Entfernung von zehn Metern sind Johannes und Jakobus über ihr Boot gebeugt und damit beschäftigt, alles in Ordnung zu bringen, wobei ihnen

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ein Junge und ein ungefähr fünfzigjähriger Mann helfen, den ich für Zebedäus halte, weil der Junge ihn "Meister" nennt und er dem Jakobus sehr ähnlich sieht.

Petrus und Andreas, mit den Schultern an das Boot gelehnt, arbeiten schweigend daran, die Netzfäden und die Signalkorken auszubessern. Nur ab und zu wechseln sie einige Worte über ihre Arbeit, die, wie ich vermute, vergeblich war.

Petrus ärgert sich nicht wegen der leeren Geldbörse oder der unbelohnten Mühe; er sagt: «Es tut mir leid... was werden wir tun, um diesen Armen Nahrung zu geben? Wir bekommen nur selten Spenden, und diese zehn Denare und sieben Drachmen, die wir in diesen vier Tagen gesammelt haben, werde ich nicht anrühren. Nur der Meister soll bestimmen, wann und wie diese Münzen verwendet werden sollen. Und bis zum Sabbat ist er nicht da. Hätte ich einen guten Fang gehabt! Auch die kleinsten Fische hätte ich zubereitet und sie dann den Armen gegeben; und wenn einer im Hause deswegen gemurrt hätte, dann hätte ich mir nichts daraus gemacht. Die Gesunden können sich selbst helfen, doch die Kranken!»

«Der arme Gelähmte... sie haben ihn auf einem weiten Weg mühsam hierhergebracht...» sagt Andreas.

«Höre, Bruder! Ich meine, wir sollten nicht so getrennt bleiben... Ich weiß nicht, warum uns der Meister nicht immer bei sich haben will. Wenigstens hätte ich nicht immer die Armen vor Augen, denen ich nicht helfen kann... und wenn ich sie dann sähe, könnte ich ihnen sagen: "Er ist da!"»

«Hier bin ich!» Jesus hat sich auf dem weichen Sande lautlos genähert.

Petrus und Andreas machen einen Freudensprung und rufen aus: «Oh, Meister!» Und zu ihren Freunden: «Jakobus, Johannes, der Meister ist da, kommt!»

Die beiden kommen herbei, und alle drängen sich um Jesus. Einer küßt sein Gewand, der andere die Hände, und Johannes wagt sogar, seinen Arm um Jesu Hüfte und sein Haupt an dessen Brust zu legen. Jesus küßt ihn auf die Haare.

«Worüber habt ihr gesprochen?»

«Meister, wir sprachen darüber, wie nötig wir dich haben.»

«Warum, Freunde?»

«Um dich sehen und lieben zu können, und dann auch der Armen und Kranken wegen. Seit zwei und mehr Tagen warten sie auf dich. Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe sie dorthin gebracht. Siehst du die Hütte auf dem brachen Feld? Dort machen die Schiffshandwerker ihre Reparaturen. Ich habe dorthin auch einen Gelähmten gebracht, der hohes Fieber hat, und ein Kind, das an der Brust seiner Mutter stirbt. Ich konnte sie nicht fortschicken, dich zu suchen.»

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«Du hast gut getan. Doch wie konntest du ihnen helfen, und wer hat sie hergebracht? Du sagtest doch, daß es Arme sind.»

«Gewiß, Meister; denn die Reichen haben Wagen und Pferde, die Armen aber nur ihre Beine. Sie hätten dir nicht nacheilen können. Ich tat, was ich konnte. Schau, das ist die Spende, die ich bekommen habe. Ich habe nichts davon angerührt. Das ist deine Sache.»

«Petrus, du hättest es gleichwohl tun können. Gewiß... Mein Petrus, es tut mir leid, daß du meinetwegen gescholten wirst und Mühen hast.»

«Nein, Meister, darüber mache dir keine Sorgen! Mir macht es nichts aus. Nur, daß ich nicht mehr Barmherzigkeit üben konnte, bedauere ich. Doch glaube mir, ich habe, wir alle haben getan, was wir konnten.»

«Ich weiß es; ich weiß auch, daß du vergeblich gearbeitet hast. Doch wenn auch keine Nahrung da ist, die Nächstenliebe bleibt: die lebendige und aktive Nächstenliebe, die in den Augen Gottes heilig ist.»

Kinder kommen schreiend daher: «Der Meister ist da, der Meister ist da! Jesus ist gekommen, Jesus ist gekommen!» und sie schmiegen sich an ihn, der sie liebkost, während er gleichzeitig mit den Jüngern spricht: «Simon, ich gehe in dein Haus. Du und ihr anderen geht und verkündet, daß ich gekommen bin, und dann bringt mir die Kranken!»

Die Jünger eilen in alle Richtungen fort. Doch ganz Kapharnaum weiß bereits, daß Jesus angekommen ist. Die Kinder haben dafür gesorgt: wie Bienen aus dem Bienenstock zu den verschiedenen Blumen, so sind sie in die Häuser, auf die Straßen und Plätze "geflogen". Freudig überbringen sie die Botschaft den Müttern, den Reisenden, den Alten, die an der Sonne sitzen, und kommen zurück, um sich nochmals liebkosen zu lassen von ihm, der sie liebt; und ein mutiges Kind sagt: «Sprich heute zu uns und für uns, Jesus! Wir lieben dich sehr, weißt du, und wir sind besser als die Erwachsenen.»

Jesus lächelt dem kleinen Psychologen zu und verspricht: «Ich werde zu euch sprechen.» Und von den Kindern gefolgt, geht er zum Hause und betritt es mit seinem üblichen Gruß: «Der Friede sei in diesem Hause!»

Die Menschen versammeln sich im großen Raum, der für die Segel, Netze, Körbe und Vorräte bestimmt ist. Man sieht, daß Petrus alles für Jesus vorbereitet und die Dinge in eine Ecke gebracht hat. Den See sieht man von hier aus nicht. Man hört nur sein träges Rauschen. Man sieht die kleine moosbewachsene Mauer des Gartens, den alten Rebstock und den dichtbelaubten Feigenbaum. Der Raum ist vollgestopft mit Leuten; wer keinen Platz gefunden hat, steht im Garten oder auf der Straße.

Jesus beginnt zu reden. In der ersten Reihe befinden sich fünf hochgestellte Personen, die sich herrschsüchtig breitgemacht haben, gestützt auf die Ehrfurcht, welche die Bevölkerung ihnen bezeugt. Ihr Verhalten, die vornehme Kleidung und ihr Hochmut lassen sie als Pharisäer und Schriftgelehrte erkennen. Jesus möchte jedoch seine Kinder um sich

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haben. Einen Kranz unschuldiger Gesichtlein mit engelgleichem Lächeln und leuchtenden Augen, die zu ihm aufschauen. Jesus spricht, und von Zeit zu Zeit streichelt er im Reden das eine oder andere lockige Köpfchen eines Kindes, das sich zu seinen Füßen niedergesetzt hat und den Kopf an sein Knie lehnt. Jesus sitzt auf einem großen Haufen von Netzen und Körben.

«"Mein Geliebter ist in seinen Garten gegangen, zu den Balsambeeten, um sich an den Pflanzen zu erfreuen und Lilien zu pflücken... Hirte ist er auf Liliengefilden", (HI 6,2), so spricht Salomon, der Sohn Davids, von dem ich abstamme, ich, der Messias Israels.

Mein Garten! Welcher Garten ist schöner und Gottes würdiger als der Himmel, in dem die vom Vater erschaffenen Engel die Blumen sind? Aber der einzige eingeborene Sohn des Vaters, der Menschensohn, wollte einen anderen Garten; denn für den Menschen habe ich Fleisch angenommen, ohne welches ich die Schuld der Menschen nicht tilgen könnte. Ein Garten, der nur wenig unter dem himmlischen stehen würde, wenn die Söhne Adams, die ganz für den Himmel bestimmt waren, die Kinder Gottes, sich wie sanfte Bienen aus dem Bienenkorbe entfernt hätten, um die Erde mit Heiligkeit zu bevölkern. Doch der Feind hat Verwirrung und Dornen in das Herz Adams gesät, und Unkraut und Dornen aus diesem Herzen haben die Erde überwuchert. Kein Garten ist sie mehr, nur dürre Wüste und Wildnis, in welcher das Fieber schwelt und die Schlangen nisten.

Doch der Erwählte des Vaters hat noch einen Garten auf dieser Erde, auf welcher Satan herrscht. In diesen Garten geht er, um sich an seiner himmlischen Nahrung zu weiden: der Liebe und der Reinheit; und aus diesem Beet pflückt er die geliebten Blumen, in denen keine Sinneslust, keine Unreinheit und kein Hochmut ist: die Kleinen! (Jesus liebkost viele Kinder, die aufleuchten und freudvoll ihm zulächeln.) Dies sind meine Lilien!

Salomon in seinem Reichtum hatte kein Gewand, das schöner war als die Lilie im duftenden Felde, und kein Diadem von solch köstlicher, herrlicher Anmut wie das der Lilie mit ihrem Perlenkelch. Doch meinem Herzen ist keine Lilie kostbarer als diese Kleinen. Es gibt kein Blumenbeet, keinen Garten der Reichen voll edler Lilien, der mir wertvoller wäre als ein einziges dieser reinen, unschuldigen, aufrichtigen, einfachen Kinder.

O ihr Frauen und Männer Israels! O ihr Großen und Schlichten, was Vermögen und Stellung betrifft, hört! Ihr seid hier, um mich kennen und lieben zu lernen. So sollt ihr nun erfahren, welches die erste Bedingung ist, um mir anzugehören. Ich sage euch keine schwierigen Worte, noch gebe ich euch schwierige Vorbilder. Ich sage nur: "Nehmt diese Kinder zum Vorbild!"

Wer von euch hat nicht einen Sohn, einen Enkel oder einen Bruder im Kindesalter im Hause? Ist ein solches Kind nicht eine Erholung, ein Trost,

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ein Band zwischen Eltern, Verwandten, Freunden; ein Kind, dessen Seele rein ist wie ein schöner Morgen, dessen Gesichtlein die Wolken vertreibt und Hoffnungen weckt, dessen Liebkosungen die Tränen trocknen und Lebenskraft einflößen? Warum ist in ihnen eine solche Macht? In ihnen, die schwach, unreif und unwissend sind? Weil in ihnen Gott wohnt, die Kraft und die Weisheit Gottes! Die wahre Weisheit: sie können lieben und glauben. Sie können glauben und wollen. Sie verstehen es, in dieser Liebe und in diesem Glauben zu leben. Seid also wie sie: einfach, rein, liebevoll, aufrichtig und gläubig!

Es gibt keinen Weisen in Israel, der größer wäre als der Kleinste von diesen, dessen Seele Gott gehört und ihr das Reich Gottes. Gesegnete des Vaters, Geliebte des Sohnes, Blumen meines Gartens, mein Friede sei über euch und über allen, die euch aus Liebe zu mir nachahmen!»

Jesus hat geendet.

«Meister», ruft Petrus von der anderen Seite, «hier sind die Kranken. Zwei können warten, bis du hinausgehst; aber hier ist einer eingekeilt in der Menge und hält nicht mehr stand. Wir können nicht durchkommen. Soll ich ihn fortschicken?»

«Nein, laßt ihn durch das Dach herab.»

«Gut gesagt; wir werden es sofort tun.»

Man hört auf dem niederen Dach über dem Saale herumtrampeln. Da dieser Raum nicht zum eigentlichen Wohnhause gehört, hat er keine zementierte Terrasse, sondern ist nur mit schieferähnlichen Platten bedeckt. Es entsteht nun eine Öffnung, und mittels Seilen wird die Bahre mit dem Kranken hinuntergelassen. Sie wird direkt vor Jesus niedergestellt. Die Menschen drängen sich näher, um besser zu sehen.

«Du hast einen großen Glauben gehabt, wie auch jene, die dich hierhergebracht haben.»

«O Jesus, wie sollten wir nicht an dich glauben?»

«Nun wohl, so sage ich dir, Sohn (der Mann ist noch jung), alle deine Sünden sind dir vergeben.»

Der Mann schaut Jesus weinend an... vielleicht ist er enttäuscht, weil er auf eine leibliche Heilung hoffte. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten flüstern miteinander, rümpfen die Nase und verziehen Stirne und Mund mit Verachtung.

«Warum murrt ihr in euren Herzen mehr noch als mit den Lippen? Was ist nach eurer Meinung leichter, dem Gelähmten zu sagen: "die Sünden sind dir vergeben" oder "steh auf, nimm dein Bett und geh"? Ihr denkt, daß nur Gott Sünden vergeben kann. Doch ihr könnt nicht beantworten, was größer ist, weil der Mann da, dessen ganzer Körper krank ist, all sein Vermögen aufgewendet hat, ohne geheilt worden zu sein. Nur Gott kann ihn heilen. Nun, damit ihr wißt, daß ich alles vermag, damit ihr erkennt, daß der Menschensohn Macht über Leib und Seele, über Himmel

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und Erde hat, sage ich zu diesem Mann: "Steh auf, nimm dein Bett und geh! Geh nach Hause und sei heilig!"»

Den Mann erfaßt ein Schütteln, er schreit auf, erhebt sich und wirft sich Jesus zu Füßen, küßt sie, weint und lacht gleichzeitig, und mit ihm die Angehörigen und die Menschenmenge, die nun einen Weg freigibt, um ihn wie im Triumph durchzulassen. Jubelnd folgt ihm das Volk, aber ohne die fünf Grollenden, die überheblich weggehen.

So kann nun die Mutter mit dem Säugling, der zum Skelett abgemagert ist, bis zu Jesus gelangen. Sie zeigt ihn ihm und sagt nur: «Jesus, du liebst sie, die Kinder. Du selbst hast es gesagt. Um dieser Liebe und um deiner Mutter willen! ...» und sie weint.

Jesus nimmt ihn, den sterbenden Säugling, drückt ihn an sein Herz und hält sein wächsernes Gesichtlein mit den violetten Lippen und den schon gesenkten Lidern an seinen Mund, einen Augenblick nur... und als er es von seinem blonden Bart wegnimmt, ist das Gesichtlein rosig, und das Mündlein umspielt ein seliges Lächeln; die Augen schauen lebhaft und neugierig um sich, und das Kind greift mit den zuvor verkrampften Händchen in die Haare und in den Bart Jesu, der dazu lacht.

«O mein Sohn!» ruft die selige Mutter aus.

«Nimm es, Frau, sei glücklich und gut!»

Die Frau nimmt das Wiedergeborene und drückt es an ihre Brust, und das Kleine macht sofort seinen Anspruch auf Nahrung geltend; es sucht die Brust, enthüllt sie und trinkt, trinkt gierig und glücklich...

Jesus segnet und geht weiter, bis zur Schwelle, wo der Fieberkranke wartet.

«Meister, sei gut!»

«Auch du! Nütze deine wiedererlangten Kräfte in der Gerechtigkeit!»Er streichelt ihn liebevoll und geht hinaus.

Am Ufer umgeben und preisen ihn viele, die ihm teils vorausgeeilt sind, teils nachfolgen und ihn bitten.

«Wir haben dich nicht hören können. Wir konnten nicht hineingelangen. Sprich auch zu uns!»

Jesus gibt ein bejahendes Zeichen, und da die Menge ihn fast erdrückt, steigt er in das Boot des Petrus. Auch das genügt nicht. Der Ansturm ist zu groß.

«Stoße das Boot ins Wasser und entferne es ein wenig vom Ufer!»

Die Vision ist hier zu Ende.

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100. DER WUNDERBARE FISCHFANG

Die Vision beginnt wieder mit den Worten Jesu:

«Wenn im Frühjahr alles blüht, dann sagt der Bauer glücklich: "Es wird viele Früchte geben." Er jubelt in seinem Herzen, erfüllt von dieser Hoffnung. Doch vom Frühjahr bis zum Herbst, vom Monat der Blüte bis zum Monat der Ernte, wie viele Tage, wieviel Wind und Regen, Sonne und Gewitter sind da zu erwarten! Manchmal gibt es Kriege oder Grausamkeiten der Mächtigen, Krankheiten der Pflanzen; bisweilen erkrankt der Bauer selbst, und die Pflanzen werden nicht mehr freigelegt oder gestützt, werden nicht mehr bewässert, beschnitten, aufgerichtet und gereinigt. Obwohl die Bäume eine reiche Ernte versprochen haben, verkümmern sie nunmehr und sterben teilweise oder ganz ab.

Ihr folgt mir nach. Ihr liebt mich. Ihr seid wie die Pflanzen im Frühjahr: ihr schmückt euch mit guten Vorsätzen und Liebe. Israel ist wahrlich an diesem Beginn meines Apostolates wie unsere liebliche Landschaft im strahlenden Monat des Nisan.

Dazu hört: Wie eine Glut, die zur Trockenheit führt, wird Satan kommen, der mich beneidet, um euch mit seinem Atem zu verbrennen. Die Welt wird kommen mit ihrem eisigen Wind, um eure Blüten erfrieren zu lassen. Es werden die Leidenschaften wie Stürme kommen. Der Überdruß wird wie ein anhaltender Regen sein. Alle meine und eure Feinde werden kommen, um unfruchtbar zu machen, was aus diesem eurem heiligen Streben in Gott erblühen sollte.

Ich warne euch, denn ich weiß. Doch all dieses soll verloren sein, wenn ich nicht mehr zu euch sprechen und keine Wunder mehr wirken kann? Nein! Ich säe und bebaue, solange meine Zeit währt. Dann wird es in euch wachsen und reifen, wenn ihr gut darüber wacht.

Betrachtet diesen Feigenbaum am Hause des Simon des Jonas! Derjenige, welcher ihn pflanzte, hat nicht den geeigneten Platz gewählt. Er pflanzte ihn an die feuchte Mauer der Nordseite; der Baum wäre eingegangen, wenn er sich nicht selbst um sein Überleben gekümmert hätte. Er hat Sonne und Licht gesucht. Nun seht ihr: er ist ganz krumm, doch stark und frei, labt sich schon am Morgen an der Sonne und bereitet daraus Saft für seine hundert und aber hundert süßen Früchte. Er hat sich selbst gewehrt. Er sagte gleichsam: "Der Schöpfer wollte, daß ich den Menschen Freude und Früchte schenke. Ich will, daß sein Wille meinen Willen leite." Ein Feigenbaum! Ein Baum ohne Sprache! Ohne Seele! Und ihr, Kinder Gottes, Menschenkinder, seid ihr denn weniger als eine holzige Pflanze?

Strebt danach, Früchte des ewigen Lebens hervorzubringen! Ich bebaue euch und als letztes werde ich euch einen Saft geben, wie es keinen wirksameren gibt. Laßt nicht zu, daß Satan auf den Ruinen meiner Arbeit,

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Sucht die Kraft! Sucht das Leben! Ich bin das Leben, die Kraft, die Sonne, das Licht aller, die mich lieben. Ich bin gekommen, um euch dahin zu führen, von wo ich gekommen bin. Ich spreche hier, um euch alle aufzurufen, sich unter das Gesetz der zehn Gebote zu stellen, die ewiges Leben gewährleisten; und mit einem Ratschlag der Liebe sage ich euch: "Liebt Gott und den Nächsten!" Dies ist die erste Bedingung, um alles Gute erfüllen zu können. Es ist das heiligste der heiligen zehn Gebote Gottes. Liebt! Jene, welche Gott mit reiner Liebe um seiner selbst willen lieben und für die Gott der Herr ist, werden im Himmel und auf Erden den Frieden haben, der für sie das Zelt und die Krone sein wird.»

Nach dem Segen Jesu entfernen sich die Leute nur ungern; und doch sind keine Kranken oder Arme unter ihnen.

Jesus sagt zu Simon: «Rufe die anderen beiden herbei! Wir wollen auf den See hinausfahren und das Netz auswerfen.»

«Meister, meine Arme schmerzen noch, da ich die ganze Nacht Umsonst das Netz ausgeworfen und eingezogen habe. Die Fische sind in der Tiefe, wer weiß wo.»

«Tu, was ich dir sage, Petrus! Höre immer auf den, der dich liebt!»

«Ich werde tun, was du sagst, aus Achtung vor deinem Wort.» Und er ruft laut die Gehilfen und auch Jakobus und Johannes herbei.

«Laßt uns zum Fischfang ausfahren! Der Meister will es.» Und während sie wegfahren, sagt er zu Jesus: «Doch ich muß es dir sagen, Meister, daß die Stunde nicht günstig ist. Wer weiß, wo die Fische zu dieser Stunde sind, um sich auszuruhen ...»

Jesus, der am Bug sitzt, lächelt und schweigt.

Sie fahren in einem Bogen über den See und werfen dann das Netz aus. Einige Minuten des Wartens, dann erhält das Boot eigenartige Stöße, obwohl der See ruhig wie Glas unter der schon hochstehenden Sonne liegt.

«Das sind Fische, Meister!» sagt Petrus mit aufgerissenen Augen. Jesus lächelt und schweigt.

«Hissen, hissen! ...» befiehlt Petrus den Jungen. Doch das Boot neigt sich zur Seite des Netzes. «Oh, Jakob, Johannes! Schnell! Kommt! Bringt die Ruder! Schnell!»

Sie kommen, und mit der Kraft der beiden Mannschaften gelingt es, das Netz hochzuziehen, ohne den Fang zu beschädigen.

Die Boote legen an. Sie sind dicht nebeneinander. Ein Korb, zwei, fünf, zehn. Alle sind voll von erstaunlicher Beute. Und immer noch zappeln Fische im Netz, silbern und golden, und versuchen, dem Tod zu entfliehen. Es bleibt keine andere Wahl: der Rest muß ins Boot geleert werden! So geschieht es auch, und der Schiffsboden wimmelt von Leben, das mit dem Tod kämpft. Die Boote sind tief ins Wasser gesunken wegen des ungewöhnlichen Gewichtes.

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Stangen bereithalten, um den Zusammenstoß zu vermeiden! Das Gewicht ist zu groß!»

Während des Manövers hat Petrus keine Zeit zum Nachdenken. Doch, wie sie am Ufer sind, tut er es und versteht. Er fühlt Reue: «Meister, Herr! Gehe weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Ich bin nicht wert, in deiner Nähe zu sein!» Er wirft sich vor Jesus auf den kiesigen, feuchten Strand.

Jesus betrachtet ihn und lächelt: «Steh auf! Folge mir nach! Ich lasse dich nicht mehr los! Von nun an wirst du Menschenfischer sein, und mit dir diese deine Gefährten! Fürchtet nichts mehr! Ich rufe euch! Kommt!»

«Sofort, Herr! Ihr kümmert euch um die Boote. Bringt alles Zebedäus und meinem Schwager! Laßt uns gehen! Alles für dich, Jesus! Der Ewige sei gepriesen für diese Erwählung!»

Die Vision ist zu Ende.

101. ISKARIOT FINDET JESUS ERNEUT IM GETHSEMANE UND WIRD ALS JÜNGER ANGENOMMEN

Am Nachmittag sehe ich Jesus... unter den Olivenbäumen. Er sitzt auf einer Anhöhe in seiner üblichen Art, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Unterarme nach vorne gestreckt und die Hände gefaltet. Der Abend sinkt nieder, und es wird immer dunkler im dichten Olivenhain.

Jesus ist allein. Er hat seinen Mantel abgelegt, als ob ihm heiß wäre, und sein helles Gewand hebt sich ab vom Grün der Umgebung.

Ein Mann kommt zwischen den Bäumen den Hügel herunter. Es scheint, als ob er etwas oder jemanden suche. Er ist groß und in ein farbenfrohes Gewand gekleidet; das rötliche Gelb dieses Gewandes läßt den Mantel mit seinen wallenden Fransen noch auffälliger erscheinen. Das Gesicht kann ich nicht gut sehen, da die Beleuchtung und die Entfernung dies nicht erlauben; außerdem verhüllt er es mit einem Zipfel des Mantels. Als er Jesus erblickt, macht er eine Bewegung, wie um zu sagen: «Hier ist er also!» und beschleunigt seinen Schritt. Aus einigen Metern Entfernung ruft er: «Sei gegrüßt, Meister!»

Jesus dreht sich plötzlich um und hebt das Antlitz, da der Angekommene etwas höher steht. Er betrachtet ihn ernst und beinahe traurig. Der andere wiederholt: «Ich grüße dich, Meister! Ich bin Judas von Kerioth. Erkennst du mich nicht? Erinnerst du dich nicht?»

«Ich erkenne dich und erinnere mich. Du hast am letzten Osterfest zusammen mit Thomas mit mir gesprochen.»

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«Und zu dem du gesagt hast: "Überlege es dir und entscheide dich vor meiner Rückkehr!" Ich habe entschieden: Ich komme!»

«Warum kommst du, Judas?» Jesus ist nun wirklich betrübt.

«Warum? Ich habe es dir schon gesagt... Ich träume vom Reiche Israels und habe dich als König gesehen.»

«Deshalb kommst du?»

«Deshalb! Ich stelle mich selbst und alles, was ich besitze, Fähigkeiten, Kenntnisse, Freundschaften und Mühen in deinen Dienst und in den Dienst deiner Mission für den Wiederaufbau Israels.»

Die beiden stehen sich nun gegenüber, ganz nah, und beobachten sich genau. Jesus ist ernst bis zur Traurigkeit, der andere überheblich in seiner Träumerei, lachend, jung und schön, leichtfertig und ehrsüchtig.

«Ich habe dich nicht gesucht, Judas.»

«Ich habe es gesehen; aber ich habe dich gesucht. Seit Tagen schon habe ich Leute an die Tore gesandt, die mir deine Ankunft mitteilen sollten. Ich glaubte, du kämest mit deinen Jüngern; so wäre es leicht gewesen, dich zu bemerken. Jedoch... Ich habe erkannt, daß du da gewesen bist, denn eine Gruppe von Pilgern sprach lobpreisend über die Heilung eines Kranken. Doch niemand konnte mir sagen, wo du dich aufhältst. Da fiel mir dieser Ort ein, und ich bin hierhergekommen. Hätte ich dich hier nicht angetroffen, dann hätte ich die Hoffnung aufgegeben, dich zu finden...»

«Glaubst du, daß es gut für dich ist, mich nun gefunden zu haben?»

«Ja, denn ich suchte dich; ich verlangte nach dir; ich wollte dich!»

«Warum? Warum hast du mich gesucht?»

«Ich habe es dir doch gesagt, Meister; hast du mich nicht verstanden?»

«Ich habe dich verstanden, o ja, ich habe dich verstanden. Doch ich wünsche, daß auch du mich verstehst, bevor du mir nachfolgst. Komm, laß uns miteinander reden, während wir gehen!» Und so gehen sie nebeneinander die kleinen Pfade auf und ab, die den Ölgarten durchqueren. «Du willst mir folgen eines menschlichen Beweggrundes wegen. Judas, ich muß dich enttäuschen; ich bin nicht deswegen gekommen.»

«Bist du nicht der verheißene König der Juden? Von dem die Propheten gesprochen haben? Auch andere sind schon gekommen. Doch fehlten bei ihnen zu viele Dinge, und sie fielen wie Blätter im Winde. Du hast Gott mit dir, denn du wirkst Wunder. Wo aber Gott ist, hat die Sendung bestimmt Erfolg.»

«Du hast recht gesprochen. Ich habe Gott mit mir. Ich bin sein Wort. Ich bin von den Propheten vorausgesagt, den Patriarchen verheißen und vom Volk erwartet. Doch warum, o Israel, bist du so blind und taub geworden, daß du den wahren Sinn der Geschehnisse nicht mehr lesen und sehen, hören und verstehen kannst? Mein Reich ist nicht von dieser Welt, Judas. Gib deine Denkweise auf! Zu Israel komme ich, um Licht und

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Herrlichkeit zu bringen; doch nicht das Licht und die Herrlichkeit dieser Welt. Ich komme, um die Gerechten Israels ins Reich zu führen. Denn aus Israel und mit Israel soll die Pflanze des ewigen Lebens erwachsen, deren Mark das Blut des Herrn ist; die Pflanze, die sich über die ganze Erde ausbreiten wird bis ans Ende der Zeiten. Aus Israel kommen meine ersten Jünger, aus Israel meine ersten Bekenner. Aber auch meine Verfolger, auch meine Peiniger, auch mein Verräter...»

«Nein, Meister! Das wird niemals geschehen. Wenn auch alle dich verraten, ich bleibe dir treu und werde dich verteidigen.»

«Du, Judas? Und worauf gründest du diese deine Sicherheit?»

«Auf meine Ehre als Mann.»

«Diese ist verletzlicher als ein Spinnennetz. Von Gott müssen wir die Kraft erbitten, um redlich und treu sein zu können. Der Mensch? Der Mensch schafft menschliche Werke. Um Werke des Geistes zu schaffen - denn dem Messias in Wahrheit und Gerechtigkeit nachfolgen, bedeutet Werke des Geistes schaffen - muß der Mensch absterben und neu geboren werden. Bist du dazu fähig?»

«Ja, Meister! Und dann... nicht ganz Israel wird dich lieben; doch Peiniger und Verräter des Messias wird es in Israel nicht geben; es erwartet dich seit Jahrhunderten.»

«Es wird sie geben. Denke an die Propheten! An ihre Worte... und an ihr Ende! Ich bin dazu bestimmt, viele zu enttäuschen. Und du bist einer von diesen, Judas. Du hast hier vor dir einen sanften, friedlichen Armen, der arm bleiben will. Ich bin nicht gekommen, um mich aufzudrängen und Krieg zu führen. Ich werde den Starken und Mächtigen kein Reich und keine Macht streitig machen. Ich werde nur Satan die Seelen streitig machen und bin gekommen, die Ketten Satans mit dem Feuer meiner Liebe zu sprengen. Ich komme, um Barmherzigkeit, Opferbereitschaft, Demut und Enthaltsamkeit zu lehren. Ich sage dir, ich sage allen: "Habt keinen Durst nach menschlichem Reichtum, sondern arbeitet für ewige Schätze!" Gib dich nicht der Illusion hin, Judas, mich als den Besieger Roms und der herrschenden Parteien zu sehen. Männer wie Herodes und die Caesaren können ruhig schlafen, während ich zu den Menschen rede. Ich bin nicht gekommen, Szepter zu entreißen... mein ewiges Szepter ist schon bereit. Doch keiner, der nicht Liebe ist, wie ich es bin, könnte es ergreifen. Geh, Judas, und denke darüber nach!»

«Weisest du mich ab, Meister?»

«Ich weise niemand ab; denn wer abweist, liebt nicht. Doch sage mir, Judas: Wie würdest du die Tat eines Menschen bezeichnen, der weiß, daß er eine ansteckende Krankheit hat, und einen Unwissenden, der sich ihm nähert, um aus seinem Kelch zu trinken, warnt: "Überlege, was du tust"? Würdest du dies Haß oder Liebe nennen?»

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«Liebe würde ich es nennen; denn er will nicht, daß der Unwissende seine Gesundheit aufs Spiel setzt.»

«Nimm also auch meine Worte in diesem Sinn!»

«Kann ich meine Gesundheit ruinieren, wenn ich mit dir komme? Niemals!»

«Mehr als die Gesundheit kannst du ruinieren; denn - denke wohl daran, Judas - wenig wird dem angerechnet, der zum Mörder wird, weil er glaubt, Gerechtigkeit zu üben, während er die Wahrheit nicht kennt; doch groß ist die Schuld desjenigen, der, obwohl er die Wahrheit kennt, ihr nicht nur nicht folgt, sondern zu ihrem Feind wird.»

«Das werde ich nicht. Nimm mich, Meister! Du darfst mich nicht abweisen. Wenn du der Erlöser bist und siehst, daß ich ein Sünder bin, ein verlorenes Schaf, blind und vom Wege abgekommen, warum weigerst du dich, mich zu retten? Nimm mich; ich werde dir bis zum Tode folgen!»

«Bis zum Tode, das ist die Wahrheit! Doch dann ...»

«Dann, Meister?»

«Die Zukunft liegt im Schoße Gottes. Geh! Morgen werden wir uns am Fischtor wiedersehen.»

«Danke, Meister. Der Herr sei mit dir!»

«Und seine Barmherzigkeit möge dich retten!»

Hier endet die Vision.

102. JESUS WIRKT AM FISCHTOR DAS WUNDER DER ZERBROCHENEN KLINGEN

Ich sehe Jesus einsam auf einer schattigen Straße dahingehen. Es scheint ein fruchtbares, wasserreiches Tal zu sein. Ich möchte sagen, Tälchen, denn es ist eingeengt von kleinen Hügeln, und in der Mitte fließt ein Bächlein.

Zu dieser Morgenstunde ist der Ort verlassen. Es muß eben erst Tag geworden sein, ein schöner, vorsommerlicher Tag, und außer dem Vogelgezwitscher in den Bäumen - meist Olivenbäume, besonders auf dem Hügel zur Linken, während auf dem anderen dornige Akazien, Agaven und sonstige distelartige Stauden wachsen - und dem klagenden Gurren der wilden Turteltauben, die in den Ritzen des öderen Berges nisten, ist nichts zu hören. Auch das Bächlein mit seinem spärlichen Wasser scheint keinerlei Geräusch zu verursachen und spiegelt das Grün ringsum wider, so daß es die Farbe eines dunkelgrünen Smaragdes hat.

Jesus geht nun über einen primitiven Steg; es handelt sich um einen gespaltenen Baumstamm, der über den Bach gelegt ist und weder Geländer noch sonstige Sicherung hat. Er setzt auf der anderen Uferseite seinen Weg fort.

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Nun sieht man Mauern und Tore, auch Händler mit Gemüse und anderen Lebensmitteln, die sich vor den noch verschlossenen Toren versammelt haben. Esel und Maultiere streiten und machen großen Lärm; aber auch ihre Eigentümer sind nicht zum Scherzen aufgelegt. Beleidigungen und Hiebe fallen nicht nur auf die Rücken der Langohren, sondern auch auf menschliche Köpfe.

Zwei sind ernsthaft miteinander in Streit geraten - Ursache: ein Esel hat sich über einen Korb herrlichen Salates eines Esels hergemacht, der einem anderen Herrn gehörte. Vielleicht ist dies nur ein erwünschter Vorwand, einen alten Hader auszufechten. Tatsache ist, daß aus den kurzen Gewändern, die bis zu den Waden reichen, zwei handbreite Messer gezogen werden, deren Klingen in der Sonne blitzen.

Weiber kreischen, Männer rufen; doch niemand versucht, die beiden am bäuerlichen Duell zu hindern.

Jesus, der nachdenklich des Weges kommt, hebt das Haupt, sieht die beiden und eilt mit raschen Schritten auf sie zu. «Halt, im Namen Gottes!» gebietet er.

«Nein, ich will diesen verdammten Hund erledigen!»

«Auch ich! Du liebst die Fransen? Ich werde aus deinen Eingeweiden Fransen machen.»

Die beiden kreisen um Jesus herum, stoßen und beleidigen ihn, damit er ihnen aus dem Wege gehe. Sie versuchen, sich zu treffen, doch ohne Erfolg, da Jesus mit klugen Bewegungen seines Mantels die Hiebe ablenkt und den Angriff abwehrt. Sein Mantel ist zerrissen. Das Volk schreit: «Geh weg, Nazarener, sonst trifft es auch dich!» Doch er rührt sich nicht und ist darum bemüht, die beiden zur Ruhe zu bewegen, durch die Anrufung Gottes. Ohne Erfolg! Der Zorn macht die beiden Gegner wahnsinnig.

Von Jesus strömt eine wundervolle Kraft aus. Zum letztenmal mahnt er: «Ich gebiete euch, macht Schluß!»

«Nein! Geh weg, du Hund von einem Nazarener!»

Da hebt Jesus mit blitzendem Machtausdruck die Hände. Er sagt kein Wort. Doch die Klingen zersplittern am Boden, als ob sie aus Glas und auf Fels gefallen wären.

Die beiden betrachten verwundert die nun wertlos gewordenen, kurzen Messergriffe, die sie in den Händen halten. Die Verblüffung betäubt ihren Zorn. Die Leute ringsum schreien ebenfalls vor Verwunderung auf.

«Und nun?» fragt Jesus streng. «Wo ist eure Kraft?»

Auch die Wachtsoldaten am Tore, die durch das Geschrei aufmerksam geworden sind, eilen erstaunt herbei, und einer bückt sich, um die Splitter aufzulesen. Er prüft sie mit dem Fingernagel und kann nicht fassen, daß sie aus Stahl sind.

«Und nun», wiederholt Jesus, «wo ist eure Kraft? Worauf gründet ihr

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euer Recht? Auf die Metallsplitter hier im Staube? Auf diese Metallstücke, die keine andere Kraft hatten als die der Sünde des Zornes gegen einen Bruder, durch die ihr den Segen Gottes und alle Kraft verloren hättet? Oh, ihr Armseligen, die ihr euch auf menschliche Mittel stützt, um zu siegen, und nicht wißt, daß nicht die Gewalt, sondern die Heiligkeit auf Erden und im Jenseits siegreich macht! Denn Gott ist mit den Gerechten.

Hört, ihr alle aus Israel, und auch ihr, römische Soldaten! Das Wort Gottes spricht zu allen Menschenkindern, und der Menschensohn wird es den Heiden nicht verwehren.

Das zweite Gebot Gottes ist das Gebot der Nächstenliebe. Gott ist gut und will Wohlwollen in seinen Kindern. Wer nicht wohlwollend zu seinem Nächsten ist, kann nicht Kind Gottes genannt werden und kann nicht Gott für sich haben. Der Mensch ist nicht ein unvernünftiges Tier, das sich wehrt und der Beute wegen beißt. Der Mensch hat eine Vernunft und eine Seele. Die Vernunft sagt ihm, wie er sich als Mensch zu verhalten hat. Die Seele sagt ihm, wie man heilig lebt. Jeder, der nicht so handelt, stellt sich unter die Tiere und fällt in die Schlingen Satans; denn die Sünde des Zornes öffnet Satan die Tür zum Herzen.

Liebt einander! Ich sage euch nichts anderes. Liebt euren Nächsten, wie es der Herr, der Gott Israels, will! Seid nicht vom Blut Kains! Warum seid ihr es? Für einige Münzen könnt ihr zum Mörder werden. Wegen einer Handbreit Erde. Wegen eines besseren Arbeitsplatzes. Wegen einer Frau. Was sind das für Dinge? Ewige? Nein! Sie dauern weniger als ein Leben, das nur ein Augenblick der Ewigkeit ist. Und was verliert ihr, wenn ihr nach ihnen trachtet? Den ewigen Frieden, der den Gerechten verheißen ist und den euch der Messias mit seinem Reiche bringen wird.

Kommt auf den Weg der Wahrheit! Folgt der Stimme Gottes! Liebt euch! Seid redlich, enthaltsam, demütig und gerecht! Geht und denkt darüber nach.»

«Wer bist du, daß du solches sagst und mit deinem Willen das Schwert vernichten kannst? Nur einer kann solche Dinge tun: der Messias. Nicht einmal Johannes der Täufer ist mächtiger. Bist du vielleicht der Messias ?» fragen drei oder vier.

«Ich bin es.»

«Du? Du, der die Kranken heilst und Gott in Galiläa verkündest?»

«Ich bin es!»

«Ich habe eine alte Mutter, die im Sterben liegt; rette sie.»

«Und ich, siehst du? Ich werde kraftlos vor Schmerzen. Meine Kinder sind noch klein; heile mich!»

«Geh nach Hause. Deine Mutter wird dir heute abend das Nachtmahl bereiten, und du, sei geheilt! Ich will es!»

Die Menge schreit. Dann fragen sie: «Wie ist dein Name?»

«Jesus von Nazareth!»

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«Jesus, Jesus! Hosanna! Hosanna!»

Die Menge befindet sich in einem Freudentaumel. So können die Esel machen, was sie wollen, und niemand achtet mehr darauf.

Mütter kommen aus der Stadt, denn das Geschehene hat sich schon herumgesprochen. Sie bringen ihre Kinder. Jesus segnet sie und lächelt ihnen zu. Er versucht den Kreis der Begeisterten zu durchbrechen, um in die Stadt zu gelangen und dahin zu gehen, wohin er will. Doch das Volk läßt ihn nicht frei.

«Bleibe bei uns! In Judäa! Auch wir sind Kinder Abrahams», schreien sie.

«Meister!» Judas kommt daher. «Meister, du bist mir vorausgegangen. Was geschieht hier?»

«Der Rabbi hat ein Wunder gewirkt! Nicht in Galiläa, nein, hier, bei uns wollen wir ihn haben.»

«Siehst du, Meister? Ganz Israel liebt dich. Es wäre gut, wenn du hierbleiben würdest. Warum entziehst du dich?»

«Ich entziehe mich nicht. Ich bin eigens allein gekommen, damit die ungeschliffenen Manieren der galiläischen Jünger die Empfindsamkeit der Judäer nicht verletzen. Ich will alle Schafe Israels unter dem Szepter Gottes vereinigen.»

«Aus diesem Grunde habe ich dir gesagt: "Nimm mich, ich bin aus Judäa und weiß, wie man mit meinesgleichen umgeht!" Du bleibst also in Jerusalem?»

«Einige Tage, um einen Jünger zu erwarten. Auch er ist aus Judäa. Dann werde ich durch Judäa ziehen.»

«Oh, ich werde mit dir gehen; ich will dich begleiten. Du wirst in mein Dorf kommen, und ich werde dich in mein Haus führen. Wirst du kommen, Meister?»

«Ich werde kommen... Vom Täufer weißt du nichts, du, der du aus Judäa bist und bei den Mächtigen wohnst?»

«Ich weiß, daß er noch im Gefängnis ist; doch sie wollen ihn freilassen, denn die Bevölkerung droht mit Aufruhr, wenn ihr Prophet nicht ausgeliefert wird. Kennst du ihn?»

«Ich kenne ihn.»

«Liebst du ihn? Was denkst du von ihm?»

«Ich denke, daß kein anderer Mensch mehr dem Elias gleichen kann als er.»

«Hältst du ihn wirklich für den Vorläufer?»

«Er ist es. Er ist der Morgenstern, der die Sonne ankündigt. Selig, die sich durch seine Predigten auf die Sonne vorbereitet haben!»

«Johannes ist sehr streng.»

«Mit den anderen nicht strenger als mit sich selbst.»

«Das ist wahr. Doch es ist schwer, ihn in seinen Bußübungen nachzuahmen. Du bist gütiger, und es ist leichter, dich zu lieben.»

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«Und doch ...»

«Und doch, Meister?»

«Und doch, so wie er wegen seiner Strenge gehaßt wird, so wird man mich wegen meiner Güte hassen; denn wir beide predigen Gott, und Gott ist bei den Bösen unbeliebt. Es steht geschrieben, daß es so ist. So wie er mir in der Verkündigung vorangeht, so wird er mir auch im Tode vorangehen. Doch wehe den Mördern der Buße und der Güte!»

«Warum, Meister, immer diese traurigen Voraussagen? Die Menschen lieben dich, du siehst es...»

«Weil es eine Gewißheit ist. Die demütigen Menschen lieben mich. Doch die Menge besteht nicht nur aus Demut und Demütigen. Ich bin jedoch nicht traurig. Es ist ruhige Vorausschau der Zukunft und Anpassung an den Willen des Vaters, der mich dazu gesandt hat. Dafür bin ich gekommen. Wir sind nun am Tempel. Ich werde zum Bel Nidrasch gehen, um die Scharen zu unterrichten. Wenn du willst, bleibe.»

«Ich will an deiner Seite bleiben. Ich habe nur ein Ziel: dir zu dienen und dir zum Triumph zu verhelfen.»

Sie gehen in den Tempel, und alles ist zu Ende.

103. ISKARIOT IST IM TEMPEL, WO JESUS PREDIGT

Ich sehe Jesus und an seiner Seite Judas Iskariot. Sie lassen die Umfassungsmauer des Tempels hinter sich, und nachdem sie die erste Terrasse oder den ersten Treppenabsatz, wenn das besser gefällt, erklommen haben, bleiben sie an einem Torbogen stehen, der in einen weiten, mit verschiedenfarbigen Marmorplatten gepflasterten Hof führt. Der Platz ist sehr schön und von Menschen überfüllt.

Jesus schaut umher und erblickt eine Stelle, die ihm gefällt. Doch bevor er sich dorthin begibt, sagt er zu Judas: «Rufe mir den Vorsteher des Ortes! Ich muß mich zu erkennen geben, damit man nicht sagen kann, ich hätte gegen die Vorschriften und die Ehrfurcht verstoßen.»

«Meister, du bist über die Bräuche erhaben. Niemand hat ein größeres Recht als du, im Hause Gottes zu sprechen; du, sein Messias!»

«Ich weiß es, und du weißt es; doch sie wissen es nicht. Ich bin nicht gekommen, um Ärgernis zu erzeugen oder zur Gesetzesübertretung und zur Mißachtung der Bräuche anzuleiten. Ich bin im Gegenteil gekommen, um Ehrfurcht, Demut und Gehorsam zu lehren und Ärgernisse zu verhindern. Ich will darum bitten, im Namen Gottes sprechen zu dürfen, und werde mich vom Vorsteher des Ortes als dazu berechtigt erklären lassen.»

«Neulich hast du es nicht getan.»

«Neulich brannte in mir der Eifer für das Haus Gottes, das durch zu

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viele Dinge entheiligt war. Neulich war ich der Sohn des Vaters, der Erbe, der im Namen des Vaters und aus Liebe zu meinem Hause handelte kraft seiner Hoheit, der die Vorsteher und Priester unterstehen. Nun bin ich der Lehrmeister Israels und belehre Israel auch darüber. Und übrigens, Judas, glaubst du, daß der Jünger über dem Meister steht?»

«Nein, Jesus!»

«Wer bist du also, und wer bin ich?»

«Du bist der Meister, und ich der Jünger.»

«Wenn du das anerkennst, weshalb willst du den Meister belehren? Geh und gehorche! Ich gehorche meinem Vater. Du gehorche deinem Meister! Erste Bedingung für den Sohn Gottes: unbedingter Gehorsam ohne Widerrede in der Überzeugung, daß der Vater nur heilige Anweisungen geben kann. Erste Bedingung für den Jünger: dem Meister gehorchen im Bewußtsein, daß der Meister nur gerechte Aufträge geben kann.»

«Es ist wahr. Bitte verzeih! Ich werde gehorchen.»

«Es sei dir verziehen! Geh nun! Und noch etwas, Judas: Erinnere dich in Zukunft immer daran!»

«Zu gehorchen? Ja!»

«Nein: Erinnere dich daran, daß ich dem Tempel gegenüber respektvoll und demütig war. Dem Tempel gegenüber, das heißt, den mächtigen Kasten gegenüber. Geh!»

Judas betrachtet ihn nachdenklich und fragend... doch wagt er nicht, weitere Fragen zu stellen. So geht er in Gedanken davon... um mit einer feierlich gekleideten Persönlichkeit zurückzukommen.

«Hier, Meister, ist der Vorsteher.»

«Der Friede sei mit dir! Ich bitte darum, mit den Lehrern Israels unterrichten zu dürfen.»

«Bist du ein Rabbi?»

«Ich bin es.»

«Wer war dein Lehrer?»

«Der Geist des Herrn, der zu mir spricht in seiner Weisheit und mich erleuchtet über jedes Wort der Heiligen Schrift.»

«Dann stehst du also über Hillel, da du sagst, ohne Lehrer alle Wissenschaft zu kennen? Wie kann jemand Wissen besitzen, wenn ihn niemand unterrichtet hat?»

«Wie hat sich David, der ungelehrte Hirte, gebildet, der nach dem Willen des Herrn der mächtige und weise König wurde?»

«Dein Name?»

«Jesus, der Sohn des Joseph von Jakob, aus dem Geschlechte Davids und der Maria, Tochter Joachims aus dem Hause Davids und der Anna des Aaron. Maria war die Jungfrau, die durch den Hohenpriester im Tempel vermählt wurde, nach dem Gesetze Israels, da sie Waise war.»

«Wer kann dies bestätigen?»

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«Es müssen noch Leviten hier sein, die sich daran erinnern; Zeitgenossen des Zacharias aus dem Jahrgang des Abias, meines Verwandten. Befrage sie, wenn du an meiner Aufrichtigkeit zweifelst!»

«Ich will dir glauben. Doch wer beweist mir, daß du fähig bist zu unterrichten?»

«Höre mich an und urteile selbst.»

«Ich will dich nicht hindern... Aber, bist du nicht ein Nazarener?»

«Ich bin in Bethlehem in Judäa geboren zur Zeit der Volkszählung, die Caesar verordnet hatte. Die Kinder Davids sind überall verstreut aufgrund ungerechter Vorschriften. Doch das Geschlecht stammt aus Judäa.»

«Weißt du... die Pharisäer... ganz Judäa... und Galiläa ...»

«Ich weiß. Doch beruhige dich, in Bethlehem sah ich das Licht, in Bethlehem Ephrata; von dorther stammt mein Geschlecht. Wenn ich jetzt in Galiläa lebe, so nur, damit sich die Schrift erfülle.»

Der Vorsteher entfernt sich einige Meter, da man ihn gerufen hat.

Judas fragt nun Jesus: «Warum hast du nicht gesagt, daß du der Messias bist?»

«Es wird aus meinen Worten hervorgehen.»

«Welches ist die Weissagung, die in Erfüllung gehen wird?»

«Ganz Israel wird unter der Lehre des Wortes Christi vereint werden. Ich bin der Hirte, von dem die Propheten sprechen, und ich bin gekommen, um die Schafe von allen Seiten zusammenzurufen. Ich komme, um die Kranken zu heilen und die Herumirrenden auf die gute Weide zu führen. Für mich gibt es kein Judäa und kein Galiläa, kein Dekapolis und kein Idumäa. Es gibt nur eines: die Liebe, die mit nur einem Auge schaut und in einer einzigen Umarmung vereint, um zu retten.»

Jesus ist verzückt. Von seiner Gestalt scheinen Strahlen auszugehen; er lächelt in seiner Schau. Judas betrachtet ihn voller Bewunderung.

Neugierige Leute haben sich den beiden zugesellt, deren verschiedenartige Stattlichkeit anzieht und auffällt.

Jesus senkt den Blick und lächelt der kleinen Gruppe zu mit seinem Lächeln, dessen Lieblichkeit kein Maler jemals zeichnen und kein Gläubiger, der es nicht gesehen, sich jemals vorstellen kann. Er sagt: «Kommt, wenn euch das Verlangen nach ewigen Worten drängt!»

Er begibt sich unter einen Torbogen und, an eine Säule gelehnt, beginnt er zu sprechen. Er beginnt mit einem Rückblick auf den Vorgang am Morgen.

«Als ich heute morgen in Sion ankam, mußte ich sehen, daß zwei Söhne Abrahams wegen ein paar Denaren bereit waren, sich gegenseitig umzubringen. Im Namen Gottes hätte ich sie verfluchen können, denn Gott sagt: "Du sollst nicht töten", und er sagt auch, daß verflucht sein wird, wer den Geboten nicht gehorcht.

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Doch ich hatte Mitleid mit ihrer Unwissenheit über den Geist des Gesetzes und ich habe den Mord nur verhindert, um den beiden Gelegenheit zur Reue zu geben, Gelegenheit, Gott kennenzulernen und ihm in Gehorsam zu dienen, damit sie nicht nur den lieben, der sie ebenfalls liebt, sondern auch ihre Feinde.

Ja, Israel, ein neuer Tag bricht an für dich, und das Gebot der Liebe wird leuchtender. Beginnt das Jahr etwa mit dem nebligen Etanim oder dem traurigen Kislew mit Tagen, die kürzer als ein Traum, und Nächten, die lang wie eine Krankheit sind? Nein! Es beginnt mit dem sonnigen, blühenden, heiteren Monat Nisan, in dem alles lacht und das Menschenherz, auch das ärmste und traurigste, sich der Hoffnung öffnet, weil nun der Sommer, die Ähren, die Sonne und die Früchte kommen! Süß ist der Schlummer auf einer blumenreichen Wiese mit den Sternen als Lichtern; einfach ist es sich zu ernähren, denn jede Scholle bringt Gemüse oder Obst hervor, um den Hunger des Menschen zu stillen.

Höre also, Israel: Der Winter, die Wartezeit, ist vorüber! Nun kommt die Freude der erfüllten Verheißung. Brot und Wein sind bereitet für deinen Hunger. Die Sonne befindet sich unter euch, und alles empfängt von dieser Sonne tieferen und süßeren Atem. Auch das Gebot des Gesetzes, das erste, das heiligste der heiligen Gebote: "Liebe Gott und liebe deinen Nächsten! "

In dem begrenzten Licht, das dir bisher gewährt war - du hättest nicht mehr tun können, da auf dir noch der Zorn Gottes lastete aufgrund der Lieblosigkeit Adams - wurde dir gesagt: "Liebe jene, die dich lieben und hasse deine Feinde!" Feind war nicht nur, wer die Grenzen deines Eigentums überschritt, sondern auch jeder, der dir persönlich geschadet oder dich sonstwie beleidigt zu haben schien. So war der Haß in allen Herzen; denn wo ist der Mensch, der den Bruder nicht freiwillig oder unfreiwillig beleidigt? Und wer erreicht das Greisenalter, ohne je beleidigt worden zu sein?

Ich sage euch: Liebt auch jene, die euch beleidigen! Tut dies im Gedanken, daß Adam und jeder Mensch durch ihn zu einem Übertreter der Gebote Gottes geworden ist, und daß es keinen gibt, der sagen kann: "Ich habe Gott nie beleidigt." Und doch, Gott verzeiht nicht nur einmal, sondern zehnmal, nein, tausend- und zehntausendmal, und der Fortbestand der Menschheit ist der Beweis dafür. Verzeiht daher, wie euch Gott verzeiht. Und wenn ihr es nicht aus Liebe zum Bruder, der euch geschadet hat, tun könnt, dann tut es aus Liebe zu Gott, der euch Brot und Leben gibt, der für alle eure irdischen Bedürfnisse sorgt und jedes Ereignis vorgesehen hat, um euch den ewigen Frieden bei ihm zu bereiten.

Dies ist das neue Gesetz, das Gesetz des Frühlings Gottes, der Blütezeit der Gnade, die zu den Menschen gekommen ist; der Zeit, die euch die Frucht, die ihresgleichen nicht hat, schenken und die Pforten des Himmel erschließen wird.

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Die Stimme, die in der Wüste rief, wird nicht gehört. Doch sie ist nicht verstummt. Sie spricht immer noch für Israel zu Gott und spricht immer noch zum Herzen eines jeden aufrechten Israeliten. Und sie sagt, nachdem sie euch aufgefordert hat zur Buße, um den Weg des Herrn, der kommt, zu bereiten und um Nächstenliebe zu üben, und dem vom Überfluß zu geben, dem das Allernötigste fehlt, sie sagt: "Das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt, das mit dem Feuer des Heiligen Geistes tauft, ist unter euch; es wird die Tenne säubern und den Weizen einbringen."

Erkennt ihn, den der Vorläufer euch anzeigt! Seine Leiden wirken bei Gott, um euch das Licht zu geben. Ihr werdet sehen! Eure geistigen Augen öffnen sich. Erkennt das Licht, das kommt! Ich löse die Stimme des Propheten ab, der den Messias verkündet, und mit der Macht, die mir vom Vater gegeben wurde, und mit meiner eigenen Macht verstärke ich sie und rufe euch zur Wahrheit des Gesetzes. Bereitet eure Herzen vor auf die Gnade der nahen Erlösung! Der Erlöser ist unter euch. Selig, die würdig sind, erlöst zu werden, weil sie guten Willen gehabt haben! Der Friede sei mit euch!»

Einer fragt: «Bist du ein Jünger des Täufers, da du mit so großer Verehrung von ihm sprichst?»

«Ich bin von ihm am Ufer des Jordan getauft worden, bevor er eingekerkert wurde. Ich verehre ihn, denn er ist heilig in den Augen Gottes. Wahrlich, ich sage euch, unter den Söhnen Abrahams ist keiner, der in der Gnade größer ist als er. Von seiner Geburt bis zu seinem Tode ruhen die Augen Gottes mit Wohlgefallen unablässig auf diesem Gebenedeiten.»

«Hat er dir die Ankunft des Messias versichert?»

«Sein Wort, das nicht lügt, hat den Anwesenden den schon lebenden Messias bezeichnet.»

«Wann und wo?»

«Als die Stunde gekommen war, ihn zu bezeichnen.»

Judas aber fühlt sich verpflichtet, nach allen Seiten hin zu sagen: «Der Messias ist jener, der zu euch spricht. Ich bezeuge dies, ich, der ich ihn kenne, da ich sein erster Jünger bin.»

«Er? ... Oh! ...» Die Menschen gehen verschüchtert auf die Seite. Doch Jesus ist so gut, daß er auf sie zugeht.

«Verlangt von ihm ein Wunder! Er ist mächtig. Er heilt. Er liest in den Herzen! Er beantwortet jede Frage.»

«Sprich du für mich; ich bin krank. Das rechte Auge ist blind, und das linke beginnt nun auch auszutrocknen.»

«Meister!»

«Judas?» Jesus, der ein kleines Mädchen streichelt, wendet sich um.

«Meister, dieser Mann ist beinahe blind und möchte das Augenlicht zurückerlangen. Ich sage ihm, daß du ihm helfen kannst.»

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«Ich kann es, wenn man glaubt. Mann, hast du Glauben?»

«Ich glaube an den Gott Israels. Ich bin gekommen, um im Teiche Bethsaida unterzutauchen. Doch es sind immer andere vor mir da.»

«Kannst du an mich glauben?»

«Wenn ich an den Engel des Teiches glaube, soll ich dann nicht an dich glauben, da dein Jünger sagt, du seist der Messias?»

Jesus lächelt. Er befeuchtet seinen Finger mit Speichel und berührt damit das kranke Auge. «Was siehst du?»

«Ich sehe die Dinge ohne den vorherigen Nebel. Willst du das andere nicht heilen?»

Jesus lächelt wiederum. Er wiederholt den Vorgang auf dem blinden Auge. «Was siehst du?» fragt er, indem er das Lid hochhebt.

«Oh, Herr Israels! Ich kann sehen wie damals, als ich ein Kind war und auf den Wiesen herumsprang. Sei gepriesen in Ewigkeit!»

Der Mann hat sich Jesus zu Füßen geworfen und weint.

«Geh, und sei von nun an gut aus Dankbarkeit Gott gegenüber!»

Ein Levit, der nach dem erfolgten Wunder hinzugekommen ist, fragt: «Wer gibt dir die Kraft für solche Eingriffe?»

«Du fragst mich dies? Doch ich will es dir sagen, wenn du mir die Frage beantwortest: Ist der Prophet, der den Messias vorhersagt, größer als der Messias selbst?»

«Welch eine Frage! Der Messias ist größer, denn er ist der vom Allerhöchsten verheißene Erlöser.»

«Warum wirkten dann die Propheten Wunder? Wer gab ihnen die Macht dazu?»

«Gott hat sie ihnen gegeben, um den Menschen zu zeigen, daß er mit ihnen sei.»

«Nun, mit derselben Kraft wirke ich Wunder: Gott ist mit mir, ich bin mit ihm. Ich beweise den Menschen, daß es so ist und daß der Messias - mit mehr Recht und in größerem Maße - das tun kann, was die Propheten getan haben.»

Der Levit geht in Gedanken versunken weg, und alles ist zu Ende.

104. JESUS BELEHRT JUDAS ISKARIOT

Jesus und Judas verlassen den Tempel. Zuvor haben sie auf dem für die männlichen Israeliten bestimmten Platze in allernächster Nähe des Allerheiligsten gebetet.

Judas möchte bei Jesus bleiben. Doch der Meister lehnt ab. «Judas, ich wünsche in den nächtlichen Stunden allein zu bleiben. In der Nacht schöpft mein Geist vom Vater seine Nahrung. Gebet, Betrachtung und

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Einsamkeit habe ich nötiger als materielle Nahrung. Wer für den Geist leben und andere dazu führen will, muß das Fleisch verleugnen, ich möchte sagen, es töten und alle seine Sorge dem Geiste zuwenden. Alle, du weißt es, Judas! Auch du solltest so handeln, wenn du wirklich Gott, also dem Übernatürlichen, gehören willst.»

«Aber wir sind noch auf Erden, Meister. Wie können wir das Fleisch vernachlässigen und alle Pflege nur dem Geiste schenken? Steht das, was du sagst, nicht im Widerspruch zum Gebot Gottes: "Du sollst nicht töten" ? Ist darin nicht auch enthalten: sich selbst nicht töten? Wenn das Leben eine Gabe Gottes ist, sollten wir es also nicht lieben?»

«Ich werde dir so antworten, wie ich einem Einfachen gegenüber nicht antworten würde; für diesen würde es genügen, den Blick der Seele oder des Geistes auf übernatürliche Sphären zu richten, um ihn mit uns im Fluge in die Regionen des Geistes zu tragen. Du bist kein Einfacher. Du bist in einer Umgebung aufgewachsen, die dich verfeinert hat... dich aber auch mit ihren Spitzfindigkeiten und ihren Lehren verseucht hat. Erinnerst du dich an Salomon, Judas? Er war weise, der Weiseste seiner Zeit. Erinnerst du dich, daß er sagte, nachdem er alles Wissenswerte wußte: "O Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit! Gott fürchten und seine Gebote halten, das ist der wahre Mensch." Nun sage ich dir: es ist vernünftig, den Speisen das Nahrhafte zu entnehmen, nicht das Gift. Wenn wir erkennen, daß uns eine Speise schadet, da sie in uns unheilvolle Reaktionen hervorruft, die von unseren Organen nicht verarbeitet werden, dann müssen wir diese Speise meiden, auch wenn sie unserem Gaumen zusagt. Besser nur einfaches Brot und Quellwasser, als auserlesene Speisen von der Tafel des Königs, deren Gewürze stören und vergiften.»

«Was soll ich lassen, Meister? ...»

«Alles, von dem du weißt, daß es dich beunruhigt. Denn Gott ist Friede, und wenn du den Weg Gottes beschreiten willst, mußt du deinen Geist, dein Herz und dein Fleisch freimachen von allem, was nicht Frieden, sondern Beunruhigung erzeugt. Ich weiß, daß es schwer ist, sich selbst zu erneuern; doch ich bin hier, um dir dabei zu helfen. Ich bin gekommen, um den Menschen zu helfen, wieder Kinder Gottes zu werden, sich wie in einer zweiten Erschaffung zu erneuern - eine Selbsterneuerung, die man selbst will. Doch will ich dir auf deine Fragen antworten, damit du nicht sagen kannst, daß du meinetwegen im Irrtum geblieben bist. Es stimmt, daß Selbstmord dem Mord gleichkommt. Sowohl eigenes als auch fremdes Leben ist ein Geschenk Gottes, und nur Gott, der es gegeben hat, hat das Recht, es wieder zu nehmen. Wer sich selbst entleibt, bekennt damit seinen Hochmut, und Gott haßt den Hochmut.»

«Den Hochmut, sagst du? Ich würde eher meinen, die Verzweiflung.»

«Ist denn die Verzweiflung nicht Hochmut? Überlege, Judas! Warum verzweifelt jemand? Entweder weil er meint, wenn ein Unheil auf ihn

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zukommt, allein damit fertig werden zu müssen, obwohl er es nicht kann, oder weil er schuldig ist und glaubt, daß Gott ihm nicht verzeihen könne. Ist nicht sowohl im ersten als auch im zweiten Falle der Hochmut die Ursache? Der Mensch, der sich selbst helfen will, hat die Demut nicht, die Hand zum Vater auszustrecken und ihn zu bitten: "Ich kann nicht, doch du kannst. Hilf mir, denn auf dich hoffe und warte ich." Der andere Mensch sagt: "Gott kann mir nicht verzeihen", da er Gott mit seinem eigenen Maßstab mißt und glaubt, daß einer, der so beleidigt worden ist, nicht mehr verzeihen könnte. Also auch hier Hochmut. Der Demütige bemitleidet und verzeiht, auch wenn ihn die Beleidigung schmerzt. Der Hochmütige verzeiht nicht. Er ist auch hochmütig, weil er seine Stirne nicht beugen und sagen kann: "Vater, ich habe gesündigt, verzeihe deinem armen, schuldbeladenen Kinde!" Weißt du denn nicht, Judas, daß der Vater alles vergeben kann, wenn er um Verzeihung gebeten wird mit einem aufrichtigen und zerknirschten Herzen, das demütig und willig zur Auferstehung im Guten ist!»

«Doch bestimmte Vergehen werden nicht verziehen, können nicht verziehen werden!»

«Du sagst es. Und es ist wahr, weil der Mensch es so will. Doch in Wahrheit, ja in Wahrheit sage ich dir, wenn der Schuldige selbst nach dem größten aller Verbrechen zu den Füßen des Vaters eilen würde - er nennt sich deswegen Vater, o Judas, und er ist der Vater von unendlicher Vollkommenheit - und weinend um Verzeihung bäte und sich zum Sühnen anböte, aber ohne Verzweiflung, dann würde der Vater ihm die Möglichkeit der Sühne geben, um ihn der Verzeihung würdig zu machen und seine Seele zu retten!»

«Somit sagst du, daß die Menschen, die die Schrift nennt und die sich selbst töteten, schlecht gehandelt haben?» (2 Kön 17,23)

«Es ist nicht erlaubt, jemandem Gewalt anzutun, auch nicht sich selbst. Es ist immer Unrecht. In ihrer ungenügenden Kenntnis des Guten werden sie aber in bestimmten Fällen noch Barmherzigkeit von Gott erhalten. Doch wenn das Wort jede Wahrheit geklärt und mit seinem Geiste die Geister gestärkt haben wird, von da an wird keinem mehr verziehen werden, der in Verzweiflung stirbt. Nicht im Augenblick des besonderen Gerichtes und auch nicht nach Jahrhunderten von Höllenqualen beim letzten Gericht! Niemals! Ist das Härte von seiten Gottes? Nein: Gerechtigkeit! Gott wird sagen: "Du hast gerichtet, du, Geschöpf, mit Verstand und übernatürlichem Wissen begabt, von mir erschaffen mit einem freien Willen; du hast gesagt: 'Gott verzeiht mir nicht. Ich bin von ihm für immer getrennt. Ich richte mich für meine Verfehlung selbst. Ich werde aus dem Leben scheiden, um den Vorwürfen zu entgehen', ohne dabei zu bedenken, daß die Vorwürfe dich nicht mehr erreicht hätten, wenn du dich an mein väterliches Herz geflüchtet hättest. Und so, wie du dich gerichtet

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hast, bist du jetzt! Ich vergewaltige die Freiheit nicht, die ich dir gegeben habe."

So wird der Ewige dem Selbstmörder antworten. Denke daran, Judas! Das Leben ist ein Geschenk und muß geliebt werden. Doch was für ein Geschenk ist es? Ein heiliges Geschenk! Daher soll es auf heilige Weise geliebt werden. Das Leben dauert, solange der Körper die Kraft dazu hat. Dann beginnt das große Leben. Das ewige Leben. Voller Seligkeit für die Gerechten, voller Qualen für die Ungerechten. Ist das Leben Zweck oder Mittel? Es ist Mittel! Es dient zum Endziel, das Ewigkeit heißt. Also geben wir dem Leben das, was ihm genügt, um sich zu erhalten und dem Geiste zu dienen zur Erreichung seines Zieles. Enthaltsamkeit des Fleisches mit all seinen Begierden - allen! Enthaltsamkeit des Geistes mit all seinen Wünschen - allen! Enthaltsamkeit des Herzens mit all seinen Leidenschaften, die menschlich sind. Ungehemmt bleibe jedoch der Auftrieb der Leidenschaften, die des Himmels sind: der Liebe zu Gott und dem Nächsten; des Willens, Gott und dem Nächsten zu dienen; des Gehorsams gegenüber dem Wort Gottes; des Heldentums im Guten und in der Tugend.

Ich habe dir geantwortet, Judas. Bist du nun überzeugt? Genügt dir diese Erklärung? Sei aufrichtig und frage, wenn dir noch etwas unklar ist. Ich bin hier, um dir Lehrer zu sein!»

«Ich habe verstanden, es genügt mir. Aber es ist sehr schwer, in die Tat umzusetzen, was ich verstanden habe. Du kannst es, weil du heilig bist. Doch ich... Ich bin ein Mensch, jung und voller Lebenskraft!»

«Ich bin für die Menschen gekommen, Judas. Nicht für die Engel. Diese brauchen keinen Meister. Sie sehen Gott. Sie leben in seinem Paradies. Sie kennen die Leidenschaften der Menschen, denn der Geist, der ihr Leben ist, läßt sie alles kennen; auch diejenigen, die nicht zu Schutzengeln der Menschen bestimmt sind. Doch als Geister, die sie sind, können sie nur in einem sündigen, wie einer von ihnen es getan und die in der Liebe weniger Starken nach sich gezogen hat: mit dem Hochmut, dem Pfeil, der Luzifer, den schönsten der Erzengel, verwundete und ihn zum abstoßendsten Ungeheuer des Abgrunds machte. Ich bin nicht für die Engel gekommen, die sich nach dem Fall Luzifers schon bei der geringsten Spur eines hochmütigen Gedankens entsetzen. Ich bin für die Menschen gekommen; um aus Menschen Engel zu machen.

Der Mensch war die Krone der Schöpfung. Er hatte vom Engel den Geist und vom Tier die volle Schönheit in all ihren leiblichen und moralischen Aspekten. Kein anderes Wesen kam dem Menschen gleich. Er war der König der Erde, wie Gott der König des Himmels ist, und eines Tages, am Tag, an dem er zum letzten Male auf der Erde eingeschlafen wäre, hätte er mit dem Vater im Himmel König sein können.

Satan hat dem Mensch-Engel die Flügel ausgerissen und ihm Raubtierglieder

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und eine Gier nach Unreinem gegeben; er hat aus ihm etwas gemacht, das man nicht Mensch, sondern Mensch-Dämon nennen sollte. Ich will die von Satan verursachte Entstellung auslöschen, den Hunger des unreinen Fleisches vernichten, dem Menschen die Flügel wieder geben und ihn wieder zum König, zum Miterben des Vaters und des himmlischen Reiches machen. Ich weiß, daß der Mensch, wenn er nur wollte, tun könnte, was ich sage, um wieder König und Engel zu werden. Ich werde euch keine Dinge sagen, die ihr nicht tun könnt. Ich gehöre nicht zu den Rednern, welche Lehren verkünden, die man nicht verwirklichen kann. Ich habe wahres Fleisch angenommen, um wissen zu können aus der Erfahrung des Fleisches, wie die Versuchungen des Menschen sind.»

«Und die Sünden?»

«Versucht können alle werden. Sünder nur, die es wollen.»

«Hast du je gesündigt, Jesus?»

«Ich habe nie sündigen wollen. Und dies, nicht weil ich der Sohn des Vaters bin. Ich habe den festen Willen, dem Menschen zu zeigen, daß der Menschensohn nicht gesündigt hat, weil er nicht sündigen wollte, und daß der Mensch, wenn er nicht will, nicht sündigen wird.»

«Bist du nie in Versuchung gekommen?»

«Ich bin 3O Jahre alt, Judas. Ich habe nicht in einer Höhle auf einem Berg gelebt, sondern unter Menschen; und wenn ich am einsamsten Ort der Erde gelebt hätte, glaubst du, daß ich vor Versuchungen verschont geblieben wäre? Alle haben wir in uns das Gute und das Böse. Alles tragen wir in uns. Über dem Guten schwebt der Hauch Gottes und belebt es wie ein Weihrauchfaß, voll von wohltuendem, heiligem Weihrauch. Auf das Böse bläst Satan und entzündet es zu einem verderblichen Feuer. Doch der aufmerksame Wille und das unablässige Gebet sind wie feuchter Sand für das höllische Feuer; sie löschen und ersticken es.»

«Aber wenn du noch nie gesündigt hast, wie kannst du dann die Sünder beurteilen?»

«Ich bin Mensch und bin Sohn Gottes. Was ich als Mensch nicht erkennen oder nur schwer beurteilen könnte, erkenne und beurteile ich als Sohn Gottes. Und übrigens, Judas, beantworte mir diese Frage: Leidet einer, der Hunger hat, mehr, wenn er sagt: "Ich setze mich an den Tisch", oder wenn er sagt: "Ich habe nichts zu essen"?»

«Er leidet mehr im zweiten Falle; denn das Wissen darum, daß er leer ausgeht, vermittelt ihm das Aroma der Speisen, und der Magen zieht sich vor Verlangen zusammen.»

«Also, die Versuchung nagt wie dieses Verlangen, Judas. Satan läßt es heftiger, deutlicher und verführerischer werden als jede vollbrachte Tat. Die Tat befriedigt, manchmal ekelt sie an; die Versuchung aber läßt nicht nach, sondern bringt wie ein gestutzter Baum üppigeres Laub hervor.»

«Hast du nie nachgegeben?»

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«Ich habe nie nachgegeben.»

«Wie ist dir das gelungen?»

«Ich habe gesagt: "Vater, führe mich nicht in Versuchung!"»

«Was, du, der Messias, der Wunder wirkt, du hast den Vater um Hilfe gebeten?»

«Nicht nur um Hilfe; ich habe ihn gebeten, mich nicht in Versuchung zu führen. Glaubst du, weil ich ICH bin, kann ich auf den Vater verzichten? O nein! In Wahrheit sage ich dir, daß der Vater dem Sohn alles gewährt, daß der Sohn aber auch alles vom Vater erhält. Ich sage dir, daß alles, was in meinem Namen vom Vater erbeten wird, gewährt wird. Doch nun sind wir am Gethsemani; hier wohne ich. Man sieht schon die ersten Olivenbäume jenseits der Mauer. Du wohnst hinter Tophet. Der Abend senkt sich schon nieder. Es ist besser, wenn du nicht bis dort hinauf mitkommst. Wir sehen uns morgen am selben Platz. Lebe wohl! Der Friede sei mit dir!»

«Der Friede sei auch mit dir, Meister! Doch möchte ich dir noch etwas sagen. Ich werde bis zum Kedron mitgehen und dann umkehren. Warum wohnst du in einem solch bescheidenen Haus? Weißt du, die Leute achten auf viele Dinge. Kennst du niemand in der Stadt mit einem schönen Haus? Ich könnte dich zu Freunden bringen, wenn du willst. Aus Freundschaft zu mir würden sie dich aufnehmen... und es wäre eine Unterkunft, die deiner würdiger wäre.»

«Glaubst du? Ich glaube nicht. Das Würdige und das Unwürdige gibt es in allen Ständen. Und ohne gegen die Liebe fehlen zu wollen, sondern um der Gerechtigkeit willen, sage ich dir, daß der Unwürdige, der böswillige Unwürdige, sich oft unter den Großen befindet. Es ist nicht nötig und nützt nichts, mächtig zu sein, um gut zu sein oder um die Sünden vor Gott verbergen zu können. Alles muß unter meinem Zeichen umgekehrt werden. Und groß wird nicht der Mächtige sein, sondern der Demütige und Heilige.»

«Doch um geachtet zu werden, um sich durchzusetzen ...»

«Wird Herodes geachtet? Wird Caesar geachtet? Nein! Sie werden verwünscht und verflucht von den Lippen und in den Herzen. Glaube mir, Judas, bei den Guten und auch bei denen, die nur guten Willens sind, werde ich mich mehr mit der Bescheidenheit als mit der Herrschsucht durchsetzen.»

«Doch dann... wirst du die Mächtigen immer verachten? Du wirst sie dir zu Feinden machen. Ich dachte schon daran, mit vielen Bekannten von dir zu sprechen, die einen Namen haben ...»

«Ich verachte niemand. Ich werde zu den Armen wie zu den Reichen gehen, zu den Sklaven wie zu den Königen, zu den Reinen wie zu den Sündern. Doch wenn ich jedem, der mir Brot und Obdach für meine Mühen gibt, wie immer auch das Dach und die Speisen sein mögen, dankbar bin,

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so werde ich doch stets dem Demütigen den Vorzug geben. Die Großen haben schon so viele Freuden. Die Armen nichts als ein redliches Gewissen, eine treue Liebe, wie die Kinder, und ich werde von den meisten von ihnen angehört. Ich werde immer den Armen, den Betrübten und den Sündern mich zuneigen. Ich danke dir für deine gute Absicht. Doch lasse mich an diesem Ort des Friedens und Gebetes allein. Geh! Gott möge dich darüber erleuchten, was gut ist!»

Jesus entläßt den Jünger und verschwindet unter den Olivenbäumen.

Die Vision ist zu Ende.

105. JESUS BEGEGNET JOHANNES DES ZEBEDÄUS IM GARTEN GETHSEMANE

Ich sehe Jesus, der sich zu einem niedrigen, weißen Haus inmitten des Ölgartens begibt. Ein Jüngling begrüßt ihn. Er scheint hier zu wohnen, denn er hat Gartenwerkzeuge in den Händen.

«Gott sei mit dir, Rabbi! Dein Jünger Johannes ist gekommen, und nun ist er wieder aufgebrochen, um dir entgegenzugehen.»

«Ist es schon lange her?»

«Nein, eben ist er jenen Pfad gegangen. Wir haben angenommen, du würdest von Bethanien her kommen.»

Jesus macht sich rasch auf den Weg, umgeht den Felsenvorsprung und erblickt Johannes, der fast im Laufschritt gegen die Stadt hinuntereilt.

Jesus ruft ihn, und der Jünger wendet sich um. Sein Gesicht erstrahlt mit dem Ausruf: «Oh, mein Meister!» Er kommt eilends zurück. Jesus streckt ihm die Arme entgegen, und die beiden umarmen sich herzlich.

«Ich kam, um dich zu suchen... Wir glaubten, du wärest in Bethanien, wie du gesagt hattest.»

«Ja, ich hatte es im Sinn. Ich muß nun aber in der Umgebung von Jerusalem mit der Verkündigung der Frohen Botschaft beginnen. Doch dann habe ich mich in der Stadt aufgehalten... um einen neuen Jünger zu unterweisen.»

«Alles, was du tust, ist wohlgetan, Meister, geht gut aus. Siehst du, auch jetzt haben wir uns sofort gefunden.»

Die beiden gehen zusammen. Jesus legt seinen Arm auf die Schulter des Johannes, der etwas kleiner ist als er und zu ihm aufschauen muß, doch selig über diese Vertraulichkeit ist. So kehren sie zum kleinen Haus zurück.

«Bist du schon länger hier?»

«Nein, Meister. Ich bin morgens mit Simon aufgebrochen, dem ich mitgeteilt habe, was du mir aufgetragen hattest. Dann haben wir uns in

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den Feldern von Bethanien aufgehalten, unter den Armen Lebensmittel verteilt und den auf den Feldern arbeitenden Bauern von dir erzählt. Als die Sonne nicht mehr so heiß war, haben wir uns getrennt. Simon ist zu einem Freund gegangen, dem er von dir erzählen will. Es ist der Eigentümer von beinahe ganz Bethanien. Sie kennen sich schon lange; schon die Väter der beiden kannten sich. Doch morgen wird Petrus hierherkommen. Er hat mir gesagt, daß er glücklich darüber ist, dir dienen zu dürfen. Simon ist sehr tüchtig. Ich möchte so sein wie er, doch ich bin nur ein ungebildeter Bursche.»

«Nein, Johannes, auch du tust viel Gutes!»

«Bist du wirklich zufrieden mit deinem armen Johannes?»

«Sehr zufrieden, mein Johannes, sehr!»

«Oh, mein Meister!» Johannes beugt sich flink, um die Hand Jesu zu küssen, und streicht sie sich dann zärtlich über die Wange.

Sie sind nun beim Häuschen angelangt und treten in die niedrige, verrauchte Küche. Der Hausherr grüßt: «Der Friede sei mit dir!»

Jesus antwortet: «Friede sei mit diesem Hause, mit dir und mit allen, die darin wohnen! Ich habe hier einen Jünger dabei.»

«Es ist auch für ihn Brot und Öl vorhanden.»

«Ich habe getrockneten Fisch gebracht, den mir Jakobus und Petrus gegeben haben. Und in Nazareth hat mir deine Mutter Brot und Honig für dich mitgegeben. Ich bin gelaufen, ohne je zu rasten, doch nun wird das Brot hart sein.»

«Das macht nichts, Johannes. Es hat immer den Duft der Hände meiner Mutter.»

Johannes entnimmt seinem Reisesack, den er aus einer Ecke holt, die Schätze. Ich sehe, wie der getrocknete Fisch auf eine eigenartige Weise zubereitet wird. Man legt ihn für einige Minuten in heißes Wasser, darauf ölt und röstet man ihn über der Flamme.

Jesus segnet die Speisen und setzt sich mit dem Jünger an den Tisch. Auch der Herr des Hauses, den Jesus Jonas nennt, und dessen Sohn setzen sich. Die Mutter kommt und geht und trägt Fisch, schwarze Oliven und gesottenes, mit Öl zubereitetes Gemüse auf. Jesus bietet auch Honig an. Er bietet ihn der Mutter auf einem Stück Brot an. «Er ist von meinem Bienenstock; meine Mutter pflegt die Bienen. Iß, er ist gut! Du, Maria, bist auch sehr gut zu mir und verdienst den Honig und noch mehr», sagt Jesus, denn die Frau möchte ihn nicht auf den süßen Honig verzichten lassen.

Das Nachtmahl wird unter kurzen, allgemeinen Gesprächen rasch beendet.

Nach dem Dankgebet sagt Jesus zu Johannes: «Komm, laß uns zusammen in den Ölgarten gehen! Die Nacht ist warm und hell. Es ist angenehm, noch etwas draußen zu weilen.»

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Der Hausherr sagt: «Meister, ich grüße dich. Ich bin müde, und auch mein Sohn ist müde. Wir wollen zur Ruhe gehen. Ich lasse die Türe angelehnt und die kleine Lampe auf dem Tisch brennen. Du weißt, wie du es machen mußt.»

«Geh nur, Jonas! Lösche auch die Lampe aus. Der Mond scheint so hell, daß man ohne Licht sehen kann.»

«Doch wo wird dein Jünger schlafen?»

«Bei mir. Auf meiner Lagermatte ist auch für ihn Platz. Nicht wahr, Johannes?»

Johannes ist entzückt beim Gedanken, an der Seite Jesu ruhen zu dürfen.

Sie gehen nun in den Ölgarten. Doch zuerst hat Johannes noch etwas aus der bereits in die Ecke gelegten Tasche genommen. Nach einer kurzen Wegstrecke erreichen sie eine Anhöhe, von der man ganz Jerusalem überblicken kann.

«Laß uns hier niedersitzen und miteinander reden!» sagt Jesus.

Doch Johannes setzt sich zu den Füßen Jesu in das kurze Gras, legt seine Arme auf die Knie Jesu, stützt seinen Kopf auf die Arme und blickt immer wieder zu Jesus auf. Er gleicht einem Kinde an der Seite seiner geliebtesten Person. «Es ist auch hier schön, Meister. Schau, wie groß die Stadt nachts erscheint; größer als bei Tag.»

«Das kommt vom Mondschein, der die Umrisse verwischt. Schau: es sieht so aus, als ob sich die Grenzen in der silbrigen Helle ausdehnten. Schau zur Kuppel des Tempels dort! Scheint es nicht, als schwebe sie in der Luft?»

«Es scheint, als ob die Engel sie auf ihren silbernen Flügeln tragen würden.»

Jesus seufzt.

«Warum seufzt du, Meister?»

«Weil die Engel den Tempel verlassen haben. Sein Aussehen von Reinheit und Heiligkeit ist nur der Mauer geblieben. Jene, die ihm dieses Aussehen auch in der Seele verleihen sollten - denn jeder Ort hat seine Seele, das heißt, er besitzt den Geist, zu dem er erhöht worden ist, und der Tempel hat oder sollte als Seele das Gebet und die Heiligkeit haben - sind die ersten, die sie ihm nehmen. Man kann nicht geben, was man nicht besitzt, Johannes! Und wenn dort auch sehr viele Priester und Leviten leben, so ist nicht einmal ein Zehntel davon fähig, der heiligen Stätte Leben zu verleihen. Sie bringen nur Tod. Sie übertragen ihren eigenen geistigen Tod auf das Heilige. Sie haben nur die Formeln, doch nicht deren Leben. Sie sind Leichen, die einzig durch die Verwesung, die sie aufbläst, warm bleiben.»

«Haben sie dir weh getan, Meister?» Johannes ist bekümmert.

«Nein, im Gegenteil, sie haben mich auf meine Bitte hin sprechen lassen.»

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«Du hast sie darum gebeten? Warum?»

«Weil ich den Streit nicht beginnen will. Er wird trotzdem nicht zu verhindern sein. Denn ich erwecke in manchen eine törichte, menschliche Angst und werde anderen zum Vorwurf. Doch dies steht in ihrem Buch, nicht in meinem.»

Zunächst folgt ein Schweigen; dann beginnt Johannes wieder zu sprechen: «Meister... ich kenne Annas und Kaiphas. Durch Geschäfte kam meine Familie mit ihnen in Verbindung, und als ich wegen Johannes dem Täufer in Judäa war, kam ich auch zum Tempel, und sie waren gut zum Sohn des Zebedäus. Mein Vater versorgt sie stets mit dem besten Fisch. Es ist so Brauch, weißt du. Wenn man Freunde haben und sie behalten will, muß man handeln ...»

«Ich weiß es», sagt Jesus ernst.

«Wenn du meinst, dann werde ich für dich mit dem Hohenpriester reden. Und dann... wenn du willst, ich kenne jemanden, der in Geschäftsverbindung mit seinem Vater steht. Es ist ein reicher Fischhändler. Er hat ein großes, vornehmes Haus beim Reitplatz, denn es sind wohlhabende Leute; aber sie sind sehr gut. Es wäre dort für dich bequemer und weniger mühsam. Um nach hier zu kommen, führt der Weg durch den Stadtteil Ophel, der schmutzig und immer voller Esel und böser Buben ist.»

«Nein, Johannes, ich danke dir. Ich bin gerne hier. Spürst du den Frieden? Ich sagte dies auch dem anderen Jünger, der mir den gleichen Vorschlag gemacht hat. Er hat allerdings gesagt: "Um höher eingeschätzt zu werden" *»

«Ich sagte nur, damit du weniger ermüdest.»

«Ich werde nicht müde. Ich werde viel gehen müssen und niemals müde werden. Weißt du, was mich ermüdet? Die Lieblosigkeit. Oh, sie liegt mir wie eine schwere Last auf dem Herzen.»

«Ich liebe dich, Jesus!»

«Ja, und du tröstest mich. Ich liebe dich sehr, Johannes, und werde dich immer lieben; denn du wirst mich niemals verraten.»

«Verraten? Dich? Oh!»

«Und doch gibt es viele, die mich verraten werden. Johannes, höre zu. Ich sagte dir, daß ich mich verspätet habe, weil ich einen neuen Jünger zu unterweisen hatte. Er ist ein junger Jude, gebildet und bekannt.»

«Dann wirst du mit ihm weniger Mühe haben als mit uns, Meister. Ich bin froh für dich, daß du einen hast, der fähiger ist als wir es sind.»

«Glaubst du, daß er mir weniger Mühe macht?»

«Nun, wenn er nicht so unwissend ist, wie wir es sind, dann wird er dich besser verstehen und dir besser dienen; besonders, wenn er dich mehr liebt.»

«Das hast du gut gesagt. Doch die Liebe hängt nicht von der Erziehung und von der Bildung ab. Ein jungfräuliches Herz liebt mit der ganzen

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Kraft seiner ersten Liebe. Das gilt auch für die Jungfräulichkeit im Denken. Der Geliebte prägt sich tiefer in ein jungfräuliches Herz und in einen jungfräulichen Geist ein als dort, wo schon andere Liebesbeziehungen vorhanden sind. Doch wenn Gott will... Höre, Johannes: ich bitte dich, ihm Freund zu sein. Mein Herz erzittert beim Gedanken, dich "ungeschorenes Lamm" neben einen Kenner des Lebens zu stellen. Auch wenn er sich beherrscht, da er weiß, daß du das Lamm, aber auch ein Adler bist, so wird dieser Erfahrene sicher versuchen, dich dazu zu verleiten, den Boden zu berühren, der immer voller Unrat ist. Du aber, mit deinem gesunden Menschenverstand, du wirst dich mit einem Flügelschlag frei machen und nur dem Blau des Himmels und der Sonne zustreben. Ich bitte dich darum, werde - indem du so bleibst, wie du bist - der Freund des neuen Jüngers, der von Simon Petrus und auch von den anderen nicht sehr geliebt werden wird, und flöße ihm deine Seele ein!»

«Oh, Meister, genügst du nicht dafür?»

«Ich bin der Meister, dem man nicht alles sagt. Du bist der Mitjünger, etwas jünger, dem man sich leichter anvertraut. Ich wünsche nicht, daß du mir sagst, was er dir anvertrauen wird. Ich hasse die Spione und die Verräter. Doch bitte ich dich, ihn durch deinen Glauben zu bekehren und mit deiner Liebe und deiner Reinheit zu überzeugen, Johannes! Er ist ein von toten Wassern verseuchtes Land. Es muß von der Sonne der Liebe getrocknet, mit der Redlichkeit der Gedanken, Wünsche und Werke gereinigt und dann mit dem Glauben bepflanzt werden. Du kannst dies tun.»

«Wenn du glaubst, daß ich es kann... oh! ... ja! Wenn du sagst, daß ich es kann, werde ich es tun. Aus Liebe zu dir!»

«Danke, Johannes!»

«Meister, du hast von Simon Petrus gesprochen. Nun erinnere ich mich an etwas, was ich dir gleich am Anfang sagen wollte. Die Freude, deine Stimme zu hören, hat mich dann von dem Gedanken weggebracht. Als wir nach dem Pfingstfest nach Kapharnaum zurückgekehrt sind, haben wir sofort die übliche Summe des Unbekannten vorgefunden. Der Knabe hatte das Geld meiner Mutter gebracht. Ich habe es dann Petrus gegeben; er hat es mir wieder zurückgegeben und sagte, daß ich ein wenig davon für die Rückkehr und den Aufenthalt in Doko verwenden und den Rest dir geben solle, da du ihn brauchen könntest... weil auch Petrus dachte, daß es hier nötig sei... doch du sagst nein... Ich habe nur zwei Denare davon ausgegeben an zwei Arme bei Ephraim. Für mich habe ich nur das verwendet, was meine Mutter und einige gute Menschen, denen ich deinen Namen verkündet habe, mir gegeben haben. Hier ist der Beutel.»

«Wir wollen es morgen unter die Armen verteilen. So wird auch Judas unsere Gebräuche kennenlernen.»

«Ist dein Vetter gekommen? Wie konnte er so rasch hier sein? Als ich in Nazareth war, sagte er mir nicht, daß er weggehen werde.»

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«Nein, Judas ist der neue Jünger. Er ist aus Kerioth. Doch du hast ihn an Ostern gesehen, am Abend, als Simon geheilt wurde. Er war mit Thomas zusammen.»

«Oh, der ist es!» Johannes ist ein wenig verblüfft.

«Er ist es... Und was macht Thomas?»

«Er hat deinem Wunsch entsprochen, hat Simon, den Kananäer verlassen und hat den Weg zum Meere eingeschlagen, Philippus und Bartholomäus entgegen.»

«Ja, ich will, daß ihr euch ohne Bevorzugung liebt, euch gegenseitig helft und ertragt. Niemand ist vollkommen, Johannes. Weder die Jungen noch die Alten. Doch wenn ihr guten Willens seid, gelangt ihr zur Vollkommenheit, und was dann in euch noch fehlt, will ich ergänzen. Ihr seid wie Söhne einer heiligen Familie. Unter ihnen gibt es viele ungleiche Charaktere. Der eine ist stark, der andere sanft, wieder andere mutig, scheu, impulsiv oder sehr zurückhaltend. Wärt ihr alle gleich, wärt ihr eine starke Kraft in einem Charakter mit den Mängeln aller. So aber bildet ihr eine vollkommene Gemeinschaft, weil ihr euch gegenseitig ergänzt. Die Liebe vereinigt euch, sie muß euch verbinden, die Liebe zur Sache Gottes!»

«Und um deinetwillen, Jesus.»

«Zuerst die Sache Gottes und dann die Liebe zu seinem Christus!»

«Ich? Wer bin ich in unserer Familie?»

«Du sollst der liebevolle Friede des Gesalbten Gottes sein. Bist du müde, Johannes? Willst du umkehren? Ich bleibe noch, um zu beten.»

«So bleibe auch ich, um mit dir zu beten. Laß mich hier bleiben und mit dir beten.»

«So bleibe!»

Jesus betet Psalmen, und Johannes betet mit. Doch seine Stimme erlischt bald, und der Apostel schläft ein, das Haupt auf dem Schoße Jesu. Jesus lächelt und legt seinen Mantel über die Schultern des Schlafenden, um dann im betrachtenden Gebet fortzufahren.

So endet die Vision.

106. «JOHANNES, DER STAMMVATER ALLER,

DIE SICH ALS HOSTIEN HINGEBEN AUS LIEBE ZU MIR»

Jesus sagt dann:

«Noch ein Vergleich zwischen meinem Johannes und einem anderen Jünger. Ein Vergleich, aus dem die Gestalt meines Lieblingsjüngers immer klarer hervorgeht. Er entäußert sich sogar seiner Art und Weise zu denken und zu urteilen, um "der Jünger" zu sein. Er gibt sich hin ohne Vorbehalt und ohne irgendeinen Rückbehalt nicht einmal ein Molekül,

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aus der Zeit vor seiner Erwählung. Judas will sich nicht selbst entäußern. Seine Hingabe ist unwirklich. Er trägt in sich sein vom Hochmut, von der Sinnlichkeit und Begehrlichkeit krankes Ich. Er ändert seine Denkart nicht. Er neutralisiert die Wirkung der Hingabe und der Gnade.

Judas ist der Vorläufer aller verfehlten Apostel. Und es sind ihrer viele! Johannes ist das Vorbild aller, die aus Liebe zu mir Hostie werden: dein Vorbild! (Die Ausführungen sind an die Seherin gerichtet.)

Ich und meine Mutter sind die erhabensten Opferhostien. Uns erreichen ist schwer, ja unmöglich, denn unser Opfer bestand in einer totalen Bitternis. Doch mein Johannes! Er ist die Hostie, die von allen Arten der mich Liebenden nachgeahmt werden kann: Jungfrauen, Märtyrer, Bekenner, Verkünder des Evangeliums, Diener Gottes und der Gottesmutter, Aktiver und Kontemplativer; er ist das Beispiel für alle! Er ist der mich Liebende!

Beachte die unterschiedliche Art des Überlegens. Judas fragt, verhandelt, versteift sich, und auch wenn er anscheinend nachgibt, behält er doch seine Mentalität. Johannes fühlt sich ein Nichts, nimmt alles an, fragt nicht nach dem Warum und ist nur darauf bedacht, mich glücklich zu machen. Darin ist er beispielhaft.

Hast du nicht gespürt, wie es dir angesichts seiner einfachen und treuen Liebe ganz friedvoll ums Herz wurde? Oh, mein Johannes! Ich wünsche, daß mein kleiner Johannes immer mehr meinem Lieblingsjünger gleicht.

Nimm alles an und sage stets wie der Apostel: "Alles, was du tust, ist gut getan, Meister!", um so dieser meiner Worte würdig zu werden: "Du bist mein geliebter Friede." Auch ich habe Trost nötig, Maria. Gib ihn mir! Mein Herz ist deine Ruhestatt!»

107. JESUS UND JUDAS ISKARIOT BEGEGNEN SIMON DEM ZELOTEN UND JOHANNES

Ich sehe Jesus mit Judas in der Nähe eines Tores der Tempelmauern auf und ab gehen.

«Bist du sicher, daß er kommen wird?» fragt Judas.

«Ich bin dessen sicher. Er verließ beim Morgengrauen Bethanien und müßte hierauf mit meinem ersten Jünger in Gethsemane zusammengetroffen sein.»

Ein Augenblick des Schweigens, dann bleibt Jesus stehen und schaut Judas, der vor ihm steht, forschend an. Er legt ihm eine Hand auf die Schulter und fragt: «Warum sagst du mir nicht, was du denkst, Judas?»

«Welche Gedanken? Ich habe keine besonderen Gedanken in diesem Augenblick, Meister. Fragen stelle ich dir doch genug. Du kannst dich nicht darüber beklagen, daß ich redefaul bin.»

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«Du stellst mir viele Fragen und erzählst mir viele Dinge über die Stadt und ihre Bewohner; doch eröffnest du mir nicht dein Herz. Was glaubst du, welche Bedeutung für mich die Nachrichten über die Verwaltung oder die Besonderheiten dieser oder jener Familie haben? Ich bin kein Müßiggänger, der hierhergekommen ist, um sich die Zeit zu vertreiben. Du weißt, wozu ich gekommen bin. Und du kannst wohl verstehen, daß es mir in erster Linie darauf ankommt, der Meister meiner Jünger zu sein. Deshalb verlange ich von ihnen Aufrichtigkeit und Vertrauen. Hat dich dein Vater geliebt, Judas?»

«Er hat mich sehr geliebt. Ich war sein Stolz. Wenn ich von der Schule heimkehrte und auch später, als ich von Jerusalem nach Kerioth zurückkehrte, verlangte er, daß ich ihm alles sage. Er interessierte sich für alles, was ich tat; wenn es etwas Erfreuliches war, freute er sich; wenn die Dinge weniger gut liefen, tröstete er mich; und wenn ich manchmal - wir machen ja alle Fehler - etwas falsch gemacht hatte und deswegen gescholten wurde, dann zeigte er mir, wie sehr der Tadel gerechtfertigt war, oder führte mir mein begangenes Unrecht vor Augen. Doch er tat dies in so gütiger Weise wie ein älterer Bruder. Er schloß stets mit den Worten: "Ich sage dir dies, weil ich will, daß mein Judas ein Gerechter sei. Ich will, daß ich gesegnet sei in meinem Sohne..." Mein Vater...»

Jesus, der immer aufmerksam den Jünger betrachtet hat, ist ehrlich gerührt vom Bericht über den Vater und sagt: «Ja, Judas, sei überzeugt von dem, was ich dir sage: nichts kann deinen Vater glücklicher machen, als wenn du mein getreuer Jünger bist. Die Seele deines Vaters wird dort, wo sie auf das ewige Licht wartet, frohlocken, wenn sie sieht, daß du mein Jünger bist; denn wenn er dich so erzogen hat, dann ist er ein Gerechter gewesen. Doch um mein Jünger zu sein, mußt du dir sagen: "Ich habe meinen verlorenen Vater wieder gefunden, der mir wie ein älterer Bruder war; ich habe ihn wiedergefunden in meinem Jesus und ich werde ihm wie dem betrauerten Vater alles sagen, um Führung, Segen und gütigen Tadel zu erhalten." Gebe es der ewige Gott, und mögest du, vor allem du, dafür sorgen, daß Jesus von dir sagen kann: "Du bist gut. Ich segne dich."»

«O ja, Jesus. Ja! Wenn du mich so sehr liebst, werde ich gut werden, so wie du es willst und wie mein Vater es gewollt hat. Und meine Mutter wird diesen Dorn nicht mehr im Herzen spüren. Sie sagte immer: "Du hast keine Führung mehr, Sohn, und hättest sie doch so nötig!" Oh! Wenn sie nun erfährt, daß ich dich liebe.»

«Ich werde dich lieben, wie kein anderer Mensch es könnte. Ich werde dich sehr, sehr lieben, ich liebe dich überaus; enttäusche mich nicht!»

«Nein, Meister, nein! Ich war voller Widersprüche, Neid, Eifersucht, Herrschsucht, Sinnlichkeit, alles in mir wehrte sich gegen die guten Stimmen. Noch vor kurzem, siehst du? Da hast du mich gekränkt, oder besser, nicht du, sondern mein schlechter Charakter... Ich glaubte, dein

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erster Jünger zu sein... und du hast mir gesagt, daß du schon einen anderen hast.»

«Du selbst hast ihn gesehen. Erinnerst du dich nicht, daß ich an Ostern mit vielen Galiläern im Tempel war?»

«Ich glaubte, es seien Freunde... Ich nahm an, ich sei der erste Erwählte und daher der Bevorzugte.»

«In meinem Herzen gibt es keinen Unterschied zwischen den Ersten und den Letzten. Wenn der Erste schuldig würde, und der Letzte ein Heiliger wäre, dann gäbe es in den Augen Gottes einen Unterschied. Doch ich, ich werde sie trotzdem lieben: mit seliger Liebe den Heiligen, mit schmerzhafter Liebe den Sünder. Doch da kommt Johannes mit Simon. Johannes ist mein Erster; von Simon sprach ich vor zwei Tagen. Simon und Johannes hast du schon gesehen. Der eine war krank.»

«Ach so, der Aussätzige. Ich erinnere mich. Ist er schon Jünger?»

«Seit dem darauffolgenden Tag!»

«Und warum habe ich eine so lange Wartezeit?»

«Judas?!»

«Es ist wahr, Verzeihung!»

Johannes hat den Meister gesehen und macht Simon darauf aufmerksam. Sie beschleunigen den Schritt. Der Gruß des Johannes ist ein Kuß, den Jesus erwidert. Simon aber wirft sich zu Boden und küßt Jesus die Füße und ruft aus: «Ehre meinem Erlöser! Segne deinen Diener, damit seine Werke heilig in den Augen Gottes seien, und ich ihn mit meiner Verherrlichung lobpreise, weil er dich mir geschenkt hat.»

Jesus legt Simon die Hand aufs Haupt: «Ja, ich segne dich, um dir für deine Arbeit zu danken. Steh auf, Simon! Das ist Johannes, das Simon: er ist mein neuer Jünger. Auch er will der Wahrheit nachfolgen. So wird er euch allen Bruder sein.»

Sie begrüßen sich gegenseitig: die beiden aus Judäa mit Zurückhaltung, Johannes mit Begeisterung und Wärme.

«Bist du müde, Simon?» fragt Jesus.

«Nein. Meister. Mit der Gesundheit hast du mir auch eine Lebenskraft geschenkt, die ich bis dahin nicht gekannt habe.»

«Ich weiß, daß du sie gut verwendest. Ich habe mit vielen gesprochen, und alle haben mir bestätigt, daß du sie schon über den Messias unterrichtet hast.»

Simon lacht zufrieden: «Auch gestern habe ich mit einem über dich gesprochen, der ein ehrenhafter Israelit ist. Ich hoffe, daß du ihn eines Tages kennenlernst. Ich möchte dich zu ihm führen.»

«Das ist nicht unmöglich.»

Judas unterbricht sie: «Meister, du hast versprochen, mit mir nach Judäa zu kommen.»

«Das ist wahr. Simon wird fortfahren, die Menschen auf mein Kommen

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vorzubereiten. Die Zeit ist kurz, Freunde, und das Volk ist zahlreich. Jetzt gehe ich mit Simon. Gegen Abend könnt ihr beide mir auf dem Weg zum Ölberg entgegenkommen; wir wollen an die Armen Almosen verteilen. Geht nun!»

Jesus, nun mit Simon allein, stellt die Frage: «Der Mann in Bethanien ist also ein wahrer Israelit?»

«Ein wahrer Israelit. Er hat wohl alle vorherrschenden Ansichten, doch er hat auch eine wahre Sehnsucht nach dem Messias. Als ich zu ihm sagte:

"Er ist unter uns da hat er sofort geantwortet: "Ich bin glücklich, in

dieser Zeit zu leben!"»

«Wir werden eines Tages zu ihm gehen und seinem Haus Segen bringen. Hast du den neuen Jünger gesehen?»

«Ich habe ihn gesehen. Er ist jung und anscheinend intelligent.»

«Ja, er ist es. Du, der du auch aus Judäa stammst, wirst seinen Ideen mit mehr Verständnis begegnen als die anderen.»

«Ist dies ein Wunsch oder ein Befehl?»

«Es ist ein liebevoller Befehl. Du, der du gelitten hast, kannst mehr Nachsicht haben. Das Leid ist Lehrer in vielen Dingen.»

«Wenn du es mir gebietest, werde ich für ihn ganz Nachsicht sein.»

«Ja, so ist es recht. Vielleicht wird sich mein Petrus, und nicht nur er allein, daran stoßen, wie ich mich dieses Jüngers annehme. Doch eines Tages werden sie verstehen... Je schlimmer jemand veranlagt ist, um so mehr braucht er Verständnis. Die anderen, oh, die anderen schleifen sich gegenseitig ab. Ich will nicht alles allein tun. Ich verlange den Willen des Menschen und die Mithilfe der anderen, um einen Menschen zu erziehen. Ich rufe euch auf, mir zu helfen, und ich bin euch für eure Hilfe dankbar.»

«Meister, vermutest du, daß du von ihm enttäuscht werden wirst?»

«Nein. Aber er ist jung und in Jerusalem aufgewachsen.»

«Oh, in deiner Nähe wird er alle Untugenden dieser Stadt ablegen, dessen bin ich sicher. Ich, schon alt und durch Verbitterung verhärtet, bin unter deinen Augen ein neuer Mensch geworden.»

Jesus murmelt: «So sei es.»

Dann sagt er laut: «Komm mit mir in den Tempel! Ich will das Volk unterweisen.»

Die Vision ist zu Ende.

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108. JESUS, JOHANNES, SIMON UND JUDAS GEHEN NACH BETHLEHEM

Schon am frühen Morgen sehe ich Jesus vor dem Tempeltore, wo er wie immer mit den Jüngern Simon und Judas zusammentrifft. Mit Jesus ist Johannes. Ich höre, daß er sagt: «Freunde, ich bitte euch, mit mir durch Judäa zu gehen; wenn es euch nicht zu schwer fällt, besonders dir, Simon.»

«Warum, Meister?»

«Der Weg in den Bergen von Judäa ist hart, und noch härter dürfte es dir fallen, gewissen Menschen zu begegnen, die dir weh getan haben.»

«Was den Weg betrifft, kann ich dich beruhigen; denn seit du mich geheilt hast, bin ich kräftiger als ein Junger, und keine Mühe ist mir zuviel, besonders wenn sie für dich ist und ich sie mit dir auf mich nehme. Was die Begegnung mit Leuten betrifft, die mir geschadet haben, gibt es im Herzen Simons, seit es dir gehört, keinen Groll mehr; es ist sogar frei von jeder Bitterkeit über den erlittenen Schmerz. Der Haß ist abgefallen mit den Schuppen der Krankheit, und ich weiß nicht, glaube mir, welches das größere Wunder ist, das du an mir vollbracht hast: mein verwestes Fleisch zu heilen oder mein von Rachsucht entbranntes Herz. Ich meine nicht zu irren in der Annahme, daß das größere Wunder das letztere war. Eine geistige Wunde heilt immer schwerer, und du hast sie sofort geheilt. Wahrlich, das ist ein Wunder! Denn ein Mensch mit schlechten Angewohnheiten kann nicht plötzlich geheilt werden, wenn nicht du diese Angewohnheiten mit deinem heiligenden Willen zunichte machst.»

«Du urteilst richtig!»

«Warum handelst du nicht mit allen so?» fragt Judas etwas beleidigt.

«Aber er tut es doch, Judas. Warum sprichst du so mit dem Meister? Fühlst du dich in seiner Nähe nicht wie umgewandelt? Ich war schon ein Jünger des Johannes des Täufers. Doch ganz umgewandelt wurde ich erst, als Jesus zu mir sagte: "Komm!"» Johannes, der sich gewöhnlich nicht ins Gespräch einmischt, kann diesmal nicht schweigen. Sanft und liebevoll hat er eine Hand auf den Arm des Judas gelegt, wie um ihn zu beruhigen, und spricht zu ihm ruhig und überzeugend. Dann kommt ihm zum Bewußtsein, daß er mit seiner Rede Jesus zuvorgekommen ist; er wird rot und sagt: «Verzeihe, Meister! Ich habe an deiner Statt gesprochen... denn ich wollte... ich wollte, daß Judas dich nicht betrübe.»

«Ja, Johannes. Aber er hat mich nicht als Jünger betrübt. Dies wird erst geschehen, wenn er in seiner Art zu denken verharrt. Es betrübt mich nur, wenn ich feststellen muß, daß Satan den Menschen verdirbt und seinen Geist irreführt. Alle, wißt ihr? Alle habt ihr den Geist verwirrt durch ihn. Doch der Tag wird kommen, ja er wird kommen, an dem ihr in euch die Kraft Gottes, seine Gnade spürt: ihr werdet die Weisheit mit seinem Geiste empfangen. Dann seid ihr imstande, gerecht zu urteilen.»

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«Und werden wir alle richtig urteilen?»

«Nein, Judas!»

«Aber sprichst du von uns Jüngern oder von allen Menschen?»

«Zunächst meine ich euch, dann all die anderen. Wenn die Zeit gekommen ist, wird der Meister seine Arbeiter einsetzen und sie in die Welt senden.»

«Tust du dies nicht schon jetzt?»

«Für den Moment benütze ich euch nur, um zu sagen: "Der Messias ist da. Kommt zu ihm!" Später werde ich euch dazu fähig machen, in meinem Namen zu predigen und in meinem Namen Wunder zu wirken ...»

«Oh, auch Wunder?»

«Ja, am Leib und an der Seele.»

«Oh, wie wird man uns dann bewundern!» Judas wiegt sich schon in dieser Vorstellung.

«Wir werden dann nicht mehr mit dem Meister zusammen sein, und... ich werde immer Angst haben, als Mensch das zu tun, was Gottes ist», sagt Johannes und betrachtet Jesus gedankenvoll und auch ein wenig traurig.

«Johannes, wenn der Meister es erlaubt, möchte ich dir meine Gedanken verraten», sagt Simon.

«Sprich zu Johannes! Ich wünsche, daß ihr euch gegenseitig beratet.»

«Weißt du schon, daß es ein Rat ist?»

Jesus lächelt und schweigt.

«So werde ich es dir sagen, Johannes. Du darfst nicht, wir dürfen keine Angst haben. Wir werden uns auf die Weisheit des heiligen Meisters stützen und auf sein Versprechen. Wenn er sagt: "Ich sende euch", dann ist dies ein Zeichen dafür, daß er weiß, daß er uns senden kann, ohne daß wir ihm oder uns schaden oder der Sache Gottes, die uns allen teuer wie eine Braut sein muß. Wenn er uns verspricht, unsere geistige Armseligkeit zu bekleiden mit dem Glanz der Macht, die der Vater ihm für uns gibt, dürfen wir sicher sein, daß er es tun wird und daß wir die Fähigkeiten erlangen werden, nicht aus uns, sondern durch seine Barmherzigkeit. Sicher wird dies alles nur geschehen, wenn wir den Hochmut und die menschlichen Wünsche in unserem Handeln ausschalten. Ich denke, daß, wenn wir unsere Aufgabe, die geistiger Natur ist, mit weltlichen Belangen vermischen, die Verheißung Christi nicht in Erfüllung gehen wird. Nicht weil er unfähig ist, sondern weil wir sein Wirken erdrosseln mit der Schlinge des Hochmuts. Ich weiß nicht, ob ich mich gut ausgedrückt habe.»

«Du hast dich sehr gut ausgedrückt. Ich hatte unrecht. Aber weißt du, ich glaube, daß im Grunde der Wunsch, als Jünger des Messias bewundert zu werden - als Jünger, die ihm in solch hohem Maße angehören, daß sie gewürdigt werden zu vollbringen, was er vollbringt - im Verlangen besteht, die machtvolle Gestalt des Gesalbten bei den Menschen noch

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machtvoller werden zu lassen. "Lob sei dem Meister, der solche Jünger hat" möchte ich damit sagen», antwortet Judas.

«Es ist nicht alles falsch, was du sagst. Doch sieh, Judas, ich komme von einer Kaste, die verfolgt wird, weil sie schlecht verstanden hat, was und wie der Messias sein soll. Ja, wenn wir ihn ersehnt hätten, wie er seinem Wesen nach tatsächlich ist, wären wir nicht Irrtümern verfallen, die ein Schlag gegen die Wahrheit und eine Auflehnung gegen das Gesetz Roms bedeuten, wofür wir sowohl von Gott als auch von Rom bestraft werden. Wir wollten in Christus einen Eroberer und einen Befreier Israels sehen, einen neuen Makkabäer, größer noch als der große Judas. Und warum? Weil wir unsere Interessen, das Vaterland und seine Bevölkerung, über die Interessen Gottes gestellt haben. Oh, auch die Interessen des Vaterlands sind heilig; doch was sind sie im Vergleich zum ewigen Himmel?

Als ich in den langen Stunden der Verfolgung und dann in der Abgesondertheit litt; als ich geflohen war und mich in den Höhlen der wilden Tiere verbarg und mit ihnen Nahrung und Lager teilte, um der römischen Gewalt und vor allem der Angeberei falscher Freunde zu entgehen; als ich den Tod erwartend schon den Geruch des Grabes in meiner Höhle der Aussätzigen um mich spürte, wieviel habe ich da nachgedacht und gesehen. Ich habe die wahre Gestalt des Messias gesehen: deine, Meister; demütig und gut; deine, Meister und König des Geistes; deine, o Christus, Sohn des Vaters, der uns zum Vater führt und nicht in die Paläste aus Staub, nicht zu Göttern des Schlammes... Du... oh, es fällt mir leicht, dir nachzufolgen, weil - verzeih meine Kühnheit, die sich gerecht nennt -weil ich dich sehe, wie ich dich gedacht habe; ich erkenne dich wieder, sofort habe ich dich wiedererkannt. Es ist nicht ein "Dich-Erkennen", sondern ein "Wiedererkennen" des Einen, den die Seele bereits kannte...»

«Deswegen habe ich dich berufen... und deshalb nehme ich dich mit auf diese meine erste Reise durch Judäa. Ich will, daß du mich vollends wiedererkennst... und ich will, daß auch diejenigen, welche noch nicht das Alter haben, um durch ernsthafte Betrachtung zur Wahrheit zu gelangen, erfahren, wie sich die Ankunft ihres Meisters in seiner Zeit vollzogen hat. Alsdann werdet ihr verstehen. Wir sind schon am Davidsturm. Das Osttor ist nahe.»

«Gehen wir dort hinaus?»

«Ja, Judas. Wir werden zuerst nach Bethlehem gehen, dorthin, wo ich geboren wurde. Es ist gut, daß ihr den Ort kennenlernt... damit ihr den anderen davon sprechen könnt. Auch das gehört zur Kenntnis des Messias und der Schrift. Ihr werdet die Prophezeiungen nicht als solche, sondern schon in geschichtlichen Ereignissen wiederfinden. Laßt uns den Häusern des Herodes entlang gehen!»

«Der alte, lasterhafte Wolf!»

«Richtet nicht! Gott richtet. Laßt uns diesen Gartenweg einschlagen.

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Unter dem Schatten eines Baumes bei einem gastlichen Hause wollen wir dann ausruhen, solange die Sonne glüht. Dann werden wir weiterziehen.»

Die Vision ist zu Ende.

109. JESUS IN BETHLEHEM IM HAUSE DES LANDWIRTS UND IN DER GROTTE

Eine Straße in der Ebene, steinig, staubig und von der Sommersonne ganz ausgetrocknet, unter mächtigen Ölbäumen, die schon winzige Oliven aufweisen. Am Boden, dort wo er nicht betreten wird, liegt eine kleine Schicht winziger Olivenblütchen, die nach der Befruchtung abgefallen sind.

Jesus und die drei Jünger gehen hintereinander auf dem schmalen Streifen, der im Schatten der Ölbäume sein Grün bewahrt hat und daher auch nicht so staubig ist.

Die Straße macht eine rechtwinklige Biegung und führt leicht ansteigend zu einer Mulde in der Form eines Hufeisens. Größere und kleinere Häuser bilden hier eine kleine Ortschaft. Gerade an der Straßenbiegung steht ein würfelförmiges Gebäude, das von einer niedrigen Kuppel überhöht ist. Es ist verschlossen und sieht verlassen aus.

«Hier ist das Grabmal Rachels», sagt Simon.

«So sind wir also angekommen. Gehen wir sofort in die Stadt hinein?»

«Nein, Judas. Zuerst werde ich euch einen Ort zeigen, dann gehen wir in die Stadt, und da es noch hell am Tag ist und die Nacht sternenklar sein wird, können wir zur Bevölkerung sprechen, wenn sie uns zuhören will.»

«Warum sollte sie nicht?»

Sie sind am Grabmahl. Es ist uralt, aber gut erhalten und schön weiß gekalkt.

Jesus bleibt stehen, um an einem ländlichen Brunnen in der Nähe zu trinken. Eine Frau, die zum Wasserholen gekommen ist, bietet ihm Wasser an.

Jesus fragt: «Bist du von Bethlehem?»

«Jawohl. Doch jetzt, zur Zeit der Ernte, bin ich mit meinem Manne hier auf den Feldern, um die Äcker und den Obstgarten zu besorgen. Bist du ein Galiläer?»

«Ich bin in Bethlehem geboren, doch lebe ich in Nazareth in Galiläa.»

«Wurdest du auch verfolgt?»

«Meine Familie; doch warum sagst du: du auch? Gibt es unter den Bethlehemiten viele Verfolgte?»

«Weißt du dies denn nicht? Wie alt bist du?»

«Dreißig Jahre.»

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«Dann wurdest du also gerade damals geboren... oh, was für ein Unglück! Aber warum mußte er hier geboren werden?»

«Wer?»

«Man sagte von ihm, er sei der Erlöser. Verflucht seien die Dummköpfe, die vom Alkohol betrunken in den Wolken Engel sahen, im Geblöke und im Muhen Himmelsstimmen hörten und dann noch im Nebel der Betrunkenheit drei Landstreicher mit den Heiligsten der Erde verwechselten. Verflucht sie und alle, die ihnen glaubten!»

«Doch mit all deinen Verwünschungen erklärst du mir nicht, was sich damals zugetragen hat. Warum all die Verfluchung?»

«Warum? ... Höre, wohin willst du gehen?»

«Nach Bethlehem, mit meinen Freunden hier. Ich habe dort zu tun. Ich muß alte Freunde begrüßen und ihnen den Gruß meiner Mutter bringen. Doch zuvor möchte ich vieles erfahren, denn meine Familie ist schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Wir verließen die Stadt, als ich erst einige Monate alt war.»

«Vor dem Unglück also. Höre, wenn du dich nicht ekelst vor dem Hause eines Bauern, dann komm und teile mit uns Brot und Salz. Auch deine Gefährten sollen kommen. Dann können wir während des Nachtmahls sprechen, und ich gebe euch bis morgen Unterkunft. Mein Haus ist klein, doch über dem Stall ist viel Heu angehäuft. Die Nacht ist warm und hell. Wenn du meinst, kannst du dort schlafen.»

«Der Herr Israels vergelte dir deine Gastfreundschaft. Mit Freuden komme ich in dein Haus.»

«Der Pilger bringt Segen. Laßt uns gehen. Ich muß aber zuvor noch sechs Krüge auf frisch gepflanztes Gemüse gießen.»

«Ich werde dir dabei helfen.»

«Nein, du bist ein Herr. Dein Benehmen verrät es mir.»

«Ich bin ein Handwerker, Frau. Dieser hier ist ein Fischer. Nur die beiden Juden sind von Rang und Vermögen. Nicht ich.» Er nimmt vom niedrigen Brunnenmäuerchen einen Krug und läßt ihn in den Brunnen hinunter. Johannes hilft ihm dabei. Auch die anderen wollen etwas mittun. Sie fragen die Frau: «Wo ist der Garten! Zeige ihn uns, wir bringen dir das Wasser.»

«Gott möge euch dafür segnen. Die Nieren schmerzen mich vor Müdigkeit. Kommt...»

Und während Jesus seinen Krug hochzieht, verschwinden die drei auf einem kleinen Pfad und kommen dann mit zwei leeren Krügen zurück, füllen diese und gehen wieder weg. Dies tun sie nicht nur dreimal, sondern mindestens zehnmal. Judas sagt lachend: «Sie kann uns nicht genug segnen für unsere Hilfe. Wir wollen soviel Wasser auf den Salat gießen, daß die Erde wenigstens zwei Tage feucht bleibt und die Frau nicht noch mehr Nierenschmerzen bekommt.» Wie er zum letztenmal zurückkehrt, sagt er: «Meister, ich glaube, wir haben es schlecht getroffen.»

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«Wieso, Judas?»

«Weil sie etwas gegen den Messias hat. Ich habe gesagt: "Nicht fluchen! Weißt du nicht, daß der Messias die größte Gnade für das Volk Israel ist? Jahwe hatte ihn Jakob verheißen und seitdem allen Propheten und Gerechten Israels. Und du haßt ihn?" Darauf hat sie geantwortet: "Nicht ihn, sondern jenen, der von den betrunkenen Hirten und den elenden Wahrsagern aus dem Orient Messias genannt wurde." Und da du es bist ...»

«Schon gut! Ich weiß, daß ich gesetzt bin zum Widerspruch vieler. Hast du ihr gesagt, wer ich bin?»

«Nein, ich bin doch nicht dumm. Ich will deine und unsere Schultern schonen.»

«Du hast gut getan. Nicht wegen der Schultern, sondern weil ich mich zu erkennen geben möchte, wann ich es für richtig halte. Laß uns gehen!»

Judas geht voraus bis zum Garten. Die Frau leert die letzten drei Krüge und bringt die Männer zu einem einfachen Haus inmitten des Obstgartens.

«Geht hinein, mein Mann ist schon zu Hause.»

Sie betreten eine niedrige, verrauchte Küche. «Der Friede sei mit diesem Hause!», grüßt Jesus.

«Wer du auch sein magst, der Segen Gottes komme auf dich und die Deinen. Tritt ein!» antwortet der Mann und bringt vorerst ein Gefäß mit Wasser, damit die vier Männer sich erfrischen und reinigen können. Dann treten sie alle ein und nehmen an einem grob gezimmerten Tisch Platz.

«Ich danke euch im Namen meiner Frau. Sie hat mir berichtet. Ich bin noch nie Galiläern begegnet; man hat mir gesagt, daß sie grob und ungebildet seien. Doch ihr seid gut und höflich gewesen. Obwohl müde, habt ihr noch viel gearbeitet. Kommt ihr von weit her?»

«Wir kommen von Jerusalem. Diese hier sind Juden. Ich und der andere sind von Galiläa. Doch glaube mir, Mann, Gute und Böse gibt es überall.»

«Das stimmt! So treffe ich schon bei der ersten Begegnung mit einem Galiläer auf einen Guten. Frau, bring das Essen! Ich habe nur Brot, Gemüse, Oliven und Käse. Ich bin ein Bauer.»

«Auch ich bin kein Herr, sondern ein Zimmermann.»

«Du, mit solch vornehmem Wesen?»

Die Frau mischt sich ein: «Der Gast ist aus Bethlehem, ich habe es dir gesagt. Und wenn die Seinen verfolgt wurden, dann vielleicht, weil sie reich und gelehrt waren, wie es Josua von Ur, Matthias des Isaak und Levi des Abraham waren... arme Unglückliche!»

«Du bist nicht gefragt worden. Verzeiht ihr. Die Weiber sind geschwätziger als die Spatzen am Abend.»

«Waren diese Familien aus Bethlehem?»

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«Wie, du kennst sie nicht, der du von Bethlehem bist?»

«Wir mußten flüchten, als ich wenige Monate alt war'»

Die Frau, die wirklich geschwätzig zu sein scheint, fängt nun wieder an: «Er ist vor dem großen Morden weggegangen.»

«Das sieht man, sonst wäre er nicht mehr auf der Welt. Bist du denn nachher nicht mehr zurückgekehrt?»

«Nein.»

«Welch großes Unglück! Nur noch wenige wirst du antreffen und grüßen können. Viele wurden getötet, viele konnten fliehen, und viele sind noch vermißt. Man hat nie erfahren, ob sie in der Wüste umgekommen oder im Gefängnis umgebracht worden sind zur Strafe für ihre Auflehnung. Aber war das überhaupt ein Aufstand? Wer hätte ruhig zusehen können, wie so viele Unschuldige niedergemetzelt wurden? Doch es ist nicht gerecht, daß Levi und Elias noch am Leben sind, während so viele Unschuldige ihr Leben lassen mußten.»

«Wer sind die beiden und was tun sie?»

«Du hast doch bestimmt vom Kindermord des Herodes gehört! Mehr als tausend Kinder in der Stadt und weitere tausend in der Umgebung. (Was die unschuldigen Kinder im Gemetzel des Herodes betrifft, beträgt die genaue Zahl zweiunddreißig. In der Stadt Bethlehem selbst wurden achtzehn und in der näheren Umgebung vierzehn getötet. Unter den Getöteten waren auch sechs Mädchen, die nicht als solche von den Häschern erkannt wurden, da Mädchen und Knaben auf gleiche Art gekleidet waren. Auch geschah alles im Dunkel der Nacht und wurde sehr rasch vollzogen. Wie es immer vorkommt, übertreibt auch der Bauer hier und entstellt den wahren Sachverhalt. Auf diese Weise sind viele falsche Legenden entstanden und haben die Wahrheit verdunkelt.) Alle waren Knaben, fast alle, denn bei der Hast und im Dunkel und der Verwirrung ergriffen die Grausamen in den überfallenen Häusern auch Mädchen. Sie rissen die Kinder aus den Wiegen, aus den Betten der Mütter und durchbohrten sie wie säugende Gazellen, die der Bogenschütze trifft. Und warum dies alles? Nur weil ein Häuflein Hirten, die, um die eisige Kälte der Nacht zu ertragen, in großen Zügen Most getrunken hatten, im Delirium erzählten, Engel gesehen, Lieder gehört und Botschaften vernommen zu haben, und uns in Bethlehem zuriefen: "Kommt und betet an! Der Messias ist geboren." Stell dir vor: Der Messias in einer Höhle!

ich muß, in Wahrheit, sagen: wir waren alle betrunken, auch ich, der ich damals noch ein Jüngling war; auch meine Frau, die damals nur einige Jahre zählte; denn wir glaubten alle, und in einer armen galiläischen Frau wollten wir die Jungfrau erkennen, die geboren hatte und von der die Propheten sprechen. Ein einfacher Galiläer war bei ihr! Bestimmt ihr Gatte. Wie konnte sie als seine Gattin Jungfrau sein? Und trotzdem! Wir glaubten und brachten Geschenke, beteten an und boten unsere Häuser

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als Herberge an... Oh, sie spielte ihre Rolle gut! Arme Anna! Sie hat ihren Besitz und das Leben verloren und auch die Kinder ihrer Tochter, die als einzige sich retten konnte, weil sie mit einem Händler von Jerusalem verheiratet war. Anna verlor ihr Hab und Gut, ihr Haus wurde eingeäschert und die Umgebung auf Befehl des Herodes verwüstet. Nun ist es ein verwildertes Feld, auf dem das Vieh weidet.»

«Alles durch die Schuld der Hirten?»

«Nein, auch der drei Zauberer, die aus Reichen Satans gekommen sind. Vielleicht waren die drei auch Teufelsgesellen. Und wir Dummköpfe erachteten ihr Kommen für eine ganz besondere Ehre! Der arme Vorsteher der Synagoge! Wir töteten ihn, weil er geschworen hatte, daß die Prophezeiungen ein Siegel der Wahrheit auf die Worte der Hirten und der Magier setzten.»

«So ist also alles die Schuld der Hirten und der Weisen?»

«Nein, Galiläer, auch unsere; auch unserer Leichtgläubigkeit. Ja, wir erwarteten schon seit langem den Messias. Jahrhunderte des Wartens! Und es gab immer wieder Enttäuschungen in den letzten Zeiten wegen irgendeines falschen Messias. Einer war ein Galiläer wie du, ein anderer hieß Theudas (Apg 5,36-37). Lügner waren sie! Sie, der Messias? Es waren nur Abenteurer auf der Jagd nach Glück. Diese Lektion hätte uns wachsam machen müssen. Aber ...»

«Warum aber verflucht ihr alle Hirten und die Weisen? Wenn ihr euch selbst als Dummköpfe bezeichnet, dann solltet ihr euch gleichfalls selbst anklagen. Denn der Fluch ist im Gesetz der Liebe nicht erlaubt. Fluch zieht Fluch nach sich. Seid ihr denn sicher, daß ihr richtig gehandelt habt? Könnte es nicht wahr sein, daß die Hirten und Weisen die Wahrheit gesagt haben, die ihnen von Gott enthüllt worden war? Warum nehmt ihr an, daß sie Lügner waren?»

«Weil die Zeit der Prophezeiungen nicht erfüllt war. Nachher haben wir nachgedacht... nachdem uns das Blut, das die Brunnentröge und Bäche rötete, die Augen des Denkens geöffnet hatte.»

«Hätte der Allerhöchste aus übervoller Liebe zu seinem Volk die Ankunft des Erlösers nicht vorverlegen können? Worauf gründeten die Weisen ihre Behauptung? Du hast gesagt, daß sie vom Orient gekommen sind...»

«Auf ihre Berechnungen über einen neuen Stern.»

«Steht nicht geschrieben: "Ein Stern geht auf über Jakob, ein Zepter erhebt sich aus Israel"? Ist Jakob nicht der große Patriarch, der auf diesem Boden von Bethlehem Halt gemacht hat, an diesem Ort, der ihm so teuer war wie sein Augapfel, weil hier seine geliebte Rachel starb? ...

Und hat nicht der Mund des Propheten gesprochen: "Ein Reis wächst aus Isaias Stamm, und eine Blume erblüht aus seiner Wurzel"? Isai, der Vater Davids, wurde hier geboren. Das Reis aus dem Stamme, aus der

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Wurzel gerissen durch tyrannische Anmaßung, ist dies nicht die Jungfrau, die den Sohn gebären wird, den sie nicht durch einen Mann empfangen hat, sondern durch göttlichen Willen, da sie sonst nicht mehr Jungfrau wäre? Daher wird er der "Emmanuel" sein, der Sohn Gottes und somit Gott selbst und der, welcher Gott zum Volke Gottes bringt, wie sein Name besagt.

Und sagen die Prophezeiungen nicht, daß er den Heiden als "ein großes Licht" kundgetan werden soll? Könnte der Stern, den die Weisen gesehen haben, nicht der Stern Jakobs gewesen sein, das große Licht der beiden Weissagungen des Bilean und des Isaias?

Und steht in den Weissagungen nicht auch der Kindermord von Bethlehem, befohlen von Herodes? "Einen Schrei vernahm man in der Höhe... Es ist Rachel, die um ihre Kinder weint." Es war vorhergesagt, daß Wehklagen die Gebeine Rachels in ihrem Grabe in Ephrata erschüttern würde, wenn das heilige Volk durch seinen Erlöser den Lohn empfangen werde. Tränen, die sich in himmlische Freuden verwandeln werden, wie der Regenbogen, der sich mit den letzten Tropfen des Gewitters bildet und somit sagt: "Jetzt kann es wieder heiter werden."»

«Du bist sehr gelehrt. Bist du ein Rabbi ?»

«Ich bin es.»

«Und ich spüre es. Es ist Licht und Wahrheit in deinen Worten. Doch... zu viele Wunden bluten noch in Bethlehem wegen des wahren oder falschen Messias. Ich würde ihm niemals raten, hierher zu kommen. Das Volk würde ihn ablehnen, wie man einen Stiefsohn zurückweist, durch dessen Verschulden die eigenen Kinder umgekommen sind. Doch wenn er es auch gewesen ist, dann wird er mit den anderen umgekommen sein.»

«Wo wohnen Levi und Elias jetzt?»

«Warum? Kennst du sie?» Der Mann wird mißtrauisch.

«Ich kenne sie nicht. Ihre Gesichter sind mir unbekannt. Doch sie sind unglücklich, und ich habe immer Erbarmen mit den Unglücklichen. Ich möchte sie besuchen.»

«Du wärest der erste nach dreißig Jahren. Sie sind immer noch Hirten und dienen immer noch einem reichen Herodianer von Jerusalem, der sich viele Güter der Ermordeten angeeignet hat... Einer profitiert immer. Du wirst sie bei den Herden finden auf den Hügeln, die am Weg nach Hebron liegen. Doch einen Rat will ich dir geben: laß dich nicht von Leuten aus Bethlehem sehen, wenn du mit den Hirten sprichst. Es würde dir schaden. Wir dulden sie nur, weil es den Herodianer gibt, sonst ...»

«Oh, der Haß! Warum hassen?»

«Weil er berechtigt ist. Sie haben uns Böses angetan.»

«Sie glaubten, recht zu handeln.»

«Sie haben schlecht gehandelt. Wir hätten sie umbringen sollen, weil

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sie mit ihrer Dummheit den Tod so vieler verursacht haben. Doch anfangs waren wir unschlüssig... und nachher war der Herodianer da.»

«Wenn er nicht wäre, hättet ihr sie aus Rache ermordet?»

«Auch jetzt noch würden wir sie töten, wenn wir nicht Angst vor ihrem Arbeitgeber hätten.»

«Mann, ich sage dir, hasse nicht! Wünsche nicht, Böses zu tun! Hier gibt es keine Schuld. Doch, selbst wenn es eine gäbe, müßtest du verzeihen. Im Namen Gottes mußt du verzeihen. Sage es auch den anderen in Bethlehem! Wenn der Haß von euren Herzen gefallen ist, wird der Messias kommen. Dann werdet ihr ihn erkennen, denn er lebt. Er war schon auf dieser Welt, als der Kindermord geschah. Ich sage es euch! Nicht die Hirten und Weisen sind schuldig, sondern der Satan hat den Mord verursacht. Der Messias ist euch hier geboren worden und ist gekommen, um dem Land seiner Väter das Licht zu bringen. Als Sohn der jungfräulichen Mutter aus dem Geschlechte Davids erschloß er auf den Ruinen des Hauses Davids der Welt den Strom der ewigen Gnaden und das ewige Leben.»

«Weg, geh weg von hier! Du Nachfolger des falschen Messias, der falsch gewesen sein muß, da er uns, hier in Bethlehem, nur Unheil gebracht hat. Du verteidigst ihn und deshalb ...»

«Schweige, Mann! Ich bin aus Judäa und habe einflußreiche Freunde. Ich könnte dafür sorgen, daß du die Beleidigung bereust!» Mit diesen Worten springt Judas auf, packt den Bauern an seinem Gewand und schüttelt ihn wütend.

«Nein, nein! Weg von hier! Ich will keine Unannehmlichkeiten, weder mit den Bethlehemiten noch mit Rom und Herodes. Schert euch fort, Verfluchte, wenn ihr nicht ein Andenken von mir haben wollt! Fort! ...»

«Laß uns gehen, Judas! Keine Aufregung. Lassen wir ihn in seinem Wahn. Gott kehrt nicht dort ein, wo der Haß regiert. Laßt uns gehen!»

«Ja, laßt uns gehen; aber man wird es mir zahlen!»

«Nein, Judas, nein! Sprich nicht so! Sie sind blind... Auf meinem Wege werden sie zahlreich sein.»

Sie treten aus dem Haus und folgen Simon und Johannes, die mit der Frau hinter dem Stall plaudern.

«Verzeih meinem Mann, Herr! Ich dachte nicht, ein solches Unheil anzurichten... Hier, nimm sie, du kannst sie morgen früh essen. Sie sind ganz frisch. Ich kann dir leider nichts anderes geben... verzeih! (Sie überreicht Jesus einige Eier.) Doch wo werdet ihr nun schlafen?»

«Mach dir keine Sorgen! Ich weiß, wohin ich gehen kann. Geh im Frieden, um deiner Güte willen! Lebe wohl!»

Sie gehen einige Meter schweigend, dann explodiert Judas: «Warum läßt du dich nicht anbeten? Warum wirfst du diesen Fluchenden nicht nieder zu Boden, weil er gegen dich, den Messias, gefehlt hat? Oh, ich

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hätte es getan! Die Samaritaner müßten durch Wunder eingeäschert werden. Nur Wunder vermögen sie zu erschüttern!»

«Oh, wie oft werde ich das noch hören! Sollte ich sie verbrennen wegen jeder Sünde gegen mich? Nein, Judas. Ich bin gekommen, um neu aufzubauen, nicht um zu zerstören.»

«Schon, doch inzwischen bringen dich die anderen um. Jesus entgegnet nichts.

Simon fragt: «Wohin gehen wir nun, Meister?»

«Kommt mit mir! Ich kenne einen Ort.»

«Aber wenn du nie hier gewesen bist nach der Flucht, wie kannst du ihn dann erkennen?» fragt Judas erstaunt.

«Ich kenne ihn! Er ist nicht schön. Ich war schon einmal dort. Er ist nicht direkt in Bethlehem, sondern etwas außerhalb. Laßt uns hier abbiegen!»

Jesus geht voraus, und ihm folgen Simon, Judas und zuletzt Johannes...

Im Schweigen, das nur vom Knirschen der Sandalen auf dem Kies des Weges gestört wird, hört man ein Schluchzen.

«Wer weint da?» fragt Jesus, sich umwendend.

Judas sagt: «Es ist Johannes. Er hat Angst gehabt.»

«Nein, nicht Angst. Ich hatte schon die Hand am Messer, das im Gürtel steckt; doch dann habe ich mich an dein "nicht töten, verzeihen" erinnert... du sagst es immer.»

«Warum weinst du dann?» fragt Judas.

«Ich leide, weil ich sehen muß, daß die Welt Jesus ablehnt. Sie kennt ihn nicht und will ihn nicht kennen. Oh, das ist ein großer Schmerz! So als würden sie mein Herz mit glühenden Dornen durchwühlen. Es tut mir so weh, als hätte ich mitansehen müssen, wie meine Mutter niedergetreten und meinem Vater ins Gesicht gespien wird... Mehr noch... als müßte ich mitansehen, wie die römischen Pferde in der Bundeslade gefüttert werden und im Allerheiligsten sich ausruhen.»

«Weine nicht, mein Johannes! Dieses Mal und noch unendlich viele Male wirst du dir sagen müssen: "Er war das Licht, das kam, um in der Finsternis zu leuchten, doch die Finsternis hat es nicht begriffen. Er kam in die Welt, die durch ihn erschaffen worden war, doch die Welt hat ihn nicht erkannt. Er kam in seine Stadt, in sein Haus, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf." Oh, weine nicht so!»

«Das wird in Galiläa nicht vorkommen», seufzt Johannes.

«Auch nicht in Judäa», entgegnet Judas. «Jerusalem ist die Hauptstadt, und vor drei Tagen hat sie dich umjubelt, dich, den Messias. Hier... dieser Ort mit ungehobelten Hirten, Bauern und Gärtnern kann nicht als Maßstab genommen werden. Auch die Galiläer sind sicher nicht alle gut. Übrigens, woher war denn Judas, der falsche Messias? Man sagte ...»

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«Genug, Judas! Es ist nicht wert, sich deswegen aufzuregen. Ich bin ruhig. Seid auch ihr es! Judas, komm hierher! Ich muß mit dir reden.»

Judas holt Jesus ein. «Nimm hier diesen Beutel! Du sollst morgen einkaufen gehen.»

«Und jetzt, wo werden wir nun übernachten?»

Jesus lächelt und schweigt. Die Nacht ist hereingebrochen. Der Mond umkleidet sich mit hellem Schein. Die Nachtigallen schlagen in den Ölbäumen. Der Bach gleicht einem silbrigen, singenden Bande. Von den abgemähten Wiesen steigt ein warmer, ich möchte fast sagen betäubender Duft auf. Man hört Tiere muhen und blöken. Und am Himmel Sterne, Sterne, Sterne, eine Saat von Sternen, wie hingestreut auf das Himmelszelt - ein Baldachin voller funkelnder Edelsteine über den Hügeln von Bethlehem.

«Aber hier... sind nur Ruinen. Wohin führst du uns? Die Stadt ist doch dort!»

«Ich weiß es. Komm! Folge dem Bache, hinter mir, noch einige Schritte, dann will ich dir die Unterkunft des Königs von Israel anbieten.»

Judas zuckt die Schultern und schweigt.

Noch einige Schritte. Dann zerfallene Häuser. Überbleibsel von Wohnungen... Ein kleiner Durchgang zwischen zwei Mauern...

Jesus sagt: «Habt ihr den Zunder? Zündet an!»

Simon zieht eine kleine Lampe aus seinem Sack, zündet sie an und reicht sie Jesus.

«Tretet ein!» sagt der Meister und hält das Lämpchen hoch. «Tretet ein! Dies hier ist die Geburtskammer des Königs von Israel.»

«Du machst Scherze, Meister. Das ist eine schmutzige Höhle. Ich kann hier nicht bleiben. Mir ekelt davor; so feucht, kalt, stinkend, voller Skorpione und vielleicht auch Schlangen ...»

«Und doch, Freunde: hier wurde von der Jungfrau in der Nacht des 25. des Monats Encenie Jesus Christus, der Emmanuel, das Wort Gottes, geboren, das aus Liebe zu den Menschen Fleisch geworden ist. ICH, der ich zu euch spreche! Auch damals wie heute war die Welt taub für die Stimmen des Himmels, die zu den Herzen sprachen... Sie haben die Mutter weggewiesen... Und hier... nein, Judas, wende deinen Blick nicht mit Widerwillen von diesen Fledermäusen, diesen grünen Eidechsen, diesen Spinngeweben ab; hebe nicht dein reich gesäumtes Gewand aus Ekel und Furcht, es könnte den von tierischen Exkrementen verunreinigten Boden berühren. Diese Fledermäuse sind die Kinder der Kinder jener, die die ersten sich bewegenden "Spielzeuge" vor den Augen des Kindes waren, dem die Engel das «Gloria» sangen, das von den Hirten gehört wurde. Sie waren nicht betrunken, sondern voller ekstatischer Freude, wahrer Freude... Diese Eidechsen mit ihrem schillernden Smaragdgrün waren die ersten Farben, die meine Augensterne wahrnahmen, die ersten nach dem zarten

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Weiß des mütterlichen Kleides und des Antlitzes. Die Spinngewebe waren der Baldachin meiner königlichen Wiege. Dieser Boden... du darfst ohne Abscheu auf ihm stehen... ist zwar bedeckt mit Kot... aber geheiligt durch ihre Füße... die Füße der Heiligen, der großen Heiligen, der Reinsten, der Unbefleckten, der Gottesgebärerin, die gebar, weil sie erwählt worden war, weil es der Wille Gottes und nicht des Mannes war, die durch Gott Mutter wurde. Sie, die Makellose, hat diesen Boden mit ihren Füßen berührt. Du kannst auch darauf gehen... und Gott möge es fügen, daß durch deine Fußsohlen die von ihr ausgegangene Reinheit bis in dein Herz emporsteige.»

Simon ist in die Knie gesunken. Johannes geht zur Futterkrippe und legt sein Haupt weinend in sie. Judas ist entsetzt, doch dann siegt die Rührung, und ohne auf sein schönes Gewand zu achten, wirft er sich auf die Erde, nimmt den Saum des Kleides Jesu und küßt ihn und schlägt sich an die Brust mit den Worten: «Oh, guter Meister, hab Erbarmen mit der Blindheit deines Dieners! Mein Hochmut schwindet dahin... Ich sehe dich, wie du bist. Nicht der König, so wie ich ihn mir vorstellte, sondern der ewige Fürst, der Vater der zukünftigen Zeit, der König des Friedens. Erbarmen, mein Herr und mein Gott... Erbarmen!»

«Ja, mein ganzes Erbarmen! Nun werden wir schlafen an der Stelle, wo das Kind und die Mutter geschlafen haben. Dort hat Johannes schon den Platz der anbetenden Mutter eingenommen... hier, wo Simon steht, stand mein Nährvater oder wenn ihr wollt, werde ich euch von jener Nacht erzählen...»

«O ja, Meister! Erzähle uns von deinem Heranwachsen! Damit es die Lichtperle in unseren Herzen werde und damit wir es der Welt weitererzählen können.»

«Und um deine Mutter zu ehren, nicht nur als deine Mutter, sondern auch als die Jungfrau!»

Zuerst hat Judas gesprochen, dann Simon und schließlich Johannes, der bei der Krippe weint und lächelt.

«Kommt hierher aufs Heu! Hört zu ...» Und Jesus erzählt von der Nacht seiner Geburt. «Als für die Mutter die Zeit gekommen war, da sie das Kind gebären sollte, wurde auf Anordnung des Caesar Augustus vom kaiserlichen Delegaten Publius Sulpitius Quirinius - während Sentius Saturninus Statthalter von Palästina war - bekanntgemacht, daß alle Bewohner des Kaiserreiches gezählt werden sollten. Wer nicht Sklave war, mußte sich an seinen Ursprungsort begeben und sich in die Listen des Imperiums eintragen lassen. Joseph, der Bräutigam der Mutter, war aus dem Geschlechte Davids wie auch die Mutter. Dem Befehl gehorchend, verließen sie Nazareth und begaben sich nach Bethlehem, der Wiege des königlichen Geschlechtes. Das Wetter war kalt ...»

Jesus erzählt und erzählt... und so endet alles.

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110. JESUS IN DER HERBERGE VON BETHLEHEM - ER PREDIGT AUF DEN TRÜMMERN VON ANNAS HAUS

Die ersten Stunden eines lichterfüllten Sommermorgens. Der Himmel färbt sich mit dem Rosa einiger zarter Wölkchen, die wie Wattebäuschchen auf einem tiefblauen Satinteppich liegen. In der Luft erklingt das Singen der Vögel, die schon vom Lichte berauscht sind... Spatzen, Amseln, Rotkehlchen zirpen, zwitschern, schwatzen und fliegen hin und her. Der eine mit einem Strohhalm im Schnäbelchen, der andere mit einem kleinen Moospolster, wieder ein anderer mit einem Bündelchen Heu, um das Nest recht schön und warm zu machen. Schwalben stürzen sich vom Himmel auf den kleinen Bach, um sich die schneeweiße Brust mit den rotfarbenen Rändern in den Wellen zu waschen; und nach der Erfrischung schnappen sie eine verschlafene, an einem Stengel hängende Mücke und schwingen sich damit wieder in die Lüfte, metallen schimmernd und voller Jubel zwitschernd.

Zwei Bachstelzen in grauem Seidengefieder schreiten anmutig wie zwei Dämchen am Ufer des Baches dahin und achten dabei sehr auf den hochgestellten Schwanz mit dem schwarzen Samt. Sie spiegeln sich im Wasser, finden sich schön, nehmen die Promenade wieder auf, werden von einer Amsel verspottet, die ihnen mit dem langen gelben Schnabel wie ein richtiger Spitzbub des Waldes nachpfeift. In einem wilden Apfelbaum, der sich einsam über die Ruinen erhebt, ruft eine Lerche unaufhörlich nach dem Gefährten und gibt erst Ruhe, als dieser mit einem dicken Wurm daherkommt, der sich im schmalen Schnabel windet. Zwei Turmtauben, die wahrscheinlich aus einem städtischen Taubenschlag entflohen sind und die freie Wohnung in den Ruinen vorgezogen haben, machen sich gegenseitig den Hof, der Täuberich angreifend, die Taube schamhaft gurrend.

Jesus hat die Hände über der Brust gekreuzt, sieht all diesen heiteren Tierchen zu und lächelt.

«Bist du schon bereit, Meister?» fragt Simon hinter seinem Rücken.

«Ja, bereit. Schlafen denn die anderen noch?»

«Ja, noch immer.»

«Sie sind jung... Ich habe mich in diesem Bach gewaschen... Ein frisches Wasser, das den Geist von den nächtlichen Nebeln befreit.»

«Nun will ich gehen.»

Während Simon, nur mit einer kurzen Tunika bekleidet, sich waschen geht und sich dann wieder anzieht, erscheinen Judas und Johannes.

«Gott zum Gruß! Meister, sind wir zu spät dran?»

«Nein. Der Tag beginnt gerade. Doch nun beeilt euch, und dann gehen wir!»

Die beiden waschen sich und legen dann Tunika und Mantel an.

Bevor Jesus sich zum Gehen anschickt, pflückt er noch einige Blümchen,

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die in den Mauerritzen gewachsen sind, und legt sie in eine kleine Holzschachtel, in welcher schon andere Kleinigkeiten liegen, die ich nicht unterscheiden kann. Er erklärt: «Das bringe ich der Mutter mit. Sie wird sich darüber freuen... Laßt uns gehen!»

«Wohin, Meister?»

«Nach Bethlehem!»

«Doch noch? Mir scheint, dort ist die Luft für uns nicht gut ...»

«Gehen wir dennoch! Gehen wir. Ich möchte euch zeigen, wo die Weisen damals abgestiegen sind, und wo ich gewesen bin.»

«Dann höre! Entschuldige, Meister, aber laß mich etwas sagen! Erlaube, daß ich mich in Bethlehem und in der Herberge um alles kümmere. Euch aus Galiläa bringt man in Judäa nicht viel Liebe entgegen und hier noch weniger als anderswo. Laß es uns so machen: Du und Johannes, ihr zeigt euch schon in euren Kleidern als Galiläer. Sie sind zu einfach. Und erst die Haare! Warum versteift ihr euch, sie so lang zu tragen? Ich und Simon werden unsere Mäntel mit euren vertauschen. Simon gibt seinen Johannes, und ich meinen dem Meister. So... seht ihr? Nun gleicht ihr schon ein wenig Judäern. Und nun noch dieses.» Er nimmt seine Kopfbedeckung, ein Tuch mit gelben, braunen, roten und grünen Streifen, die sich folgen wie beim Mantel und von einer gelben Kordel zusammengehalten werden; er befestigt sie am Haupte Jesu, zieht den Stoff über seine Wangen herunter und verbirgt darunter die langen blonden Haare. Johannes nimmt den dunkelgrünen Mantel mit der Kopfbedeckung von Simon. «Oh, jetzt geht es besser. Ich habe einen praktischen Sinn.»

«Ja, Judas. Du hast einen praktischen Sinn, das ist wahr. Achte jedoch darauf, daß dieser praktische Sinn den anderen nicht übertreffe!»

«Welchen, Meister?»

«Den Sinn für die spirituellen Dinge!»

«O nein! Doch in bestimmten Fällen ist es gut, als Politiker statt Botschafter auftreten zu können. Und höre, sei so gut... es ist zu deinem Wohl. Stelle mich nicht als Lügner hin, wenn ich Dinge sage, die nicht ganz der Wahrheit entsprechen.»

«Was willst du damit sagen? Warum lügen? Ich bin die Wahrheit und will keine Lügen, weder in mir, noch um mich herum.»

«Oh, ich werde nur halbe Lügen sagen. Ich werde sagen, daß wir von weit entfernten Orten zurückkehren, vielleicht aus Ägypten, und daß wir uns nach lieben Bekannten erkundigen möchten. Ich werde sagen, daß wir aus dem Exil heimkehrende Juden sind. Im Grunde genommen ist ja etwas Wahres daran... und dann spreche ja ich... eine Lüge mehr oder weniger...»

«Aber Judas, warum willst du betrügen?»

«Laß es gut sein, Meister! Die Welt wird regiert mit Täuschungen. Manchmal sind sie gut und notwendig. Doch, um dich zufriedenzustellen,

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werde ich nur sagen, daß wir von weither gekommen und Juden sind. Dies ist doch zu dreiviertel wahr? Und du Johannes, sprichst am besten nicht. Du würdest dich verraten.»

«Ich werde schweigen.»

«Wenn das alles gut geht, werden wir das übrige sagen. Doch ich habe wenig Hoffnung; ich merke alles, denn ich bin schlau.»

«Ich sehe es, Judas; doch mir wäre es lieber, wenn du einfacher wärest.»

«Das hilft wenig. In deiner Gruppe werde ich der Mann der schwierigen Aufgaben sein. Laß mich nur machen!»

Jesus ist nicht einverstanden, doch gibt er nach.

Sie gehen um die Ruinen herum und dann an einem Mauerwerk ohne Fenster entlang, hinter dem man Muhen, Gewieher, Geblöke und das merkwürdige Gegurgel der Kamele oder Dromedare hört. Nun biegen sie um die Ecke des Mauerwerks und sind auf dem Marktplatz von Bethlehem. In der Mitte des Platzes befindet sich das Brunnenbecken immer noch in seiner zierlichen Form; es scheint aber auf der der Herberge gegenüberliegenden Seite etwas verändert worden zu sein. Dort wo das kleine Haus stand, das ich im Geiste immer noch unter dem Schein des großen Sternes silbern glänzen sehe, ist nun ein Trümmerhaufen. Nur die Treppe steht noch mit dem kleinen Balkon. Jesus schaut sich um und seufzt. Der Platz ist voller Menschen, die sich um die Händler mit ihren Lebensmitteln, Gebrauchsgegenständen, Stoffen usw. scharen; die Waren sind auf Bänken ausgebreitet oder in Körben, die auf dem Boden stehen. Die Händler sitzen inmitten ihrer Ware, wenn sie nicht gerade schreiend und gestikulierend vor einem Käufer stehen, um mit ihm zu verhandeln.

«Es ist Markttag», sagt Simon.

Die Türe - besser gesagt das Tor - der Herberge ist weit geöffnet, und eine Reihe beladener Eselchen kommt gerade aus dem Hof heraus.

Judas geht als erster hinein. Er schaut sich um und hält dann herrisch einen kleinen, schmutzigen Stallburschen an, der nur mit einem ärmellosen, bis zu den Knien reichenden Unterkleid angetan ist.

«Knecht!» schreit er ihn an. «Ruf deinen Herrn! Aber sofort! Mach schnell, ich bin nicht gewohnt zu warten!»

Der Junge eilt davon, einen Reisigbesen hinter sich herziehend.

«Aber Judas! Was ist das für eine Art!»

«Beruhige dich, Meister! Laß mich nur machen! Sie müssen uns für reich und Städter halten.»

Der Hausherr kommt keuchend und unter vielen Verbeugungen heran; er buckelt besonders vor Judas, der sehr vornehm im dunkelroten Mantel Jesu aussieht, den er über sein goldgelbes Kleid mit Gürtel und Fransen gezogen hat.

«Mann, wir kommen von sehr weit her. Wir sind Judäer einer asiatischen

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Gemeinde und wurden verfolgt. Dieser hier ist in Bethlehem geboren und möchte nun seine alten Freunde besuchen. Wir begleiten ihn. Wir kommen von Jerusalem, wo wir den Allerhöchsten in seinem Tempel angebetet haben. Kannst du uns Informationen geben?»

«Herr, ich stehe dir zu Diensten... befiehl!»

«Wir möchten über viele Bescheid wissen... besonders über Anna, die Frau, deren Haus deiner Herberge gegenüberstand.»

«Ah, die Unglückliche! Anna könnt ihr nur noch in Abrahams Schoß suchen, und auch ihre Kinder.»

«Tot? Und warum?»

«Habt ihr nichts vom Morden des Herodes gehört? Alle Welt sprach davon, und auch Caesar hat ihn bezeichnet als das "Schwein, das sich von Blut ernährt". Ach, was habe ich gesagt! Zeigt mich bitte nicht an! Bist du wirklich Jude?»

«Hier das Zeichen meines Stammes. Also? Sprich!»

«Anna wurde von den Soldaten des Herodes mit all ihren Kindern bis auf eines ermordet.»

«Aber warum denn? Sie war so gut!»

«Kanntest du sie?»

«Sehr gut», lügt Judas unverschämt.

«Sie wurde getötet, weil sie jene aufgenommen hatte, die sich Mutter und Vater des Messias nannten. Komm hierher, in diesen Raum. Die Wände haben Ohren, und von diesen Dingen sprechen ist gefährlich.»

Sie betreten einen kleinen, dunklen, niedrigen Raum und setzen sich auf einen niedrigen Diwan.

«Hier... ich hatte eine gute Nase. Ich bin nicht umsonst ein Wirt. Ich bin hier geboren, als Sohn von Wirtssöhnen. Ich habe die Schlauheit im Blute. Ich habe die Leute nicht gewollt. Ich hätte vielleicht ein Loch für sie finden können. Doch es waren Galiläer, arme, unbekannte Galiläer! ... Nein, Ezechias läßt sich nicht hereinlegen. Und dann ... ich spürte, daß sie so ganz anders waren... diese Frau... mit den Augen ... etwas ganz Eigenartiges... nein, nein, sie mußte den Dämon in sich haben und mit ihm sprechen... Er muß sie hierhergebracht haben; nicht zu mir, aber in diese Stadt. Anna war unschuldig wie ein Lamm; sie hat sie dann einige Tage später aufgenommen, mit dem Kinde. Sie sagten von ihm, daß es der Messias sei. Oh, wieviel Denare habe ich in diesen Tagen eingenommen! Nicht nur wegen der Einschreibung! Es kamen auch solche, die sich nicht registrieren lassen mußten. Sie kamen sogar über das Meer und aus Ägypten, um die Leute zu sehen... monatelang! Einen reichen Verdienst habe ich gehabt... Zuletzt sind noch drei Könige, drei Magier gekommen, drei Mächtige, was weiß ich. Ein Hofstaat, der kein Ende nahm! Sie belegten alle meine Ställe und haben in Gold dafür bezahlt, im voraus und genug für einen ganzen Monat... und sind dann schon anderntags wieder fortgezogen

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und haben alles hier gelassen! Wenn ich an die Geschenke zurückdenke... sogar für die Stallburschen, für die Frauen und für mich. Oh, ich kann mich über den Messias, ob es nun der wahre oder der falsche war, nicht beklagen. Ich habe durch ihn Säcke voll Geld verdient. Unglück hat es mir nicht gebracht, auch keine Toten; denn ich hatte erst kurz zuvor geheiratet und deshalb... Doch die anderen!»

«Wir möchten die Orte der Gemetzel sehen.»

«Die Orte? Aber in allen Häusern haben sie stattgefunden. Meilenweit um Bethlehem herum hat es Tote gegeben! Kommt mit mir!»

Sie gehen eine Treppe hinauf und betreten eine Dachterrasse. Von oben sieht man viele Äcker und ganz Bethlehem, das wie ein geöffneter Fächer auf seinen Hügeln liegt.

«Seht ihr die Ruinen? Die Häuser wurden angezündet, weil die Väter ihre Söhne mit den Waffen verteidigten. Seht ihr dort den mit Efeu bewachsenen Brunnen? Das ist der Rest der Synagoge. Sie wurde mit dem Vorsteher verbrannt, weil er das Kind den Messias nannte; Überlebende haben sie in Raserei wegen des Mordes an ihren Kindern in Brand gesteckt. Wir hatten nachher noch lange viel Ungemach... Und dort, dort und dort... seht ihr die Gräber? Es sind die Gräber der Opfer. Sie sehen mit ihrem Weiß wie im Grünen verlorene Schafe aus. Lauter Unschuldige, und ihre Väter und Mütter! Seht ihr das Becken dort? Sein Wasser war rot, nachdem die Häscher ihre Hände und ihre Waffen darin gewaschen hatten. Und der Bach dort hinten, habt ihr ihn gesehen? Er war rosarot von dem vielen Blut, das er von den Abzugskanälen aufgenommen hatte. Und schaut: das dort ist alles, was von Anna übriggeblieben ist!»

Jesus weint.

«Habt ihr sie gut gekannt?» fragt der Wirt.

Judas antwortet: «Ja, sie war für seine Mutter wie eine Schwester. Nicht wahr, Freund?»

Jesus antwortet nur: «Ja.»

«Ich verstehe», sagt der Wirt und wird nachdenklich.

Jesus neigt sich, um leise mit Judas zu sprechen.

«Mein Freund möchte zu den Ruinen dort gehen», sagt Judas.

«Er soll nur gehen; sie gehören allen.»

Sie grüßen und gehen. Der Wirt ist enttäuscht. Vielleicht hatte er mit Einnahmen gerechnet.

Sie überqueren den Platz und steigen die Reste der Treppe hinauf.

«Von hier aus ließ mich die Mutter den Weisen zuwinken... und diese Treppe mußten wir hinuntersteigen, um nach Ägypten zu flüchten.»

Leute drehen sich nach den vier Männern auf den Ruinen um, und einer fragt: «Sind es Verwandte der Ermordeten?»

«Freunde.»

Eine Frau schreit: «Schadet wenigstens der Toten nicht, wie andere

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Freunde der Lebenden geschadet haben, um sich dann in Sicherheit zu bringen ...»

Jesus steht aufrecht auf dem Treppenabsatz vor dem Rest des Schutzmäuerchens, also etwa zwei Meter über dem Platz und mit einer öden Leere im Rücken. Eine sonnenerfüllte Leere, die das helle Leinenkleid Jesu noch weißer erscheinen läßt, nun, da der Mantel von seinen Schultern geglitten ist und wie ein farbenprächtiger Untergrund zu seinen Füßen liegt. Der Hintergrund ist grün und verwildert, einst der gepflegte Garten Annas, nun voller Unrat.

Jesus breitet die Arme aus. Judas sieht die Geste und sagt: «Sage nichts, es wäre unklug!»

Doch Jesus erfüllt den Platz mit seiner mächtigen Stimme: «Männer von Juda! Männer von Bethlehem, hört! Hört, ihr Frauen des Ortes, der Rachel heilig ist! Hört auf einen, der von David abstammt, der als Verfolgter hat leiden müssen und nun gewürdigt worden ist, zu euch zu sprechen, um euch Licht und Trost zu bringen. Hört!»

Die Leute hören auf zu schwatzen, zu streiten und zu handeln und drängen sich zusammen.

«Er ist ein Rabbi!»

«Er kommt bestimmt von Jerusalem.»

«Wer ist es?»

«Welch ein schöner Mann!»

«Welche Stimme!»

«Welch eine Haltung!»

«Klar, als Nachkomme Davids!»

«So ist er also einer von uns?»

«Hören wir, was er sagt!»

Alle stehen vor der Stiege, die nun als Kanzel dient.

«In der Genesis steht geschrieben: "Ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau... sie wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihrer Ferse nachstellen." Und weiterhin steht geschrieben: "Ich werde deine Leiden vermehren, und in Schmerzen wirst du gebären... und die Erde soll Dornen und Disteln tragen" (Gen 3,16-18). Dies ist die Verurteilung des Mannes, der Frau und der Schlange.

Von weither bin ich gekommen, um Rachels Grab zu ehren; ich habe im Abendwind, im Tau der Nacht, im Klagen der Nachtigall morgens das Echo der Seufzer der alten Rachel gehört, die die Stimmen der Mütter von Bethlehem in den Gräbern oder in der Stille ihrer Herzen wiederholen. Ich habe den Schmerzschrei Jakobs im Schmerze der Witwer wiedergefunden, die keine Frau mehr haben, weil der Schmerz sie getötet hat. Ich weine mit euch. Doch hört, ihr Brüder meiner Erde. Bethlehem, gesegnete Erde, die kleinste unter den Städten Judas, aber die größte in den Augen Gottes und der Menschen, Wiege des Erlösers, wie Michäus sagt, und

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gerade deshalb zum Tabernakel bestimmt, in dem die Herrlichkeit Gottes, das Feuer Gottes, seine menschgewordene Liebe wohnt, hat den Haß Satans entfesselt.

"Ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau... sie wird dich mit ihrem Fuß zertreten, und du wirst ihrer Ferse nachstellen." Gibt es eine schlimmere Feindschaft als eine, die sich gegen die Kinder, das Herz des Herzens der Frau, richtet? Gibt es einen stärkeren Fuß als den der Mutter des Erlösers? Darum war die Rache des besiegten Satans natürlich, der nicht der Ferse der Mutter Gottes, sondern den Herzen der Mütter nachstellte.

Welch unermeßliches Leid bringt der Verlust eines Kindes mit sich, dem man das Leben geschenkt hat! Schrecklich ist das Leid jener, die im Schweiße ihres Angesichts für die Nachkommenschaft gesät und gearbeitet haben und nun kinderlose Väter sind! Doch freue dich, Bethlehem! Dein reines Blut, das Blut der Unschuldigen, hat dem Messias einen leuchtenden, purpurnen Weg bereitet.»

Die Menschen werden immer unruhiger, nachdem Jesus den Erlöser genannt hat, und dann noch die Mutter desselben; sie haben nun einen klaren Grund zur Aufregung.

«Schweige, Meister! Laß uns gehen!» sagt Judas.

Doch Jesus hört nicht auf ihn, sondern fährt fort: «... dem Messias, den die Gnade Gottvaters vor den Tyrannen gerettet hat, um ihn zu bewahren zur Rettung des Volkes ...»

Der Tumult beginnt.

Eine kreischende Frauenstimme schreit: «Fünf, fünf Kinder habe ich geboren, und keines ist mehr in meinem Hause. Ich Arme!» Und sie schreit hysterisch weiter.

Eine andere Frau wirft sich in den Staub, zerreißt ihre Kleider, zeigt eine verstümmelte Brust und schreit: «Hier, hier an dieser Brust haben sie meinen Erstgeborenen getötet. Das Schwert ist durch ihn in meine Brust gedrungen... oh, mein Elisäus!»

«Und ich? Und ich? Seht dort mein Haus! Drei Gräber in einem, vom Vater bewacht. Mann und Kinder beisammen! Hier, hier! Wenn es einen Erlöser gibt, gebe er mir meine Kinder, meinen Mann wieder und rette er mich vor der Verzweiflung und vor dem Beelzebub.»

Alle schreien gleichzeitig: «Unsere Kinder, unsere Männer, die Väter! Er soll sie uns wiedergeben, wenn er der Erlöser ist!»

Jesus gebietet mit einer Geste seiner Arme zu schweigen. «Brüder meines Landes, ich möchte euch eure Kinder im Fleische, auch im Fleische zurückgeben. Doch sage ich euch, seid gut, beruhigt euch, verzeiht, hofft und freut euch in einer Hoffnung; jubelt in einer Gewißheit. Bald werdet ihr eure Söhne wieder haben als Engel im Himmel; denn der Messias ist im Begriff, die Pforten des Himmels zu öffnen, und wenn ihr gerecht seid,

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wird der Tod für euch zum wiedergewonnenen Leben und zur wiederkehrenden Liebe.»

«Ah, bist du der Messias? Im Namen Gottes, sage es uns!»

Jesus läßt in seiner sanften Art die Arme sinken, daß es eine Umarmung zu sein scheint und antwortet: «Ich bin es.»

«Weg, weg mit dir! Deine Schuld ist es also 1» Es kommt ein Stein geflogen, von Pfiffen und Beleidigungen begleitet.

Judas macht einen Sprung nach vorne... oh, wenn er doch immer so gewesen wäre! Er stellt sich vor den Meister auf das Mäuerchen, breitet den Mantel aus und wehrt furchtlos die Steine ab. Blutend ruft er Johannes und Simon zu: «Führt Jesus weg, hinter die Bäume dort! Ich werde nachkommen. Geht um Himmels willen!» Dann wendet er sich zur Menge: «Tollwütige Hunde! Ich bin vom Tempel, ich werde euch dort und in Rom anzeigen!»

Die Menge zeigt sich einen Augenblick lang eingeschüchtert; dann aber geht das Steinwerfen - zum Glück sehr ungeordnet - weiter. Judas bleibt furchtlos an seinem Platz und antwortet auf die Flüche mit Schimpfworten. Er tut noch mehr, er fängt einen Stein im Fluge auf und wirft ihn einem Alten an den Kopf, der wie eine lebend gerupfte Elster schreiend davonläuft. Und da die Leute nun versuchen, sein Podium zu ersteigen, hebt Judas rasch einen Ast vom Boden auf (er ist nun vom Mäuerchen herabgestiegen) und läßt ihn erbarmungslos auf Rücken, Köpfe und Hände niedersausen. Soldaten eilen herbei und bahnen sich mit Lanzen den Weg.

«Wer bist du? Weshalb dieser Streit?»

«Ein Judäer, der von diesem Gesindel überfallen worden ist. Ich war mit einem Rabbi zusammen, der den Priestern wohlbekannt ist. Er hat zu diesen Hunden gesprochen. Sie sind daraufhin ausfällig geworden und haben uns angegriffen.»

«Wer bist du?»

«Judas von Kerioth, einst zum Tempel gehörend, jetzt ein Jünger des Rabbi, Jesus von Galiläa. Freund des Pharisäers Simon, des Sadduzäers Jochanan, des Mitglieds des Synedriums Joseph von Arimathäa und nicht zuletzt, du kannst es überprüfen, des Eleazar Ben Anna, des großen Freundes des Prokonsuls.»

«Ich werde nachprüfen. Wohin gehst du?»

«Mit meinem Freund nach Kerioth und dann nach Jerusalem.»

«Geh! Wir werden euch den Rücken decken.»

Judas reicht dem Soldaten einige Münzen. Es muß verboten, aber dennoch Brauch sein... denn ein Soldat nimmt das Geld rasch und gierig zu sich, grüßt dann und lacht. Judas springt von seinem Podium herunter, durchquert mit langen Schritten das unbeackerte Feld und holt die Gefährten ein.

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«Bist du stark verwundet?»

«Nicht der Rede wert, Meister... Es war ja für dich! Ich habe ihnen auch zurückgegeben. Ich muß ganz mit Blut verschmiert sein...»

«Ja, auf der Wange... Hier ist Wasser.»

Johannes befeuchtet ein Stückchen Stoff und reinigt Judas die Wange.

«Es tut mir leid, Judas... Doch du siehst, wie wenig es hilft zu sagen, daß wir von Judäa sind... Deinem praktischen Sinn folgend ...»

«Bestien sind sie. Ich hoffe, daß du dich davon überzeugt hast, Meister. Und daß du dich nicht weiter der Gefahr aussetzest.»

«O nein... aber nicht aus Angst, sondern weil es im Augenblick unnütz ist. Wenn man uns nicht haben will, so wollen wir sie nicht verwünschen, sondern uns zurückhalten und für die armen Verirrten beten, die Hungers sterben, weil sie das Brot nicht sehen. Laß uns diesen einsamen Weg einschlagen! Ich glaube, man kann so auf die Straße nach Hebron gelangen und dann die Hirten treffen.»

«Um nochmals mit Steinen beworfen zu werden!»

«Nein, um ihnen zu sagen: "Ich bin es!"»

«Dann werden sie uns sicher verprügeln. Seit dreißig Jahren leiden sie wegen dir.»

«Wir werden sehen.»

Sie gehen durch ein schattiges, dichtes, frisches Wäldchen, und ich verliere sie aus den Augen.

111. JESUS UND DIE HIRTEN ELIAS, LEVI UND JOSEPH

Die Hügel werden höher und waldiger als die von Bethlehem und steigen immer mehr an, bis sie zu einer wahren Gebirgskette werden.

Jesus geht allen voran, richtet seinen Blick nach vorne und rundum, als ob er etwas suche. Er spricht nicht. Er lauscht auch mehr den Lauten der Tiere als den Stimmen der Jünger, die einige Schritte hinter ihm hergehen und sich unterhalten.

Eine Glocke läutet in der Ferne, doch der Wind bringt den Klang eines Glöckleins mit sich. Jesus lächelt. Er wendet sich um und sagt: «Ich höre Schafe.»

«Wo, Meister?»

«Ich glaube, dort hinten, doch das Gebüsch verdeckt mir die Sicht.»

Johannes sagt nichts. Er legt das Oberkleid ab - den Mantel haben sie alle aufgerollt über die Schulter gelegt, denn es ist heiß geworden - und klettert, nur mit dem Unterkleid angetan, an einem hohen, glatten Baumstamm hoch und höher, bis er endlich sehen kann. «Ja, Meister, große Herden und drei Hirten sind dort hinter dem Laubwerk.» Johannes

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steigt wieder vom Baum herab, und sie können nun zielsicher weitergehen.

«Werden sie es sein?»

«Wir werden fragen, Simon, und wenn sie es nicht sind, werden sie uns Bescheid sagen... Sie kennen sich ja untereinander.»

Noch etwa hundert Meter, dann kommt eine weite, grüne Weide, ganz umsäumt von großen, alten Bäumen. Viele Schafe bewegen sich auf dem gewellten Rasen und fressen das üppige Gras. Drei Männer blicken auf sie. Einer von ihnen ist alt und ganz weißhaarig; die beiden anderen sind etwa dreißig bis vierzig Jahre alt.

«Sei vorsichtig, Meister, sie sind Hirten!» rät Judas, als er sieht, daß Jesus sich beeilt.

Doch Jesus antwortet ihm nicht. Er geht groß und schön in seinem weißen Gewande, die Abendsonne auf dem Antlitz, dahin. Er sieht wie ein Engel aus, so strahlend ist er.

«Der Friede sei mit euch, Freunde!» grüßt er, als er am Rand der Wiese ist.

Die drei wenden sich ihm erstaunt zu. Es folgt ein Schweigen. Dann stellt der Alte die Frage: «Wer bist du?»

«Einer, der dich liebt!»

«Da wärest du nach vielen Jahren der erste. Woher kommt ihr?»

«Aus Galiläa.»

«Oh! ...» Der Alte betrachtet Jesus aufmerksam. Auch die anderen beiden kommen nun näher. «Von Galiläa?» wiederholt der Hirte und fügt leise, wie für sich selbst hinzu: «Auch er kam von Galiläa... Aus welchem Ort, Herr?»

«Aus Nazareth.»

«Oh, dann sage mir... ist dir nie ein Kind mit einer Frau namens Maria und einem Mann mit Namen Joseph begegnet, die dorthin zurückgekehrt sind? Es war ein Kind, noch schöner als die Mutter; nie habe ich ein schöneres auf den Hügeln Judäas gesehen. Ein Kind, geboren in Bethlehem von Juda zur Zeit des Ediktes. Ein Kind, das zum großen Glück für die Welt fliehen konnte. Mein Leben würde ich geben, um zu erfahren, ob es noch lebt; es muß bereits ein Mann geworden sein.»

«Warum sagst du, daß es ein großes Glück für die Welt gewesen ist, daß es fliehen konnte?»

«Weil es der Erlöser, der Messias war und Herodes es töten wollte. Ich war nicht hier, als es mit dem Vater und der Mutter verschwand. Als ich zurückkam und von dem Kindermord hörte... denn auch ich hatte Kinder (ein Seufzer), Herr, und eine Frau (ein Seufzer), und ich mußte erfahren, daß sie getötet worden waren (ein weiterer Seufzer). Doch ich schwöre dir beim Gott Abrahams: ich zitterte mehr um ihn als um mein eigenes Fleisch und Blut. Ich erfuhr, daß sie hatten fliehen können, aber nichts

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weiter. Mir ward nicht einmal erlaubt, die ermordeten Kinder an mich zu nehmen... und die Steine flogen auf mich zu wie auf einen Aussätzigen, einen Unreinen, und ich wurde als Mörder verfolgt. Ich mußte in die Wälder flüchten und wie ein Wolf leben, bis ich einen neuen Herrn gefunden hatte. Oh, Anna ist nicht mehr... Das Leben ist hart und grausam! Wenn ein Schaf verunglückt, wenn der Wolf ein Lamm zerreißt, und ich dafür auch bis aufs Blut geprügelt oder um den kargen Lohn betrogen werde; wenn ich in den Wäldern für andere arbeiten muß und irgend etwas passiert und ich dann auch noch bezahlen muß, stets das dreifache des Wertes: all das macht mir nichts aus. Ich habe zum Allerhöchsten gesagt: "Laß mich deinen Messias sehen, laß mich wenigstens wissen, ob er lebt... dann hat alles andere keine Bedeutung für mich". Herr, ich habe dir gesagt, wie ich von den Bethlehemiten behandelt worden bin und wie mein Arbeitgeber mit mir umgeht. Ich hätte Böses mit Bösem vergelten können, um nicht unter meinem Arbeitgeber Not leiden zu müssen. Aber ich wollte nur verzeihen, leiden, ehrbar sein; denn die Engel hatten gesagt: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind."»

«Sagten sie wirklich so?»

«Ja, Herr, du mußt es glauben, denn du wenigstens bist gut. Du weißt und glaubst, daß der Erlöser geboren ist. Niemand will es mehr glauben. Doch die Engel lügen nicht... und wir waren nicht betrunken, wie man sagte. Dieser hier war damals noch ein Kind, und er hat den Engel zuerst gesehen. Er hatte nur Milch getrunken. Kann Milch betrunken machen? Die Engel haben gesagt: "Heute ist in der Stadt Davids der Erlöser geboren, der Christus, der Herr ist. Ihr werdet ihn daran erkennen: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend."»

«Sagten sie wirklich so? Habt ihr nicht falsch verstanden? Irrt ihr euch nicht nach so langer Zeit?»

«O nein; nicht wahr, Levi? Um es nicht zu vergessen - wir hätten es nicht vergessen können, da diese Worte des Himmels mit Feuer in unseren Herzen eingebrannt waren - sagen wir es jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht, und jeden Abend, wenn der erste Stern leuchtet als Gebet, um Segen, Kraft und Stärke in seinem und dem Namen seiner Mutter zu erhalten.»

«Oh, sagtet ihr "Christus"?»

«Nein, Herr, wir sagen: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind, durch Jesus Christus, der von Maria geboren wurde in einem Stall zu Bethlehem, der, eingewickelt in Windeln, in einer Krippe lag und der Welterlöser ist."»

«Wen sucht ihr also?»

«Jesus Christus, den Sohn Marias, den Nazarener, den Erlöser!»

«Ich bin es.»

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Jesus erstrahlt, als er dies sagt und sich diesen Liebenden offenbart, die so treu, ausdauernd und geduldig sind.

«Du! Oh, Herr! Der Erlöser, unser Jesus?!» Die drei Hirten fallen auf die Knie und küssen, weinend vor Freude, seine Füße.

«Steht auf, steht auf, Elias, und auch du, Levi, und du, dessen Namen ich nicht kenne.»

«Er ist Joseph, Sohn des Joseph.»

«Diese hier sind meine Jünger: Johannes der Galiläer, Simon und Judas aus Judäa.»

Die Hirten haben ihre Gesichter erhoben, bleiben jedoch auf den Knien und beten den Erlöser mit liebevollen Blicken an, mit vor Rührung bebenden Lippen, abwechselnd rot und blaß vor Freude. Jesus läßt sich ins Gras nieder.

«Nein, Herr, du sollst dich nicht ins Gras setzen, du nicht, du bist der König Israels.»

«Laßt mich, Freunde; ich bin arm. Ein Zimmermann für die Welt. Reich nur an Liebe für die Welt und an Liebe, welche die Guten mir schenken. Ich bin gekommen, um mit euch zu sein, am Abend das Brot mit euch zu brechen, um an eurer Seite auf dem Heulager zu schlafen und bei euch Trost zu finden.»

«Oh, Trost?! Wir sind rauh und verfolgt.»

«Auch ich bin verfolgt worden; doch ihr gebt mir das, was ich suche: Liebe, Glauben und Hoffnung, die die Jahre überdauern und zum Blühen gelangen. Seht ihr? Ihr habt verstanden ohne zu zweifeln, darauf zu warten, daß ich komme. Und ich bin gekommen!»

«O ja, du bist gekommen. Wenn ich nun sterben sollte, so hätte ich keine unerfüllte Hoffnung mehr.»

«O nein, Elias, du wirst leben bis nach dem Triumph des Christus. Du hast meinen Anfang gesehen, und du sollst auch meine Verherrlichung schauen. Und wo sind die anderen? Ihr wart doch zwölf: Elias, Levi, Samuel, Jonas, Isaak, Tobias, Jonathan, Daniel, Simeon, Johannes, Joseph und Benjamin. Meine Mutter nannte mir immer eure Namen, als die Namen meiner ersten Freunde.»

Die Hirten sind immer mehr gerührt.

«Wo sind die anderen?»

«Der alte Samuel ist schon seit zwanzig Jahren gestorben, an Altersschwäche. Joseph wurde ermordet, weil er vor der verschlossenen Tür die Frau verteidigte, die erst einige Stunden zuvor ein Kind geboren hatte, und ihr zur Flucht mit dem Kind verhalf. Levi habe ich auch zu mir genommen. Er ist verfolgt worden. Benjamin ist mit Daniel Hirte im Libanon. Simon, Johannes und Tobias, der sich nun zum Andenken an seinen Vater, der ebenfalls getötet wurde, Matthias nennt, sind Jünger Johannes des Täufers. Jonas steht in der Ebene von Esdrelon im Dienst eines Pharisäers.

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Isaak lebt mit seinen kranken Nieren im tiefsten Elend und allein in Jutta. Wir helfen ihm, so gut wir können; doch wir sind selbst alle Verstoßene, und unsere Hilfe ist wie ein Tautropfen in einem Brand. Jonathan ist nun Diener bei einem Großen des Herodes.»

«Wie seid ihr, besonders Jonathan, Jonas, Daniel und Benjamin, zu solchen Posten gekommen?»

«Ich erinnere mich an Zacharias, deinen Verwandten... deine Mutter hatte mich damals zu ihm gesandt. Als wir nun als Verfolgte und Verfluchte in den Schluchten Judäas waren, führte ich die Hirten zu ihm. Er war gut. Er bewahrte sie vor dem Hungertod und suchte ihnen Arbeitgeber. Er tat, was er konnte. Ich hatte vom Herodianer schon alle Herden der Anna übernommen... und bin geblieben. Als der Täufer Mann geworden war, begann er zu predigen. Simon, Johannes und Tobias sind mit ihm gegangen.»

«Doch jetzt ist der Täufer eingekerkert.»

«Ja, und sie halten Wache bei Machaerus mit einer Handvoll Schafe, um nicht verdächtig zu erscheinen. Ein Reicher hat ihnen die Schafe gegeben, ein Jünger des Johannes, deines Verwandten.»

«Ich möchte sie alle sehen.»

«Ja, Herr, wir wollen alle gehen und ihnen sagen: "Kommt, er lebt, er denkt an euch und liebt euch."»

«Und er will euch zu seinen Freunden machen.»

«Ja, Herr!»

«Doch zuvor wollen wir zu Isaak gehen. Wo sind Samuel und Joseph begraben?»

«Samuel in Hebron. Er ist im Dienste des Zacharias geblieben. Joseph hat kein Grab. Er verbrannte mit seinem Haus.»

«Nicht in den Flammen der Grausamen, sondern in den Flammen des Herrn; bald wird er in der Herrlichkeit sein. Ich sage es euch. Dir Joseph, Sohn des Joseph, sage ich es. Komm her, damit ich dich küssen und so deinem Vater danken kann.»

«Und meine Kinder?»

«Sie sind Engel, Elias. Engel, die das Gloria wiederholen werden, wenn der Erlöser gekrönt werden wird.»

«Zum König?»

«Nein, als Erlöser! O Schar der Gerechten und Heiligen! Und voran die weißen und purpurnen Reihen der gemarterten Kinder! Die Pforten der Limben werden geöffnet; zusammen ziehen wir in das Reich ein, das kein Ende kennt. Und ihr werdet Väter, Mütter und Kinder im Herrn wiedersehn! Glaubt nur!»

«Ja, Herr!»

«Nennt mich Meister. Es wird Abend. Der erste Stern erscheint. Sag dein Gebet vor dem Abendbrot!»

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«Nicht ich, du!»

«Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens und würdig sind, das Licht zu sehen und ihm zu dienen! Der Erlöser ist unter ihnen. Der Hirte aus königlichem Geschlecht ist bei seiner Herde. Der Morgenstern ist aufgegangen. Freut euch, ihr Gerechten! Freut euch im Herrn! Er, der das Gewölbe der Himmel erschaffen und mit Sternen besät hat; er, der die Meere als Grenzen der Erdteile gesetzt hat; er, der die Winde und den Tau bildet und den Verlauf der Jahreszeiten regelt, um seinen Kindern Brot und Wein zu schenken; er will euch jetzt die kostbarste Nahrung geben: das lebendige Brot, das vom Himmel kommt, und den Wein des ewigen Rebstocks! Kommt, ihr meine ersten Anbeter. Kommt, um den Vater in Wahrheit kennenzulernen, ihm in Heiligkeit zu folgen und ewigen Lohn zu erhalten!» Jesus hat stehend und mit ausgebreiteten Armen gebetet, während die Hirten und Jünger knieten.

Es wird Brot gereicht und in einer Schüssel frisch gemolkene Milch. Und da nur drei Schüsselchen oder ausgehöhlte Gurken vorhanden sind, essen zuerst Jesus, Simon und Judas, dann Johannes, dem Jesus seine Schüssel gibt, Levi und Joseph und als letzter Elias.

Die Schafe blöken nicht mehr; sie drängen sich zu einem großen Haufen zusammen und warten darauf, daß man sie an einen geschlossenen Ort bringt. Ich sehe, wie die drei Hirten sie in das Wäldchen unter eine Überdachung treiben, die aus mit Stricken zusammengebundenen Zweigen besteht. Sie bereiten dann ein Heulager für Jesus und die Jünger.

Es werden auch einige Feuer angezündet; vielleicht um die wilden Tiere fernzuhalten.

Judas und Johannes sind müde und schlafen sofort ein. Simon möchte Jesus Gesellschaft leisten, doch auch er fällt bald, noch im Sitzen und mit dem Rücken an einen Pfosten gelehnt, in einen tiefen Schlaf. Jesus und die Hirten bleiben wach. Sie sprechen von Joseph, von Maria, von der Flucht nach Ägypten und der Rückkehr nach Nazareth; und dann, nach all den Fragen der Liebe, die Frage nach Höherem: Was tun, um Jesus zu dienen? Wie können sie, die einfachen Hirten, es tun?

Und Jesus belehrt und erklärt: «Nun gehe ich nach Judäa. Ihr werdet durch die Jünger immer informiert werden. Dann lasse ich euch nachkommen. Inzwischen vereint ihr euch. Sorgt dafür, daß es einer vom anderen erfahre, damit alle von meiner Gegenwart als Meister und Erlöser auf dieser Erde hören. Macht es bekannt, wie ihr könnt. Ich verspreche euch nicht, daß man euch Glauben schenkt. Auch ich bin Spott und Ablehnung begegnet. Euch wird es ebenso gehen. Doch wie es euch bisher möglich war, stark und gerecht zu bleiben in eurer Erwartung, seid es um so mehr jetzt, da ihr zu mir gehört. Morgen werden wir nach Jutta gehen. Dann nach Hebron. Wollt ihr mitkommen?»

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«O ja... Die Straßen gehören allen, und die Weiden gehören Gott. Nur Bethlehem ist uns untersagt infolge des ungerechten Hasses. Auch in anderen Gebieten kennt man uns; doch dort verachten sie uns nur und nennen uns "Säufer". Daher können wir hier nur wenig tun.»

«Ich werde euch anderswohin rufen. Ich werde euch nicht verlassen.»

«Das ganze Leben lang?»

«Mein ganzes Leben lang.»

«Ich werde vor dir sterben, Meister, denn ich bin alt.»

«Glaubst du? Ich glaube es nicht. Eines der ersten Gesichter, die ich auf Erden sah, war das deinige, Elias, und es wird auch eines der letzten sein. Ich werde in meinen Pupillen deinen vom Schmerz über meinen Tod erschütterten Blick mitnehmen. Dann aber wirst du im Herzen einen triumphalen, strahlenden Morgen schauen, und mit diesem Eindruck wirst du den Tod erwarten... den Tod; die ewige Begegnung mit Jesus, den du als Kind angebetet hast. Auch dann werden die Engel das Gloria singen "für die Menschen, die guten Willens sind".»

Ich höre nichts mehr, die süße Vision entschwindet, endet.

112. JESUS IN JUTTA BEIM HIRTEN ISAAK

Ich sehe ein frisches Tal, in dem ein nach Süden fließender Wildbach plätschert. Er versprüht seine fröhliche Frische über die Weiden und anscheinend auch über die Abhänge, die smaragdgrün sind in allen möglichen Schattierungen, und dieses Grün wirkt sich von der Talsohle über die Büsche und Sträucher bis zu den Gipfeln der hohen Bäume aus. Unter letzteren befinden sich viele Nußbäume und typische Waldbäume. Rundherum viele saftige Weideplätze für die Tiere.

Jesus geht mit seinen Jüngern und den drei Hirten zum Bach. Geduldig wartet er, wenn ein Schaf sich verspätet oder einer der Hirten einem verirrten Lämmlein nachgehen muß. Er ist nun wahrlich der gute Hirte. Auch er hat sich mit einem langen Zweig versehen, um die Ranken der Brombeeren und des Weißdorns und auch die Waldreben zur Seite zu schieben, die überall wachsen und sich an die Kleider heften. Seine Gestalt ist wirklich die eines Hirten.

«Siehst du, Jutta liegt dort unten. Wir gehen jetzt über den Bach. Dort ist eine Furt; im Sommer ist das Wasser hier sehr niedrig, und so ist keine Brücke nötig. Von Hebron aus wäre der Weg kürzer gewesen, doch du hast nicht gewollt.»

«Nein, Hebron besuchen wir erst nachher. Zuerst muß man dorthin gehen, wo ein Mensch leidet. Die Toten leiden nicht mehr, wenn sie im Leben gerecht gewesen sind. Und Samuel war ein Gerechter. Es ist nicht

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notwendig, das Gebet, auf das die Toten angewiesen sind, an ihrer Begräbnisstätte zu verrichten.

Die Gebeine? Was sind sie ? Ein Beweis der Macht Gottes, der den Menschen aus Staub erschuf. Nicht mehr! Auch das Tier hat Gebein. Sein Skelett ist nicht so vollkommen wie das des Menschen, und nur der Mensch hat als Krönung der Schöpfung eine aufrechte Haltung; er, der König der Schöpfung, der König seiner Untertanen, hat sein Gesicht nach vorne gerichtet und muß seinen Hals nicht krümmen, um nach oben zu blicken, nach oben, wo der Vater wohnt. Aber es sind dennoch nur Knochen: Staub, der zu Staub wird. Die ewige Güte hat beschlossen, am Tag der Ewigkeit den Leib zu erneuern, um dem Seligen eine noch lebendigere Freude zu schenken. Stellt euch vor: die Geister werden nicht nur vereint sein und sich wie auf Erden, aber noch viel mehr, lieben; sie werden sich auch an der Gestalt, die sie auf Erden hatten, wiedersehen: Kinder, lockig und lieb, wie die deinen, Elias; Väter und Mütter, wie die euren, Levi und Joseph, voller Liebe im Blick und im Herzen. Und du, Joseph, wirst endlich die Gesichter jener kennen, nach denen du dich sehnst. Keine Waisen und keine Verwitweten unter den Gerechten wird es dort mehr geben...

Man kann überall für die Toten beten. Es ist das Gebet des Geistes, für den Geist dessen, der uns verbunden war, zum vollkommenen Geist, der Gott und überall ist. O heilige Freiheit alles Geistigen! Keine Entfernungen, keine Exile, keine Kerker, keine Gräber... Nichts Trennendes oder Beengendes in einer schmerzlichen Ohnmacht für alles, was außerhalb und über den Ketten des Fleisches liegt. Ihr geht mit eurem besten Teil zu euren Lieben, und sie kommen mit ihrem besten Teil zu euch. In dieser Vereinigung der Geister, die sich lieben, kreist alles um den ewigen Feuerball, um Gott, den vollkommenen Geist, Schöpfer alles Geschaffenen. Und alles, was war, ist und sein wird, wird Liebe, die euch liebt und euch zu lieben lehrt...

Doch hier sind wir an der Furt, nehme ich an. Ich sehe eine Reihe von Steinen, die sich aus dem niedrigen Wasser erheben.»

«Ja, es stimmt, Meister. Bei Hochwasser ist es ein rauschender Wasserfall; jetzt ist es nur ein spärliches Wasser, das sich lächelnd zwischen sechs großen Steinen hindurchschlängelt.»

Wirklich, sechs große quadratische Steine liegen in kurzem Abstand auf dem Grund des Baches, und das Wasser, das zuvor wie ein glänzendes Band dahinfloß, teilt sich in sieben schmälere Bänder, sich beeilend und fröhlich, um sich nach dem Übergang wieder zu vereinigen und plappernd den Weg über die Kiesel fortzusetzen.

Die Hirten achten auf die Überquerung der Schafe, die teils von Stein zu Stein hüpfen, teils es vorziehen, im nur handtiefen Wasser zu waten und aus den schäumenden Fluten zu trinken.

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Jesus benützt die Steine, und die Jünger folgen ihm. Am anderen Ufer setzen sie ihren Weg fort.

«Du hast mir gesagt, du wolltest Isaak mitteilen lassen, daß du hier bist, doch ohne ins Dorf zu gehen.»

«Ja, das möchte ich.»

«Dann wird es gut sein, wenn wir uns trennen. Ich werde zu ihm gehen, Levi und Joseph bleiben bei den Herden und bei euch. Ich werde hier hinaufsteigen, das geht rascher.» Elias macht sich daran, das Ufer hinaufzusteigen; er geht auf einen hellen Punkt zu, der aus Häusern besteht, die in der Sonne glänzen.

Mir scheint, daß ich ihm folge. Hier sind schon die ersten Häuser. Er biegt in ein Sträßlein, das zwischen Häusern und Gärten hindurchführt, und geht auf diesem einige zehn Meter weiter. Dann nimmt er eine breitere Straße und kommt auf einen Platz. Ich habe vergessen zu sagen, daß sich dies in den ersten Morgenstunden abspielt. Ich sage es jetzt als Erklärung dafür, daß auf dem Platze immer noch Markt ist und Hausfrauen und Händler unter den Bäumen, die den Platz beschatten, handeln.

Elias geht zielsicher bis zu der Stelle, an der der Platz wieder zur Straße, einer schönen Straße, wird. Vielleicht ist es die schönste des Ortes. In der Ecke ist ein kleines Haus, nur ein Raum mit der offenstehenden Türe. Gleich bei der Türe ein armes Lager und darauf ein zum Skelett abgemagerter Kranker, der jeden Vorübergehenden mit klagender Stimme um ein Almosen bittet.

Elias betritt das Haus wie ein Blitz: «Isaak, ich bin es!»

«Du? Dich habe ich nicht erwartet. Du warst beim letzten Mondwechsel hier.»

«Isaak, Isaak, weißt du, weshalb ich komme?»

«Nein! Du bist aufgeregt, was geht vor?»

«Ich habe Jesus von Nazareth gesehen; er ist ein Mann geworden und nunmehr ein Rabbi. Er hat mich aufgesucht... und nun will er dich sehen. Oh, Isaak, geht es dir schlecht?»

Isaak ist zusammengefallen, als läge er im Sterben. Doch dann rafft er sich zusammen. «Nein, es war nur die Nachricht. Wo ist er jetzt? Wie ist er? Oh, könnte ich ihn sehen!»

«Er ist drunten im Tal. Er schickt mich, dir zu sagen: "Komm, Isaak, ich will dich sehen und segnen." Nun werde ich jemand suchen, der mir hilft, dich zu ihm zu tragen.»

«Hat er genau das gesagt?»

«Ja, genau das. Aber was machst du denn?»

«Ich gehe.»

Isaak wirft die Decken zurück, bewegt die leblosen Beine, wirft sie vom Strohsack, stellt sie auf den Boden und steht etwas unsicher und wankend

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auf. All das geschieht in einem Augenblick unter den aufgerissenen Augen des Elias, der nun endlich begreift und schreit...

Eine neugierige Frau kommt an die Türe. Sie sieht den Kranken aufrecht stehen, der, da er nichts anderes hat, sich in eine der Decken hüllt, und sie rennt erschreckt davon und gackert wie eine Henne.

«Laßt uns gehen... hier herum, um rascher voranzukommen und keinen Menschenauflauf zu verursachen. Schnell, Elias!»

Sie gehen rasch durch ein kleines Türchen nach hinten in den Garten, stoßen den primitiven Verschluß aus dürrem Reisig auf, und draußen eilen sie durch ein armseliges Gäßchen, kommen zu einem Weg zwischen den Gärten und auf diesem durch Wiesen und Gebüsch hinab bis zum Bache.

«Dort ist Jesus», sagt Elias, auf ihn deutend. «Der große, schöne, blonde weißgekleidete junge Mann mit dem roten Mantel...»

Isaak rennt, durchbricht die blökende Herde und wirft sich mit dem Schrei des Triumphes, der Freude und der Anbetung Jesus zu Füßen.

«Steh auf, Isaak! Ich bin gekommen, dir Frieden und Segen zu bringen. Steh auf, damit ich dein Gesicht sehe!»

Doch Isaak kann nicht aufstehen. Es sind zu viele Aufregungen zusammengekommen... und so bleibt er glückselig weinend am Boden knien.

«Du bist sofort gekommen. Du hast nicht erst überlegt, ob du auch kannst.»

«Du hast mir sagen lassen, ich soll kommen, und ich bin gekommen.»

«Er hat nicht einmal die Türe geschlossen, noch die Almosen an sich genommen, Meister.»

«Das ist nicht nötig, die Engel werden über seine Behausung wachen. Bist du zufrieden, Isaak?»

«O Herr!»

«Nenne mich Meister!»

«Ja, Herr, mein Meister. Auch wenn ich nicht geheilt worden wäre, wäre ich glücklich, dich zu sehen. Wie konnte ich soviel Gnade bei dir finden?»

«Durch deinen Glauben und deine Geduld, Isaak. Ich weiß, wieviel du gelitten hast.»

«Nichts, gar nichts mehr! Ich habe dich gefunden! Du lebst und du bist hier! Das ist genug... alles, alles andere ist vorbei! Aber, Herr und Meister, nun gehst du nicht mehr fort, nicht wahr?»

«Isaak, ich muß ganz Israel die Frohe Botschaft bringen. Ich gehe... aber wenn ich auch nicht bleiben kann, so kannst du mir nun folgen und dienen. Willst du mein Jünger sein, Isaak?»

«Oh, ich werde nicht gut genug dafür sein!»

«Willst du bekennen, wer ich bin? Gegen Spötter und Drohungen für mich Zeugnis ablegen und sagen, daß ich dich gerufen habe und du gekommen bist?»

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«Auch wenn du es nicht wolltest, würde ich es allen erzählen. In diesem Punkt würde ich dir nicht gehorchen, Meister. Verzeihe mir, daß ich es sage.»

Jesus lächelt: «Siehst du, daß du zum Jünger tauglich bist?»

«Oh, wenn es nur das ist. Ich habe geglaubt, es wäre schwieriger, und man müßte in die Schule der Rabbis gehen, um dir dienen zu können, Meister der Meister... und als Greis zur Schule gehen ...» Der Mann ist mindestens fünfzig Jahre alt.

«Die Schule hast du hinter dir, Isaak!»

«Ich? Nein!»

«Doch! Hast du denn nicht ununterbrochen geglaubt, Gott und den Nächsten geliebt und geachtet, keine Eifersucht genährt und nicht begehrt, was Eigentum der anderen war, und selbst dein Eigentum nicht zurückverlangt und dich stets bemüht, nicht zu sündigen? Hast du in diesen dreißig Jahren des Leidens nicht all dies geübt?»

«Ja, Meister!»

«Du siehst, die Schule hast du hinter dir. Mach so weiter und verkünde außerdem meine Gegenwart in der Welt! Anderes ist nicht erforderlich.»

«Ich habe schon von dir gepredigt, Herr Jesus! Als ich vertrieben worden war und hier in der Gegend um etwas Brot bettelte und nur noch kleine Arbeiten machen konnte, weil die Krankheit schlimmer wurde und mich von den Hüften nach unten lähmte, da kamen die Kinder an mein Lager. Und ich erzählte ihnen von dir, den Kindern von damals und ihren Kindern jetzt. Die Kinder sind gut und glauben immer... Ich erzählte von deiner Geburt, von den Engeln, vom Stern und von den Waisen; auch von deiner Mutter. Oh, sage mir, lebt sie noch?»

«Sie lebt und läßt dich grüßen. Sie erzählte immer von euch.»

«Oh, wenn ich sie sehen könnte!»

«Du wirst sie sehen; eines Tages wirst du in mein Haus kommen, und Maria wird dich begrüßen als Freund!»

«Maria... ja. Es ist, als hätte ich Honig in meinem Munde, wenn ich diesen Namen ausspreche. Hier, in Jutta, ist eine Frau, die seit kurzem Mutter ihres vierten Kindes geworden ist; als sie selbst noch Kind war, gehörte sie zu meinen kleinen Freunden, und ihren Kindern hat sie diese Namen gegeben: Maria und Joseph den beiden ersten, und dem dritten, da sie es nicht Jesus zu nennen wagte, Emmanuel... als Segen für sich selbst, ihr Haus und Israel. Nun denkt sie seit sechs Tagen darüber nach, welchen Namen sie dem vierten Kinde geben solle. Oh, wenn sie erfährt, daß ich geheilt worden bin! Und erst, daß du hier bist! Sara ist gut wie das Brot der Mutter, und auch Joachim, ihr Mann, ist sehr gut. Auch die Eltern! Ihnen verdanke ich, daß ich noch lebe. Sie haben mir ein Obdach gewährt und mir immer geholfen.»

«Laß uns zu ihnen gehen, für die Stunden der heißen Sonne um Obdach bitten und um ihnen für ihre Liebe Segen zu bringen.»

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«Nehmen wir diesen Weg, Meister! Er ist einfacher für die Herde, und wir können den Menschen ausweichen, die sicher aufgeregt sein werden. Die Alte, die mich beim Aufstehen gesehen hat, hat bestimmt schon alles ringsum erzählt.»

Sie gehen eine Weile den Bach entlang, dann wenden sie sich nach Süden und schlagen einen schmalen Weg ein, der steil ansteigt und einem Bergvorsprung folgt, der wie ein Schiffsbug aussieht. Ich erkenne den Ort. Er ist unverwechselbar. Dort, wo Jesus während einer Vision im Frühjahr mit den Kindern gesprochen hat. Das übliche Mäuerchen, welches das zum Tal abfallende Gut abgrenzt. Ich sehe die Wiesen mit den Apfel-, Feigen- und Nußbäumen; hier das weiße Haus im Grünen, mit seinem vorspringenden Flügel, der die Stufen überdacht und gleichzeitig eine Vorhalle bildet... dort die kleine Kuppel auf dem höheren Teil, dann der Garten mit dem Brunnen, mit der Laube und den Beeten...

Laute Stimmen kommen aus dem Hause. Isaak geht voraus. Er tritt ein und ruft mit kräftiger Stimme: «Maria, Joseph, Emmanuel, wo seid ihr? Kommt zu Jesus!»

Drei Kinder kommen: ein Mädchen von etwa fünf Jahren und zwei Knaben von vier und zwei Jahren; der kleinste ist noch etwas unsicher im Gehen. Sie bleiben offenen Mundes stehen vor dem... "Auferstandenen". Dann schreit das Mädchen: «Isaak, Mama, Isaak ist hier! Judith hat richtig gesehen!»

Aus einem Zimmer, in dem ein großes Stimmengewirr zu hören ist, kommt eine Frau: die blühende Mutter! Braun, groß, wohlgestaltet und schön in ihren Festkleidern: einem hellen Leinenkleid, das wie ein reichgeschmücktes Hemd vom Hals bis zu den Fersen reicht und in den kräftigen Hüften von einem Schal mit verschiedenfarbigen Streifen gehalten wird. Ein leichter Schleier, mit Rosenranken bestickt, liegt auf den schwarzen Zöpfen und fällt über die Brust und die Schultern herab. An der Stirne wird der Schleier von einem Reifen aus kleinen Medaillen gehalten, die mit Kettchen untereinander verbunden sind. Schwere Ohrringe hängen an den Ohren, und am Halse wird die Tunika von einer Halskette, die durch Ösen am Kleide gezogen ist, gehalten. An den Armen schwere silberne Armreifen.

«Isaak! Aber! ... Judith... Ich hatte schon geglaubt, sie hätte einen Sonnenstich bekommen... Du kannst ja gehen? Was ist geschehen? ...»

«Der Erlöser! Oh, Sara! Er ist es... er ist gekommen!»

«Wer? Jesus von Nazareth? Wo ist er?»

«Hinter dem Nußbaum, und er läßt fragen, ob du ihn aufnehmen willst.»

«Joachim, Mutter, ihr alle, kommt! Der Messias ist da!»

Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder kommen schreiend... doch als sie Jesus groß und majestätisch erblicken, verlieren sie die Hast und bleiben wie erstarrt stehen.

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«Der Friede sei mit diesem Hause und euch allen. Der Friede und der Segen Gottes!» Jesus geht langsam und lächelnd auf die Gruppe zu:

«Freunde, wollt ihr den Wanderer aufnehmen?» Und er lächelt wieder.

Sein Lächeln besiegt die Angst. Der Mann faßt Mut und spricht: «Tritt ein, Messias! Wir haben dich geliebt, ohne dich zu kennen. Mehr noch wollen wir dich lieben, da wir dich nun kennen. Das Haus ist festlich gestimmt aus drei Gründen: deinetwegen, Isaaks wegen und anläßlich der Beschneidung meines dritten Knaben. Segne ihn, Meister! Frau, bring das Kind! Komm herein, Herr!»

Sie betreten einen festlich geschmückten Raum. Überall mit Speisen bedeckte Tische, Teppiche und Blumen. Sara kommt mit einem schönen Säugling auf den Armen zurück und zeigt ihn Jesus.

«Gott sei immer mit ihm! Welchen Namen hat das Kind?»

«Bis jetzt noch keinen! Das ist Maria, da sind Joseph und Emmanuel und er hat noch keinen Namen.»

Jesus betrachtet das nahestehende Ehepaar und lächelt: «Sucht einen Namen, wenn er heute beschnitten werden soll.»

Die beiden schauen sich an, blicken auf Jesus, öffnen den Mund und schließen ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Alle sind voller Erwartung.

Jesus drängt: «Es gibt viele große, schöne und gesegnete Namen in der Geschichte Israels. Die schönsten und gesegnetsten sind schon vergeben. Doch vielleicht gibt es noch einen ...»

Das Ehepaar sagt im gleichen Augenblick: «Deinen, Herr!»; doch die Frau fügt hinzu: «Er ist zu heilig.»

Jesus lächelt und fragt: «Wann wird er beschnitten?»

«Wir warten auf den Beschneider.»

«Ich werde bei der Zeremonie zugegen sein. Ich bedanke mich bei euch für meinen Isaak. Er braucht nun die Hilfe der Guten nicht mehr. Doch die Guten haben immer die Hilfe Gottes nötig. So nennt den drittgeborenen Sohn: "Gott mit uns." Gott ist mit euch, seit ihr meinem Diener Liebe erwiesen habt. Seid gesegnet! Auf Erden und im Himmel wird eurer guten Tat gedacht werden.»

«Geht Isaak nun fort? Verläßt er uns?»

«Tut es euch leid? Er muß seinem Meister dienen. Er wird aber zurückkommen, wie auch ich wiederkommen werde. Ihr werdet indessen vom Messias sprechen... Es ist vieles zu sagen, um die Welt zu überzeugen! Doch hier kommt der Erwartete.»

Ein vornehm Gekleideter in Begleitung eines Dieners kommt herein. Begrüßungen und Verbeugungen. «Wo ist das Kind?» fragt er gebieterisch.

«Es ist hier. Doch begrüße erst den Messias. Er ist hier.»

«Der Messias? ... Hat er Isaak geheilt? Ich weiß davon, doch wir wollen nachher darüber reden. Ich habe es eilig. Das Kind und seinen Namen!»

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Die Anwesenden sind beschämt über das Gebaren des Mannes. Doch Jesus lächelt, als ob die Unarten nicht für ihn bestimmt wären. Er nimmt den Kleinen, berührt mit seinen schönen Fingern die Stirne, als wolle er ihn segnen, und sagt: «Sein Name ist Jesaias.» Dann gibt er den Knaben seinem Vater, der nun mit dem hochmütigen Mann und anderen in ein Zimmer nebenan geht. Jesus bleibt wartend zurück, bis sie mit dem verzweifelt schreienden Kinde zurückkommen.

«Gib mir das Kind, Frau. Es wird nicht mehr weinen», sagt er, um die verängstigte Mutter zu trösten. Das Kind ist auf den Knien Jesu sofort still. Jesus bildet mit den Kindern, die ihn umringen, und den Hirten und Jüngern eine Gruppe. Draußen blöken die Schafe, welche Elias in einen Verschlag gesperrt hat. Im Hause herrscht eine festliche Stimmung. Man bringt Jesus und seinen Gefährten Süßigkeiten und Getränke. Doch Jesus verteilt seinen Anteil unter die Kinder.

«Trinkst du nicht, Meister? Nimmst du nichts? Es ist von Herzen gern gegeben.»

«Ich weiß es, Joachim, und von Herzen gern nehme ich es an. Doch lasse mich erst die Kinder glücklich machen. Sie sind meine Freude ...»

«Achte nicht auf den Mann, Meister!»

«Nein, Isaak. Ich bete, damit er das Licht sieht. Johannes, nimm die beiden Kinder und zeige ihnen die Lämmlein. Und du, Maria, komm näher und sage mir: Wer bin ich?»

«Du bist Jesus, der Sohn der Maria von Nazareth, in Bethlehem geboren. Isaak hat dich gesehen und hat mir den Namen deiner Mutter gegeben, damit ich immer brav bleibe.»

«Gut wie der Engel Gottes, reiner als eine auf dem Gipfel der Berge erblühte Lilie und fromm wie der heiligste Levit sollst du sein, um sie nachzuahmen. Wirst du so sein?»

«Ja, Jesus.»

«Sage Meister oder Herr, Kind!»

«Laß nur; es soll mich mit meinem Namen nennen, Judas. Nur auf unschuldigen Lippen verliert er nicht den Klang, den er auf den Lippen meiner Mutter hat. Alle werden von nun an diesen Namen in allen Zeiten nennen, die einen aus diesem, die anderen aus einem anderen Grunde, und viele, um zu fluchen. Nur die Unschuldigen, ohne Berechnung und ohne Haß, wie dieses Kind und meine Mutter, werden ihn voller Liebe aussprechen. Auch die Sünder rufen mich an, aber um von mir Erbarmen zu erflehen. Doch meine Mutter und die Kinder! ... Warum nennst du mich Jesus?» fragt er, die Kleine liebkosend.

«Weil ich dich liebhabe wie meinen Vater, meine Mutter und meine Brüderchen», sagt sie, umfaßt die Knie Jesu und blickt dabei vertrauend auf zu ihm.

Jesus neigt sich liebevoll und küßt das Kind. So endet alles.

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113. JESUS IN HEBRON - DAS HAUS DES ZACHARIAS - AGLAIA

«Wann werden wir ankommen?» fragt Jesus, der inmitten der Gruppe geht. Die Schafherde trottet weidend hinten nach.

«Um die dritte Stunde. Es sind ungefähr zehn Meilen», antwortet Elias.

«Gehen wird dann nach Kerioth?» fragt Judas.

«Ja, wir werden dorthin gehen.»

«Wäre der Weg von Jutta nach Kerioth nicht kürzer? Es muß doch gar nicht so weit sein, nicht wahr, du, Hirte?»

«Zwei Meilen ungefähr.»

«So machen wir mehr als zwanzig Meilen umsonst.»

«Judas, warum bist du so unmutig?» fragt Jesus.

«Nicht unmutig, Meister. Doch du hattest mir versprochen, in mein Haus zu kommen ...»

«Ich werde kommen. Immer halte ich mein Versprechen.»

«Ich habe meine Mutter benachrichtigen lassen... und du hast übrigens gesagt, den Toten ist man auch im Geiste nah.»

«Ich habe es gesagt. Aber, Judas, überlege einmal, ob du meinetwegen schon hast leiden müssen. Sie leiden seit dreißig Jahren und haben mich noch nie verleugnet, nicht einmal in Gedanken! Sie wußten nicht, ob ich noch am Leben oder schon längst gestorben sei, und doch sind sie treu geblieben. Sie erinnern sich meiner, seit ich eben geboren war, ein Kleinkind, das nur weinte und Milch nötig hatte; und trotzdem haben sie mich immer als Gott verehrt. Meinetwegen wurden sie geschlagen, verflucht, verfolgt: wie eine Schande Judäas behandelt. Doch ihr Glaube wankte nie bei all den Schlägen und wurde nicht geschwächt, sondern schlug immer tiefere Wurzeln und wurde immer lebendiger.»

«Seit einigen Tagen brennt mir eine Frage auf den Lippen: sie sind deine Freunde und Gottes Freunde, nicht wahr? Die Engel haben sie gesegnet mit dem Frieden des Himmels, nicht wahr? Sie blieben gerecht gegen alle Versuchungen, nicht wahr? Erkläre mir nun, warum sind sie so unglücklich geworden? Und Anna? Sie wurde ermordet, weil sie es gut mit dir meinte...»

«Du schließt also daraus, daß meine Liebe und die Liebe zu mir Unglück bringen.»

«Nein... aber...»

«Aber es ist so! Es mißfällt mir, dich dem Lichte noch so verschlossen und ganz vom Menschlichen erfüllt zu sehen. Laß ihn gewähren, Johannes, und auch du, Simon... Es ist mir lieber, wenn er spricht. Ich mache nie Vorwürfe. Ich wünsche nur Offenheit der Seelen, um sie erleuchten zu können. Komm hierher, Judas, und höre mir zu: du gehst von einer unter den Menschen aller Zeiten weit verbreiteten Ansicht aus. Ich sagte: Ansicht. Ich müßte jedoch sagen: Irrtum. Aber vorausgesetzt, daß ihr ohne Bosheit

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handelt und noch nicht wißt, was Wahrheit ist, handelt es sich nicht um Irrtum, sondern nur um ein unfertiges Urteil, wie das eines Kindes. Kinder seid ihr, arme Menschen! Und ich bin hier, euer Meister, um aus euch Erwachsene zu machen, die imstande sind, das Wahre vom Falschen, das Gute vom Bösen und das Bessere vom Guten zu unterscheiden. Hört mich also an!

Was ist das Leben? Es ist eine Zeit des Wartens, ich möchte sagen, der Vorhof der Limben, den Gottvater euch gibt, um eure Natur als gute Kinder oder als Entartete zu prüfen, und euch in Anbetracht eurer Werke eine Zukunft zu bereiten, die ohne Warten oder Prüfungen sein wird. Nun sagt mir: wäre es gerecht, wenn einer, weil er das seltene Glück gehabt hat, die Art zu erkennen, Gott in besonderer Weise zu dienen, auch noch beständiges Glück im ganzen Leben hätte? Glaubt ihr nicht, daß er schon viel erhält und sich glücklich nennen darf, auch wenn er, menschlich gesehen, nicht glücklich ist? Wäre es nicht ungerecht, wenn einer, der schon das Glück einer göttlichen Kundgebung im Herzen und ein ruhiges Gewissen hat, welches dies bestätigt, obendrein noch irdische Ehren und Güter hätte? Wäre das nicht ungerecht und unklug?»

«Meister, ich sage, dies wäre auch entheiligend. Sind denn neben dir noch irdische Freuden nötig? Wie wäre es dann mit dir? Wenn einer dich hat, und sie haben dich gehabt, sie, die einzigen Reichen in Israel, weil sie dich seit dreißig Jahren besitzen, was braucht er dann noch? Man legt keinen profanen Gegenstand auf den Sühnealtar, und die heiligen Gefäße sind nur für heiligen Gebrauch bestimmt. Sie sind geheiligt seit dem Tage, an dem sie dein heiliges Lächeln sahen, und nichts, aber auch gar nichts, was außer dir ist, darf in ihr Herz einziehen, das dich schon besitzt. Wäre ich doch an ihrer Stelle!» sagt Simon.

«Aber du hast dich beeilt, nachdem du den Meister gesehen hast und geheilt worden bist, von deinen Gütern wieder Besitz zu ergreifen», bemerkt Judas ironisch.

«Das ist wahr. Ich habe es gesagt und getan. Doch weißt du warum? Wie kannst du urteilen, wenn du nicht alles weißt? Mein Agent hatte klare Anweisungen. Nachdem Simon der Zelote nun geheilt ist, und die Feinde ihm durch Isolierung nicht mehr schaden und ihn auch nicht verfolgen können, da er keiner Sekte mehr angehört, sondern nur noch Jesus, kann er über den Besitz verfügen, den ein ehrlicher und treuer Mensch für ihn verwaltet hat. Und ich, Besitzer noch für eine Stunde, habe alles in Ordnung bringen lassen, um beim Verkauf mehr Geld herauszuschlagen und um sagen zu können... nein, ich sage es nicht.»

«Die Engel werden es für dich sagen und ins ewige Buch einschreiben», ergänzt Jesus.

Simon betrachtet Jesus. Ihre Blicke begegnen sich, erstaunt der eine, segnend der andere.

«So habe ich wie immer unrecht!»

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«Nein, Judas. Du hast einen praktischen Sinn. Du selbst hast es gesagt.»

«Oh, aber mit Jesus! ... Auch Simon Petrus hing an seinem praktischen Sinn, und nun... Auch du, Judas, kannst wie Petrus werden. Du bist erst seit kurzem mit dem Meister zusammen, wir etwas länger, und wir haben uns schon ein wenig gebessert», sagt Johannes in seinem sanften und tröstenden Ton.

«Er hat mich nicht gewollt; sonst wäre ich schon an Ostern sein gewesen.» Judas ist heute richtig nervös.

Jesus unterbricht sie, und sagt zu Levi: «Bist du noch nie in Galiläa gewesen?»

«Doch, Herr!»

«Dann kommst du mit mir und führst mich zu Jonas. Kennst du ihn?»

«Ja, an Ostern sehen wir uns immer. Ich ging damals zu ihm.»

Joseph neigt beschämt das Haupt. Jesus sieht es. «Alle beide könnt ihr nicht mitkommen. Elias müßte mit den Schafen allein bleiben. Du kannst mit mir bis zur Furt am Jericho kommen, dort werden wir uns für einige Zeit trennen. Ich werde dir dann sagen, was du zu tun hast.»

«Haben wir nichts mehr zu tun?»

«Doch, Judas, auch ihr.»

«Man sieht schon Häuser», sagt Johannes, der den anderen einige Schritte vorausgeeilt ist.

«Es ist Hebron, auf einem Bergrücken zwischen zwei Wasserläufen. Siehst du, Meister, das Haus, dort, im Grünen versteckt und etwas höher als die anderen? Das ist das Haus des Zacharias.»

«Beeilen wir uns!»

Sie legen rasch die letzten Meter zurück und betreten das Dorf. Die Hufe der Schafe klappern auf dem unregelmäßigen Pflaster der Straße. Sie kommen dem Haus näher. Die Leute betrachten die Gruppe der Männer, die, im Weiß der Herde, so ungleich sind nach Alter und Kleidung.

«Oh, es sieht hier nun anders aus. Hier war das Tor...» sagt Elias.

Nun ist an Stelle des Gitters eine eiserne Türe, die die Sicht versperrt, und auch die einst niedrige Mauer ist nun mannshoch, so daß man nicht mehr über sie sehen kann.

«Vielleicht ist auf der Rückseite ein Eingang. Laßt uns nachschauen.» Sie gehen um das Geviert, doch überall ist die Mauer gleich hoch.

«Diese Mauer muß erst vor kurzem gebaut worden sein», sagt Johannes und schaut sie an. «Sie hat keine Flecken, und am Boden sind noch Steine voller Kalk.»

«Ich sehe das Grab auch nicht... es lag vor dem Wald. Jetzt ist der Wald außerhalb der Mauer und allen zugänglich. Sie bearbeiten dort Holz...»Elias ist erstaunt.

Ein Mann, ein alter Holzhauer, klein aber stämmig, beobachtet die

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Gruppe, hört am gefällten Stamm zu sägen auf, geht auf die Fremden zu und fragt: «Wen sucht ihr?»

«Wir möchten hier ins Haus hinein und am Grabe des Zacharias beten.»

«Es gibt kein Grab mehr. Wißt ihr das nicht? Wer seid ihr?»

«Ich bin ein Freund des Hirten Samuel; er ...»

«Nicht nötig, Elias», sagt Jesus. Elias schweigt.

«Ah, Samuel! ... Ja! Doch seit Johannes, der Sohn des Zacharias, im Gefängnis ist, gehört das Haus nicht mehr ihm. Das ist ein großes Unglück, denn er schenkte jeden Verdienst aus seiner Habe den Armen von Hebron. Eines Morgens kam einer vom Hofe des Herodes, warf Joel hinaus und brachte Siegel an; dann ist er mit Bewaffneten zurückgekehrt und hat die Mauer höher machen lassen. In der Ecke dort war das Grab. Er hat es nicht gewollt... und an einem Morgen haben wir alles zerstört vorgefunden... die armen Gebeine überallhin verstreut. Wir haben sie soweit es möglich war, eingesammelt und in einem Behälter verwahrt. Und nun hält der Wüstling im Hause des Zacharias seine Weiber. Jetzt ist eine Schauspielerin aus Rom hier; deshalb hat er die Mauer höher machen lassen; er wollte nicht, daß man sieht... Das Haus des Priesters Zacharias ein Freudenhaus! ... das Haus des Wunders und der Geburt des Vorläufers! Denn ganz bestimmt ist Johannes der Vorläufer, wenn er auch nicht der Messias ist. Wieviel Verdruß hatten wir wegen des Täufers! Doch er ist unser Größter! Wahrhaft groß! Schon als er zur Welt kam, geschah ein Wunder. Elisabeth, alt wie eine dürre Distel, wurde fruchtbar wie ein Apfelbaum im Adar: dies war das erste Wunder. Dann kam eine Base, die heilig war, um Elisabeth zu dienen und die stumme Stimme des Priesters zu lösen. Die Base hieß Maria. Ich kann mich noch an sie erinnern. Man sah sie nur selten. Was geschah, weiß ich nicht. Man sagt, daß sie, um Elisabeth glücklich zu machen, den Mund des Zacharias an ihren gesegneten Schoß legte und ihren Finger in seinen Mund steckte. Ich weiß es nicht. Sicher weiß ich, daß Zacharias nach neun Monaten des Schweigens wieder sprechen konnte, Gott lobte und verkündete, daß der Messias da sei. Mehr hat er nicht gesagt. Doch meine Frau behauptet - sie war in jenen Tagen dabei - daß Zacharias sagte und Gott dafür lobte, daß sein Sohn dem Sohne Gottes voraus gehen werde. Ich meine, es ist nicht so, wie die Leute glauben; Johannes ist der Messias und geht vor dem Herrn, wie einst Abraham vor Gott. Habe ich nicht recht?»

«Du hast recht, was den Geist des Johannes betrifft, der stets vor Gott hergeht. Aber du hast nicht recht, was den Messias betrifft.»

«Also die Frau, die sich die Mutter des Sohnes Gottes nannte - so sagte Samuel - war es nicht? Ist er noch nicht da?»

«Er ist da! Der Messias ist geboren; ihm ist einer vorausgegangen, der in der Wüste seine Stimme erhebt, wie der Prophet sagt.»

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«Du bist der erste, der dies versichert. Als Joel dem Täufer zum letztenmal ein Schaffell gebracht hat, wie er es jedes Jahr zu Beginn des Winters tat, und ihn nach dem Messias fragte, da hat er nicht geantwortet: "Er ist da!" Wenn er es sagen wird ...»

«Mann, ich war ein Jünger des Johannes und habe ihn sagen hören: "Hier ist das Lamm Gottes", und dabei zeigte er auf ...» sagt Johannes.

«Nein, nein, das Lamm ist er. Das wahre Lamm, das allein herangewachsen ist, ohne Vater und ohne Mutter sozusagen. Er war gerade Sohn des Gesetzes geworden, da hat er sich in die Höhlen der Berge zurückgezogen, die vor der Wüste liegen, und ist dort im Gespräch mit Gott herangewachsen. Derweil sind Elisabeth und Zacharias gestorben, und er ist nicht zurückgekommen. Gott war ihm Vater und Mutter. Es gibt keinen größeren Heiligen als ihn. Fragt nur in ganz Hebron. Samuel sagte es, die Bethlehemiten hatten recht. Der Heilige Gottes ist Johannes.»

«Wenn einer zu dir sagen würde: "Ich bin der Messias", was würdest du ihm entgegnen?» fragt Jesus.

«Ich würde ihn einen Lügner heißen und ihn mit Steinwürfen verjagen.»

«Und wenn er als Beweis ein Wunder wirken würde?»

«Dann würde ich ihn als "Besessenen" bezeichnen. Der Messias wird da sein, wenn Johannes der Täufer sich in seinem wahren Sein enthüllt. Der Haß des Herodes ist der Beweis dafür... Er, der schlaue Unmensch, weiß, daß Johannes der Messias ist.»

«Er ist nicht in Bethlehem geboren worden.»

«Doch sobald er frei ist, wird er sich, da er seine baldige Ankunft schon verkündet hat, in Bethlehem zu erkennen geben. Auch dort wartet man darauf; während... Geh doch selbst, wenn du Mut hast, und sprich vor den Bethlehemiten von einem anderen Messias... dann wirst du sehen ...»

«Habt ihr eine Synagoge?»

«Ja, zweihundert Schritte auf dieser Straße geradeaus. Du kannst nicht fehlgehen. In der Nähe ist der Sarg mit den entweihten Gebeinen.»

«Leb wohl, der Herr möge dich erleuchten!»

Sie trennen sich; Jesus und die Seinen gehen zur Vorderseite des Hauses. Am Portal steht eine junge, schamlos gekleidete Frau. Sie ist wunderschön. «Herr, willst du ins Haus kommen? Tritt ein!»

Jesus blickt sie streng an, wie ein Richter, und sagt nichts. Dafür spricht Judas, der alle anderen auf seiner Seite hat: «Verschwinde, du Schamlose! Vergifte uns nicht mit deinem Atem, du räudige Hündin.»

Die Frau errötet und senkt das Haupt. Sie schickt sich an, beschämt kehrtzumachen, während Vorübergehende und Buben sie verspotten.

«Wer ist so rein, daß er sagen kann: "Ich habe nie nach dem mir von Eva angebotenen Apfel verlangt"?», sagt Jesus streng und fügt hinzu: «Zeigt mir ihn, und ich werde ihn als Heiligen begrüßen! Ist niemand

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unter euch? ... Wenn ihr sie nicht aus Verachtung, sondern aus Schwäche meidet, dann zieht euch zurück. Ich verpflichte die Schwachen nicht zu einem ungleichen Kampf. Frau, ich möchte eintreten! Dieses Haus gehörte meinem Verwandten; es ist mir teuer.»

«Tritt ein, Herr, wenn du keinen Abscheu vor mir hast.»

«Laß die Türe offen, damit die Leute sehen können und keinen Grund zum Tadel haben.»

Jesus geht ernst und feierlich hinein. Die Frau weist ihm schweigend den Weg. Doch die höhnischen Reden der Menge treffen sie tief. Sie flieht in den Hintergrund des Gartens, während Jesus bis zur Treppe geht und durch die halbgeöffnete Türe blickt, ohne hineinzugehen. Dann begibt er sich an die Stelle, wo sich das Grabmal befand, das nun durch ein heidnisches Tempelchen ersetzt worden ist.

«Die Gebeine der Gerechten, auch wenn sie vertrocknet und zerstreut sind, strömen reinigenden Balsam und streuen Samen ewigen Lebens aus. Friede den Toten, die gut gelebt haben! Friede den Reinen, die im Herrn entschlafen sind. Friede allen, die litten, doch nichts vom Laster wissen wollten! Friede den wahren Großen der Erde und des Himmels! Friede!»

Die Frau hat Jesus unter dem Schutz einer Hecke erreicht.

«Herr!»«Frau!»«Dein Name, Herr?» «Jesus.»

«Habe ich nie gehört. Ich bin Römerin, Schauspielerin und Tänzerin. Ich bin nur in leichtfertigen Dingen erfahren. Was bedeutet dein Name? Ich heiße Aglaia... das bedeutet: Laster!»

«Mein Name bedeutet: Erlöser!»«Wie erlösest du und wen?»

«Den, der mit gutem Willen der Erlösung zustrebt. Ich erlöse, indem ich lehre, rein zu sein, das Leiden der Ehre vorzuziehen, das Gute um jeden Preis zu tun...» Jesus spricht ohne Bitterkeit, ohne sich nach der Frau umzudrehen.

«Ich bin verloren!» «Ich bin derjenige, der die Verlorenen sucht...»«Ich bin tot.» «Ich bin der, der das Leben gibt.» «Ich bin schmutzig und verlogen.» «Ich bin die Reinheit und die Wahrheit.»

«Du bist auch die Güte, du, der du mich nicht ansiehst, mich nicht anrührst und mich nicht in den Staub trittst. Habe Erbarmen mit mir!»

«Zuerst sollst du Mitleid mit dir, mit deiner Seele haben.» «Was ist die Seele?» «Die Seele ist das, was den Menschen Gott ähnlich macht und nicht

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einem Tier. Das Laster, die Sünde töten sie, und wenn sie tot ist, wird der Mensch zum abstoßenden Tier.»

«Werde ich dich wiedersehen können?»

«Wer mich sucht, wird mich finden.»

«Wo lebst du?»

«Dort, wo die Herzen einen Arzt und Arznei brauchen, um wieder ehrbar zu werden.»

«Dann werde ich dich nicht mehr sehen! Ich bin dort, wo man den Arzt, die Ehrbarkeit und die Arznei nicht will.»

«Nichts hindert dich hin zu kommen, wo ich bin. Meinen Namen wird man auf den Straßen bis zu dir hin hören können. Leb wohl!»

«Leb wohl, Herr! Laß mich dich "Jesus" nennen. Oh, nicht um mich anzubiedern, sondern damit ein wenig Heil in mich eindringe. Ich bin Aglaia, gedenke meiner!»

«Ja, lebe wohl!»

Die Frau bleibt im Hintergrund. Jesus geht ernst von dannen. Er liest Erstaunen in den Gesichtern der Jünger und Verachtung bei den Bewohnern von Hebron. Ein Diener schließt das Tor.

Jesus geht die Straße entlang. Er klopft an der Synagoge. Ein mißtrauischer Alter schaut heraus. Er läßt Jesus nicht einmal Zeit, zu sprechen. «Der Zutritt zur Synagoge, dem heiligen Ort, ist allen untersagt, die mit Dirnen verkehren. Geh weg!»

Jesus wendet sich wortlos um und setzt seinen Weg auf der Straße fort. Seine Leute folgen ihm. Erst als sie außerhalb von Hebron sind, reden sie.

«Du hast es so gewollt, Meister», sagt Judas. «Es war eine Dirne!»

«Judas, wahrlich, ich sage dir: sie wird dich übertreffen. Und du, der du mich tadelst, was sagst du zu den Leuten von Judäa? An den heiligsten Orten von Judäa wurden wir verspottet und verjagt. Aber so ist es. Es wird die Zeit kommen, da die Samariter und die Heiden den wahren Gott anbeten, und das Volk Gottes wird sich mit Blut und einem Verbrechen besudeln... einem Verbrechen, im Vergleich zu dem das Laster der Dirnen, die ihr Fleisch und ihre Seele verkaufen, wenig Bedeutung hat. Ich habe bei den Gebeinen meiner Verwandten und des gerechten Samuel nicht beten können. Das ist nun so. Ruht im Frieden, heilige Gebeine, frohlockt ihr Seelen, die ihr in ihnen wohntet. Die erste Auferstehung ist nahe. Dann wird der Tag kommen, an dem ihr den Engeln als die Diener des Herrn gezeigt werdet.»

Jesus schweigt, und alles ist zu Ende.

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114. JESUS IN KERIOTH - TOD DES ALTEN SAUL

Ich habe den Eindruck, daß sich die steilste Stelle oder der engste Knoten im judäischen Gebirge zwischen Hebron und Jutta befindet. Doch könnte ich mich auch täuschen, da dieses Tal vielleicht breiter und ausgedehnter ist und sich einem recht weiten Horizont öffnet, wo nur noch einzelne Berge statt ganzer Ketten in die Höhe ragen. Kann sein, daß es einfach eine Mulde inmitten zweier Gebirgszüge ist. Es ist das erstemal, daß ich es sehe, und ich verstehe nicht recht. Es gibt hier verschiedene nicht große, aber gut unterhaltene Kornäcker, die größtenteils mit Gerste und Roggen bebaut sind. In besonnten Lagen gibt es auch Weinpflanzungen. Es folgen an den Hängen Sträucher, schöne Pinien, Tannen und andere Waldbäume. Ein leidlicher... Weg führt in ein kleines Dorf.

«Es ist der Vorort von Kerioth. Ich bitte dich, mit mir in mein Landhaus zu kommen. Meine Mutter erwartet dich dort. Hierauf werden wir nach Kerioth gehen», sagt Judas, ganz aufgeregt.

Ich habe vergessen zu sagen, daß sich Jesus jetzt nur in Begleitung von Judas, Simon und Johannes befindet. Die Hirten sind nicht mehr da. Vielleicht sind sie auf den Weiden von Hebron geblieben oder nach Bethlehem zurückgekehrt.

«Wie du willst, Judas; wir können auch hier bleiben, um deine Mutter kennenzulernen.»

«O nein, dies ist nur ein Behelfshaus. Meine Mutter kommt zur Erntezeit hierher. Sonst wohnt sie in Kerioth. Willst du nicht, daß meine Stadt dich sieht? Willst du ihr dein Licht nicht bringen?»

«Gewiß will ich, Judas. Doch weißt du ja, daß ich nicht auf die Bescheidenheit des Ortes achte, der mich als Gast aufnimmt.»

«Doch heute bist du mein Gast, und Judas wird ein guter Gastgeber sein.»

Sie gehen noch an einigen da und dort in den Feldern verstreuten Häusern vorbei, und Frauen und Männer kommen herbei, die von den Kindern benachrichtigt worden sind. Es ist ganz offensichtlich, daß diese Neugier schon früher geweckt worden ist, daß Judas dafür gesorgt hat.

«Hier ist mein schlichtes Haus. Verzeih seine Einfachheit.»

Doch das Haus ist keine Hütte, sondern ein einstöckiger Würfel, großzügig und gut gehalten, inmitten eines üppigen Obstgartens. Ein kleiner, sauberer Privatweg führt von der Hauptstraße zum Gebäude.

«Erlaube, daß ich vorangehe, Meister!»

«Geh nur!»

Judas eilt davon.

«Meister», sagt Simon, «Judas hat die Dinge großartig aufgezogen. Ich hatte es befürchtet; doch nun bin ich sicher. Du sagst, Meister, und du sagst es mit Recht: "Geist, Geist..." Doch er versteht das nicht. Er wird

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dich nie verstehen ... oder erst sehr spät», verbesserte er sich, um Jesus nicht zu betrüben.

Jesus seufzt und schweigt.

Judas kommt mit einer etwa fünfzigjährigen Frau aus dem Hause. Sie ist hochgewachsen, aber nicht so groß wie der Sohn, der von ihr die schwarzen Augen und die reichen Haare hat. Doch die Augen der Frau sind sanft und eher traurig, während die von Judas herrisch und listig sind.

«Ich grüße dich, König von Israel», sagt sie, tief und unterwürfig sich verneigend.

«Erlaube, daß dir deine Dienerin Gastfreundschaft gewähre.»

«Der Friede sei mit dir, Frau, und Gott sei mit dir und mit deinem Söhne!»

«O ja, mit meinem Söhne!» Es ist mehr ein Seufzer als eine Antwort.

«Steh auf, Mutter! Auch ich habe eine Mutter und kann nicht erlauben, daß du meine Füße küssest. Im Namen meiner Mutter küsse ich dich, Frau. Sie ist deine Schwester in der Liebe und der schmerzlichen Bestimmung als Mutter der Gezeichneten.»

«Was willst du damit sagen, Messias ?» fragt Judas etwas beunruhigt.

Doch Jesus antwortet nicht. Er umarmt die Frau, der er vom Boden sanft aufgeholfen hat, und küßt sie nun auf die Wange. Dann geht er, sie an der Hand haltend, zum Hause.

Sie betreten einen kühlen Raum, in dem leichte, gestreifte Vorhänge Schatten spenden. Es stehen schon kühle Getränke und frisches Obst bereit. Doch bevor die Mutter des Judas einer Dienerin ruft, kommt sie und bringt Wasser und Handtücher. Die Herrin möchte Jesus behilflich sein, die Sandalen abzulegen und seine staubigen Füße zu waschen; doch Jesus wehrt ab: «Nein, Mutter! Eine Mutter ist ein zu heiliges Wesen, besonders wenn sie ehrbar und gut ist wie du, um ihr zu erlauben, wie eine Sklavin zu dienen.»

Die Mutter betrachtet Judas mit einem eigenartigen Blick. Dann geht sie hinaus. Jesus hat sich erfrischt. Als er seine Sandalen wieder anlegen will, bringt ihm die Frau ein neues Paar.

«Hier, unser Messias. Ich hoffe, es sei gutgetan... wie Judas es gewünscht hat. Er hat mir gesagt: "Etwas länger als die meinen und genauso breit."»

«Aber warum, Judas?»

«Willst du mir denn nicht gestatten, dir ein Geschenk zu machen? Bist du nicht mein König und Gott?»

«Ja, Judas! Doch hättest du dies deiner Mutter nicht zumuten dürfen. Du weißt doch, wie ich bin...»

«Ich weiß, du bist heilig. Doch du mußt auch als heiliger König erscheinen. Nur so wird man anerkannt. In der Welt, die zu neun Teilen auf zehn

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aus Dummen besteht, muß man mit dem Äußeren imponieren. Ich weiß es.»

Jesus hat die neuen Sandalen angezogen... die Riemen sind aus rotem, durchbrochenem Leder und reichen bis zu den Waden. Sie sind viel schöner als seine einfachen Arbeitersandalen und gleichen den Sandalen des Judas, die beinahe Schuhe sind und nur wenig vom Fuße sehen lassen.

«Auch das Gewand, mein König! Ich hatte es für meinen Judas angefertigt; doch er schenkt es dir. Es ist aus Leinen, frisch und neu. Erlaube, daß eine Mutter dich kleide, als seiest du ihr Sohn.»

Jesus wendet sich zu Judas um und schaut ihn lange an, sagt aber nichts. Er macht den Haken am Halse des Gewandes auf, läßt das weite Obergewand von den Schultern fallen und verbleibt in der Tunika, die er darunter trägt. Die Frau zieht ihm das schöne, neue Gewand über und reicht ihm einen reich bestickten Gürtel, an dem eine Kordel hängt, die mit dichten Quasten endet. Jesus fühlt sich ohne Zweifel wohl im neuen, frischen Gewand. Doch er sieht nicht glücklich aus. Inzwischen haben sich auch die anderen gereinigt.

«Komm, Meister, das ist aus meinem bescheidenen Obstgarten, und hier ist Honigwasser, wie es meine Mutter zubereitet. Du, Simon, ziehst vielleicht diesen Weißwein vor. Nimm, er ist von meinem Weinberg. Und du, Johannes? Wie der Meister?» Judas wiegt sich in dem Bewußtsein, den Wein in silbernen Bechern anbieten und zeigen zu können, daß er vermögend ist.

Die Mutter spricht wenig. Sie blickt immer und immer wieder ihren Judas an... aber noch mehr betrachtet sie Jesus. Und als Jesus ihr, bevor er sich selbst bedient, die schönste Frucht anbietet (mir scheint, es seien sehr große Aprikosen, denn es sind gelbrote Früchte, doch keine Äpfel) und sagt: «Immer zuerst die Mutter!», füllen sich ihre Augen mit Tränen.

«Mama, ist das andere bereit?» will Judas nun wissen.

«Ja, mein Sohn. Ich glaube, daß alles gut ist. Doch ich habe immer hier gelebt und kenne die Gebräuche der Könige nicht.»

«Was für Gebräuche, Frau? Welcher König? Was hast du berichtet, Judas?»

«Bist du denn nicht der verheißene König Israels? Es ist Zeit, daß die Welt dich als solchen grüßt, und das soll zum ersten Male in meinem Haus und in meiner Stadt geschehen. Als König ehre ich dich. Aus Liebe zu mir und auch aus Ehrfurcht vor deinem Namen Messias, Christus und König, wie die Propheten nach Anordnung Jahwes dich genannt haben, widersprich mir nicht!»

«Frau, Freunde; ich bitte euch! Ich muß mit Judas sprechen. Ich muß ihm genaue Anweisungen geben.»

Die Mutter und die Jünger ziehen sich zurück.

«Judas, was hast du getan ? So wenig hast du mich bis jetzt verstanden?

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Warum sollte ich mich so weit erniedrigen und aus mir nur einen Mächtigen der Erde machen, einen, der danach strebt, mächtig zu werden? Verstehst du denn nicht, daß dies für meine Sendung eine Beleidigung und ein Hindernis wäre? Ja, verneine dies nicht. Ein Hindernis! Israel ist Rom unterworfen. Du weißt, was geschieht, wenn sich einer gegen Rom erhebt und als Volksführer auftritt und damit den Verdacht erweckt, einen Volksaufstand anzuzetteln. Du hast doch gerade in diesen Tagen oft genug gehört, was alles geschah, weil ein Kind als künftiger König - nach weltlichen Begriffen - bezeichnet worden war. Und du! Und du! ...

Oh, Judas, was erwartest du von meiner menschlichen Herrschaft? Was erhoffst du dir? Ich habe dir genug Zeit gegeben, darüber nachzudenken und zu entscheiden. Ich habe seit dem ersten Zusammentreffen klar mit dir gesprochen. Ich habe dich sogar abgelehnt, weil ich wußte... weil ich weiß, lesen und sehen kann, was in dir vorgeht. Warum willst du mir folgen, wenn du nicht so werden willst, wie ich es verlange? Geh fort, Judas! Schade nicht dir und mir! Geh, es ist besser für dich. Du bist für diese Aufgabe nicht geeignet. Sie fordert zuviel von dir. In dir steckt Stolz, dreifache Begehrlichkeit, Anmaßung... auch deine Mutter scheint dich zu fürchten. Ferner neigst du zur Lüge. Nein, nein, so darf mein Jünger nicht sein, Judas. Ich hasse dich nicht; ich verfluche dich nicht. Ich sage dir nur, und dies mit dem Schmerz eines Sehenden, der jemand, den er liebt, nicht ändern kann! Ich sage dir nur: geh deines Weges, suche deinen Platz in der Welt; das ist es doch, was du willst; aber trenne dich von mir!

Mein Weg, mein Königreich... oh, welche Bedrängnis verbirgt sich in ihm! Weißt du, wo ich König sein werde? Weißt du, wann ich zum König ernannt werde? Wenn ich auf einem Holz der Schmach und Schande erhöht sein werde, wo der Purpur mein Blut, die Krone ein Kranz von Dornen, meine Flagge ein Schild der Verhöhnung, die Posaunen, Orgeln und Harfen die Schmähungen eines ganzen Volkes - meines Volkes - sein werden. Und weißt du auch, auf wessen Betreiben all dies geschehen wird? Auf das Betreiben eines Mannes, der mich nicht verstanden hat; der nichts verstanden hat; dessen Herz aus Bronze ist, in dem der Hochmut, die Sinnlichkeit und der Geiz sich eingenistet haben und mit ihnen ein Gewimmel von Schlangen dazu dienen, für mich zur Kette und für ihn zum Fluch zu werden... Die anderen kennen mein Los nicht in so klarer Weise. Ich bitte dich, sage ihnen nichts. Es soll zwischen mir und dir bleiben. Übrigens, es ist kein Tadel, und du sollst darüber schweigen und nicht sagen: "Ich bin getadelt worden". Hast du begriffen, Judas?»

Judas ist beschämt und glutrot. Er steht verwirrt und gesenkten Hauptes vor Jesus. Dann fällt er auf die Knie und legt sein Haupt auf die Knie Jesu und weint: «Ich liebe dich, Meister! Ich bin hochmütig und schwerfällig, aber schicke mich nicht weg... Nein, Meister. Es soll das letztemal sein, daß ich gefehlt habe. Du hast recht, ich habe nicht nachgedacht.

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Aber auch in diesem Irrtum ist Liebe. Ich wollte dir große Ehre erweisen und wünschte, daß auch die anderen sie dir erweisen... weil ich dich liebe. Du hast vor drei Tagen gesagt: "Wenn ihr ohne Bosheit, sondern aus Unwissenheit fehlt, dann ist dies nicht ein Fehler, sondern ein Mangel an Einsicht, wie es bei einem Kinde vorkommen kann, und ich bin gekommen, Erwachsene aus euch zu machen." Hier, Meister, ich liege an deinen Knien wie einst bei meinem Vater, und du hast zu mir gesagt, du wolltest mir ein Vater sein... und ich bitte dich um Verzeihung! Ich bitte dich, aus mir einen Erwachsenen zu machen, einen heiligen Erwachsenen. Schicke mich nicht fort, Jesus, Jesus, Jesus... Nicht alles ist schlecht in mir. Du siehst: für dich habe ich all dies verlassen und bin gekommen. Du stehst über den Ehren und Siegen, die ich erntete, als ich anderen diente. Du, ja, du bist die Liebe des armen, unglücklichen Judas, der dir nur Freude bereiten möchte und dir statt dessen Schmerz bereitet ...»

«Genug, Judas. Noch einmal will ich dir verzeihen ...» Jesus scheint müde zu sein... «Ich verzeihe dir und hoffe sehr, daß du mich in Zukunft verstehst.»

«Ja, Meister! Ja! Doch nun demütige mich nicht unter der Last eines Widerrufes, der mich lächerlich machen würde. Ganz Kerioth weiß, daß ich mit dem Nachkommen Davids, dem König Israels, komme... und alles ist vorbereitet, dich hier in meiner Stadt zu empfangen... Ich glaubte, richtig zu handeln, dir zu zeigen, wie man es tun muß, um sich Ehrfurcht und Gehorsam zu verschaffen. Und ich wollte es Johannes und Simon und durch sie den anderen zeigen, die dich lieben, dich aber als ihresgleichen behandeln. Auch die Mutter wäre betroffen als Mutter eines Sohnes, der lügt und verrückt ist. Ihretwegen, mein Herr... Ich schwöre dir, daß ich...»

«Schwöre nicht mir! Schwöre dir selbst, wenn du kannst, nicht mehr auf diese Weise zu sündigen. Der Mutter und den Bewohnern werde ich es nicht antun, wieder fortzugehen, ohne Halt zu machen. Steh auf...»

«Was wirst du den anderen sagen?»

«Die Wahrheit ...»

«Nein!»

«Die Wahrheit ... daß ich dir für heute Anweisungen gegeben habe. Es gibt immer einen Weg, die Wahrheit mit Liebe zu sagen. Laß uns gehen. Rufe deine Mutter und die anderen ...»

Jesus ist sehr streng. Doch er lächelt wieder, als Judas mit der Mutter und den Jüngern hereinkommt.

Die Frau blickt Jesus forschend an; doch sie sieht sein gütiges Wohlwollen und ist beruhigt. Ich habe den Eindruck, daß ihr Herz voll Kummer ist.

«Wollen wir jetzt nach Kerioth gehen? Ich bin ausgeruht und danke dir, Mutter, für all deine Güte. Der Himmel möge es dir vergelten und

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möge deinem Gatten, um den du trauerst, für deine Mühe Frieden und Freude schenken!»

Die Frau möchte Jesus die Hand küssen, doch Jesus erlaubt es nicht. Er legt ihr die Hand streichelnd auf das Haupt.

«Der Wagen ist bereit, Meister. Komm!»

Draußen steht tatsächlich ein von Ochsen gezogener Wagen, ein schönes, bequemes Fuhrwerk, dessen Sitze mit Kissen gepolstert sind und über das ein Vorhang aus rotem Stoff gespannt worden ist.

«Steig ein, Meister!»

«Zuerst die Mutter!»

Die Mutter steigt ein; dann folgen Jesus und die anderen. «Hier Meister ...» (Judas nennt ihn nicht mehr König.)

Jesus nimmt vorne Platz neben Judas, hinten die Frau und die Jünger. Der Fuhrmann treibt die Ochsen an und geht neben dem Gespann einher.

Die Fahrt ist nur kurz. Es sind nur etwa 40O Meter, vielleicht etwas mehr; schon sieht man die ersten Häuser von Kerioth, das, wie mir scheint, eine bescheidene Stadt ist. Ein Knabe hält Ausschau auf der sonnigen Straße und eilt dann wie ein Blitz davon. Als der Wagen zu den ersten Häusern kommt, warten schon Vornehme und Volk mit Fahnen und Zweigen, und Fahnen und Zweige schmücken die Straßen, von Haus zu Haus. Freudenrufe und Verbeugungen bis zur Erde! Jesus kann nun nicht mehr umhin, von seinem wackelnden Thron aus das Volk zu grüßen und zu segnen.

Der Wagen fährt weiter und biegt dann über einen Platz in eine Straße ein, um vor einem Hause anzuhalten, dessen Portal bereits geöffnet ist und vor dem zwei oder drei Frauen warten. Der Wagen hält. Alles steigt aus.

«Mein Haus sei dein Haus, Meister!»

«Friede mit ihm, Judas. Friede und Heiligkeit!»

Sie treten ein. Nach der Eingangshalle gelangen sie in einen großen Saal mit niedrigen Diwanen und schönen Möbeln, verziert mit Einlegearbeiten. Mit Jesus und seinen Begleitern treten auch die Vornehmen des Ortes ein. Verbeugungen, Neugier, Feststimmung.

Ein alter, würdevoller Mann hält eine Ansprache: «Ein großes Glück ist unserer Heimatstadt Kerioth widerfahren, da wir dich, o Herr, bei uns haben. Ein großes Glück! Ein glücklicher Tag! Es ist ein großes Glück, dich unter uns zu haben und ebenso ein Glück, zu sehen, daß ein Sohn unserer Stadt dir Freund und Helfer ist. Glücklich kann er sich preisen, dich vor allen anderen gekannt zu haben! Und du mögest hundertmal dafür gepriesen sein, daß du dich geoffenbart hast: du, der seit Generationen und Generationen Verheißene! Sprich, König und Herr! Unsere Herzen warten auf dein Wort, so wie die dürstende Erde nach einem glühend heißen Sommer auf den erquickenden Septemberregen wartet.»

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«Danke, wer du auch sein magst, danke! Und Dank auch den Bewohnern dieser Stadt, die dem Wort des Vaters und dem Vater, dessen Wort ich bin, ihre Herzen entgegengebracht haben. Denn ihr müßt wissen, daß nicht dem Menschensohn, der zu euch spricht, sondern dem Allerhöchsten Herrn Dank und Ehre gebühren für diese Zeit des Friedens, in welcher er die zerbrochene Vaterschaft mit den Menschenkindern wiederhergestellt hat. Laßt uns den wahren Herrn loben: den Gott Abrahams, der seinem Volke Erbarmen und Liebe erwiesen und ihm den verheißenen Erlöser geschenkt hat. Nicht Jesus, dem Diener des Ewigen Willens, sondern diesem liebenden Willen sei Lob und Ehre!»

«Du sprichst wie ein Heiliger. Ich bin der Vorsteher der Synagoge. Es ist zwar nicht Sabbat, doch komm in mein Haus, um das Gesetz auszulegen; denn mehr als nur mit königlichem Salböl bist du mit der Ewigen Weisheit gesalbt.»

«Ich werde kommen.»

«Mein Herr ist vielleicht müde...»

«Nein, Judas, ich bin niemals müde, von Gott zu sprechen, und niemals willens, die Herzen zu enttäuschen.»

«Komm also», drängt der Vorsteher der Synagoge. «Ganz Kerioth steht draußen und wartet auf dich.»

«Laßt uns gehen!»

Zwischen Judas und dem Synagogenvorsteher und umgeben von den städtischen Notabeln tritt Jesus aus dem Haus... Und Menschen, überall stehen Menschen. Segnend geht Jesus an ihnen vorbei. Die Synagoge befindet sich auf dem Platze. Sie treten ein. Jesus geht zum Lehrstuhl. Er beginnt zu sprechen, strahlend in seinem hellen Gewande, mit seinem vergeistigten Antlitz und den in seiner gewohnten Art ausgebreiteten Armen:

«Volk von Kerioth! Das Wort Gottes spricht. Hört mich an! Derjenige, der zu euch spricht, ist nur das Wort Gottes. Seine Souveränität stammt vom Vater und wird zum Vater zurückkehren, nachdem es Israel die Frohe Botschaft verkündet haben wird. Die Herzen und die Seelen mögen sich der Wahrheit öffnen, damit man nicht im Irrtum verharre und keine Verwirrung aufkomme.

Isaias (9,4-5) hat gesagt: "Im Kampf werden dröhnende Stiefel und blutbefleckte Mäntel vom Feuer verzehrt werden. Denn ein Kind wird uns geboren und ein Sohn uns geschenkt, auf dessen Schultern die Herrschaft ruht. Sein Name ist: der Wunderbare, der Ratgeber, Gott, der Starke, der Vater zukünftiger Zeiten, der Friedensfürst!" Dies ist mein Name! Lassen wir den Caesaren und den Tetrarchen ihre Beute. Ich auch werde auf Raub ausgehen; aber auf keinen Raub, der Strafe durch das Feuer verdient. Im Gegenteil, ich werde dem Feuer Satans Beute um Beute entreißen und sie ins Reich des Friedens bringen, dessen Fürst und Vater ich bin für ewige Zeiten.

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"Gott" ' sagt ferner David, von dessen Geschlecht ich abstamme, wie es vorhergesagt worden ist von denen, die ihrer Heiligkeit wegen Gott wohlgefielen und berufen waren, mit ihm zu sprechen, "Gott hat einen einzigen erwählt... den Sohn... doch das Werk ist von großer Erhabenheit, denn es handelt sich nicht darum, das Haus eines Menschen zu bereiten, sondern das Haus Gottes." So ist es. Gott, der König der Könige, hat einen einzigen erwählt: seinen Sohn, um in den Seelen sein Zelt zu errichten. Er hat schon das "Material" bereit. Oh, wieviel Gold der Liebe, wieviel Kupfer, Silber und Eisen und edle Hölzer und kostbare Edelsteine! Alles ist in seinem Wort angehäuft, und er verwendet es, um in euch die Wohnung Gottes zu errichten. Doch wenn der Mensch nicht mithilft, wird der Herr sein Haus vergeblich bauen. Dem Gold muß mit Gold entsprochen werden, dem Silber mit Silber, dem Kupfer mit Kupfer, dem Eisen mit Eisen... Ebenso muß auch Liebe mit Liebe vergolten werden, Enthaltsamkeit muß vorhanden sein, um die Reinheit zu bewahren, Ausdauer, um treu zu bleiben, Festigkeit, um nicht nachzugeben. Dann wird heute der Stein gebracht, morgen das Holz: heute das Opfer und morgen das Werk und der Bau. Immerzu muß in euch am Tempel Gottes gebaut werden.

Der Meister, der Messias, der König des ewigen Israel, des ewigen Gottesvolkes, ruft euch. Doch er will, daß ihr für das Werk rein seid. Nieder mit dem Hochmut! Gott die Ehre! Weg mit den menschlichen Gedanken. Gottes ist das Reich. Ihr Demütigen, sagt mit mir: "Dein sind alle Dinge, Vater. Dir gehört alles, was gut ist. Lehre uns, dich kennenzulernen und dir in Wahrheit zu dienen." Sagt: "Wer bin ich?" Und ihr werdet erkennen, daß ihr erst dann etwas seid, wenn ihr eine gereinigte Wohnung seid, in welche Gott niedersteigen und sich in ihr ruhen kann.

Ihr, die ihr alle Pilger und Fremdlinge auf dieser Erde seid, schließt euch zusammen und geht dem verheißenen Reiche entgegen! Der Weg sind die Gebote, die nicht aus Furcht vor der Strafe, sondern aus Liebe zu Gott, dem heiligen Vater, gehalten werden müssen. Die Bundeslade ist ein vollkommenes Herz, die das nahrhafte Manna der Weisheit enthält, aus der der Zweig des guten Willens erblüht. Und damit das Haus hell sei, kommt zum Licht der Welt! Ich bringe es euch. Ich bringe euch das Licht. Nichts als das! Ich besitze keine Reichtümer und verspreche keine weltlichen Ehren. Doch ich besitze alle übernatürlichen Reichtümer meines Vaters; denen, die Gott in Liebe und Nächstenliebe dienen, verspreche ich den ewigen Ruhm des Himmels.

Der Friede sei mit euch!»

Die Menschen haben aufmerksam zugehört; jetzt flüstern sie unruhig miteinander. Jesus spricht mit dem Synagogenvorsteher. Der Gruppe gesellen sich noch andere zu, vielleicht sind es die Notabeln.

«Meister... bist du nicht der König Israels? So hat man uns gesagt ...»

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«Ich bin es.»

«Aber du hast gesagt ...»

«Daß ich die Reichtümer der Welt weder besitze noch sie verspreche. Ich kann nur die Wahrheit sagen. So ist es! Ich kenne eure Gedanken. Doch der Irrtum kommt von einer falschen Auslegung und von eurer sehr großen Achtung vor dem Allerhöchsten. Es wurde euch gesagt: "Der Messias kommt", und so habt ihr, wie viele in Israel, gedacht, daß Messias und König ein und dasselbe sei. Erhebt euren Geist zu Höherem! Betrachtet den schönen Sommerhimmel! Ihr meint, er ende dort am Horizont, dort, wo die Luft wie Saphir leuchtet. Nein. Dahinter sind noch andere, reinere Sphären, noch klarere Himmelsbläue, bis hin zu der unvorstellbaren des Paradieses, in das der Messias die im Herrn verstorbenen Gerechten hinführen wird. Derselbe Unterschied besteht zwischen dem messianisehen Königtum, so wie der Mensch es sich vorstellt, und dem wirklichen, das rein göttlich ist.»

«Aber können wir arme Menschen den Geist bis in die Sphären erheben, von denen du sprichst?»

«Ja, wenn ihr es wollt! Und wenn ihr es wollt, werde ich euch helfen.»

«Wie sollen wir dich nennen, da du kein König bist?»

«Meister, Jesus, wie ihr wollt! Meister und Jesus bin ich, der Erlöser!»

Ein Greis sagt: «Höre Herr, vor langer Zeit, als der Erlaß gegeben wurde, erreichte uns hier die Nachricht, daß in Bethlehem der Erlöser geboren worden sei... und ich ging hin mit anderen... Ich sah ein kleines Kind, in allem den anderen Kindern gleich. Doch ich glaubte und betete es an. Dann erfuhr ich, daß es einen Heiligen, namens Johannes, gibt... Welcher ist nun der wahre Messias?»

«Der, den du angebetet hast. Der andere ist sein Vorläufer. Er ist groß und heilig vor den Augen des Höchsten; aber er ist nicht der Messias.»

«Du warst es also?»

«Ich war es. Und was sahst du um mich, den Neugeborenen, herum?»

«Armut und Sauberkeit, Ehrsamkeit und Reinheit... Einen liebenswürdigen und ernsten Handwerker namens Joseph; Handwerker, aber aus dem Geschlechte Davids. Eine junge, blonde und freundliche Mutter mit Namen Maria, vor deren Anmut die schönsten Rosen von Engaddi erbleichen, und die Lilien der königlichen Gärten unförmig erscheinen; und ein Kind mit großen blauen Augen und mit Haaren, die aussahen wie gesponnenes Gold... Anderes habe ich nicht gesehen. Und ich höre immer noch die Mutter zu mir sagen: "Im Namen meines Kindes sage ich dir: der Herr sei mit dir bis zur ewigen Begegnung, und seine Gnade begleite dich auf dem Wege dorthin!" Ich bin 84 Jahre alt... der Weg geht zu Ende. Ich hoffte nicht mehr, der Gnade des Herrn zu begegnen; aber ich habe dich gefunden... und ich wünsche mir nichts anderes, als nur noch dein Licht zu sehen! Ja, ich erkenne dich wie du bist, du in diesem Gewande der

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Barmherzigkeit, dem Fleisch, das du angenommen hast. Ich sehe dich! Hört die Stimme dessen, der im Sterben das Licht Gottes sehen darf!»

Die Leute drängen sich um den verzückten Greis, der bei Jesus steht. Er stützt sich nicht mehr auf den Stab, sondern erhebt die zitternden Arme und gleicht mit seinem weißen Haupt und dem langen, geteilten Bart einem wahren Patriarchen oder Propheten.

«Ich sehe ihn: den Erwählten, den Höchsten, den Vollkommenen, der herniedergestiegen ist mit der Kraft der Liebe und zurückkehren wird zur Rechten des Vaters, um eins zu sein mit ihm. Doch seht! Nicht als Stimme und körperloses Sein, wie Moses den Allerhöchsten sah und wie nach der Genesis die ersten Menschen ihn kannten, wenn sie im Abendwind mit ihm sprachen. Als Mensch sehe ich ihn zum Ewigen emporsteigen. Leuchtende, strahlende Gestalt, göttliche Person! O Schönheit des Gottmenschen! Er ist der König! Ja, er ist der König! Nicht Israels, sondern der Welt! Vor ihm verneigen sich die Könige der Erde, und alle Szepter und Kronen sind nichts im Glanz seines Szepters und seiner Edelsteine. Ein Diadem trägt er auf der Stirne. Ein Szepter hat er in der Hand. Auf der Brust trägt er ein Rationale (hohepriesterliches Gewandstück); Per en und Rubine von einer nie gesehenen Pracht. Flammen lodern aus ihm wie aus einem erhabenen Herd. An den Handgelenken hat er zwei Rubine, und ein Band von Rubinen unschlingt seine heiligen Füße: Licht, Licht aus Rubinen! Schaut, ihr Völker, der ewige König! Ich sehe dich! Ich sehe dich! Ich erhebe mich mit dir... O Herr, unser Erlöser! Das Licht vermehrt sich im Auge meiner Seele... Der König ist mit seinem Blute geschmückt! Der Kranz ist eine blutige Dornenkrone... das Szepter ist ein Kreuz... Welch ein Mensch! Du bist es, Herr... Durch deinen Opfertod habe Erbarmen mit deinem Diener! Jesus, deiner Barmherzigkeit empfehle ich meinen Geist.»

Der Greis, der bis dahin aufrecht stand und im Feuer seiner Prophezeiung jünger schien, bricht plötzlich zusammen, und er wäre zu Boden gefallen, wenn Jesus ihn nicht aufgefangen und gegen seine Brust gehalten hätte.

«Saul!»

«Saul stirbt!»

«Hilfe!»

«Lauft!»

«Friede um den Gerechten, der stirbt!» sagt Jesus, der sich langsam niedergelassen hat, um den immer schwerer werdenden Alten besser stützen zu können. Es wird ganz still.

Jesus legt ihn nun auf den Boden. Dann richtet er sich auf. «Friede seiner Seele! Er starb im Angesicht des Lichtes. Nach kurzer Wartezeit wird er das Antlitz Gottes schauen und glücklich sein. Es gibt keinen Tod, keine Trennung vom Leben für alle, die im Herrn sterben.»

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Die Leute entfernen sich nach einer Weile und reden noch untereinander.

Es bleiben die Vornehmen, Jesus mit den Seinen und der Vorsteher der Synagoge zurück.

«Hat er prophezeit, Herr?»

«Seine Augen haben die Wahrheit gesehen. Laßt uns gehen!»

Sie verlassen den Raum.

«Meister, Saul ist vom Geist des Herrn erfüllt gestorben. Wir, die wir ihn berührt haben, sind wir rein oder unrein?»

«Unrein.»

«Und du?»

«Auch ich, wie die anderen. Ich verändere das Gesetz nicht. Das Gesetz ist das Gesetz, und der Israelit befolgt es. Wir sind unrein. Zwischen dem dritten und dem siebenten Tag müssen wir uns reinigen. Judas, ich gehe nun nicht mehr zu deiner Mutter zurück. Ich will in ihr Haus keine Unreinheit bringen. Laß sie benachrichtigen durch jemand, der es tun kann. Der Friede sei mit dieser Stadt! Gehen wir!»

Ich sehe nichts mehr.

115. JESUS MIT DEN HIRTEN AUF DEM RÜCKWEG NACH HEBRON

Jesus geht zusammen mit den Jüngern auf einer Straße längs des Baches. Den Bach entlang, wenn man sich so ausdrücken darf. Der Bach liegt in der Tiefe, während sich die Straße über ihm in Windungen den Hang hinzieht, wie man dies oft in Gebirgsgegenden antrifft. Johannes, mit einer prall gefüllten Tasche beladen, ist rot wie eine Purpurschnecke. Judas trägt mit seiner eigenen auch die Tasche Jesu. Simon hat die Mäntel und seinen Beutel. Jesus trägt nun wieder seine Sandalen und sein Kleid. Doch die Mutter Judas hat es gewiß reinigen lassen; denn es sieht wieder frisch und sauber aus.

«Wieviel Früchte! Wie schön sind die Reben auf den Hügeln!» sagt Johannes, der seine gute Laune trotz Hitze und Last nicht verliert.

«Meister, ist dies der Fluß, an dessen Ufern die Väter die wunderbaren Weintrauben pflückten?» (Num 13,16-27)

«Nein, an einem anderen, weiter südlich. Doch das ganze Gebiet war gesegnet mit herrlichen Früchten.»

«Jetzt ist es nicht mehr ganz so, doch noch immer sehr schön.»

«Zu viele Kriege haben den Boden verwüstet. Hier ist Israel entstanden... und er mußte mit dem eigenen und feindlichem Blute gedüngt werden.»

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«Wo werden wir die Hirten finden?»

«Fünf Meilen von Hebron entfernt, an den Ufern des Baches, den du erwähnt hast.»

«Hinter diesem Hügel also?»

«Ja.»

«Es ist sehr heiß. Der Sommer... Wohin gehen wir nachher, Meister?»

«In eine noch heißere Gegend. Doch ich bitte euch mitzukommen. Wir werden bei Nacht reisen. Die Sterne sind sehr hell; es ist nicht dunkel. Ich will euch einen Ort zeigen ...»

«Eine Stadt?»

«Nein, einen Ort... der euch helfen wird, den Meister zu verstehen... besser vielleicht als seine Worte.»

«Wir haben Tage verloren mit diesem dummen Zwischenfall. Er hat alles verdorben... und meine Mutter, die sich soviel Mühe gemacht hatte, war sehr enttäuscht. Ich kann nicht verstehen, weshalb du dich bis nach der Reinigung absondern wolltest.»

«Judas, warum nennst du ein Geschehnis dumm, das für einen wahren Gläubigen eine große Gnade war? Möchtest du für dich selbst nicht einen solchen Tod? Er hatte sein ganzes Leben auf den Messias gewartet; er ist, obwohl schon alt, auf beschwerlichem Wege gewandert, um ihn anzubeten, als man zu ihm gesagt hat: "Er ist da." Er hatte in seinem Herzen dreißig Jahre lang die Worte meiner Mutter bewahrt. In seiner letzten Stunde, die ihm Gott geschenkt hat, wurde er vom Feuer der Liebe und des Glaubens erfüllt. Sein Herz zersprang vor Freude und wurde vom Feuer Gottes als wohlgefälliges Brandopfer verzehrt. Gibt es ein besseres Los als dieses?

Hat er das von dir vorbereitete Fest verdorben? Du siehst hier einen Eingriff Gottes. Das, was des Menschen ist, soll nicht vermischt werden mit dem, was Gottes ist. Deine Mutter wird mich wieder einmal haben. Dieser Greis hätte mich ein anderes Mal nicht mehr haben können. Ganz Kerioth kann zu Christus kommen, der Greis hatte keine Kraft mehr dazu. Ich bin glücklich darüber, daß ich den Sterbenden an mein Herz drücken und seinen Geist habe empfehlen können. Und dann... Weshalb sollen wir durch Nichtbeachtung des Gesetzes Ärgernis erregen? Um den Menschen zu sagen: "Folgt mir nach!" Es eilt, es eilt! Um sie auf den Weg der Heiligung zu führen, müssen wir selbst den Weg gehen. Wie hätte ich sagen können, oder wie könnte ich sagen: "Seid treu", wenn ich selbst untreu wäre?»

«Ich glaube, daß dieser Irrtum die Ursache unseres Verfalls ist. Die Rabbis und Pharisäer überladen das Volk mit Vorschriften, und dann... dann tun sie so wie jener, der das Haus des Täufers zu einer Stätte des Lasters gemacht hat», bemerkt Simon.

«Das ist ein Mann des Herodes ...»

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«Ja, Judas; doch die gleichen Sünden werden auch von solchen begangen, die sich selbst als heilig bezeichnen. Was sagst du dazu, Meister?» fragt Simon.

«Ich sage: wenn auch nur eine Handvoll guten Sauerteigs im Mehl und echten Weihrauchs in Israel vorhanden ist, kann Brot gebacken und der Altar geräuchert werden.»

«Was willst du damit sagen?»

«Ich will damit sagen, daß, wenn es Menschen gibt, die mit aufrichtigem Herzen zur Wahrheit kommen, die Wahrheit sich wie der Sauerteig im Mehl und wie Weihrauch über ganz Israel ausbreiten wird.»

«Was hat die Frau zu dir gesagt?» will Judas wissen. Jesus antwortet nicht. Er wendet sich an Johannes: «Es ist schwer und ermüdet dich. Gib mir deine Last.»

«O nein, Jesus! Ich bin an Lasten gewöhnt und dann... der Gedanke an die Freude, die Isaak haben wird, macht sie mir leicht.»

Sie haben nun den Hügel umgangen. Am anderen Hang, im Schatten der Bäume, weiden die Schafe des Elias. Die Hirten sitzen im Schatten und bewachen die Tiere; doch als sie Jesus sehen, eilen sie ihm entgegen.

«Der Friede sei mit euch! Hier also seid ihr?»

«Wir waren in Sorgen um dich... wegen der Verspätung ... und unsicher darüber, ob wir dir entgegengehen oder gehorchen sollen ... So haben wir beschlossen, bis hierher zu kommen... um dir und gleichzeitig unserer gemeinsamen Liebe zu gehorchen. Du solltest schon seit mehreren Tagen hier sein.»

«Wir sind aufgehalten worden ...»

«Hoffentlich nichts Schlimmes?»

«Nein, Freund, nur der Tod eines Getreuen an meiner Brust. Nichts anderes.»

«Was hätte auch vorfallen sollen, Hirte, wenn die Dinge gut vorbereitet sind? Natürlich muß man wissen, wie dies zu geschehen hat, und die Herzen darauf vorbereiten, sie entgegenzunehmen. Meine Stadt hat Jesus alle Ehre erwiesen. Nicht wahr, Meister?»

«Das ist wahr, Isaak. Wir haben auf dem Rückweg Sara besucht. Auch die Stadt Jutta hat es verstanden, ohne besondere Vorbereitungen und nur aufgrund ihrer schlichten Güte und der wahren Worte Isaaks, das Wesen meiner Lehre zu begreifen und mit einer praktischen, heiligen und selbstlosen Liebe ihre Hingabe zu bezeugen. Sie sendet dir Kleidung und Nahrung, Isaak, und zu den Almosen auf deinem Lager haben alle noch etwas beisteuern wollen für dich, der du in die Welt zurückkehrst und nichts mehr hast. Nimm es! Ich trage nie Geld mit mir herum, doch dieses habe ich für dich angenommen; denn es ist gereinigt durch die Liebe.»

«Nein, Meister, behalte du es! ... ich bin gewohnt, ohne es auszukommen.»

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«Doch nun mußt du in die Dörfer gehen, in die ich dich senden werde. Da brauchst du es. Der Arbeiter hat Anspruch auf seinen Lohn, auch wenn er für die Seelen arbeitet. Denn noch ist ein Körper zu ernähren, wie der des Eselchens, das dem Herrn dient. Es ist nicht viel; aber du wirst es zu verwenden wissen. Johannes hat im Sack Kleider und Sandalen... Joachim hat die seinen gegeben. Es wird alles etwas groß sein... aber es liegt so viel Liebe in dem Geschenk!»

Isaak nimmt den Sack und zieht sich in eine Hecke zurück, um sich anzuziehen. Er war immer noch barfuß und trug die bizarre Toga, die aus einer Decke bestand.

«Meister», sagt Elias, «die Frau, die im Hause des Johannes wohnt, sandte uns, als du drei Tage abwesend warst und wir die Herden auf den Wiesen Hebrons weideten (sie gehören allen, und niemand kann verjagt werden) einen Boten mit diesem Beutel und ließ ausrichten, daß sie mit uns sprechen wolle... Ich weiß nicht, ob ich es recht gemacht habe, denn das erstemal habe ich die Börse abgelehnt und gesagt, wir wollten nichts nehmen; darauf ließ sie mir sagen: "Komm im Namen Jesu!" und ich bin hingegangen. Sie hat gewartet, bis... der Mann, dessen Geliebte sie ist, fort war, und wollte dann viele Dinge erfahren; doch ich habe wenig gesprochen... aus Vorsicht... denn sie ist eine Dirne. Ich hatte Angst, daß es eine Falle für dich sein könnte. Sie wollte wissen, wer du bist, wo du dich befindest, was du tust, ob du ein Herr bist... Ich habe nur gesagt: "Er ist Jesus von Nazareth. Er ist ein Lehrer und zieht lehrend durch Palästina." Ich habe gesagt, du seiest ein armer, einfacher Arbeiter, den die Weisheit wissend gemacht hat... nicht mehr.»

«Du hast es gut gemacht», sagt Jesus, und gleichzeitig ruft Judas aus: «Du hast es schlecht gemacht! Warum hast du nicht gesagt, daß er der Messias, der König der Welt ist? Zerschmettert muß sie werden, die hochmütige Römerin, durch Gottes Herrlichkeit!»

«Sie hätte mich nicht verstanden... und dann? Ich wußte nicht, ob sie aufrichtig war. Du hast gesagt, was sie ist, als du sie sahst. Konnte ich ihr die heiligen Dinge - und alles, was Jesus betrifft, ist heilig - in den Mund schleudern? Sollte ich Jesus in Gefahr bringen, durch meine Aussagen? Von allen erfährt er Böses, nicht aber durch mich!»

«Laß uns gehen, Johannes, um ihr zu sagen, daß es der Messias ist, und um ihr die heilige Wahrheit zu erklären ...»

«Ich nicht; es sei denn, Jesus befiehlt es mir.»

«Hast du Angst? Was soll sie dir schon antun? Ekelst du dich? Der Meister hat sich auch nicht geekelt.»

«Weder Angst noch Ekel! Ich habe nur Mitleid mit ihr. Doch ich denke, wenn Jesus gewollt hätte, dann wäre er dort geblieben und hätte sie unterwiesen. Er hat es nicht getan... so ist es auch nicht an uns, es zu tun.»

«Zu jenem Zeitpunkt gab es noch keine Anzeichen einer Bekehrung...

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Jetzt ... Zeig mir den Beutel, Elias!» Und Judas, der sich ins Gras gesetzt hat, leert den Inhalt des Beutels auf einen Zipfel seines Mantels: Ringe, Armreife und Ketten rollen golden über das mattgelbe Gewand des Judas.

«Alles Schmuckstücke! ... Was machen wir damit?»

«Man kann sie verkaufen», sagt Simon.

«Es sind lauter nichtssagende Dinge», sagt Judas, obwohl er die Gegenstände bewundert.

«Ich habe dasselbe gesagt, als ich sie entgegennahm; ich habe auch gesagt: "Dein Herr wird dich schlagen!" Sie hat darauf erwidert: "Es gehört nicht ihm. Es ist mein Eigentum, und ich tue damit, was ich will. Ich weiß, daß es Sündengeld ist... doch es wird edles Gold werden, wenn es für Leute verwendet wird, die arm und gerecht sind... Er soll meiner gedenken." Und sie weinte.»

«Gehe hin zu ihr, Meister.»

«Nein!»

«Schicke Simon!»

«Nein.»

«Dann gehe ich.»

«Nein.»

Jesu "Nein" sind klar und gebieterisch.

«Habe ich unrecht getan, Meister, mit ihr zu sprechen?» fragt Elias, der sieht, daß Jesus sehr ernst geworden ist.

«Du hast nicht unrecht gehandelt. Aber es gibt nichts weiteres zu tun.»

«Aber vielleicht will die Frau sich bessern und möchte belehrt werden», wirft Judas ein.

«In ihr sind schon viele Funken vorhanden, um ein Feuer zu entfachen, in dem ihre Laster verbrennen können, um ihre Seele durch die Reue wieder jungfräulich werden zu lassen. Vor kurzem habe ich euch über den Sauerteig gesprochen, der das Mehl durchzieht und aus ihm heiliges Brot macht. Hört ein kurzes Gleichnis:

Diese Frau ist wie das Mehl. Ein Mehl, in das der Böse sein höllisches Pulver hineingemischt hat. Ich bin der Sauerteig. Oder mein Wort ist der Sauerteig. Doch wenn zuviel Kleie oder Steine in das Mehl, wenn Sand und Asche hineingemischt sind, kann es dann noch Brot werden, selbst wenn der Sauerteig gut ist? Nein! Es müssen zuerst geduldig die Kleie, die Asche, die Steine und der Sand aus dem Mehl ausgesiebt werden. Die Barmherzigkeit geht vorüber und bietet das Sieb an... Vorerst kurze, fundamentale Wahrheiten. Sie sind nötig für den, der im Netz der vollständigen Unkenntnis, des Lasters und des Heidentums gefangen ist. Wenn die Seele sie annimmt, beginnt die erste Reinigung. Die zweite erfolgt durch das Sieb der Seele selbst, die ihr Sein mit dem Sein dessen vergleicht, der sich geoffenbart hat. Sie empfindet Abscheu über sich selbst. Nun beginnt ihre eigene Arbeit. Nach den Steinen, dem Sand und der Asche wird

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auch das Mehl ausgeschieden, das nicht fein genug gemahlen ist, um gutes Brot zu geben. Jetzt ist alles bereit. Nun kommt die Barmherzigkeit noch einmal vorbei, versenkt sich in das vorbereitete Mehl... auch dieses ist noch Vorbereitung, Judas... läßt es aufgehen und wird Brot. Doch es ist ein langer Werdegang und erfordert den "Willen" der Seele.

Die Frau hat schon das Wenige in sich, das ihr gerechtermaßen zu geben war und ihr helfen kann, ihre Aufgabe zu erfüllen. Lassen wir sie dabei ungestört, da sie den Willen dazu hat. Alles stört eine Seele, die an sich arbeitet: die Neugier, der ungeordnete Eifer, der Starrsinn, wie auch die übertriebene Frömmigkeit.»

«So gehen wir nicht zu ihr?»

«Nein. Und damit keiner von euch in Versuchung kommt, brechen wir sofort auf. Im Walde ist es schattig. Wir werden uns im Terbintotal ausruhen. Dort wollen wir uns trennen. Elias wird mit Levi zu seinen Weiden zurückkehren, während Joseph mit mir bis zur Furt von Jericho kommt. Dann werden wir uns wieder treffen. Du, Isaak, fährst fort mit dem, was du in Jutta getan hast... und wirst dich von hier aus über Arimathäa und Lydda bis nach Doko begeben. Dort werden wir uns treffen. Wir müssen Judäa vorbereiten. Und du weißt, wie das gemacht wird. Du hast es schon in Jutta getan.»

«Und wir?»

«Ihr? Ihr werdet, wie ich gesagt habe, mit mir kommen, um meine Vorbereitung kennenzulernen. Auch ich habe mich auf meine Sendung vorbereitet.»

«Du bist zu einem Rabbi gegangen?»

«Nein.»

«Zu Johannes?»

«Ich habe mich nur von ihm taufen lassen.»

«Wie dann?»

«Bethlehem hat mit Steinen und mit Herzen geantwortet. Auch dort, wohin ich dich mitnehme, Judas, werden die Steine und ein Herz, mein Herz, sprechen und dir die Antwort geben.»

Elias, der Milch und dunkles Brot gebracht hat, sagt: «Während ich auf dich gewartet habe, habe ich mit Isaak versucht, die Leute von Hebron zu überzeugen. Aber sie glauben und überzeugen sich nicht; sie wollen nur Johannes den Täufer. Er ist ihr Heiliger, und sie wollen keinen anderen als ihn.»

«Eine Sünde, die vielen Ländern und vielen Gläubigen gemeinsam ist, in der Gegenwart und der Zukunft. Sie blicken auf den Arbeiter und nicht auf den Herrn, der den Arbeiter gesandt hat. Sie erbitten vom Arbeiter etwas, ohne zu sagen: "Sag dies deinem Herrn!" Sie vergessen, daß es den Arbeiter gibt, weil es den Arbeitgeber gibt, und daß dieser den Arbeiter anlernt und ihn zum Arbeiten befähigt. Sie vergessen, daß der Arbeiter

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vermitteln, daß aber nur einer entscheiden kann: der Herr! In diesem Falle Gott und sein "Wort" mit ihm. Das ist nun einmal so. Das "Wort" empfindet darüber Schmerz, aber keinen Groll. Laßt uns gehen.»

Die Vision ist beendet.

116. JESUS AUF DEM BERG DES FASTENS UND AM FELSEN DER VERSUCHUNG

Ein wunderschöner Morgen irgendwo in der Wildnis. Ein Lichtschein über einem Berggipfel. Der Tag ist am Erwachen. Hoch oben einige übriggebliebene Sterne und die dünne Sichel des abnehmenden Mondes, wie ein silbernes Komma auf dem dunkelblauen Samt des Himmels.

Der Berg scheint nicht zu einer Gebirgskette zu gehören. Es ist aber ein Berg, nicht nur ein Hügel. Der Gipfel ist viel weiter oben, doch man hat schon von halber Höhe ein sehr weites Blickfeld: ein Zeichen, daß er hoch über die Ebene emporragt in der frischen Morgenluft, in der sich das grünlich-weiße Licht noch unsicher den Weg bahnt. Es wird immer heller, so daß die Umrisse und Einzelheiten klarer hervortreten. So kann ich erkennen, daß der Berg kahl und felsig und von Rissen durchsetzt ist, welche Grotten, Höhlen und Gesimse bilden. Ein wilder Ort, an dem nur vereinzelt an Stellen, wo etwas Erde liegt und sich etwas Wasser vom Himmel ansammelt, grüne Büschel wachsen, wilde stachelige Pflanzen und niedrige starre Stauden, deren Namen ich nicht kenne.

Am Fuße des Berges dehnt sich eine flache, steinige Wüste aus, an deren Ende eine dunkle Stelle ist, die auf eine vom Grundwasser gespeiste Oase schließen läßt. Doch nun, beim Hellerwerden, kann man erkennen, daß es nichts als Wasser ist: ein stehendes, ein düsteres, totes Gewässer, ein See von unendlicher Traurigkeit. In diesem Zwielicht überkommt mich die Erinnerung an die Vision einer toten Welt. Es scheint, daß der See alle Dunkelheit des Nachthimmels in sich aufnimmt, alles Düstere des Bodens der Umgebung; daß er in seinen toten Wassern alles schmutzige Grün der Dornenbüsche und steifen Gräser enthält, die kilometerweit in der Ebene und an den Hängen den einzigen Schmuck der Gegend bilden. Eine wahrlich trostlose Schau, und welch ein Gegensatz zum sonnigen, lachenden See Genesareth!

Doch wenn ich hinauf zum Himmel blicke, der von einer so absoluten Klarheit ist und immer heller wird; wenn ich sehe, wie das Licht von Osten her in immer kraftvolleren Wogen näherrückt, wird mir wieder froh ums Herz. Aber der Anblick dieses so düsteren toten Sees hat etwas Beklemmendes an sich. Kein Vogel überfliegt das Wasser, kein Tier ist an seinem Ufer. Nichts!

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Während ich diese Trostlosigkeit betrachte, erreicht mich die süße Stimme meines Jesus: «Nun sind wir da angekommen, wo ich euch hinführen wollte.» Ich wende mich um und sehe ihn hinter meinem Rücken zwischen Johannes, Simon und Judas auf einem Pfad am felsigen Fuße des Berges. Es ist dies eigentlich nicht ein Pfad, sondern ein kaum wahrnehmbarer Weg; ein Graben, den das Regenwasser im Verlauf der Jahrhunderte in den Kalkstein gegraben hat und der jetzt eher ein Weg für die wilden Ziegen als für Menschen ist.

Jesus schaut umher und wiederholt: «Ja, hierher wollte ich euch führen. Hier hat Christus sich auf seine Mission vorbereitet.»

«Aber hier ist doch nichts!»«Du sagst es, hier ist nichts.»«Mit wem warst du hier?»«Mit meinem Geist und meinem Vater.»«Ach, das war wohl ein Aufenthalt von wenigen Stunden?» «Nein, Judas, nicht von wenigen Stunden... von vielen Tagen.»«Wer sorgte für dich? Wo hast du geschlafen?»

«Als Diener hatte ich die wilden Esel, die nachts in ihrer Höhle schliefen... in dieser hier, in der auch ich Zuflucht gesucht habe. Als Diener hatte ich die Adler, die mit ihrem rauhen Schrei verkündeten: "Es ist Tag" und fortflogen, um nach Beute zu suchen. Als Freunde hatte ich die kleinen Hasen, die das spärliche Gras zu meinen Füßen fraßen. Meine Speise und mein Trank waren, was die Wildblumen haben: der nächtliche Tau und das Sonnenlicht. Nichts anderes!»

«Aber warum?»

«Um mich gut auf meine Sendung vorzubereiten, wie du sagst. Die gut vorbereiteten Dinge gelingen gut. Du selbst hast es gesagt. Und bei mir ging es nicht um ein dürftiges, wertloses Anliegen; ich - als Diener des Herrn - hatte den Menschen das Wesen Gottes verständlich zu machen, und sie aufgrund dieses Verständnisses zur Liebe im Geiste der Wahrheit zu führen. Welch armseliger Diener des Herrn, der an seine eigene Verherrlichung denkt und nicht an den Triumph des Herrn; der den eigenen Vorteil sucht und davon träumt, sich selbst auf einen Thron emporzuschwingen; der aus göttlichen Dingen banale Angelegenheiten macht und was himmlisch ist, entwürdigt. Ein solcher Mensch ist nicht mehr Diener, auch wenn es nach außen hin so scheint. Er ist ein Händler, ein Schwindler, der sich und andere betrügt, ja selbst Gott betrügen möchte; ein Unglücklicher, der ein Fürst zu sein glaubt und doch nur ein Sklave ist. Er gehört dem Dämon, dem König der Lüge. Hier, in dieser Höhle, lebte Christus viele Tage von Abtötungen und Gebet, um sich auf seine Sendung vorzubereiten. Wohin sollte ich zu meiner Vorbereitung gehen, Judas?»

Judas ist verunsichert und verwirrt. Endlich antwortet er: «Ich weiß

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nicht... ich dachte, zu irgendeinem Rabbi... zu den Essenern... ich weiß nicht.»

«Hätte ich einen Rabbi finden können, der mir mehr gesagt hätte als die Macht und die Weisheit Gottes? Und hätte ich - ich, das ewige Wort des Vaters, ich, der ich war, als der Vater den Menschen erschuf, und weiß, mit welchem unsterblichen Geist er belebt ist und welche Kraft des freien Urteils- und Entscheidungsvermögens ihm der Schöpfer gegeben hat - hätte ich Weisheit und Fähigkeit bei jenen schöpfen können, welche die Unsterblichkeit der Seele, die Auferstehung nach dem Tode und die Handlungsfreiheit des Menschen leugnen, welche Tugend und Laster, heilige und schlechte Taten als Schicksal, dem man nicht entgehe, als unabwendbar bezeichnen? O nein! Ihr habt eine Bestimmung, gewiß, ihr habt sie. Im Geiste Gottes, der euch erschuf, liegt eure Bestimmung. Und es ist eine Bestimmung der Liebe, des Friedens, der Glorie: "die Heiligkeit, seine Kinder zu sein". Diese Bestimmung ist seit der Erschaffung Adams aus dem Schlamm dem Geiste Gottes gegenwärtig, und so wird es bis zur Erschaffung der letzten Menschenseele sein.

Doch der Vater tut euch in eurem Königsein keine Gewalt an. Ein gefangener König ist nicht mehr König; er ist ein Verworfener. Ihr seid Könige, weil ihr in eurem kleinen individuellen Bereich frei seid: in eurem Ich. In ihm könnt ihr machen, was ihr wollt und wie ihr es wollt. Euch gegenüber und an den Grenzen eures kleinen Reiches habt ihr einen königlichen Freund und zwei feindliche Mächte. Der Freund zeigt euch die Regeln, die er gegeben hat, um diejenigen, die ihm gehören wollen, glücklich zu machen. Er zeigt die Regeln, er, der Weise und Heilige, damit ihr, wenn ihr wollt, sie befolgen und ewige Herrlichkeit verdienen könnt. Er sagt euch! Das sind sie! Mit ihnen ist euch der ewige Sieg gewiß! Die beiden feindlichen Mächte sind Satan und das Fleisch. Das Fleisch seid ihr und die Welt. Also die Pracht und die Verführungen der Welt, der Reichtum, die Feste, die Ehren, die Macht, die man von der Welt und in ihr haben kann und die nicht immer ehrbar sind und nicht immer in ehrbarer Weise benützt werden, wenn sie einem aus mannigfaltigen Gründen zufallen. Satan, der Gebieter über das Fleisch und die Welt, wirbt für die Welt und das Fleisch. Auch er hat seine Regeln. Und wie hat er sie! Und da das Ich vom Fleisch umgeben ist, und das Fleisch das Fleisch anzieht wie der Magnet die Metallspäne, und da der Gesang des Verführers süßer als das Klagen der verliebten Nachtigall im Mondenschein und im Dufte der Rosen ist, so ist es leichter, diese Regeln zu befolgen, sich diesen Mächten zuzuwenden und zu ihnen zu sagen: "Ihr seid meine Freunde, tretet ein!"

Tretet ein... Habt ihr je einen Verbündeten gesehen, der immer anständig blieb und nicht einen Prozent verlangte für die gebotene Hilfe? So machen es diese Mächte. Sie treten ein... und werden zu Herrschern. Zu Herrschern? Nein, zu Polizisten! Sie binden euch, o Menschen, an ihre

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Galeerenbank, sie ketten euch an und lassen euch das Haupt vom Joch nicht mehr erheben, und wenn ihr versucht, euch loszureißen, dann schneiden sie euch mit den Ruten ins Fleisch. Entweder ihr laßt euch verwunden, bis ihr nur noch ein elender Haufen zerschlagenes Fleisch seid, so unnütz, daß ihre grausamen Füße euch wegstoßen, oder ihr sterbt. Wenn ihr euch dieses Martyrium auferlegt, ja ihr selbst es euch auferlegt, dann kommt die Barmherzigkeit, die einzige, die sich dieses abstoßenden Elends erbarmt, vor dem die Welt - einer ihrer Gebieter - sich nun ekelt und auf das der andere Gebieter, der Satan, seine Rachepfeile schießt. Die Barmherzigkeit, die einzige, die sich erbarmt, kommt, sich beugt, aufrichtet, pflegt, heilt und sagt: "Komm, fürchte dich nicht. Habe keine Angst, deine Wunden sind nur noch Narben; doch sie sind so zahllos, daß du erschrecken würdest, so sehr entstellen sie dich. Ich beachte sie nicht. Ich blicke auf deinen Willen. Dieses guten Willens wegen fällst du mir auf. Darum sage ich dir: Ich liebe dich! Komm mit mir." Und die Barmherzigkeit trägt dich in ihr Reich.

So versteht ihr, daß die Barmherzigkeit und der königliche Freund ein und dieselbe Person sind. Ihr werdet die Regeln wiederfinden, die sie euch gezeigt hat und die ihr nicht befolgen wolltet. Nun wollt ihr, und ihr erreicht zuerst den Frieden des Gewissens und dann den Frieden Gottes.

Sagt mir also: Wurde dieses Schicksal von Einem allein für alle bestimmt, oder ist es von jedem persönlich für sich selbst gewollt?»

«Es ist von jedem einzelnen frei gewählt worden.»

«Du urteilst richtig, Simon. Konnte ich zu den Leugnern der seligen Auferstehung und der Gnade Gottes gehen, um mich zu bilden? Hierher bin ich gekommen. Als Menschensohn habe ich hier meine Seele in ihren letzten Feinheiten bearbeitet und habe so ein dreißigjähriges Werk der Vorbereitung und der Selbstverleugnung: in der tiefsten Erniedrigung vollendet, um in Vollkommenheit mein Amt anzutreten. Nun bitte ich euch, ein paar Tage mit mir in dieser Höhle zu verbringen. Dieser Aufenthalt wird immer noch weniger trostlos sein, weil wir vier Freunde sind, um gemeinsam gegen die Traurigkeit, die Angst, die Versuchungen und die Bedürfnisse unseres Leibes anzukämpfen. Ich war allein. Und es wird auch weniger mühselig sein, weil es jetzt Sommer ist und der Wind hier in der Höhe die Hitze mildert. Ich kam am Ende des Monats Tebet hierher, und der Wind, der vom verschneiten Berggipfel herunterblies, war eisig. Dieser Aufenthalt wird auch noch weniger qualvoll sein, weil er kürzer sein wird, und wir über ein Minimum an Nahrung verfügen, die unseren Hunger lindert, und in den kleinen Lederschläuchen, die ich euch von den Hirten geben ließ, ist genügend Wasser für ein paar Tage. Ich... ich muß Satan zwei Seelen entreißen. Nur die Buße bringt das zustande. Ich bitte euch um Hilfe. Für euch wird es überdies von erzieherischem Wert sein. Ihr werdet lernen, wie man Satan seine Opfer entreißt. Nicht so sehr mit

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Worten als vielmehr mit Opfern ... Die Worte! ... Der Spektakel Satans verhindert, daß sie gehört werden ... Jede Seele in der Gewalt des Feindes befindet sich in einem wahren Strudel teuflischer Stimmen... Wollt ihr bei mir bleiben? Wenn ihr nicht wollt, geht! Ich bleibe. Wir werden uns in Thekoa wieder treffen, am Markt.»

«Nein, Meister, ich verlasse dich nicht», sagt Johannes, während Simon gleichzeitig ausruft: «Du erhebst uns, indem du uns bei dir behältst bei diesem Werk der Erlösung.»

Judas sieht nicht sehr begeistert aus. Doch er macht gute Miene zur Situation und sagt: «Ich bleibe.»

«Nehmt also die Wasserbeutel und die Taschen und tragt sie hinein, bevor die Sonne anfängt zu brennen. Macht Kleinholz und häuft es neben dem Eingang auf. Die Nächte sind hier auch im Sommer kühl, und nicht alle Tiere sind gutartig. Einen Ast zündet sofort an, den dort von der harzhaltigen Akazie; er brennt gut. Wir wollen noch in die Fugen und Ritzen leuchten, um mit dem Feuer Nattern und Skorpione zu vertreiben. Geht ans Werk!»

Die gleiche Stelle auf dem Berg, nur ist es jetzt Nacht. Eine ganz sternenklare Nacht. Die Schönheit des nächtlichen Himmels, wie man sie wahrscheinlich nur in diesen beinahe tropischen Ländern finden kann! Die Sterne sind groß und von einer wunderbaren Leuchtkraft. Die größeren Konstellationen gleichen Trauben von Brillanten, hellen Topazen, bleichen Saphiren, mild leuchtenden Opalen und dunklen Rubinen. Sie funkeln, leuchten auf, erlöschen für einen Augenblick wie ein Auge, das zeitweise vom Lid verdeckt wird, um danach in neuem Glanz zu erstrahlen. Ab und zu durchfurcht ein Stern den Himmel und verschwindet irgendwo am Horizont. Ein Lichtstreifen, wie der Jubelruf eines Sternes, der durch diese grenzenlosen, sternbesäten Weiten fliegen darf.

Jesus sitzt an der Öffnung der Höhle und spricht zu den drei Jüngern, die um ihn herum gruppiert sind. In ihrer Mitte ist noch ein Häuflein glühender Holzstücke, die ihren rötlichen Schein auf die vier Gesichter werfen.

«Ja, der Aufenthalt ist zu Ende; dieser Aufenthalt. Das letztemal hat er vierzig Tage gedauert... und ich sage es euch noch einmal: es war noch Winter auf diesen Hängen... und ich hatte keine Nahrung. Etwas schwieriger als dieses Mal, nicht wahr? Aber ich weiß, daß ihr auch jetzt gelitten habt. Das Wenige, das wir hatten und ich euch gab, war nichts, besonders für den Hunger der Jüngeren. Es genügte gerade, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Wasser hattet ihr noch weniger. Es ist brütend heiß am Tage, und ihr werdet sagen, so war es im Winter nicht. Doch damals blies ein trockener Wind, der von der Höhe wehte und in der Lunge brannte. Er brachte aus der Wüste Sand mit und trocknete alles noch mehr aus als diese Sommerhitze, die ihr mit den säuerlichen Früchten, die beinahe reif

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sind, leidlich ertragt. Damals bot der Berg nur Wind und vom Eis verdorrte Kräuter unter den Skeletten der Akazien. Ich habe euch nicht alles gegeben, sondern habe die letzten Brote und den letzten Käse mit dem letzten Wasserbeutel für den Rückweg aufgespart. Ich weiß, was der Rückweg war... erschöpft wie ich war in der Einsamkeit der Wüste ...

Suchen wir unsere Sachen zusammen und gehen wir! Die Nacht ist noch heller als jene, in welcher wir hergekommen sind. Es scheint kein Mond, aber vom Himmel regnet es Licht. Laßt uns gehen! Denkt an diesen Ort! Erinnert euch stets daran, wie Christus sich vorbereitet hat und wie sich auch seine Apostel vorbereiten: wie ich die Apostel lehre, sich vorzubereiten!»

Sie erheben sich. Simon stochert mit einem Zweig in der Asche, um das Feuer neu anzufachen, wirft getrocknete Kräuter darauf und entzündet an der Flamme einen Akazienzweig. Diese Fackel hält er am Eingang der Höhle in die Höhe, während Judas und Johannes Mäntel, Taschen und die kleinen Wasserbeutel, von denen nur noch einer voll ist, zusammentragen. Dann schlägt er die Fackel gegen den Felsen, nimmt seine Tasche, wirft sich wie die anderen den Mantel um und bindet ihn sich um die Hüfte fest, damit er ihm beim Gehen nicht hinderlich sei.

Sie steigen schweigend einer hinter dem anderen einen schmalen Pfad hinab und treiben kleine Tiere in die Flucht, die an den spärlichen Gräsern, die der brütenden Sonne widerstanden haben, ihren Hunger zu stillen suchen. Der Weg ist lang und beschwerlich. Schließlich erreichen sie die Ebene. Auch hier ist der Weg unbequem, denn Steine und Steinsplitter bewegen sich heimtückisch unter den Füßen und verletzen diese, da die Erde zu Staub zermahlen ist und Geröll verbirgt. Dürre, dornige Zweige zerkratzen die Haut und verfangen sich in den Gewändern. Doch nun geht es besser.

Am Himmel erstrahlen die Sterne immer heller.

Sie marschieren, stundenlang. Die Ebene wird unfruchtbarer und trostloser. Ein Glitzern leuchtet aus Erdritzen und ausgetrockneten Löchern. Fast könnte man an schmutzige Brillantsplitter denken. Johannes bückt sich, um sie zu betrachten. «Es ist das Salz des Untergrundbodens, der davon gesättigt ist. Mit dem Frühjahrsregen steigt es an die Oberfläche und trocknet dann ein. Deshalb gibt es hier kein Leben. Durch tiefliegende Wasseradern bringt das östliche Meer Tod und Unfruchtbarkeit viele Stadien weit ins Land hinein. Nur wo süße Quellen dieses ätzende Wasser mildern, ist es möglich, wieder Pflanzen zu finden und eine Wiederbelebung der Natur zu beobachten», erklärt Jesus.

Sie gehen weiter. Dann verweilt Jesus beim hohlen Felsen, wo ich seine Versuchung durch Satan gesehen habe. «Wir wollen hier haltmachen. Setzt euch nieder! Bald wird der Hahn krähen. Wir sind nun schon sechs Stunden unterwegs, und ihr habt Hunger und Durst und werdet müde

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sein. Nehmt! Eßt und trinkt! Setzt euch hierher zu mir, ich will euch noch etwas sagen, was ihr später euren Freunden und der Welt mitteilen sollt.»Jesus hat seine Tasche geöffnet und ihr Brot und Käse entnommen, die er zerschneidet und an die Jünger verteilt. Dann gießt er aus seinem Schlauch Wasser in ein Schüsselchen und reicht es ebenfalls herum.

«Du ißt nicht, Meister?»

«Ich möchte zu euch sprechen. Hört zu! Einmal hat mich ein Mann gefragt, ob ich nie versucht worden sei. Er fragte mich, ob ich nie eine Sünde begangen und nie einer Versuchung erlegen sei. Und er wunderte sich, daß ich, der Messias, die Hilfe des Vaters erbeten habe, um widerstehen zu können, mit den Worten: "Vater, führe mich nicht in Versuchung!"»

Jesus spricht leise, ruhig, als ob er etwas sagen würde, was allen unbekannt ist. Judas neigt verlegen das Haupt, aber die anderen sind so vertieft in das, was Jesus sagt, daß sie es nicht bemerken. Jesus fährt fort: «Nun sollt ihr, meine Freunde, erfahren, was dieser Mann nur oberflächlich wußte. Ich war rein: rein durch meine Unschuld. Aber vor dem Allerhöchsten ist man nie rein genug, und die Demut zum Bekenntnis: "Ich bin ein Mensch und Sünder" ist schon Taufe und reinigt das Herz. Nach der Taufe bin ich hierher gekommen. Ich bin das Lamm Gottes genannt worden von dem, der als Heiliger und als Prophet die Wahrheit sah und den Geist vom Himmel her auf das Wort niedersteigen sah und aus ihm mit dem Chrisam der Liebe den Gesalbten machte, während die Stimme des Vaters die Himmel mit dem Schall seiner Worte erfüllte, als er sagte: "Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe." Du, Johannes, warst dabei, als der Täufer die Worte wiederholte... Nach der Taufe, und obwohl rein von Natur aus und rein durch die Taufe, wollte ich mich "vorbereiten". Ja, Judas, schau mich an! Mein Auge soll dir sagen, was mein Mund bis jetzt verschwiegen hat.

Schau mich an, Judas! Betrachte deinen Meister, der sich nicht über den Menschen erhoben hat, um der Messias zu sein, sondern vielmehr in allem - außer in der Zustimmung zum Bösen - Mensch sein wollte. Ja, so ist es.»

Nun hat Judas das Haupt erhoben und betrachtet Jesus, der ihm gegenübersitzt. Im Sternenschein leuchten im bleichen Antlitz die Augen Jesu wie zwei Fixsterne.

«Um sich vorzubereiten, ein Meister zu sein, muß man erst Schüler gewesen sein. Ich war allwissend, als Gott. Meine Einsicht ließ mich mittels meiner Erkenntnis die inneren Kämpfe des Menschen geistig verstehen. Doch eines Tages hätte ein armer Freund, irgendein armer Sohn, zu mir sagen können: "Du weißt nicht, was es heißt, Mensch zu sein und Gefühle und Leidenschaften zu haben." Es wäre ein gerechter Vorwurf gewesen. Ich bin hierher gekommen, auf den Berg, um mich vorzubereiten; nicht allein auf die Sendung, sondern auch auf die Versuchung. Seht ihr? Hier,

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wo ihr euch jetzt befindet, wurde ich versucht. Von wem? Von einem Sterblichen? Nein. Zu gering wäre seine Macht gewesen. Ich wurde vom Satan selbst versucht.

Ich war erschöpft. Seit vierzig Tagen hatte ich nicht gegessen... doch solange ich ins Gebet vertieft war, fühlte ich nichts in meiner Freude der Zwiesprache mit Gott. Ich empfand den Hunger als erträglich, weil er nur die Materie betrifft, die Materie allein. Dann kehrte ich zur Welt zurück... auf die Wege der Welt... und fühlte die Bedürfnisse des Menschen. Ich hatte Hunger, ich hatte Durst. Ich fühlte die schneidende Kälte der Wüstennacht. Ich fühlte den Körper, seinen Mangel an Ruhe und Schlaf und die Erschöpfung vom langen Weg, den ich in einer derartigen Verfassung zurückgelegt hatte; ich konnte nicht mehr weitergehen...

Denn auch ich habe Fleisch und Blut, Freunde. Wahres Fleisch. Und es ist denselben Schwächen unterworfen, die jedes Fleisch empfindet. Und mit dem Leib habe ich ein Herz. Ja, von der menschlichen Natur habe ich den ersten und den zweiten der drei Teile, aus denen der Mensch besteht, übernommen: die Materie mit ihren körperlichen Bedürfnissen und das Gemüt mit seinen Neigungen. Und da ich mit meinem Willen alle nicht guten Neigungen schon im Keime erstickt habe, konnten die heiligen Neigungen der kindlichen Liebe, der Heimatliebe, der Freundschaft, der Arbeit und alles, was gut und heilig, groß und mächtig ist, werden wie jahrhundertealte Zedern. So habe ich hier die Sehnsucht nach meiner fernen Mutter empfunden. Hier habe ich das Bedürfnis ihrer sorgenden Liebe in meiner Hinfälligkeit als Mensch empfunden. Hier hat mich von neuem der Schmerz überwältigt, mich von der Einzigen, die mich vollkommen liebt, trennen zu müssen. Hier habe ich das Bedürfnis nach ihrer Pflege meiner menschlichen Gebrechlichkeit gespürt; hier habe ich erneut den Schmerz erfahren, mich von der Einzigen getrennt zu haben, die mich vollkommen liebte; hier habe ich den Schmerz vorausgefühlt, der mir vorbehalten ist, und den Schmerz über ihren Schmerz, arme Mutter, die einmal keine Tränen mehr haben wird, da sie so viele vergießen muß für ihren Sohn und um der Menschen willen. Und hier habe ich die Müdigkeit des Helden und des Asketen kennengelernt, der in einer Stunde die Vorahnung, die Nutzlosigkeit seiner Bemühung erkennt.

Ich habe geweint. Die Traurigkeit, sie ist ein magisches Mittel für Satan. Es ist keine Sünde, traurig zu sein, wenn die Stunde leidvoll ist. Sünde ist, der Traurigkeit freien Lauf zu geben und der Haltlosigkeit oder Verzweiflung zu verfallen. Satan ist sofort da, wenn jemand von geistiger Mattigkeit befallen wird.

Er ist gekommen. Im Gewande eines wohlwollenden Wanderers. Er gibt sich immer wohlwollend... Ich hatte Hunger... und ich hatte meine dreißig Jahre im Blut. Satan hat mich versucht; denn er glaubte, ich sei verwundbar, da er mich hungrig sah und auch mein Alter kannte. Er hat

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mir seine Hilfe angeboten. Zuerst hat er zu mir gesagt: "Gebiete diesen Steinen, Brot zu werden!"... Doch zu allererst hat er mir von der Frau gesprochen. Oh! er versteht sich darauf, von ihr zu sprechen. Er kennt sie von Grund auf. Er hat die Frau als erste verführt, um aus ihr seine Verbündete in der Verführung zu machen. Ich bin nicht nur der Sohn Gottes. Ich bin Jesus, der Handwerker von Nazareth. Ich sagte damals zum Mann, der mich gefragt hat, ob ich die Versuchung kenne, und der mich beinahe beschuldigte, ungerechterweise glücklich zu sein, da ich nicht wüßte, was Sünde sei: "Der Akt bewirkt die Befriedigung. Die zurückgedrängte Versuchung weicht nicht, sondern wird noch stärker, auch weil Satan sie anschürt!" Ich habe der Versuchung des Hungers nach Brot und nach der Frau widerstanden. Und ihr sollt wissen, daß Satan die Frau - menschlich gesprochen nicht zu Unrecht - mir zuerst anbot, denn sie ist seine beste Verbündete, um sich in der Welt zu behaupten.

Der "Versucher", der sich mit meinem: "Nicht vom Brot allein lebt der Mensch" nicht geschlagen gab, begann nun von meiner Sendung zu sprechen. Satan wollte den Messias verführen, nachdem er den jungen Mann versucht hatte. Und er trieb mich an, die unwürdigen Diener des Tempels durch ein Wunder zu vernichten. Das Wunder, die Flamme des Himmels, dient nicht dazu, um sich aus Weidenruten eine Krone zu winden und sich mit ihr zu schmücken. Und man versucht Gott nicht, indem man um Wunder für menschliche Zwecke bittet. Das wollte Satan. Das vorgebrachte Motiv war nur ein Vorwand. Die Wahrheit war: "Rühme dich, der Messias zu sein!" Auf diese Weise dachte er, in mir eine Begehrlichkeit zu wecken: den Hochmut.

Nicht besiegt von meinem: "Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen!", hat er mich mit der dritten Kraft seiner Natur versucht: dem Gold! Oh, das Gold! Eine große Sache ist das Brot, noch begehrenswerter die Frau für den, der nach Nahrung und Genuß verlangt. Ganz groß aber ist der Beifall der Massen für den Menschen... Wie viele Verbrechen werden aus diesen drei Gründen begangen! Aber das Gold... das Gold... Es ist der Schlüssel, der aufschließt, der Ring, der kettet, das Alpha und Omega von neunundneunzig Prozent der menschlichen Handlungen. Für das Brot und die Frau wird der Mensch zum Dieb. Um Macht zu erobern, wird er auch zum Mörder. Doch für das Gold wird er zum Götzenanbeter. Der König des Goldes, Satan, hat mir sein Gold angeboten, damit ich ihn anbete... Ich habe ihn vertrieben mit den ewigen Worten: "Den Herrn, deinen Gott allein sollst du anbeten!"

Und hier an dieser Stelle hat sich dies ereignet.»

Jesus ist aufgestanden. Er scheint viel größer als sonst in der ebenen Umgebung und in dem leicht phosphoreszierenden Schein, der von den Sternen träufelt. Auch die Jünger stehen auf. Jesus spricht weiter und blickt Judas fest in die Augen.

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«Dann sind die Engel des Herrn gekommen... Der Mensch Jesus hatte die dreifache Schlacht gewonnen. Der Mensch Jesus wußte, was es heißt, Mensch zu sein, und er hatte gesiegt. Er war erschöpft. Der Kampf war ermüdender gewesen wegen des langen Fastens. Doch es war ein überwältigender Sieg des Geistes. Ich glaube, daß der ganze Himmel gebebt hat, angesichts dieses Standhaltens eines mit Geist begabten Geschöpfes, und ich glaube, daß von jenem Augenblick an die Gabe des Wunderwirkens in mir war. Ich war Gott gewesen. Und ich bin Mensch geworden. Nun, da das Animalische besiegt war, das zur Natur des Menschen gehört, bin ich der Gottmensch. Ich bin es. Als Gott bin ich allmächtig! Und als Mensch kenne ich alles. Macht es also wie ich, wenn ihr tun wollt, was ich vollbringe! Und tut es zu meinem Gedächtnis!

Ein Mann wunderte sich, daß ich um die Hilfe des Vaters gebeten habe und auch darum, mich nicht in Versuchung zu führen, d.h. mich nicht Versuchungen preiszugeben, die meine Kräfte übersteigen könnten. Ich

glaube, daß dieser Mensch, nun, da er es weiß, sich nicht mehr wundern wird. Tut auch ihr so, zu meinem Gedächtnis und um wie ich zu siegen. Zweifelt nie an mir, da ich stark bin in allen Versuchungen des Lebens, siegreich in allen Kämpfen der fünf Sinne, der Sinnlichkeit und der Gefühle. Ich beherrsche meine wahre Menschennatur und zudem bin ich Gott. Erinnert euch an all das!

Ich hatte euch versprochen, euch an diesen Ort zu führen, um euch die Möglichkeit zu geben, euren Lehrmeister kennenzulernen... im Morgengrauen seines Tages: eines Morgengrauens, so klar und rein wie am Mittag seines Lebens. Dann mache ich mich auf, um dem Abend meines menschlichen Lebens entgegenzugehen... Einem von euch habe ich gesagt: "Auch ich habe mich vorbereitet." Ihr seht, daß dies wahr ist. Ich danke euch, daß ihr mir Gesellschaft geleistet habt bei dieser Rückkehr zu meinem Geburtsort und zum Ort der Buße. Die erste Berührung mit der Welt hatte mich schon angeekelt und entmutigt. Sie ist zu schlecht. Nun hat sich meine Seele mit dem Mark des Löwen gestärkt: in der Vereinigung mit dem Vater im Gebet und in der Einsamkeit. Und ich kann in die Welt zurückkehren, um mein Kreuz auf mich zu nehmen, mein erstes Kreuz als Erlöser, das in der Berührung mit der Welt besteht, einer Welt, in der zu wenige die Seele einer Maria, eines Johannes haben...

Nun hört gut zu, besonders du, Johannes! Wir sind auf dem Weg zur Mutter und zu den Freunden. Ich bitte euch: sagt der Mutter nichts von der Härte, mit der man sich der Liebe ihres Sohnes widersetzt hat! Sie würde zu sehr leiden. Sie wird durch die Grausamkeit der Menschen noch unendlich viel leiden müssen... doch bis dahin möge ihr der Kelch erspart bleiben, der sehr bitter sein wird, wenn er ihr gereicht werden wird, bitter wie ein Gift, das sich in die heiligen Organe und Venen einschlängeln und ihr das Herz erstarren lassen wird. Oh, sagt meiner Mutter nicht, daß

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Bethlehem und Hebron mich wie einen Hund verjagt haben! Habt Erbarmen mit ihr! Du, Simon, bist alt und gut; du hast eine besonnene Art und wirst darüber nicht sprechen, ich weiß es. Du, Judas, bist aus Judäa und wirst aus lokalem Stolz nicht reden. Aber du, Johannes, du, ein Galiläer und jung, falle nicht in die Sünde des Stolzes, der Kritik, der Erbarmungslosigkeit! Schweige über das, was vorgefallen ist! Später dann... viel später, wenn die Zeit gekommen ist, wirst du berichten, wie sehr ich dich gebeten habe zu schweigen, wie auch allen anderen. Es gibt schon so viel zu erzählen über das, was Christus betrifft. Warum also auch noch hinzufügen, was vom Satan stammt und gegen Christus gerichtet ist? Freunde, versprecht ihr mir dies alles?»

«Oh, Meister! Gewiß versprechen wir es dir. Sei beruhigt!»

«Danke! Laßt uns nun bis zur kleinen Oase gehen. Dort ist eine Quelle, eine Zisterne voll frischen Wassers und Schatten und Grün. Die Straße zum Fluß führt daran vorbei. Wir werden dort Nahrung und Erquickung bis zum Abend finden. Im Schein der Sterne werden wir dann den Fluß, die Furt, erreichen. Dort warten wir auf Joseph, wenn er nicht schon da ist. Laßt uns gehen!»

Und sie machen sich auf den Weg, während die erste Röte am äußersten Osten des Himmels ankündet, daß ein neuer Tag heraufsteigt...

117. AM ÜBERGANG DES JORDAN - BEGEGNUNG MIT DEN HIRTEN JOHANNES, MATTHIAS UND SIMEON

Ich sehe den Übergang des Jordans wieder, die grünen Wege, die auf beiden Seiten den Fluß entlang führen und von vielen Reisenden begangen werden, des Schattens wegen. Reihen von Eseln kommen und gehen, und Menschen begleiten sie.

Am Ufer des Flusses weiden drei Männer einige Schafe. Auf dem Wege steht Joseph und späht wartend nach beiden Richtungen. Weit in der Ferne, dort, wo die Straße auf den Fluß trifft, taucht Jesus mit den drei Jüngern auf. Joseph ruft die Hirten, und diese treiben die Schafe auf den Weg und lassen sie auf dem grasigen Pfad weiterlaufen. Sie gehen eilend Jesus entgegen.

«Ich wage nicht recht... wie soll ich ihn begrüßen?»

«Oh, er ist so gütig. Du kannst sagen: "Der Friede sei mit dir!" Auch er grüßt immer so.»

«Er, ja... aber wir!»

«Und ich, wer bin ich? Ich gehöre nicht einmal zu seinen ersten Anbetern, und doch ist er so gut zu mir... oh, so gut!»

«Welcher ist es?»

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«Sollen wir ihm vom Täufer berichten, Matthias?»

«O ja!»

«Muß er dann nicht annehmen, daß wir den Täufer ihm vorgezogen haben?»

«Aber nein, Simeon. Wenn er der Messias ist, dann sieht er in die Herzen und wird darin lesen, daß wir im Täufer ihn gesucht haben.»

«Du hast recht.»

Nun sind die zwei Gruppen nur noch wenige Meter voneinander entfernt. Jesus lächelt schon auf die ihm eigene Art, die nicht beschrieben werden kann. Joseph beschleunigt seinen Schritt. Auch die Schafe gehen schneller, von ihren Hirten dazu angetrieben.

«Der Friede sei mit euch», sagt Jesus und hebt die Arme wie zu einer Umarmung und fügt bei, sich an jeden einzelnen wendend: «Der Friede sei mit dir, Simeon, Johannes und Matthias, meine Getreuen und Getreuen von Johannes, dem Propheten! Friede sei mit dir, Joseph», und er küßt ihn auf die Wange. Die anderen drei knien noch. «Kommt, Freunde! Unter diesen Bäumen am Flußufer wollen wir miteinander sprechen.»

Sie steigen hinunter, und Jesus setzt sich auf eine vorstehende Wurzel, die anderen auf die Erde. Jesus lächelt ihnen zu und beobachtet sie, einen nach dem anderen. «Laßt mich eure Gesichter betrachten! Eure Gesinnung kenne ich schon. Ihr seid Gerechte, die dem Guten folgen und es allen Vorteilen der Welt vorziehen. Ich bringe euch den Gruß Isaaks, Elias' und Levis. Und einen weiteren Gruß, den meiner Mutter. Habt ihr Nachricht vom Täufer?»

Die Männer, in ihrer Befangenheit bis dahin schweigsam, fassen Mut und finden endlich Worte: «Er ist noch im Gefängnis. Unser Herz zittert um ihn, da er in den Händen eines Grausamen ist, der von einem teuflischen Geschöpf beherrscht wird und von einer verdorbenen Gesellschaft umgeben ist. Wir lieben ihn... Du weißt, daß wir ihn lieben und daß er unsere Liebe verdient. Nachdem du Bethlehem verlassen hattest, wurden wir von den Menschen verfolgt... Doch mehr als durch ihren Haß wurden wir trostlos und niedergeschlagen wie von Wind entwurzelte Bäume, weil wir dich verloren hatten. Dann, nach Jahren der Leiden, ist es uns ergangen wie jemand, dem die Augenlider zugenäht sind, der die Sonne sucht und sie nicht finden kann, weil er in einem Kerker eingeschlossen ist. Doch obwohl er die Sonne nicht sieht, fühlt er ihre Wärme auf der Haut. Genauso ist es uns ergangen: wir haben gefühlt, daß der Täufer der Mann Gottes ist, der von den Propheten Geweissagte, der die Wege für seinen Christus bereitet, und wir sind ihm gefolgt. Wir haben uns gesagt: "Wenn er der Vorläufer ist, dann werden wir ihn bei ihm finden." Denn du, o Herr, warst es, den wir suchten.»

«Ich weiß es. Und ihr habt mich gefunden. Ich bin bei euch!»

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de an jenem Tage nicht bei ihm. Vielleicht sind wir für ihn irgendwohin gegangen. Er pflegte uns nämlich um Hilfe im Dienst an den Seelen zu bitten, und dies mit soviel Liebe, wie wir ihn auch mit Liebe anhörten, obwohl er so streng war; denn er ist nicht wie du, das "Wort", doch er sagte Worte Gottes.»

«Ich weiß es. Und diesen kennt ihr nicht?» fragt Jesus und zeigt auf Johannes.

«Wir haben ihn zusammen mit anderen Galiläern gesehen, in den Reihen der Getreuesten des Täufers. Und wenn wir nicht irren, dann heißt du Johannes und ist der, von dem er zu seinen besten Freunden sagte: "Ich bin der Erste, dieser der Letzte. Dann wird er der Erste und ich der Letzte sein." Wir haben nie verstanden, was damit gemeint ist.»

Jesus wendet sich mit einem noch strahlenderen Lächeln zu Johannes an seiner Linken, zieht ihn an sein Herz und erklärt: «Er meinte damit, daß er der erste gewesen ist, der gesagt hat: "Seht das Lamm Gottes!" ' und daß dieser hier der Letzte der Freunde des Menschensohnes sein wird, der zu den Scharen vom Lamm sprechen wird. (Johannes, der Evangelist, lobpreist das Lamm tatsächlich etwa dreißigmal in der Apokalypse, dem letzten Buch der Bibel.) Ich liebe ihn mehr als alle anderen Menschen. Dies wollte der Täufer sagen. Doch wenn ihr ihn seht - ihr werdet ihn noch mehrmals sehen und ihm dienen bis zur vorgezeichneten Stunde - sagt ihm, daß er nicht der Letzte ist im Herzen des Christus. Nicht so sehr wegen des Blutes, das uns verbindet, sondern wegen seiner Heiligkeit liebe ich ihn ebenso wie diesen hier. Denkt immer daran: wenn dieser Heilige sich in seiner Demut als den Letzten bezeichnet, dann nennt ihn das Wort Gottes Gefährten seines geliebten Jüngers. Sagt ihm, daß ich diesen liebe, weil er den gleichen Namen trägt und weil ich in ihm dieselben Merkmale des Täufers wiederfinde, der die Seelen für Christus vorbereitet.»

«Wir werden es ihm sagen... doch werden wir ihn wiedersehen?»

«Ihr werdet ihn wiedersehen.»

«Ja, Herodes wagt ihn aus Angst vor dem Volke nicht zu töten. Und an seinem Hof der Habsucht und der Bestechung wäre es leicht, ihn zu befreien, wenn wir genügend Geld hätten. Doch wenn es auch viel ist, was die Freunde bereits gespendet haben, so fehlt doch noch viel. Und wir haben große Angst, daß wir nicht mehr viel Zeit haben und er vorher umgebracht wird ...»

«Wieviel, glaubt ihr, fehlt noch für den Loskauf?»

«Nicht für den Loskauf, Herr. Der Täufer ist der Herodias zu verhaßt, und sie beherrscht Herodes zu sehr, als daß man an einen Loskauf denken könnte. Aber... in Machaerus sind, glaube ich, alle Anwärter auf das Erbe versammelt. Alle wollen genießen und den großen Herrn spielen: von den Ministern bis zu den Dienern. Und um dies tun zu können, braucht man

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Geld... Wir haben auch jemanden gefunden, der den Täufer für einen großen Betrag aus dem Kerker lassen würde. Auch Herodes wünscht es vielleicht; denn er hat Angst. Nur deshalb. Angst vor dem Volke und vor seiner Frau. So könnte er das Volk zufriedenstellen und von seiner Frau nicht angeschuldigt werden, ihr nicht entsprochen zu haben.»

«Wieviel verlangt sie?»

«Zwanzig Silbertalente. Wir haben nur zwölfeinhalb.»

«Judas, du hast gesagt, die Schmuckstücke seien sehr schön.»

«Schön und kostbar.»

«Wieviel können sie wert sein? Mir scheint, du verstehst etwas davon?»

«O ja, ich verstehe mich darauf. Warum willst du den Wert wissen, Meister? Willst du sie verkaufen? Warum?»

«Vielleicht... sag, wieviel können sie wert sein?»

«Wenn sie zu einem guten Preis verkauft werden, dann mindestens... mindestens sechs Talente.»

«Bist du sicher?»

«Ja, Meister... die Kette allein, so dick und schön, aus reinem Gold, ist mindestens drei Talente wert. Ich habe sie gut angesehen. Und auch die Armbänder... Ich kann mir nicht vorstellen, wie die zarten Handgelenke der Aglaia sie tragen konnten.»

«Es waren ihre Fesseln, Judas!»

«Es ist wahr, Meister; doch viele möchten solche Fesseln haben...»

«Kennst du einen möglichen Käufer?»

«Es gibt ihrer viele.»

«Ja, viele, die Menschen nur dem Namen nach sind... Kennst du etwa einen möglichen Käufer?»

«Du willst sie also verkaufen? Für den Täufer? Aber sieh zu, es ist verfluchtes Gold!»

«O menschliche Inkonsequenz! Du sagtest soeben mit offenkundigem Verlangen danach, daß viele dieses Gold haben möchten, und dann nennst du es verflucht. Judas, Judas... Es ist verflucht, ja, es ist verflucht. Doch sie hat gesagt: "Es wird gereinigt, wenn es für Arme und Heilige verwendet wird" ' und dafür hat sie es hergegeben, damit der damit Beschenkte für ihre arme Seele bete, die sich noch als Larve eines zukünftigen Schmetterlings im Innern ihres Herzens entwickelt. Wer ist heiliger und ärmer als der Täufer? Er hat dieselbe Sendung wie Elias, ist aber an Heiligkeit größer als Elias. Er ist ärmer als ich. Ich habe eine Mutter und ein Haus. Wenn man das hat, und so rein und heilig, wie ich sie habe, ist man nie verlassen. Er aber hat kein Heim mehr und nicht einmal das Grab der Mutter. Alles ist verwüstet und entheiligt worden von der menschlichen Bosheit... Wer ist also Käufer?»

«Da wäre einer in Jericho, und in Jerusalem gibt es viele. Doch der in Jericho, das ist ein verschlagener Levantiner, ein Goldschmied, Wucherer,

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Trödler, Liebeshändler, bestimmt auch Dieb und vielleicht sogar Mörder... sicher von Rom verfolgt. Er läßt sich Isaak nennen, um als Jude zu erscheinen. Doch sein richtiger Name ist Diomedes. Ich kenne ihn gut.»

«Wir sehen es», unterbricht ihn Simon der Zelote, der wenig spricht, aber alles beobachtet. Und er fragt:

«Wie kommt es, daß du ihn so gut kennst?»

«Nun... weißt du... um einflußreichen Freunden einen Gefallen zu tun, bin ich zu ihm gegangen ... und habe mit ihm Geschäfte gemacht... Wir vom Tempel... weißt du ...»

«Ja, ihr treibt alle Arten von Geschäften», beendet Simon den Satz mit kalter Ironie. Judas kocht vor Wut, aber schweigt.

«Kann er kaufen?» fragt Jesus.

«Ich glaube schon. An Geld fehlt es ihm nie. Natürlich muß man handeln können, denn der Grieche ist schlau, und wenn er sieht, daß er es mit einem Ehrlichen zu tun hat, einer Nesttaube, die noch nicht flügge ist, dann rupft er ihn gehörig. Aber wenn er es mit einem Geier wie er zu tun hat...»

«Dann geh du, Judas. Du bist der rechte Mann. Du hast die Schlauheit des Fuchses und die Habgier des Geiers. Oh! Verzeih, Meister! Ich habe vor dir gesprochen», sagt Simon der Zelote.

«Ich denke wie du, und darum sage ich Judas, er soll hingehen. Johannes, geh du mit ihm. Wir werden euch bei Sonnenuntergang einholen. Der Treffpunkt ist am Marktplatz. Geh und tue dein Bestes.»

Judas steht sofort auf. Johannes hat die flehenden Augen eines vertriebenen Hündleins. Doch Jesus spricht wieder mit den Hirten und sieht den bittenden Blick nicht. Und Johannes geht mit Judas...

«Ich möchte euch zufriedenstellen», sagt Jesus.

«Du tust dies immer, Meister. Der Allerhöchste möge dich in unserem Namen segnen! Ist denn dieser Mann dein Freund?»

«Er ist es. Scheint dir dies unmöglich?»

Der Hirte Johannes neigt das Haupt und schweigt, und der Jünger Simon sagt:

«Nur wer gut ist, weiß zu sehen. Ich bin nicht gut und sehe nicht, was die Güte sieht. Ich sehe nur das Äußere. Doch das Gute ist auch im Innern. Auch du, Johannes, siehst wie ich. Doch der Meister ist gut... und sieht...»

«Was siehst du, Simon, in Judas? Ich befehle dir zu sprechen!»

«Nun, ich denke, wenn ich ihn so anschaue, an bestimmte geheimnisvolle Orte, welche den Raubtieren Unterschlupf bieten und Fiebersümpfe sind. Man sieht nur ein großes Gestrüpp und macht ängstlich einen weiten Bogen herum. Doch dahinter gibt es auch Turteltauben und Nachtigallen, und der Erdboden ist reich an gutem Wasser und heilsamen Kräutern. Ich will annehmen, daß Judas so ist... Ich glaube es, weil du ihn angenommen hast. Du, der du alles weißt...»

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«Ja, ich weiß... Es sind viele Falten im Herzen dieses Menschen... Doch es fehlen auch viele gute Seiten nicht; du hast es in Bethlehem und selbst in Kerioth gesehen. Wenn diese guten Seiten in ihm, die nur menschliche Güte sind, sich auf die Höhe einer spirituellen Güte erheben würden, wäre Judas so, wie du ihn haben möchtest. Er ist noch jung ...»

«Auch Johannes ist jung ...»

«Und du denkst in deinem Herzen: er ist ein besserer Mensch. Aber Johannes ist Johannes! Liebe ihn, Simon, diesen armen Judas. Ich bitte dich darum. Wenn du ihn liebst ... wird er dir besser erscheinen.»

«Ich bemühe mich, es zu tun ... für dich ... Doch er selbst zerstört meine Anstrengungen, als wären sie Schilfrohre ... Aber Meister, ich kenne nur ein Gesetz: das zu tun, was du willst. Darum liebe ich Judas, auch wenn sich in mir etwas gegen ihn und gegen mich selbst regt ...»

«Was, Simon?»

«Ich weiß es nicht genau... Es ist wie der Alarmruf des Soldaten auf der Nachtwache, der mir sagt: "Schlafe nicht! Paß auf!" Ich weiß keinen... Namen dafür. Doch es ist etwas gegen ihn in mir.»

«Denke nicht mehr daran, Simon. Strenge dich nicht an, es zu definieren. Es ist nicht gut, gewisse Wahrheiten zu kennen... und du könntest in deinem Wissen fehlgehen. Laß deinen Meister machen! Du aber, gib mir deine Liebe und vergiß nicht, daß sie mich glücklich macht!»

Alles ist zu Ende.

118. ISKARIOT VERKAUFT DIOMEDES DIE SCHMUCKSTÜCKE DER AGLAIA

Der Marktplatz von Jericho. Es ist der Abend eines langen, heißen Hochsommertags. Vom Markt am Morgen sieht man nur noch Reste - Gemüseabfälle, Haufen von Unrat, aus den Körben verlorenes Stroh, Heu von den Futtersäcken der Esel und Lumpen. Ober allem triumphieren die Fliegen, und die Sonne brütet Gestank und Verwesung aus den wenig gefälligen Dingen. Der weite Platz ist leer. Einige Passanten, einige Straßenjungen, welche die auf den Bäumen des Platzes nistenden Vögel mit Steinen bewerfen; einige Frauen beim Wasserholen. Das ist alles.

Jesus kommt aus einer Straße daher und schaut sich um. Er sieht noch niemand. Geduldig lehnt er sich an einen Baumstamm, wartet, und benützt die Gelegenheit, um mit den Jungen über die Liebe zu sprechen, die von Gott ausgeht und vom Schöpfer zu allen Geschöpfen gelangt.

«Seid nicht grausam! Warum wollt ihr die Vögel der Luft erschrecken? Sie haben ihre Nester dort oben. Sie haben ihre Kleinen. Sie tun niemand etwas zuleide. Sie schenken uns Lieder und Sauberkeit; denn sie ernähren

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sich vom Abfall der Menschen und von Insekten, die dem Getreide und den Früchten schaden. Warum sie verletzen oder töten und den kleinen Vöglein Vater und Mutter wegnehmen? Würde es euch gefallen, wenn ein Verbrecher in euer Haus käme, um alles darin zu zerstören und eure Eltern zu töten oder euch zu verschleppen? Nein, das würde euch nicht gefallen. Warum fügt ihr diesen unschuldigen Vöglein das zu, was ihr nicht wollt, daß es euch geschehe? Wie wollt ihr eines Tages gute Menschen werden, wenn ihr schon als Kinder eure Herzen verhärtet in eurem Verhalten gegenüber diesen wehrlosen Vögelchen? Wißt ihr denn nicht, daß das Gesetz sagt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst?" Wer den Nächsten nicht liebt, kann Gott auch nicht lieben. Und wenn er Gott nicht liebt, wie kann er in sein Haus gehen und dort beten? Gott könnte sagen... und er sagt es im Himmel: "Geh weg, ich kenne dich nicht! Du willst ein Sohn sein? Nein! Du liebst die Brüder nicht, du achtest in ihnen den Vater nicht, der sie erschuf; daher bist du kein Bruder und Sohn, sondern ein Bastard: ein Stiefsohn Gottes und ein Stiefbruder der Brüder." Seht ihr, wie er, der ewige Herr, liebt? In den kälteren Monaten läßt er die Scheunen gefüllt sein, damit sich dort seine Vöglein einnisten können. In den heißen Monaten gibt er ihnen Blätterschatten, um sie vor der Sonne zu schützen. Im Winter ist auf den Feldern das Korn nur leicht mit Erde bedeckt, und es ist nicht schwer, den Samen zu finden und sich mit ihm zu ernähren. Im Sommer wird der Durst mit saftigen Früchten gestillt, und es können sichere und warme Nester gebaut werden mit den Grashalmen und der Wolle, die die Schafe an den Hecken verloren haben. Und er ist der Herr! Ihr kleinen Menschen seid von ihm wie die Vögel erschaffen worden und seid ihre Brüder; warum wollt ihr verschieden sein von ihm, und glauben, das Recht zu haben, mit diesen kleinen Tieren grausam umzugehen? Seid zu allen barmherzig und nehmt niemand das weg, was ihm zusteht, nicht nur den menschlichen Brüdern, sondern auch den Tieren, euren Dienern und Freunden und Gott ...»

«Meister», ruft Simon, «Judas kommt.»

«... Und Gott wird mit euch barmherzig sein und euch alles geben, was ihr nötig habt, wie er es diesen Unschuldigen gibt. Geht und empfangt den Frieden Gottes.»

Jesus verläßt nun den Kreis der Straßenbuben, zu denen sich auch Erwachsene gesellt haben, und geht Judas und Johannes entgegen, die eiligen Schrittes aus einer Seitenstraße herkommen. Judas strahlt vor Freude. Johannes lächelt Jesus zu... scheint aber nicht gerade glücklich zu sein.

«Komm, komm, Meister! Ich glaube, es gut gemacht zu haben. Doch komm mit mir! Auf der Straße kann man nicht sprechen.»

«Wohin, Judas?»

«Zur Herberge. Ich habe schon vier Zimmer reservieren lassen... ganz

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einfache, keine Sorge... Einmal um in einem Bett ausruhen zu können, nach soviel Anstrengung in dieser Hitze, und um eine anständige Mahlzeit zu uns zu nehmen, nicht wie die Vögel im Fluge; außerdem können wir in Ruhe sprechen. Ich habe sehr gut verkauft! Nicht wahr, Johannes ?»

Johannes stimmt ohne große Begeisterung zu.

Doch Judas ist über seinen Handel sehr zufrieden und so bemerkt er nicht, daß Jesus vom Vorschlag einer bequemen Unterkunft nicht begeistert ist, und daß auch Johannes nicht glücklich aussieht. Er fährt fort: «Ich habe mehr eingenommen, als ich erwartet hatte, und so habe ich mir gesagt: "Es ist berechtigt, eine kleine Summe, hundert Denare für unsere Betten und Mahlzeiten vorzubehalten. Wenn wir erschöpft sind, die wir doch immer etwas gegessen haben, wie muß dann erst Jesus am Ende sein!" Ich muß achtgeben, daß mein Meister nicht krank wird. Das ist eine Pflicht der Liebe; denn du liebst mich und ich liebe dich... Es ist auch Platz für euch und die Schafe. Ich habe an alles gedacht», sagt Judas zu den Hirten.

Jesus sagt kein Wort. Er folgt nur mit den anderen.

Sie kommen zu einem kleinen Platz. Judas sagt: «Siehst du das Haus ohne Fenster zur Straße und mit der kleinen Tür, die so eng ist wie ein Spalt? Es ist das Haus des Goldschmieds Diomedes. Es sieht armselig aus, nicht wahr? Doch drinnen ist so viel Gold, daß man ganz Jericho kaufen könnte und ha, ha! ...» Judas lacht schelmisch, «und zwischen diesem Gold kann man auch viele Schmuck- und Zierstücke finden, und andere Dinge von einflußreichen Personen Israels. Diomedes... alle tun so, als ob sie nichts von ihm wüßten... und doch kennen ihn alle, angefangen bei den Herodianern bis zu... alle, ohne Ausnahme! Auf diese glatte, arme Mauer könnte man schreiben: "Geheimnis und Verschwiegenheit." Wenn diese Mauern reden könnten! Man könnte höchstens an der Art, in der ich die Angelegenheit erledigt habe, Anstoß nehmen, Johannes? Du... du würdest ersticken vor Entsetzen und Skrupeln. Übrigens, Meister, schicke mich nie mehr mit Johannes in solche Läden. Es hätte wenig gefehlt, und alles wäre schiefgegangen. Er begreift nicht rasch genug, er kann nicht lügen; und mit einem Schlaufuchs wie Diomedes muß man rasch und frech sein.»

Johannes murmelt: «Du hast gewisse Dinge gesagt! So unmöglich und so... so ... Ja, Meister, schicke mich nicht mehr! Ich bin nur fähig zu lieben, ich ...»

«Schwerlich werden wir noch einmal solch einen Handel tätigen», antwortet Jesus, der sehr ernst geworden ist.

«Dort ist die Herberge. Komm, Meister! Laß mich reden, ich habe alles vorbereitet.»

Sie treten ein, und Judas spricht mit dem Wirt, der die Schafe in ein

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Gehege bringen läßt und dann die Gäste persönlich in einen Raum geleitet, in dem zwei Lager, Stühle und ein Tisch bereit gestellt sind. Dann geht er.

«Laß uns sofort miteinander reden, Meister, solange die Hirten ihre Schafe versorgen.»

«Ich höre.»

«Johannes kann sagen, ob ich aufrichtig bin.»

«Daran zweifle ich nicht. Unter ehrlichen Menschen braucht es keine Schwüre und Zeugnisse. Rede also!»

«Wir sind zur sechsten Stunde in Jericho angekommen und waren erhitzt wie Satteltiere. Ich wollte bei Diomedes nicht den Eindruck erwecken, daß ich in Not sei. Daher bin ich zuerst in die Herberge gegangen, habe mich erfrischt und umgekleidet und gewollt, daß Johannes dasselbe tue. Oh, er wollte nichts davon wissen, die Haare zu salben und sich in Ordnung bringen zu lassen... Doch ich hatte unterwegs meinen Plan festgelegt. Gegen Abend habe ich gesagt: "Laß uns gehen!" Wir waren beide ausgeruht und erfrischt wie zwei Reiche auf einer Vergnügungsreise. Als wir bei Diomedes angekommen sind, habe ich zu Johannes gesagt: "Du mußt mich unterstützen. Widersprich mir nicht und begreife rasch!" Doch es wäre besser gewesen, wenn ich ihn draußen gelassen hätte. Er war mir keine Hilfe. Im Gegenteil... Zum Glück bin ich rasch für zwei und habe seine Fehler wieder gutgemacht.

Aus dem Hause kam gerade der Zöllner. "Gut", habe ich mir gesagt, .wenn er weggegangen ist, finden wir Geld und was ich zum Abschluß des Handels brauche." Denn der Zöllner ist ein Wucherer und ein Dieb wie alle seinesgleichen, hat immer Schmuckstücke, die er mit Drohung und Erpressung den Unglücklichen abnimmt, die er übermäßig mit Steuern belegt, um sich genügend ausgesuchte Speisen und Weiber erlauben zu können. Und er ist ein guter Freund des Diomedes, der Gold und Fleisch kauft und verkauft... Wir sind eingetreten, nachdem ich mich angekündigt hatte. Ich sage: eingetreten, denn es ist nicht dasselbe, ob man in seine Werkstatt geführt wird, wo er tut, als ob er ehrliche Goldschmiedearbeit leiste, oder ob man in den Keller eingelassen wird, wo er seine wirklichen Geschäfte macht. Man muß schon gut mit ihm bekannt sein, um in den Keller vordringen zu können. Als er mich sah, hat er sofort gefragt: "Willst auch du noch Gold verkaufen? Es sind schlechte Zeiten, und ich habe wenig Geld." Sein übliches Lied. Ich habe ihm geantwortet: "Ich komme nicht um zu verkaufen, sondern um zu kaufen. Hast du Schmuckstücke für eine Frau? Aber sehr schöne, kostbare, seltene und schwere aus purem Gold?" Diomedes hat mich erstaunt angeblickt und gefragt: "Willst du eine Frau?" "Kümmere dich nicht darum!" habe ich geantwortet. "Es ist nicht für mich, sondern für diesen Freund, der Bräutigam ist und Goldschmuck für seine Geliebte kaufen möchte."

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Da hat Johannes angefangen, sich wie ein Kind zu benehmen. Diomedes, der ihn beobachtete, hat bemerkt, daß er rot wie Klatschmohn wurde; da hat er als der alte Lüstling, der er ist, gesagt: "Der Junge wird schon beim Nennen der Braut vom Fieber der Liebe ergriffen. Ist deine Frau sehr schön?" hat er noch gefragt. Ich habe Johannes einen Fußtritt gegeben, um ihn aufzuwecken und ihn daran zu erinnern, nicht den Dummen zu spielen. Er hat mit einem solch unterdrückten "Ja" geantwortet, daß Diomedes mißtrauisch geworden ist. Da habe ich mich eingeschaltet: "Ob schön oder nicht schön, das geht dich Alten gar nichts an. Sie wird nie zu der Zahl jener Weiber gehören, deretwegen dir die Hölle sicher ist. Es ist eine ehrbare Jungfrau und wird bald eine ehrbare Frau sein. Gib dein Gold heraus. Ich bin der Brautführer und habe den Auftrag, dem Jungen zu helfen... Ich bin aus Judäa und Städter."

"Der da ist Galiläer, nicht wahr? Immer werden eure Haare zum Verräter. Ist er reich?"

"Sehr!"

Dann sind wir nach unten gegangen, und Diomedes hat Truhen und Schatzkoffer geöffnet. Sag die Wahrheit, Johannes! Kam es dir nicht wie im Himmel vor bei all dem Gold und den Edelsteinen? Ketten, Schließen, Armreifen, Ohrgehänge, Goldnetze und edle Perlen ins Haar, Spangen und Ringe: welch eine Pracht! Mit viel Sorgfalt habe ich eine Kette gewählt... ähnlich jener der Aglaia, sowie Ringe, Spangen, Schließen, Armreife, alles so wie ich es in der Tasche hatte und in derselben Anzahl. Diomedes wunderte sich und fragte: "Noch mehr? Wer ist er denn? Und wer ist die Braut? Eine Prinzessin?" Als ich dann alles hatte, was ich wollte, fragte ich: "Der Preis?"

Oh, welch eine Litanei von vorbereitenden Klagen über die schlechte Zeit, die Steuern, das Risiko, die Diebe! Oh, welch andere Litanei der Versicherung seiner Ehrlichkeit! Dann endlich seine Antwort: "Nur weil du es bist, sage ich dir die Wahrheit, ohne zu übertreiben. Ich verlange zwölf Silbertalente, doch keine Drachme weniger."

"Dieb!" habe ich ihn geschimpft, und zu Johannes gesagt: "Laß uns gehen, Johannes. In Jerusalem werden wir schon einen finden, der kein so großer Dieb ist wie dieser hier." Und ich habe getan, als ob ich weggehen wollte. Er ist mir nachgerannt: "Mein verehrter Freund, mein geliebter Freund, komm, höre deinen armen Diener an! Für weniger kann ich nicht... ganz unmöglich. Schau, ich gebe mir Mühe, ich will mich für dich ruinieren. Ich tue es, weil du mir immer deine Freundschaft geschenkt und mir Geschäfte vermittelt hast. Elf Talente und basta! Das müßte ich zahlen, wenn ich es von einem kaufen wollte, der Hunger hat. Keinen Heller weniger. Es würde bedeuten, mir das Blut aus meinen alten Venen zu saugen."

Nicht wahr, Johannes, so hat er gesagt? Es war zu lächerlich und ekelhaft.

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Als ich dann sah, daß er auf diesem Preis beharrte, habe ich losgelegt: "Du alter widerlicher Kerl, du mußt wissen, ich will nicht kaufen, sondern verkaufen. All dies hier will ich verkaufen. Schau, sie sind so schön wie deine Sachen. Alles Gold aus Rom, alles neue Prägung. Du wirst es sofort loswerden. Es soll dein sein für elf Talente, soviel wie du für deine Sachen verlangt hast. Du hast den Preis selbst festgesetzt, nun bezahle!"

Und nun ging es los: "Das ist Verrat! Du hast mich in meinem Vertrauen betrogen. Du bist mein Ruin. Ich kann nicht soviel geben", hat er geschrien.

"Du hast es so geschätzt. Nun zahle!"

"Ich kann nicht."

"Dann bringe ich es anderswohin."

"Nein, Freund", und dabei streckte er seinen Arm nach Aglaias Haufen aus.

"Also bezahle! ... Zwölf Talente könnte ich verlangen. Doch ich will mich mit deinem letzten Angebot begnügen."

"Ich kann nicht."

"Wucherer, schau, ich habe einen Zeugen, und ich könnte dich als Dieb verklagen..." Und ich habe ihm auch noch andere "Tugenden" vorgeworfen, die ich vor diesem Jungen nicht wiederholen möchte.

Schließlich, da es mich drängte, rasch zu verkaufen, habe ich ihm etwas gesagt, was ich nicht halten werde... Welchen Wert hat denn ein Versprechen, das man einem Dieb gemacht hat? Und ich habe mit zehneinhalb Talenten den Verkauf getätigt. Wir sind dann auseinandergegangen unter Jammern und Freundschaftsversicherungen und... Dirnenangebot. Johannes war dem Weinen nahe. Doch was macht es dir schon aus, wenn man dich als lasterhaft ansieht und du es nicht bist? Weißt du denn nicht, daß die Welt so beschaffen ist und dich als eine Mißgeburt betrachtet? Ein Jüngling, der vom Weibe nichts weiß? Wer soll dir das glauben? Oder wenn man dir glaubt... Was mich betrifft, so möchte ich nicht, daß man von mir denkt, was von dir vielleicht die meinen, die sich vorstellen, daß du in dieser Richtung keine Neigungen hast.

Hier, Meister. Zähle selbst nach! Ich hatte eine Menge Kleingeld. Doch damit bin ich zum Zöllner gegangen und habe gesagt: "Nimm dieses Kleingeld zurück und gib mir die Talente, die Isaak dir gegeben hat!" Ich hatte nämlich zum Schluß auch das noch erfahren, als das Geschäft abgeschlossen war.

Zum Abschied habe ich Isaak-Diomedes noch gesagt: "Vergiß nicht, daß der Judas des Tempels nicht mehr existiert! Nun bin ich der Jünger eines Heiligen. Tue so, als ob du mich niemals gekannt hättest, wenn du an deinem Leben hängst."

Und beinahe hätte ich ihn gepackt, weil er mir eine ungute Antwort darauf gegeben hat.»

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«Was hat er denn gesagt?» fragt Simon wie nebenbei.

«Er hat gesagt: "Du, der Jünger eines Heiligen? Das werde ich niemals glauben; oder es wird so sein, daß bald ein Heiliger bei mir um eine Dirne fragt." Er hat auch gesagt: "Diomedes ist ein alter Schurke, eine Weltplage, doch du bist die neue. Ich könnte mich noch bessern, denn ich wurde das, was ich bin, als Greis. Doch du änderst dich nicht. Du bist so geboren." Dieses alte Luder, das deine Macht abstreitet, verstehst du?»

«Als echter Grieche sagt er viele Wahrheiten.» «Was willst du damit sagen, Simon? Sagst du das meinetwegen?»

«Nein, im allgemeinen. Er gehört zu denen, die das Gold und die Herzen in gleicher Weise kennen. Er ist ein Dieb, ein Erzgauner. Doch es spricht aus ihm die Philosophie der großen Griechen. Er kennt den Menschen, das Tier mit den sieben Ästen der Sünde, den Polyp, der das Gute, die Ehrbarkeit, die Liebe und viele andere Dinge in sich selbst und in anderen abwürgt.»

«Aber er kennt Gott nicht!» «Und du möchtest ihn belehren?» «Ich. Ja. Warum? Gerade die Sünder haben es nötig, Gott zu kennen.»«Allerdings, aber der Meister muß ihn kennen, um ihn zu belehren!»«Kenne ich ihn nicht?»

«Friede, meine Freunde! Die Hirten kommen. Wir wollen ihre Herzen nicht mit euren Streitereien belasten. Hast du das Geld gezählt? Das genügt. Bringe all deine Handlungen zu einem guten Ende, wie diese, und, ich wiederhole es dir noch einmal, vermeide in Zukunft zu lügen, auch um eines guten Zweckes willen ...»

Die Hirten treten ein.

«Freunde, hier sind zehneinhalb Talente. Es fehlen nur 10O Denare, die Judas für die Ausgaben für Unterkunft abgezogen hat. Nehmt das Geld.»

«Du gibst ihnen alles?» fragt Judas.

«Alles. Ich will nicht einen Heller von diesem Geld. Wir haben das Almosen von Gott und jenen, die ehrlich Gott suchen... das Nötigste wird uns nie fehlen. Glaube es mir! Nehmt und seid froh wie ich des Täufers wegen! Morgen werdet ihr zum Gefängnis gehen. Zwei von euch: Johannes und Matthias. Simeon wird mit Joseph zu Elias gehen, um ihm alles zu berichten und sich auf die Zukunft vorzubereiten. Elias weiß Bescheid. Dann soll Joseph mit Levi zurückkommen. Der Ort des Zusammentreffens soll in zehn Tagen das Fischtor von Jerusalem sein, um die erste Stunde. Nun wollen wir essen und ausruhen. Morgen werde ich in der Frühe mit den Meinen aufbrechen. Anderes habe ich euch jetzt nicht zu sagen. Später werdet ihr von mir hören.»

Die Vision verschwindet, während Jesus das Brot bricht.

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119. JESUS WEINT ÜBER JUDAS - SIMON DER ZELOTE TRÖSTET IHN

Die Landschaft, in der Jesus sich gerade aufhält, ist sehr fruchtbar. Herrliche Obstgärten, ertragreiche Weinberge mit schweren Trauben, die gerade anfangen, sich golden und rubinrot zu färben. Jesus sitzt in einem Obstgarten und ißt Früchte, die ein Landwirt ihm angeboten hat. Vielleicht haben sie zuvor miteinander gesprochen, denn der Landmann sagt: «Es freut mich, deinen Durst stillen zu dürfen, Meister. Dein Jünger hat uns von deiner Weisheit berichtet, doch wir sind erstaunt, dich selbst zu hören. Da wir nahe bei der heiligen Stadt leben, gehen wir öfters nach Jerusalem, um Obst und Gemüse zu verkaufen. Bei dieser Gelegenheit steigen wir auch zum Tempel empor, um die Rabbis zu hören. Doch sie sprechen nicht so wie du. Man geht weg und fragt sich: "Wenn es so ist, wer kann dann gerettet werden?" Du hingegen! Es ist mir so leicht ums Herz geworden. Man glaubt, wieder ein Kind zu werden, obwohl man längst erwachsen ist. Ich bin ungebildet... ich kann mich nicht besser ausdrücken. Doch du wirst mich ganz bestimmt verstehen.»

«Ja, ich verstehe dich. Du willst sagen, daß du nach Anhörung des Wortes Gottes mit dem Ernst und der Erfahrung eines Erwachsenen die Einfachheit, den Glauben und die Reinheit in deinem Herzen einkehren fühlst und daß du dir wie ein Kind vorkommst, das ohne Schuld und Bosheit und voller Glauben ist, wie einst, als du an der Hand deiner Mutter das erste Mal zum Tempel hinaufgestiegen bist oder auf ihren Knien gebetet hast. Das willst du sagen.»

«Ja, genau das. Glücklich ihr, die ihr immer bei ihm sein dürft!» sagt er dann zu Johannes, Simon und Judas, die auf einer niedrigen Mauer sitzen und saftige Feigen essen. Und der Bauer endet: «Ich bin glücklich, daß du hier für eine Nacht mein Gast sein willst. Nun fürchte ich kein Unglück mehr, denn dein Segen ist in mein Haus eingekehrt.»

Jesus antwortet: «Der Segen wirkt und bleibt, wenn die Seelen dem Gesetze Gottes und meiner Lehre treu bleiben. Andernfalls geht die Gnade verloren. Und es ist recht so. Denn wenn es wahr ist, daß Gott Sonne und Luft sowohl den Guten als auch den Bösen schenkt, damit die Guten besser werden und die Schlechten sich bekehren, so ist es auch gerecht, daß der Schutz des Vaters sich zur Strafe vom Bösen abwendet, und er durch das Leid zu Gott zurückgerufen werde.»

«So ist der Schmerz nicht immer ein Nachteil?»

«Nein, Freund. Menschlich gesehen, ist er etwas Negatives; im Übernatürlichen aber etwas Gutes. Das Leid vermehrt die Verdienste der Gerechten, die es ohne Verzweiflung und Auflehnung ertragen und es aufopfern in Ergebenheit, als Opfer der Sühne für die eigenen Verfehlungen und für die Sünden der Welt; es bedeutet Erlösung für alle, die nicht gerecht sind.»

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«Es ist so schwer, zu leiden!» sagt der Landwirt, dem sich die Familienangehörigen, etwa zehn Kinder und Erwachsene, zugesellt haben.

«Ich weiß, daß der Mensch es schwierig findet. Der Vater will seinen Kindern den Schmerz ersparen, da er weiß, wie schwer er zu ertragen ist. Doch das ist die Folge der Schuld. Wie lange aber dauert irdisches Leiden in einem Menschenleben? Wahrlich, nur kurze Zeit. Nur kurze Zeit, selbst wenn es sich um das ganze Leben handelt. Ich aber sage: ist es nicht besser, eine kurze Zeit zu leiden als ewig leiden zu müssen? Ist es nicht besser, hier zu leiden als im Fegefeuer? Vergeßt nicht, daß dort die Zeit tausendmal länger ist. Oh, wahrlich, ich sage euch, verwünscht eure Schmerzen nicht, sondern preist die Leiden, die man besser "Gnaden" und "Barmherzigkeit" nennen sollte.»

«Oh, deine Worte, Meister! Wir trinken sie, wie ein Dürstender im Sommer das Honigwasser aus einem frischen Krug trinkt. Willst du uns wirklich schon morgen verlassen, Meister?»

«Ja, morgen. Doch ich werde wiederkommen, um dir zu danken für alles, was du für mich und die Meinigen getan hast, und um dich nochmals um Brot und ein Lager zu bitten.»

«Immer, Meister, wirst du beides hier finden.»

Es kommt ein Mann mit einem Esel, der mit Gemüse beladen ist.

«Höre, wenn dein Freund mitgehen will... Mein Sohn begibt sich nach Jerusalem zum großen Markt vor Ostern.»

«Geh, Johannes, du weißt, was du zu tun hast. In vier Tagen werden wir uns wiedersehen. Mein Friede sei mit dir!» Jesus umarmt Johannes und küßt ihn. Auch Simon tut dasselbe.

«Meister», sagt Judas, «wenn du erlaubst, gehe ich mit Johannes. Es drängt mich, einen Freund wiederzusehen. Er ist an jedem Sabbat in Jerusalem. Ich könnte mit Johannes bis Betfage gehen und dann meinen eigenen Weg nehmen. Er ist ein Freund meiner Familie, weißt du... und meine Mutter hat gesagt ...»

«Ich habe dich um nichts gebeten, Freund.»

«Mein Herz weint, dich verlassen zu müssen. Doch in vier Tagen werde ich wieder bei dir sein. Und ich will dir so treu sein, daß es dir vielleicht unangenehm wird.»

«Geh nur. In vier Tagen treffen wir uns bei Sonnenaufgang am Fischtor. Leb wohl, und Gott befohlen!»

Judas küßt den Meister und geht zum Esel, der auf der staubigen Straße dahintrottet.

Der Abend senkt sich auf die still gewordene Landschaft. Simon beobachtet die Arbeit der Gärtner, die ihre Schollen bewässern.

Jesus verweilt noch eine Zeitlang an seinem Platze. Dann erhebt er sich, geht hinter das Haus und begibt sich in den Obstgarten. Er zieht sich zurück bis zu einer Stelle, wo Granatapfelbäume zwischen niedrigen Sträuchern

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wachsen, die vielleicht Stachelbeersträucher sind. Doch ich bin mir dessen nicht ganz sicher, da sie keine Früchte tragen, und ich die Blätter dieser Pflanze nicht genau kenne. Jesus verbirgt sich hinter den Sträuchern. Er kniet nieder, betet und neigt sein Antlitz bis zum Boden, verbirgt es im Gras und weint. Seine tiefen und unterdrückten Seufzer verraten es. Ein lautloses, doch sehr bitteres Weinen.

So vergeht einige Zeit, und die Dämmerung bricht herein. Doch es ist noch nicht so dunkel, daß man nichts mehr unterscheiden kann. In dem spärlichen Licht sehe ich nun über einem Zweig das unschöne, doch ehrliche Gesicht Simons erscheinen. Er schaut, sucht und erkennt die zusammengekauerte Gestalt des Meisters, die ganz vom dunkelblauen Mantel zugedeckt ist und sich fast nicht vom dunklen Boden abhebt. Nur das blonde Haupt und die hellen, zum Gebet gefalteten Hände sind erkennbar.

Simon schaut mit seinen einfältigen Augen und begreift, daß Jesus sehr traurig sein muß, da er oft seufzt. Er öffnet seinen Mund mit den unförmigen Lippen, die fast violett sind, und ruft: «Meister!»

Jesus hebt das Antlitz.

«Du weinst, Meister? Warum? Darf ich kommen?» Das Gesicht Simons ist verblüfft und zugleich betrübt. Er ist kein schöner Mann, wohl eher häßlich, mit seiner olivgrünen Hautfarbe und der Zeichnung der tief eingegrabenen, bläulichen Narben seiner früheren Krankheit. Doch sein Blick ist so gütig, daß alle Häßlichkeit verschwindet.

«Komm, Simon, Freund!»

Jesus hat sich ins Gras gesetzt. Simon setzt sich neben ihn.

«Warum bist du traurig, Meister? Ich bin nicht Johannes und kann nicht für dich tun, was er für dich tut. Aber ich möchte dich trösten. Nur etwas schmerzt mich: daß ich so unfähig bin. Sage mir, habe ich dir vielleicht in den vergangenen Tagen Kummer bereitet, so daß es dir schwerfällt, mit mir zusammen zu sein?»

«Nein, guter Freund! Du hast mir nie mißfallen vom Augenblick an, da ich dich das erstemal gesehen habe. Und ich glaube, daß du mir nie Grund zum Klagen geben wirst.»

«Mein Meister! Ich bin deines Vertrauens nicht würdig! Dem Alter nach könnte ich dein Vater sein, und du weißt, daß ich mich immer gesehnt habe, Kinder zu erhalten... Laß mich dich lieben, als ob du mein Sohn wärest, und daß ich dir in dieser mühseligen Stunde Vater und Mutter ersetze. Du brauchst deine Mutter, um so viele Dinge vergessen zu können ...»

«O ja, meine Mutter!»

«So laß, bis du dich mit ihr wirst trösten können, deinem Diener die Freude, dich trösten zu dürfen. Du weinst, Meister, weil jemand dir mißfiel. Seit Tagen schon ist dein Antlitz wie eine von Wolken verdunkelte

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Sonne. Ich beobachte dich. Deine Güte verhüllt die Wunde, damit wir ihn nicht hassen, der dich verwundet hat. Doch diese Wunde schmerzt und bereitet dir Ekel. Sage mir, mein Herr, warum entfernst du die Ursache deines Leidens nicht von dir?»

«Weil es, menschlich gesehen, unnütz ist und auch gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt.»

«Ja, du hast verstanden, daß ich Judas meine. Seinetwegen leidest du. Wie kannst du, die Wahrheit, diesen Lügner ertragen? Er lügt, ohne dabei die Farbe zu wechseln. Er ist falscher als ein Fuchs und verschlossener als eine Eule. Nun ist er fortgegangen. Wer weiß, wohin. Wie viele Freunde hat er denn? Es schmerzt mich, dich zu verlassen, aber ich möchte ihm nachgehen und ihn beobachten... Oh, mein Jesus! Dieser Mensch... entferne ihn von dir, mein Herr!»

«Es würde nichts nützen. Was sein muß, wird geschehen.»

«Was willst du damit sagen?»

«Nichts Besonderes.»

«Du hast ihn gerne fortgehen lassen, denn sein Verhalten in Jericho hat dich abgestoßen.»

«Das ist wahr, Simon. Und ich sage dir noch einmal: was sein muß, wird geschehen. Und Judas ist ein Teil dieser Zukunft. Auch er muß sein.»

«Aber Johannes hat zu mir gesagt, daß Simon Petrus die Aufrichtigkeit in Person und ein Feuerkopf ist... wird er ihn ertragen?»

«Er muß ihn ertragen. Auch Petrus ist zu einem Werk bestimmt, und Judas ist der Webstuhl, auf dem er seinen Teil zu weben hat, oder, wenn dir das besser gefällt, die Schule, in der Petrus mehr als anderswo lernen wird. Gut mit Johannes sein und die Seele des Johannes verstehen, das ist eine Tugend, die auch die Stumpfen besitzen. Doch gut mit einem wie Judas sein und Seelen verstehen wie die seine, Arzt und Priester für sie sein, das ist schwierig. Judas ist für euch ein lebendiger Unterricht.»

«Für uns?»

«Ja, euch. Der Meister wird nicht ewig auf der Erde sein. Er wird sie verlassen, nachdem er das härteste Brot gegessen und den bittersten Wein getrunken hat. Doch ihr bleibt und müßt auf meinem Wege fortfahren... und ihr müßt wissen. Die Welt endet nicht mit dem Meister, sondern dauert weiter bis zur endgültigen Wiederkunft Christi und zum letzten Gericht über die Menschen. Wahrlich, ich sage dir, daß auf einen Johannes, einen Petrus, einen Simon, einen Jakobus, einen Andreas, einen Philippus, einen Bartholomäus und einen Thomas mindestens je sieben Judas treffen; und noch mehr, noch mehr ...»

Simon überlegt und schweigt. Dann sagt er: «Die Hirten sind gut. Judas verachtet sie. Doch ich liebe sie.»

«Ich liebe und lobe sie.»

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«Es sind einfache Seelen, wie sie dir gefallen.»

«Judas ist ein Städter.»

«Seine einzige Entschuldigung. Doch viele sind in der Stadt aufgewachsen und trotzdem... Wann willst du meinen Freund aufsuchen?»

«Morgen, Simon; sehr gerne, denn wir werden allein sein, du und ich. Ich denke, es muß ein gebildeter Mensch sein, wie du.»

«Er leidet sehr, körperlich und noch mehr im Herzen. Meister, ich möchte dich um etwas bitten: wenn er nicht selbst von seinen Betrübnissen sprechen sollte, frage ihn nichts über seine Familie!»

«Ich werde es nicht tun. Ich bin für die Leidenden gekommen, aber ich erzwinge keine Vertraulichkeiten. Auch das Leid hat seine Zurückhaltung ...»

«Und ich habe nicht Rücksicht darauf genommen... aber ich empfand soviel Schmerz.»

«Du bist mein Freund und hattest die Ursache meines Schmerzes erkannt. Ich will für deinen Freund der unbekannte Rabbi sein. Wenn er mich besser kennengelernt hat, dann... Laß uns gehen! Die Nacht ist schon hereingebrochen. Lassen wir unsere Gastgeber nicht warten, die müde sind! Morgen früh wollen wir nach Bethanien aufbrechen.»

120. «BEI EUCH STEHEN DIE GUTEN IM SELBEN

VERHÄLTNIS ZU DEN BÖSEN WIE DIE APOSTEL ZU JUDAS»

Jesus sagt dann:

«Kleiner Johannes, wie oft habe ich, das Antlitz zur Erde, für die Menschen geweint. Und ihr möchtet mir im Leiden nachstehen?

Auch bei euch stehen die Guten im selben Verhältnis zu den Bösen wie die Apostel zu Judas. Je besser einer ist, um so mehr leidet er. Doch auch für euch, und das sage ich ganz besonders allen, denen die Seelsorge anvertraut ist, ist notwendig, Judas zu beobachten und zu lernen. Ihr alle seid Petrus, ihr Priester! Auch ihr müßt binden und lösen. Doch wieviel Beobachtungssinn, wieviel Vereinigung mit Gott, wieviel lebendiges Studium und wieviel Vergleiche mit der Methode eures Meisters ist notwendig, um so zu sein, wie ihr sein sollt!

Manchen wird es unnütz, menschlich unmöglich erscheinen, was ich hier lehre. Es sind die Leugner der menschlichen Aspekte des Lebens Jesu, sie wollen aus mir ein Wesen machen, das so außerhalb des menschlichen Lebens steht und nur göttlich ist. Wo bleibt da die allerheiligste Menschheit, wo das Opfer der zweiten Person in der Annahme des menschlichen Fleisches? Oh! Ich war wirklich der Mensch unter Menschen. Ich war der MENSCH. Und darum schmerzte mich der Anblick

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des Verräters und der Undankbaren. Darum erfreute ich mich auch an allen, die mich liebten oder sich zu mir bekehrten. Darum erschauderte und weinte ich vor dem seelischen Leichnam des Judas. Ich erschauderte und weinte vor dem toten Freunde. Aber ich wußte, daß ich ihn zum Leben zurückrufen werde, und freute mich darüber, ihn im Geiste schon in den Limben zu sehen. Aber hier... hier hatte ich den Dämon vor mir. Mehr möchte ich darüber nicht sagen.

Du, Johannes, folge mir nach! Machen wir den Menschen auch dieses Geschenk. Und dann... selig, die das Wort Gottes anhören und sich bemühen, alles zu tun, was es verlangt. Selig, die mich kennenlernen wollen, um mich zu lieben! In ihnen und für sie werde ich ein Segen sein ...»

121. BEGEGNUNG JESU MIT LAZARUS IN BETHANIEN

Ein ganz klarer, sommerlicher Tagesanbruch. Mehr schon als die Morgenröte, der Sonnenaufgang: die Sonne erhebt sich über den Horizont, steigt höher und lächelt der lächelnden Erde zu. Kein Halm, der nicht mit seinem glitzernden Tau lacht. Es scheint, als seien die nächtlichen Sterne Staub geworden, der wie Gold und Edelsteine auf allen Halmen gleißt; sogar auf den am Boden verstreuten Steinen glaubt man Diamantpuder oder Goldsplitterchen zu sehen.

Jesus und Simon haben einen Weg eingeschlagen, der mit der Hauptstraße ein V bildet. Sie nähern sich herrlichen Obstgärten und Flachsfeldern, deren Pflanzen, bereits mannshoch, bald abgemäht werden müssen. Andere, weiter entfernte Felder zeigen nur die großen roten Flecken des Klatschmohns im Gelb der Stoppeln.

«Wir befinden uns schon auf dem Besitztum meines Freundes. Siehst du, Meister, die Entfernung entspricht der gesetzlichen Meile. Ich hätte mir nie erlaubt, dich zu täuschen. Hinter diesem Obstgarten ist der Zaun des Gartens und dahinter das Haus. Ich habe dich auf dieser Abkürzung hierher geführt, um den Vorschriften zu gehorchen.»

«Dein Freund muß sehr reich sein.»

«Sehr. Doch er ist nicht glücklich. Seine Familie hat auch anderswo Besitztümer.»

«Ist er Pharisäer?»

«Sein Vater war es nicht. Er... ist sehr gesetzestreu. Ich habe dir gesagt: ein wahrer Israelit!»

Sie gehen noch ein Stück, bis zu einer hohen Mauer. Dahinter stehen Bäume und Büsche, zwischen denen das Haus kaum sichtbar ist. Der Erdboden bildet hier eine kleine Erhebung, doch nicht so sehr, daß sie dem

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Auge versagt, in den Garten zu sehen, der so schön ist, daß wir ihn Park nennen wollen.

Sie gehen um die Ecke. Von der Mauer hängen duftende Rosen- und Jasminsträucher herunter. Hier das schwere Tor aus kunstgeschmiedetem Eisen. Simon schlägt mit dem bronzenen Klopfer an.

«Es ist noch zu früh, um einzutreten, Simon», bemerkt Jesus.

«Oh! mein Freund steht mit der Sonne auf, da er nur in seinem Garten oder zwischen seinen Büchern Trost findet. Die Nacht ist für ihn eine Plage. Warte nicht länger, Meister, ihm die Freude deines Kommens zu machen!»

Ein Diener öffnet das Tor.

«Asäus, ich grüße dich, sag deinem Herrn, daß Simon der Zelote gekommen ist und seinen Freund mitgebracht hat.»

Der Diener eilt fort, nachdem er beide hat eintreten lassen und sie mit den Worten begrüßt hat: «Euer Diener. Kommt herein, denn das Haus des Lazarus steht allen Freunden offen!»

Simon kennt sich hier gut aus; er schlägt nicht den Mittelweg ein, sondern einen kleineren zwischen Rosenhecken und geht auf eine mit Jasmin bewachsene Pergola zu.

Tatsächlich zeigt sich dort Lazarus. Er ist sehr mager und blaß, so wie ich ihn immer gesehen habe... sehr groß, mit kurzen, schütteren und glatten Haaren und einem spärlichen Bart, der nur die Unterseite des Kinns bedeckt. Er ist in feinstes Linnen gekleidet und geht mühsam, wie jemand, den die Beine schmerzen. Da er Simon sieht, grüßt er mit liebenswürdiger Geste und geht dann, so gut er kann, Jesus entgegen, wirft sich ihm zu Füßen und küßt den Saum seines Gewandes und sagt: «Ich bin nicht so viel Ehre wert. Doch da deine Heiligkeit sich bis zu meinem Elend erniedrigt, komm, mein Herr, tritt ein und sei Herr in meinem bescheidenen Hause!»

«Steh auf, mein Freund, und empfange meinen Frieden!»

Lazarus erhebt sich, küßt die Hände Jesu und betrachtet ihn voller Verehrung, nicht ohne Neugier. Sie gehen zusammen zum Hause.

«Wie sehr habe ich dich erwartet, Meister! Jeden Morgen sagte ich mir: "Heute wird er kommen", und jeden Abend: "Auch heute habe ich ihn nicht gesehen".»

«Warum erwartetest du mich so sehnsüchtig?»

«Warum 9 ... Was erwarten wir in Israel anderes als dich 7»

«Und du glaubst, das ich der Erwartete bin?»

«Simon hat noch nie gelogen. Auch ist er nicht ein Mensch, der übertreibt oder sich für Lügendunst begeistert. Das Alter und das Leiden haben ihn zu einem Weisen heranreifen lassen. Und dann... wenn er dich nicht an der Wahrheit deines Wesens erkannt hätte, dann hätten deine Werke gesprochen und dich heilig erklärt. Wer die Werke Gottes tut, muß

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ein Mann Gottes sein. Und du tust sie. Und die Art und Weise, wie du sie vollbringst, bestätigt, daß du der Mann Gottes bist. Mein Freund ist zu dir gekommen, angezogen durch die Kunde deiner Wunder; und er hat ein Wunder an sich erlebt. Ich weiß, daß dein Weg durch weitere Wunder gezeichnet ist. Warum also sollte ich nicht glauben, daß du der Erwartete bist? Oh, es ist so süß, an das Gute zu glauben. Bei vielen unguten Dingen müssen wir so tun, als seien sie gut... aus Friedensliebe... weil wir sie nicht ändern können; bei vielen hinterhältigen Worten, die Verehrung, Lob und Gutmütigkeit auszudrücken scheinen, jedoch Sarkasmus oder Ironie sind... mit Honig überzogenes Gift. Wir müssen tun, als ob wir daran glaubten, obwohl wir um das Gift, den Hohn und den Spott wissen. Wir müssen so tun, weil es nicht anders möglich ist, da wir schwach sind gegen eine starke Welt und allein gegen eine ganze Welt, die uns feindlich gesinnt ist. Warum also nicht an das Gute glauben? Außerdem ist die Zeit erfüllt, und die Zeichen der Zeit sind da. Das, was unserer Gewißheit noch fehlen könnte, kommt uns von unserem Willen zu glauben, daß die Wartezeit beendet ist und der Retter, der Messias, da ist... der Israel und den Kindern Israels den Frieden bringt. Er, der unseren Tod frei von Ängsten machen wird, da wir wissen, daß wir erlöst sind, daß wir ohne den Schmerz der Sehnsucht nach unseren Verstorbenen leben können... Oh, die Toten! Warum sie beweinen, wenn nicht deshalb, weil sie keine Kinder mehr und noch nicht den Vater und Gott haben?»

«Ist es schon lange her, daß dein Vater gestorben ist?»

«Drei Jahre, und sieben, daß meine Mutter gestorben ist... Doch seit einiger Zeit trauere ich nicht mehr um sie. Auch ich möchte dort sein, wo ich hoffe, daß sie sind... in Erwartung des Himmels.»

«Dann hättest du aber den Messias nicht zu Gast.»

«Das ist wahr. Jetzt bin ich in einer glücklicheren Lage als sie, da ich dich habe... und das Herz diese Freude genießen darf. Tritt ein, Meister! Erweise mir die Ehre, daß mein Haus dein Haus sei! Heute ist Sabbat; leider kann ich nicht zu deiner Ehre die Freunde einladen ...»

«Ich wünsche es auch nicht. Heute bin ich nur für den Freund Simons da, der auch mein Freund ist.»

Sie betreten einen schönen Saal, wo die Diener schon bereitstehen, sie zu empfangen.

«Ich bitte euch, ihnen zu folgen», sagt Lazarus. «So werdet ihr euch vor der morgendlichen Mahlzeit erfrischen können.» Und während Jesus und Simon in einen anderen Raum gehen, gibt Lazarus den Dienern Anweisungen. Ich erkenne, daß es ein reiches, vielmehr ein herrschaftliches Haus ist.

Jesus trinkt Milch, die ihm Lazarus unbedingt selbst eingießen will, bevor er sich zum Frühstück niedersetzt.

Ich höre, wie Lazarus, sich an Simon wendend, sagt: «Ich habe den

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Mann gefunden, der bereit ist, deine Güter zu erwerben zum Preis, den dein Vertrauensmann vorgeschlagen hatte. Er will keine Drachme abziehen.»

«Ist er auch bereit, meine Bedingungen zu erfüllen?»

«Er ist dazu bereit. Er nimmt alles an, nur um zu diesen Ländereien zu kommen; auch ich bin zufrieden, da ich weiß, wer mein Nachbar sein wird. Doch da du beim Verkauf nicht anwesend sein willst, möchte auch er für dich unerkannt bleiben. Ich bitte dich, diesen Wunsch zu berücksichtigen.»

«Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Du, mein Freund, wirst mich vertreten; was immer du tun wirst, wird gut getan sein. Mir genügt es, wenn mein treuer Diener nicht auf die Straße gestellt wird... Meister, ich verkaufe und bin sehr glücklich darüber, daß ich nichts mehr habe, das mich an etwas bindet, was dir nicht dient. Doch ich habe einen alten, treuen Diener, den einzigen, der mir nach meinem Schicksalsschlag verblieben ist und der mir, wie ich dir schon gesagt habe, während meiner Absonderung immer geholfen und meine Güter wie sein Eigentum verwaltet hat. Er hat sie mit Hilfe des Lazarus als seine eigenen ausgegeben und sie mir somit erhalten, um ein wenig meiner Not abhelfen zu können. Nun wäre es nicht gerecht, wenn dieser Diener in seinem Alter auf die Straße gesetzt würde. So habe ich beschlossen, daß ein kleines Haus am Rande des Besitztums ihm gehören und ein Teil der Verkaufssumme ihm für seine künftigen Bedürfnisse gegeben werden soll. Die Alten, weißt du, sind wie der Efeu. Nachdem sie immer an demselben Ort gelebt haben, leiden sie zu sehr, wenn sie aus der gewohnten Umgebung herausgerissen werden. Lazarus wollte ihn zu sich nehmen, denn er ist ein guter Mensch. Doch ich habe es vorgezogen, die Sache so zu regeln. So wird der Alte weniger leiden.»

«Auch du bist gut, Simon; wenn alle so gerecht wären wie du, dann wäre meine Aufgabe einfacher», bemerkt Jesus.

«Findest du die Welt tückisch, Meister?» fragt Lazarus.

«Die Welt? ... Nein. Die Mächte der Welt: Satan! Wenn er nicht der Herr der Herzen wäre und sie nicht in seiner Gewalt hätte, würde ich keinem Widerstand begegnen. Doch das Böse ist gegen das Gute, und ich muß in jedem das Böse besiegen, um das Gute hineinzulegen, was nicht alle wünschen.»

«Es ist wahr. Nicht alle wollen dies. Meister, welche Worte findest du für die Schuldigen, um sie zu bekehren, sie zu beugen? Worte der strengen Zurechtweisung, wie jene, denen wir in der Geschichte Israels oft begegnen und die als letzter der Vorläufer gebrauchte... oder Worte der Barmherzigkeit?»

«Liebe übe ich und Barmherzigkeit. Glaube es, Lazarus, über jemand, der gefallen ist, hat ein Blick der Liebe mehr Macht als eine Verfluchung.»

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«Und wenn die Liebe verlacht wird?»

«Weiterhin lieben... bis zum äußersten. Lazarus, kennst du die Gegenden, in denen der verräterische Erdboden die Unvorsichtigen verschlingt?»

«Ja, ich habe darüber gelesen, denn in meinem Zustand lese ich viel, aus Leidenschaft und um die langen, schlaflosen Nächte zu verkürzen. Ich weiß, daß es solche in Syrien, in Ägypten und auch bei Chaldäa gibt. Und mir ist bekannt, daß sie nicht mehr hergeben, was sie verschlungen haben. Ein Römer sagte, daß es Mäuler der Hölle seien, in denen heidnische Ungeheuer leben. Ist das wahr?»

«Das ist nicht war. Es sind nur besondere Beschaffenheiten der Erdoberfläche. Der Olymp hat damit nichts zu tun. Auch wenn man an den Olymp nicht mehr glauben wird, werden sie weiterbestehen, und der Fortschritt der Menschen wird nur eine genauere Erklärung darüber geben können, ohne an der Tatsache etwas zu ändern. Nun frage ich dich: wenn du davon gelesen hast, weißt du bestimmt auch, wie man sich retten kann, wenn man hineingefallen ist.»

«Ja, mit einem zugeworfenen Seil, einer Stange oder auch einem Ast. Manchmal genügt ein kleiner Gegenstand, um dem Versinkenden das Mininum an Halt zu geben, der ihm erlaubt, die Ruhe zu bewahren und ohne Aufregung weitere Hilfe zu erwarten.»

«Nun gut: der Sünder, der Besessene wird vom verräterischen Erdboden, der an der Oberfläche Blumen aufweist und darunter beweglichen Schlamm hat, angesaugt. Glaubst du, daß einer, der weiß, was es heißt, sich auch nur mit einem eigenen Atom in den Besitz Satans zu begeben, es doch täte? Aber er weiß es nicht... und dann... entweder lähmt ihn der Schreck und das Gift des Bösen, oder er wird verrückt; um sich zu retten, wehrt er sich mit Bewegungen und sinkt dadurch nur tiefer in den Schlamm; schlägt er weiter um sich, bewirkt er schwere Wogen und beschleunigt damit sein Versinken. Die Liebe ist das Seil, der Ast, der Zweig, von dem du sprichst. Man muß darauf bestehen, bis er sie ergreift ... Ein Wort... ein Verzeihen... ein Verzeihen, das größer ist als die Schuld ... um ein weiteres Abgleiten zu verhindern und die Hilfe Gottes zu erwarten. Lazarus, weißt du, welche Macht das Vergeben hat? Es bringt dem Vergebenden Gott zu Hilfe. Du liest viel?»

«Sehr viel. Ich weiß nicht, ob es gut ist. Doch aufgrund meiner Krankheit und anderer Dinge sind mir viele menschliche Köstlichkeiten vorenthalten; so bleiben mir nur Liebhabereien: Blumen und Bücher, Bäume und auch Pferde. Ich weiß, daß man mich deswegen kritisiert. Doch ich kann in meinem Zustand (er zeigt seine dickgeschwollenen, eingewickelten Beine) nicht zu Fuß oder auf einem Esel meine Güter besuchen. Ich muß einen Wagen benützen, und es muß rasch gehen. Deswegen habe ich mir Pferde angeschafft, und ich liebe sie sehr. Doch wenn du sagst, daß es nicht gut ist, werde ich sie verkaufen.»

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«Nein, Lazarus. Diese Dinge schaden nicht. Es schadet nur, was den Geist beunruhigt und ihn von Gott entfernt.»

«Dies, Meister, wollte ich wissen. Ich lese viel. Ich habe nur diesen Trost. Ich bin wißbegierig. Ich glaube, daß es im Grunde besser ist, das Böse zu kennen als es zu tun; daß es besser ist zu lesen als... andere Dinge zu tun. Doch ich lese nicht nur unsere Bücher. Ich liebe es, auch die Welt der anderen kennenzulernen, und Rom und Athen ziehen mich an. Nun weiß ich, wieviel Sittenverderbnis über Israel kam, als es sich mit den Assyrern und Ägypten verbündete, und wieviel Übel uns die hellenisierende Regierung gebracht hat. Ich weiß nicht, ob ein Einzelmensch sich selbst so viel Unheil zufügen kann, wie Judas (Makkabäus) sich selbst und uns, seinen Söhnen, angetan hat. Doch was denkst du davon? Ich möchte, daß du mich belehrst. Du, der du nicht nur ein Rabbi bist, sondern das Wort der göttlichen Weisheit.»

Jesus betrachtet ihn einige Minuten lang mit einem durchdringenden und doch fernen Blick. Man hat das Gefühl, daß dieser Blick den matten Körper des Lazarus durchbohre, sein Herz ergründe, noch einmal alles überprüfe und wer weiß was sehe. Endlich sagt Jesus: «Verwirrt dich deine Lektüre? Entfernt sie dich von Gott und seinem Gesetz?»

«Nein, Meister. Sie zwingt mich zum Vergleich zwischen unserem wahren Gott und den falschen, heidnischen Göttern. Ich betrachte die Helden Israels, seine Gerechten, die Patriarchen, die Propheten und vergleiche sie mit den finsteren Gestalten der Geschichte der anderen Völker. Ich vergleiche unsere Philosophie - ich meine die Weisheit der Heiligen Schrift - mit den armen griechischen und römischen Philosophien, in welchen Feuerflämmchen aufflackern, doch keine richtige Flamme brennt und leuchtet wie in den Büchern unserer Weisheit. Dann verneige ich mich in noch tieferer Verehrung im Geiste, um unseren Gott anzubeten, der in Israel durch Geschehnisse, Personen und unsere Schriften spricht.»

«Dann lies nur weiter, es kann für dich nützlich sein, die heidnische Welt kennenzulernen. Mach weiter so... du kannst weiterhin lesen. Die Hefe des Bösen und der Keim der seelischen Zersetzung stecken nicht in dir. Daher kannst du ohne Sorge lesen. Die wahre Liebe, die du zu deinem Gott hast, macht die profanen Keime, welche die Lektüre in dir entwickeln könnte, wirkungslos. In allen Handlungen des Menschen liegt die Möglichkeit zum Guten und zum Bösen. Lieben ist keine Sünde, wenn man heiligmäßig liebt. Arbeiten ist keine Sünde, wenn man arbeitet, wann es erlaubt ist. Verdienen ist keine Sünde, wenn man sich mit dem gerechten Lohn begnügt. Studieren ist keine Sünde, wenn das Studium nicht die Gedanken an Gott in uns tötet. Doch Sünde ist es, dem Altare zu dienen, wenn dies aus Eigennutz geschieht.

Bist du nun überzeugt, Lazarus?»

«Ja, Meister. Ich habe schon andere darüber befragt, und sie haben

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mich deshalb verachtet. Du hingegen gibst mir Licht und Frieden. Oh, wenn alle dich hören könnten! Komm, Meister! Unter der Jasminlaube ist frische Luft und Ruhe. Angenehm ist es, in Erwartung des Abends im kühlen Schatten auszuruhen.»

Sie gehen hinaus, und die Vision ist zu Ende.

122. JESUS KEHRT NACH JERUSALEM ZURÜCK UND HÖRT IM TEMPEL ISKARIOT - IM ÖLGARTEN

Jesus ist mit Simon in Jerusalem. Sie durchbrechen die Scharen der Händler und Maultiere, die auf der Straße eine Prozession bilden. Jesus sagt: «Laß uns zuerst zum Tempel hinaufgehen, bevor wir uns nach Gethsemane begeben. Beten wir zum Vater in seinem Hause!»

«Nur das, Meister?»

«Nur das. Ich kann mich nicht aufhalten. Morgen früh ist am Fischtor die Zusammenkunft, und wenn die Menge drängt, wie wird es mir möglich sein, ungehindert dorthin zu gelangen? Ich möchte die anderen Hirten sehen. Ich werde sie als wahre Hirten in ganz Palästina verteilen, damit sie die Schafe zusammenrufen und der Herr der Herde bekannt werde, wenigstens dem Namen nach, damit, wenn ich diesen Namen nenne, sie alle wissen, daß ich der Herr der Herde bin, und alle zu mir kommen, um geliebt zu werden.»

«Es ist wunderbar, einen Herrn wie dich zu haben. Die Schafe werden dich lieben.»

«Die Schafe, aber nicht die Böcke! Nach dem Besuch bei Jonas, werden wir nach Nazareth und dann nach Kapharnaum gehen. Simon Petrus und die anderen leiden unter meiner Abwesenheit. Wir suchen sie auf zu ihrer und unserer Freude. Auch der Sommer rät uns dazu. Die Nacht ist für die Ruhe da, und es gibt viel zu wenige, die die Ruhe zur Erkenntnis der Wahrheit vorziehen. Der Mensch, oh, der Mensch! Er vergißt zu leicht, daß er eine Seele hat; er denkt und sorgt nur für den Leib. Die Sonne ist tagsüber erbarmunglos. Sie hindert am Reisen und am Lehren auf den Plätzen und auf den Straßen. Sie schläfert den Geist ein wie den Leib, so sehr ermüdet sie diese. Laß uns also gehen und meine Jünger unterrichten dort im ruhigen, immergrünen und wasserreichen Galiläa. Bist du schon einmal dort gewesen?»

«Einmal auf der Durchreise und im Winter, bei einer meiner mühsamen Fahrten von einem Arzt zum anderen. Es hat mir dort gefallen.»

«Oh, es ist schön dort, immer! Auch im Winter und mehr noch in den anderen Jahreszeiten. Jetzt, im Sommer gibt es dort gleichsam Engelsnächte... Ja, es scheint, als ob sie für die Flüge der Engel gemacht wären,

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so rein sind sie. Der See... der See, im Kreis der näheren oder entfernteren Berge, scheint wirklich dazu geschaffen, um zu den Seelen, die Gott suchen, von Gott zu sprechen. Er ist ein Stück Himmel, das mitten in die grüne Landschaft gefallen ist, und das Firmament spiegelt sich in ihm mit seinen Sternen und vermehrt sie damit, als wolle es die Sterne auf einer Platte aus Saphir dem Schöpfer anbieten. Die Ölbäume wachsen bis nahe ans Ufer und sind voller Nachtigallen. Auch sie singen dem Schöpfer ihr Lob, der sie in dieser schönen, friedvollen Gegend leben läßt.

Und mein Nazareth! Ganz dem Kuß der Sonne hingebreitet, weiß, grün und lächelnd zwischen den beiden Riesen, dem großen und dem kleinen Hermon und dem Sockel von Bergen, die den Tabor umgeben. Ein Sockel mit sanften grünen Hängen, die den Blick hinaufführen zu ihrem Herrn, zum Hermon, der sein oft verschneites Haupt zur Sonne erhebt; und schön ist es, wenn die Gipfel in ihr Licht getaucht zu rosenrotem Alabaster werden, während auf der entgegengesetzten Seite der Karmel zu gewissen Zeiten und bei starker Sonnenbestrahlung bläulich wie der Lapislazuli sich zeigt, wenn alle Marmoradern, die Wasserläufe, die Wälder und Wiesen in ihren verschiedenen Farben leuchten. In den ersten Sonnenstrahlen jedoch sind sie wie zartgefärbte Amethyste, und am Abend gleichen sie einem violettblauen Beryll; wenn sie der Mond im Schein seines milchigsilbernen Lichts ganz schwarz erscheinen läßt, sehen sie aus wie der kompakte Block eines Sardonysteines. Und dann im Süden der fruchtbare und blütenreiche Teppich der Ebene von Esdrelon.

Und dann... und dann, oh, Simon! Dort blüht eine Blume! Eine Blume, die einsam leuchtet und duftet in Reinheit und Liebe für ihren Gott und ihren Sohn! Dort ist meine Mutter, und du wirst sie kennenlernen, Simon, und mir dann sagen, ob es auf dieser Erde ein anderes Geschöpf gibt, das ihr, auch in menschlicher Anmut, gleichkommt. Sie ist schön, doch alles wird von dem übertroffen, was ihr Inneres ausstrahlt. Wenn ein Rohling sie entkleiden, sie verunstalten und sie zum Umherirren verurteilen würde, sie wäre immer noch die Königin in königlichem Gewand, weil ihre Heiligkeit sie mit einem Mantel der Herrlichkeit umkleiden würde. Alles kann mir die Welt an Bösem antun, aber alles werde ich der Welt verzeihen, denn um auf die Welt zu kommen und um diese zu erlösen, hatte ich sie: die demütige und große Königin der Welt, welche die Welt nicht kennt, durch die aber der Welt das Heil gewährt wurde und in allen Jahrhunderten gewährt werden wird.

Da sind wir am Tempel angelangt. Beachten wir die jüdische Form des Kultes! Aber in Wahrheit sage ich dir, daß das wahre Haus Gottes, die heilige Bundeslade, ihr Herz ist, die Hülle ihr reinstes Fleisch, das die Tugend ziert.»

Sie sind eingetreten und begeben sich auf die erste Terrasse. Sie durchschreiten eine Säulenhalle und kommen zur zweiten Terrasse.

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«Meister, schau dort, Judas inmitten der Leute! Es sind auch Pharisäer und Synedristen darunter. Ich will gehen und hören, was er sagt. Darf ich?»

«Geh, ich werde dich am großen Tor erwarten.»

Simon eilt fort und stellt sich so, daß er hören kann, ohne gesehen zu werden.

Judas spricht mit großer Überzeugung: «... und hier sind Personen, die ihr alle kennt und achtet und die euch sagen können, wer ich war. Nun, ich sage euch, er hat mich umgewandelt. Der erste Erlöste bin ich. Viele unter euch verehren den Täufer. Auch er verehrt ihn und nennt ihn "den Heiligen, der dem Elias der Sendung nach ebenbürtig ist, ihn aber überragt!" Dieser Täufer nun nennt ihn das "Lamm Gottes" und schwört bei seiner Heiligkeit, daß er gesehen hat, wie er vom Feuer des Geistes gekrönt wurde, während eine Stimme vom Himmel ihn als den "Geliebten Sohn Gottes, der angehört werden soll", verkündet hat. So kann er kein anderer sein als der Messias. Er ist es! Ich schwöre es euch. Ich bin kein ungebildeter Mensch und kein Dummkopf. Er ist der Messias! Ich habe seine Taten gesehen und seine Worte gehört. Und ich sage euch: Er ist es, der Messias. Das Wunder gehorcht ihm wie ein Sklave dem Herrn. Krankheiten und Unglück schwinden wie tote Dinge und werden Gesundheit und Freude. Die Seelen verwandeln sich noch mehr als die Körper. Ihr könnt dies an mir sehen. Habt ihr keine Kranken, kein Leid zu heilen? Wenn ihr sie habt, dann kommt morgen bei Sonnenaufgang zum Fischtor. Er wird dort sein und euch glücklich machen. Unterdessen gebe ich in seinem Namen den Armen diese Hilfe.»

Judas verteilt Münzen an zwei Krüppel und drei Blinde und zwingt schließlich eine Greisin, die letzten Geldstücke anzunehmen. Dann grüßt er die Menge und bleibt mit Joseph von Arimathäa, Nikodemus und drei anderen, die ich nicht kenne, zusammen.

«Oh, jetzt geht es mir gut», ruft Judas aus. «Nun habe ich nichts mehr. Nun bin ich so, wie er es will.»

«Wahrlich, ich erkenne dich nicht wieder. Ich glaubte an einen Scherz. Doch nun sehe ich, daß es dir ernst ist», ruft Joseph aus.

«Und ob es mir Ernst ist! Ich als erster erkenne mich nicht wieder. Im Vergleich zu ihm bin ich noch ein schmutziges Raubtier. Doch ich habe mich schon sehr geändert.»

«Und du wirst nun nicht mehr dem Tempel angehören?» fragt ein mir Unbekannter.

«O nein, ich gehöre Christus. Wer sich ihm nähert, kann - sofern er keine Natter ist - nicht anders als ihn lieben. Er wünscht nichts anderes mehr als ihn.»

«Wird er nicht mehr hierher kommen?» fragt Nikodemus.

«Sicher wird er kommen; doch nicht jetzt.»

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«Ich möchte ihn hören.»

«Er hat an diesem Ort schon gesprochen, Nikodemus.»

«Ich weiß es. Doch ich war damals mit Gamaliel; ich habe ihn gesehen, bin aber nicht stehengeblieben ...»

«Was sagte Gamaliel, Nikodemus?»

«Er sagte: "Irgendein neuer Prophet!" Anderes hat er nicht hinzugefügt.»

«Und du hast ihm nichts von dem erzählt, was ich dir gesagt hatte, Joseph? Du bist doch sein Freund...»

«Ich berichtete ihm darüber; doch er antwortete mir: "Wir haben schon den Täufer, und nach den Lehren der Schriftgelehrten müssen mindestens hundert Jahre vergehen, um das Volk auf das Kommen des Königs vorzubereiten. Ich meine, es braucht weniger", hat er hinzugefügt, "denn die Zeit ist erfüllt" * Dann hat er geendet: "Ich kann jedoch nicht annehmen, daß der Messias sich auf diese Weise offenbart. Eines Tages glaubte ich, daß die messianische Offenbarung nunmehr beginne, denn sein erstes Auftreten glich einem Blitz vom Himmel (vgl. Band 1, Kap. 68: Diskussion Jesu mit den Gelehrten im Tempel). Doch dann ist ein großes Schweigen eingetreten, und ich glaube, daß ich mich geirrt habe."»

«Versuche noch einmal, mit ihm darüber zu sprechen. Wenn Gamaliel bei uns wäre und ihr bei ihm ...»

«Ich rate euch dies nicht», bemerkt einer der drei Unbekannten. «Das Synedrium ist mächtig, und Annas leitet es mit Verschlagenheit und Gier. Wenn dein Messias am Leben bleiben will, dann rate ich ihm, verborgen zu bleiben oder sich wenigstens mit Macht durchzusetzen. Doch da ist auch Rom...»

«Wenn das Synedrium ihn hören würde, dann würde es sich zu Christus bekehren.»

«Ha, ha, ha!» lachen die drei Unbekannten und entgegnen: «Judas, wir glaubten dich verändert, doch immerhin noch intelligent. Wenn das, was du von ihm sagst, wahr ist, wie kann man dann annehmen, daß das Synedrium ihm folgen wird? Komm, komm, Joseph! Es ist besser für alle: Gott behüte dich, Judas! Du hast es nötig!» Sie entfernen sich, und Judas bleibt mit Nikodemus zurück.

Simon schleicht davon und geht zu Jesus. «Meister, ich klage mich an, gesündigt zu haben durch Verleumdung in Gedanken und Worten. Dieser Mensch bringt mich durcheinander. Ich sah in ihm schon deinen Feind. Und nun habe ich ihn von dir sprechen hören, wie es nur wenige von uns tun, besonders hier, wo der Haß den Jünger noch vor dem Meister zum Schweigen bringen würde. Ich habe gesehen, daß er den Armen Almosen gegeben und wie er versucht hat, die Synedristen zu überzeugen...»

«Siehst du, Simon? Ich bin froh, daß du ihn in einem solchen Augenblick gesehen hast; du mußt dies auch den anderen erzählen, die ihm

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mißtrauen. Preisen wir den Herrn für die Freude, die du mir schenkst, da du ehrlich bist, zu bekennen: "Ich habe gesündigt"; aber auch für die Freude über den Jünger, den du für niederträchtig hieltest, dessen Tat aber besagt, daß dies nicht stimmt.»

Sie beten lange und verlassen dann den Tempel.

«Hat er dich nicht gesehen?»

«Nein, dessen bin ich sicher.»

«Sage ihm nichts davon. Er hat eine sehr kranke Seele. Ein Lob würde ihm sehr schlecht bekommen, wie einem schwer fiebernden Magenkranken eine Speise. Wenn er wüßte, daß er gesehen worden ist, würde er damit prahlen, und alles würde schlimmer werden. Denn dort, wo der Hochmut Zutritt findet...»

«Ich werde schweigen. Wohin gehen wir?»

«Zu Johannes. Er wird zu dieser heißen Tageszeit im Hause des Ölgartens sein.»

Sie gehen langsam, immer den Schatten suchend, da die Sonne jetzt stark brennt. Sie verlassen den staubigen Vorort, passieren das Tor der Stadtmauer und gelangen durch die im gleißenden Sonnenlicht blendenden Felder zum Olivenhain und schließlich zum Hause unter den Ölbäumen.

In der kühlen, durch einen Vorhang verdunkelten Küche schlummert Johannes. Jesus ruft ihn: «Johannes!»

«Du, Meister? Ich habe dich erst am Abend erwartet.»

«Ich bin vorher gekommen. Wie ist es dir ergangen, Johannes?»

«Wie einem Lamm, das den Hirten verloren hat. Ich erzähle allen von dir; denn wenn ich von dir rede, meine ich, daß du etwas bei mir bist. Ich habe zu einigen Verwandten, Bekannten und Freunden von dir gesprochen. Auch zu Annas... Und zu einem Krüppel, der mein Freund wurde, nachdem ich ihm einige Münzen gegeben hatte. Ich hatte sie bekommen und habe sie ihm geschenkt. Auch eine arme Frau im Alter meiner Mutter, die in einer Gruppe von Frauen unter einem Portal stand und weinte, habe ich angesprochen. Ich habe sie gefragt: "Warum weinst du?" Und sie hat mir geantwortet: "Der Arzt hat zu mir gesagt: 'Deine Tochter hat die Schwindsucht. Finde dich damit ab. Bei den ersten Oktobergewittern wird sie sterben.' Ich habe nur sie: sie ist schön, gut und erst fünfzehn Jahre alt. Sie sollte im Frühjahr heiraten, und anstelle der Hochzeitstruhe werde ich ihr den Sarg herrichten müssen." Ich habe zu ihr gesagt: "Ich kenne einen Arzt, der sie heilen kann, wenn du den Glauben hast." "Niemand kann ihr mehr helfen. Drei Ärzte habe es schon gesagt. Sie spuckt schon Blut."

"Mein Arzt", habe ich erwidert, "ist nicht ein Arzt wie die anderen. Er heilt nicht mit Arzneien, sondern mit seiner Macht. Es ist der Messias." Daraufhin hat eine alte Frau gesagt: "Oh, dann mußt du glauben, Elisa.

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Ich kenne einen Blinden, der durch seine Hilfe sehend geworden ist." Und so ist die Mutter nun voller Hoffnung und nicht mehr mißtrauisch und wartet auf dich... Ist es recht so? Sonst habe ich nichts getan.»

«Du hast es gut gemacht. Gegen Abend gehen wir zu deinen Freunden. Hast du Judas nicht mehr gesehen?»

«Nein, Meister, doch er hat mir Lebensmittel und Geld geschickt. Ich habe es den Armen gegeben. Er ließ mir sagen, ich könne es auch für mich verwenden, da es von ihm käme.»

«Das ist wahr, Johannes. Morgen werden wir nach Galiläa gehen...»

«Ich freue mich darüber, Meister. Ich denke an Simon Petrus. Wer weiß, wie er auf dich wartet. Werden wir auch nach Nazareth kommen?»

«Ja, und wir werden dort Petrus, Andreas und deinen Bruder Jakobus sehen und ein wenig verweilen.»

«Oh, dann werden wir also in Galiläa bleiben?»

«Für einige Zeit werden wir dort bleiben.»

Johannes ist darüber sehr glücklich, und mit seiner Freude endet die Vision.

123. JESUS SPRICHT MIT DEM SOLDATEN ALEXANDER AM FISCHTOR

Wieder ein Sonnenaufgang. Wieder das ungeduldige Warten der Esel und der Händler vor dem verschlossenen Tore. Wieder sehe ich Jesus mit Simon und Johannes. Die Händler erkennen und umringen sie. Auch ein Wachsoldat kommt herbei, als das Tor geöffnet wird; als er Jesus sieht, grüßt er: «Sei gegrüßt, Galiläer! Sag diesen Unruhigen, sie sollen weniger rebellisch sein! Sie beklagen sich über uns. Zudem, sie sind immer ungehorsam und verwünschen uns. Dazu behaupten sie noch, das gebiete ihnen ihre Religion. Was ist das für eine Religion, die auf Ungehorsam gegründet ist?»

«Habe Nachsicht mit ihnen, Soldat. Sie sind wie Menschen, die in ihrem Hause einen ungebetenen Gast haben, der stärker ist als sie selbst. Die Zunge und der Trotz sind ihre einzigen Waffen.»

«Ja, doch wir haben unsere Pflicht zu erfüllen, und so müssen wir sie bestrafen. Dadurch werden wir immer mehr zu unerwünschten Gästen.»

«Du hast recht. Du mußt deine Pflicht tun. Doch tue sie immer mit Menschlichkeit. Denke immer: "Was würde ich an ihrer Stelle tun?" Du wirst sehen, dann wirst du Mitleid für die Unterdrückten empfinden.»

«Ich höre dich gerne reden. Du kennst weder Verachtung noch Hochmut. Die anderen Palästinenser spucken nach uns, beleidigen uns und

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zeigen ihre Abscheu gegen uns; außer, wenn es darum geht, uns gehörig übers Ohr zu hauen, sei es wegen einer Frau, sei es bei einem Geschäft. Dann verursacht das römische Geld keinen Ekel.»

«Der Mensch ist Mensch, Soldat!»

«Und er ist falscher als der Affe. Es ist nicht angenehm, unter Menschen zu leben, die stets wie Schlangen auf der Lauer liegen. Auch wir haben unsere Familien, unsere Mütter, Frauen und Kinder, und das Leben ist uns teuer.»

«Siehst du, wenn jeder daran dächte, gäbe es keinen Haß mehr. Du hast gefragt: "Was haben sie für eine Religion?" Ich antworte dir: eine heilige Religion, deren erstes Gebot die Liebe zu Gott und zu dem Nächsten fordert; eine Religion, welche Gehorsam dem Gesetz gegenüber lehrt, selbst wenn dieses von einem feindlichen Staate gegeben wurde.

Denn hört, meine Brüder in Israel, nichts geschieht ohne Gottes Zulassung. Auch die Unterdrückungen: ein Unglück ohnegleichen für ein Volk; doch wenn dieses Volk sich prüfen würde, müßte es sozusagen immer zugeben, daß es alles so gewollt hat mit seiner gottwidrigen Art zu leben. Denkt an die Propheten!

Wie oft haben sie darüber gesprochen! Wie oft haben sie an den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Ereignissen nachgewiesen, daß der Beherrscher die Züchtigung bedeutet, die Zuchtrute auf den Schultern des undankbaren Sohnes. Und wie oft haben sie gelehrt, wie man die Strafe abwenden kann: durch die Rückkehr zum Herrn. Nicht Aufstände oder Kriege heilen die Wunden, stillen die Tränen und lösen die Ketten; nur das Leben in der Gerechtigkeit. Dann kommt Gott zu Hilfe. Und was können die Waffen und die Heere der Bewaffneten ausrichten gegen die Herrlichkeit der Engelscharen, die für die Gerechten kämpfen? Werden wir bestraft? Leben wir in der wahren Gotteskindschaft, so daß der Herr keinen Grund mehr zum Strafen hat? Beschwert eure Ketten nicht immer mit neuen Sünden! Handelt nicht so, daß die Heiden euch als religionslos oder als heidnischer als sie selbst wegen eures Lebens halten. Zeigt euch als das Volk, das von Gott selbst das Gesetz erhalten hat. Befolgt es! Lebt so, daß die Unterdrücker sich vor euren Ketten verneigen und sagen: "Sie sind uns unterworfen, doch sie sind größer als wir, groß nicht der Zahl, dem Geld, den Waffen, der Macht nach: es ist eine Größe, die ihren Ursprung in Gott hat. Hier erstrahlt die göttliche Vaterschaft eines vollkommenen, heiligen und mächtigen Gottes. Hier sieht man das Merkmal einer wahrhaften Gottheit, die in ihren Kindern zum Ausdruck kommt." Denkt darüber nach, so gelangt ihr zur Wahrheit des wahren Gottes und entfernt euch vom Irrtum. Jeder, auch der Ärmste, auch der Ungebildetste im Volke Gottes, kann einem Heiden Lehrer sein: Lehrer durch seine Lebensart; er kann durch die Werke eines heiligen Lebens den Heiden Gott verkünden. Geht, der Friede sei mit euch!»

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«Judas hat sich verspätet, und auch die Hirten», bemerkt Simon.

«Erwartest du jemand, Galiläer?» fragt der Soldat, der aufmerksam zugehört hat.

«Freunde.»

«Komm in den kühlen Torgang! Die Sonne brennt schon in den ersten Tagesstunden. Gehst du in die Stadt?»

«Nein, ich kehre nach Galiläa zurück.»

«Zu Fuß?»

«Zu Fuß. Ich bin arm.»

«Hast du eine Frau?»

«Ich habe eine Mutter.»

«Auch ich... Komm, wenn du uns nicht verachtest wie die anderen!»

«Nur die Sünde erregt in mir Abscheu.»

Der Soldat betrachtet Jesus nachdenklich und voller Bewunderung. «Mit dir werden wir nie Schwierigkeiten haben... Über dir wird sich nie das Schwert erheben. Du bist ein guter Mensch. Aber die anderen... !»

Jesus ist nun im Halbschatten des Torganges. Johannes schaut in Richtung Stadt. Simon hat sich auf einen Steinblock gesetzt, der als Bank dient.

«Wie heißt du?»

«Jesus.»

«Ach, dann bist du es, der bei den Kranken Wunder wirkt?! Ich nahm an, daß du nur ein Magier seiest. Auch wir haben einen, und zwar einen guten. Denn es gibt da welche... Doch die unseren heilen keine Krankheiten. Wie machst du das?»

Jesus lächelt und schweigt.

«Wendest du magische Formeln an? Hast du Salben aus dem Mark der Toten, Pulver aus getrockneten Schlangen, magische Steine aus den Höhlen der Pythonschlangen?»

«Nichts von alledem. Ich habe nur meine Macht.»

«Dann bist du ein wahrer Heiliger. Wir haben die Magier und die Vestalinnen, und einige von diesen vollbringen wunderbare Dinge; man sagt, daß sie die heiligsten sind. Aber glaubst du das? Sie sind schlimmer als die anderen.»

«Warum verehrt ihr sie denn?»

«Weil... nun ja, weil es die Religion von Rom ist. Und wenn ein Untertan die Religion seines Staates nicht achtet, wie kann er dann Caesar und das Vaterland und alle die anderen Dinge achten?»

Jesus schaut den Soldaten fest an. «Wahrlich, du bist auf dem Wege der Gerechtigkeit schon fortgeschritten. Mach so weiter, Soldat, und es wird dir gelingen, das zu erkennen, was deine Seele ahnt, ohne daß du ihm einen Namen geben kannst.»

«Die Seele? Was ist das?»

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«Wenn du stirbst, wohin gehst du dann?»

«Das weiß ich nicht. Wenn ich als Held sterbe, komme ich auf den Scheiterhaufen der Helden; wenn ich als armer Greis, als ein Nichts, sterbe, dann verfaule ich vielleicht in meiner Hütte oder am Rande einer Straße.»

«Dies gilt für den Leib. Doch die Seele, wohin geht sie?»

«Ich weiß nicht, ob alle Menschen eine Seele haben oder nur jene, welche Jupiter nach einem ruhmvollen Leben für die Gefilde der Seligen bestimmt, wenn er sie nicht zu sich auf den Olymp führt, wie es bei Romulus der Fall war.»

«Alle Menschen haben eine Seele. Sie ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Möchtest du sein wie ein Pferd, wie ein Vogel, wie ein Fisch? ... Ein Fleisch, das nach dem Tode nur noch Fäulnis ist?»

«O nein! Ich bin ein Mensch und bin froh, einer zu sein.»

«Also bist du ein Mensch mit einer Seele. Ohne diese wärest du nur ein sprechendes Tier.»

«Und wo ist sie? Wie ist sie?»

«Sie hat keinen Körper. Doch sie existiert. Sie ist in dir. Sie kommt von dem, der die Welt erschaffen hat, und kehrt nach dem Tode des Körpers zu ihm zurück.»

«Zum Gott Israels nach eurer Religion.»

«Zum einzigen Gott, dem Einen, dem höchsten Herrn und Schöpfer des Universums!»

«Hat auch ein armer Soldat wie ich eine Seele, die zu Gott zurückkehrt?»

«Ja, auch ein armer Soldat, und seine Seele wird Gott zum Freunde haben, wenn sie immer gut war, oder aber Gott zum Richter, wenn sie böse war.»

«Meister, hier kommt Judas mit den Hirten und mit Frauen. Wenn ich recht sehe, ist auch das Mädchen von gestern dabei», sagt Johannes.

«Ich gehe, Soldat. Lebe als guter Mensch!»

«Werde ich dich nicht mehr sehen? Ich möchte noch manches wissen...»

«Ich werde bis September in Galiläa bleiben. Wenn du kannst, komme! In Kapharnaum oder in Nazareth werden dir alle über mich Auskunft geben können. In Kapharnaum frage nach Simon Petrus. In Nazareth nach Maria des Joseph. Sie ist meine Mutter. Komm nur, ich werde dir vom wahren Gott sprechen.»

«Simon Petrus... Maria des Joseph... Ich werde kommen, sobald ich kann. Und wenn du zurückkommst, dann erinnere dich des Alexander. Ich gehöre zur Truppenabteilung von Jerusalem.»

Judas und die Hirten sind am Torgang angekommen.

«Friede euch allen», sagt Jesus. Er möchte mehr sagen, doch ein zartes,

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lächelndes Mädchen durchbricht die Gruppe und wirft sich ihm zu Füßen: «Gib auch mir deinen Segen, Meister und Erlöser, und ich küsse dich!» und sie küßt ihm die Hände.

«Geh, sei froh und gut! Sei nun eine brave Tochter, später eine tüchtige Frau und eine gute Mutter! Unterweise deine künftigen Kinder in meinem Namen und in meiner Lehre! Der Friede sei mit dir und mit deiner Mutter! Friede und Segen allen jenen, die Freunde Gottes sind. Friede auch dir, Alexander!»

Jesus entfernt sich.

«Wir haben uns verspätet, aber diese Frauen haben uns aufgehalten», erklärt Judas. «Sie waren in Gethsemane und wollten dich sehen. Wir haben uns dorthin begeben, ohne daß der eine vom anderen wußte, um mit dir zusammen den Weg zu gehen. Doch du warst schon weggegangen, und diese hier waren dort. Wir wollten wieder aufbrechen, doch sie waren aufdringlicher als die Fliegen. Sie wollten so vieles wissen... Hast du das Mädchen geheilt?»

«Ja.»

«Hast du mit dem Römer gesprochen?»

«Ja, er hat ein ehrliches Herz. Er sucht die Wahrheit.»

Judas seufzt.

«Warum seufzest du, Judas?» fragt Jesus.

«Ich seufze, weil... ich wünschte, daß es die Unsrigen wären, die die Wahrheit suchen. Sie aber fliehen sie, verachten sie oder bleiben ihr gegenüber gleichgültig. Ich bin entmutigt. Ich möchte diesen Ort nicht mehr betreten und nichts anderes mehr tun als dir zuzuhören. Als Jünger habe ich doch keinen Erfolg.»

«Und glaubst du, daß mir viel gelingt? Laß dich nicht entmutigen, Judas! Das sind die Kämpfe des Apostolates; mehr Niederlagen als Siege. Doch nur auf dieser Erde sind es Niederlagen; dort oben sind es immer Siege. Der Vater sieht den guten Willen, und wenn dieser auch nicht zum Erfolg führt, dann segnet er dich dennoch dafür.»

«Oh, du bist so gut!» Judas küßt Jesus die Hand. «Werde ich jemals ein guter Mensch werden?»

«Ja, wenn du nur willst!»

«Ich glaube, daß ich es in diesen Tagen gewollt habe. Ich habe darum gerungen, denn viele Versuchungen bedrängen mich... Doch ich habe mich beherrscht, und immerfort an dich gedacht.»

«Dann harre also im Guten aus. Du wirst mir viel Freude bereiten. Und ihr, was habt ihr mir zu berichten?» fragt Jesus die Hirten.

«Elias grüßt dich und schickt dir Lebensmittel. Er bittet dich, ihn nicht zu vergessen 1»

«Oh, ich trage meine Freunde in meinem Herzen. Laßt uns bis zum Dorf im Grünen gehen. Gegen Abend werden wir dann weiterziehen. Ich

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bin glücklich, mit euch zusammenzusein, zur Mutter gehen zu können und mit einem Aufrichtigen über die Wahrheit gesprochen zu haben. Ja , ich bin glücklich. Wenn ihr wüßtet, was es für mich bedeutet, meine Mission zu erfüllen und zu sehen, daß dadurch die Seelen zum Vater gelangen, und daß ihr mir im Geiste immer mehr nachfolgt ...»

Ich sehe nichts mehr.

124. JESUS UND ISAAK BEI DOKO - AUFBRUCH NACH ESDRELON

«Und ich sage dir, Meister, daß die Demütigen die besseren sind. Jene, an die ich mich wandte, antworteten mit Spott und Gleichgültigkeit. Oh, die einfachen Menschen von Jutta!» Isaak spricht zu Jesus. Sie haben sich alle zur Rast auf dem Gras am Flußufer niedergelassen, und mir scheint, daß Isaak über seine Bemühungen berichtet.

Judas mischt sich ein und ruft, was selten geschieht, den Hirten beim Namen: «Isaak, ich bin ganz deiner Meinung. Wir verlieren bei unseren Kontakten mit diesen Leuten nur Zeit und Selbstvertrauen. Ich gebe es auf!»

«Ich nicht. Ich leide darunter, aber aufgeben werde ich nur, wenn der Meister mich dazu auffordert. Seit Jahren bin ich gewohnt, aus Treue zur Wahrheit zu leiden. Ich konnte nicht lügen, um mir die Mächtigen wohlgesinnt zu stimmen. Und weißt du, wie oft sie kamen in meine Krankenbehausung, um sich über mich lustig zu machen, und sie versprachen mir - oh! bestimmt falsche Versprechungen - Hilfe, wenn ich gesagt hätte, daß du, Jesus, nicht der Neugeborene, der Erlöser seiest. Doch ich konnte nicht lügen! Lügen hätte bedeutet, meine Freude zu verleugnen, meine einzige Hoffnung zu töten, dich, meinen Herrn, zu verstoßen. Dich verstoßen! Im Dunkel meines Elends, in der Not meiner Krankheit hatte ich immer einen Himmel voller Sterne: das Antlitz meiner Mutter, die einzige Freude in meinem Leben als Waise; das Antlitz einer Frau, die mir nie gehörte und der ich über den Tod hinaus die Liebe bewahrte. Diese beiden waren die zwei kleinen Sterne. Dann zwei größere Sterne gleich zwei reinsten Monden: Joseph und Maria, die einem Neugeborenen und uns armen Hirten zulächelten, und im Zentrum meines Herzenshimmels leuchtete dein Antlitz... unschuldig, lieblich, heilig, heilig, heilig. Diesen meinen Himmel konnte ich nicht von mir weisen! Ich wollte mich seinem Licht nicht entziehen, da es kein reineres für mich gibt. Eher hätte ich inmitten der Leiden das Leben abgelehnt, als daß ich dich, meine gebenedeite Erinnerung, meinen neugeborenen Jesus, verleugnet hätte!»

Jesus legt seine Hand auf Isaaks Schulter und lächelt.

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Judas fragt noch einmal: «Also, du bleibst dabei?»

«Ich bleibe dabei... heute, morgen und übermorgen. Irgendeiner wird schon kommen.»

«Wie lange wird diese Tätigkeit dauern?»

«Ich weiß nicht; doch glaube mir: es genügt nicht, vorwärts und rückwärts zu schauen. Man muß Tag für Tag seine Pflicht tun. Und wenn es am Abend scheint, daß der Tag erfolgreich war, dann muß man sagen: "Danke, mein Gott!", und hat er nichts eingebracht: "Ich hoffe auf deine Hilfe für morgen."»

«Du bist weise.»

«Ich weiß nicht einmal, was das bedeutet. Aber ich will bei meiner Mission dasselbe tun, was ich während meiner Krankheit getan habe. Fast dreißig Jahre Gebrechlichkeit sind nicht ein einziger Tag.»

«Ja, das glaube ich. Ich war noch nicht einmal geboren, als du schon krank warst.»

«Ich war krank. Doch ich habe diese Jahre nie gezählt. Ich habe nie gesagt: "Nun kehrt der Nisan wieder, und ich werde mit den Rosen nicht gesund... Es kehrt der Tischri wieder, und ich leide immer noch." Ich machte weiter und sprach zu mir und den Guten über ihn. Ich merkte, daß die Jahre vergingen, weil die Kinder von einst nun ihre Hochzeitskuchen und die Süßigkeiten bei der Geburt ihrer Kinder brachten. Wenn ich jetzt zurückblicke, nun, da ich im Alter wieder jung geworden bin, was sehe ich von der Vergangenheit? Nichts. Alles ist vorbei.»

«Hier bleibt dir nichts. Aber im Himmel hast du alles, Isaak. Und dieses alles erwartet dich», sagt Jesus, und dann zu den anderen gewandt: «So muß man es machen. Auch ich mache es so. Ohne Überdruß vorwärtsschreiten. Der Überdruß ist eine Wurzel menschlichen Stolzes. Und ebenso die Eile. Warum ärgert man sich wegen der Mißerfolge, warum beunruhigt man sich über die Langsamkeit? Weil der Stolz sagt: "Man wagt es, mir nein zu sagen? So lange läßt man mich warten? Das ist Mangel an Achtung dem Apostel Gottes gegenüber." Nein, Freunde. Betrachtet die Schöpfung und denkt an ihn, der nie erschaffen hat! Betrachtet den Fortschritt der Menschheit und denkt an den Anfang. Erwägt, wie viele Jahrhunderte von ihrer Erschaffung an bis zum heutigen Zeitpunkt verflossen sind! Die Schöpfung ist ein Werk stillen Wirkens. Der Vater machte dies alles nicht in unordentlicher Weise, sondern ließ es im Laufe der Zeit entstehen. Der Mensch ist in einem mühseligen Fortschritt zu dem geworden, was er heute ist, und er wird in seinem Wissen und Können immer mehr Fortschritte erzielen. Diese werden heilig oder nicht heilig sein, je nach seinem Willen. Doch der Mensch hat nicht alles von heute auf morgen gewußt. Die ersten Menschen, die aus dem Garten vertrieben worden waren, mußten langsam und fortwährend lernen, auch die einfachsten Dinge: daß das Weizenkorn, wenn es gemahlen, zu Teig verarbeitet und

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gebacken wird, besser schmeckt; wie das Korn gemahlen wird, und wie das Mehl dann zubereitet wird; wie das Feuer angezündet wird; wie man ein Gewand anfertigt, nach dem Muster der Felle der Tiere; wie man eine Unterkunft errichtet, wobei sie die wilden Tiere beobachteten, und wie man eine Lagerstätte bereitet, wobei sie die Nester zum Vorbild nahmen. Sie lernten, sich mit Kräutern und Quellen zu heilen, und taten es den Tieren gleich, die sich instinktmäßig ihrer bedienen; sie lernten Wüsten und Meere durchqueren, indem sie sich mit den Sternen befaßten, Pferde zähmten, und eine schwimmende Nußschale auf den Wellen eines Baches vermittelte ihnen Kenntnisse über das Gleichgewicht, die sie im Bau von Booten nutzen konnten. Wie viele Mißerfolge, bis ihnen etwas gelang! Und so wird es weitergehen. Der Mensch wird deshalb nicht glücklicher werden; denn mehr noch wie im Guten, wird er sich Kenntnisse im Bösen erwerben. Aber er wird weiterhin Fortschritte machen. Ist die Erlösung nicht ein Werk der Geduld? Von Ewigkeit her beschlossen und wieder beschlossen, erfüllt sich jetzt die Zeit, in der die Erlösung vollzogen wird. Alles ist Geduld. Warum also ungeduldig sein? Hätte Gott nicht alles blitzartig machen können? Hätte der Mensch als vernunftbegabtes Wesen, als er aus der Hand Gottes hervorging, nicht alles gleich wissen können? Hätte ich nicht schon am Anfang der Zeiten kommen können? Alles hätte sein können, nichts aber darf gewaltsam geschehen. Nichts. Die Gewalt steht immer im Widerspruch zur Ordnung, und Gott und das, was von Gott kommt, ist Ordnung. Verlangt also nicht mehr zu sein als Gott selber!»

«Wann aber wirst du erkannt werden?» «Von wem, Judas?»«Von der Welt!» «Niemals.»«Niemals? Aber bist du denn nicht der Erlöser?»

«Ich bin es. Doch die Welt will nicht gerettet werden. Nur im Verhältnis von einem zu tausend will sie mich erkennen, und nur einer von zehntausend wird mir wirklich nachfolgen. Und ich will euch noch mehr sagen: Nicht einmal von meinen Vertrautesten werde ich erkannt werden.»

«Aber wenn sie mit dir vertraut sind, werden sie dich doch kennen.»«Ja, Judas. Sie werden mich als Jesus, den Israeliten Jesus, kennen, doch nicht als den, der ich bin. Wahrlich, ich sage euch, ich werde nicht von allen meinen Vertrauten erkannt werden. Kennen heißt: treu und tugendhaft lieben... und es wird einen geben, der mich nicht kennen will.»

Jesus macht die gewohnte Gebärde, worin seine ganze Resignation und tiefe Betrübnis zum Ausdruck kommt, wenn er den künftigen Verrat ankündet: er öffnet seine Hände, hält diese nach außen gekehrt, und mit schmerzbewegtem Antlitz sehen seine Augen weder die Menschen noch den Himmel - sie schauen nur seine künftige Bestimmung, die eines Verratenen.

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«Sag das nicht, Meister», fleht Johannes.

«Wir werden dir immer folgen und dich immer mehr erkennen», sagt Simon, und die Hirten pflichten ihm im Chore bei.

«Wie einer Braut wollen wir dir folgen, und du wirst uns lieber sein als diese. Mehr als auf eine Frau sind wir auf dich eifersüchtig. O nein! Wir kennen dich schon so gut, daß wir dich nicht mehr verkennen können. Er (und Judas zeigt auf Isaak) sagt, die Erinnerung an dich als Neugeborener zu verleugnen, wäre für ihn schlimmer gewesen als das Leben zu verlieren. Und du warst damals nur ein Neugeborener. Nun kennen wir dich als Mann und Lehrer. Wir hören dir zu und sehen deine Werke. Deine Berührung, dein Atem, dein Kuß sind unsere ständige Weihe und unsere ständige Reinigung. Nur ein Satan könnte dich verleugnen, nachdem er dein Vertrauter gewesen ist.»

«Das ist wahr, Judas, doch es wird geschehen.»

«Wehe ihm... ich werde sein Richter sein», ruft Johannes des Zebedäus aus.

«Nein, überlaß es dem Vater, als Richter zu walten! Sei vielmehr sein Miterlöser. Der Erlöser einer Seele, die zu Satan neigt! Doch verabschieden wir uns von Isaak! Es ist Abend geworden. Ich segne dich, treuer Diener. Wisse, daß Lazarus in Bethanien unser Freund ist und meinen Freunden helfen will. Ich gehe, du bleibst! Pflüge das trockene Erdreich Judäas. Ich werde wiederkommen. Du weißt, wo du mich, wenn nötig, finden kannst! Mein Friede sei mit dir!» Und Jesus segnet und küßt seinen Jünger.

125. JESUS BEIM HIRTEN JONAS IN DER EBENE VON ESDRELON

Zwischen ausgetrockneten Stoppelfeldern voller Grillen führt ein Pfad dahin, auf dem Jesus, mit Levi und Johannes zu seinen Seiten, und gefolgt von Joseph, Judas und Simon einherschreitet.

Es ist Nacht. Doch die Luft hat sich nicht abgekühlt. Die Erde ist ein Feuer, das nach dem Brand des Tages weiterbrennt. Der Tau vermag nichts mehr gegen diese Trockenheit. Ich glaube, er trocknet schon, bevor er den Boden berührt; so stark ist die Wärme, die aus den Ritzen und Fugen des Erdreichs aufsteigt. Alle schweigen erschöpft und erhitzt. Doch ich sehe Jesus lächeln. Die Nacht ist hell, obgleich der abnehmende Mond gerade jetzt im äußersten Osten erscheint.

«Glaubst du, daß er da sein wird?» fragt Jesus den Hirten Levi.

«Ganz bestimmt. Um diese Zeit ist die Getreideernte beendet; für die Obsternte ist es noch nicht so weit. Die Bauern sind deshalb damit beschäftigt,

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ihre Weinberge und Obstgärten vor den Dieben zu schützen, und sie gehen nicht fort, besonders wenn ihre Herren geizig sind, wie der des Jonas. Samaria ist nicht weit; wenn diese Abtrünnigen können... oh, dann schädigen sie uns gerne, uns von Israel. Als ob sie nicht wüßten, daß die Knechte dafür geprügelt werden! O ja, sie wissen es gut. Doch sie hassen uns... das ist es...»

«Sei nicht gehässig, Levi!» sagt Jesus.

«Nein, doch du wirst sehen, wie sehr Jonas durch ihre Schuld vor fünf Jahren geschlagen wurde. Seither lebt er in der Nacht auf seinem Wachposten, denn die Geißel ist eine grausame Marter...»

«Ist es noch weit bis dort?»

«Nein, Meister. Siehst du dort, wo die öde Landschaft aufhört und eine dunkle Stelle ist? Dort sind die Apfelbäume des Doras, des harten Pharisäers. Wenn du erlaubst, will ich vorausgehen und uns Jonas melden.»

«Geh!»

«Aber, mein Herr, sind alle Pharisäer so?» fragt Johannes.

«Oh, ich möchte nicht in ihren Diensten stehen. Ich ziehe mein Boot vor.»

«Ist die Barke dein Liebstes?» fragt Jesus halb ernst.

«Nein, du bist es! Sie war es, als ich noch nicht wußte, daß die Liebe auf die Erde gekommen war», antwortet Johannes rasch.

Jesus lächelt über seinen Eifer. «Wußtest du denn nicht, daß die Liebe auf der Erde existierte? Wie wurdest du denn geboren, wenn dein Vater deine Mutter nicht geliebt hätte?» fragt Jesus wie im Scherze.

«Diese Liebe ist schön, doch sie kann mich nicht verführen. Du bist meine Liebe, du bist auf Erden die Liebe für den armen Johannes.» Jesus drückt ihn an sich und sagt: «Ich sehnte mich danach, dies von dir zu hören. Die Liebe hungert nach Liebe, und der Mensch wird ihrem großen Verlangen immer nur dünne Tropfen geben, wie jene, die vom Himmel fallen und so winzig sind, daß sie bei der Sommerhitze schon in der Luft verdunsten. Auch die Tropfen der menschlichen Liebe werden gleich von der Hast und Unruhe so vieler Dinge verschlungen. Das Herz versucht noch, einige aufzufangen, doch die Interessen, die Liebschaften, die Geschäfte, die Habsucht: viele, viele menschliche Dinge verbrennen sie. Und was bleibt für Jesus? Oh, viel zu wenig! Die Überbleibsel, die kläglichen Reste menschlicher Liebe, die mit eigenen Interessen verbundenen Herzschläge der Menschen, die nur fordern, fordern, fordern, wenn die Not sie drängt. Nur wenige werden mich aus reiner Liebe lieben: solche, die wie Johannes sind. Betrachte eine hochgewachsene Ähre. Es war vielleicht ein Korn, das bei der letzten Ernte auf die Erde gefallen ist. Es hat gekeimt, hat der Sonne, der Dürre widerstanden, hat sich aufgerichtet, Wurzel geschlagen und eine Ähre ist entstanden. Schau, sie ist schon gebildet.

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Allein steht sie noch auf diesem abgemähten Stoppelfeld. In Kürze werden die reifen Körner die Hülle sprengen, auf die Erde fallen und zur Liebesgabe für die Vögelchen werden, oder aber sie keimen wieder und geben hundert Körner für eines; bevor im Winter der Pflug über die Stoppeln zieht, werden sie wiederum reif sein und viele Vögel sättigen, die in dieser traurigen Jahreszeit schon vom Hunger gequält werden. Siehst du, mein Johannes, wieviel ein einziges mutiges Samenkorn leisten kann? So werden die Wenigen sein, die mich aus Liebe lieben. Ein einziger von ihnen kann den Hunger vieler stillen. Ein einziger von ihnen wird das Land, wo es zuvor wüst und leer war, schöner machen. Ein einziger von ihnen wird Leben dorthin bringen, wo Tod war, und die Hungrigen werden zu ihm kommen. Sie werden ein Korn seiner tätigen Liebe essen und dann egoistisch und gedankenlos davonfliegen. Doch, ohne daß sie es merken, wird das Korn in ihrem Blute, in ihrem Geist, Keime des Lebens sprießen lassen... und dann werden sie zurückkommen. Und heute, morgen und übermorgen, wie Isaak sagte, wird das Begreifen der Liebe in den Herzen vertieft. Der leere Stengel hat keine Bedeutung mehr. Er ist nur noch ein Strohhalm. Doch wieviel Gutes wird aus seinem Opfer hervorgehen. Und welchen Lohn verdient sein Opfer!»

Jesus ist einen Augenblick vor einer einsamen Ähre am Wegrand stehengeblieben, die in einer Rille, die zur Regenzeit vielleicht ein Bächlein ist, wächst. Er geht nun weiter, und Johannes hört ihm aufmerksam zu in seiner Haltung des Verliebten, der nicht nur die Worte, sondern auch die Gesten des Geliebten aufnimmt. Die anderen, die untereinander reden, achten nicht auf das liebliche Zwiegespräch. Nun ist der Apfelhain erreicht, und sie versammeln sich alle zur Rast. Es ist noch immer so warm, daß man auch ohne Mantel schweißbedeckt ist. Sie schweigen und warten.

Aus dem dichten Dunkel, in dem der Mond seinen schwachen Schein verbreitet, taucht nun die helle Gestalt Levis auf und hinter ihr ein dunkler Schatten.

«Meister, hier ist Jonas.»

«Mein Friede komme über dich!» grüßt Jesus, noch bevor Jonas ihn erreicht hat.

Doch Jonas antwortet nicht. Er rennt, wirft sich weinend zu Jesu Füßen nieder und küßt sie. Als er sich gefaßt hat und sprechen kann, sagt er: «Wie lange schon erwarte ich dich! Wie lange! Welch eine Trostlosigkeit, wenn das Leben dahinschwindet und der Tod sich nähert, ohne daß man sagen kann: "Ich habe ihn gesehen." Und doch, nicht alle Hoffnung hatte ich aufgegeben. Selbst als ich todkrank war, sagte ich mir: Sie hat mir versichert: "Ihr werdet ihm noch dienen", und sie konnte nichts Unwahres sagen. Sie ist die Mutter des Emmanuel. Niemand hat somit Gott näher bei sich als sie, und wer Gott hat, weiß, was Gottes ist.»

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«Steh auf! Sie läßt dich grüßen. Du hast sie in deiner Nähe, und sie hat dich in ihrer Nähe. Sie lebt in Nazareth.»

«Du! Sie! In Nazareth? Oh, wenn ich das gewußt hätte! Bei Nacht, in den eiskalten Monaten, wenn die Felder schlafen und die Bösewichte den Bauern nicht schaden können, wäre ich zu ihr geeilt, um ihr die Füße zu küssen, und dann wäre ich zurückgekehrt mit meinem Schatz an Gewißheit. Warum hast du dich nicht geoffenbart, Herr?»

«Weil die Stunde noch nicht gekommen war. Nun ist die Stunde gekommen. Man muß warten können. Du hast gesagt: "In den kalten Monaten, wenn die Felder schlafen", und dabei ist der Weizen schon gesät, nicht wahr? Auch ich war schon gesät, und du hast mich als Saatkorn gesehen. Dann bin ich verschwunden, unter einem notwendigen Schweigen begraben, um zu wachsen und die Zeit der Ernte zu erreichen, um vor den Augen der Welt und jenen, die mich als Neugeborenen gesehen hatten, zu leuchten. Diese Zeit ist nun gekommen. Nun ist der Neugeborene bereit, das Brot der Welt zu sein. Und zuerst besuche ich meine Getreuen und sage zu ihnen: "Kommt, sättigt euch an mir!"»

Der Mann hört ihm lächelnd zu und spricht beglückt zu sich selbst: «Oh, du bist es wirklich! Du bist es wirklich!»

«Du warst am Sterben? Wann?»

«Als ich beinahe zu Tode gepeitscht wurde, weil zwei Weinberge geplündert worden waren. Schau, wie viele Wunden!» Er zieht sein Gewand herunter und zeigt seine mit unregelmäßigen Narben bedeckten Schultern. «Mit einer eisernen Rute haben sie mich geschlagen. Er hat die gestohlenen Weintrauben auf den abgerissenen Fruchtstengeln gezählt, und für jede von ihnen hat er mir einen Hieb versetzt. Dann hat er mich halbtot liegen lassen. Maria, die junge Frau eines Gefährten, ist mir zu Hilfe gekommen. Ihr Vater war mein Vorgänger; und ich habe bei meiner Ankunft hier das kleine Mädchen sofort liebgewonnen, weil es Maria hieß. Sie hat mich gepflegt; doch erst nach zwei Monaten war ich geheilt, denn die Wunden hatten sich bei der Hitze entzündet und hohes Fieber hervorgerufen. Ich habe zum Gott Israels gesagt: "Meinetwegen! Laß mich nur deinen Messias wiedersehen! Dieses Unglück ertrage ich dann leicht. Nimm es als Opfer an! Ich kann dir nie im Tempel Opfer darbringen. Ich bin der Knecht eines Grausamen, du weißt es. Nicht einmal an Ostern erlaubt er mir, zu deinem Altare zu gehen. Nimm mich als Sühnopfer an. Doch gib ihn mir, ihn!"»

«Und der Allerhöchste hat dich erhört. Jonas, willst du mir dienen, wie es deine Gefährten schon tun?»

«Wie werde ich dies können?»

«Wie sie es können. Levi weiß es, und er wird dir sagen, wie einfach es ist, mir zu dienen. Ich will nur deinen guten Willen.»

«Den habe ich dir schon gegeben, als du noch ein kleines Kind warst

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und weintest. Durch ihn habe ich alles überstanden, sowohl die Entmutigungen als auch den Haß. Leider können wir hier nur wenig reden... Der Gutsherr hat mir einmal einen Fußtritt gegeben, weil ich darauf beharrte, daß du auf Erden bist. Doch jedesmal, wenn er fern war und ich jemand hatte, dem ich vertrauen konnte, habe ich vom Wunder jener Nacht erzählt.»

«Und nun erzähle vom Wunder unserer Begegnung. Ich habe euch fast alle gefunden, und ihr seid mir treu geblieben. Ist das nicht ein Wunder? Allein, weil ihr mich mit Glauben und Liebe betrachtet habt, seid ihr gerecht vor Gott und den Menschen geworden.»

«Oh, nun werde ich Mut haben! Nun, da ich weiß, daß du lebst, und ich sagen kann: "Er ist da! Geht zu ihm!" Doch wo können wir dich finden, mein Herr?»

«In ganz Israel. Bis September werde ich in Galiläa sein. Nazareth und Kapharnaum werden mich oft haben, und dort kann man mich finden. Dann werde ich überall sein. Ich bin gekommen, die Schafe Israels zu versammeln.»

«Oh, mein Herr! Du wirst viele Böcke finden. Mißtraue den Großen in Israel!»

«Sie werden mir nichts Böses antun, solange die Stunde nicht gekommen ist. Du aber sage den Toten, den Schlafenden, den Lebenden: "Der Messias ist unter uns!"»

«Die Toten, Herr?»

«Die Toten im Geiste. Die anderen, die gerecht im Herrn verstorben sind, jauchzen schon vor Freude über die bevorstehende Befreiung aus den Limben. Sage den Toten im Geiste, daß ich das Leben bin! Sage zu den Schlafenden, daß ich die Sonne bin, die den Schlaf vertreibt. Sage den Lebenden, daß ich die Wahrheit bin, die sie suchen.»

«Wirst du auch die Kranken heilen? Levi hat mir von Isaak erzählt. Hast du an ihm ein Wunder gewirkt, weil er dein Hirte war, oder wirst du es bei allen tun?»

«Den Guten ist das Wunder als gerechter Lohn zugedacht; den weniger Guten, um sie zur wahren Güte anzuspornen; den Bösen manchmal, um sie aufzurütteln und zu überzeugen, daß ich da bin, und Gott mit mir ist. Das Wunder ist ein Geschenk. Das Geschenk ist für die Guten. Doch er, der die Barmherzigkeit ist und sieht, wie schwerfällig die Menschen sind und daß nur ein mächtiges Ereignis sie aufrufen kann, benützt dieses, um sagen zu können: "Alles habe ich für euch getan, und es hat nichts genützt. Sagt also selbst, was ich noch tun könnte!"»

«Herr, willst du nicht in mein Haus eintreten? Wenn du mir versicherst, daß keine Diebe in die Güter einbrechen, will ich dir Gastfreundschaft gewähren und um dich die wenigen versammeln, die durch meine Worte von dir gehört haben. Der Gutsherr hat uns gebogen und zerbrochen wie

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wertlose Halme. Wir haben nichts als die Hoffnung auf eine ewige Belohnung. Doch wenn du dich den betrübten Herzen zeigst, werden sie neue Kraft in sich spüren.»

«Ich komme. Habe keine Sorge um die Bäume und Weinberge. Sei versichert, daß die Engel dir getreue Wächter sein werden.»

«O Herr, ich habe sie gesehen, deine himmlischen Diener. Ich glaube! Und mit dir bin ich sicher. Gesegnet seien die Bäume und die Reben, die sich im Winde bewegen und Lieder von Stimmen und Flügeln der Engel hören! Gesegnet sei dieser Erdboden, den du mit deinem Fuße heiligst! Komm, Herr Jesus! Hört, Pflanzen und Reben! Hört, ihr Schollen! Hört den Namen, den ich euch zu meinem Frieden anvertraut habe und mit dem ich jetzt ihn nenne: Jesus ist hier! Hört, und durch Zweige und Äste gehe ein Raunen: "Der Messias ist mit uns!"»

Alles endet mit diesen freudigen Worten.

Am gleichen Tag, um 2O Uhr.

Wenn nicht Ausgangssperre wäre, hätte ich Sie rufen lassen; denn so stark wurde ich von der Erscheinung des Dämons erschreckt. Eines echten Dämons, ohne Verkleidung. Eine hohe, dünne, rauchige Person mit niedriger Stirne, spitzem Gesichte, tiefliegenden Augen und einem derart bösen Blick voller Spott, Bosheit und Falschheit, daß nur wenig gefehlt hat, daß ich nicht schrie. Ich betete im Dunkel meines Zimmers, während Martha in der Küche war. Ich betete zum Unbefleckten Herzen Mariens, als er an der geschlossenen Türe erschien. Dunkel im Dunkel, und trotzdem konnte ich alle Einzelheiten des nackten, häßlichen Körpers erkennen; häßlich nicht wegen einer Mißgestaltung, sondern wegen der schlangenhaften Bewegungen all seiner Glieder. Ich habe keine Hörner und keinen Schwanz gesehen, keinen Bocksfuß und auch nicht Flügel, mit denen er üblicherweise dargestellt wird. Seine ganze Monstrosität lag im Ausdruck: Falschheit, Spott, Roheit, Haß und Bosheit. Alles dies sprach aus seinem heimtückischen und bösen Ausdruck. Er verspottete und beleidigte mich. Doch er wagte sich nicht in meine Nähe. Er stand da wie angenagelt, ungefähr zehn Minuten lang; dann ging er. Doch ich schwitzte heiß und kalt zugleich.

Während ich überlegte, was dies zu bedeuten habe, sagte Jesus:

«Weil du ihn so hart in sein Element zurückgewiesen hast.» (Während ich zu Maria betete, hörte ich... ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, denn es war keine Stimme, nicht Einbildung... irgend etwas, das sagte: «Wenn du nicht gewesen wärest, wäre etwas vorgefallen. Dein Verdienst ist es, daß nichts geschah. Denn Gott liebt dich sehr.» Ich weiß nicht, ob ich es recht mache oder schlecht... doch mir scheint, so ist es gut ... wenn ich solches höre, dann sage ich: «Weiche, Satan! Versuche mich nicht! Wenn es Jesus ist, der spricht, nehme ich es an; doch niemand anderer darf es wagen, in mir die Selbstgefälligkeit zu wecken.») Jesus sagte also: «Weil du ihn so scharf zurückgewiesen hast in seinem Hauptlaster: dem Hochmut. Oh, wenn er dich zum Hochmut verleiten könnte! Hast du ihn gut angesehen? Hast du nicht bemerkt, daß sein Aussehen, ich möchte sagen, seine Herrschaft oder Vaterschaft sich zeigt und durchscheint bei allen, die ihm auch nur vorübergehend dienen? Achte nicht darauf, wenn er dir in einer Person mit dem abstoßenden Aussehen eines schmutzigen, häßlichen, dreckigen und lüsternen Tieres erscheint; als ein Monstrum, aufgeblasen vom Hochmut und der Hefe der Gier. Das geschieht, weil das arme Geschöpf ein Misthaufen vieler Laster und Sünden ist, in dem die Sünden des Fleisches vorherrschen. Denke an all jene, die auf andere Art dich erschrecken und kränken. Jene, die vielleicht für eine Stunde Instrumente Satans waren, um eine treue Seele zu beunruhigen, sie zu kränken und sie zur Verzweiflung zu treiben. Hatten sie nicht denselben Ausdruck der rohen Verachtung, den du so

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genau an ihm gesehen hast? Oh, er scheint durch in seinen Dienern. Doch habe keine Angst. Er kann dir nichts antun, wenn du mit mir und Maria vereint bleibst. Er haßt dich. Maßlos! Doch er ist ohnmächtig und kann dir nicht schaden. Wenn du deine Seele nicht zurückziehst, um sie selbst zu besitzen, und sie in meinem Herzen läßt, wie kann er dann deiner Seele Schaden zufügen?

Schreibe dies und schreibe auch die kleineren Visionen auf, die du gehabt hast. Der Pater (geistlicher Vater der Schreiberin) soll sie alle kennen, dafür besteht ein Grund. Du mußt wissen, daß die Zeit meines Frühlings kommt. Des Frühlings, den ich meinen Auserwählten bereite. Die Veilchen und die Primeln bedecken im Frühjahr die Wiesen. Die Teilnahme an meinen Schmerzen erfüllt die Tage der Vorbereitung auf die Passion bei meinen Freunden. Geh im Frieden! Ich segne dich, um die verbliebene Angst auszulöschen: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.»

126. ABSCHIED VON JONAS UND RÜCKKEHR NACH NAZARETH

Kaum ein Lichtschein. An der Türe einer armseligen Hütte - ich nenne sie so, da die Bezeichnung "Haus" zu ehrenvoll wäre - sehe ich Jesus mit den Seinen, Jonas und andere arme Landarbeiter.

«Werde ich dich nicht mehr sehen, mein Herr?» fragt Jonas. «Du hast das Licht in unsere Herzen gebracht. Deine Güte hat aus diesen Tagen ein Fest gemacht, das unvergeßlich bleiben wird. Doch du hast auch gesehen, wie man uns behandelt. Die Arbeitstiere werden besser umsorgt als wir. Auch die Pflanzen werden menschlicher behandelt; denn sie bedeuten Geld. Wir sind nur Mühlen, die Geld bringen. Wir werden ausgenützt, bis wir an Überanstrengung sterben. Doch deine Worte waren Liebkosungen. Das Brot schien uns reichlicher und geschmackvoller, weil du es mit uns gebrochen hast; dieses Brot, das der Gutsherr nicht einmal seinen Hunden zumutet. Komm wieder, Herr, mit uns das Brot zu brechen! Nur weil du es bist, wage ich es zu sagen. Für jeden anderen wäre es eine Beleidigung, wenn ich ihm Unterkunft und Nahrung anböte, die sogar einen Bettler abschreckt ... Doch du ...»

«Doch ich finde darin einen himmlischen Duft und Wohlgeschmack, weil in euch Glaube und Liebe sind. Ich werde wiederkommen, Jonas. Ich werde kommen! Bleibe auf deinem Posten, wenn auch wie ein angebundenes Tier. Deine Arbeitsstelle sei für dich die Himmelsleiter Jakobs! Und wahrlich steigen die Engel darauf auf und ab und sind bemüht, alle deine Verdienste zu Gott zu tragen. Doch ich werde zu dir kommen, um deinen Geist zu erheben. Bleibt mir alle treu! Oh, ich würde euch gerne auch menschlichen Frieden schenken. Doch ich kann es nicht. Ich muß euch sagen: leidet weiterhin! Und das ist traurig für mich, der liebt ...»

«Herr, wenn du uns liebst, dann gibt es kein Leiden mehr. Vorher hatten

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wir niemand, der uns liebte... Oh, wenn ich doch deine Mutter sehen könnte!»

«Sorge dich nicht. Ich werde sie zu dir führen. Sobald die Jahreszeit milder wird, werde ich mit ihr kommen. Habe keine Eile, sie zu sehen, und setze dich nicht der Gefahr unmenschlicher Strafen aus. Warte geduldig auf sie, wie man das Aufgehen des ersten Sternes erwartet. Sie wird dir unerwartet erscheinen, wie der Abendstern, der eben noch nicht da war, aber plötzlich am Himmel glitzert. Und denke daran, daß sie auch jetzt ihre Gaben der Liebe über dich ergießt. Lebt wohl, ihr alle! Mein Friede sei euch ein Schutz gegen die Härte eures Peinigers! Leb wohl, Jonas! Weine nicht! Du hast so viele Jahre mit geduldigem Vertrauen gewartet. Ich verspreche dir eine kurze Wartezeit. Weine nicht! Ich werde dich nicht allein lassen. Deine Güte hat damals meine kindlichen Tränen getrocknet. Genügt nun meine Liebe nicht, deine Tränen zu trocknen?»

«Ja... aber du gehst, und ich muß bleiben...»

«Freund Jonas, laß mich nicht mit dem drückenden Bewußtsein fortgehen, dir keine Erleichterung gebracht zu haben.»

«Ich weine nicht, Herr... Doch wie soll ich weiterleben, ohne dich sehen zu dürfen... da ich jetzt weiß, daß du lebst?»

Jesus liebkost noch einmal den alten, erschöpften Freund und trennt sich von ihm. Doch am Rande der armseligen Tenne bleibt er noch einmal stehen, breitet die Arme aus und segnet das Land; dann geht er.

«Was hast du getan, Meister?» will Simon wissen, der die ungewohnte Geste bemerkt hat.

«Ich habe ein Siegel auf alle Dinge gesetzt, damit die Satane an ihnen keinen Schaden anrichten und damit auch diese Unglücklichen nicht schaden. Mehr konnte ich nicht tun...»

«Meister, gehen wir etwas rascher. Ich möchte dir etwas mitteilen, ohne von den anderen gehört zu werden.» Sie entfernen sich ein wenig von der Gruppe, und Simon sagt: «Ich möchte dir mitteilen, daß Lazarus beauftragt ist, die Summe so zu verwenden, daß er all jenen hilft, die im Namen Jesu darum bitten. Könnten wir nicht Jonas damit freikaufen? Dieser Mann ist am Ende seiner Kräfte, und ihm bleibt nur noch die Freude, dich zu haben. Machen wir ihm diese Freude. Was kann er auf seinem Arbeitsplatz schon ausrichten? In Freiheit gesetzt könnte er dein Jünger in dieser so schönen und einsamen Gegend sein. Hier haben die Reichen Israels die besten Güter und nützen sie mit rohem Wucher aus, da sie von den Arbeitern das Hundertfache verlangen. Ich weiß dies seit Jahren. Hier kannst du dich nur kurz aufhalten, denn hier herrscht die Sekte der Pharisäer, und ich glaube nicht, daß sie dir einmal wohlgesinnt sein werden. Die Unglücklichsten in Israel sind ihre unterdrückten Arbeiter ohne Hoffnung. Du hast es selbst gehört: nicht einmal an Ostern können sie beten und Frieden haben, während die harten Herren mit großen Gesten und

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theatralischer Haltung sich in die ersten Reihen der Gläubigen stellen. So hätten die Arbeiter wenigstens die Freude zu wissen, daß du da bist, und könnten deine Worte aus dem Munde eines Mannes hören, der kein Iota daran ändert. Wenn du meinst, Herr, gib Anweisungen, und Lazarus wird es tun.»

«Simon, ich habe sofort verstanden, warum du dich deines Besitzes entledigt hast. Mir sind die Gedanken der Menschen nicht unbekannt. Und ich liebe dich auch deswegen. Wenn du Jonas glücklich machst, ist auch Jesus glücklich. Oh, wie mich das bedrückt, Gute leiden sehen zu müssen. Nur aus diesem Grunde kann ich darüber betrübt sein, daß ich arm bin und man mich verachtet. Wenn Judas mich hören würde, würde er jetzt sagen: "Aber bist du nicht das Wort Gottes? Befiehl, und die Steine werden zu Gold und Brot für die Armen." Er würde die Versuchung Satans wiederholen. Ich will die Hungrigen sättigen. Aber nicht so, wie Judas es möchte. Noch seid ihr zu wenig unterrichtet, um den tieferen Sinn meiner Worte zu begreifen. Doch dir will ich sagen: Wenn Gott für alles sorgte, würde er seine Freunde stehlen. Er würde sie hindern, barmherzig zu sein und so dem Gebot der Liebe zu gehorchen. Meine Freunde müssen dieses Merkmal mit Gott gemeinsam haben: die heilige Barmherzigkeit in Werken und Worten. Und das Leid der anderen gibt meinen Freunden die Gelegenheit, sie zu üben. Hast du mich verstanden?»

«Es ist ein tiefer Gedanke. Ich werde darüber nachdenken. Und ich demütige mich, da ich begreife, wie dumm ich bin und wie groß Gott ist, der uns mit allen seinen gütigsten Eigenschaften versehen möchte, um uns seine Kinder nennen zu können. Gott enthüllt sich mir in seiner vielfältigen Vollkommenheit durch jedes Licht, das du in mein Herz stellst. Tag für Tag, wie bei jemandem, der auf unbekanntem Wege wandelt, wächst in mir die Kenntnis dieser großen "Sache", die Vollkommenheit heißt und uns "Kinder" nennen möchte, und es scheint mir, als stiege ich wie ein Adler in unbegrenzte Höhen empor oder als tauchte ich wie ein Fisch in grenzenlose Tiefen, wie der Himmel und das Meer es sind; und wie höher ich steige oder wie tiefer ich tauche, nie berühre ich eine Grenze. Was ist also Gott?»

«Gott ist die unerreichbare Vollkommenheit. Gott ist die vollendete Schönheit. Gott ist die unendliche Macht. Gott ist das unbegreifliche Sein. Gott ist die unübertreffliche Güte. Gott ist die unzerstörbare Barmherzigkeit. Gott ist die unermeßliche Weisheit. Gott ist die zu Gott gewordene Liebe. Gott ist die Liebe! Die Liebe! Du sagst, daß du das Gefühl hast, je mehr du Gott in seiner Vollkommenheit erkennst, immer mehr in die grenzenlosen Tiefen des Himmels oder des Meeres zu gelangen. Doch wenn du verstehst, was die Gott gewordene Liebe ist, dann wirst du nicht mehr aufsteigen oder untertauchen in die Bläue, sondern von einem lodernden Flammenmeer aufgesogen werden in eine Seligkeit, die dir gleichzeitig

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Leben und Tod ist. Du wirst Gott völlig besitzen, wenn du durch deinen Willen und durch seine Hilfe erreicht hast, ihn zu verstehen und ihn zu verdienen. Dann wirst du an seiner Vollkommenheit teilhaben.»

«Oh, Herr!» Simon ist erschüttert.

Ein Schweigen tritt ein. Die Straße ist erreicht. Jesus erwartet die anderen. Als die Gruppe sich wieder vereinigt hat, kniet Levi nieder: «Ich müßte dich verlassen, Meister. Doch dein Diener hat eine Bitte an dich. Bring mich zu deiner Mutter. Jener ist Waise wie ich. Verweigere mir nicht, was du ihm gewährst: das Antlitz einer Mutter zu sehen... !»

«Komm. Alles, was im Namen meiner Mutter erbeten wird, gewähre ich im Namen meiner Mutter.»

... Jesus ist allein. Er schreitet eiligen Schrittes zwischen Ölbäumen voran, die schon voll wohlgeformter Oliven sind. Die Sonne schwebt, obwohl es schon gegen Abend ist, über den graugrünen Kuppeln der wertvollen und friedlichen Bäume und macht nur kleine Lichtlöcher durch die dichten Kronen. Die Hauptstraße, von zwei Fußgängerpfaden gesäumt, gleicht einem staubigen, flimmernden Band.

Jesus schreitet vorwärts und lächelt. Nun erreicht er eine Wegbiegung und lächelt noch seliger. Dort liegt Nazareth... unter einem flimmernden Sonnenlicht. Jesus beschleunigt seine Schritte. Er erreicht die Straße, ohne nun auf die brennende Sonne zu achten. Es scheint, als ob er fliege, so rasch geht er mit dem Mantel, den er sich zum Schutz gegen die Sonne auf das Haupt gezogen hat und der sich aufbläht und an den Seiten und am Rücken mitschwingt. Die Straße ist still und verlassen bis zu den ersten Häusern. Dort hört man einige Kinder- und Frauenstimmen aus den Häusern und den Gärten, deren Bäume ihre Äste bis auf die Straße hängen lassen. Jesus nützt die schattigen Stellen, um der brütenden Sonne zu entgehen. Er biegt in eine kleine Seitenstraße ein, die halb im Schatten liegt. Hier sind Frauen um einen kühlen Brunnen versammelt. Alle grüßen Jesus mit lauten Zurufen und heißen ihn willkommen.

«Friede euch allen! Bleibt doch ruhig! Ich möchte meine Mutter überraschen.»

«Ihre Schwägerin ist gerade mit einem frischen Krug weggegangen. Sie muß jedoch zurückkommen. Sie haben kein Wasser. Die Quelle ist entweder versiegt, oder sie versickert im heißen Boden, bevor das Wasser zu deinem Garten gelangt. Wir wissen es nicht. Maria des Alphäus sprach soeben darüber. Da kommt sie.»

Die Mutter des Judas und Jakobus kommt mit einem Krug auf dem Kopf daher und hält einen zweiten in der Hand. Sie sieht Jesus nicht gleich und ruft: «So geht es rascher. Maria ist sehr traurig, weil ihre Blumen vor Durst sterben. Es sind immer noch die Josephs und Jesu, und es würde ihr das Herz brechen, wenn sie zusehen müßte, wie sie verwelken...»

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«Doch nun wird sie mich sehen ...» sagt Jesus und kommt hinter der Gruppe hervor.

«Oh, mein Jesus! Sei gesegnet! Ich gehe gleich, es ihr zu sagen ...»

«Nein, ich gehe selbst. Gib mir die Krüge!»

«Die Türe ist nur angelehnt. Maria ist im Garten. Oh, wie wird sie glücklich sein! Sie sprach heute morgen von dir. Bei dieser Sonne bist du gekommen? Du bist ja ganz erhitzt und in Schweiß gebadet. Bist du allein?»

«Nein, mit Freunden. Doch ich bin vorausgegangen, um die Mutter zuerst zu sehen. Und Judas?»

«Er ist in Kapharnaum. Er geht öfters dorthin ...» Maria sagt sonst nichts. Doch sie lächelt, während sie mit ihrem Schleier den Schweiß von Jesu Antlitz trocknet. Die Krüge sind gefüllt. Jesus hat sich zwei mit seinem Gürtel über die Schulter gehängt, den anderen trägt er in der Hand. Er geht rasch, erreicht das Haus, öffnet die Türe, betritt das kleine Zimmer, das im Vergleich zur Sonnenhelle draußen ganz dunkel erscheint. Er hebt vorsichtig den Vorhang, welcher die Türe zum Garten ersetzt und schaut umher. Maria steht mit dem Rücken zum Hause bei einem Rosenstock und bemitleidet die durstige Pflanze. Jesus stellt den Krug auf den Boden, und das Metall klingt hell, da es gegen einen Stein stößt.

«Bist du schon zurück, Maria?» fragt die Mutter, ohne sich umzuwenden. «Komm, komm! Schau diesen Rosenstock an! Und diese armen Lilien! Sie werden alle sterben, wenn wir ihnen nicht helfen. Bring auch ein paar Schilfrohre, um diesen Stengel zu stützen, der sonst umsinkt.»

«Alles werde ich dir bringen, Mama.»

Maria wendet sich blitzartig um. Eine Sekunde lang bleibt sie mit weit geöffneten Augen stehen, dann eilt sie mit einem Schrei und ausgebreiteten Armen auf ihren Sohn zu, der ebenfalls die Arme ausgebreitet hat und sie mit einem Lächeln, das ganz Liebe ist, umarmt.

«Oh, mein Sohn!»

«Liebe Mama!»

Die Gefühlsäußerung ist lang und süß, und Maria ist so glücklich, daß sie nicht sofort bemerkt, wie erhitzt Jesus ist. Doch dann bemerkt sie es:

«Warum zu dieser Stunde, mein Sohn? Du bist purpurrot und naß wie ein Schwamm. Komm, komm herein, damit deine Mutter dich abtrocknen und erfrischen kann. Ich bringe dir gleich ein neues Gewand und saubere Sandalen. Aber Sohn! Sohn! Warum bist du unterwegs bei dieser Sonnenglut? Es sterben die Pflanzen vor Hitze, und du, mein Sohn, bist unterwegs!»

«Um schneller bei dir zu sein, Mama!»

«O liebster Sohn! Hast du Durst? Natürlich hast du Durst. Nun bereite ich dir...»

«Ja, nach deinem Kuß, Mama, nach deinen Liebkosungen. Laß mich

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ein wenig den Kopf an deine Schulter lehnen, so wie ich es tat, als ich noch klein war... Oh, Mama! Wie du mir fehlst!»

«Aber rufe mich doch zu dir, Sohn, und ich werde sofort kommen. Was hat dir gefehlt, als du fern von mir warst? Eine Lieblingsspeise? Frische Kleider? Ein gut hergerichtetes Lager? Oh, sag es mir, meine Freude, was hat dir gefehlt? Deine Dienerin, o mein Herr, wird sich bemühen, dir alles zu beschaffen ...»

«Nichts außer du.»

Jesus ist an der Seite der Mutter ins Haus getreten und hat sich auf die Truhe an der Wand gesetzt. Er hält seine Mutter fest in den Armen und legt sein Haupt an ihr Herz... von Zeit zu Zeit küßt er sie. Nun schaut er sie fest an:

«Laß mich dich ansehen! Möge sich mein Auge von deinem Anblick erfüllen, meine heilige Mutter!»

«Zuerst ein frisches Gewand! Es ist nicht gut, in Schweiß gebadet so zu verweilen. Komm!»

Jesus gehorcht. Als er in einem frischen Gewand zurückkommt, wird das innige Zwiegespräch fortgesetzt.

«Ich bin mit Jüngern und Freunden gekommen. Aber ich habe sie im Walde von Melka zurückgelassen. Sie werden morgen bei Sonnenaufgang kommen. Ich konnte nicht länger warten. Meine Mutter!» Und er küßt mehrmals ihre Hände. «Maria des Alphäus hat sich zurückgezogen, um uns allein zu lassen. Auch sie hat meinen Durst nach dir erkannt. Morgen... morgen gehörst du meinen Freunden, und ich den Nazarenern. Doch diesen Abend bist du meine Freundin, und ich der deine (ein Ausdruck, der im alttestamentarischen Licht des Hohenliedes und dem patristischen der Lehre über Jesus, den neuen Adam, und Maria, die neue Eva, verstanden werden muß). Ich habe dir mitgebracht... oh, Mutter, ich habe die Hirten von Bethlehem gefunden. Zwei von ihnen sind mit mir; sie sind Waisen; du bist die Mutter. Von allen, besonders der Waisen. Und ich habe auch einen mitgebracht, der dich nötig hat, um sich selbst zu besiegen. Und einen anderen, der gerecht ist und viel gelitten hat. Und dann Johannes... Und ich habe dir die Grüße des Elias, des Isaak, des Tobias, der nun Matthias heißt, des Johannes und des Simon zu bestellen. Jonas ist am unglücklichsten. Ich werde dich zu ihm hinführen. Ich habe es ihm versprochen. Weitere suche ich noch. Samuel und Joseph sind im Frieden Gottes.»

«Warst du in Bethlehem?»

«Ja, Mama, ich habe die Jünger, die bei mir waren, dorthin geführt. Und ich habe dir diese Blümchen mitgebracht, die zwischen den Steinen der Grotte wuchsen.»

«Oh!» Maria nimmt die trockenen Stengel und küßt sie. «Und Anna?»

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«Sie kam bei dem Morden des Herodes ums Leben.»

«Oh! Die Arme! Sie hatte dich so sehr geliebt!»

«Die Bethlehemiten haben viel leiden müssen. Und sie waren nicht gut zu den Hirten. Sie haben so viel gelitten...»

«Doch, zu dir waren sie damals gut!»

«Ja, daher muß man Mitleid mit ihnen haben. Satan ist eifersüchtig wegen ihrer Güte und stachelt sie zum Bösen an. Ich war auch in Hebron. Die Hirten, die verfolgt...»

«Oh... soweit ist es gekommen?»

«Ja, sie wurden von Zacharias unterstützt, und durch ihn bekamen sie Herren und Brot, wenn es auch harte Herren waren. Sie sind Gerechte, und aus den Verfolgungen und Wunden haben sie Edelsteine der Heiligkeit gemacht. Ich habe sie zusammengeführt. Ich habe Isaak geheilt und meinen Namen einem Neugeborenen gegeben... In Jutta, wo Isaak litt und wo er zu einem neuen Leben auferstand, lebt nun eine kleine, unschuldige Gruppe mit den Namen Maria, Joseph und Jesus.»

«Oh, dein Name!»

«Und der deine und der des Gerechten. Und in Kerioth, der Heimat eines Jüngers, starb ein getreuer Israelit an meinem Herzen aus Freude darüber, mich gesehen zu haben... Und dann... oh! Wieviel habe ich dir zu erzählen, meiner vollkommenen Freundin, meiner gütigen Mutter! Doch zuerst möchte ich dich darum bitten: habe Mitleid, viel Mitleid mit ihnen, die morgen kommen werden. Höre mich an: sie lieben mich, doch sie sind nicht vollkommen. Du, die Meisterin in der Tugend... oh, Mutter, hilf mir, sie gut zu machen... Ich möchte sie alle retten...» Jesus ist zu den Füßen Mariens niedergesunken. Nun zeigt sie sich in ihrer Majestät als Mutter.

«Mein Sohn, wie willst du, daß deine arme Mutter mehr tut als du?»

«Sie heiligen ... Deine Tugend heiligt. Ich habe sie eigens darum mitgebracht. Mama ... eines Tages werde ich zu dir sagen: "Komm" ' denn dann wird es an der Zeit sein, die Seelen zu heiligen, damit ich in ihnen den Willen für die Erlösung finde. Ich allein vermag es nicht... Dein Schweigen wird so wirkungsvoll sein wie meine Worte. Deine Reinheit wird meiner Macht zu Hilfe kommen, deine Gegenwart wird den Satan zurückstoßen... und dein Sohn, Mama, wird daraus Kraft schöpfen, wenn er dich in seiner Nähe weiß. Du wirst kommen, nicht wahr, meine liebe Mutter?»

«Jesus! Liebster Sohn! Ich spüre, du bist nicht glücklich... was drückt dich, du Sohn meines Herzens? War die Welt hart mit dir? Nein? Dies zu glauben, ist eine Erleichterung für mich... doch... O ja! Ich werde kommen, wohin du willst. Wie du willst. Wann du willst! Auch jetzt in der Sonnenhitze, beim Sternenschein, bei Eiseskälte und Regenschauern. Willst du mich? Hier bin ich!»

«Nein, nicht jetzt. Doch eines Tages... Wie freundlich ist das Haus.

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Und deine Liebe! Laß mich so schlafen, mit dem Haupte auf deinen Knien. Ich bin so müde. Ich bin immer dein "kleiner Sohn"...» Und Jesus schläft wirklich ein, todmüde und erschöpft, auf der Fußmatte sitzend, das Haupt im Schoß der Mutter, die glückselig seine Haare streichelt...

127. AM TAG DARAUF IM HAUS VON NAZARETH

Ich sehe Maria, die beim ersten Tageslicht barfuß und flink in ihrem Hause hin und hergeht. In ihrem lichtblauen Kleide sieht sie wie ein schöner Schmetterling aus, der geräuschlos über Wände und Gegenstände streicht. Sie bleibt an der Türe, die zur Straße führt, stehen, öffnet sie leise und läßt sie dann halboffen, nachdem sie einen Blick auf die noch verlassene Straße geworfen hat. Sie bringt alles in Ordnung, öffnet Türen und Fenster und betritt dann die Werkstatt, in der sich nun ihre Webstühle befinden, da der Schreiner nicht mehr hier arbeitet. Sie bedeckt sorgfältig einen der Webstühle, auf dem eine Webarbeit angefangen ist, und lächelt bei einem Gedanken, der wohl mit dieser Arbeit verbunden ist. Dann geht sie in den Garten. Tauben fliegen sogleich auf ihre Schultern. Mit kurzen Flügen, von einer Schulter zur anderen, suchen sie sich den besten Platz aus und begleiten Maria eifersüchtig auf Schritt und Tritt bis zu einem Verschlag, wo die Vorräte aufbewahrt werden. Sie holt Körner von dort und sagt: «Hier, heute hier! Macht keinen Lärm, denn er ist sehr müde!»Dann nimmt sie Mehl, geht in einen Raum neben dem Backofen und macht sich daran, einen Teig zu bereiten. Sie knetet ihn und lächelt dabei. Oh, wie sie heute lächelt, die Mutter! Sie sieht aus, wie die junge Mutter bei der Geburt ausgesehen hat, so sehr hat die Freude sie verjüngt. Vom Brotteig nimmt sie einen kleinen Teil, legt ihn zur Seite und bedeckt ihn; dann knetet sie den Teig weiter, bis sie ganz erhitzt ist. Ihre Haare scheinen heller durch die leichte Überpuderung mit Mehl.

Maria des Alphäus tritt leise ein: «Bist du schon bei der Arbeit?»

«Ja, ich backe Brot und hier, schau, die kleinen Honigkuchen, die er so gerne ißt.»

«Mache du die Kuchen. Den großen Brotteig will ich dir zubereiten.»

Maria des Alphäus ist robust und bäurisch und macht sich an den Brotteig, während Maria Honig und Butter in ihren Kuchenteig mischt, runde Küchlein daraus macht und sie dann auf ein Brett legt.

«Ich weiß nicht, wie ich Judas verständigen soll... Jakob wagt nicht... und die anderen...» Maria des Alphäus seufzt.

«Heute wird Simon Petrus kommen. Er kommt immer zwei Tage nach dem Sabbat und bringt den Fisch. Wir werden ihn zu Judas schicken.»

«Wenn er dazu bereit ist...»

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«Oh, Simon Petrus sagt niemals nein zu mir.»

«Der Friede sei über diesem eurem Tage», sagt Jesus, der nun auf der Türschwelle erscheint. Die beiden Frauen fahren freudig auf, als sie seine Stimme hören. «Bist du schon aufgestanden? Warum? Ich wollte, daß du länger schläfst ...»

«Ich habe gut geschlafen, Mama. Du hast wohl nicht geschlafen...»

«Ich habe dich betrachtet, während du geschlafen hast. Als du noch ein kleines Kind warst, machte ich das oft. Im Schlafe lächeltest du immer... und dieses Lächeln blieb den ganzen Tag über in meinem Herzen, wie eine Perle... Doch heute nacht hast du nicht gelächelt, Sohn. Du hast geseufzt, als wärest du sehr betrübt ...»

Maria betrachtet ihn sorgenvoll.

«Ich war müde, Mama. Und die Welt ist nicht wie dieses Haus, wo alles Ehrsamkeit und Liebe ist. Du... du weißt, wer ich bin, und kannst verstehen, was für mich die Berührung mit der Welt bedeutet. Es ist, wie wenn jemand auf einer übelriechenden und schmutzigen Straße geht. Auch wenn man sehr aufpaßt, bespritzt einen doch immer etwas Schlamm, und der Gestank ist widerlich, auch wenn man sich bemüht, ihn nicht einzuatmen... und wenn man das Schöne und Reine liebt, ist es verständlich, daß man sich ekelt ...»

«Ja, Sohn, ich verstehe. Doch ich leide, wenn du leidest.»

«Jetzt bin ich bei dir und leide nicht. Es ist nur die Erinnerung; doch sie dient dazu, die Freude, bei dir zu sein, zu steigern.»

Jesus beugt sich nieder, um seine Mutter zu küssen. Er liebkost auch die andere Maria, die in diesem Augenblick hereinkommt und ganz erhitzt ist, da sie gerade im Backofen Feuer gemacht hat.

«Wir müssen Judas benachrichtigen lassen», sorgt sich Maria des Alphäus.

«Nicht nötig. Judas wird heute hier sein.»

«Wie weißt du das?»

Jesus lächelt und schweigt.

«Sohn, jede Woche an diesem Tage kommt Simon Petrus. Er bringt mir in den ersten Tagesstunden Fische. Er kommt meistens zur ersten Stunde hier an. Er wird heute glücklich sein. Er ist so gut, Simon Petrus. In den Stunden, die er hier verbringt, hilft er uns immer. Nicht wahr, Maria?»

«Simon Petrus ist gerecht und gut», sagt Jesus.

«Doch auch der andere Simon, den du bald kennenlernen wirst, hat ein großes Herz. Ich will ihnen entgegengehen; sie werden bald hier sein.»

Jesus verläßt den Raum, während die Frauen, die das Brot in den Ofen gebracht haben, ins Haus zurückkehren, wo Maria ihre Sandalen anzieht und dann in einem frischen, hellen Leinenkleide erscheint.

Nach einiger Zeit des Wartens sagt Maria des Alphäus: «Du hast die Arbeit nicht rechtzeitig beenden können.»

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«Ich werde sie bald beendet haben. Und mein Jesus wird die Erfrischung des Schattens haben, ohne sein Haupt belasten zu müssen.»

Die Türe wird von außen geöffnet: «Mama, hier sind meine Freunde! Tretet ein!»

Die Jünger und die Hirten treten zusammen ein. Jesus legt seine Hände auf die Schultern der beiden Hirten und führt sie so zur Mutter.

«Ich begrüße euch... Du?... Levi, du? ... Ich weiß nicht recht, doch nach dem angegebenen Alter zu schließen bist du bestimmt Joseph. Dieser Name ist wohlklingend und heilig in diesem Haus. Kommt, kommt! Mit Freude sage ich euch: mein Haus nimmt euch auf, und eine Mutter umarmt euch in der Erinnerung an das, was ihr... du in deinem Vater... meinem Kinde an Liebe erwiesen habt.»

Die Hirten sind wie in Verzückung vor Begeisterung.

«Ich bin Maria, ja. Du hast die glückliche Mutter gesehen. Ich bin wie damals. Auch jetzt bin ich glücklich darüber, meinen Sohn von treuen Seelen umgeben zu sehen.»

«Dieser hier ist Simon, Mama.»

«Du hast die Gnade verdient, denn du bist gut. Ich weiß es. Die Gnade Gottes sei immer mit dir!»

Simon, der in den Sitten und Gebräuchen der Welt mehr Erfahrung hat, verneigt sich tief und hält dabei die Hände über der Brust gekreuzt: «Ich grüße dich, wahre Mutter der Gnade, und ich erbitte vom Ewigen nichts weiter, nun, da ich das Licht kenne und dich, die sanfter als der Mondschein ist.»

«Dies ist Judas von Kerioth.»

«Ich habe eine Mutter. Doch meine Liebe zu ihr ist nichts im Vergleich' zur Verehrung, die ich für dich fühle.»

«Nein, nicht für mich! Für ihn. Ich bin, weil er ist. Für mich will ich nichts. Nur für ihn verlange ich sie. Ich weiß, welche Ehre du meinem Sohn in deiner Heimat erwiesen hast. Doch ich sage dir: dein Herz soll der Ort sein, wo er von dir die höchsten Ehrungen erhält. Dann will ich dich mit meinem Mutterherz segnen.»

«Mein Herz ist unter der Ferse deines Sohnes. Glückliche Unterwerfung! Der Tod allein kann meiner Treue zu ihm ein Ende setzen.»

«Dies ist unser Johannes, Mama.»

«Ich bin beruhigt, seitdem ich dich bei Jesus weiß. Ich kenne dich, und meine Seele ist ruhig, seit du bei Jesus bist. Sei gesegnet, meine Ruhe!»Und sie küßt ihn.

Die rauhe Stimme von Petrus wird draußen hörbar: «Hier bin ich, der arme Simon, der dir seinen Gruß bringt und ...» Er tritt ein und bleibt wie erstarrt stehen.

Dann aber stellt er den Korb, den er mit einem Strick über der Schulter hängen hatte, auf die Erde und wirft sich Jesus zu Füßen mit den Worten:

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«Oh, ewiger Herr! Aber... das hättest du mir nicht antun dürfen, Meister' Hier sein... und es deinen armen Simon nicht wissen lassen! Gott segne dich, Meister! Ach, wie glücklich bin ich! Ich habe es ohne dich nicht mehr ausgehalten!» und er küßt die Hand Jesu, ohne darauf zu achten, daß dieser immer wieder sagt: «Steh auf, Simon, steh doch auf!»

«Ich stehe auf. Doch, du Bursche! (Der Bursche ist Johannes.) Du wenigstens hättest zu mir eilen und es mir mitteilen können. Aber nun lauf sofort nach Kapharnaum und sage es den anderen... zuerst aber geh in das Haus des Judas! Auch dein Sohn wird bald kommen, Frau. Los, lauf schon! Stelle dir dabei vor, du seiest ein Hase auf der Flucht vor wilden Hunden.»

Johannes eilt lächelnd davon.

Simon Petrus ist endlich aufgestanden. Er hält immer noch mit seinen kurzen, rauhen Händen, auf denen die Venen wie Stricke hervortreten, die lange Hand Jesu fest und küßt sie, ohne sie freizugeben, obwohl er gleichzeitig den Fisch abgeben möchte, der immer noch in seinem Korb am Boden liegt.

«O nein! Ich will nicht, daß du noch einmal ohne mich fortgehst. Niemals, niemals mehr so lange Zeit ohne dich zu sehen. Ich werde dir folgen, wie der Schatten dem Körper und das Seil dem Anker folgt. Wo bist du gewesen, Meister? Ich stellte mir dauernd die Frage: "Oh, wo wird er sein? Was wird er tun? Ob dieses Kind Johannes gut für ihn sorgt und aufpaßt, daß er sich nicht zu sehr ermüdet?" Hast du immer genug zu essen bekommen? Ich kenne dich doch! ... Du bist so mager geworden! Ja, sehr mager... Er hat nicht gut für dich gesorgt. Ich werde ihm beibringen, daß... aber, sag, wo bist du denn gewesen, Meister? Du sagst gar nichts.»

«Ich warte darauf, daß du mich zu Worte kommen läßt.»

«Du hast recht, aber weißt du, dich wiedersehen zu dürfen, ist wie neuer Wein, der einem schon mit seinem Duft in den Kopf steigt. Oh, mein Jesus!» Petrus weint beinahe vor Freude.

«Auch ich hatte Verlangen nach dir, nach euch allen, obwohl ich mit treuen Freunden zusammen war. Schau, Petrus! Diese sind zwei von denen, die mich schon liebten, als ich erst einige Stunden alt war. Mehr noch: sie haben schon damals meinetwegen leiden müssen. Hier ist ein Sohn, der meinetwegen Vater und Mutter verloren hat. Doch nun hat er an euch allen viele Brüder, nicht wahr?»

«Du fragst mich, Meister? Selbst wenn, was unmöglich ist, der Teufel dich lieben sollte, würde ich ihn lieben, weil er dich liebt. Auch ihr seid arm, wie ich sehe. Also passen wir zusammen. Kommt, daß ich euch küssen kann. Ich bin zwar ein Fischer, doch habe ich ein zarteres Herz als ein Täubchen. Und aufrichtig bin ich. Achtet nicht darauf, wenn ich etwas barsch bin. Es ist nur eine äußerliche Härte. In meinem Innern bin ich wie Honig und Butter... Mit den Guten... denn mit den Bösewichten...»

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«Das ist der neue Jünger.»

«Mir scheint, den habe ich schon gesehen...»

«Ja, es ist Judas von Kerioth, und dein Jesus hat mit seiner Hilfe gute Aufnahme in seiner Stadt gefunden. Ich bitte euch, liebt euch, auch wenn ihr aus verschiedenen Gegenden stammt. Ihr seid alle Brüder im Herrn!»

«Und als solchen werde ich ihn behandeln, wenn er es wirklich ist... O ja... (Petrus schaut Judas fest an, mit offenem und warnendem Blick) O ja... es ist besser, ich sage es, so kennt er mich gleich... und gut. Ich muß es sagen: ich halte nicht viel von den Judäern im allgemeinen und den Bürgern Jerusalems im besonderen. Doch ich bin ehrlich. Und auf diese meine Ehrlichkeit versichere ich dir, daß ich alle meine Meinungen über dich auf die Seite schieben und in dir nur den Bruder Jünger sehen will. Nun liegt es an dir, daß ich meine Meinung und mein Verhalten nicht widerrufen muß.»

«Hast du auch meinerseits solche Bedenken, Simon?» fragt der Zelote lächelnd...

«Oh, dich hatte ich gar nicht gesehen. Mit dir? Oh, mit dir! Nein. Die Ehrlichkeit ist dir ins Gesicht geschrieben. Die Güte dringt aus deinem Herzen wie duftendes Öl aus einem porösen Gefäß. Du bist schon alt. Das ist zwar nicht immer ein Verdienst. Manchmal wird man mit dem Älterwerden falsch und bösartig. Doch du bist wie ein edler Wein. Je älter er wird, desto reiner und besser wird er.»

«Du hast gut geurteilt, Petrus», sagt Jesus. «Kommt nun! Während die Frauen für uns arbeiten, wollen wir uns in der kühlen Laube aufhalten. Wie schön ist es, mit Freunden zusammenzusein! Wir wollen alle gemeinsam durch Galiläa und noch weiter gehen. Das heißt, nicht alle. Levi, der nun zufriedengestellt ist, kehrt zu Elias zurück, um ihm zu sagen, daß Maria ihn grüßen läßt. Nicht wahr, Mama?»

«Und daß ich ihn und auch Isaak und die anderen segne. Mein Sohn hat mir versprochen, daß er mich zu ihnen bringen wird... und ich werde zu euch kommen... zu den ersten Freunden meines Kindes.»

«Meister, ich möchte, daß Levi Lazarus das Schreiben bringt... Du weißt schon, was ich meine.»

«Bereite es vor, Simon. Heute wird gefeiert. Morgen abend wird Levi abreisen. Er hat dann noch genügend Zeit, um vor dem Sabbat dort zu sein. Kommt, Freunde ...»

Sie gehen alle zusammen in den grünen Garten, und alles ist zu Ende.

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128. JESUS UNTERRICHTET DIE JÜNGER IM OLIVENHAIN

Ich sehe Jesus mit Petrus, Andreas, Johannes, Jakobus, Philippus, Thomas, Bartholomäus, Judas, Thaddäus, Simon und Judas Iskariot sowie dem Hirten Joseph aus dem Hause treten und Nazareth verlassen. Sie gehen nicht weit, nur bis zum Olivenhain.

Jesus sagt: «Gruppiert euch um mich. In diesen Monaten der Anwesenheit und Abwesenheit habe ich euch gewogen und geprüft. Ich habe euch kennengelernt und habe auch aus der menschlichen Erfahrung die Welt kennengelernt. Nun habe ich beschlossen, euch in die Welt zu senden. Doch zuerst muß ich euch unterrichten, um euch fähig zu machen, der Welt mit Sanftmut und Klugheit, mit Ruhe und Beständigkeit, mit dem notwendigen Verantwortungsgefühl und dem Wissen um eure Mission entgegenzutreten. Diese Zeit der sengenden Sonne, die jede längere Wanderung durch Palästina unmöglich macht, möchte ich ausnützen, um euch als Jünger zu unterweisen und zu erziehen. Wie ein Musiker habe ich gemerkt, wo in euch Mißklänge sind, und ich will euch in Einklang mit der himmlischen Harmonie bringen, die ihr in meinem Namen auf der Welt vermitteln sollt. Ich behalte diesen Sohn (er zeigt auf Joseph) noch hier, denn ich will ihn mit der Aufgabe vertraut machen, seinen Gefährten meine Worte zu übermitteln, damit sich auch dort eine zuverlässige Gruppe bilden kann, welche mich verkündet und nicht nur auf mein Wesen, sondern auch auf die wesentlichen Merkmale meiner Lehre hinweist.

Als erstes möchte ich euch sagen, daß es absolut notwendig ist, unter euch Liebe und Eintracht zu pflegen. Wer seid ihr? Männer verschiedenen Alters, aus allen sozialen Schichten und aus verschiedenen Gegenden. Ich habe es vorgezogen, solche zu wählen, die noch unbelastet von Doktrinen und Kenntnissen sind, weil ich mit meiner Lehre leichter in sie eindringen kann. Außerdem seid ihr dazu bestimmt, mich denen zu verkünden, die in der völligen Unkenntnis des wahren Gottes sind; und ich will, daß ihr euch stets an eure eigene Unfähigkeit, Gott zu erkennen, erinnert und euch nicht überlegen dünkt. Ihr sollt sie mit Barmherzigkeit unterweisen in Erinnerung daran, mit wieviel Barmherzigkeit ich euch belehrt habe.

Ich fühle in euch einen Einwand: "Wir sind doch keine Heiden, auch wenn wir keine Kultur und Bildung haben." Nein, ihr seid keine Heiden. Doch nicht nur ihr, sondern auch die Gelehrten und Reichen unter euch, vertreten eine Religion, die aus vielen Gründen entartet ist und von Religion nur noch den Namen hat. Wahrlich, ich sage euch, viele rühmen sich als Kinder des Gesetzes; doch acht von zehn sind nur Götzendiener, die im Nebel der tausend kleinen menschlichen Religionen das wahre, heilige, ewige Gesetz Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs verloren haben. Wenn ihr euch also gegenseitig betrachtet - sowohl ihr, demütige und ungebildete Fischer, wie auch ihr, die ihr Händler oder Söhne von Händlern,

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Beamte oder Söhne von Beamten und sogar Reiche oder Söhne von Reichen seid - müßt ihr sagen: "Wir sind alle gleich. Alle haben wir dieselben Mängel, und alle benötigen wir die gleiche Unterweisung. Aus Brüdern mit persönlichen und nationalen Fehlern müssen wir Brüder werden in der Erkenntnis der Wahrheit und in der Bemühung, sie auszuüben."

Also Brüder: Ich will, daß ihr euch so nennt und als solche betrachtet. Ihr seid wie eine einzige Familie. Wann blüht eine Familie und wird von der Welt bewundert? Wenn sie einig und einträchtig ist. Wenn ein Sohn zum Feind des anderen wird, wenn ein Bruder dem anderen schadet, kann dann die Familie gedeihen? Nein! Vergeblich bemüht sich der Familienvater zu arbeiten und die Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen und sich in der Welt durchzusetzen. Seine Anstrengungen bleiben erfolglos; denn der Besitz verzettelt sich, die Schwierigkeiten mehren sich, die Welt spottet über die Familie wegen des ständigen Streites, der ihr Herz und Besitztum zerstört. Jene, die mit vereinten Kräften mächtig waren gegenüber der Welt, sind nun ein Häufchen kleiner und kleinster gegensätzlicher Interessen, woraus nur die Feinde der Familie Nutzen ziehen, so daß der Ruin derselben immer mehr beschleunigt wird.

Nie sei es so bei euch! Seid einig! Liebt einander! Liebt einander, um euch gegenseitig zu helfen! Liebt euch, um zu zeigen, wie geliebt werden soll! Beobachtet! Auch das, was euch umgibt, eignet euch diese große Kraft an! Betrachtet das Heer von Ameisen, die alle zu einem Ort eilen. Verfolgen wir ihr Tun! So werden wir den Grund ihres sinnvollen Hineilens zu einem Punkt begreifen... Seht hier! Eine ihrer kleinen Schwestern hat mit ihren winzigen, für uns unsichtbaren Organen unter diesem breiten Blatt einer wilden Rübe einen großen Schatz entdeckt. Es ist eine Brotkrume, die vielleicht einem Landmann entfallen ist, der hierhergekommen war, seine Ölbäume zu pflegen oder einem auf der blumigen Wiese spielenden Kind... Wie könnte die kleine Ameise diesen Schatz, der hundertmal so groß ist wie sie selbst, allein bis zu ihrer Höhle schleppen? Seht, sie hat eine Schwester herbeigerufen und zu ihr gesagt: "Schau, lauf schnell und sag den Schwestern, daß sie hier Nahrung für das ganze Volk und für viele Tage finden. Lauf schnell, bevor dieser Schatz von einem Vogel entdeckt wird, der seinerseits seine Gefährten ruft, um diesen Fund mit ihnen zu verzehren!"

Und die kleine Ameise ist gelaufen, keuchend über die Unebenheit des Erdbodens, auf und ab, durch Kies und Halme, bis zum Ameisenhaufen und hat dort gemeldet: "Kommt! Eine von uns braucht eure Hilfe. Sie hat etwas für uns alle gefunden. Doch allein ist sie nicht fähig, diesen Fund bis hierher zu schleppen. Kommt!" Und alle, auch die schon müde waren von der Tagesarbeit und sich in den Gängen ihres Baues ausruhten, sind aufgebrochen; und auch aus den Vorratskammern sind sie gekommen, eine, zehn, hundert, tausend. Schaut, sie packen mit ihren Vorderbeinchen

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zu, heben die Last, bilden wie kleine Wägelchen und ziehen sie mit der Kraft ihrer winzigen Füßchen. Diese hier fällt, die andere dort verrenkt sich beinahe die Glieder, weil die Spitze der Krume ihren Hinterleib in die Ritze eines Steines einzwängt; diese andere hier, ein Fräulein der Sippe, hält ermüdet an; doch wie sie Atem geholt hat, nimmt sie die Arbeit wieder auf. Oh, wie sind sie einig! Schaut einmal... nun ist das Brotstück ganz umfangen und rückt langsam vorwärts. Folgen wir ihm. Noch ein wenig, kleine Schwestern, noch ein klein wenig, und eure Mühe wird belohnt sein. Sie können nicht mehr. Doch sie geben nicht auf. Sie ruhen ein wenig, dann geht es weiter... Der Ameisenhaufen ist erreicht. Und nun? Nun beginnt eine weitere Arbeit: die Brotkrume wird zerkleinert. Schaut, welche Arbeit! Die einen schneiden, die anderen transportieren. Nun ist es fertig. Alles ist in Sicherheit gebracht, und sie verschwinden glücklich in den Gängen, hinab in die Tiefe. Sie sind nur Ameisen. Nichts anderes als Ameisen. Doch sie sind stark, weil sie einig sind.

Denkt darüber nach. Habt ihr Fragen?»

«Ich möchte erfahren, ob wir nicht mehr nach Judäa zurückkehren?» fragt Iskariot.

«Wer sagt das?»

«Du, Meister. Du hast gesagt, du willst Joseph vorbereiten, damit er die anderen in Judäa unterrichte. Ist es dir dort so schlecht ergangen, daß du nicht mehr dorthin zurückkehren willst?»

«Was haben sie dir in Judäa getan?» fragt Thomas neugierig, und Petrus fährt gleichzeitig auf: «Ah, ich hatte also recht, als ich sagte, du seist müde zurückgekehrt. Was haben dir die "Vollkommenen" von Israel angetan?»

«Nichts, Freunde. Nichts... Dasselbe könnte mir auch hier geschehen. Wenn ich die ganze Welt durchziehen würde, hätte ich überall Freunde und Feinde. Aber Judas, ich hatte dich gebeten, zu schweigen...»

«Das ist wahr... doch ich kann nicht schweigen, wenn ich sehen muß, daß du Galiläa meiner Heimat Judäa vorziehst. Du bist ungerecht. Das ist es! Auch dort hat man dir Ehren erwiesen...»

«Judas, Judas... oh, Judas! Du bist so ungerecht mit diesem Vorwurf. Und dich selbst klagst du an, da du dich von Zorn und der Eifersucht fortreißen läßt. Ich war darum bemüht, daß nur das Gute, das ich in deinem Judäa empfangen habe, bekannt werde, und ohne zu lügen, habe ich den Freunden von diesem Guten berichtet, um euch Judäer beliebter zu machen. Mit Freude, denn für das Wort Gottes gibt es keine Aufteilung in Regionen, Gegensätzlichkeiten, Feindschaften und Verschiedenheiten. Ich liebe euch alle, ihr Menschen! Alle... Wie kannst du sagen, daß ich Galiläa vorziehe, da ich doch die ersten Wunder und Kundgebungen auf dem heiligen Boden des Tempels und der heiligen Stadt, die jedem Israeliten teuer ist, vollbracht habe? Wie kannst du sagen, ich sei parteiisch,

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wenn von euch elf Jüngern - vielmehr zehn, da mein Vetter zur Familie gehört, was nicht dasselbe wie Freundschaft ist - vier aus Judäa stammen? Und wenn ich die Hirten, die alle Judäer sind, hinzurechne, dann siehst du, wie ich Judäa freundlich gesinnt bin. Wie kannst du sagen, daß ich euch nicht liebe, da ich es so gefügt habe, daß einem Kinde Israels mein Name gegeben wurde, und ich den Geist eines Gerechten aus Israel angenommen habe? Wie kannst du sagen, daß ich euch aus Judäa nicht liebe, wenn ich für die Offenbarung meiner Geburt und die Vorbereitung auf meine Mission zwei aus Judäa und nur einen aus Galiläa gewählt habe? Du hältst mir Ungerechtigkeit vor. Doch prüfe dich, Judas, und sieh, ob der Ungerechte nicht du selbst bist.»

Jesu Worte drücken Erhabenheit und zugleich Sanftmut aus. Auch wenn er nichts anderes hinzugefügt hätte, hätten die drei Arten der Betonung des Namens "Judas" schon genügt, um eine große Lehre zu erteilen. Das erste "Judas" war mit der göttlichen Majestät, die zur Ehrfurcht mahnt, gesagt worden; das zweite sprach der Lehrer, der in väterlichem Tone unterweist; das dritte war eine Bitte des über das Verhalten des Freundes betrübten Freundes. Judas senkte gedemütigt das Haupt, sein Gesicht noch zornig und entstellt vom Aufwallen niedriger Gefühle.

Petrus kann nicht schweigen. «Bitte wenigstens um Verzeihung, Jüngling! Wäre ich an Jesu Stelle, so genügten Worte nicht! Ungerecht? Mangel an Ehrfurcht, schönes Herrchen! Ist das eure Tempelerziehung? Oder bist du nicht erziehbar? Denn, wenn sie ...»

«Genug, Petrus! Ich habe schon gesagt, was gesagt werden mußte. Auch darüber werde ich euch morgen eine Lehre erteilen. Und nun wiederhole ich noch einmal, was ich euch in Judäa gesagt habe: sagt meiner Mutter nicht, daß ihr Sohn von den Judäern schlecht behandelt worden ist! Sie ist schon sehr betrübt, da sie fühlt, daß ich leide. Achtet meine Mutter! Sie lebt im Schatten und im Schweigen. Sie lebt in der Tugend und im Gebet für mich, für euch und für alle. Haltet düstere Lichter der Welt und bittere Streitigkeiten von ihrer Klause der Zurückgezogenheit und der Reinheit fern. Laßt kein Echo des Hasses dort eindringen, wo alles nur Liebe ist. Achtet sie! Sie ist mutiger als Judith; ihr werdet es noch erfahren. Doch zwingt sie nicht, vorzeitig die Galle der Gefühle der Unglücklichen der Welt zu kosten. Jener, die nicht im entferntesten wissen, was Gott und sein Gesetz sind. Jener, von denen ich zu Beginn gesprochen habe: die Götzendiener, die sich für Weise Gottes halten und darum Götzendienst und Hochmut miteinander verbinden. Laßt uns gehen.»

Und Jesus kehrt wieder nach Nazareth zurück.

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129. JESUS UNTERWEIST DIE JÜNGER ZU HAUSE

Wieder belehrt Jesus die Seinen, die er in den Schatten eines riesigen Nußbaumes geführt hat. Der Baum beschattet einen großen Teil des Gartens von Maria. Der Tag ist schwül, ein Gewitter hängt in der Luft; vielleicht entfernt sich Jesus deshalb nicht zu weit vom Hause. Maria kommt und geht vom Haus zum Garten, und jedesmal schaut sie nach Jesus, der im Grase sitzt, an einen Baumstamm gelehnt und von den Jüngern umgeben ist.

Jesus sagt: «Ich habe euch gestern angedeutet, daß ein unkluges Wort von gestern mir heute zu einer Unterweisung dienen werde. Das will ich lehren:

Ihr denkt gewiß, es sei eine Regel des Handelns, daß nichts, was verborgen ist, es immer bleibt. Entweder ist es Gott, der dafür sorgt, daß die Werke eines seiner Söhne durch seine wunderbaren Zeichen oder durch Worte der Gerechten, die die Verdienste eines Bruders anerkennen, bekannt werden; oder aber es ist Satan, der durch den Mund eines Unklugen - ich will nicht mehr sagen - offenbart, was die Guten lieber verschwiegen hätten, um nicht der Lieblosigkeit Raum zu bieten; oder er verdreht die Wahrheit derart, daß der Geist verwirrt wird. Somit kommt stets der Augenblick, in dem das Verborgene bekannt wird. Denkt immer daran! Es soll euch vom Schlechten zurückhalten, aber euch nicht hindern, das Gute zu vollbringen. Wie oft tut jemand etwas aus Güte, aus echter Güte, aber menschlicher Güte. Und da es menschliche Güte, also nicht vollkommene ist, legt er Wert darauf, daß sein Handeln den Menschen bekannt werde; und er dreht und wendet sich, wenn er sieht, daß er unbekannt bleiben könnte; und er überlegt, was zu tun sei, um bekannt zu werden. Nein, Freunde, nicht so sollt ihr handeln! Tut das Gute und bringt es dem ewigen Herrn dar. Oh, er weiß, ob es für euch gut sei, wenn es anderen bekannt würde. Wenn dieses euer gerechtes Tun nichtig, durch eine Anwandlung von Gefallsucht und Stolz wertlos würde, dann hält der Vater es verborgen, um euch im Himmel vor dem ganzen himmlischen Hofe dafür Ehre zu erweisen.

Und wer eine Tat sieht, soll diese nie nach dem äußeren Anschein beurteilen. Beschuldigt nie, denn die Handlungen der Menschen können schlechte Seiten zeigen, aber vielleicht bessere verbergen. Es kann zum Beispiel ein Vater einem faulen und verschwendungssüchtigen Sohne sagen: "Geh fort!", und es sieht nach Härte und väterlicher Pflichtvergessenheit aus. Doch es ist nicht immer so. Sein "geh fort!" ist mit bitteren Tränen gemengt - bitter mehr für den Vater als den Sohn - und es ist begleitet vom Wunsche: "Komm zurück, wenn du deine Fehler bereut hast!" Es ist auch Gerechtigkeit den anderen Kindern gegenüber, denn es verhindert, daß ein Taugenichts mit seinen Lastern verschwendet, was

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auch den anderen gehört. Schlecht wäre jedoch, wenn dieses "geh fort!" von einem Vater käme, der schuldig ist vor Gott und vor seinen Kindern, weil er in seinem Egoismus sich über Gott erhebt und glaubt, auch ein Recht über die Seele des Kindes zu haben. Nein, die Seele gehört Gott, und selbst Gott beeinträchtigt die Freiheit des Geistes nie, sich zu entscheiden. Die Welt kennt den Unterschied zwischen den beiden Handlungsweisen nicht. Doch welch ein Unterschied! Die erste ist Gerechtigkeit und die zweite sündhaftes Urteilen. Darum verurteilt nie jemand!

Gestern hat Petrus zu Judas gesagt: "Wer war dein Lehrer?" Sag dies nicht mehr! Keiner soll den anderen darüber anklagen, was er in ihm sieht. Die Lehrer sagen ein und dasselbe Wort für alle Schüler. Wie geschieht es nun, daß zehn Schüler gut und andere zehn schlecht werden? Weil jeder etwas hinzufügt von dem, was er im Herzen hat. Wie kann daher der Lehrer beschuldigt werden, daß er schlecht unterrichtet habe, wenn das von ihm übermittelte Gute von einem überwiegend schlechten Herzen zunichte gemacht wird? Der erste Faktor des Erfolges liegt in euch selbst. Der Lehrer arbeitet für euer Ich. Wenn ihr jedoch nicht aufnahmefähig für das Gute seid, was kann der Lehrer dann tun? Wer bin ich? Wahrlich, ich sage euch, es gibt keinen Lehrer, der weiser, geduldiger und vollkommener ist als ich. Und doch, auch von einem der Meinen wird man sagen: "Welchen Lehrer hat er gehabt?"

Laßt euch in eurem Urteil nie von persönlichen Beweggründen beeinflussen! Gestern hat Judas, der seine Heimat über alle Maßen liebt, mich der Ungerechtigkeit ihr gegenüber beschuldigt. Oft erliegt der Mensch zu sehr unwägbaren Dingen wie der Vaterlandsliebe oder der Liebe zu einer Idee und wird dadurch von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt. Das Ziel ist immer Gott. Alles muß in Gott gesehen, um gut gesehen zu werden. Niemals darf man sich selbst oder anderes über Gott stellen. Und wenn einer wirklich irrt... o Petrus, ihr alle! Seid nicht unduldsam! Habt ihr den gleichen Fehler, der euch am anderen abstößt, nicht selbst schon begangen? Seid ihr dessen sicher? Angenommen, ihr habt ihn noch nie begangen, was bleibt euch dann zu tun? Dankt Gott, das ist alles! Und seid wachsam! Sehr wachsam! Fortwährend! Damit ihr nicht morgen den Fehler begeht, den ihr bisher vermieden habt. Seht ihr? Heute ist der Himmel trüb, da Hagelwetter naht. Und wir haben bei einem Blick zum Himmel gesagt: "Wir wollen uns nicht zu weit vom Haus entfernen." Wenn wir also mehr oder weniger gefährliche Dinge beurteilen können, die nichts sind gegenüber den Gefahren, die Freundschaft Gottes zu verlieren durch die Sünde: warum wollen wir nicht erkennen, wenn wirklich Gefahr besteht für die Seele?

Seht, da ist meine Mutter! Könntet ihr euch vorstellen, daß eine Neigung zum Bösen in ihr vorhanden sein könnte? Angenommen, daß die Liebe sie drängt, mir zu folgen, wird sie ihr Haus verlassen, wenn meine

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Liebe es will. Heute früh hatte sie mich erneut gebeten, als sie, meine Lehrerin, sagte: "Auch deine Mutter gehört zu deinen Jüngern, Sohn! Ich will deine Lehre lernen!" Sie, die diese Lehre in ihrem Schoße besaß und vorher in ihrem Geiste als Gabe Gottes an die künftige Mutter seines fleischwerdenden Wortes. Und sie hat beigefügt: "Aber du, du sollst entscheiden, ob ich kommen kann, ohne die Einung mit Gott zu verlieren, ohne daß alles, was Welt ist, was, wie du sagst, uns durchdringt mit seinen stinkenden Dünsten, mein Herz verderbe, das nur Gott allein gehört hat, jetzt gehört und immer gehören wird. Ich prüfe mich und finde, ich sei dazu fähig, weil... (und hier gibt sie sich selbst, unbewußt, das höchste Lob) weil ich keine Verschiedenheit finde zwischen meinem ruhigen Frieden, als ich eine Blume im Tempel war, und dem Frieden, der in mir ist während der mehr als dreißig Jahre, da ich Hausfrau bin. Aber ich bin eine unwürdige Dienerin und kenne die Dinge des Geistes schlecht, und noch weniger vermag ich sie beurteilen. Du bist das Wort, die Weisheit, das Licht! Und du kannst Licht sein für deine arme Mutter, die eher bereit ist, dich nicht mehr zu sehen als dem Herrn zu mißfallen." Da mußte ich ihr mit vor Bewunderung bebendem Herzen sagen: "Mutter! Jetzt sage ich dir: du wirst durch die Welt nicht verdorben. Aber die Welt wird durch dich mit Wohlgeruch erfüllt!"

Meine Mutter, ihr hört es, hat die Gefahren des Lebens in der Welt zu sehen verstanden, als Gefahren auch für sie... auch für sie. Und ihr Männer seht sie nicht? Oh, Satan ist wirklich auf der Lauer. Und nur die Wachsamen werden Sieger. Die anderen? Ihr fragt nach den anderen? Für die anderen wird gelten, was geschrieben steht!»

«Was steht geschrieben, Meister?»

«Und Kain fiel über Abel her und tötete ihn. Und der Herr sprach zu Kain: "Wo ist dein Bruder? Was hast du getan? Die Stimme des Blutes schreit zu mir. Von nun an soll auf Erden verflucht sein, wer den Geschmack des menschlichen Blutes kennengelernt hat durch die Hand eines Bruders, der die Adern seines Bruders geöffnet hat... Und dieser schreckliche Durst der Erde nach dem menschlichen Blute wird nie aufhören. Und diese von diesem Blute vergiftete Erde sei unfruchtbarer als eine Frau, die das Alter ausgetrocknet hat. Und du wirst fliehen müssen und Frieden und Brot suchen. Und du wirst sie nicht finden. Deine Reue wird dir auf jeder Blume und jedem Gras, auf dem Wasser und der Nahrung immer nur Blut zeigen, und der Himmel wird dir wie Blut erscheinen und auch das Meer, und vom Himmel, der Erde und dem Meere wirst du drei Stimmen hören: die Stimme Gottes, die des Unschuldigen und die der Dämonen. Und um sie nicht hören zu müssen, wirst du dir den Tod geben."»

«In der Genesis steht es aber nicht so geschrieben», bemerkt Petrus.

«Nein, nicht die Genesis, ich sage es. Und ich irre nie. Ich sage es für

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jeden neuen Kain eines neuen Abel. Für alle, die, wenn sie nicht über sich selber und über den Feind gewacht haben, mit ihm eins werden.»

«Doch unter uns werden sie nicht sein; nicht wahr, Meister?»

«Johannes, wenn der Vorhang des Tempels zerreißt, wird eine große Wahrheit in leuchtenden Lettern über ganz Sion stehen.»

«Welche, mein Herr?»

«Daß die Kinder der Finsternis vergebens mit dem Licht in Berührung gekommen sind. Denk daran, Johannes!»

«Werde ich ein Sohn der Finsternis sein, Meister?»

«Nein, du niemals. Doch denk daran, um der Welt das Verbrechen erklären zu können.»

«Welches Verbrechen, Herr? Das des Kain?»

«Nein... es ist der erste Akkord der Hymne Satans. Ich spreche vom vollkommenen Verbrechen! Vom unvorstellbaren Verbrechen! Um es begreifen zu können, muß man es in der Sonne der göttlichen Liebe und durch den Geist Satans sehen. Denn nur die vollkommene Liebe und der vollkommene Haß, nur das unendlich Gute und das unendlich Böse können diese Opfergabe und diese Sünde erklären. Hört ihr? Es scheint, als lausche Satan und schreie auf vor Verlangen, dieses Verbrechen zu begehen. Laßt uns gehen, bevor die Wolke sich in Blitz und Hagel zerreißt!»

Sie gehen eilends durch den Garten Mariens, während das Gewitter losbricht.

130. UNTERWEISUNG DER JÜNGER MIT DER ALLERHEILIGSTEN JUNGFRAU MARIA IM GARTEN VON NAZARETH

Jesus geht in den Garten, der nach dem Gewitter des Vorabends wie frisch gewaschen scheint. Er erblickt seine Mutter über einige Pflänzchen gebeugt. Er begrüßt sie, als er sie erreicht. Wie lieb ist dieser Kuß! Jesus umgibt mit dem linken Arm ihre Schultern, zieht sie an sich und küßt sie am Haaransatz auf die Stirne, dann neigt er sich, um von der Mutter auf die Wange geküßt zu werden. Doch, was diese zarte Geste vervollständigt, ist der freudvolle Blick, der den Kuß begleitet. Der von Jesus ist ganz Liebe, obgleich er auch Majestät und Schutz ausdrückt; jener der Mutter ist ehrerbietige Liebe und liebevolle Anbetung. Wenn sie sich so küssen, scheint es, als ob Jesus der Erwachsene und sie eine jugendliche Tochter sei, die vom Vater oder einem älteren Bruder den Morgenkuß erhält.

«Haben der Hagel von gestern abend und der Wind dieser Nacht deinen Blumen sehr geschadet?» fragt Jesus.

«Kein Schaden, Meister! Nur ein großes Durcheinander herrscht im

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Laub», antwortet, bevor Maria dies tun kann, die etwas rauhe Stimme des Petrus.

Jesus erhebt das Haupt und sieht Simon Petrus, der nur mit der kurzen Tunika bekleidet, bereits dabei ist, die vom Winde mißhandelten Äste im Gipfel des Feigenbaumes in Ordnung zu bringen.

«Bist du schon an der Arbeit?»

«Wir Fischer schlafen wie die Fische: zu jeder Stunde, an jedem Ort, solange man uns in Ruhe läßt. Und das wird zur Gewohnheit. Diesen Morgen habe ich bei Sonnenaufgang die Türe in den Angeln knarren gehört und habe mir gesagt: "Simon, sie ist schon aufgestanden. Schnell! Geh und hilf ihr mit deinen großen Händen!" Ich ahnte, daß sie an ihre Blumen dachte und an die stürmische Nacht. Und ich habe mich nicht geirrt. Ich kenne doch die Frauen... Auch meine Frau wälzt sich im Bett wie ein Fisch im Netz, wenn ein Gewitter kommt, und denkt an ihre Pflanzen... die Arme! Manchmal sage ich zu ihr: "Ich wette, du regst dich nicht so auf, wenn dein Petrus vom Sturm gepeitscht auf dem See ist." Doch ich bin ungerecht; denn sie ist eine gute Frau. Manchmal scheint es mir unmöglich, daß ihre Mutter... Nun gut, schweige, Petrus! Das hat damit nichts zu tun. Es ist nicht gut zu schimpfen und es ist unklug, wissen zu lassen, was Güte besser verschweigt. Siehst du, Meister, auch in einem Dummkopf hat dein Wort Wurzel geschlagen.»

Jesus antwortet lächelnd: «Du sagst alles selbst. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als deine Fischerweisheit zu bestätigen und zu bewundern.»

«Er hat schon alle gebogenen Zweige wieder festgebunden, den überladenen Birnbaum gestützt und die Stricke unter dem Granatapfelbaum, der so schief gewachsen ist, durchgezogen», sagt Maria.

«Ja, der ist wie ein alter Pharisäer: er biegt sich so, wie es ihm paßt. Ich habe ihn wie ein Segel bearbeitet und zu ihm gesagt: "Weißt du nicht, daß das Rechte in der Mitte liegt? Komm her, sonst wirft dich dein eigenes Gewicht um." Nun bin ich hinter diesem Pharisäer her. Doch aus reinem Egoismus. Ich denke an den guten Appetit von uns allen: frische Feigen und warmes Brot! Nicht einmal Antipas hat ein so herrliches Mahl. Doch man muß vorsichtig sein; denn die Äste des Feigenbaums sind zart wie das Herz eines Mädchens, wenn es sein erstes Wort der Liebe sagt, und ich bin schwerfällig; und die besten Feigen sind ganz oben. Sie sind bei dieser Morgensonne schon trocken und müssen eine Köstlichkeit sein. Hallo, du, Jüngling! Schau mir nicht nur zu, wach auf, gib mir den Korb!»

Johannes, der gerade aus der Werkstatt gekommen ist, gehorcht und klettert ebenfalls auf den großen Feigenbaum. Als die beiden Fischer wieder heruntersteigen, sind auch Simon der Zelote, Joseph und Judas Iskariot aus der Werkstatt getreten. Die anderen kann ich nicht sehen.

Maria bringt frisches Brot: kleine, dunkle, runde Brötchen, und Petrus

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schneidet sie mit seinem Messer in zwei Hälften, legt offene Feigen darauf und bietet sie zuerst Jesus, dann Maria und schließlich allen anderen an. Sie essen mit Appetit im frischen Garten, der nach den Regengüssen so schön in der Sonne des klaren Morgens ist. Petrus sagt: «Es ist Freitag, Meister, morgen ist Sabbat.»

«Du machst damit keine Entdeckung», bemerkt Iskariot.

«Nein. Doch der Meister versteht schon, was ich damit sagen will...»

«Ich weiß... Heute abend werden wir zum See gehen, wo du das Boot angelegt hast, und nach Kapharnaum segeln. Morgen werde ich dort sprechen.»

Petrus frohlockt.

Nun kommen Thomas, Andreas, Jakobus, Philippus, Bartholomäus und Judas Thaddäus, die wohl anderswo geschlafen haben. Sie grüßen.

Jesus sagt: «Laßt uns hier zusammenbleiben! So werden wir einen neuen Jünger bei uns haben. Mama, komm!»

Einige setzen sich auf einen Stein, andere auf ein Bänkchen, und so bilden sie einen Kreis um Jesus, der sich auf die Steinbank gesetzt hat, die sich vor dem Haus befindet. An seiner Seite ist Maria und zu seinen Füßen Johannes, der es vorgezogen hat, sich auf den Boden zu setzen, um ganz nahe bei Jesus zu sein. Jesus spricht langsam und würdevoll wie immer.

«Womit könnte man die Erziehung zum Apostolat vergleichen? Mit der Natur, die uns umgibt. Ihr wißt: im Winter scheint die Erde tot. Doch in ihrem Innern arbeiten die Samenkörner, die Keime nähren sich von den Säften und lagern sie in den Gewächsen unter dem Boden ab, um einen großen Vorrat für die Pflanzen über dem Erdboden zu haben, wenn die Zeit der Blüte gekommen ist. Auch euch kann man mit der winterlichen Erde vergleichen, die unwirtlich, entblößt und rauh ist. Auch über euch ist der Sämann dahingeschritten und hat seinen Samen gestreut. Zu euch ist der Landmann gekommen und hat das harte und trockene Erdreich um euren Stamm gelockert, damit die Nährstoffe durch die Wolken und die Luft bis zu den Wurzeln gelangen und sie für die künftige Frucht stärken. Ihr habt den Samen angenommen und auch die Hacke, denn in euch ist der gute Wille, im Dienste Gottes Früchte zu bringen.

Die Erziehung zum Apostolat kann ich auch mit dem Gewitter vergleichen, das geschüttelt und gebogen hat, anscheinend mit nutzloser Gewalt. Doch seht, wie gut es gewirkt hat. Heute ist die Luft viel reiner, ohne Staub und Dunst. Die Sonne ist dieselbe wie gestern. Doch sie brennt nicht mehr in fieberhafter Weise, denn sie gelangt durch die gereinigte und frische Luft zu uns. Die Kräuter und Pflanzen haben sich wie die Menschen erholt, weil die Sauberkeit und die Frische Dinge sind, die erfreuen. Auch die Auseinandersetzungen helfen, um zu einer Klärung und zu einer genaueren Kenntnis der Dinge zu gelangen. Sonst wären sie nur

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Bosheiten. Und was sind die Auseinandersetzungen anderes als Gewitter, die durch die verschiedenartigsten Wolken verursacht werden? Und bilden sich diese Wolken nicht langsam in den Herzen durch unnütze Sorgen, kleinliche Eifersucht und rauchigen Hochmut? Dann kommt der Wind der Gnade und läßt sie zusammenprallen, damit sie sich aller schlechten Eigenschaften entladen und der Friede zurückkehrt.

Die apostolische Erziehung kann auch verglichen werden mit der Arbeit, die Petrus heute morgen zur Freude meiner Mutter vollbracht hat: aufrichten, binden, stützen oder trennen, je nach Neigung und Notwendigkeit, um aus euch "Starke" im Dienste Gottes zu machen. Die krummen Ideen gerade biegen, die fleischlichen Lüste binden, die Schwächen stützen, die Neigungen je nach Bedarf beschneiden und die Sklaverei und die Furchtsamkeit lösen. Ihr müßt frei und stark sein. Wie Adler, die nach dem Verlassen des Horstes, in dem sie geboren worden sind, im Fluge immer höher schweben. Der Dienst Gottes ist ein Flug. Die menschlichen Zuneigungen sind der Horst.

Einer von euch ist heute traurig, denn sein Vater liegt im Sterben, und sein Herz ist noch der Wahrheit und dem Sohne verschlossen, der der Wahrheit folgt. Mehr noch als verschlossen: er lehnt sie ab. Noch hat er nicht das ungerechte "geh fort" ausgesprochen, von dem ich gestern sprach, sich nicht über Gott erhoben. Doch sein verschlossenes Herz und seine versiegelten Lippen sind noch nicht imstande zu sagen: "Folge der Stimme, die dich ruft!" Weder ich, der ich zu euch spreche, noch sein Sohn verlangen, von seinen Lippen zu hören: "Komm und bringe den Meister. Gott sei gepriesen, weil er seinen Diener aus meinem Hause erwählt und damit eine erhabenere Verwandtschaft als die des Blutes mit dem Wort des Herrn hergestellt hat." Wenigstens möchte ich zu seinem Wohle und der Sohn aus einem noch verständlicheren Grunde von ihm Worte hören, die nicht mehr feindlich sind.

Doch der Sohn soll nicht weinen. Er soll wissen, daß in mir kein Groll, keine Verachtung für seinen Vater ist. Nur Barmherzigkeit. Ich bin gekommen, habe Aufenthalt genommen, obwohl ich von der Nutzlosigkeit dieses Unternehmens wußte, damit der Sohn nicht eines Tages zu mir sagen kann: "Oh, warum bist du nicht gekommen?" Ich bin gekommen, um ihn davon zu überzeugen, daß alles vergeblich ist, wenn das Herz sich verschließt und widersetzt. Ich bin gekommen, um eine Gute zu trösten, die wegen der Zerrissenheit der Familie leidet wie unter einem Messer, das die Sehnen zerschneidet. Doch sowohl die Frau als auch der Sohn sollen davon überzeugt sein, daß in mir der Groll nicht mit Groll beantwortet wird. ich respektiere die Ehrbarkeit des alten Gläubigen, der, auch wenn sein Glaube etwas verbogen ist, dem treu bleibt, was seine Religion bis zu dieser Stunde war. Es gibt viele dieser Art in Israel... Daher sage ich euch: Es werden mir mehr Heiden als Söhne Abrahams nachfolgen. Die Menschheit

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hat den Gedanken an einen Erlöser verdorben und das übernatürliche Königtum zur armseligen Idee einer menschlichen Herrschaft erniedrigt. Ich muß die harte Rinde des Hebräertums durchstoßen, eindringen und verwunden, um auf den Grund zu gelangen, wo die Seele dieses Hebräertums die Befruchtung durch das neue Gesetz erhalten kann.

Oh, wie traurig, daß Israel, aufgewachsen um den lebendigen Kern des Gesetzes vom Sinai, zu einer so mißgebildeten Frucht geworden ist mit einem verholzten Innern, durch und durch verhärtet, und außen von einer undurchdringlichen viereckigen Kruste umgeben, die auch den Kern nicht erreichen läßt. Der Ewige hält es nun für gut, einen neuen Baum des Glaubens an den einen und dreieinigen Gott zu erschaffen. Um zu erreichen, daß der Wille Gottes sich erfülle und das Hebräertum zum Christentum werde, muß ich durchstoßen und eindringen bis zum Kern und ihn mit meiner Liebe erwärmen, damit er sich weite, keime, wachse und wachse und zum mächtigen Baum des Christentums werde, der vollkommenen, ewigen, göttlichen Religion. Wahrlich, ich sage euch, das Hebräertum ist nur eins zu hundert durchdringbar. Daher halte ich jenen Israeliten nicht für verwerflich, der mich ablehnt und mir seinen Sohn nicht geben will.

Und daher sage ich zum Sohn: weine nicht wegen Fleisch und Blut, die vom Fleisch und Blut, die sie gezeugt haben, verstoßen werden. Weine auch nicht um den Geist. Deine Leiden wirken mehr als alles andere für deine und seine Seele, die Seele deines Vaters, der weder versteht noch sieht. Mache dir keine Vorwürfe darüber, daß du mehr Gott als dem Vater gehörst, das sage ich dir.

Zu allen von euch sage ich: mehr als der Vater, als die Mutter und als die Geschwister ist Gott. Ich bin gekommen, um zu vereinigen... nicht gemäß der Welt, dem Fleisch und Blute, sondern nach dem Geiste und dem Himmel. So muß ich Fleisch vom Fleische und Blut vom Blute trennen und die Seelen an mich ziehen, die schon auf dieser Erde für den Himmel tauglich und schon Diener des Himmels sind. Daher bin ich gekommen, die "Starken" zu rufen, um sie noch stärker zu machen; denn aus "Starken" wird meine Heerschar der Sanftmütigen gebildet. Sanft zu den Brüdern, stark zum eigenen Ich und zum Ich des Blutes, der Familie.

Weine nicht, Vetter. Dein Schmerz, ich versichere dir, arbeitet bei Gott für deinen Vater und deine Brüder mehr als alle Worte; nicht nur deine, auch meine. Das Wort prallt ab, wo das Vorurteil eine Barriere bildet, glaube es mir. Doch die Gnade findet den Weg. Und das Opfer ist der Magnet für die Gnade.

Wahrlich, ich sage euch, wenn ich jemand für Gott berufe, dann gibt es keinen höheren Gehorsam als in diesem Fall. Man muß sofort gehorchen, ohne Vorbehalt, ohne zu berechnen, wie und wann die anderen auf dieses Hingehen zu Gott sich äußern könnten. Man dürfte sich nicht aufhalten

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lassen, um vorher den Vater zu beerdigen. Dieser Heroismus bringt euch einen reichen Lohn, nicht nur euch selbst, sondern auch denjenigen, von denen ihr euch blutenden Herzens losreißen müßt und deren Worte euch weher tun als Backenstreiche, weil sie euch vorwerfen, undankbare Kinder zu sein, und euch verfluchen, Rebellen zu werden. Nein, keine Rebellen, sondern Heilige seid ihr! Die ersten Feinde der Berufenen sind die Familienangehörigen. Doch zwischen Liebe und Liebe muß man unterscheiden und auf übernatürliche Weise zu entscheiden wissen. Daher muß man mehr den Vater des Übernatürlichen als die Diener dieses Herrn lieben. Man muß die Eltern in Gott, aber nicht mehr als Gott lieben.»

Jesus schweigt, steht auf und geht zum Vetter, der mit gesenktem Haupte sich bemüht, die Tränen zu unterdrücken. Er liebkost ihn: «Judas... ich habe meine Mutter verlassen, um meiner Sendung nachzugehen. Dies soll in dir jeden Zweifel über die Ehrbarkeit deines Handelns beseitigen. Wenn es keine gute Tat gewesen wäre, dann hätte ich es meiner Mutter nicht angetan, die außer mir niemand hat.»

Judas nimmt die Hand Jesu, fährt sich damit übers Gesicht und nickt zustimmend. Er kann nicht sprechen.

«Laß uns beide miteinander gehen, allein, wie damals, als wir noch Kinder waren und Alphäus behauptete, daß ich der verständigste der Knaben von Nazareth sei. Laß uns zusammen zum Greis hingehen und ihm diese goldenen Weintrauben bringen, damit er nicht glaubt, daß ich ihn vernachlässige und sein Feind bin. Auch deine Mutter und Jakobus werden sich freuen. Ich werde ihnen sagen, daß ich mich morgen in Kapharnaum aufhalten werde und er also seinen Sohn ganz für sich allein haben wird. Weißt du, die Alten sind wie die Kinder: eifersüchtig und immer mißtrauisch, und außerdem glauben sie vernachlässigt zu werden. Man muß Mitleid mit ihnen haben...»

Jesus ist verschwunden. Er hat die Jünger im Garten zurückgelassen, die verstummt sind bei der Enthüllung eines Schmerzes und einer Unverträglichkeit zwischen Vater und Sohn um Jesu willen. Maria hat Jesus bis zur Tür begleitet und kehrt nun seufzend zurück.

Alles endet.

131. HEILUNG DER SCHÖNEN VON CHORAZIM - PREDIGT IN DER SYNAGOGE VON KAPHARNAUM

Jesus kommt aus dem Haus der Schwiegermutter des Petrus. Es begleiten ihn alle seine Jünger außer Judas Thaddäus. Als erster sieht ihn ein Knabe, der sofort allen Bescheid sagt, auch solchen, die nichts davon wissen wollen. Jesus befindet sich am Ufer des Sees und sitzt auf dem Rand

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des Bootes, das Petrus gehört. Er ist bald von den Bewohnern von Kapharnaum umringt, die seine Rückkehr feiern und ihm tausend Fragen stellen, auf die er mit seiner unüberbietbaren Geduld antwortet, lächelnd und friedlich, als ob dieses Hin- und Herreden eine himmlische Harmonie wäre.

Es kommt auch der Synagogenvorsteher. Jesus erhebt sich, um ihn zu begrüßen. Ihre gegenseitige Begrüßung ist voll orientalischer Feierlichkeit.

«Meister, darf ich dich zum Unterricht des Volkes erwarten?»

«Ohne Zweifel, wenn du und das Volk es wünschen.»

«Wir haben die ganze Zeit danach verlangt. Sie können es dir bestätigen.»

Das Volk bestätigt es in der Tat, mit einem erneuten Zuruf.

«Dann werde ich gegen Abend hier sein. Nun könnt ihr alle gehen. Ich muß jemand besuchen, der auf mich wartet.»

Die Leute entfernen sich schweren Herzens, während Jesus mit Petrus und Andreas im Boot auf den See hinausfährt. Die anderen Jünger bleiben an Land. Das Boot legt nur eine kurze Strecke zurück, dann lenken die beiden Fischer es in eine Bucht, die wie ein kleiner Fjord aussieht, jedoch keine Tannen wie in Norwegen aufweist, sondern verwitterte Ölbäume, die auf den steilen Abhängen auf unerklärliche Weise gewachsen sind, von den Seewinden wild durcheinandergerüttelt werden und sich ineinander verflochten haben, so daß sie ein Dach bilden, unter dem ein kleiner Wasserfall sich geräuschvoll bemerkbar macht.

Andreas springt ins Wasser, zieht das Boot so nah als möglich ans Ufer und bindet es an einem Baumstamm fest, während Petrus das Segel zusammenrollt und ein Brett befestigt, das Jesus als Brücke zum Ufer dienen soll. «Ich rate dir jedoch», sagt er, «die Sandalen auszuziehen und das Obergewand abzulegen wie wir. Dieser Verrückte (er zeigt dabei auf den kleinen Bach) bringt das Wasser des Sees zum Kochen, und die Brücke ist bei diesen Wellen nicht sicher genug.»

Jesus gehorcht ohne Widerspruch. An Land ziehen sie die Sandalen wieder an, und Jesus auch das lange Obergewand. Die beiden anderen bleiben in den kurzen, dunklen Unterkleidern.

«Wo ist sie?» fragt Jesus.

«Sie wird sich versteckt halten, da sie die Stimmen gehört hat. Weißt du... nach all dem, was sie hinter sich hat...»

«Rufe sie!»

Petrus schreit laut: «Ich bin der Jünger des Rabbi von Kapharnaum, und der Rabbi ist hier. Komm heraus!»

Keinerlei Lebenszeichen.

«Sie wagt nicht», erklärt Andreas. «Eines Tages kam einer und rief: "Komm, hier ist Nahrung!", und dann hat er sie mit Steinen beworfen.

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Wir haben sie damals zum erstenmal gesehen; ich kann mich nicht an die Zeit erinnern, als sie die Schöne von Chorazim war.»

«Und was habt ihr dann getan?»

«Wir haben ihr ein Brot und Fische zugeworfen und ein Stück, ein Stück zerrissenes Segel, das wir benutzten, um uns abzutrocknen... denn sie war nackt. Dann sind wir geflohen, um nicht angesteckt zu werden.»

«Wieso seid ihr dann zu ihr zurückgekehrt?»

«Meister... Du warst weg, und wir haben alles unternommen, um dich immer mehr bekannt zu machen. Wir haben an alle gedacht: an alle Kranken, alle Blinden, alle Krüppel, alle Stummen... und auch an sie. Wir haben gesagt: "Laßt uns versuchen!" Weißt du... viele... oh, bestimmt durch unsere eigene Schuld, haben uns für verrückt erklärt und wollten uns nicht anhören. Andere aber haben geglaubt. Mit ihr habe ich selbst gesprochen. Ich bin allein mit dem Boot hierher gefahren, öfters beim Mondschein. Ich habe sie gerufen und ihr gesagt: "Auf dem Stein am Fuße des Olivenbaums ist Brot und Fisch. Komm ruhig!" Dann bin ich gegangen. Sie muß mit dem Kommen immer gewartet haben, bis ich verschwunden war, denn ich habe sie nie gesehen. Beim sechsten Male sah ich sie am Ufer stehen, genau da, wo du jetzt stehst. Sie hatte auf mich gewartet... Wie entsetzlich! Ich bin nur deshalb nicht geflohen, weil ich an dich dachte. Sie fragte mich: "Wer bist du? Warum hast du Mitleid?"

Ich habe geantwortet: "Weil ich ein Jünger der Barmherzigkeit bin." "Wer ist dies?"

"Jesus von Galiläa."

"Und er lehrt euch, Mitleid mit uns zu haben?"

"Mit allen!"

"Weißt du denn, wer ich bin?"

"Du bist die Schöne von Chorazim und nun die Aussätzige."

"Und nun gibt es auch für mich Erbarmen?"

"Er sagt, sein Erbarmen gilt allen, und wir müssen, wie er, zu allen barmherzig sein."

Hier Meister, hat die Aussätzige, ohne es zu wollen, gelästert. Sie hat gesagt: "So muß auch er ein großer Sünder gewesen sein!"

Ich habe zu ihr gesagt: "Nein, er ist der Messias, der Heilige Gottes." Ich hätte am liebsten gesagt: "Sei verflucht wegen deiner bösen Zunge!", doch ich habe es dann doch nicht gesagt, weil ich mir gedacht habe: "Sie kann in ihrem Elend nicht an die göttliche Barmherzigkeit glauben." Sie hat dann angefangen zu weinen und gesagt: "Oh, wenn er der Heilige ist, dann kann er nicht Mitleid mit der 'Schönen' haben. Mit der Aussätzigen könnte er es, doch nicht mit der 'Schönen'. Und ich hatte gehofft..."

Da habe ich sie gefragt: "Was hattest du erhofft, Frau?"

"Die Heilung... die Rückkehr in die Welt... unter die Menschen...

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bettelnd sterben, aber unter Menschen... nicht wie ein Wild im Rachen der Raubtiere, für die ich ein Schrecken bin!"

Ich habe zu ihr gesagt: "Willst du mir schwören, daß du, wenn du in die Welt zurückkehrst, ein rechtschaffenes Leben führen wirst?"

Und sie: "Ja. Gott hat mich für meine Sünden gerechterweise bestraft. Ich fühle Reue in mir. Meine Seele ist zur Sühne bereit und verabscheut die Sünde für immer!"

Mir schien, daß ich ihr in deinem Namen das Heil verheißen könne. Sie bat mich: "Komm, komm wieder! Sprich mir von ihm, damit meine Seele ihn erkenne, bevor mein Auge ihn sieht..." Und so kam ich wieder, um von dir zu sprechen, so gut ich es vermag ...»

«Und ich komme und bringe der ersten Bekehrten meines Andreas die Heilung.» (Denn Andreas hat die ganze Zeit gesprochen, während Petrus etwas flußaufwärts gegangen ist, von einem Stein zum anderen hüpfend und dabei die Aussätzige rufend.) Endlich erscheint ihr schreckliches Antlitz zwischen zwei Zweigen eines Ölbaumes. Sie sieht und schreit auf.

«Komm doch endlich herab!» fordert Petrus sie auf. «Wir werden dich nicht steinigen. Siehst du ihn dort? Der Meister Jesus ist da!»

Die Frau läßt sich auf dem Abhang heruntergleiten; ich drücke mich so aus, denn sie kommt so rasch herunter und ist schon zu den Füßen Jesu, bevor Petrus wieder beim Meister ist.

«Erbarmen, Herr!»

«Kannst du glauben, daß ich es dir geben kann?»

«Ja, denn du bist der Heilige und ich bereue. Ich bin die Sünde, doch du bist die Barmherzigkeit. Dein Jünger war der erste, der mir Barmherzigkeit erwies, und er ist gekommen, mir Brot und Vertrauen zu bringen. Reinige, Herr, meine Seele, bevor du mein Fleisch reinigst, denn ich bin dreifach unrein... und wenn du mir nur eine Reinheit geben willst, eine einzige, dann bitte ich dich um die Reinheit der sündenbefleckten Seele. Bevor ich deine Worte gehört habe, die er mir wiederholt hat, sagte ich: "Geheilt werden, um unter die Menschen zurückkehren zu können." Nun, da ich weiß, bitte ich darum, Vergebung zu erlangen, um das ewige Leben zu haben.»

«Die Verzeihung schenke ich dir. Nichts anderes als diese jedoch ...»

«Sei dafür gepriesen! So werde ich im Frieden Gottes in meiner Höhle leben... frei... oh, frei von Selbstvorwürfen und Ängsten. Keine Angst mehr vor dem Tode, nun da ich Verzeihung erlangt habe! Keine Angst mehr vor Gott, nun, da du mich freigesprochen hast!»

«Geh zum See und wasche dich. Bleibe dort, bis ich dich rufe.»

Die Frau, ein armseliges Skelett von einer Frau, mit wilden Haarbüscheln, steht vom Boden auf, steigt in das Wasser des Sees und taucht mit ihren armseligem Fetzen, die sie nur wenig bedecken, unter.

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«Warum hast du ihr gesagt, sie solle sich waschen? Es ist wahr, ihr Gestank ist unausstehlich; doch ich verstehe nicht», sagt Petrus.

«Frau, komm heraus und hierher. Nimm das Tuch, das dort an dem Ast hängt.» (Es ist der Stoff, den Jesus benützt hat, um sich nach dem kurzen Übergang vom Boot zum Land abzutrocknen.)

Die Frau kommt gehorsam heraus, nackt, da ihr im Wasser die Fetzen davongeschwommen sind und nimmt das trockene Tuch. Der erste, der einen Ausruf tut, ist Petrus, da er sie ansieht, während Andreas ihr etwas scheu den Rücken zuwendet. Aber beim Schrei des Bruders dreht auch er sich um und schreit ebenfalls. Die Frau hatte ihre Augen so fest auf Jesus gerichtet, daß sie sich sonst um nichts kümmerte. Auf die Rufe hin betrachtet sie sich und sieht, daß mit den zerrissenen Fetzen auch ihr Aussatz im See zurückgeblieben ist. Sie läuft nicht davon, wie man annehmen könnte. Sie kauert sich am Ufer nieder, beschämt ob ihrer Blöße und so bewegt, daß sie zu nichts anderem fähig ist, als mit einer langen, sanften Klage zu weinen, was erschütternder ist als ein lauter Aufschrei.

Jesus tritt näher an sie heran, erreicht sie, wirft ihr das Tuch über, streicht ihr zart über die Haare und sagt: «Leb wohl! Sei gut. Du hast mit deiner aufrichtigen Reue die Gnade verdient. Wachse im Glauben an Christus und gehorche dem Gesetz der Reinigung!»

Die Frau weint noch immer. Erst als sie das Scheuern der Stange hört, die Petrus ins Boot zurückzieht, hebt sie den Kopf, breitet die Arme aus und ruft: «Danke, Herr. Danke, Gesegneter, Gesegneter!»

Jesus winkt zum Abschied, bevor das Boot den Ausgang des kleinen Fjordes erreicht und verschwindet...

... Jesus betritt mit allen Jüngern die Synagoge von Kapharnaum, nachdem er den Platz und die Straße überquert hat, die sich davor befinden. Die Nachricht vom neuen Wunder muß sich schon verbreitet haben, denn es ist viel Geflüster in der Luft, und Bemerkungen werden überall laut.

Direkt an der Türschwelle der Synagoge sehe ich den zukünftigen Apostel Matthäus. Er steht dort, mit einem Fuße schon drinnen und dem anderen noch draußen. Ich weiß nicht, ob er sich schämt oder ob er sich ärgert über alle die Blicke und Zurufe, die meisten wenig freundlich. Zwei aufgeblasene Pharisäer raffen theatralisch ihre weiten Mäntel zusammen, als hätten sie Angst, von der Pest angesteckt zu werden, wenn sie mit ihren Gewändern die Kleidung des Matthäus streiften.

Jesus betrachtet ihn beim Betreten des Tempels einen Augenblick und verweilt einen Moment bei ihm. Doch Matthäus neigt sein Haupt und sagt nichts. Petrus sagt leise zu Jesus, nachdem sie einige Schritte weitergegangen sind: «Weißt du, wer dieser Mann mit dem Lockenkopf ist, der mehr parfümiert ist als eine Frau? Es ist Matthäus, unser Steuereinnehmer... Was hat er hier zu suchen? Er kommt zum ersten Mal. Vielleicht

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hat er seine Gefährten nicht gefunden; besonders jene Gefährten, mit denen er sonst den Sabbat verbringt und in Orgien verpraßt, was er durch doppelte und dreifache Steuern aus uns herausquetscht, um für das Finanzamt und seine Laster genug zu haben.»

Jesus betrachtet Petrus sehr streng, so daß dieser rot wie Klatschmohn wird, das Haupt senkt und stehenbleibt; er ist nun nicht mehr der erste, sondern der letzte in der apostolischen Gruppe.

Jesus ist an seinem Platz. Nach den Gesängen und dem gemeinsamen Gebet mit dem Volke wendet er sich, um zu reden. Der Synagogenvorsteher fragt ihn, ob er irgendeine Schriftrolle haben möchte, doch Jesus antwortet: «Ist nicht nötig. Ich habe schon das Thema.»

Und er beginnt: «Der große König Israels, David von Bethlehem, weinte, nachdem er gesündigt hatte; in der Betrübnis seines Herzens schrie er zu Gott seine Reue und bat um Verzeihung. Davids Geist war verdunkelt von der Sinnenlust, und dies hatte ihn daran gehindert, das Antlitz Gottes zu sehen und seine Worte zu vernehmen.

Das Antlitz Gottes, habe ich gesagt. Im Herzen des Menschen ist ein Punkt, der sich an das Antlitz Gottes erinnert, die erhabenste Stelle, unser Heiligtum, von wo die heiligen Einsprechungen und die heiligen Entschlüsse ausgehen; unser Heiligtum, das wie ein Altar duftet, wie ein Brand leuchtet und wie der Sitz Seraphin von Hymnen widerhallt. Doch wenn die Sünde in uns raucht, verdunkelt sich der Punkt, so daß wir ohne Licht, ohne Wohlgeruch und ohne Musik sind, und nur der Gestank schweren Rauches und der Geschmack der abgestandenen Asche verbleibt. Doch wenn das Licht zurückkehrt, weil ein Diener Gottes es dem Verfinsterten bringt, dann sieht er seine Häßlichkeit, seinen schrecklichen Zustand, und von sich selbst erschrocken ruft er aus wie König David: "Erbarme dich meiner, Herr, mit deiner großen Barmherzigkeit und in deiner unendlichen Güte wasche mich rein von der Sünde!" Er sagt nicht: "Es kann mir nicht verziehen werden, daher will ich weiter sündigen", sondern: "Ich bin gedemütigt und zerknirscht. Doch ich bitte dich, der du weißt, daß ich in Sünde geboren bin, besprenge mich und mache mich rein, damit ich wieder weißer als der Schnee der Berggipfel werde." Weiterhin sagt er: "Nicht Stiere und Kälber werden mein Opfer sein, sondern eine echte Reue des Herzens; denn ich weiß, daß du diese von uns willst und sie nicht verachtest."

Dies sagte David nach der Sünde, und nachdem Nathan, der Diener des Herrn, ihn zur Reue veranlaßt hatte. Gerade dies müssen aus vielen Gründen die Sünder sagen, nun, da der Herr ihnen nicht einen seiner Diener sendet, sondern den Erlöser selbst, sein Wort, welches gerecht und Beherrscher nicht nur des Menschen, sondern auch der über und unter der Erde lebenden Geschöpfe ist. Er ist aufgestanden unter seinem Volke wie das Morgenlicht, das beim Aufgang der Sonne wolkenlos leuchtet.

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Ihr habt schon gelesen, wie der von Satan besessene Mensch schwächer ist als ein blutleerer Sterbender, auch wenn er zuvor der "Starke" war. Ihr wißt, daß Samson nichts mehr war, nachdem er den Sinnen nachgegeben hatte. Ich möchte, daß ihr das Beispiel des Samson, des Sohnes Manues, kennt, der dazu bestimmt war, die Philister, die Bedrücker Israels, zu besiegen. Die erste Bedingung dafür war, daß er von seiner Empfängnis an von all dem unberührt blieb, was die niedrigen Sinne reizt; also von Wein und Most und fettem Fleisch, das die Lenden mit einem unreinen Feuer entzündet. Die zweite Bedingung, um der Befreier sein zu können, war, daß er von Kindheit an dem Herrn geweiht und ehelos bleiben sollte. Heilig ist, wer sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich heilig bewahrt. Dann ist Gott mit ihm.

Doch Fleisch ist Fleisch, und Satan ist Versuchung. Und die Versuchung benützt ein Instrument, um Gott in seinem Herzen und seinen heiligen Geboten zu bekämpfen, das Fleisch, das den Mann erregt: die Frau. Und siehe, die Kraft des Starken zittert, und er wird ein Schwächling, der die Gabe Gottes vergeudet. Hört also: Samson wurde mit sieben Seilen, mit sieben frischen Sehnen, mit sieben Zöpfen seiner Haare am Boden festgebunden, und immer hatte er gesiegt. Doch man kann Gott in seiner Güte nicht unbestraft versuchen. Das ist nicht erlaubt. Er verzeiht, verzeiht, verzeiht... Doch er verlangt den festen Willen, die Sünde aufzugeben, um weiterhin verzeihen zu können. Töricht ist, wer sagt: "Herr, verzeih" und dann die Gelegenheit zur Sünde doch nicht meidet. Samson, der dreimal Siegreiche, hat Dalila, die Sinne, die Sünde, nicht gemieden und, zu Tode betrübt und schwächer geworden in der Seelenstärke - sagt das Buch - enthüllt er das Geheimnis: "Meine Kraft liegt in meinen sieben Zöpfen."

Ist keiner unter euch, der müde, von der Müdigkeit der Sünde, das Gefühl hat, weniger Mut zu haben und vom Feind bezwungen zu werden, da nichts so sehr schwächt wie ein schlechtes Gewissen? Nein, wer du auch sein magst, nein, hüte dich! Samson verriet der Versuchung das Geheimnis seiner siebenfachen Stärke: der sieben symbolischen Zöpfe, seiner Tugenden, also seiner Treue zur Enthaltsamkeit, und er schlief müde ein auf dem Schoße des Weibes und wurde besiegt. Blind, Sklave und ohnmächtig, weil er die Treue zu seinem Gelübde gebrochen hatte! Er wurde erst wieder der "Starke", der "Befreier", als er im Schmerz der wahren Reue seine Kraft wiederfand... Reue, Geduld, Ausdauer, Heroismus: dann, ihr Sünder, verspreche ich euch, daß ihr zu Befreiern eurer selbst werdet. Wahrlich, ich sage euch, weder die Taufe noch der Ritus helfen, wenn nicht die Reue und der feste Wille vorhanden sind, der Sünde zu widersagen. Wahrlich, ich sage euch, es gibt keinen Sünder, der ein so großer Sünder wäre, daß durch seine Tränen die Tugenden, welche die Sünde aus seinem Herzen gerissen hat, nicht wiedergeboren werden könnten.

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Heute hat eine Frau, eine Sünderin Israels, die Gott für ihre Sünden bestraft hat, durch ihre Reue Barmherzigkeit erlangt. Barmherzigkeit, sage ich! Weniger werden jene finden, die für sie keine Barmherzigkeit hatten und die schon so schwer Bestrafte noch mitleidlos quälten. Steckte in ihnen nicht der Aussatz der Sünde? Jeder soll sich prüfen... und Mitleid haben, um selbst Barmherzigkeit zu erlangen. Ich strecke meine Hand der Reumütigen entgegen, die nun nach einer todesähnlichen Trennung zu den Lebenden zurückkehrt. Simon des Jonas, nicht ich, wird das Almosen für die Büßerin einsammeln, die, schon an der Schwelle des Lebens, zum wahren Leben zurückkehrt. Murrt nicht, ihr Großen! Murrt nicht! Ich war noch nicht auf der Erde, als sie die Schöne war. Doch ihr wart. Mehr sage ich nicht.»

«Klagst du uns an, daß wir ihre Liebhaber gewesen sind?» fragt einer der beiden Alten voller Groll.

«Ein jeder halte sich sein Herz und seine Taten vor Augen. Ich klage nicht an. Ich spreche im Namen der Gerechtigkeit. Laßt uns gehen.»

Jesus geht mit den Seinen.

Doch Judas Iskariot wird von zweien zurückgehalten, die ihn anscheinend kennen. Ich höre, wie sie sagen: «Auch du bist mit ihm? Ist er wirklich heilig?»

Iskariot hat eine seiner überraschenden Antworten: «Ich wünsche euch, daß ihr wenigstens seine Heiligkeit begreift.»

«Doch er hat am Sabbat geheilt!»

«Nein. Er hat am Sabbat verziehen. Gibt es einen geeigneteren Tag für die Vergebung als den Sabbat? Gebt ihr mir nichts für die Erlöste?»

«Wir geben unser Geld nicht den Dirnen. Unsere Gaben gehen an den heiligen Tempel.»

Judas lacht verächtlich, läßt sie stehen und erreicht dann den Meister, der ins Haus des Petrus zurückgekehrt ist. Petrus wendet sich an Jesus: «Hier, der kleine Jakob, hat mir beim Verlassen des Tempels zwei Geldbörsen statt einer gegeben; immer im Auftrag jenes Unbekannten. Wer mag es wohl sein, Meister? Du weißt es... Sag es mir.»

Jesus lächelt: «Ich werde es dir sagen, wenn du gelernt hast, über niemanden mehr zu murren.»

Alles ist zu Ende.

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132. JAKOBUS DES ALPHÄUS WIRD ALS JÜNGER ANGENOMMEN - JESUS PREDIGT NEBEN DEM ZAHLTISCH DES MATTHÄUS

Es ist der Morgen eines Markttages in Kapharnaum. Der Platz ist voller Händler jeglicher Art.

Jesus kommt vom See und sieht, daß die Vettern Judas und Jakobus ihm entgegenkommen. Er beschleunigt den Schritt, und nach einer liebevollen Umarmung fragt er besorgt: «Ist etwas mit eurem Vater geschehen?»

«Nichts Neues, was seine Krankheit betrifft», antwortet Judas.

«Warum bist du dann gekommen? Ich hatte dir doch gesagt: bleibe!»

Judas senkt das Haupt und schweigt. Doch nun explodiert Jakobus: «Es ist meine Schuld, daß er nicht gehorcht hat. Ja, meine Schuld. Ich habe es nicht mehr ertragen können. Alle gegen uns! Und warum? Ist es vielleicht schlecht, dich zu lieben? Bis jetzt fürchtete ich, schlecht zu handeln. Doch nun weiß ich: du hast mir gesagt, daß Gott über dem Vater und der Mutter steht, so habe ich es nicht mehr ausgehalten. Oh, ich habe versucht, respektvoll zu sein, die Gründe zu erklären, die Meinungen zu ändern. Ich habe gesagt: "Warum bekämpft ihr mich? Wenn er der Prophet ist, der Messias, warum wollt ihr dann, daß die Welt sagt: 'Seine Familie war ihm feindlich gesinnt. In einer Welt, die ihm folgte, fehlte sie!' Warum, wenn er unglücklich ist, wie ihr sagt, sollen wir von der Familie nicht bei ihm sein, um zu verhindern, daß sein Wahn ihm oder uns schadet?" O Jesus, so sagte ich, um mich ihrer menschlichen Denkweise anzupassen. Doch du weißt, daß ich und Judas nicht glauben, daß du ein Narr bist. Du weißt, daß wir in dir den Heiligen des Himmels sehen. Du weißt, daß wir immer zu dir als zu unserem großen Stern aufgeblickt haben. Doch sie wollen uns nicht verstehen. Nicht einmal anhören wollen sie uns. So bin ich fortgegangen. Ich hatte die Wahl: Jesus oder die Familie, und ich habe dich gewählt. Hier bin ich, wenn du mich annehmen willst. Wenn du mich nicht willst, dann werde ich der unglücklichste unter den Menschen sein; denn ich werde nichts mehr haben. Weder die Liebe der Familie noch deine Freundschaft.»

«Soweit sind wir nun? Oh, mein Jakobus, mein armer Jakobus! Ich möchte dich nicht so leiden sehen, weil ich dich liebe. Aber wenn der Mensch Jesus mit dir weint, dann frohlockt Jesus, das Wort. Komm! Ich bin überzeugt, daß die Freude, Bote Gottes unter den Menschen zu sein, deine Seligkeit von Stunde zu Stunde vermehren wird, bis zur vollen Freude in der letzten Stunde auf Erden und in der Ewigkeit des Himmels.»

Jesus wendet sich um und ruft seine Jünger, die sich taktvoll einige Meter entfernt hatten. «Kommt, Freunde! Mein Vetter Jakobus gehört nun zu meinen Freunden und ist somit auch euer Freund. Wie sehr habe ich

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diesen Tag, diese Stunde ersehnt für meinen besten Freund der Kindheit und guten Bruder der Jugendzeit.»

Die Jünger freuen sich über den Neuangekommenen und über Judas, den sie seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen haben.

«Wir haben dich im Hause gesucht, doch du warst auf dem See.»

«Ja, ich war für zwei Tage mit Petrus und den anderen auf dem See. Petrus hatte einen guten Fang, nicht wahr?»

«Ja. Und jetzt, das mißfällt mir sehr, muß ich diesem Dieb dort viele Doppeldrachmen geben ...» und er weist auf den Steuereinnehmer Matthäus hin, dessen Tisch von Menschen belagert ist, die für ihren Boden oder die Lebensmittel zahlen.

«Es wird alles im rechten Verhältnis stehen, sage ich. Mehr Fische, mehr Einnahmen, aber auch mehr Abgaben.»

«Nein, Meister. Je mehr ich fische, desto mehr verdiene ich. Doch wenn ich beim Fischen das doppelte Gewicht erreiche, dann läßt mich der dort nicht das Doppelte zahlen. Er verlangt von mir das Vierfache, der Schakal!»

«Petrus, gehen wir in seine Nähe. Ich will reden. Es sind immer Menschen am Tisch des Steuereinnehmers.»

«Das weiß ich», brummt Petrus. «Menschen und Verwünschungen!»

«Nun, ich werde hingehen und Segen spenden. Wer weiß, ob dann nicht ein wenig Redlichkeit in den Steuereinnehmer kommt.»

«Sei beruhigt, deine Worte werden nur bis an seinen Krokodilpanzer dringen.»

«Wir werden sehen.»

«Was wirst du ihm sagen?»

«Direkt nichts. Doch ich werde so reden, daß es auch für ihn gilt.»

«Du mußt ihm sagen, daß einer, der die Armen, die bitter um das tägliche Brot arbeiten müssen, ausquetscht, um seine Weiber und Gelage zu bezahlen, genauso ein Dieb ist wie einer, der Straßenraub begeht.»

«Petrus, möchtest du nicht an meiner Stelle reden?»

«Nein, Meister, ich kann nicht gut reden.»

«Und mit der Galle, die du in dir hast, würdest du dir und ihm schaden.»

Sie sind am Kassentisch des Steuereinnehmers angelangt. Petrus tut, als ob er bezahlen wolle. Jesus hält ihn zurück und sagt: «Gib mir die Münzen. Ich will heute für dich zahlen.» Petrus schaut ihn erstaunt an und gibt ihm einen Lederbeutel voller Münzen.

Jesus wartet, bis er an der Reihe ist, und als er dem Steuereinnehmer gegenüber steht, sagt er: «Ich möchte für acht Körbe Fische des Simon des Jonas bezahlen. Die Körbe sind dort, zu Füßen der Diener. Überzeuge dich, wenn du es für nötig hältst. Doch unter Ehrlichen müßte das Wort genügen. Und ich nehme an, du vertraust mir als einem Ehrlichen. Wieviel macht die Steuer?»

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Matthäus, der bis dahin hinter seinem Tisch saß, steht auf, als Jesus sagt: «Ich nehme an, daß du mir vertraust.» Er ist klein und schon älter, ungefähr so alt wie Petrus, zeigt jedoch das müde Gesicht eines Lebemannes und eine offensichtliche Verwirrung. Zuerst hält er das Haupt geneigt, dann hebt er es und schaut Jesus an. Und Jesus blickt ihn fest und ernst an; er überragt ihn mit seiner stattlichen Figur.

«Wieviel?» wiederholt Jesus nach einer Weile.

«Es ist keine Steuer zu zahlen für den Jünger des Meisters», antwortet Matthäus und leise fügt er hinzu: «Bete für meine Seele!»

«Die trage ich in mir; denn ich sammle die Sünder. Doch du, warum pflegst du deine Seele nicht?»

Und Jesus dreht ihm sofort den Rücken zu und kehrt zu Petrus zurück, der vor Staunen sprachlos ist. Auch die anderen sind sprachlos. Sie flüstern und murmeln.

Jesus lehnt sich an einen Baum, der ungefähr zehn Meter von Matthäus entfernt ist, und beginnt zu reden.

«Die Welt kann mit einer großen Familie verglichen werden, deren Glieder verschiedene Berufe ausüben, die alle notwendig sind. Da sind die Bauern, die Hirten, die Winzer, die Zimmerleute, die Fischer, die Schreiner und die Schmiede, und dann die Schreiber, die Soldaten, die Offiziere, die für eine besondere Aufgabe bestimmt sind, die Ärzte und die Priester. Vielerlei sind da, die Welt kann nicht nur aus einer Klasse von Menschen bestehen. Alle sind nötig, alle können heilig sein, wenn sie das, was sie zu tun haben, mit Gerechtigkeit und Ehrlichkeit tun. Wie kann man das verwirklichen, wenn Satan von vielen Seiten versucht? Man muß an Gott denken, der alles sieht, auch die verborgensten Werke, und an sein Gesetz, das sagt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und tue ihm nicht an, was du nicht willst, daß man es dir antue, und stehle in keiner Weise!"

Sagt nun, ihr, die ihr mich anhört: wenn einer stirbt, nimmt er vielleicht seine Geldbörse mit? Auch wenn er so töricht wäre und es tun wollte, könnte er sie in einem anderen Leben gebrauchen? Nein! Die Münzen werden bei der Verwesung eines Körpers rostiges Metall. Doch seine Seele wäre leer und ärmer als der selige Job und würde nicht einmal mehr die kleinste Münze ihr eigen nennen können, auch wenn sie hier auf Erden im Grab Talente über Talente gelassen hätte. Hört, hört! Wahrlich, ich sage euch, mit Reichtum kann man nur schwer den Himmel erwerben; vielmehr verliert man ihn im allgemeinen, auch wenn der Reichtum ehrlich erarbeitet oder geerbt worden ist; denn nur wenige Reiche verstehen es, die Reichtümer gut zu verwenden.

Was muß man also tun, um den gesegneten Himmel zu erreichen, um die Ruhe im Schoße des Vaters zu verdienen? Man darf nicht gierig auf Reichtum sein. Gierig in dem Sinne, daß man ihn um jeden Preis haben will, unter Nichtbeachtung der Ehrlichkeit und der Liebe; daß man ihn,

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wenn man ihn hat, mehr als den Himmel und die Mitmenschen liebt und dem Bruder in der Not die Nächstenliebe verweigert. Nicht gierig auf das sein, was der Reichtum bieten kann: Frauen, Vergnügen, Genuß und Prachtgewänder, die eine Beleidigung für alle sind, die frieren und hungern. Es gibt sie, es gibt sie, die Münze, mit welcher das ungerechte Geld in eine Währung umgetauscht werden kann, die auch im Himmelreich gilt. Es ist die heilige Klugheit, aus irdischem Reichtum, der oft in ungerechter Weise erworben worden ist oder aber Ungerechtigkeiten erzeugt, ewige Reichtümer zu machen. Also mit Ehrbarkeit verdienen, das zurückgeben, was man ungerechterweise sich angeeignet hat, die Güter der Welt mit Sparsamkeit und ohne Anhänglichkeit benützen und auch verstehen, sich von ihnen zu trennen; denn früher oder später muß man sie doch zurücklassen - oh, denkt daran! - während man das vollbrachte Gute nie mehr verliert.

Wir alle möchten "Gerechte" genannt und als solche angesehen und von Gott belohnt werden. Doch wie kann Gott jemand belohnen, der nur dem Namen nach gerecht ist, aber keine Werke vorzuweisen hat? Wie kann er sagen: "Ich verzeihe dir", wenn er sehen muß, daß die Reue nur in Worten besteht, aber nicht einem echten Wandel im Geiste entspricht? Es ist keine Reue vorhanden, solange der Appetit auf Dinge besteht, die uns zur Sünde verleiten. Doch wenn einer sich verdemütigt, wenn einer sich des Instrumentes einer schlechten Leidenschaft entledigt, ob diese sich nun Frau oder Geld nennt, und sagt: "Für dich, Herr, verzichte ich darauf", seht, dann hat er wahrhaft bereut. Und Gott nimmt ihn auf und sagt zu ihm: "Komm, du bist mir teuer wie ein Unschuldiger und ein Held."»

Jesus hat geendet. Er geht, ohne sich noch einmal nach Matthäus umzusehen, der sich schon bei seinen ersten Worten dem Kreis der Jünger zugesellt hatte. Beim Hause des Petrus angelangt, kommt dessen Frau auf ihn zu und sagt ihrem Manne etwas. Petrus gibt Jesus ein Zeichen, näher zu kommen. «Die Mutter von Judas und Jakobus ist hier. Sie will mit dir reden, doch will sie nicht gesehen werden. Was sollen wir tun?»

«Ich begebe mich in das Haus, wie um mich auszuruhen, und ihr alle geht und verteilt Almosen an die Armen. Nimm auch das Geld der nicht verlangten Steuer. Geht!» Jesus verabschiedet sich von allen mit einer Geste der rechten Hand, während Petrus sie drängt, mit ihm zu kommen.

«Wo ist die Mutter, Frau?» fragt Jesus die Gattin des Petrus.

«Auf der Terrasse, Meister! Dort ist Schatten und Kühle. Geh hinauf, dort kann man sich auch freier bewegen als im Haus.»

Jesus geht die Treppe hinauf. In einer Ecke unter der dichten Weinlaube sitzt auf einer gegen die Brüstung gerückten Bank Maria des Alphäus ganz in Dunkel gekleidet und den Schleier tief vor das Gesicht gezogen. Sie weint und weint lautlos. Jesus ruft sie: «Maria, liebe Tante!» Sie

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wendet ihm ihr angsterfülltes Gesicht zu und erhebt die Arme: «Jesus, mein Herz ist schmerzerfüllt.»

Jesus geht zu ihr hin. Er zwingt sie, sich niederzusetzen. Er selbst bleibt jedoch stehen, immer noch den Mantel über die Schultern geworfen, legt eine Hand auf die Schulter der Tante und die andere in ihre Hände und fragt: «Was hast du? Warum weinst du so sehr?» «O Jesus, ich bin von zu Hause fortgelaufen und habe gesagt: "Ich gehe nach Kana, um Eier und Wein für den Kranken zu holen." Bei Alphäus ist deine Mutter, die ihn pflegt, wie nur sie es kann; so bin ich beruhigt. Ich bin aber hierher gekommen. Zwei Nächte bin ich gelaufen, um so rasch als möglich hier zu sein. Nun kann ich nicht mehr; es ist aber nicht die Anstrengung. Es ist mein Herzeleid, das mich krank macht. Mein Alphäus, mein Alphäus... meine Söhne! Warum ist zwischen ihnen, die dasselbe Blut haben, so ein Unterschied? Es ist, als ob ein armes Mutterherz zwischen zwei Mühlsteinen zermalmt würde. Sind Judas und Jakobus bei dir? Ja? Dann weißt du, o Jesus! Warum will mein Alphäus nicht begreifen? Warum stirbt er? Warum will er so sterben? Und Simon und Joseph? Warum sind sie nicht mit dir, sondern gegen dich?»

«Weine nicht, Maria! Ich habe keinen Groll auf sie. Ich habe es auch Judas gesagt. Ich verstehe und bemitleide sie. Wenn du deswegen weinst, dann weine nicht mehr.»

«Nur deshalb; denn sie beleidigen dich. Nur darum; und dann... und dann; ich will nicht, daß mein Mann stirbt, solange er dein Feind ist. Gott wird ihm das nie verzeihen; und ich... oh, ich werde ihn nicht einmal im anderen Leben für mich haben.» Maria ist voller Angst. Sie weint, und große Tränen fallen dabei auf die linke Hand Jesu, die sie immer noch mit ihren beiden Händen festhält und immer wieder küßt, wie sie auch von Zeit zu Zeit mit ihrem gramerfüllten Gesicht zu ihm aufblickt.

«Nein», sagt Jesus. «Nein, sprich nicht so! Ich verzeihe. Und wenn ich verzeihe ...»

«Oh, komm, Jesus! Komm, um seine Seele und seinen Leib zu heilen! Komm... Sie sagen schon, um dich anzuklagen, daß du einem sterbenden Vater beide Söhne geraubt hast; und sie sagen es in Nazareth, verstehst du? Sie sagen aber auch: "Überall wirkt er Wunder, und im eigenen Haus kann er es nicht." Ich verteidige dich und halte ihnen vor: "Wie soll er denn, wenn ihr ihn mit euren Vorwürfen verjagt, weil ihr nicht glaubt?" Und dann beschimpfen sie mich.»

«Du hast es gut gesagt: "weil ihr nicht glaubt". Wie kann ich tun, wo man nicht glaubt?»

«Oh, du kannst alles. Ich glaube für alle! Komm, wirke ein Wunder... für deine arme Tante...»

«Ich kann nicht!» Jesus ist sehr traurig, als er dies sagt. Aufrecht stehend, das Haupt der Weinenden an der Brust, scheint er seine Ohnmacht

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der gelassenen Natur zu bekennen, scheint er, sie als Zeugin für seinen Kummer anzurufen, nicht handeln zu können aufgrund eines ewigen Beschlusses. Die Frau weint noch stärker.

«Höre, Maria! Sei gut! Ich schwöre dir, daß ich es täte, wenn ich es könnte und wenn es gut wäre. Oh, ich würde dem Vater im Himmel diese Gnade entreißen für dich, für meine Mutter, für Judas und Jakobus und auch, ja, auch für Alphäus, Joseph und Simon. Doch ich kann nicht. Du hast jetzt großes Herzeleid und kannst die Gerechtigkeit dieser meiner Ohnmacht nicht begreifen. Ich will sie dir erklären, doch du wirst sie nicht verstehen. Als die Stunde des Überganges meines Vaters gekommen war - du weißt, wie gerecht er war, und wie meine Mutter ihn liebte - verlängerte ich sein Leben nicht. Es ist nicht richtig, einer Familie, in der ein Heiliger lebt, die unvermeidlichen Ereignisse des Lebens zu ersparen. Wenn es so wäre, müßte ich ewig auf der Erde bleiben; aber ich werde bald sterben; auch Maria, meine heilige Mutter, kann mich dem Tode nicht entreißen. Ich kann nicht! Was ich kann, ist dieses, und ich werde es tun!»Jesus hat sich niedergesetzt und das Haupt der Verwandten an seine Schulter gelegt. «Ich werde es tun! Ich verspreche dir, um deines Schmerzes willen, den Frieden für deinen Alphäus; ich versichere dir, daß ihr nie getrennt sein werdet; ich gebe dir mein Wort, daß unsere Familie im Himmel vereint sein wird, vereint für die Ewigkeit. So lange ich lebe und darüber hinaus will ich meiner teuren Verwandten tiefen Frieden und große Kraft einflößen, um aus ihr einen Apostel zu bilden für viele, viele arme Frauen, zu denen du als Frau leichter Kontakt findest. Du sollst meine liebe Freundin sein während der Zeit der Verkündigung der Frohbotschaft. Der Tod, weine nicht, der Tod von Alphäus wird dich der ehelichen Pflichten entbinden und dich zu den erhabeneren Aufgaben eines mystischen, fraulichen Priestertums erheben, das überaus nötig ist am Altare des Großen Opfers und bei den vielen Heiden, die ihren Geist eher vor dem heiligen Heldentum von Jüngerinnen als vor dem der Jünger beugen. O liebe Tante, dein Name wird wie eine Flamme am christlichen Himmel leuchten! ... Weine nicht mehr! Geh hin im Frieden! Sei stark, gottergeben, heilig! Meine Mutter - sie wurde Witwe vor dir - wird dich trösten, wie nur sie es kann. Komm! Ich will nicht, daß du allein unter dieser Sonne zurückkehrst! Petrus wird dich in seinem Boot bis zum Jordan fahren und von dort aus mit einem Reitesel nach Nazareth begleiten! Sei gut!»

«Segne mich, Jesus! Gib mir Kraft!»

«Ja, ich segne und küsse dich, liebe Tante.» Und er küßt sie zärtlich und drückt sie noch einmal lange an sein Herz, bis er sieht, daß sie sich beruhigt hat.

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133. JESUS PREDIGT VOR DER MENGE IN BETHSAIDA

Jesus ist in Bethsaida. Er spricht hochaufgerichtet vom Boote aus, das ihn hierher gebracht hat und nun fast an Land gezogen und mit einem Seil an einer sehr einfachen Mole festgebunden ist. Viele Menschen haben sich im Halbkreis um ihn herum niedergelassen und hören ihm aufmerksam zu. Jesus hat gerade zu sprechen begonnen.

«... und nun sehe ich, daß auch ihr von Kapharnaum mich liebt; denn ihr seid mir gefolgt und habt Handel und Bequemlichkeit beiseite gelassen, um mein belehrendes Wort zu hören. Ich weiß auch, daß die Vernachlässigung eurer Tätigkeit nicht nur einen finanziellen Schaden mit sich bringen wird, sondern daß man euch verlachen und gesellschaftlich schaden wird. Ich weiß, daß Simon, Eli, Urias und Joachim gegen mich sind. Heute nur gegen mich, morgen meine Feinde. Und ich sage euch, denn ich täusche niemand und erst recht nicht euch, meine teuren Freunde, daß die Mächtigen von Kapharnaum alle Mittel benützen werden, um mir zu schaden, mich zu quälen und zu isolieren: Verleumdung und Drohung, Lästerung und Spott. Der gemeinsame Feind benützt alles, um Christus die Seelen zu entreißen und sie zu seiner Beute zu machen. Ich sage euch: wer ausharrt, wird gerettet werden; doch ich sage auch: wer das Leben und das Wohlergehen mehr liebt als das ewige Leben, ist frei, zu gehen, mich zu verlassen und sich um das kleine Leben und das vergängliche Wohl zu kümmern. Ich halte niemand zurück.

Der Mensch ist ein freies Wesen. Ich bin gekommen, um den Menschen von der Sünde und dadurch im Geiste frei zu machen; ihn zu befreien von den Ketten einer entarteten bedrückenden Religion, die mit Strömen von Klauseln, Worten und Vorschriften das einfache, klare, einleuchtende, leicht verständliche, heilige und vollkommene Wort Gottes überschwemmt. Mein Kommen verlangt die Prüfung der Gewissen. Ich sammle mein Getreide auf der Tenne, dresche es mit der Lehre des Opfers und siebe es mit dem Sieb des freien Willens. Die Spreu, die Wicke und alles Unkraut fliegen leicht und unnütz davon oder fallen schwer als Schädlinge zu Boden und dienen den Vöglein zur Nahrung; denn in meine Scheune kommt nur ausgewähltes, reines, gutes Getreide: die Körner sind die Heiligen!

Seit Jahrhunderten besteht ein Kampf zwischen dem Ewigen und Satan, der durch seinen ersten Sieg über den Menschen hochmütig geworden ist und zu Gott gesagt hat: "Deine Geschöpfe werden für immer mir gehören. Nichts, weder die Strafe noch das Gesetz, das du ihnen geben willst, werden sie befähigen, sich den Himmel zu verdienen, und diese deine Stätte, aus welcher du mich verbannt hast, mich, den einzigen Intelligenten unter deinen Geschöpfen, wird leer bleiben, unnütz und traurig, wie alles, was nutzlos ist." Der Ewige aber antwortete dem Verfluchten:

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"So wird es sein, solange dein Gift allein den Menschen beherrscht. Doch ich werde mein Wort senden, und dieses Wort wird dein Gift unschädlich machen und die Herzen von der Torheit heilen, mit dem du sie verteufelt hast, und sie werden zu mir zurückkehren. Wie verirrte Schafe, die den Schäfer wieder finden, werden sie in meinen Schafstall zurückkehren, und der Himmel wird bevölkert werden, denn für sie habe ich ihn erschaffen. Und du wirst mit deinen schrecklichen Zähnen in ohnmächtiger Wut knirschen, unten in deinem fürchterlichen Reiche, dem Gefängnis der Verdammten, und die Engel Gottes werfen den Stein auf dich und versiegeln es, und Finsternis und Haß werden dich und die Deinen treffen, während den Meinen Licht und Liebe, Musik und Seligkeit, unendliche, ewige und wunderbare Freiheit geschenkt wird." Und darauf hat Satan unter schauderhaftem Gelächter geschworen: "Bei meiner Hölle schwöre ich, daß ich kommen werde, wenn die Stunde da ist. Ich werde mich überall unter die Bekehrten mengen, und dann werden wir sehen, wer von uns beiden der Sieger sein wird."

Ja, Satan stellt euch nach, um euch zu sieben. Und auch ich prüfe euch, um euch zu bewerten. Die Gegner sind zwei: ich und er. Ihr seid in der Mitte. Der Zweikampf der Liebe mit dem Haß, der Weisheit mit dem Nichtwissen, des Guten mit dem Bösen wird über euch und um euch herum ausgetragen. Um die Schläge des Bösen von euch abzuwehren, genüge ich. Ich werde mich zwischen euer Sein und die satanische Waffe stellen und lasse mich an eurer Stelle verwunden, weil ich euch liebe. Doch die innerlichen Schläge müßt ihr selbst mit eurem Willen abwehren, zu mir kommen und auf meinem Wege wandeln, der die Wahrheit und das Leben ist. Wer den Himmel nicht will, wird ihn nicht haben. Wer nicht fähig ist, ein Jünger Christi zu sein, ist leichte Spreu, die der Wind der Welt mit sich fortträgt. Wer ein Feind Christi ist, ist schädlicher Samen, der im satanischen Reiche keimen wird.

Ich weiß, weshalb ihr gekommen seid, ihr von Kapharnaum! Und mein Gewissen ist rein von der Sünde, die man mir auflastet. Aufgrund dieser nicht vorhandenen Sünde beschimpft man mich aber hinterher und behauptet, daß mich anhören und mir nachfolgen Mitschuld mit dem Sünder sei; aber ich fürchte mich nicht, denen von Bethsaida den Grund dieses Geredes zu offenbaren. Unter euch, Bürger von Bethsaida, befinden sich Ältere, die aus verschiedenen Gründen die Schöne von Chorazim noch nicht vergessen haben. Es sind Männer, die mit ihr gesündigt und Frauen, die deswegen Tränen vergossen haben. Sie weinten; ich war noch nicht gekommen, um zu sagen: "Liebt, die euch Schaden zufügen!" Sie weinten und jubilierten, als sie erfuhren, daß die Schöne von der Fäulnis befallen sei, die aus ihren Eingeweiden zum Äußeren ihres herrlichen Körpers vordringe. Sie ist zum Abbild des viel gefährlicheren Aussatzes der Seele geworden, der Seele der Ehebrecherin, der Mörderin und Dirne:

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Ehebrecherin siebzigmal siebenmal, mit jedem, der den Namen "Mann" und Geld hatte, Mörderin siebenmal siebenmal ihrer Bastarde, Dirne aus Lasterhaftigkeit, nicht aus Bedürfnis.

Oh! Ich kann euch verstehen, ihr verratenen Ehefrauen! Ich kann eure Freude verstehen, als man euch sagte: "Das Fleisch der Schönen ist ekelhafter und stinkender als das einer im Straßengraben verendenden Kröte, Beute der Raben und Würmer." Doch ich sage euch: lernt verzeihen! Gott hat euch gerächt und Gott hat dann verziehen. Verzeiht auch ihr. Ich habe ihr auch in eurem Namen verziehen, denn ich weiß, daß ihr gut seid, ihr Frauen von Bethsaida, die ihr mich begrüßt mit dem Rufe: "Gepriesen sei das Lamm Gottes! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!" Wenn ich das Lamm Gottes bin und ihr mich als solches anerkennt, wenn ich zu euch komme, ich, das Lamm, dann müßt ihr alle sanfte Schafe werden; auch ihr als betrogene Ehefrauen, in denen ein ferner Schmerz, jetzt ferner, Instinkte eines Raubvogels geweckt hat, der sein Nest verteidigt. Ich könnte als Lamm nicht unter euch bleiben, wenn ihr Tiger oder Hyänen wäret.

Er, der im heiligsten Namen Gottes kommt, um Gerechte und Sünder zusammenzurufen und sie in den Himmel zu führen, ist auch zur Reuigen gegangen und hat ihr gesagt: "Sei rein, geh und sühne!" Das tat ich am Sabbat. Und dafür werde ich angeklagt! Öffentlich angeklagt! Außerdem wirft man mir vor, mich einer Dirne genähert zu haben. Einer, die eine Dirne war. Sie aber war nur noch eine über ihre Sünden weinende Seele.

So sage ich euch: ich habe es getan und ich werde es wieder tun. Bringt mir das Buch, forscht in ihm, studiert und ergründet es! Findet mir, wenn ihr könnt, eine Stelle, die dem Arzt verbietet, einen Kranken zu heilen, einem Leviten, sich dem Altardienst zu widmen, einem Priester, einem Gläubigen beizustehen, nur weil es Sabbat ist... Wenn ihr eine Stelle findet und sie mir zeigt, werde ich an meine Brust schlagen und sagen: "Herr, ich habe vor deinem Antlitz und den Menschen gesündigt; ich bin der Vergebung nicht wert. Doch wenn du deinem Diener Barmherzigkeit erweisen willst, will ich dich dafür preisen, solange ich lebe."

Jene Seele war krank, und die Kranken brauchen den Arzt. Es war ein entheiligter Altar und benötigte einen Leviten, der sie reinigte. Sie war eine Gläubige, die zum wahren Tempel des wahren Gottes ging und dort weinte und einen Priester brauchte, um unterrichtet zu werden. Wahrlich, ich sage euch, ich bin der Arzt, der Levit und der Priester! In Wahrheit sage ich euch, wenn ich meine Aufgabe nicht erfülle und auch nur eine einzige Seele, die willig ist, nicht rette, dann wird Gott der Vater mich zur Rechenschaft ziehen und mich für die verlorene Seele bestrafen.

Das ist nach der Auffassung der Mächtigen von Kapharnaum mein Vergehen: ich hätte den Tag nach dem Sabbat abwarten sollen, um zu handeln. Ja! Aber warum weitere vierundzwanzig Stunden warten, um

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ein reuiges Herz in den Frieden Gottes zurückzuführen? In diesem Herzen war echte Demut, unverschleierte Aufrichtigkeit, vollkommener Reueschmerz. Ich habe in diesem Herzen gelesen. Der Aussatz bedeckte noch den Körper, doch die Seele war schon gereinigt durch den Balsam jahrelanger Reue, Tränen und Sühne. Diese Seele bedurfte nur der Erneuerung meiner Weihe, um Gott nahe treten zu können, ohne dadurch den Glorienschein, der Gott umgibt, zu verunreinigen. Ich habe sie ihr gegeben. Sie ist aus dem See auch körperlich rein hervorgegangen. Doch noch reiner im Herzen! Wie viele, oh, wie viele von denen, die in die Wasser des Jordan gestiegen sind, um dem Gebot des Vorläufers zu gehorchen, sind nicht so rein wie sie daraus hervorgegangen!

Denn ihre Taufe am Jordan war kein gewollter Akt eines aufrichtigen Herzens, das sich auf meine Ankunft vorbereitet, sondern nur eine Förmlichkeit, um vor den Augen der Welt in vollkommener Heiligkeit zu erscheinen. Es war nur Scheinheiligkeit und Hochmut. Zwei Fehler, die die schon vorhandene Sündenlast in ihren Herzen noch vermehrten. Die Taufe durch Johannes ist nur ein Symbol, das sagen will: "Reinigt euch vom Stolz, indem ihr euch verdemütigt und euch Sünder nennt! Reinigt euch von der Unreinheit, indem ihr deren Makel entfernt!" Denn die Seele muß mit eurem Willen getauft werden, um beim göttlichen Gastmahl rein zu sein. Keine Schuld ist so groß, daß sie nicht zuerst durch die Reue, dann durch die Gnade und schließlich durch den Erlöser weggewaschen werden könnte. Es gibt keinen so großen Sünder, daß er nicht sein niedergeschlagenes Antlitz erheben und einer Hoffnung auf Erlösung zulächeln könnte. Es genügt, daß er fest entschlossen ist, die Sünde zu meiden, der Versuchung in heldenhafter Weise zu widerstehen und aufrichtig wiedergeboren zu werden.

Ich sage euch nun eine Wahrheit, die von meinen Feinden als eine Lästerung angesehen würde. Doch ihr seid meine Freunde. Ich spreche besonders für euch, meine schon erwählten Jünger, und dann zu allen, die ihr mir zuhört. Ich sage euch: die Engel, reine und vollkommene Geister, die im Lichte der Allerheiligsten Dreifaltigkeit frohlocken, sind in ihrer Vollkommenheit - und sie wissen dies - euch Menschen gegenüber, die ihr noch fern vom Himmel seid, im Nachteil. Dieser Nachteil besteht darin, daß sie nicht imstande sind, sich aufzuopfern und zu leiden, um an der Erlösung der Menschen mitzuwirken.

Und was dünkt euch? Gott nimmt nicht einen Engel und sagt zu ihm: "Sei Erlöser der Menschheit!" Er nimmt seinen Sohn. Und er weiß ' daß, obgleich dessen Opfer unermeßlich und seine Macht unendlich ist, noch etwas fehlt, um die Summe der Verdienste der Summe der Sünden, die von Stunde zu Stunde zunimmt, entgegenstellen zu können, nimmt er nicht andere Engel, um das Maß vollzumachen, und sagt zu ihnen: "Leidet, um Christus nachzuahmen!" sondern er sagt es euch, euch Menschen; und

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dies ist seine Vatergüte, die keinen Unterschied machen will zwischen dem Sohn seiner Liebe und den Söhnen seiner Macht. Er sagt zu euch: "Leidet, bringt Opfer und seid meinem Lamm ähnlich. Seid Miterlöser!" O ja... ich sehe Engelsscharen, die für einen Augenblick in ihrer schwebenden, anbetenden Verzückung vor dem Dreieinigen Gott innehalten, niederknien, das Antlitz zur Erde neigen und sagen: "Ihr Gesegneten, die ihr leiden dürft mit Christus und für unseren und euren ewigen Gott!"

Viele werden diese Größe noch nicht begreifen. Sie übersteigt zu sehr das menschliche Maß. Doch wenn das Opfer dargebracht sein wird, wenn das ewige Getreidekorn neu gekeimt haben wird, um nie mehr zu sterben, nachdem es geerntet, gedroschen, gereinigt und im Erdreich begraben worden ist, dann wird der übergeistige Erleuchter kommen und die Geister erleuchten, auch die späteren, die aber dem Erlöser Christus treu geblieben sind; und dann werdet ihr verstehen, daß ich nicht gelästert, sondern euch die höchste Würde des Menschen kundgetan habe: Miterlöser zu sein, auch wenn man zuvor nur ein Sünder war. Bereitet euch also darauf vor in der Reinheit des Herzens und der Absicht! Je reiner ihr seid, um so tiefer versteht ihr, daß die Unreinheit, wie auch immer sie sein mag, nur Rauch ist, den Blick und den Verstand verdunkelt.

Seid rein! Beginnt damit beim Körper, um dann im geistigen Bereich weiterzumachen. Beginnt bei den fünf Sinnen, um dann zu den sieben Leidenschaften überzugehen. Beginnt mit dem Auge, dem König der Sinne, der den Weg zu den umfassendsten und heißesten Verlangen öffnet. Das Auge sieht das Fleisch der Frau und begehrt das Fleisch. Das Auge sieht den Reichtum der Reichen und begehrt das Gold. Das Auge sieht die Macht der Regierenden und begehrt die Macht. Euer Auge sei ruhig, ehrbar, sittsam und rein, und ihr werdet ruhige, ehrbare, sittsame und reine Wünsche haben. Je reiner euer Auge ist, um so reiner wird euer Herz sein. Wacht über euer Auge, den gierigen Entdecker der verführerischen Äpfel. Seid keusch in euren Blicken, wenn ihr keusch in eurem Leibe sein wollt. Wenn ihr die Keuschheit des Fleisches kennt, dann werdet ihr auch die "Keuschheit" der Reichtümer und der Macht kennen. Ihr werdet in allem keusch und darum Freunde Gottes sein.

Habt keine Angst, verspottet zu werden, wenn ihr keusch seid. Fürchtet nur, Feinde Gottes zu sein! Eines Tages hörte ich sagen: "Du wirst von der Welt verlacht werden als Lügner und Eunuch, wenn du zu erkennen gibst, daß du keinen Hang zur Frau hast." Wahrlich, ich sage euch, Gott hat die Ehe eingesetzt und euch zu seinen Nachahmern im Erschaffen und zu seinen Mitarbeitern gemacht, um den Himmel zu bevölkern. Doch es gibt noch einen höheren Stand, vor dem sich die Engel verneigen und in dem sie eine Erhabenheit sehen, die sie nicht nachahmen können. Einen Stand, der, wenn man von der Geburt bis zum Tode durchhält, Eunuchentum ohne natürlichen Mangel oder gewaltsamen oder freiwilligen

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Eingriff ist. Er ist jedoch auch jenen nicht verwehrt, die nicht mehr jungfräulich sind, doch auf ihre männliche oder weibliche Fruchtbarkeit verzichten, um allein dem Geiste nach fruchtbar zu sein. Dieser Stand verbietet nicht, sich dem Altare zu nähern; im Gegenteil, in den folgenden Jahrhunderten werden die Altäre von Menschen dieses Standes umgeben sein. Es ist der höchste Stand, der die Abkehr des Willens vollzieht von allem, was nicht Zugehörigkeit zu Gott allein ist, indem er für Ihn die Keuschheit des Leibes und des Herzens bewahrt, um in Ewigkeit das strahlende Weiß, das dem Lamme Gottes teuer ist, zu besitzen.

Ich habe für das Volk und für die Erwählten aus dem Volke gesprochen. Nun, bevor wir in das Haus des Philippus eintreten, um das Brot zu brechen und das Salz zu teilen, will ich euch alle segnen: die Guten, um sie zu belohnen, die Sünder, um ihnen Mut einzuflößen, sich dem nähern, der gekommen ist, um zu verzeihen. Der Friede sei mit euch allen!»

Jesus verläßt das Boot und geht durch die Menge, die sich um ihn drängt. An der Ecke eines Hauses steht noch Matthäus, der von dort aus dem Meister zugehört hat, ohne mehr zu wagen. Als Jesus bei ihm ankommt, bleibt er stehen und, wie wenn er alle segne, segnet er ein zweites Mal und blickt dabei Matthäus an. Dann geht er, aufs neue von den Menschen gefolgt, zur Gruppe der Seinen und verschwindet in einem Haus.

Alles ist zu Ende.

134. BERUFUNG DES MATTHÄUS ZUM JÜNGER

Immer noch der Marktplatz von Kapharnaum. Doch zu einer sehr heißen Stunde. Der Markt ist schon beendet, und auf dem Platz stehen nur Müßige herum, die miteinander reden, und Kinder spielen und tummeln sich.

Jesus befindet sich inmitten seiner Gruppe und kommt vom See zum Platz. Er liebkost die Kinder, die ihm entgegeneilen, und interessiert sich für ihre Vertraulichkeiten. Ein Mädchen zeigt einen blutenden Riß an der Stirne und beschuldigt dafür das Brüderchen.

«Warum hast du deiner Schwester weh getan? Das ist nicht recht!»

«Ich habe es nicht absichtlich getan. Ich wollte Feigen pflücken und habe dazu einen Stock genommen. Er war zu schwer, ist mir entfallen und hat sie getroffen. Ich habe auch für sie Feigen heruntergeholt.»

«Ist das wahr, Johanna?»

«Es ist wahr.»

«Du siehst also, daß dein Bruder dir nicht weh tun wollte. Er wollte dir eine Freude bereiten. Schließt ganz schnell Frieden und gebt euch einen

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Kuß. Gute Geschwister und gute Kinder dürfen nie einen gegenseitigen Groll empfinden. Los ...»

Die beiden weinenden Kinder küssen sich. Beide weinen: das eine wegen des schmerzenden Kratzers, das andere, weil es die Schmerzen verursacht hat. Jesus lächelt über den mit Tränen gewürzten Kuß. «So, jetzt, da ich sehe, daß ihr lieb seid, werde ich euch die Feigen ohne Stock pflücken.»

Das glaube ich gerne. Groß, wie er ist, und mit seinen langen Armen kann er dies mühelos tun. Er pflückt Feigen und verteilt sie.

Eine Frau eilt herbei: «Nimm, nimm, Meister! Ich werde dir sofort Brot bringen.»

«Nein, nein, das ist nicht für mich; es ist für Johanna und Tobiolus! Sie hatten Verlangen danach.»

«Und ihr habt den Meister damit belästigt? Wie aufdringlich seid ihr! Verzeih, Herr!»

«Frau, es mußte Friede gestiftet werden... und ich habe ihn mit dem Gegenstand der Zwistigkeit erreicht: den Feigen. Die Kinder sind niemals aufdringlich. Sie lieben die süßen Feigen, und ich liebe ihre reinen, unschuldigen Seelen. Sie nehmen viel Bitterkeit von mir.»

«Meister, es sind die Herren, die dich nicht lieben. Doch wir, das Volk, wir haben dich gern. Sie sind wenige, während wir viele sind.»

«Ich weiß, Frau. Danke für deinen Trost! Der Friede sei mit dir! Leb wohl, Johanna! Leb wohl, Tobiolus! Seid brav, tut euch nicht weh und streitet nicht mehr! Versprecht ihr mir?»

«Ja, ja, Jesus», antworten die beiden Kinder.

Jesus macht sich auf den Weg und sagt lächelnd: «Oh, nun da die Feigen uns geholfen haben, die Wolken zu vertreiben, laßt uns gehen; wohin wollt ihr gehen?»

Die Apostel wissen es nicht. Der eine sagt dahin, der andere dorthin. Doch Jesus schüttelt den Kopf und lacht. Petrus sagt: «Ich gebe auf. Wenn du es nicht selbst sagst... Ich habe heute schwarze Gedanken. Du hast es nicht gesehen, doch als wir aus dem Boote stiegen, war Eli dort, der Pharisäer. Noch grüner im Gesicht als üblich. Und er sah uns so sonderbar an.»

«Laß ihn doch.»

«Natürlich, es bleibt mir nichts anderes übrig. Aber ich versichere dir, Meister, wenn man mit dem zu tun bekommt, dann genügen zwei Feigen nicht!»

«Was habe ich der Mutter des Tobiolus gesagt? "Ich habe den Frieden mit dem Gegenstand des Zwistes wiederhergestellt." Und so werde ich immer versuchen, Frieden zu stiften: ich will den Vornehmen von Kapharnaum, wenn sie glauben, beleidigt worden zu sein, meine Hochachtung erweisen. So wird auch noch ein anderer zufrieden sein.»

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«Wer?»

Jesus beantwortet die Frage nicht und fährt fort: «Es wird mir wahrscheinlich nicht gelingen, weil es ihnen an gutem Willen fehlt und sie keinen Frieden schließen wollen. Doch hört: wenn bei allen Meinungsverschiedenheiten der Klügere nachgeben würde, anstatt auf seinem Recht zu bestehen, wenn er zur Hälfte auf sein Recht verzichtete, wäre es besser und auch heiliger. Nicht immer ist der Wille vorherrschend, den anderen zu schädigen. Manchmal tut jemand einem anderen weh, ohne es zu wollen. Denkt immer daran und verzeiht! Eli und die anderen meinen, daß sie Gott, so wie sie handeln, auf rechte Weise dienen. Mit Geduld und Ausdauer und viel Demut und guter Manier werde ich versuchen, sie davon zu überzeugen, daß eine neue Zeit angebrochen ist und Gott wünscht, daß ihm jetzt auf eine andere Art gedient werde, daß ihm gedient werde, wie ich es lehre. Die Klugheit des Apostels ist die feine Art, seine Waffe die Ausdauer, der Erfolg das Beispiel und das Gebet für die zu Bekehrenden.»

Sie sind auf dem Platz angekommen. Jesus geht geradewegs zur Zollbank, wo Matthäus rechnet und Münzen zählt, die wohlgeordnet nach Art und Größe vor ihm liegen und die er dann in Säckchen von verschiedenen Farben schüttet, und sie allesamt in einer eisernen Kassette verstaut, die dann von wartenden Dienern abtransportiert wird. Als der lange Schatten der Gestalt Jesu auf den Tisch fällt, hebt Matthäus den Kopf, um festzustellen, wer der verspätete Zahler sei. Petrus zieht Jesus am Ärmel und sagt: «Meister, was tust du hier, da nichts zu bezahlen ist?»

Doch Jesus hört nicht auf ihn. Er blickt auf Matthäus, der sich erhoben und eine ehrerbietige Haltung angenommen hat. Ein durchdringender Blick! Doch ist es nicht der Blick des strengen Richters vom letztenmal. Es ist ein werbender Blick voller Liebe. Er verwirrt und erfüllt mit Liebe. Matthäus wird rot. Er weiß nicht, was er tun oder sagen soll...

«Matthäus, Sohn des Alphäus, die Stunde ist gekommen. Komm, folge mir!» erklärt ihm Jesus, majestätisch.

«Ich, Meister, Herr? Weißt du denn, wer ich bin? Ich sage es deinetwegen, nicht meinetwegen.»

«Komm, folge mir, Matthäus, Sohn des Alphäus!», wiederholt Jesus sanft.

«Oh, wie könnte ich bei Gott Gnade gefunden haben? Ich, ich ...»

«Matthäus, Sohn des Alphäus, ich habe in deinem Herzen gelesen. Komm, folge mir nach.» Diese dritte Einladung ist eine Liebkosung.

«Oh, sofort, mein Herr!» und Matthäus kommt weinend hinter seinem Arbeitstisch hervor, ohne sich um die noch herumliegenden Münzen zu kümmern oder die Kassette zu schließen. Nichts von alledem. «Wohin gehen wir, Herr?» fragt er, als er vor Jesus steht. «Wohin führst du mich?»

«In dein Haus. Willst du den Menschensohn aufnehmen?»

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«Oh, aber... was werden dann die sagen, die dich hassen?»

«Ich höre auf das, was man im Himmel sagt, und dort sagt man: "Gott sei gepriesen für einen Sünder, der gerettet wird!" und der Vater sagt: "In Ewigkeit wird die Barmherzigkeit sich zum Himmel erheben und über der Erde schweben, und da ich dich liebe mit einer ewigen, vollkommenen Liebe, erweise ich auch dir Barmherzigkeit." Gehen wir! Mit meinem Kommen heilige ich nicht nur dein Herz, sondern auch das Haus.»

«Ich habe es schon gereinigt in der Hoffnung, die meine Seele erfüllte... obgleich der Verstand dagegen sprach. Oh, ich mit deinen Heiligen!»Matthäus betrachtet die Jünger.

«Ja, mit meinen Freunden. Kommt alle! Ich will euch zusammenführen, damit ihr Brüder werdet!»

Die Jünger sind derart erstaunt, daß sie noch sprachlos sind. Sie sind Jesus und Matthäus über den sonnigen Platz gefolgt, der nun ganz menschenleer ist, und zu einer kurzen Gasse gelangt, die in der glühenden Sonne liegt. Kein Lebewesen ist auf der Straße sichtbar, nur Sonne und Staub.

Sie betreten ein Haus. Ein schönes Haus mit einem breiten Portal, das sich zur Gasse hin öffnet. Ein schattiger, kühler Säulengang, hinter dem ein Hof liegt, der als Garten dient. «Komm, mein Meister! Bringt Wasser und Getränke!»

Die Diener bringen das Gewünschte herbei.

Matthäus geht und erteilt Anweisungen, während Jesus und die Seinen sich erfrischen. Dann kehrt er zurück. «Komm, Meister, der Saal ist kühler... Es werden Freunde kommen. Ich möchte, daß ein großes Fest gefeiert wird und meine Bekehrung, meine wahre Beschneidung... Du hast mit deiner Liebe mein Herz beschnitten... Meister, es wird das letzte Fest sein; keine Feste mehr für den Zöllner Matthäus. Keine Feste dieser Welt... nur noch die innerliche Freude darüber, erlöst zu werden und dir dienen zu dürfen, von dir geliebt zu werden... Wieviel habe ich geweint in diesen Monaten. Seit beinahe drei Monaten weine ich. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Ich wollte kommen... doch wie kann ich mit meiner schmutzigen Seele zu dir, dem Heiligen, gelangen?»

«Du hast sie mit Reue und Liebe gewaschen. Für mich und für den Nächsten. Petrus? Komm hierher!»

Petrus, der noch nicht geredet hat, so sehr ist er überrascht, kommt nach vorne. Die beiden Männer, Petrus und Matthäus, die gleichen Alters, klein von Wuchs und grauhaarig sind, stehen sich gegenüber, Jesus in ihrer Mitte, lächelnd und schön.

«Petrus, du hast mich oft gefragt, wer der Unbekannte der Geldbörse ist, welche Jakob jede Woche bringt. Nun, hier steht er vor dir!»

«Was? Dieser Dieb? Oh, Verzeihung, Matthäus! Doch wer hätte annehmen können, daß du es warst? Gerade du, unsere Verzweiflung wegen

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deines Wuchers... daß du fähig sein könntest, dir jede Woche mit diesem reichen Almosen ein Stück deines Herzens herauszureißen...»

«Ich weiß es, ich habe euch ungerecht besteuert. Doch seht, ich knie vor euch nieder und bitte euch, jagt mich nicht fort! Er hat mich angenommen. Seid nicht strenger mit mir als er!»

Petrus, der neben ihm steht, hebt Matthäus mit einer etwas barschen, doch herzlichen Geste in die Höhe und sagt: «Steh auf! Nicht mich und die anderen, nur ihn hast du um Verzeihung zu bitten. Wir alle sind mehr oder weniger Diebe wie du! Oh... nun habe ich es wieder gesagt. Du verwünschte böse Zunge! Doch ich bin so gemacht: das, was ich denke, sage ich; was im Herzen ruht, gleitet mir auf die Zunge. Komm, laß uns einen Pakt des Friedens und der Liebe schließen!», und er küßt Matthäus auf die Wange.

Auch die anderen tun es mehr oder weniger liebevoll. Ich muß dies sagen, denn Andreas ist von Natur aus schüchtern, und Judas Iskariot kalt; es sieht so aus, als ob er ein Bündel Schlangen umarmen müßte, so kurz und abrupt ist seine Umarmung.

Matthäus geht hinaus, denn er hört Geräusche.

«Aber Meister», sagt Judas Iskariot, «mir scheint, daß dies unklug war. Die Pharisäer klagen dich schon an, und du... nun nimmst du auch noch einen Zöllner unter die Deinen auf! Nach einer Dirne noch einen Zöllner! ... Hast du denn beschlossen, dich zu ruinieren? Wenn es so ist, dann sage es, daß...»

«Daß wir unserer Wege gehen, nicht wahr?» beendet Petrus spöttisch.

«Wer spricht denn mit dir?»

«Ich weiß, daß du nicht mit mir sprichst. Doch erlaube mir, mit deiner herrschaftlichen Seele zu reden, mit deiner so reinen Seele, mit deiner klugen Seele. Ich weiß, daß du als Mitglied des Tempels den Geruch der Sünde in uns wahrnimmst; in uns Armen, die wir nicht zum Tempel gehören. Ich weiß, daß du, ganzer Judäer, Mischung aus einem Pharisäer, einem Sadduzäer und einem Herodianer, halber Schriftgelehrter und zu einem kleinen Teil Essener bist - willst du noch mehr solche vornehme Titel hören? Du fühlst dich unter uns nicht wohl, wie ein herrlicher Aal, der in ein Netz voller Krabben geraten ist. Aber was kann man da schon machen? Er hat uns angenommen, und wir bleiben bei ihm. Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja jederzeit gehen. So haben wir alle mehr Luft. Auch er, siehst du, ist betrübt meinet- und deinetwegen. Meinetwegen, weil ich gegen die Geduld und auch... ja, auch gegen die Liebe gefehlt habe; doch mehr noch deinetwegen, weil du nichts verstehst mit deinem Vorhang vornehmer Titel und keine Nächstenliebe, Demut und Achtung kennst. Nichts hast du, Bursche! Nur einen großen Dünkel! ... Gott gebe, daß es unschädlicher Rauch sei.»

Jesus wartet mit auf der Brust verschränkten Armen und einem strengen

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Blick, bis Petrus geendet hat und sagt dann: «Hast du nun alles gesagt, Petrus? Hast du auch deine Seele von der Hefe gereinigt, die darin war? Du hast gut daran getan. Heute ist für einen Sohn Abrahams das Ostern der ungesäuerten Brote, Der Ruf Christi ist für eure Seelen wie das Blut des Lammes, und wo es hingelangt, kommt die Sünde nicht mehr hin.

Sie wird nicht mehr über den kommen, der getreu ist. Von mir berufen

zu sein, bedeutet Befreiung und wird ohne jegliche Hefe gefeiert.»

Zu Judas kein Wort. Petrus schweigt beschämt.

«Der Gastgeber kehrt zurück», sagt Jesus. «Mit Freunden. Wir wollen ihnen nichts als Tugenden zeigen. Wer es nicht fertig bringt, soll hinausgehen. Seid nicht wie die Pharisäer, die durch Gesetze unterdrücken, die sie

als erste nicht beachten.»

Matthäus kommt mit anderen Männern zurück, und das Mahl beginnt. Jesus sitzt in der Mitte zwischen Petrus und Matthäus. Sie sprechen über viele Dinge, und Jesus erklärt mit viel Geduld diesem und jenem, was sie wissen wollen. Es werden auch Klagen über die Pharisäer laut, von denen sie verachtet werden.

«Also, kommt zu dem, der euch nicht verachtet. Und dann benehmt euch so, daß euch wenigstens die Guten nicht verachten können», antwortet Jesus.

«Du bist gut, doch du bist allein.»

«Nein, sie hier sind wie ich, und dann... ist auch Gott Vater, der auch alle jene liebt, die wieder seine Freunde werden wollen. Wenn ein Mensch

nichts mehr als den Vater hätte, wäre seine Freude nicht schon vollkommen?»

Sie sind schon beim Nachtisch angelangt, als ein Diener dem Herrn des Hauses ein Zeichen gibt und ihm etwas mitteilt.

«Meister, Eli, Simon und Joachim möchten hereinkommen und mit dir sprechen. Willst du sie sehen?»

«Gewiß.»

«Aber meine Freunde sind Zöllner!»

«Sie wollen sehen, was hier geschieht. Sie sollen es tun. Es würde nichts

nützen, es zu verbergen. Es würde dem Guten nicht nützen, und das Böse würde den Anlaß noch steigern und sagen, daß hier auch Dirnen seien.

Laß sie hereinkommen!»

Die drei Pharisäer treten ein. Sie schauen sich mit einem bösen Lachen

um und reden miteinander. Doch Jesus ist aufgestanden und geht ihnen entgegen, zusammen mit Matthäus. Er legt diesem eine Hand auf die Schulter und sagt: «Oh, wahre Kinder Israels, ich grüße euch und teile euch eine große Neuigkeit mit, die bestimmt eure Herzen als vollkommene Israeliten, die sich nur um die Beobachtung des Gesetzes durch alle zur Verherrlichung Gottes bemühen, höher schlagen lassen wird. Matthäus, der Sohn des Alphäus, ist von heute an nicht mehr der Sünder, der Ärgernis von

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Kapharnaum. Ein räudiges Schaf Israels ist geheilt. Freut euch! Ihm folgend, werden andere sündige Schafe geheilt, und eure Stadt, auf deren Heiligkeit ihr so bedacht seid, wird Gott als heilige Stadt wohlgefällig sein. Er hat alles aufgegeben, um Gott allein zu dienen. Gebt dem verirrten Israeliten, der nun in den Schoß Abrahams zurückkehrt, den Friedenskuß!»

«Und er gibt sich mit Zöllnern ab? Während eines fröhlichen Gastmahls? Oh, das ist wahrhaft eine erwünschte Bekehrung! Schau dort, Eli... das ist Josia, der Frauenjäger.»

«Und dort, Simon des Isaak, der Ehebrecher.»

«Und der andere? Das ist Azarias, der Wirt, in dessen Spelunke Römer und Juden spielen, betrügen, sich betrinken und sich mit Frauen vergnügen.»

«Aber Meister, weißt du wenigstens, wer diese Leute sind? Wußtest du es?»

«Ich wußte es.»

«Und ihr von Kapharnaum, ihr Jünger, warum habt ihr das erlaubt? Du verblüffst mich, Simon des Jonas!»

«Und du, Philippus, auch du bist hier und du, Nathanael! Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus! Du, ein wahrer Israelit! Wie konntest du zulassen, daß dein Meister mit Zöllnern und öffentlichen Sündern speist? Gibt es denn in Israel kein Ehrgefühl mehr?» Die drei sind wirklich über alles entsetzt.

Jesus sagt: «Laßt meine Jünger in Frieden! Ich habe es gewollt. Ich allein!»

«Natürlich, versteht sich. Wenn man den Heiligen spielen will und es nicht ist, verfällt man leicht unverzeihlichen Fehlern.»

«Und wenn man die Jünger zu Respektlosigkeit erzieht, kann man das Gesetz nicht achten. Noch brennt in mir, dem Pharisäer Eli, der verächtliche Spott von diesem Judäer, der zum Tempel gehört. Er kann das Gesetz nicht achten. Man lehrt, was man weiß!»

«Du irrst, Eli... Ihr irrt euch alle. Man lehrt das, was man weiß. Das ist wahr. Und ich, der ich das Gesetz kenne, lehre es auch jene, die es ]nicht kennen: die Sünder! Ihr... ihr seid schon Herren eurer Seelen. Die Sünder sind es nicht. Ich suche ihre Seele, ich will sie ihnen zurückgeben, damit sie ihrerseits sie mir wiedergeben, so wie sie ist: krank, verwundet, schmutzig... und ich will sie heilen und reinigen. Dazu bin ich gekommen. Die Sünder brauchen den Erlöser. Und ich komme, sie zu erlösen. Versteht mich recht! Haßt mich nicht ohne Grund.»

Jesus spricht überzeugend, voller Demut und Sanftmut. Doch die drei sind wie verdorrte, stachelige Disteln... und sie gehen mit angewidertem Gesichtsausdruck fort.

«Sie sind weg! Jetzt werden sie uns überall kritisieren», murrt Judas Iskariot.

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«Laß sie es tun! Handle selbst so, daß der Vater im Himmel dich nicht zu kritisieren braucht! Sei nicht gekränkt, Matthäus, und auch ihr nicht, seine Freunde! Das Gewissen sagt uns: "Tue nichts Böses", und das genügt.»

Jesus kehrt zu seinem Platz zurück, und alles ist zu Ende.

135. JESUS AUF DEM SEE VON TIBERIAS - BELEHRUNG DER JÜNGER VOR DER STADT

Jesus und alle die Seinen - es sind mit ihm zusammen vierzehn -befinden sich jeweils zu sieben in zwei Booten auf dem See von Galiläa. Jesus ist mit Petrus, Andreas, Simon, Joseph und den beiden Vettern im ersten Boot. In anderen sind die beiden Söhne des Zebedäus mit dem Iskariot, Philippus, Thomas, Nathanael und Matthäus.

Die Boote segeln rasch dahin von einem frischen Nordwind getrieben, der das Wasser an vielen Stellen kräuselt. Es bildet sich so ein leichter Schaum, der wie Tüll auf dem türkisblauen, klaren See ruht. Sie segeln nebeneinander und hinterlassen zwei Kielwasser, die sich in einiger Entfernung mit ihrem fröhlichen Quirlen vereinigen.

Von Boot zu Boot findet eine angeregte Unterhaltung statt. Daraus schließe ich, daß die Galiläer den Judäern die schönsten Stellen des Sees mit ihren Handelsplätzen und den dort wohnenden Persönlichkeiten anpreisen und die Entfernung zwischen dem Abfahrtsort Kapharnaum und dem Ziel Tiberias nennen.

In den Booten wird nicht gefischt, sie werden nur für den Personentransport benützt.

Jesus sitzt auf einem Brett am Bug und erfreut sich sichtlich an der schönen Landschaft, dem Schweigen ringsum, dem herrlichen Blau des Himmels und des Sees, der von einem grünen Ufer umsäumt ist, wo da und dort weiße Dörfer eingebettet sind. Jesus hört nicht auf die Gespräche der Jünger. Er hat sich jetzt auf ein Bündel Segel gelegt und schaut ab und zu in den blauen Spiegel des Sees, als wolle er erforschen, was in diesem klaren Wasser alles lebt. Wer weiß, woran er denkt? Petrus fragt ihn zweimal, ob die Sonne ihn störe, die nun bereits im Osten voll aufgegangen und schon ziemlich wärmt. Ein anderes Mal fragt er Jesus, ob er wie die anderen etwas Brot und Käse haben möchte. Doch Jesus wünscht nichts, weder Sonnenschutz noch Brot. So läßt Petrus ihn in Ruhe.

Eine Gruppe kleiner Barken, die zu Unterhaltungsfahrten auf dem See dienen, mit purpurnen Baldachinen und Polstern ausgestattet, schneidet den Fischerbooten den Weg. Man hört singen, lachen und riecht Wohlgerüche. Die Luxusboote sind voll schöner Frauen, fröhlicher Römer und

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Palästinenser; die Römer sind sicher in der Mehrzahl; neben den Einheimischen befinden sich auch einige Griechen. Dies entnehme ich aus den Worten eines mageren, wendigen Jünglings, dessen Hautfarbe dunkel wie eine reife Olive ist. Er trägt ein kurzes rotes Gewand, das mit einer reichen griechischen Borte gesäumt ist und in der Taille von einem Gürtel gehalten wird, einem Meisterwerk der Goldschmiedekunst. Er sagt: «Hellas ist schön, doch mein olympisches Vaterland hat nicht dieses Blau und diese Blumen. Daher wundert es mich nicht, daß die Göttinnen meine Heimat verlassen haben und hierher gekommen sind. Überschütten wir die Göttinnen, nicht mehr die griechischen, sondern die jüdischen, mit Blumen, Rosen und Huldigungen...» und er streut über die Frauen seines Bootes herrliche Rosenblätter und wirft auch in die anderen Boote solche. Ein Römer bemerkt: «Streue nur, streue nur, Grieche! Doch Venus ist bei mir. Ich entblättere nicht: ich pflücke mir die Rosen von diesem schönen Munde. Das ist süßer!» und er neigt sich nieder, um Maria von Magdala auf den zum Lachen geöffneten Mund zu küssen. Sie liegt auf den Polstern und hat ihr blondes Haupt in den Schoß eines Römers gelegt.

Nun sind die Boote nahe beieinander, und, ob aus Unachtsamkeit der Schiffer oder wegen des Spiels des Windes, es erfolgt beinahe ein Zusammenstoß... «Paßt auf, wenn euch das Leben lieb ist!» schreit Petrus wütend, während er abdreht und mit einer Stange abwehrt, um den Zusammenstoß zu vermeiden. Schimpfwörter der Männer und Schreckensrufe der Frauen fliegen von Boot zu Boot. Die Römer beleidigen die Galiläer. «Paßt doch auf, ihr hebräischen Hunde!» Petrus und die anderen Galiläer lassen sich die Beleidigungen nicht gefallen, und besonders Petrus, rot wie ein Hahnenkamm, steht aufgerichtet am Rand des Bootes, das stark ins Schwanken gerät, und antwortet, die Hände in die Hüften gestemmt, Schlag auf Schlag, ohne Römer, Griechen, Hebräer oder Hebräerinnen zu schonen. Er widmet ihnen eine ganze Reihe wenig ehrenvoller Bezeichnungen, die ich lieber nicht niederschreibe. Dieses Hin- und Hergeschimpfe dauert solange, bis die Ruder und Stangen sich entwirrt haben, und jede Barke auf ihrem Weg weiterziehen kann.

Jesus hat seine Stellung nicht gewechselt. Er ist ruhig liegengeblieben, ohne auf die Worte, die Schiffe oder deren Insassen zu achten. Auf einen Ellbogen gestützt, hat er ohne Unterbrechung auf den weiten Wasserspiegel geschaut, als ob um ihn herum nichts geschehe. Es wird ihm eine Blume zugeworfen. Ich weiß nicht, von wem... bestimmt von einer Frau, denn ich höre ein weibliches Lachen diesen Wurf begleiten. Doch er rührt sich nicht. Die Blume trifft ihn beinahe ins Gesicht, fällt auf die Bretter und beendet ihre Reise zu Füßen des wütenden Petrus.

Als die Boote sich entfernen, sehe ich, daß Magdalena aufsteht und mit ihrem Blick dem weisenden Finger eines Gefährten des Lasters folgt, bis

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ihre herrlichen Augen am abgeklärten Gesicht des fernen Jesus haften bleiben. Wie weit entfernt von der Welt ist dieses Antlitz! ...

«Sag, Simon», fragt Iskariot, «du, der du Judäer bist wie ich, antworte mir: ist diese wunderschöne Blonde auf der Brust des Römers, die sich erhoben hat, nicht die Schwester des Lazarus von Bethanien?»

«Keine Ahnung», entgegnet Simon der Zelote trocken. «Ich bin erst vor kurzem unter die Lebenden zurückgekehrt, und diese Frau ist jung...»

«Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß du Lazarus von Bethanien nicht kennst! Ich weiß genau, daß ihr befreundet seid und daß du mit dem Meister dort gewesen bist.»

«Und wenn auch?»

«Und weil es so ist, sage ich, mußt du auch die Sünderin kennen, die Schwester des Lazarus. Alle kennen sie. Schon seit zehn Jahren macht sie von sich reden. Sie hat schon, kaum reif geworden, ein leichtes Leben begonnen. Doch nun seit vier Jahren! Der Skandal kann dir nicht unbekannt sein, auch wenn du im Tal des Todes gewesen bist. Ganz Jerusalem sprach davon. Und Lazarus hat sich damals nach Bethanien zurückgezogen... Er hat übrigens gut daran getan. Niemand hätte mehr einen Fuß in den herrlichen Palast auf Zion gesetzt, wo sie ein- und ausging. Ich meine damit: niemand, der heilig ist. Auf dem Lande... weiß man... Und übrigens ist sie nun überall, nur nicht in ihrem Hause... Jetzt wird sie wohl in Magdala sein; mit einem neuen Liebhaber. Du antwortest nicht? Willst du mich Lügen strafen?»

«Ich leugne nicht, ich schweige.»

«Dann ist sie es also doch! Auch du hast sie erkannt.»

«Ich sah sie, als sie noch ein reines Mädchen war. Ich sehe sie nun wieder. Und ich erkenne sie wieder; obwohl sie schamlos geworden ist, sieht sie ihrer Mutter ähnlich, die eine Heilige war.»

«Und warum hast du dann beinahe geleugnet, daß sie die Schwester deines Freundes ist?»

«Unsere Wunden und die Wunden jener, die wir lieben, suchen wir zu verdecken. Besonders, wenn wir ehrbar sind.»

Judas lacht wütend.

«Du sagst es gut, Simon. Und du bist ehrbar», bemerkt Petrus.

«Und auch du hast sie wiedererkannt? Bestimmt gehst auch du nach Magdala, um dort deine Fische zu verkaufen, und wer weiß, wie oft du sie gesehen hast!»

«Bursche, merke dir eines: wenn die Nieren todmüde von einer ehrlichen Arbeit sind, dann sind die Frauen Nebensache. Man liebt nur das ehrsame Bett der eigenen Ehefrau.»

«Bah, schöne Dinge gefallen allen. Wenigstens betrachtet man sie.»

«Warum denn? Um dann zu sagen: "Das ist keine Nahrung für deinen Tisch?" Nein, weißt du ... der See und das Handwerk haben mich

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manches gelehrt, und eines davon ist dieses: der Süßwasserfisch kann im Salzwasser und den Wirbeln der Oberfläche nicht leben.»

«Was willst du damit sagen?»

«Ich will damit sagen, daß jeder an seinem Platze bleiben muß, um nicht auf böse Weise umzukommen.»

«Wollte denn Magdalena dich umbringen?»

«Nein. Ich habe ein dickes Fell. Aber sag mir: fühlst du dich vielleicht nicht wohl?»

«Oh, ich habe sie nicht einmal angesehen.»

«Lügner! Ich wette, daß es dich gewurmt hat, nicht auf dem ersten Boot und so ihr näher zu sein... Du hättest sogar mich ertragen, um ihr nahe zu sein. Die Wahrheit meiner Worte wird dadurch bestätigt, daß du ihretwegen mir die Ehre gibst, nach vielen Tagen wieder mit mir zu sprechen.»

«Ich? Wenn du nicht da gewesen wärest, hätte niemand sie gesehen! Sie hat fortwährend den Meister angeblickt.»

«Ha, ha, ha... und dann sagst du, daß du nicht nach ihr geschaut hast! Wie könntest du bemerken, wohin sie schaut, wenn du deine Augen nicht auf sie gerichtet hieltest?»

Alle lachen bei dieser Bemerkung des Petrus, außer Judas, Jesus und dem Zeloten.

Jesus setzt der Diskussion, der er, wie es schien, nicht zugehört hatte, ein Ende; er fragt Petrus: «Ist dies hier Tiberias ?»

«Ja, Meister, ich werde nun anlegen.»

«Warte! Kannst du das Boot in die ruhige Bucht dort steuern? Ich möchte nur mit euch reden.»

«Ich werde den Grund prüfen und kann es dir dann sagen.» Petrus nimmt eine lange Stange und fährt langsam zum Ufer. «Es ist möglich, Meister. Soll ich noch näher zum Ufer hin?»

«Soweit als möglich. Da ist Schatten und Einsamkeit. Das gefällt mir.»

Petrus nähert sich bis auf etwa fünfzehn Meter dem Ufer. «Bald würde ich den Grund berühren.»

«Dann halte an! Ihr anderen kommt so nahe als möglich zu uns und hört mir zu!»

Jesus verläßt seinen Platz und setzt sich in die Mitte des Bootes auf eine Bank, die von einem Bootsrand zum anderen reicht. Vor ihm ist das andere Boot, und um ihn herum die Insassen seines Bootes.

«Hört! Ihr denkt wohl, ich schließe mich zeitweilig von euren Gesprächen aus und bin ein fauler Lehrer, der nicht auf seine Schüler achtet. Ihr müßt wissen, daß meine Seele euch keinen Augenblick allein läßt. Habt ihr noch nie einen Arzt gesehen, der einen Kranken beobachtet, dessen Krankheit noch keinen Namen hat, da die Symptome so gegensätzlich sind? Er behält ihn im Auge, nachdem er ihn untersucht hat, und beobachtet ihn,

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wenn er schläft und wenn er wach ist, morgens und abends, beim Schweigen und beim Reden; denn alles kann ein wertvolles Merkmal sein, um den verborgenen Krankheitserreger zu entdecken und die richtige Behandlung zu finden. Ich mache es mit euch ebenso. Ich halte euch an unsichtbaren, doch fühlbaren Fäden, die in mir befestigt sind und mir die leisesten Regungen eures Ichs übertragen. Ich lasse euch im Glauben, von mir unbeachtet und frei zu sein, damit ihr euch immer mehr als das, was ihr seid, offenbart; wie ein Schüler oder ein Irrer, die meinen, ohne Aufsicht zu sein. Ihr seid eine Gruppe von Personen, doch ihr bildet einen Kern, also eine einzige Sache. Daher seid ihr ein Ganzes, also eine Gemeinschaft, die in all ihren mehr oder weniger guten Merkmalen studiert werden muß, um geformt, verbunden, vereinheitlicht und abgerundet und so zu etwas Vollkommenem zu werden. Daher beobachte ich euch. Und ich beobachte euch auch, während ihr schlaft.

Was seid ihr? Was soll aus euch werden? Ihr seid das Salz der Erde. Ihr sollt zum Salz der Erde werden. Mit dem Salz wird das Fleisch, ebenso wie andere Erzeugnisse, vor dem Verderben bewahrt. Doch kann das Salz salzen, wenn es schal ist? Mit euch will ich die Welt salzen, um ihr himmlischen Geschmack zu verleihen. Doch wie könnt ihr salzen, wenn euer Salz seine Kraft verliert?

Was verursacht den Verlust des himmlischen Geschmackes? Das, was menschlich ist. Das Wasser des Meeres, des wahren Meeres, ist nicht gut zum Trinken, denn es ist zu salzig, nicht wahr? Wenn jedoch jemand eine Tasse Meerwasser nimmt und sie in ein Faß Trinkwasser schüttet, dann kann man es trinken, weil es nun so verdünnt ist, daß es seine Schärfe verloren hat. Die Menschheit ist wie Süßwasser, das sich mit eurem himmlischen Salz vermischen soll. Angenommen, daß ein Zufluß von Meerwasser in diesen See gelangt, wärt ihr dann in der Lage, dieses Salzwasser wieder von dem süßen zu trennen? Nein, denn es wäre im Süßwasser aufgelöst. So wird es mit euch sein, wenn ihr eure Mission eingießt. Ihr seid Menschen, ja, das weiß ich. Doch wer bin ich? Ich bin der, in dem alle Kraft ist. Und was tue ich? Ich teile euch diese Kraft mit, denn ich habe euch berufen. Doch was nützt es, wenn ich euch diese Kraft übertrage und ihr sie dann unter den Lawinen der Sinne und der menschlichen Gefühle begrabt?

Ihr seid, ihr müßt das Licht der Welt sein! Ich habe euch auserwählt, ich, das Licht Gottes unter den Menschen, um mein Werk der Erleuchtung der Welt fortzusetzen, wenn ich zum Vater zurückgekehrt bin. Aber könnt ihr Licht spenden, wenn ihr erloschene oder rauchende Laternen seid? Nein, im Gegenteil, mit eurem Rauch - der schleichende Rauch ist schlimmer als das völlige Erlöschen des Dochtes - würdet ihr den schwachen Lichtschein eines Herzens verdunkeln. Oh, Arme sind es, die sich auf der Suche nach Gott an Apostel wenden und anstelle des Lichtes

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Rauch finden. Ärgernis und Tod ist für sie die Folge. Die unwürdigen Apostel werden Unsegen und Bestrafung verdienen. Eine großartige Bestimmung ist euch beschieden. Aber damit auch eine große, furchtbare Verantwortung! Denkt daran, daß von dem, dem viel gegeben worden ist, auch viel verlangt wird. Und euch ist das Höchstmaß an Belehrung und an Gnade gegeben worden. Ihr werdet von mir, dem Wort Gottes, unterrichtet und erhaltet von Gott die Gabe, die "Jünger" zu sein; die also, welche das Werk des Sohnes Gottes fortsetzen müssen.

Ich möchte, daß ihr immer über diese eure Erwählung nachdenkt, daß ihr euch überprüft... und wenn einer sich fähig glaubt, treu zu sein - ich will nicht einmal sagen, wenn einer sich nur als Sünder und Unbußfertiger fühlt, ich sage nur, wenn einer glaubt, mir treu sein zu können - doch in sich nicht den Antrieb spürt, Apostel zu sein, dann soll er sich zurückziehen. Die Welt ist für ihre Liebhaber groß, schön, vielfältig und abwechslungsreich. Sie bietet alle Blumen und alle Früchte für Leib und Sinne. Ich biete nur das Eine: die Heiligkeit. Sie ist auf der Erde die armseligste, dornenreichste, die heftigst verfolgte Angelegenheit. Im Himmel wandelt sich jedoch ihre Armseligkeit in Herrlichkeit, ihre Armut in Reichtum, ihre Dornen in einen blumigen Teppich, ihre Schwierigkeiten in einen ebenen, angenehmen Pfad und ihr Verfolgtsein in Friede und Glückseligkeit. Doch auf Erden braucht es Heldenmut, um heilig zu sein. Ich kann euch nur dies anbieten.

Wollt ihr also bei mir bleiben, oder denkt ihr, nicht fähig dazu zu sein? Oh, schaut euch nicht verwundert und leidvoll an! Ihr werdet mich noch öfters diese Frage an euch richten hören. Und wenn ihr sie hört, dann denkt daran, daß mein Herz dabei weint; denn es ist verwundet von eurer Schwerhörigkeit der Berufung gegenüber. Prüft euch also und urteilt dann ehrlich und aufrichtig und entschließt euch! Um nicht verstoßen zu werden, entschließt euch! Sagt: "Meister, Freunde, ich erkenne, daß ich für diese Aufgabe nicht geeignet bin. Ich gebe euch den Abschiedskuß und sage euch: Betet für mich!" Das ist besser, als Verrat zu üben. Besser ist es so...

Was sagt ihr? Wen verraten? Wen? Mich! Meine Aufgabe, also die Sache Gottes; denn ich bin eins mit dem Vater und mit euch. Ja, ihr würdet verraten. Die Seele würdet ihr verraten und sie Satan überlassen. Wollt ihr Hebräer bleiben? Ich zwinge euch nicht zu wechseln. Aber seid keine Verräter! Verratet nicht eure Seele, Christus und Gott! Ich schwöre euch, daß weder ich noch die an mich Glaubenden euch kritisieren noch der Verachtung der Glaubenden preisgeben werden. Vor kurzem hat einer von euch Brüdern ein großes Wort gesprochen: "Unsere Wunden und die Wunden derjenigen, die wir lieben, müssen wir zu verbergen suchen." Und wer sich trennen würde, wäre eine Wunde, ein Geschwür, das sich in unserem apostolischen Organismus bilden, sich öffnen und eine schmerzende Narbe hinterlassen würde, die wir unter allen Umständen verbergen müßten.

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Nein, weint nicht, ihr Besten! Weint nicht! Ich trage euch nichts nach und bin auch nicht unduldsam, wenn ich euch so schwerfällig finde. Ihr seid erst vor kurzem angenommen worden, und ich kann nicht verlangen, daß ihr schon vollkommen seid. Ich verlange dies nicht einmal nach Jahren von euch, nachdem ich Hunderte von Malen vergeblich dasselbe gesagt haben werde. Im Gegenteil, hört: nach einigen Jahren werdet ihr weniger eifrig sein als jetzt, da ihr noch Neubekehrte seid. Das Leben ist so; die Menschheit ist so. Sie verliert nach dem ersten Anlauf den Schwung. Aber (Jesus steht plötzlich auf) ich schwöre euch, daß ich siegen werde. Gereinigt durch natürliche Auslese, gestärkt durch übernatürliche Arznei, werdet ihr Besten meine Helden, die Helden Christi, die Helden des Himmels. Die Macht der Caesaren wird Staub im Vergleich zum Königtum eures Priestertums sein. Ihr, arme Fischer von Galiläa, ihr unwissenden Juden, Unbekannte in der gegenwärtigen Menschenmenge, ihr werdet bekannter, mehr bewundert und geehrt werden als Caesar; ja als alle Herrscher, die die Erde hatte und haben wird. Ihr werdet in einer nahen Zukunft und in den entferntesten Jahrhunderten bis an das Ende der Welt bekannt und gesegnet sein.

Zu dieser hohen Bestimmung erwähle ich euch. Ihr seid ehrlich im Willen. Und daher seid ihr auch befähigt. Ich gebe euch also die wesentlichen Richtlinien für euer Aposteldasein.

Seid immer wachsam und bereit. Eure Hüften sollen immer gegürtet und eure Lampen angezündet sein, wie bei jenen, die von einem Augenblick zum anderen abreisen oder einem Ankommenden entgegeneilen müssen. Ihr werdet, bis der Tod euch daran hindert, die unermüdlichen Pilger auf der Suche nach Irrenden sein, und bis der Tod sie auslöscht, müßt ihr eure Lampe hochhalten, und sie muß brennen, um denen den Weg zu weisen, die zum Schafstalle Christi kommen.

Ihr müßt dem Herrn treu bleiben, der euch zu diesem Dienst berufen hat. Der Diener, den der Herr immer bereit findet und den der Tod im Stand der Gnade überrascht, wird reich belohnt werden. Ihr könnt und ihr dürft nicht sagen: "Ich bin jung. Ich habe Zeit, dies oder jenes zu tun, und dann werde ich an den Herrn, an den Tod und an meine Seele denken." Es sterben die Jungen wie die Alten, die Starken wie die Schwachen. Und dem Angriff der Versuchung sind Alte und Junge, Starke und Schwache gleicherweise ausgesetzt. Bedenkt: die Seele kann vor dem Körper sterben, und ihr könnt, ohne es zu wissen, eine verwesende Seele in euch herumtragen. Das Sterben einer Seele ist so unauffällig! Wie der Tod einer Blume. Kein Aufschrei, kein Aufbäumen! Sie neigt nur ihre Flamme wie ein welker Blumenkelch und erlischt. Viel, viel später erst bemerkt der Körper, daß er einen verwurmten Kadaver mit sich herumschleppt, und wird wahnsinnig ob des Schreckens und tötet sich selbst, um dieser Gemeinschaft zu entfliehen. Aber er kann ihr nicht

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entfliehen; er fällt mit seiner Seele voller Würmer auf ein Schlangennest in der Hölle!

Seid nicht unehrlich wie Makler oder Anwälte, die für zwei klagende Klienten Partei ergreifen! Seid nicht falsch wie die Politiker, die "Freund" zu diesem und zu jenem sagen und dabei erbitterte Feinde der beiden sind. Versucht nicht, auf zweierlei Art zu handeln! Man spottet nicht über Gott und täuscht ihn nicht! Geht um mit den Menschen wie ihr mit Gott umgeht; denn eine Menschen zugefügte Beleidigung ist eine Gott zugefügte Beleidigung. Macht, daß Gott euch so sieht, wie ihr von den Menschen gesehen werden wollt.

Seid demütig! Ihr könnt eurem Meister nicht vorwerfen, daß er nicht demütig sei. Ich gebe euch ein Beispiel. Handelt so wie ich! Seid demütig, sanft und geduldig! Nur damit gewinnt man die Welt für sich. Nicht mit Gewalt und Kraft. Seid hart und unerbitterlich mit euren Fehlern! Reißt sie aus, auch auf Kosten herzzerreißender Leiden. Vor einigen Tagen sagte ich zu euch, ihr sollt auch über eure Blicke wachen. Doch ihr wißt nicht, wie man das tut. Ich sage euch: es wäre besser, blind zu werden und sich die begierigen Augen auszureißen als unkeusch zu werden.

Seid aufrichtig! Ich bin die Wahrheit. In den himmlischen wie auch in den menschlichen Dingen. Ich will, daß auch ihr ehrlich seid. Warum mich oder die Freunde oder den Nächsten täuschen? Warum betrügerisch spielen? Warum? Stolz wie ihr seid, habt ihr doch nicht genug Stolz, um zu sagen: "Ich will nicht als Lügner ertappt werden."

Seid auch Gott gegenüber ehrlich! Glaubt ihr, daß ihr ihn hintergehen könnt mit langen, wohlklingenden Gebeten? Oh, ihr armen Kinder! Gott sieht in das Herz!

Seid zurückhaltend, wenn ihr Gutes tut! Auch beim Almosengeben kann man schamhaft sein. Ein Zöllner hat es verstanden, schon vor seiner Bekehrung. Und ihr sollt nicht fähig dazu sein? Ja, ich lobe dich, Matthäus, für deine wöchentliche verborgene Opfergabe, deren Herkunft nur ich und der Vater gekannt haben, und ich nenne dich als Beispiel. Auch dies ist eine Art Schamhaftigkeit, Freunde! Entblößt eure Güte nicht, wie ihr auch eine jugendliche Tochter vor einer Menschenmenge nicht entblößen würdet. Seid jungfräulich, wenn ihr Gutes tut. Eine gute Tat ist jungfräulich, wenn sie frei ist vom Verlangen nach Lob und Achtung und nicht zum Hochmut führt.

Seid treue Verlobte eurer Berufung zu Gott! Ihr könnt nicht zwei Herren dienen. Das Brautbett kann nicht zwei Bräute gleichzeitig aufnehmen. Gott und Satan können sich nicht in eure Umarmung teilen. Der Mensch kann es nicht, und weder Gott noch Satan können eine dreifache Umarmung unter drei Wesen aufteilen, die in Gegensatz zu einander stehen. Seid frei von der Gier nach Gold wie von der Gier des Fleisches und der Gier nach Macht! Satan bietet euch dies an. Oh, seine lügnerischen Reichtümer!

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Ehren, Erfolg, Macht, Überfluß: trügerischer Handel, dessen Geld eure Seele ist. Begnügt euch mit wenig. Gott gibt euch das Nötige. Das genügt. Das sichert er euch zu, wie er es dem Vogel in der Luft zusichert, und ihr seid doch viel, viel mehr als ein Vogel. Doch er verlangt von euch Vertrauen und Genügsamkeit. Wenn ihr Vertrauen habt, dann wird er euch nicht enttäuschen. Wenn ihr mäßig seid, wird seine tägliche Zuwendung euch genügen.

Seid keine Heiden, die nur dem Namen nach Gott gehören! Heiden lieben das Geld und die Macht mehr als Gott, um als Halbgötter erscheinen zu können. Seid Heilige, und ihr werdet in Ewigkeit Gott ähnlich sein.

Seid nicht unduldsam! Alle seid ihr Sünder; seid daher zu den anderen so, wie ihr wünscht, daß sie zu euch seien: also, voll Mitleid und Vergebung.

Richtet nicht! Oh, richtet nicht! Seit kurzem erst seid ihr mit mir zusammen, und doch seht ihr, wie oft ich schon, obgleich unschuldig, falsch beurteilt, wegen nicht begangener Sünden angeklagt worden bin. Falsches Urteil ist Beleidigung. Nur wer wahrhaft heilig ist, vergilt nicht Beleidigung mit Beleidigung. Darum vermeidet die Beleidigung, um nicht beleidigt zu werden. Ihr werdet so weder gegen die Nächstenliebe noch gegen die heilige, liebe, sanfte Demut fehlen, die zusammen mit der Keuschheit die Feindin Satans ist. Verzeiht, verzeiht immer! Sagt: "Ich verzeihe, Vater, damit mir von dir meine zahllosen Sünden vergeben werden."

Bessert euch von Stunde zu Stunde, mit Geduld, Ausdauer und Heldentum. Wer sagt euch, daß das Gutwerden nicht mühevoll sei? Ich sage euch: es ist die größte aller Mühen. Doch der Lohn ist der Himmel, und er ist dieser Mühe wert.

Und liebt! Oh, welche Worte soll ich gebrauchen, um euch von der Notwendigkeit der Liebe zu überzeugen? Kein Wort ist gut genug, euch zu ihr zu bekehren, arme Menschen, die Satan aufhetzt. Und daher sage ich: "Vater, beschleunige die Stunde der Reinigung! Diese Erde und diese deine Herde sind ausgetrocknet und krank. Doch es gibt einen Tau, der sie lockern und heilen kann. Öffne, öffne die Quelle! Öffne mich, mich! Hier bin ich, Vater. Ich brenne darauf, deinen Wunsch, der meiner und der Wunsch der Ewigen Liebe ist, zu erfüllen. Vater, Vater, Vater! Sieh dein Lamm, und sei du sein Opferpriester!"»

Jesus ist wirklich vom Geiste erfüllt. Aufrecht stehend, mit in Kreuzesform ausgebreiteten Armen, das Gesicht zum Himmel erhoben, im Hintergrund das Blau des Sees... so gleicht er in seinem hellen Leinenkleid einem betenden Erzengel.

Damit endet meine Schau.

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136. JESUS SUCHT JONATHAN IM HAUSE CHUZAS, IN TIBERIAS

Ich sehe die schöne, neue Stadt Tiberias. Alles gibt mir zu erkennen, daß sie neu und reich ist: der regelmäßige Aufbau, ordentlicher als bei anderen palästinensischen Städten, und die harmonische und planmäßige Aufmachung, wie sie selbst Jerusalem nicht hat. Schöne, gerade Straßen, schon mit Ablaufgräben versehen, damit sich das Wasser und der Schmutz nicht auf der Straße staue; weite Plätze mit Brunnen, die schönsten mit breiten Marmorbecken; die Paläste schon in römischem Stil, mit luftigen Säulengängen. Durch einige in dieser Morgenstunde schon geöffnete Portale sieht das Auge weite Lauben und marmorne Säulenhöfe, mit wertvollen Teppichen dekoriert und mit Sesseln und Tischen ausgestattet. Fast alle Lauben haben einen Marmorboden und einen Springbrunnen in der Mitte und Marmorvasen mit herrlich blühenden Blumen.

Alles in allem, eine Nachahmung römischer Architektur, die im großen und ganzen recht gut gelungen ist. Die schönsten Häuser sind in den Straßen, die dem See am nächsten sind. Die ersten drei Straßen, die parallel zum See verlaufen, sind wirklich herrschaftlich. Die erste, die längs der sanften Bucht des Sees verläuft, ist sogar prunkvoll. Ihr letzter Teil ist eine Folge von Villen, deren Haupteingang sich in der Parallelstraße befindet und die zum Wasser hin große Gärten haben, die bis ans Ufer reichen. Fast alle haben einen kleinen Anlegesteg, an dem Vergnügungsboote mit kostbaren Baldachinen und purpurnen Sitzplätzen befestigt sind.

Es scheint, daß Jesus das Boot des Petrus nicht im Hafen von Tiberias, sondern an einem anderen Ort, vielleicht einem Vorort, verlassen hat, denn er kommt auf der Uferstraße daher.

«Bist du noch nie in Tiberias gewesen, Meister?» fragt Petrus.

«Nie.»

«Nun, Antipas hat seine Sache gut gemacht, und im großen Stil, um Tiberius zu schmeicheln. Für Geld macht er, was man verlangt ...»

«Es scheint mehr eine Stadt der Ruhe und des Vergnügens als eine Handelsstadt zu sein.»

«Der Handel befindet sich auf der anderen Seite. Es wird hier viel Handel getrieben. Eine reiche Stadt!»

«Und diese Häuser? Wohnen hier Palästinenser?»

«Ja und nein. Viele gehören Römern, doch viele, ja leider, auch wenn sie mit Statuetten und anderen Verrücktheiten angefüllt sind, gehören Hebräern.» Petrus seufzt und murrt: «Wenn sie uns wenigstens mit der Unabhängigkeit nicht auch den Glauben genommen hätten! ... Wir sind dabei, zu größeren Heiden zu werden, als sie selbst es sind...»

«Nicht durch ihre Schuld, Petrus. Sie haben ihre Gebräuche, und sie

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zwingen uns nicht, sie zu den unseren zu machen. Wir sind es, die sich selbst verderben wollen. Aus Eigennutz, aus Mode, aus Dienerei...»

«Du sagst es gut. Doch der erste ist der Tetrarch...»

«Meister, wir sind angekommen», sagt der Hirte Joseph. «Hier ist das Haus des Intendanten des Herodes.»

Sie halten am Ende einer Straße an, wo sich diese teilt und eine neue Straße bildet, während die Villen zwischen ersterer und dem See liegen. Das bezeichnete Haus ist das erste, schönste, ganz in einen blühenden Garten gebettet. Die Düfte und die Sträucher von Jasmin und Rosen reichen bis zum See hinunter.

«Und hier wohnt Jonathan?»

«So hat man mir gesagt. Er ist der Verwalter des Verwalters. Er hat es gut getroffen. Chuza ist nicht böse, und er anerkennt die Verdienste seines Verwalters. Er ist einer der wenigen am Hofe, die ehrlich sind. Soll ich ihn rufen?»

«Geh!»

Joseph geht zum hohen Portal und klopft an.

Der Pförtner kommt herbei. Sie unterhalten sich. Ich sehe, daß Joseph eine ablehnende Haltung einnimmt, und daß der Pförtner seinen grauen Kopf herausstreckt, Jesus betrachtet und dann Joseph eine Frage stellt, worauf dieser nickt. Sie sprechen noch eine Weile miteinander.

Dann nähert sich Joseph Jesus, der geduldig im Schatten eines Baumes gewartet hat. «Jonathan ist nicht da. Er ist im hohen Libanon. Er hat Johanna des Chuza dorthin gebracht, die sehr krank ist und sich in der frischen Höhenluft erholen soll. Der Diener sagt, Jonathan hätte die Frau deshalb selbst begleitet, weil Chuza am Hofe Dienst hat und nicht abkommen kann, jetzt nach dem Skandal der Flucht des Johannes des Täufers. Die Kranke wurde immer kränker, und der Arzt hat erklärt, daß sie hier gestorben wäre. Der Pförtner hat noch gesagt, du sollst kommen und dich ausruhen. Jonathan hat vom Messias-Kinde gesprochen, und auch hier bist du mit Namen bekannt und wirst erwartet.»

«Laßt uns gehen!»

Die Gruppe setzt sich in Bewegung. Der Pförtner hat aufgepaßt und ruft nun andere Diener herbei, die das bis dahin verschlossene Tor weit öffnen; er nähert sich Jesus mit großer Achtung und sagt: «Gieße, o Herr, deinen Segen über uns und dieses traurige Haus. Tritt ein! Oh, wie wird es Jonathan leid tun, nicht hier gewesen zu sein. Seine große Hoffnung war: dich sehen zu dürfen. Komm herein, komm herein, und mit dir deine Freunde.»

In der Vorhalle stehen Diener und Dienerinnen jeglichen Alters. Alle grüßen sehr respektvoll, sind aber auch sichtlich neugierig. Eine Greisin sitzt weinend in einer Ecke. Jesus tritt ein und segnet mit seiner Geste und seinem Friedensgruß. Es werden Erfrischungen angeboten. Jesus setzt

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sich auf einen Stuhl, die anderen um ihn herum. «Ich sehe, daß ich hier nicht unbekannt bin», bemerkt Jesus.

«Oh, Jonathan hat uns im Andenken deiner Geschichte erzogen. Jonathan ist sehr gut. Er sagt, er sei nur so, weil der Kuß, den er dir gegeben hat, ihn so gemacht hat. Doch er ist auch von Natur aus gut.»

«Ich habe Küsse gegeben und empfangen... doch, wie du sagst, nur in den Guten vermehren sie die Güte. Nun ist er abwesend? Ich bin seinetwegen gekommen.»

«Ich habe es gesagt: er ist im Libanon. Er hat dort Freunde... Es ist die letzte Hoffnung für die junge Herrin, und wenn es nichts nützt...»

Die Greisin in der Ecke weint stärker. Jesus sieht fragend nach ihr.

«Es ist Esther, die Amme der Herrin. Sie weint, weil sie sich nicht damit abfinden kann, sie zu verlieren.»

«Komm, Mutter, weine nicht mehr!» lädt Jesus sie ein. «Komm hierher zu mir. Es ist nicht gesagt, daß Krankheit gleich Tod bedeutet.»

«Oh, es ist der Tod, der Tod! Seit sie diese Fehlgeburt hatte, stirbt sie langsam dahin. Die Ehebrecherinnen haben geheime Geburten und leben, und sie, die so gut, ehrbar und lieb, so lieb ist, muß sterben.»

«Woran leidet sie eigentlich?»

«An Fieber, das sie verzehrt... Sie ist wie eine Lampe, die bei starkem Wind, der jeden Tag stärker wird, brennt, während sie immer schwächer wird. Oh, ich wollte mit ihr gehen. Doch Jonathan mußte jüngere Diener haben; denn sie ist kraftlos und muß getragen werden, und ich bin selbst nichts mehr wert, nicht mehr fähig, das zu tun, nein; doch fähig, sie zu lieben... Ich habe sie von der Mutterbrust an die meine genommen; ich war selbst eine junge verheiratete Dienerin und hatte einen Sohn, gerade einen Monat alt... und ich habe beiden Milch gegeben, denn die Mutter war zu schwach. Ich vertrat die Mutter, als das Kind Waise wurde, da es kaum erst "Mama" sagen konnte. Ich wurde grau und runzelig, während ich über ihre Krankheiten wachte... Ich habe sie als Braut gekleidet und ihrer Mutterhoffnung zugelächelt. Ich habe über das totgeborene Kind geweint. All mein Lächeln und den Trost meiner Liebe habe ich ihr geschenkt, und nun stirbt sie, und ich bin fern...» Die Alte erweckt Mitleid.

Jesus streichelt sie, doch sie achtet nicht darauf. «Höre, Mutter! Kannst du glauben?»

«An dich? Ja!»

«An Gott, Frau. Kannst du glauben, daß Gott alles vermag?»

«Ich glaube, und ich glaube, daß du sein Messias, es kannst. Oh, man spricht schon in der Stadt von deiner Macht. Dieser Mann dort (sie weist auf Philippus) sprach vor einiger Zeit in der Synagoge von deinen Wundern. Und Jonathan fragte ihn: "Wo ist der Messias?", und er antwortete: "Ich weiß es nicht." Jonathan sagte mir dann: "Wenn er hier wäre, ich

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schwöre es dir, dann könnte sie geheilt werden." Doch du warst nicht hier; und nun ist er mit ihr fortgegangen... und sie wird sterben...»

«Nein, habe Glauben! Sag mir, was du in deinem Herzen hast: kannst du glauben, daß sie dank deines Glaubens nicht sterben wird?»

«Dank meines Glaubens? Oh, wenn du diesen willst, nimm ihn! Auch mein Leben kannst du haben, mein altes Leben... Laß mich sie nur geheilt sehen!»

«Ich bin das Leben, und ich gebe das Leben und nicht den Tod. Du hast ihr einst mit deiner Milch das Leben gerettet; es war nur ein armes Leben, das ein Ende hat. Nun gibst du ihr mit deinem Glauben ein ewiges Leben. Freue dich, Mutter!»

«Doch sie ist nicht hier!» In der Alten kämpfen Hoffnung und Angst. «Du bist nun hier, und sie ist nicht hier!»

«Hab Vertrauen! Höre: ich gehe nun für einige Tage nach Nazareth. Ich habe dort auch einige kranke Freunde... Darauf begebe ich mich in den Libanon. Wenn Jonathan innerhalb von sechs Tagen zurückkehrt, dann sende ihn nach Nazareth zu Jesus des Joseph. Wenn er nicht kommt, suche ich sie auf.»

«Wie wirst du ihn finden?»

«Der Erzengel des Tobias wird mich führen. Du stärke dich im Glauben! Ich verlange nur dies von dir. Weine nicht mehr, Mutter!»

Die Alte weint jedoch noch stärker. Sie ist zu Füßen Jesu, drückt ihren Kopf an die göttlichen Knie und küßt unter Tränen die gesegnete Hand. Mit der anderen Hand liebkost Jesus die Greisin, und da die anderen Diener die Alte sanft auffordern, mit dem Weinen aufzuhören, sagt er: «Laßt sie! Es ist ein erlösendes Weinen! Das tut gut. Wärt ihr alle glücklich darüber, wenn eure Herrin gesund würde?»

«Oh, sie ist so gut! Wenn jemand so ist, dann ist er nicht ein Gebieter, sondern ein Freund, den man liebt. Wir lieben sie. Glaube es uns!»

«Ich lese in euren Herzen. Werdet immer besser! Ich gehe, ich kann nicht hierbleiben. Das Boot ist da. Ich segne euch.»

«Komm wieder, Meister! Komm wieder!»

«Ich werde wiederkommen. Sehr oft! Lebt wohl! Der Friede sei mit diesem Haus und euch allen!»

Jesus geht mit den Seinen, während die Diener ihn lobpreisen. «Du bist hier besser bekannt als in Nazareth», bemerkt sein Vetter Jakobus etwas traurig.

«Dieses Haus ist von einem erbaut, der den wahren Glauben an den Messias hat. Für Nazareth bin ich der Schreiner... nichts weiter.»

«Und wir haben nicht die Kraft, über dich zu predigen und zu bekennen, wer du bist.»

«Ihr habt sie nicht?»

«Nein, Vetter. Wir sind nicht so heldenhaft wie deine Hirten.»

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«Glaubst du, Jakobus?» Jesus lächelt und betrachtet seinen Vetter, der so sehr seinem Nährvater Joseph gleicht mit dem Braun seiner Augen und der Haare und der bräunlichen Gesichtsfarbe, während Judas bleich aussieht im Rahmen seines schwarzen Bartes und der gewellten Haare und in seinen Augen ein Veilchenblau hat, das an die Augen Jesu erinnert. «Nun, ich sage dir, daß du dich nicht kennst. Du und Judas, ihr seid beide stark.»

Die Vettern schütteln das Haupt.

«Ihr werdet euch selbst davon überzeugen, daß ich nicht irre.»

«Gehen wir wirklich nach Nazareth?»

«Ja, ich möchte mit meiner Mutter sprechen... und auch noch etwas anderes tun. Wer mitkommen will, kann mitkommen.»

Alle wollen mitkommen. Die Glücklichsten sind die beiden Vettern: «Es ist wegen des Vaters und der Mutter, du verstehst uns schon.»

«Ich verstehe. Wir werden über Kana hingelangen.»

«Über Kana? Oh, dann gehen wir zu Susanna. Sie wird uns Eier und Obst für den Vater geben, Jakobus!»

«Und bestimmt auch etwas von ihrem guten Honig. Er liebt ihn sehr!»

«Er ist auch nahrhaft.»

«Armer Vater! Er leidet viel! Wie einer entwurzelten Pflanze schwindet sein Leben dahin... und er will nicht sterben!» Jakobus betrachtet Jesus mit schweigender Bitte. Doch Jesus scheint es nicht zu bemerken. «Auch Joseph ist an Schmerzen gestorben, nicht wahr?»

«Ja», antwortet Jesus, «doch er litt weniger, weil er ergeben war.»

«Und er hatte dich...»

«Auch Alphäus könnte mich haben...»

Die beiden Vettern seufzen betrübt, und alles ist zu Ende.

137. JESUS IM HAUSE DES ONKELS ALPHÄUS UND DANACH IN SEINEM EIGENEN HAUS

Jesus durchquert mit den Jüngern die schönen Hügel von Galiläa. Obwohl schon der Abend naht, steht die Sonne noch hoch, und so gehen sie im Schatten der Bäume, meist Olivenbäume.

«Hinter diesem Hügel liegt Nazareth», sagt Jesus. «Bald werden wir dort sein. Am Stadtrand wollen wir uns trennen. Judas und Jakobus gehen sofort zu ihrem Vater, wie es ihr Herz verlangt. Petrus und Johannes werden an die Armen, die wohl beim Brunnen versammelt sind, Almosen austeilen. Ich gehe mit den anderen nach Hause zum Nachtmahl, und dann müssen wir an die Ruhe denken.»

«Wir werden auch zum guten Alphäus gehen, wir haben es ihm das

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letztemal versprochen. Doch ich will ihn nur grüßen. Mein Bett überlasse ich Matthäus, der noch nicht an Unbequemlichkeiten gewöhnt ist», sagt Philippus.

«Nein, du nicht. Du bist schon alt. Das kann ich nicht erlauben. Bis jetzt hatte ich immer ein bequemes Lager, doch welch teuflische Träume hatte ich darauf! Glaub mir, nun bin ich so im Frieden, daß ich das Gefühl habe, auf Federn zu schlafen, auch wenn ich mich auf Steinen niederlasse. Oh, es ist das Gewissen, das schlafen oder nicht schlafen läßt!»antwortet Matthäus.

Ein Wettstreit der Liebe entzündet sich unter den Jüngern Thomas, Philippus, Bartholomäus und Matthäus, die das letzte Mal im Hause des Alphäus gewesen sind. (Es handelt sich nicht um den Vater des Jakobus, denn dieser sagt zu Andreas: «Ein Platz für dich wird immer da sein, wie das letzte Mal, auch wenn der Vater noch kränker geworden ist.») Thomas siegt: «Ich bin der Jüngste in der Gruppe. Auf das Bett verzichte ich. Laß mich nur machen, Matthäus. Du mußt dich langsam daran gewöhnen. Denkst du, mir mache es etwas aus? Nein! Ich bin wie ein Verliebter, der bei sich denkt: "Es ist zwar ein hartes Lager, aber ich bin in der Nähe meiner Geliebten."» Thomas, ungefähr achtunddreißig Jahre alt, lacht heiter, und Matthäus gibt nach.

Die ersten Häuser von Nazareth sind nur noch wenige Meter entfernt. «Jesus, wir gehen», sagt Judas des Alphäus.

«Geht, geht!»

Die beiden Brüder trennen sich von der Gruppe.

«Ach, der Vater ist der Vater», brummt Petrus. «Auch wenn er mit uns streitet, so hat er doch unser Blut, und Blut zieht mehr als Stricke. Und dann... deine Vettern gefallen mir. Sie sind sehr gütig.»

«Ja, sie sind sehr gut. Sie sind demütig, das ist keine Frage. Sie meinen immer, sie seien voller Fehler, weil ihr Geist in allem das Gute sieht, außer in ihnen selbst. Sie werden es weit bringen.»

Sie sind in Nazareth angelangt. Frauen erkennen Jesus und grüßen ihn; auch Männer und Kinder tun dasselbe. Doch hier ist nicht der Jubel, mit dem man den Messias an anderen Orten empfängt. Hier sind Freunde, welche den zurückgekehrten Freund mehr oder weniger herzlich begrüßen. In vielen Gesichtern lese ich auch eine ironische Neugier beim Anblick der ungleichartigen Gruppe um Jesus, die wahrhaftig weder aus königlichen Würdenträgern noch aus salbungsvollen Priestern besteht. Alle sind erhitzt und verstaubt; sie sind alle sehr einfach gekleidet außer Judas Iskariot, Matthäus, Simon und Bartholomäus; sie gleichen mehr einem Haufen Männer aus dem einfachen Volk auf der Reise zu irgendeinem Markt als dem Gefolge eines Königs, eines Königs, der nur eine stattliche Gestalt und vor allem ein majestätisches Aussehen hat.

Sie gehen noch einige Schritte, dann biegen Petrus und Johannes nach

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rechts ab, während Jesus und die anderen bis zu einem kleinen Platz weitergehen, der voller jubelnder Kinder ist, die um einen Brunnen tanzen, aus dem die Mütter schöpfen.

Ein Mann sieht Jesus und macht eine Geste erstaunter Freude. Er eilt auf ihn zu und begrüßt ihn: «Herzlich willkommen! Ich habe dich nicht so schnell erwartet. Nimm ihn: küsse meinen jüngsten Enkel! Es ist der kleine Joseph. Er ist während deiner Abwesenheit auf die Welt gekommen», und er übergibt Jesus bei diesen Worten das kleine Kind, das er in den Armen hält.

«Joseph hast du es genannt?»

«Ja, ich kann meinen beinahe Verwandten nicht vergessen, der mir mehr als ein Verwandter gewesen ist, mein bester Freund. Nun habe ich alle Namen, die mir am teuersten sind, den Enkeln gegeben: Anna, meine Freundin, als ich ganz klein war, und Joachim; dann Maria; oh, als sie geboren wurde, war ein großes Fest! Ich erinnere mich noch, als man sie mir zum Küssen reichte und sagte: "Siehst du, dieser schöne Regenbogen ist die Brücke, auf welcher sie vom Himmel gekommen ist. Die Engel benützen diesen Weg." Und sie glich wirklich einem Engelchen, so schön war sie. Hier ist nun Joseph. Wenn ich gewußt hätte, daß du so schnell zurückkommst, hätte ich mit der Beschneidung gewartet.

«Ich danke dir für deine Liebe zu den Großeltern, zu meinem Vater und zu meiner Mutter. Es ist ein schönes Kind. Es wird immer gerecht sein, wie der gerechte Joseph!» Jesus wiegt den Kleinen, der ihn kindlich, unbefangen anlächelt.

«Wenn du auf mich warten willst, komme ich mit dir. Warte, bis die Krüge gefüllt sind! Ich will nicht, daß meine Tochter Maria sich zu sehr plagt. Schau, ich werde es so machen. Ich gebe die Krüge den Deinen, wenn sie mir den Gefallen tun wollen, und kann dann etwas mit dir allein sprechen.»

«Sicher nehmen wir die Krüge! Wir sind keine assyrischen Könige», ruft Thomas aus und ergreift als erster einen Krug.

«Also hört... Maria des Joseph ist nicht zu Hause. Sie ist bei ihrem Schwager, weißt du? Doch der Schlüssel ist in meinem Hause. Laßt ihn euch geben, um ins Haus hineinzukommen... in die Werkstatt, will ich sagen.»

«Ja, ja, geht nur. Auch ins Haus. Ich werde dann nachkommen.»

Die Apostel machen sich auf den Weg, und Jesus bleibt bei Alphäus zurück.

«Ich wollte dir sagen: ich bin für dich ein wahrer Freund, und wenn einer ein wahrer Freund ist, älter und vom gleichen Orte ist, dann kann er reden. Ich glaube, es ist meine Pflicht zu reden. Ich... ich will dich nicht beraten, du weißt besser als ich, was zu tun ist. Ich will dich nur darauf aufmerksam machen; ... oh, nein, ich will nicht den Spion machen, noch

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will ich die Verwandten in ein schlechtes Licht setzen. Doch ich glaube an dich, Messias, und es schmerzt mich, wenn dir andere sagen, daß du der Messias nicht bist; daß du nur ein Kranker bist und die Familie und die Verwandtschaft ruinierst. Die Stadt... Weißt du, Alphäus wird sehr geschätzt und deshalb hört man auch auf ihn... Jetzt ist er krank und bemitleidenswert... auch der Schmerz führt manchmal zu Ungerechtigkeiten. Schau, ich war an dem Abend dabei, als Judas und Jakobus dich und ihre Freiheit, dir zu dienen, verteidigten... Oh, welch eine Szene! Ich weiß nicht, wie deine Mutter das aushält! Und die arme Maria des Alphäus? Die Frauen sind in gewissen Familiensituationen immer die Opfer.»

«Jetzt sind die Vettern bei ihrem Vater...»

«Beim Vater? Oh, sie tun mir leid. Der Alte ist ganz außer sich. Sicher sind auch das Alter und die Krankheit daran schuld, doch er benimmt sich wie ein Narr. Wenn er nicht von Sinnen wäre, täte er mir noch mehr leid, denn er würde seiner Seele schaden.»

«Glaubst du, daß er seine Söhne schlecht aufnehmen wird?»

«Dessen bin ich sicher. Es tut mir leid für sie und für die Frauen... Wohin gehst du?»

«Zum Haus des Alphäus.»

«Nein, Jesus! Er wird auch dir gegenüber respektlos sein!»

«Die Vettern lieben mich mehr als sich selbst, und es ist nur recht und billig, daß ich ihre Liebe vergelte. Dort leben auch zwei Frauen, die mir lieb sind... Ich gehe. Halte mich nicht zurück!»

Jesus eilt zum Haus des Alphäus, während der andere nachdenklich mitten auf der Straße verweilt.

Jesus geht rasch. Er ist schon am Rand des Gartens von Alphäus. Ein Frauenweinen und die Schimpfworte eines Mannes dringen an sein Ohr. Jesus legt die wenigen Meter, die ihn noch vom Hause trennen, mit noch rascheren Schritten durch den grünen Garten zurück. Er ist fast an der Schwelle des Hauses, als die Mutter an der Türe erscheint und ihren Sohn erblickt.

«Mama!»

«Jesus!»

Zwei Ausrufe voller Liebe.

Jesus schickt sich an einzutreten, doch Maria sagt: «Nein, Sohn!» Und sie stellt sich auf die Schwelle, breitet die Arme aus, drückt die Hände an den Türrahmen - eine lebende Barriere der Liebe - und wiederholt: «Nein, Sohn, tue es nicht!»

«Laß nur, Mama. Es wird nichts geschehen.» Jesus ist sehr ruhig, obwohl ihn die Blässe seiner erschreckten Mutter beunruhigt. Er nimmt sie sanft bei einem Handgelenk, löst ihre Hand vom Türrahmen und tritt in das Haus ein.

In der Küche sieht er am Boden ein Durcheinander von den aus Kana

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gebrachten Eiern, Weintrauben und Honig. Aus dem benachbarten Raum erklingt eine zänkische Greisenstimme, die schimpft, anklagt und jammert mit einem senilen Zorn, der so ungerecht, ohnmächtig, peinlich anzuhören und schmerzlich zu ertragen ist. «... und nun ist meine Familie zerstört und zum Gespött von ganz Nazareth geworden. Ich werde allein gelassen, hilflos und im Herzen getroffen. Was hast du davon, Alphäus, daß du immer als wahrer Gläubiger gelebt hast? Und warum? Warum? Wegen eines Verrückten! Eines Narren, der auch meine dummen Söhne verrückt hat werden lassen. Ach, ach, welch ein Schmerz!»

Die Stimme der Maria des Alphäus bittet weinend: «Sei gut, Alphäus! Sei gut! Siehst du nicht, daß du dir schadest? Komm, ich will dir helfen, dich niederzulegen... Du bist immer gut und gerecht gewesen... Warum bist du auf einmal anders gegen dich, gegen mich, gegen deine Söhne? ...»

«Nichts, nichts! Rühre mich nicht an! Ich will nichts! Die Söhne gut? O ja! Wirklich zwei Undankbare! Sie bringen mir Honig, nachdem sie mich mit Bitterkeit erfüllt haben. Sie bringen mir Eier und Obst, nachdem sie sich an meinem Herzen vergangen haben! Geh weg, sage ich dir! Ich will dich nicht! Ich will Maria. Sie kann es am besten. Wo ist sie jetzt, diese schwache Frau, die sich bei ihrem Sohne keinen Gehorsam verschaffen kann?»

Die hinausgejagte Maria des Alphäus betritt die Küche, als Jesus in den Raum des Alphäus eintreten will. Sie erblickt Jesus und fällt ihm verzweifelt weinend an den Hals, während Maria, die Jungfrau, demütig und geduldig zum zornigen Alten geht.

«Weine nicht, Tante. Ich gehe zu ihm.»

«Nein, laß dich nicht beschimpfen. Er scheint von Sinnen zu sein. Er hat einen Stock. Nein, Jesus, nein! Er hat sogar die Söhne geschlagen!»

«Er wird mir nichts antun», sagt Jesus, schiebt entschlossen, doch sanft die Tante zur Seite und geht zu Alphäus hinein.

«Der Friede sei mit dir, Alphäus!»

Der Alte, der sich gerade zu Bette begibt und Maria anklagt und tadelt, weil sie unfähig sei (kurz zuvor hatte er noch behauptet, nur sie könne es), dreht sich plötzlich um. «Was, du bist hier, um mich zu verspotten? Auch das noch?»

«Nein, um dir den Frieden zu bringen! Warum bist du so unruhig? Du wirst dadurch nur kränker. Mama, laß sein! Ich werde ihm helfen. Ich werde dir nicht weh tun, und es wird dich nicht anstrengen. Mama, hebe die Decken weg!» Und Jesus nimmt das armselige, schimpfende und jammernde Häuflein Mensch in die Arme und legt es sorgfältig wie ein Neugeborenes auf das Bett. «So ist es gut. So habe ich es auch bei meinem Vater gemacht. Dieses Kissen etwas höher, so liegst du besser und kannst besser atmen. Mama, lege das kleine Kissen hier unter die Nieren. Er wird

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dann weicher liegen. So, nun das Licht! Es soll die Augen nicht blenden, aber es soll auch etwas frische Luft eindringen. So! Ich habe einen Absud auf dem Feuer gesehen. Bring ihn, Mama, er ist süß. Du bist ganz in Schweiß und nun fröstelst du. Der Tee wird dir gut tun.»

Maria geht gehorsam hinaus.

«Aber ich... aber ich... Warum bist du so gut zu mir?»

«Weil ich dich gern habe, du weißt es.»

«Oh, ich mochte dich auch gut; aber jetzt ...»

«Jetzt liebst du mich nicht mehr, ich weiß. Doch ich mag dich gern, und das genügt. Du wirst mich auch noch lieben ...»

«Aber wenn... ach, welche Schmerzen! ... Aber wenn du mich gern hast, warum beleidigst du meine weißen Haare?»

«Ich beleidige dich nicht, Alphäus, auf keine Weise. Ich achte dich!»

«Du achtest mich? Ich bin das Gespött von Nazareth, sonst nichts!»

«Warum sprichst du so, Alphäus? Inwiefern mache ich dich zum Gespött von Nazareth?»

«Der Kinder wegen. Warum sind sie Rebellen? Deinetwegen! Warum werde ich verspottet? Deinetwegen!»

«Sag mir: wenn Nazareth dich loben würde wegen der Würde und Stellung deiner Söhne, würdest du dann auch leiden?»

«Nein, dann nicht! Doch Nazareth lobt mich nicht. Es würde mich loben, wenn du auf Eroberung ausgehen würdest. Aber so verlassen mich meine Söhne für einen, der seiner Sinne nicht mächtig, durch die Welt zieht und Haß und Spott auf sich zieht; ein Armer unter Armen! Wer sollte da nicht lachen? Mein armes Haus! Armes Geschlecht Davids, wie mußt du enden! Und ich mußte lange leben, um dieses Elend mitanzusehen. Um dich zu sehen, den letzten Sproß des herrlichen Geschlechtes, der sich selbst in zu großer Dienstbarkeit vernichtet. Ach, nur Unglück kam über uns seit dem Tage, da mein unvernünftiger Bruder sich mit der törichten und eigensinnigen Frau vermählen ließ, die dann eine solche Macht über ihn bekam. Ich habe damals gesagt: "Joseph ist für die Heirat nicht geeignet. Er wird unglücklich." Und er wurde es. Er wußte, wie sie war, und von einer Heirat hat er nie etwas wissen wollen. Verflucht sei das Gesetz der erbberechtigten Waisen! Verflucht sei das Schicksal! Verflucht seien solche Vermählungen!»

Die "Erbjungfrau" war mit dem Absud hereingekommen und hat die Jeremiade des Schwagers mitanhören müssen. Sie ist jetzt noch blasser. Doch ihre anmutige Geduld ist unerschütterlich. Sie geht zu Alphäus und hilft ihm mit einem sanften Lächeln beim Trinken.

«Du bist ungerecht, Alphäus. Doch du bist so krank, daß dir alles vergeben wird», sagt Jesus, der ihm das Haupt stützt.

«O ja, sehr krank! Du sagst, daß du der Messias bist. Du wirkst Wunder. So sagen sie. Als Ersatz für meine Söhne, die du mir genommen hast,

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könntest du mich wenigstens heilen. Mache mich gesund, und ich verzeihe dir alles!»

«Verzeihe du deinen Söhnen, suche ihre Seelen zu verstehen, und ich werde dir Erleichterung verschaffen. Wenn du rachsüchtig bist, kann ich dir nicht helfen.»

«Verzeihen?» Der Alte macht eine ruckartige Bewegung, die natürlich alle seine Schmerzen aufs neue verstärkt und ihn wiederum zornig werden läßt. «Verzeihen? Niemals! Geh fort! Weg mit dir, wenn du mir nur das zu sagen hast. Geh! Ich will sterben, ohne noch mehr gequält zu werden.»

Jesus macht eine resignierte Geste. «Leb wohl, Alphäus! Ich werde gehen. Soll ich wirklich gehen? Onkel, muß ich wirklich gehen?»

«Wenn du mich nicht zufriedenstellen willst, dann gehe! Sage den beiden Schlangensöhnen, daß der alte Vater im Zorn über sie stirbt.»

«Nein, das auf keinen Fall! Du darfst deine Seele nicht verlieren. Du brauchst mich nicht zu lieben, wenn du nicht willst. Du brauchst nicht zu glauben, daß ich der Messias bin. Doch du darfst nicht hassen! Nicht hassen, Alphäus! Verspotte mich ruhig. Nenne mich einen Narren, aber hasse nicht!»

«Warum liebst du mich denn, wenn ich dich so sehr beleidige?»

«Weil ich der bin, den du nicht anerkennen willst. Ich bin die Liebe! Mutter, ich gehe nun nach Hause.»

«Ja, mein Sohn. Ich werde bald nachkommen.»

«Ich lasse dir meinen Frieden, Alphäus! Wenn du mich brauchst, laß mich jederzeit rufen, und ich werde kommen.»

Jesus verläßt das Zimmer so ruhig, als wäre nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Er ist nur bleicher geworden.

«O Jesus, Jesus, verzeihe ihm», jammert Maria des Alphäus.

«Aber ja, Maria. Es ist nicht einmal notwendig, es zu tun. Jemandem, der so leidet, muß man alles verzeihen. Er ist nun schon ruhiger geworden. Die Gnade arbeitet auch, ohne daß das Herz etwas davon weiß. Und da sind noch deine Tränen, der Schmerz von Judas und Jakobus und ihre Treue zu ihrer Berufung. Der Friede kehre ein in dein verwundetes Herz, Tante!» Er küßt sie und geht durch den Garten nach Hause.

Als er den Fuß auf den Weg setzt, kommen ihm Petrus und Johannes entgegen.

Beide keuchen, wie wenn sie gerannt wären. «Oh, Meister! Was hat es gegeben? Jakobus hat mir gesagt: "Lauf schnell zu meinem Haus! Wer weiß, wie Jesus behandelt wird." Aber nein, ich irre. Alphäus, der vom Brunnen, hat zu Judas gesagt: "Jesus ist in deinem Hause", und darauf hat Jakobus so zu uns gesprochen... Beide Vettern sind sehr niedergeschlagen. Ich verstehe nichts mehr. Doch nun sehe ich dich... und bin beruhigt.»

«Keine Sorge, Petrus. Ein armer Kranker, den die Schmerzen unduldsam machen... Nun ist alles zu Ende.»

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«Oh, das freut mich. Was tust du hier?» fragt Petrus Iskariot, der nun ebenfalls erscheint. Der Ton seiner Stimme ist nicht gerade sanft.

«Auch du bist da, wie ich sehe!»

«Man hat mich gebeten zu kommen, und so bin ich gekommen.»

«Auch ich bin gekommen. Wenn der Meister in Gefahr ist, und dies sogar in seiner Heimat, so kann ich ihn, den ich in Judäa verteidigt habe, auch hier in Galiläa verteidigen.»

«Dazu genügen wir! Aber in Galiläa ist das nicht notwendig.»

«Ha, ha, ha, natürlich. Seine Heimat speit ihn aus wie eine ungenießbare Speise. Gut, ich freue mich für dich, der du dich so aufgeregt hast wegen eines kleinen Vorfalls in Judäa, wo er unbekannt ist. Hier hingegen! ...» Und Judas endet mit einem spöttischen Pfeifen.

«Höre, Junge, ich bin schlecht gelaunt. Beherrsche dich, wenn du nicht willst, daß... Meister, ist dir etwas zugestoßen?»

«Aber nein, mein Petrus. Ich versichere es dir. Laß uns rascher gehen, um die Vettern zu trösten!»

Sie gehen und betreten die große Werkstatt. Judas und Jakobus sind bei der massiven Hobelbank. Jakobus steht, während Judas sich auf einen Hocker gesetzt hat, den Ellbogen auf die Hobelbank gestützt und das Haupt in die Hand gelegt. Jesus geht lächelnd auf sie zu, um sie sofort zu überzeugen, daß sein Herz sie liebt.

«Alphäus ist nun viel ruhiger. Die Schmerzen lassen nach und der Friede kehrt zurück. Seid beruhigt!»

«Hast du ihn gesehen? Und die Mama?»

«Ich habe sie beide gesehen.»

Judas fragt: «Auch die Brüder?»

«Nein, sie waren nicht da.»

«Sie waren da. Doch sie wollten sich dir nicht zeigen. Nur uns! Oh, wenn wir ein Verbrechen begangen hätten, hätten sie uns nicht übler behandeln können. Wir kamen eilends von Kana in der Freude, ihn wiederzusehen und ihm das zu bringen, was er so gerne hat. Wir lieben ihn... er versteht uns nicht mehr; er glaubt uns nichts mehr.»

Judas streckt seinen Arm auf die Bank aus, legt das Haupt darauf und weint. Jakobus ist stärker. Doch sein Gesicht zeugt von einem inneren Martyrium.

«Weine nicht, Judas! Und du, beherrsche dich.»

«O Jesus, wir sind Söhne... und er hat uns verflucht! Aber wenn es uns auch das Herz zerreißt, wir kehren nicht wieder zurück. Wir sind dein, und dein wollen wir bleiben; selbst wenn sie uns, um uns dir zu entreißen, mit dem Tode drohen sollten!» ruft Jakobus aus.

«Und du hast gesagt, daß du für Heldentum nicht fähig seist? Ich habe es gewußt; doch du hast es aus dir selbst gesagt. Wahrlich, du wirst treu bleiben, auch vor dem Tod! Und auch du!» Jesus streichelt die beiden.

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Doch sie leiden. Das Weinen des Judas treibt auch Petrus die Tränen in die Augen. So bekomme ich mehr Einblick in die Seelen der Apostel.

Petrus, das ehrliche Gesicht vom Leid gezeichnet, ruft aus: «O ja, welch ein Schmerz! ... Welch eine traurige Sache! Aber, meine Knaben (er schüttelt sie liebevoll), nicht allen ist es gegeben, diese Worte zu verdienen... Ich entsinne mich, daß ich bei meiner Berufung Glück hatte. Meine brave Frau sagt immer zu mir: "Ich komme mir wie verschmäht vor, weil du mir nicht mehr gehörst. Doch ich sage mir: O glückliche Verschmähung!" Auch ihr müßt so sagen. Ihr verliert einen Vater und bekommt Gott dafür.»

Der Hirte Joseph, erstaunt in seiner Unwissenheit als Waise, daß auch ein Vater Ursache von Tränen sein kann, sagt: «Ich dachte, ich sei der Unglücklichste, da ich keinen Vater habe. Nun stelle ich fest, daß es besser ist, ihn als Toten denn als Feind beweinen zu müssen.» Johannes begnügt sich damit, die Gefährten zu küssen und zu umarmen. Andreas seufzt und schweigt. Er bemüht sich, etwas zu sagen; doch seine Schüchternheit hindert ihn daran. Thomas, Philippus, Matthäus und Nathanael sprechen leise in einer Ecke, voll Ehrfurcht nahe einem echten Leiden. Jakobus des Zebedäus betet kaum verständlich, damit Gott Frieden schenke! Simon der Zelote, oh, wie gefällt mir sein Verhalten! Er verläßt seine Ecke und geht zu den beiden Betrübten, legt eine Hand auf das Haupt des Judas, die andere um die Taille des Jakobus und sagt: «Weine nicht, Sohn! Er hat es uns gesagt, mir und dir: "Ich vereinige euch: dich, der du meinetwegen einen Vater verlierst, und dich, der du ein Vaterherz, aber keine Söhne hast." Wir haben damals den prophetischen Sinn dieser Worte nicht verstanden. Aber er hat es gewußt. Nun bitte ich euch: ich bin alt und habe immer davon geträumt "Vater" genannt zu werden. Nehmt mich als solchen an, und ich werde euch wie ein Vater am Morgen und am Abend segnen. Bitte, nehmt mich an!»

Die beiden bejahen, unter stärkerem Schluchzen.

Da kommt Maria herein und eilt zu den beiden betrübten Brüdern. Sie streichelt den dunklen Kopf des Judas und die Wangen des Jakobus. Sie ist bleich wie eine Lilie. Judas nimmt ihre Hand, küßt sie und fragt: «Was macht er?»

«Er schläft, Sohn. Die Mama schickt euch einen Kuß», und sie küßt die beiden.

Die rauhe Stimme des Petrus explodiert: «Höre, komm einen Augenblick zu mir, ich möchte dir etwas sagen!» Ich sehe, wie Petrus mit seiner kräftigen Hand Iskariot am Arm packt und ihn nach draußen auf die Straße schleppt. Dann kommt er allein zurück.

«Wohin hast du ihn geschickt?» fragt Jesus.

«Zum Luftschnappen. Sonst wäre es soweit gekommen, daß ich ihm die Luft auf eine andere Art verpaßt hätte. Ich habe es nur deinetwegen nicht

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getan. Oh, nun geht es mir besser. Wer vor einem Schmerz keine Ehrfurcht hat und darüber lacht, der ist eine Natter, und ich vertreibe die Schlangen... Du bist hier... und ich habe ihn in den Mondschein geschickt. Er wird... ich werde eher ein Schriftgelehrter, etwas, das nur Gott aus mir machen kann, wo ich kaum weiß, daß ich auf der Welt bin; ... aber er, nicht einmal mit der Hilfe Gottes wird er gut. Das versichere ich dir, ich, Simon des Jonas, und ich täusche mich nicht. Nein, mach dir nichts daraus! Er war sich gar nicht bewußt, daß uns Traurigkeit erfüllte. Er ist trockener als ein Kieselstein in der Augustsonne. Los, ihr Knaben! Hier ist eine Mutter, wie es im Himmel keine süßere gibt. Hier ist ein Meister, der besser ist als alles im Paradiese. Hier sind viele ehrbare Herzen, die euch aufrichtig lieben. Unwetter sind manchmal gut: sie nehmen den Staub fort. Morgen seid ihr frischer als Blumen, flinker als Vögel, um unserem Jesus zu folgen.»

Und mit diesen guten und einfachen Worten des Petrus endet alles.

Darauf sagt Jesus:

«Dieser Vision fügst du jene an, die ich dich im Frühjahr 1944 schauen ließ; ich bat damals meine Mutter, mir ihre Eindrücke über die Apostel mitzuteilen. Jetzt sind uns ihre seelischen Wesenszüge hinreichend bekannt, um diese Vision wiederzugeben ohne befürchten zu müssen, dadurch Ärgernis zu erregen. Ich hatte keinerlei Belehrung nötig. Wir waren allein, weil die Jünger bei befreundeten Familien und in benachbarten Dörfern während meines Aufenthaltes in Nazareth untergebracht waren; so war es für mich tröstlich, mit meiner liebsten Freundin, meiner Mutter, zu sprechen und aus ihrem gnaden- und weisheitsvollen Mund die Bestätigung zu erhalten für etwas, das ich schon wußte. Ihr gegenüber war ich nie ein anderer als "ihr Sohn" gewesen; und unter den von Frauen geborenen gab es keine Mutter, die mehr "Mutter" war als sie in allen Vollkommenheiten menschlicher, geistlicher und mütterlicher Tugenden; und nie war ein Sohn "mehr Sohn" in Ehrfurcht, Vertrauen und Liebe seiner Mutter gegenüber als ich.

Und jetzt, da auch ihr die Zwölf in ihren Charaktereigenschaften, ihren Tugenden, Fehlern und inneren Kämpfen etwas kennt: kann es da noch jemand geben, der zu behaupten wagt, es sei für mich leicht gewesen, aus ihnen eine Einheit zu formen, sie zu bilden und höher zu führen? Kann jemand noch der Ansicht sein, das Leben des Apostels sei leicht, und leicht sei es, Apostel zu werden? Kann einer sich noch als Apostel betrachten, wenn er meint, ein Recht auf ein ungetrübtes Leben ohne Leiden, Widerstände und Enttäuschungen zu haben? Kann jemand, weil er mir dient, annehmen, daß ich sein Diener sei und unablässig zu seiner Zufriedenheit Wunder wirke, aus seinem Leben einen Blumenteppich mache, es geruhsam gestalte und ihn vor den Menschen verherrliche? Mein Leben, meine Arbeit, mein Dienst ist das Kreuz, das Leiden, der Verzicht, das Opfer. So lebe ich es. Und so sollen alle leben, die sich zu den "Meinen" zählen.

Das richte ich nicht an die Johannes-Seelen, sondern an die nörgelnden, unzufriedenen Gelehrten. Und den gelehrten Grüblern sage ich, daß ich die Wörter "Onkel" und "Tante" gebrauche, obwohl sie in den palästinensischen Sprachen nicht üblich sind, um eine ehrfurchtslose Frage klarzustellen und zu definieren, die meine Stellung als Einziggeborener Marias und die Jungfräulichkeit meiner Mutter vor und nach meiner Geburt betrifft, die eine Folge geistlicher und göttlicher Vereinigung war. Ich wiederhole noch einmal: sie kannte keine anderen Vereinigungen und darum auch keine anderen Geburten. Unverletztes Fleisch, das auch ich nicht zerriß, geborgen im Geheimnis eines Tabernakel-Schoßes, dem Thron der Dreifaltigkeit und des fleischgewordenen Wortes.»

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138. JESUS BEFRAGT SEINE MUTTER OBER DIE APOSTEL

Nun sehe ich - ungefähr zwei Stunden später - das Haus von Nazareth. Ich erkenne das Zimmer des Abschieds, zum Garten hin geöffnet, wo die Pflanzen in voller Reife stehen.

Jesus und Maria sitzen beisammen. Sie sitzen nebeneinander auf der Steinbank vor dem Hause. Es scheint, daß sie das Abendbrot bereits eingenommen haben und die anderen (ich sehe niemand) sich schon zurückgezogen haben. Mutter und Sohn erfreuen sich gegenseitig an einem innigen Gespräch. Die innere Stimme sagt mir, daß dies wohl das erste Mal ist, daß Jesus nach der Taufe, nach dem Fasten in der Wüste und besonders nach der Bildung des Apostelkollegiums in Nazareth weilt. Er erzählt der Mutter von den ersten Tagen der Verkündigung des Evangeliums, von den ersten Siegen über die Herzen. Maria hängt an den Lippen ihres Jesus.

Sie ist magerer, viel bleicher, als habe sie in der letzten Zeit gelitten. Unter ihren Augen sind tiefe Schatten eingegraben, wie bei jemand, der viel nachgedacht und geweint hat. Doch nun ist sie glücklich und freut sich. Sie lächelt und streichelt die Hand ihres Jesus. Sie ist glücklich, ihn bei sich zu haben: von Herz zu Herz mit ihm im Schweigen des hereinbrechenden Abends.

Es muß Sommer sein, denn Jesus hat die ersten reifen Früchte des Feigenbaums gepflückt; er braucht dazu nur aufzustehen, so tief hängen sie herab. Er gibt die schönsten seiner Mutter, nachdem er sie zuvor sorgfältig geschält hat, so daß sie wie rotgestreifte Knospen aussehen in einer Blütenkrone von weißen Blütenblättern innen und violetten außen. Er bietet der Mutter die Frucht auf seiner Handfläche an und freut sich darüber, daß sie ihr schmeckt.

Dann fragt er sie plötzlich: «Mama, du hast die Jünger gesehen. Was denkst du über sie?»

Maria, die soeben eine dritte Feige zum Mund führen wollte, schaut auf, hält in der Bewegung inne und blickt Jesus an.

«Was hältst du von ihnen, nun, da ich sie dir alle vorgeführt habe?»fragt Jesus noch einmal.

«Ich glaube, daß sie dich lieben und daß du viel von ihnen erwarten kannst. Johannes... liebe Johannes, wie nur du lieben kannst. Er ist ein Engel. Ich bin beruhigt, wenn ich weiß, daß er bei dir ist. Auch Petrus ist gut; etwas rauh, denn er ist schon älter, aber aufrichtig und überzeugt. Auch sein Bruder. Sie lieben dich jetzt, so gut sie können. Aber sie werden dich immer mehr lieben. Auch unsere Vettern. Jetzt, da sie sich durchgerungen haben, werden sie dir treu bleiben. Doch der Mann von Kerioth... er gefällt mir nicht. Mein Sohn, sein Auge ist nicht klar und sein Herz noch weniger. Ich habe Angst vor ihm!»

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«Dir gegenüber ist er voller Achtung.»

«Zuviel Respekt. Auch dir gegenüber ist er respektvoll. Doch du bist für ihn nicht der Meister, sondern der zukünftige König, von dem er sich Nutzen und Ehre verspricht. Er war ein Nichts, ein klein wenig mehr als die anderen von Kerioth. Nun hofft er, an deiner Seite eine wichtige Rolle spielen zu können; o Jesus, ich will nicht gegen die Liebe fehlen, doch ich denke, auch wenn es mir schwerfällt, daß er im Falle einer Enttäuschung versuchen würde, an deine Stelle zu treten. Er ist ehrgeizig, habsüchtig, voller Sinnlichkeit und eher dazu geneigt, Höfling eines irdischen Herrschers zu sein als dein Apostel, mein Sohn! Ich fürchte ihn.» Und die Mutter betrachtet ihren Jesus mit angstvollen Augen in ihrem blassen Antlitz.

Jesus seufzt. Er denkt nach. Er betrachtet seine Mutter. Er lächelt ihr zu, um sie zu ermutigen. «Auch er ist notwendig, Mama. Wenn er es nicht wäre, wäre ein anderer an seiner Stelle. Meine Jüngerschaft muß die Welt darstellen, und in der Welt sind nicht alle Engel, und nicht alle sind vom Schlag des Petrus und des Andreas. Wenn ich nur Vollkommenheiten wählte, wie könnten die armen, kranken Seelen hoffen, meine Jünger zu werden? Ich bin gekommen, um das Verlorene zu retten, Mama. Johannes ist von sich aus gerettet. Doch wie viele sind es nicht!»

«Für Levi habe ich keine Angst. Er wurde gerettet, weil er sich erlösen lassen wollte. Er hat seine Sünde mit seiner Zollbank verlassen und hat seine Seele erneuert, um zu dir zu kommen. Doch Judas von Kerioth ist anders. Der Hochmut nimmt seine alte, häßliche Seele immer mehr in Besitz. Doch du weißt diese Dinge, Sohn! Warum fragst du mich? Ich kann für dich nur beten und weinen. Du bist der Meister! Auch deiner armen Mutter.»

Die Vision endet hiermit.

139. «WIEVIEL MENSCHLICHES BEI DEN APOSTELN!»

Jesus sagt:

«Mein Blick hatte im Herzen des Judas Iskariot gelesen. Niemand darf denken, daß die Weisheit nicht imstande gewesen sei, dieses Herz zu verstehen. Aber, wie ich es meiner Mutter gesagt habe; er wollte mit uns sein. Wehe ihm, daß er zum Verräter wurde! Es mußte aber einen Verräter geben. Doppelzüngig, schlau, habsüchtig, lasterhaft, diebisch und dabei gescheiter und gebildeter als der Durchschnitt der Menschen, wußte er sich überall durchzusetzen. Kühn ebnete er mir den Weg, auch wenn es schwierig war. Es gefiel ihm vor allem, unter den anderen hervorzuragen und auf seinen Vertrauensposten bei mir hinzuweisen. Er war nicht aus

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dem natürlichen Instinkt der Nächstenliebe hilfsbereit, sondern einzig und allein, weil er zu denen gehörte, die ihr "Wichtigtuer" nennt. Das befähigte ihn auch, das Geld zu verwalten und sich Frauen zu nähern. Zwei Dinge, die er zusammen mit dem Umgang mit Menschen närrisch liebte.

Die Reine, die Demütige, die von allen Reichtümern der Welt Losgelöste, konnte nicht anders, sie mußte Abscheu vor dieser Schlange empfinden. Auch ich empfand Abscheu. Und nur ich, der Vater und der Heilige Geist wissen, welche Überwindung es mich gekostet hat, ihn in meiner Nähe zu dulden. Ich werde dir alles zu gegebener Zeit erklären.

Ebenso war mir die feindliche Gesinnung der Priester, Pharisäer, Schriftgelehrten und Sadduzäer bekannt. Sie waren listige Wölfe und versuchten, mich in ihre Höhle zu treiben, um mich dort zu zerreißen. Es dürstete sie nach meinem Blut. Und sie versuchten, mir überall Fallen zu stellen, um mich einzufangen, um einen Grund zur Anklage zu haben und mich aus der Welt zu schaffen. Drei volle Jahre haben sie mich gejagt, und sie haben nicht davon abgelassen, bis sie mich tot wußten. Erst an jenem Abend haben sie ruhig geschlafen. Die Stimme ihres Anklägers war für immer verstummt. Sie glaubten es. Aber nein! Sie war aber noch nicht erloschen. Sie wird nie erlöschen und immer wieder erschallen und die ihnen Ähnlichen von heute verfluchen. Wieviel Leid mußte meine Mutter durch deren Schuld erdulden! Ich werde diesen Schmerz nie vergessen.

Der Wankelmut der Menge war keine Neuigkeit. Sie ist das wilde Tier, das dem Dompteur die Hand leckt, wenn er mit der Peitsche bewaffnet ist oder Hungrigen ein Stück Fleisch reicht. Doch es genügt schon, daß der Bändiger fällt, die Peitsche nicht mehr handhaben kann oder der hungrigen Bestie kein Futter mehr anbietet, und das wilde Tier fällt ihn an und zerreißt ihn. Es genügt, die Wahrheit zu sagen und zu den Guten zu gehören, um von der Masse gehaßt zu werden, wenn die Begeisterung verflogen ist. Die Wahrheit ist Vorwurf und Warnung. Die Güte braucht keine Peitsche, und darum haben die Bösen keine Angst mehr. Daher das "Kreuzige ihn!" nach den Hosannarufen. Mein Leben als Meister ist gesättigt von diesen beiden Zurufen. Zuletzt hörte ich: "Kreuzige ihn!" Das Hosanna ist wie das Atemholen, das der Sänger braucht, um genügend Luft für den Höhepunkt seines Liedes zu haben. Maria hat am Abend des Karfreitags alle Echos der verlogenen Hosanna in sich wieder gehört, die für ihren Sohn zu den Schreien: "Kreuzige ihn!" geworden sind, und ihr Herz ist davon durchbohrt worden. Auch das vergesse ich nicht.

Das Menschliche der Apostel! Wieviel Menschliches! Ich trug schwere Blöcke, die zur Erde strebten, auf den Armen, um sie zum Himmel zu erheben. Selbst sie, die sich nicht als Diener eines irdischen Königs sahen, wie Judas Iskariot, auch sie, die nicht wie er daran dachten, bei nächster Gelegenheit an meiner Stelle den Thron zu besteigen, träumten von irdischem Ruhm. Es kam der Tag, da auch mein Johannes und sein Bruder

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sich nach diesem Ruhm sehnten, der auch in himmlischen Dingen wie ein Blendwerk verwirrte. Kein heiliger Eifer für das Paradies, wie ich wollte, ist vorhanden, sondern der menschliche Wunsch, daß eure Heiligkeit anerkannt werde. Und dazu zeigt sich etwas von der Neigung des Wechslers, des Wucherers; man möchte für ein wenig Liebe zu dem, der euch gesagt hat, daß ihr euch ihm voll und ganz schenken müßt, einen Platz zu seiner Rechten im Himmel einnehmen.

Nein, meine Söhne, nein! Vorerst muß man lernen, den vollen Kelch zu trinken, wie ich ihn getrunken habe. Ganz: mit seiner Liebe als Ausgleich für den Haß, mit seiner Reinheit gegen die Stimme der Sinne, mit seinem Heldentum in den Prüfungen, mit seiner Selbsthingabe aus Liebe zu Gott und den Brüdern. Dann, wenn alles erfüllt ist, was zur eigenen Pflicht gehört, muß man noch sagen: "Wir sind unnütze Knechte" und darauf warten, daß mein und euer Vater in seiner Güte euch einen Platz in seinem Reiche gewährt. Man muß sich aller menschlichen Dinge entäußern wie du mich im Prätorium entblößt gesehen hast von allem Menschlichen, und nur das Unentbehrliche behalten, wie es die Achtung für die Gabe Gottes verlangt: für das Leben, und die Achtung für die Brüder, denen wir vom Himmel aus nützlicher sein können als auf Erden. Dann überlaßt es Gott, euch mit dem Gewande der Unsterblichkeit zu bekleiden, das leuchtend rein geworden ist im Blute des Lammes.»

140. HEILUNG JOHANNAS DES CHUZA, BEI KANA

Die Jünger sind in der großen Werkstatt Josephs zum Nachtmahl versammelt. Die Hobelbank dient als Tisch, auf dem sich schon alles Nötige befindet. Ich sehe, daß die Werkstatt auch als Schlafsaal dient. Auf den anderen beiden Werktischen sind Matten ausgebreitet, die sie zu Bettlagern machen, und niedrige Schlafplätze sind längs den Wänden aneinandergereiht. Die Apostel unterhalten sich miteinander und mit dem Meister.

«Dann willst du also wirklich in den Libanon gehen?» fragt Iskariot.

«Ich verspreche nie etwas, ohne es dann zu halten. Und das habe ich zweimal versprochen: den Hirten und der Amme Johannas des Chuza. Ich habe die fünf Tage abgewartet, wie ich gesagt hatte, und aus Klugheit noch den heutigen Tag zugegeben. Doch jetzt gehe ich. Sobald der Mond aufgegangen ist, reisen wir ab. Es ist ein weiter Weg, auch wenn wir bis Bethsaida das Boot nehmen. Doch ich möchte die Freude erleben, Benjamin und Daniel zu sehen. Du weißt, welch wunderbare Seelen die Hirten haben. Ja, sie verdienen es, daß wir hingehen und sie ehren; denn auch Gott erniedrigt sich nicht, wenn er einen Diener ehrt; vielmehr erhöht er dadurch seine Gerechtigkeit.»

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«Bei dieser Hitze! Überlege es dir gut. Ich denke nur an dich!»

«Die Nächte sind nicht mehr so dunstig. Nur noch kurze Zeit steht die Sonne im Zeichen des Löwen, und die Gewitter kühlen die Luft. Außerdem möchte ich noch einmal wiederholen: ich verpflichte niemand mitzukommen. Mir gegenüber und um mich soll alles freiwillig geschehen. Wenn ihr Geschäfte habt oder müde seid, dann bleibt hier. Wir werden uns später wieder treffen.

«So ist es, du sagst es. Ich müßte an meine Familie denken. Es kommt die Zeit der Weinlese, und meine Mutter hatte mich gebeten, Freunde aufzusuchen... Weißt du, ich bin, im Grunde, das Haupt der Familie; ich will damit sagen: ich bin der Mann in der Familie.»

Petrus brummt: «Er denkt wenigstens daran, daß die Mutter immer noch die erste nach dem Vater ist.»

Sei es, daß er es nicht gehört hat, sei es, daß er nicht hören will, Judas tut so, als ob er das Murren nicht verstehe, das Jesus mit einem strengen Blick bereits gebremst hat, während Zebedäus den neben ihm sitzenden Petrus an der Tunika zupft, um ihn zum Schweigen zu ermahnen.

«Geh nur, Judas! Du mußt sogar gehen. Du sollst es nicht am Gehorsam deiner Mutter gegenüber fehlen lassen.»

«Dann gehe ich sofort, wenn du erlaubst. Ich werde noch rechtzeitig in Naim ankommen, um dort Unterkunft zu finden. Leb wohl, Meister! Lebt wohl, Freunde!»

«Sei ein Freund des Friedens und handle so, daß Gott immer mit dir ist! Leb wohl!» sagt Jesus, während die anderen ihn mit einem gemeinsamen Gruß verabschieden.

Es scheint keiner zu bedauern, ihn weggehen zu sehen, im Gegenteil. Petrus, der vielleicht befürchtet, daß Judas sich noch anders besinnen könnte, hilft ihm, den Sack mit den Schnüren zuzuziehen und über die Schulter zu hängen. Er begleitet ihn zur Türe der Werkstatt, die ebenso wie die Gartentür offensteht, gewiß, um nach einem so schwülen Tag den Raum zu lüften. Petrus bleibt am Ausgang stehen und überzeugt sich, daß Judas auch wirklich fortgeht, macht dann eine freudige, von einem ironischen Lebewohl begleitete Bewegung, und kehrt zu den Jüngern, die Hände reibend, zurück. Er braucht nichts mehr hinzuzufügen; er hat schon alles ohne Worte gesagt.

Mehrere, die ihn beobachtet haben, schmunzeln. Doch Jesus nimmt keine Notiz davon, denn er betrachtet den Vetter Jakobus, der rot geworden und verlegen ist und seine Oliven zu essen vergißt. Er fragt ihn: «Was hast du?»

«Du hast gesagt: "Man soll es nicht am Gehorsam der Mutter gegenüber fehlen lassen." Und wir, was sollen wir tun?»

«Mach dir keine Skrupeln. Auf der menschlichen Ebene gilt dieses Verhalten, bei Menschen und Kindern dem Fleische nach. Doch wenn man

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unter einem anderen Gesetz und einer geistigen Vaterschaft steht, dann nicht. Hier geht es um eine höhere Vaterschaft, deren Wünsche und Befehle befolgt werden müssen. Judas ist vor dir und Matthäus angenommen worden, doch er ist noch zurück. Er muß sich noch weiter bilden, dazu wird er viel Zeit brauchen. Liebt ihn! Liebe ihn, Petrus! Ich verstehe... doch ich sage dir: liebe! Lästige Personen zu ertragen, ist eine nicht unbedeutende Tugend. Übe sie!»

«Ja, Meister... Aber wenn ich ihn so sehe... so... Gut, sei still, Petrus! Er versteht schon... Ich komme mir wie ein vom Wind zu sehr gestrafftes Segel vor. Ich drohe unter dem Druck zu bersten, und es zerreißt mir immer etwas dabei... Aber du weißt, nein, du kannst es nicht wissen, denn als Bootsmann bist du völlig ohne Kenntnis. Ich erkläre es dir also. Wenn bei einem Segel durch zu starke Anspannung die Verbindungsseile reißen, so schwöre ich dir, daß der dumme Bootsmann eine so schöne Ohrfeige abkriegt, daß er vor Schreck zusammenfährt... Nun, ich spüre, Gefahr zu laufen, daß alle Verbindungsseile in mir zerreißen... und dann... dann ist es besser, wenn er ab und zu für eine Weile verschwindet. So beruhigt sich das Segel dank der Windstille, und ich habe Zeit, die Bindungen zu verstärken.»

Jesus lächelt und schüttelt den Kopf; er hat Verständnis für den gerechten, aufbrausenden Petrus.

Ein Lärm von eisenbeschlagenen Hufen und lautes Bubengeschrei dringen von der Straße herein. «Hier ist es, hier ist es! Halt an, Mann!»Und bevor Jesus und die Jünger sich dessen bewußt werden, zeigt sich unter der Tür der dunkle Umriß eines dampfenden Pferdes, von dem ein Reiter absteigt, der wie ein Geschoß durch die Tür auf Jesus zueilt und ihn ehrerbietig küßt.

Alle sind verblüfft.

«Wer bist du? Was willst du?»

«Ich bin Jonathan.»

Joseph, der hinter der hohen Hobelbank sitzt, schreit freudig auf; er hatte bei der blitzartigen Ankunft den Freund nicht sofort erkannt.

Der Hirte eilt rasch zum Knienden hin und ruft aus: «Du, wirklich du!»

«Ja, ich bete meinen anbetungswürdigen Herrn an! Dreißig Jahre der Hoffnung, oh, welch lange Wartezeit! Nun sind sie erblüht wie die Blüte der einsamen Agave - und noch mehr aufgeblüht mit einem Schlag in einer seligen Ekstase, die noch seliger ist als jene vor vielen Jahren. Oh, mein Erlöser!»

Frauen, Kinder und einige Männer, unter ihnen der gute Alphäus der Sara mit einem Stück Brot und Käse in der Hand, drängen sich um den Eingang der Werkstatt und sogar bis in den Raum hinein.

«Steh auf, Jonathan! Ich war im Begriffe aufzubrechen, um dich aufzusuchen und Benjamin und Daniel.»

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«Ich weiß es.»

«Steh auf, daß ich dir den Kuß gebe, den ich auch deinen Gefährten gegeben habe.» Er zwingt ihn, aufzustehen und küßt ihn.

«Ich weiß es», wiederholt der gesunde, kräftige Alte, der gut gekleidet ist. «Ich weiß es. Sie hatte recht. Es war nicht das Delirium einer Sterbenden! O Herr, mein Gott! Wie die Seele doch sieht und dich hört, wenn du sie rufst.» Jonathan ist bewegt.

Doch er faßt sich. Er verliert keine Zeit. Ehrerbietig, doch ohne zu zögern kommt er zur Sache: «Jesus, Erlöser und Messias, ich bin gekommen, dich zu bitten, mit mir zu gehen. Ich habe mit Esther gesprochen, und sie hat gesagt... Aber vorher hatte Johanna mit dir gesprochen und hat mir gesagt... oh! verlacht nicht einen glücklichen Mann, ihr, die ihr mich hört... glücklich und angstvoll zugleich, bis ich deine Antwort "Ich komme" gehört habe. Du weißt, daß ich mit der sterbenden Herrin auf der Reise war. Welch eine Fahrt! Von Tiberias nach Bethsaida ging es gut. Doch, nachdem wir das Boot verlassen und einen Wagen bestiegen hatten, den wir so gut als möglich auspolsterten, begann die Qual. Wir kamen nur langsam voran, weil es Nacht war; und sie litt. Bei Caesarea Philippi gab sie unter Bluterbrechen fast den Geist auf. Wir mußten Halt machen. Am dritten Morgen - vor sieben Tagen - ließ sie mich rufen. Sie schien schon tot, so weiß und erschöpft war sie. Doch als ich sie ansprach, öffnete sie ihre sanften, sterbenden Gazellenaugen und lächelte mir zu. Sie deutete mir mit ihrer kleinen, kalten Hand an, mich niederzubeugen, denn sie hatte nur mehr eine fadendünne Stimme, und sagte mir: "Jonathan, bring mich nach Hause zurück! Sofort!" Die Anstrengung, mir einen Befehl zu erteilen, war zu groß für sie, die immer noch sanfter als ein zärtliches Mädchen war, daß ihre Wangen sich röteten und ihre Augen für einen Augenblick aufleuchteten. Dann fuhr sie fort: "Ich habe von meinem Haus in Tiberias geträumt. Drinnen war ein Mann mit einem sternenklaren Antlitz, hochgewachsen, blond, mit Augen wie der Himmel und einer Stimme, die süßer war als Harfenklang. Er sagte: 'Ich bin das Leben! Kehre zurück! Ich erwarte dich, um es dir zu geben.' Ich will sofort aufbrechen."

"Aber Herrin", entgegnete ich, "du kannst nicht. Du bist sehr krank. Sobald es dir besser geht, wollen wir sehen." Ich dachte, es handle sich um das Delirium einer Sterbenden. Doch sie weinte und dann... oh, es war das erstemal, daß sie in diesen sechs Jahren, seit sie meine Herrin ist, so zu mir gesprochen hat, und sie richtete sich, durch etwas Zorn dazu fähig, sogar ein wenig auf und sagte: "Diener, ich will es. Ich bin deine Herrin. Gehorche!" Darauf ist sie zurückgefallen, den Mund voller Blut. Ich glaubte, sie werde sterben... und habe mir gesagt: "Stellen wir sie zufrieden. Sterben muß sie so oder so... Ich werde mir keine Vorwürfe machen müssen, daß ich sie an ihrem Ende noch verärgert habe, nachdem ich

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doch immer bemüht war, sie in allem zufriedenzustellen." Welch eine Reise! Sie wollte nie rasten, außer den Stunden zwischen der Terz und der Sext. Ich habe die Pferde geschunden, um rascher voranzukommen. Wir sind heute morgen um die neunte Stunde in Tiberias angekommen... Und Esther hat mir berichtet... da habe ich begriffen, daß du es gewesen bist, der sie gerufen hat. Denn es war um dieselbe Zeit und am selben Tage, an dem du Esther ein Wunder versprochen hattest und im Geiste meiner Herrin erschienen warst. Sie hat zur neunten Stunde sofort wieder aufbrechen wollen und hat mich vorausgeschickt... Oh, komm, mein Erlöser!»

«Ich werde sofort kommen. Dieser Glaube verdient Belohnung. Wer nach mir verlangt, besitzt mich. Gehen wir!»

«Warte! Ich habe einem Jungen eine Börse zugeworfen und gesagt: "Drei, fünf, so viele Esel als möglich, wenn es hier keine Pferde gibt, und so schnell wie möglich zum Hause des Jesus!" Sie müssen nun kommen. So geht es rascher. Ich hoffe, sie in Kana anzutreffen. Wenn sie wenigstens...»

«Was, Jonathan?»

«Wenn sie wenigstens noch lebt!»

«Sie lebt. Doch, auch wenn sie tot wäre: ich bin das Leben. Hier ist meine Mutter.»

Die Jungfrau, die bestimmt von irgend jemand benachrichtigt worden ist, kommt eilends herein, gefolgt von Maria des Alphäus. «Sohn, du gehst fort?»

«Ja, Mutter. Ich gehe mit Jonathan. Er ist hier. Ich wußte, daß ich ihn dir vorstellen könne. Daher habe ich einen Tag länger gewartet.»

Jonathan hat sich sofort mit auf der Brust gekreuzten Armen tief verbeugt. Nun kniet er nieder, ergreift zart das Kleid Mariens, küßt dessen Saum und sagt: «Ich grüße die Mutter meines Erlösers.»

Alphäus der Sara sagt zu den Neugierigen: «Nun, was sagt ihr jetzt? Ist es nicht beschämend, daß nur wir ohne Glauben sind?»

Man hört ein vielfaches Hufgeklapper auf der Straße. Es sind die Esel. Ich glaube, es sind alle, die es in Nazareth gibt, und sie würden für eine Schwadron ausreichen. Während Jonathan die besten aussucht, und ohne lange zu feilschen kauft und noch zwei weitere Nazarener mit Eseln anwirbt für den Fall, daß ein Tier unterwegs ausfällt, und sie die ganze Eselkaravane wieder zurückbringen können, helfen Maria und die andere Maria beim Zubinden der Säcke und Taschen.

Maria des Alphäus sagt zu den Söhnen: «Ich werde eure Betten unverändert lassen und sie liebkosen. Mir wird dann sein, als ob ich euch liebkoste. Seid gut und seid eures Jesu würdig, meine Söhne... und ich... ich werde glücklich sein ...» und dabei weint sie dicke Tränen.

Maria hilft ihrem Jesus und liebkost ihn liebevoll und gibt ihm tausend Empfehlungen und Ratschläge für die beiden Hirten im Libanon mit;

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denn Jesus hat ihr gesagt, daß er nicht zurückkommen werde, bevor er die beiden Hirten gefunden habe. Sie machen sich auf den Weg. Der Abend ist hereingebrochen, und das erste Mondviertel wird am Himmel sichtbar. Jesus ist mit Jonathan an der Spitze des Zuges, die anderen folgen. Solange sie in der Stadt sind, reisen sie im Schritt, weil Menschen sich um sie ansammeln. Doch kaum sind sie außerhalb der Stadt, reiten sie Galopp in einer Karavane, die von Hufen und Eisen dröhnt.

«Sie ist im Wagen mit Esther», erklärt Jonathan. «Oh, meine Herrin! Welch eine Freude, dich glücklich zu machen! Dir Jesus zu bringen! Oh, mein Herr, dich hier zu haben, an meiner Seite! Dich zu haben! Du hast wirklich das Antlitz eines Sternes, so wie sie dich gesehen hat, und du bist blond, mit den Augen von der Farbe des Himmels, und deine Stimme ist wie Harfenklang... Oh, aber auch deine Mutter! Wirst du sie eines Tages der Herrin vorstellen?»

«Deine Herrin wird zu meiner Mutter kommen; sie werden Freundinnen werden.»

«Ja? Oh! ... Ja, das soll sein. Johanna ist Frau und war Mutter. Doch sie hat eine Seele, die rein ist wie die einer Jungfrau. Sie darf sich in der Nähe der gesegneten Maria aufhalten.»

Jesus wendet sich um, weil Johannes so frisch und fröhlich gelacht hat und nun von den anderen nachgeahmt wird.

«Ich bin es, Meister, der alle anderen zum Lachen bringt. Auf dem Boot bin ich sicherer als ein Kater, doch hier oben, auf diesem Esel... Ich komme mir vor wie ein vergessenes Faß auf der Brücke eines schwankenden Bootes», sagt Petrus.

Jesus lächelt und ermutigt ihn; er versichert ihm, daß der Ritt bald zu Ende sei.

«Oh, das macht nichts, wenn mich die Jungen auslachen. Das ist nichts Schlechtes. Nur voran und machen wir die Gute glücklich.»

Jesus wendet sich nochmals um wegen eines anderen Lachanfalls. Petrus ruft aus: «Nein, das kann ich dir nicht sagen, Meister. Oder doch? Warum auch nicht? Ja, ich will es dir sagen. Ich habe behauptet: "Unser hoher Minister wird die Hände ringen, wenn er erfährt, daß er gerade dann nicht dabei war, als er einer Dame den Pfau hätte machen können." Und sie lachen alle. Aber es ist so. Ich bin überzeugt, wenn Judas dies geahnt hätte, dann wären ihm die Weinberge seines Vaters Nebensache gewesen.»

Jesus erwidert nichts.

Der Weg ist rasch zurückgelegt auf den wohlgenährten und ausgeruhten Eseln. Beim Mondschein erreichen sie Kana.

«Wenn du erlaubst, will ich vorangehen. Ich werde den Wagen anhalten. Die Stöße quälen sie so sehr.»

«Geh nur.»

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Jonathan treibt das Pferd zum Galopp an.

Es geht weiter im Mondschein. Endlich erscheinen am Straßenrand die Umrisse eines großen gedeckten Reisewagens. Jesus treibt seinen Esel an, der nun in leichten Galopp fällt. Er erreicht den Wagen und steigt ab.

«Der Messias!», verkündet Jonathan.

Die alte Amme wirft sich vom Wagen auf den Weg, auf dem Weg in den Staub. «Oh, rette sie! Sie stirbt!»

«Hier bin ich», sagt Jesus und steigt in den Wagen, wo auf einem Haufen Kissen ein zarter Körper ruht. In einer Ecke stehen eine brennende Lampe, Pokale und Krüge. Eine junge Dienerin trocknet weinend den kalten Schweiß auf der Stirn der Sterbenden. Jonathan eilt mit einer Laterne herbei.

Jesus beugt sich über die wirklich sterbende Frau. Es ist kein Unterschied zwischen dem Hell des Kleides und der leicht blauen Blässe der Hände und des leblosen Gesichtes. Nur die dichten Brauen und die langen schwarzen Wimpern bringen etwas Farbe in dieses schneeweiße Antlitz. Auch die roten Flecken der Schwindsüchtigen fehlen auf den Wangen. Die Lippen sind kaum noch ein violetter Schatten; sie sind halbgeöffnet beim schweren Atmen.

Jesus kniet bei ihr nieder und betrachtet sie. Die Amme nimmt eine Hand der Kranken und ruft sie beim Namen. Doch ihre Seele ist bereits an der Schwelle der Ewigkeit, sie hört nichts mehr.

Die Jünger sind angekommen, wie auch die beiden Jungen von Nazareth, und alle drängen sich um den Wagen.

Jesus legt eine Hand auf die Stirn der Sterbenden, die für einen Augenblick die verschleierten Augen öffnet und sie dann wieder zufallen läßt.

«Sie hört nichts mehr», jammert die Amme und weint noch stärker.

Jesus macht eine Geste: «Mutter, sie wird hören. Hab Vertrauen!»Dann ruft er: «Johanna, Johanna! Ich bin es! Ich rufe dich! Ich bin das Leben! Schau mich an, Johanna!»

Die Sterbende öffnet ihre großen schwarzen Augen und betrachtet mit einem lebhaften Blick das über sie gebeugte Antlitz. Sie ist freudig bewegt und lächelt. Sie bewegt leicht die Lippen, bringt jedoch keinen Laut zustande.

«Ja, ich bin es. Du bist gekommen, und ich bin gekommen, um dich zu retten. Kannst du an mich glauben?»

Die Sterbende bejaht mit einem Nicken des Hauptes. All ihre Lebenskraft und alle unausgesprochenen Worte sind in ihrem Blick konzentriert.

«Gut.» (Jesus, obgleich in kniender Stellung bleibend und seine linke Hand auf ihrer Stirn, richtet sich auf und nimmt den Ausdruck des Wunderwirkens an.) «Gut. Ich will es. Sei geheilt! Steh auf!» Er nimmt die Hand von der Stirn und steht auf.

Nur ein Bruchteil einer Minute, dann setzt sich Johanna des Chuza

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ohne irgendeine Hilfe auf, stößt einen Schrei aus, wirft sich Jesus zu Füßen und ruft dabei mit lauter Stimme glücklich aus: «Oh, dich lieben zu dürfen, oh, du mein Leben! Für immer! Ich bin dein! Für immer dein! Amme, Jonathan! Ich bin geheilt. Oh, schnell, eilt und sagt es Chuza! Er soll kommen und den Herrn anbeten. Oh, segne mich noch einmal, noch einmal! Oh, mein Erlöser!» Sie weint und lacht und küßt die Kleider und die Hände Jesu.

«Ich segne dich, ja. Was willst du sonst noch von mir?»

«Nichts, Herr! Nur, daß du mich liebst und daß ich dich lieben darf!»

«Möchtest du keinen Sohn haben?»

«Oh, einen Sohn! ... Entscheide du, Herr. Ich will alles dir überlassen, meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine Zukunft. Alles habe ich von dir, alles gebe ich dir! Gib du deiner Dienerin, was du für gut hältst!»

«Das ewige Leben also. Sei glücklich. Gott liebt dich. Ich gehe nun. Ich segne dich und ich segne euch.»

«Nein, Herr! Komm in mein Haus, verweile darin! Denn nun ist es wahrlich ein blühender Rosenstrauch. Erlaube mir, mit dir dorthin zurückzukehren. Oh, ich Glückliche!»

«Ich komme; aber ich habe meine Jünger.»

«Meine Brüder, Herr! Johanna wird für sie wie für dich Speise und Trank und jede Stärkung haben. Mache mich glücklich!»

«Laßt uns aufbrechen! Schickt die Esel zurück und folgt zu Fuß! Der Weg ist nicht sehr lang. Wir werden langsam fahren, damit ihr folgen könnt. Lebt wohl, Ismael und Aser! Grüßt mir nochmals meine Mutter und alle meine Freunde in Nazareth!»

Die beiden Nazarener gehen mit ihren schreienden Eseln erstaunt davon, während der Wagen mit seiner freudvollen Last den Rückweg einschlägt. Es folgt die Gruppe der Jünger, die sich über das eben Vorgefallene unterhalten.

Alles ist zu Ende.

141. JESUS IM LIBANON BEI DEN HIRTEN BENJAMIN UND DANIEL

Jesus geht an der Seite Jonathans auf einem grünen beschatteten Pfad. Es folgen die Apostel, die miteinander reden. Doch Petrus trennt sich von ihnen, kommt nach vorne und fragt Jonathan in seiner üblichen offenen Art: «Wäre denn der Weg über Caesarea Philippi nicht kürzer gewesen? Auf diesem hier... wie lang werden wir da brauchen? Bist du denn mit deiner Herrin auf diesem Weg gekommen?»

«Mit einer Kranken habe ich alles versucht. Doch du mußt bedenken,

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daß ich zum Personal des Antipas gehöre, und Philippus nach dieser Blutschande nicht gerne Höflinge des Herodes sieht... Es ist nicht meinetwegen, weißt du, daß ich Angst habe. Aber ich möchte euch und besonders dir, Meister, keine Unannehmlichkeiten verursachen und keine Feinde schaffen. In der Tetrarchie des Philippus wie in der des Antipas muß das Wort verkündet werden... und wenn sie euch hassen, wie könnt ihr das dann tun? Bei der Rückkehr nehmt ihr den Weg, den ihr für besser haltet.»

«Ich lobe deine Klugheit, Jonathan. Doch auf dem Rückweg möchte ich in Richtung des Landes der Phönizier gehen», sagt Jesus.

«Sie sind in die Nebel des Irrtums eingehüllt.»

«Ich werde mich an den Grenzen zeigen, um sie daran zu erinnern, daß es ein Licht gibt.»

«Glaubst du, daß Philippus sich an einem Diener wegen des Unrechts, das ihm von seinem Bruder zugefügt worden ist, rächen könnte?»

«Ja, Petrus. Der eine ist wie der andere. Alle niedrigen Instinkte beherrschen sie, und sie können nicht unterscheiden. Sie gleichen Tieren, nicht Menschen, glaube es mir!»

«Und doch, uns, oder vielmehr ihn, der ein Verwandter des Johannes ist, müßte er lieben. Im Grunde hat Johannes auch in seinem Namen und zu seinen Gunsten gesprochen, als er im Namen Gottes sprach.»

«Er würde euch nicht einmal fragen, wer ihr seid oder woher ihr kommt, wenn er euch mit mir sähe. Wenn er mich erkennen würde oder wenn ihn ein Feind des Hauses des Antipas auf mich, den Diener seines Prokurators, aufmerksam machte, würdet ihr sofort eingesperrt werden. Wenn ihr wüßtet, wieviel Schmutz sich unter den Purpurkleidern versteckt! Racheakte, Verrate, Verleumdungen, Unzucht und Raub bilden die Substanz ihrer Seele. Seele? Nun... na, sagen wir so. Ich glaube, sie haben keine Seele mehr. Ihr werdet es erfahren. Warum wurde Johannes freigelassen? Aus Rache! Ein Offizier, der einen anderen aus dem Weg räumen wollte, einen Favoriten des Antipas, und mit Hilfe einer Geldsumme bei Nacht Einlaß in den Kerker gefunden hatte, befreite Johannes... Ich vermute, er wird den Rivalen mit einem Drogen-Wein betäubt haben, und am Morgen danach mußte der Arme seinen Kopf anstelle des ausgebrochenen Täufers hinhalten. Ein Ekel, sage ich!»

«Und dein Herr, wie verhält er sich? Mir scheint, er ist ein guter Mensch.»

«Er ist es. Doch er kann nicht anders. Sein Vater und sein Großvater gehörten zum Hofe des großen Herodes, und der Sohn hatte keine andere Wahl. Er ist unglücklich; aber er muß sich darauf beschränken, seine Frau von diesem Hofe des Lasters fernzuhalten.»

«Könnte er nicht sagen: "Es ekelt mich an" und denn gehen?»

«Er könnte. Aber, obwohl er sehr gut ist, ist er noch nicht dazu fähig.

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Es würde für ihn sicher den Tod bedeuten. Und wer möchte sterben aus einer bis zum höchsten Grade verwirklichten spirituellen Treue? Ein Heiliger wie der Täufer. Vielleicht. Aber wir Armseligen!»

Jesus, der sie ungestört hat sprechen lassen, schaltet sich nun ein: «In Bälde werden in allen Teilen der bekannten Welt in so großer Zahl wie die Blumen auf einer Frühlingswiese die Heiligen sich glücklich preisen, sterben zu dürfen aus Treue zur Gnade und aus Liebe zu Gott!»

«Wirklich? Oh, wie gerne würde ich diese Heiligen grüßen und ihnen sagen: "Betet für den armen Simon des Jonas!" sagt Petrus.

Jesus schaut ihm lächelnd ins Gesicht.

«Warum schaust du mich so an?»

«Weil du sie sehen wirst, wenn du ihnen beistehen wirst und weil sie dich sehen werden, wenn sie dir beistehen werden!»

«Wobei denn, Herr?»

«Sie werden dir helfen, der durch das Opfer geweihte Fels zu werden, auf dem mein Zeugnis gefeiert und auferbaut wird.»

«Ich verstehe dich nicht.»

«Du wirst es einmal verstehen.»

Die anderen Jünger, die sich genähert und zugehört haben, reden miteinander.

Jesus wendet sich um: «Wahrlich, ich sage euch, durch die eine oder andere Marter werdet ihr alle geprüft werden. Zur Zeit ist es der Verzicht auf Annehmlichkeiten, Neigungen und Vorteile. Nachher wird es etwas stets Höheres sein bis zum erhabenen Opfer, das euch mit einem unvergänglichen Diadem krönen wird. Seid treu! Doch ihr alle werdet es sein. Und ihr werdet es erhalten.»

«Werden uns die Juden, das Synedrium vielleicht, töten wegen unserer Liebe zu dir?»

«Jerusalem wäscht die Schwellen seines Tempels mit dem Blute seiner Propheten und seiner Heiligen. Aber auch die Welt wartet darauf, gewaschen zu werden... Tempel über Tempel der schrecklichsten Götter gibt es. Sie werden in Zukunft Tempel des wahren Gottes sein, und der Aussatz des Heidentums wird geheilt werden mit dem reinigenden Wasser aus dem Blute der Märtyrer.»

«O allmächtiger Gott! Herr! Meister! Ich bin nicht würdig zu so Großem! Ich bin schwach. Ich habe Angst vor dem Bösen. O Herr! Schicke deinen unnützen Knecht weg oder gib du mir die Kraft! Ich möchte dich nicht boßstellen, Meister, mit meiner Feigheit!» Petrus hat sich zu Füßen des Meisters niedergeworfen und fleht ihn aus ganzem Herzen mit bebender Stimme an.

«Steh auf, mein Petrus! Habe keine Angst! Du hast noch einen weiten Weg vor dir, und die Stunde wird kommen, in der du auch noch die letzte Aufgabe erfüllen willst. Dann wirst du alle Kraft haben, vom Himmel

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und aus dir selbst. Ich werde bei dir sein und dich mit Bewunderung betrachten.»

«Du sagst es... und ich glaube es. Doch ich bin ein so armseliger Mensch!»

Sie schicken sich an weiterzugehen...

... und nach einer geraumen Unterbrechung beginnt die Vision wieder, und ich sehe, daß sie schon die Ebene hinter sich haben und sich an die Besteigung eines Berges machen, der immer waldreicher und höher wird. Es ist aber nicht derselbe Tag... denn während beim letztenmal der Morgen schon heiß war, sehe ich nun einen schönen Sonnenaufgang, der auf allen Halmen flüssige Diamanten entzündet. Immer neue Nadelwälder werden überstiegen; andere grüßen höher oben. Sie nehmen die unermüdlichen Pilger wie grüne Dome zwischen ihren Säulen auf.

Der Libanon ist wirklich eine wunderbare Gebirgskette. Ich weiß nicht, ob alles zum Libanon gehört oder nur dieser Berg. Ich sehe, daß sich wilde Bergmassive in die Höhe erheben, und sehe Täler und Flüsse, die silberblauen Bändern gleichen. Vögel jeder Art erfüllen mit ihrem Gesang und Flügelschlag die Nadelwälder, die in dieser Morgenstunde alles in einen herrlichen Harzduft hüllen. Zum Tale hingewandt, besser in westlicher Richtung, sieht man in der Ferne das weite, ruhige und feierliche Meer glänzen, und die ganze Küste, die sich von Norden nach Süden erstreckt mit ihren Städten, ihren Häfen und den wenigen Zuflüssen ins Meer, die auf der trockenen Erde silberne Kommas zu sein scheinen und deren spärliche Wasser die Sommerhitze noch aufsaugt...

«Schön ist dieser Ort», bemerkt Petrus.

«Es ist nicht einmal so heiß», sagt Simon.

«Dank all den Bäumen ist die Sonne wenig lästig», fügt Matthäus hinzu.

«Hat man das Zedernholz für den Tempelbau von hier geholt?» fragt Johannes.

«Ja. Das sind die Wälder, die das schönste Holz liefern. Der Herr von Benjamin und Daniel hat viele Wälder und Herden. Das Holz wird am Ort gesägt und dann auf Kanälen oder auf den Achseln zu Tal gebracht. Eine schwierige Arbeit, wenn die Stämme in ihrer ganzen Länge benötigt werden, wie dies beim Tempel der Fall war. Doch der Herr zahlt gut, und viele arbeiten bei ihm. Er ist auch recht verständig. Nicht wie der wütende Doras. Armer Jonas!» antwortet Jonathan.

«Warum hält er seine Knechte fast wie Sklaven? Jonas hat es mir gesagt, nachdem ich ihm geraten hatte: "Verlasse ihn einfach und komm mit uns! Simon des Jonas wird immer Brot für dich haben." Er entgegnete: "Ich kann nicht, wenn ich mich nicht loskaufe." Was ist das für eine Geschichte?»

«Doras, und nicht nur er allein, macht es so in Israel: Wenn er einen

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guten Diener sieht, dann dreht er es mit Schläue so, daß er zu seinem Sklaven wird. Er belastet ihn mit fingierten Schulden, die der Arme niemals bezahlen kann. Und wenn die Summe groß genug ist, dann sagt er: "Du hast dich bei mir zum Sklaven verschuldet."»

«Welche Schande! Und das ist ein Pharisäer!»

«Ja. Jonas konnte, solange er etwas Erspartes hatte, bezahlen; dann aber... In einem Jahr fiel Hagel, in einem anderen herrschte Dürre. Das Korn und die Reben gaben wenig, und Doras vervielfachte in seinen Berechnungen den Schaden; Jonas wurde wegen der Überbelastung an Arbeit krank. Doras lieh ihm das Geld für den Arzt, doch dann verlangte er dafür das zwölffache zurück, und da Jonas es nicht hatte, schlug er es zu den anderen Schulden. Um es kurz zu machen: nach einigen Jahren war die Schuld so groß, daß er zum Sklaven wurde. Er wird ihn nie freilassen. Er wird immer Gründe und neue Schulden finden.» Die Erinnerung an den Freund läßt Jonathan traurig werden.

«Und dein Herr könnte ihn nicht? ...»

«Was, ihn veranlassen, Jonas menschenwürdiger zu behandeln? Wer kann sich denn gegen die Pharisäer stellen? Doras ist einer der Mächtigen. Ich nehme an, daß er sogar mit dem Hohenpriester verwandt ist. Zumindest sagt man es. Einmal, als Jonas fast zu Tode geprügelt worden war, und ich es erfuhr, weinte ich so sehr, daß Chuza mir sagte: "Ich werde ihn freikaufen, um dich zufriedenzustellen." Doch Doras lachte ihm nur ins Gesicht und ging auf den Vorschlag nicht ein. Oh, dieser Mensch... Er hat die reichsten Felder Israels; doch ich schwöre es: sie sind mit dem Blut und den Tränen seiner Sklaven getränkt.»

Jesus betrachtet den Zeloten, und der Zelote betrachtet Jesus. Beide sind betrübt.

«Und Daniels Herr, ist er gut?»

«Er ist immerhin menschlich. Er ist herrisch, doch er unterdrückt nicht. Und da die Hirten ehrlich sind, behandelt er sie gut. Sie sind verantwortlich für die Weideplätze. Er kennt mich und achtet mich, weil ich der Diener Chuzas bin und ihm vielleicht nützlich sein kann. Warum, Herr, ist der Mensch so egoistisch?»

«Weil die Liebe im irdischen Paradies erwürgt wurde. Doch ich bin gekommen, die Schlinge zu lösen und die Liebe wieder zum Leben zu erwecken.»

«Hier sind wir auf den Gütern des Elisäus. Die Weiden sind noch weit entfernt. Doch zu dieser Stunde sind die Schafe wegen der Sonne fast immer in den Ställen. Ich will nachsehen, ob sie da sind.» Jonathan eilt davon.

Nach einiger Zeit kommt er zusammen mit zwei ergrauten, doch robusten Hirten zurück, die über den Abhang zu Jesus hineilen.

«Der Friede sei mit euch!»

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«Oh! Unser Kind von Bethlehem!» sagt der eine, und der andere: «Der Friede Gottes ist zu uns gekommen, sei dafür gepriesen!» Die Männer haben sich ins Gras geworfen.

«Steht auf! Ich gebe euch den Segen, und ich bin froh darüber, denn er steigt nieder mit Freude auf jene, die dessen würdig sind.»

«Oh, wir würdig?»

«Ja, ihr, weil ihr immer treu gewesen seid.»

«Wer hätte an unserer Stelle untreu sein können? Wer könnte die Erinnerung an jene Stunde auslöschen? Wer könnte sagen: "Es ist nicht wahr, was wir gesehen haben?" Wie könnten wir vergessen, daß du uns über Monate hindurch zugelächelt hast, wenn wir gegen Abend mit den Schafen zurückkehrten und dir zuriefen; daß du in deine kleine Händchen geklatscht hast beim Klang unserer Weidenpfeifen? Erinnerst du dich noch daran, Daniel? Fast immer weiß gekleidet in den Armen der Mutter zeigtest du dich uns im Sonnenschein auf Annas Wiese oder am Fenster: eine Blume auf dem Weiß des mütterlichen Gewandes.»

«Und als du uns damals mit deinen ersten Schrittchen entgegengetrippelt bist, um ein Lämmlein zu streicheln, das aber nicht so lockig war wie du? Wie warst du da glücklich! Und wir wußten in unserer Plumpheit nichts anzufangen. Wie gerne wären wir Engel gewesen, um dir nicht zu klobig zu erscheinen ...»

«Oh, meine Freunde! Ich konnte euch ins Herz sehen, und auch heute sehe ich hinein.»

«Du lächelst uns zu wie damals.»

«Und du bist bis hierher zu uns armen Hirten gekommen!»

«Zu meinen Freunden. Jetzt bin ich zufrieden. Ich habe euch alle wiedergefunden und werde euch nicht mehr verlieren. Könnt ihr dem Menschensohn und seinen Freunden Gastfreundschaft gewähren?»

«O Herr! Und du fragst uns? Es wird nicht an Milch und Brot fehlen. Auch wenn wir nur einen einzigen Bissen hätten, würden wir ihn dir geben, nur um dich bei uns zu haben. Nicht wahr, Benjamin?»

«Unser Herz würden wir dir als Nahrung geben, dir, unserem langersehnten Herrn!»

«So wollen wir also gehen und von Gott reden.»

«Und von deinen Eltern, Herr! Joseph, so gut! Maria, oh, die Mutter! Seht die taufrische Narzisse. Sie ist rein und schön und gleicht einem diamantenen Stern. Doch sie... oh, das hier ist nichts im Vergleich zur Mutter! Ein Lächeln von ihr war Reinigung... Ihr begegnen zu dürfen, ein Fest... Sie zu hören, bedeutete sich heiligen! Erinnerst auch du dich noch an ihre Worte, Benjamin?»

«Ja, ich kann sie wiederholen, Herr. Denn als sie in den Monaten, in denen wir sie hören durften, zu uns sprach, haben sich ihre Worte hier eingegraben (und er schlägt sich an die Brust). Das ist Wissenschaft, die wir

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verstehen können; denn es sind die Worte der Liebe... und die Liebe verstehen alle. Komm, Herr, tritt ein und segne diese glückliche Hütte.»

Sie betreten einen Raum neben dem großen Schafstall, und alles ist zu Ende.

142. JESUS ERHÄLT IN DER STADT AM MEER BRIEFE ÜBER JONAS

Jesus befindet sich in der wunderschönen Stadt am Meer, die an einem natürlichen Golf liegt, der so weit und wohlgeschützt ist, daß er viele Schiffe aufnehmen kann, und außerdem über einen mächtigen Hafendamm verfügt, der die Anlage noch sicherer macht. Auch vom Militär muß dieser Hafen sehr viel benützt werden, denn ich sehe Dreiruderer römischer Herkunft mit Soldaten an Bord. Sie landen gerade; aber ich weiß nicht, ob neue Truppen ankommen oder ob die Besatzung nur eine Verstärkung erhält. Der Hafen, besser noch die Hafenstadt, die von vesuvartigen Bergen beherrscht wird, erinnert mich etwas an Neapel.

Jesus sitzt in einem armen Haus am Hafen. Es muß das Haus eines Fischers sein; vielleicht ein Freund des Petrus oder des Johannes, denn ich sehe, daß die beiden sich im Hause auskennen und mit den Bewohnern gut bekannt sind. Ich vermisse den Hirten Joseph. Natürlich sehe ich auch Iskariot nicht, der noch nicht zu den Jüngern zurückgekehrt ist. Jesus spricht mit sehr einfachen Worten zu den Familienangehörigen und einigen anderen, die gekommen sind, ihn zu hören. Es ist jedoch keine eigentliche Predigt. Es sind Worte des Rates und des Trostes, wie nur er sie geben kann.

Andreas kommt wahrscheinlich von einer Besorgung zurück, denn er hat einige Pakete in der Hand. Er ist ganz rot geworden; denn in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu geraten, bedeutet für ihn offenbar ein wahres Martyrium. Er nähert sich Jesus und flüstert: «Meister, könntest du mit mir kommen? Es wäre da etwas Gutes zu tun. Du allein kannst es.»

Jesus steht auf, ohne zu fragen, worum es sich handelt. Doch Petrus fragt: «Wo führst du ihn hin? Er ist so müde! Jetzt ist es Zeit für das Abendbrot. Sie können bis morgen auf ihn warten.»

«Nein, es muß sofort sein. Es ist ...»

«Na, rede schon, du ängstliche Gazelle! Schaut nur, wie ein so großer und starker Mann so schüchtern sein kann! Er gleicht einem im Netz verfangenen Fischlein.»

Andreas wird noch röter im Gesicht. Jesus verteidigt ihn und zieht ihn an sich: «Mir gefällt er wie er ist! Laß ihn in Frieden. Dein Bruder ist wie

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heilendes Wasser. Es arbeitet lautlos in der Tiefe, kommt wie ein Faden aus der Erde, doch wer davon trinkt, wird geheilt. Gehen wir, Andreas!»

«Auch ich werde mitkommen. Ich möchte wissen, wohin er dich führt», erklärt Petrus.

Andreas bittet flehentlich: «Nein, Meister. Nur du und ich allein! Wenn andere dabei sind, dann kann man nichts machen... Es ist eine Herzensangelegenheit ...»

«Was soll das sein? Spielst du den Brautführer?»

Andreas antwortet dem Bruder nicht. Er wendet sich an Jesus: «Ein Mann will seine Frau verstoßen; ich habe mit ihm gesprochen. Doch ich tauge nicht zum Reden... Doch wenn du mit ihm sprächest... oh, dir würde es sicher gelingen; denn der Mann ist nicht böse. Er ist... er ist... er soll es dir selbst sagen ...»

Jesus verläßt mit Andreas das Haus, ohne etwas zu sagen. Petrus scheint zuerst etwas unentschlossen, sagt aber dann: «Und ich gehe doch. Ich will wenigstens sehen, wohin sie gehen.»

Er geht, obwohl die anderen ihn ermahnen, es nicht zu tun.

Andreas biegt in eine kleine Seitengasse ein. Petrus folgt. Er überquert einen kleinen Platz, der voller schwatzender Frauen ist. Und Petrus folgt noch. Er durchschreitet eine Toreinfahrt und gelangt in einen großen Hof, der von ärmlichen Behausungen umgeben ist. Ich sage Toreinfahrt, weil da ein Torbogen ist. Doch eine Türe fehlt. Und Petrus folgt immer noch. Jesus betritt mit Andreas eines der kleinen Häuser. Petrus bleibt vor der Türe. Eine Frau bemerkt es und fragt ihn: «Bist du ein Verwandter von Aava? Auch die beiden anderen? Seid ihr gekommen, um sie abzuholen?»

«Sei still, du Henne! Man darf mich nicht sehen!»

Einer Frau das Reden verbieten ist eine schwierige Angelegenheit. Doch da Petrus sie mit seinen blitzenden Augen vertreibt, geht sie zu den anderen Frauen, um mit ihnen zu schwatzen. Der arme Petrus ist im Nu von einer Schar von Frauen umringt; auch Burschen und Männer kommen dazu. Alle ermahnen sich gegenseitig, zu schweigen, verstärken aber dadurch nur den Lärm. Petrus kocht innerlich, doch er beherrscht sich.

Aus dem Innern des Hauses dringt die schöne, volle, ruhige Stimme Jesu zusammen mit der gebrochenen Stimme einer Frau und der rauhen eines Mannes.

«Wenn sie immer eine gute Frau gewesen ist, warum willst du sie verstoßen? Hat sie jemals gegen dich gefehlt?»

«Nein, Meister, ich schwöre es dir! Ich habe ihn wie meinen Augapfel geliebt», jammert die Frau.

Und der Mann darauf, kurz und hart: «Nein, sie hat sich mir gegenüber nichts anderes zuschulden kommen lassen, als daß sie unfruchtbar ist. Aber ich will Kinder haben. Ich will nicht den Fluch Gottes auf meinem Namen.»

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«Es ist nicht die Schuld deiner Frau, wenn sie unfruchtbar ist.»

«Er beschuldigt mich und die Meinen deswegen wie wegen eines Verrates.»

«Frau, sei ehrlich: wußtest du darum?»

«Nein. Ich war und bin in allem wie alle anderen. Auch der Arzt hat mir gesagt, daß ich normal bin. Aber ich kann keine Kinder bekommen.»

«Du siehst also, daß sie dich nicht betrogen hat. Auch sie leidet darunter. Sei auch du ehrlich: wenn sie Mutter wäre, würdest du sie verstoßen?»

«Nein, ich schwöre es dir! Dann hätte ich keinen Grund dazu. Doch der Rabbi und auch der Schriftgelehrte haben gesagt: "Die Unfruchtbare ist ein Fluch Gottes für dein Haus, und du hast das Recht und die Pflicht, dich von ihr zu trennen. Betrübe deine Männlichkeit nicht mit Kinderlosigkeit." Ich tue also nur, was das Gesetz vorschreibt.»

«Nein, höre! Das Gesetz sagt: "Du sollst nicht ehebrechen", und du bist gerade dabei, dies zu tun. Das ursprüngliche Gebot lautet so und nicht anders. Wenn Moses, durch die Härte eurer Herzen gezwungen, die Ehescheidung erlaubt hat, dann hat er es nur getan, um von Gott gehaßte Dinge zu unterbinden. Doch eure Laster haben die Vorschrift Moses immer mehr abgeschwächt und so die Kette von Bosheit und Steinigungen bewirkt, die nun das Los der Frau geworden sind, die immer das Opfer eurer Ansprüche, Launen, eurer Taubheit und Blindheit in der Liebe ist. Ich sage dir: es ist dir nicht erlaubt, das zu tun, was du dir vorgenommen hast. Dein Vorsatz ist eine Beleidigung Gottes. Hat Abraham Sarai verstoßen? Oder Jakob die Rachel? Oder Elkana die Anna? Und Manue seine Frau? Kennst du den Täufer? Ja? War seine Mutter nicht bis ins hohe Alter unfruchtbar, und hat sie nicht den Heiligen Gottes geboren, so wie auch die Frau des Manue den Samson, Anna des Elkana den Samuel, Rachel den Joseph und Sarai den Isaak geboren haben? Der Enthaltsamkeit des Gatten, seinem Mitleid mit der Unfruchtbaren, seiner Treue zur Ehe schenkt Gott einen seit Jahrhunderten gewährten Lohn, so wie er auch das Weinen der Unfruchtbaren in Lachen verwandelt, da sie nun nicht mehr unfruchtbar und betrübt ist, sondern voller Freude in ihrer späten Mutterwürde. Es ist dir nicht erlaubt, die Liebe deiner Frau zu kränken. Sei gerecht und ehrbar! Gott wird dich über deinen Verdienst hinaus belohnen.»

«Meister, du allein sprichst so. Ich wußte dies nicht. Ich habe die Schriftgelehrten gefragt, und sie haben mir geantwortet: "Tue es." Doch kein Wort darüber, daß Gott ein gutes Verhalten mit seinen Gaben belohnt. Wir sind ihnen ausgeliefert, und sie schließen uns die Augen und das Herz mit einer eisernen Hand. Ich bin nicht böse, Meister... Verachte mich nicht!»

«Nein, ich verachte dich nicht. Ich habe mehr Mitleid mit dir als mit

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der Frau, die dort weint. Ihre Tränen versiegen am Ende ihres Lebens. Dein Schmerz hingegen beginnt dann und dauert ewig an. Denke daran!»

«Nein, es wird nicht so sein. Ich will es nicht. Schwöre mir beim Gott Abrahams, daß das, was du sagst, Wahrheit ist!»

«Ich bin die Wahrheit und die Weisheit. Wer an mich glaubt, wird in sich Gerechtigkeit, Weisheit, Liebe und Frieden haben.»

«Ich will dir glauben. Ja, ich will dir glauben. Ich fühle in dir etwas, was den anderen fehlt. Daher gehe ich nun zum Priester und sage ihm: "Ich werde sie nicht verstoßen. Ich behalte sie bei mir und bitte Gott nur darum, daß er mir hilft, den Schmerz der Kinderlosigkeit besser ertragen zu können." Aava, weine nicht... Wir wollen den Meister bitten, wieder zu kommen, damit ich gut bleibe, und du... liebe mich auch in Zukunft!»

Die Frau weint noch stärker wegen des Gegensatzes des eben noch empfundenen Schmerzes zur jetzigen Freude. Jesus lächelt. «Weine nicht! Schau mich an, Frau!»

Sie hebt den Kopf. Mit ihrem tränennassen Gesicht betrachtet sie das leuchtende Antlitz.

«Komm her, Mann! Knie vor deiner Frau nieder! Ich werde euch nun segnen und eure Ehe heiligen. Hört: "Herr, Gott unserer Väter, der du aus dem Schlamm den Adam geschaffen und ihm Eva zur Gefährtin gegeben hast, damit sie die Erde mit Menschen bevölkere und sie in heiliger Gottesfurcht erziehe: komm hernieder mit deinem Segen und deiner Barmherzigkeit, öffne und befruchte den Schoß, den der Feind geschlossen hält, um zur zweifachen Sünde des Ehebruchs und der Verzweiflung zu führen! Habe Erbarmen mit diesen beiden, heiliger Vater, höchster Schöpfer! Mache sie glücklich und heilig! Mache sie fruchtbar wie einen Weinberg; er soll sie beschützen wie eine Ulme, die nicht wankt. Steige herab, göttliches Leben, um Leben zu geben! Komm herab, Feuer, um zu wärmen! Komm, o Mächtiger, und wirke! Komm herab und mache, daß sie dir zum Dankfest für die Ernte des kommenden Jahres ihre lebendige Gabe opfern können, ihren Erstgeborenen, den dir, o Ewiger, heiligen Sohn; der du alle segnest, die auf dich hoffen."» Jesus hat mit Donnerstimme gebetet, während seine heiligen Hände auf den geneigten Häuptern der beiden lagen.

Die Leute beherrschen sich nicht länger und beginnen zu drängen. In der ersten Reihe steht Petrus. «Steht auf! Habt Vertrauen und seid heilig!»

«Oh, bleibe, Meister!», bitten die beiden Versöhnten.

«Ich kann nicht. Ich werde wiederkommen, mehrmals!»

«Bleibe, bleibe! Sprich zu uns!», ruft die Menge.

Doch Jesus gibt den Segen, ohne sich länger aufzuhalten. Er verspricht aber, bald wiederzukommen. Eine kleine Menge folgt ihm, als er zu dem Haus, das ihm Gastfreundschaft gewährt, zurückkehrt.

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«Du neugieriger Mensch! Was soll ich mit dir machen?» fragt Jesus den Petrus auf dem Weg.

«Was du willst; ... aber inzwischen bin ich dabeigewesen.»

Sie treten in das Haus ein, verabschieden die Leute, die sich noch über das Ereignis unterhalten, und begeben sich zum Abendessen.

Petrus ist immer noch neugierig. «Meister, wird sie wirklich ein Kind bekommen?»

«Hast du schon einmal gesehen, daß ich etwas verspreche, das sich nicht verwirklicht? Glaubst du, daß ich es mir erlauben würde, das Vertrauen in den Vater auszunützen, um zu lügen und zu enttäuschen?»

«Nein... aber... Du könntest es bei allen Eheleuten so machen?»

«Ich könnte es. Ich tue es jedoch nur, wo ich sehe, daß ein Kind die Eltern zur Heiligkeit führt. Wo es hingegen ein Hindernis darstellen würde, greife ich nicht ein.»

Petrus wühlt nachdenklich in seinen grauen Haaren und schweigt.

Der Hirte Joseph kommt herein. Er ist ganz mit Staub bedeckt, als ob er einen weiten Weg hinter sich hätte.

«Du? Was ist vorgefallen?» fragt Jesus nach dem Begrüßungskuß.

«Ich habe Briefe für dich. Deine Mutter hat sie mir gegeben; ein Brief ist von ihr selbst. Hier sind sie.»

Joseph übergibt ihm drei kleine Rollen aus feinem Pergament, die mit einem Band zusammengebunden sind. Die größte von ihnen ist sogar versiegelt. Eine Rolle ist nur zugebunden, die dritte hat ein gebrochenes Siegel.

«Dieser hier ist von deiner Mutter», sagt Joseph und weist auf die Rolle mit dem Bändchen. Jesus öffnet sie und liest. Zuerst nur leise, dann mit lauter Stimme: «"An meinen geliebten Sohn, der Friede und Gottes Segen seien mit dir! Zur ersten Stunde der Kalenden des Mondes von Elul kam ein Bote von Bethanien zu mir. Es war Isaak, der Hirte, dem ich in deinem Namen den Friedenskuß gegeben und meinen Dank ausgesprochen habe. Er brachte mir die beiden Briefe, die ich dir sende, und berichtete mündlich, daß der Freund Lazarus von Bethanien dich ersucht, ihm seine Bitte zu erfüllen. Geliebter Jesus, mein gepriesener Sohn und Herr, auch ich möchte dich um zwei Dinge bitten: erstens möchte ich dich daran erinnern, daß du mir versprochen hast, deine arme Mama im Worte zu unterweisen. Und zweitens möchte ich dich bitten, nicht nach Nazareth zu kommen, ohne vorher mit mir gesprochen zu haben."»

Jesus hält inne, steht auf, geht zu Jakobus und Judas und stellt sich zwischen beide. Er umarmt sie beide fest und sagt dann: «"Alphäus ist zur Zeit des letzten Vollmondes in Abrahams Schoß zurückgekehrt, und die Trauer der Stadt war sehr groß."» Die beiden Söhne weinen an der Brust Jesu, der den Brief zu Ende liest: «"In der letzten Stunde hat er nach dir verlangt, doch du warst weit fort. Dies ist jedoch ein Trost für

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Maria, die darin die Vergebung Gottes sieht; das wird auch den Neffen den Frieden geben."

Hört ihr, sie sagt es, und sie weiß, was sie sagt.»

«Gib mir den Brief!» bittet Jakobus.

«Nein, du würdest noch mehr leiden.»

«Warum? Gibt es denn einen größeren Schmerz als den Tod des Vaters ?»

«Hat er uns verflucht?» seufzt Judas.

«Nein, nein, das nicht», sagt Jesus.

«Du sagst so, um uns nicht zu betrüben. Aber es ist doch so!»

«Lies!»

Und Judas liest: «"Jesus, ich bitte dich, und auch Maria bittet dich darum: Komm nicht nach Nazareth, bis die Trauerzeit vorbei ist! Die Liebe zu Alphäus macht die Nazarener gegen dich ungerecht, und deine Mutter weint deswegen. Der gute Freund Alphäus (der Sara) tröstet mich und beruhigt die Stadt. Viel Lärm hat die Erzählung Asers und Ismaels über die Heilung der Frau Chuzas verursacht. Doch Nazareth ist jetzt ein durch die Winde aus verschiedenen Richtungen aufgewühltes Meer. Ich segne dich, mein Sohn, und erbitte von dir den Frieden und den Segen für meine Seele. Friede den Neffen! Deine Mutter."»

Die Apostel trösten die weinenden Brüder und reden mit ihnen. Doch Petrus fragt: «Und die anderen Briefe liest du nicht?»

Jesus bejaht und öffnet die Rolle des Lazarus. Er ruft Simon den Zeloten. Sie lesen miteinander in einer Ecke. Dann öffnen sie die andere Rolle, lesen auch diese und sprechen miteinander. Ich sehe, daß der Zelote Jesus von etwas überzeugen will, was ihm jedoch nicht gelingt.

Jesus geht mit den Rollen in der Hand in die Mitte des Zimmers und sagt: «Hört, Freunde! Wir alle sind eine Familie, und es gibt keine Geheimnisse unter uns. Und wenn Mitleid das Übel verbergen möchte, dann muß die Gerechtigkeit das Gute kundgeben. Hört also, was Lazarus von Bethanien schreibt:

"An den Herrn Jesus, Frieden und Segen! Frieden und Gruß meinem Freund Simon! Ich habe deinen Brief erhalten, und als dein Diener habe ich mein Herz, mein Sein und alles, was ich habe, in deinen Dienst gestellt, um dich zufriedenzustellen und die Ehre zu haben, dir kein unnützer Knecht zu sein. Ich bin zu Doras gegangen, in sein Schloß in Judäa, und habe ihn gebeten, mir seinen Diener Jonas zu verkaufen, wie es dein Wunsch ist. Ich muß bekennen: wenn es nicht wegen der inständigen Bitte Simons, deines Freundes, gewesen wäre, hätte ich diesen unberechenbaren, groben und gemeinen Schakal niemals aufgesucht. Aber für dich, mein Meister und Freund, fühle ich mich fähig, auch dem Teufel entgegenzutreten; denn ich meine, daß, wer für dich arbeitet, dich in seiner Nähe hat und somit beschützt wird. Und beschützt war ich in der Tat;

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denn aller Voraussicht zum Trotz habe ich gesiegt. Hart war der Wortwechsel und betrübend die ersten Reaktionen. Dreimal mußte ich mich diesem heimtückischen Mächtigen beugen. Dann ließ er mich einige Tage warten. Endlich kam die Antwort. Einer Natter würdig! Ich wage es kaum zu sagen: 'Gib nach, um des Zweckes willen.' Denn er ist nicht wert, dich zu haben. Doch es gibt keinen anderen Weg. In deinem Namen habe ich angenommen und unterschrieben. Wenn ich es falsch gemacht habe, dann tadle mich. Doch glaube mir: ich habe versucht, dir so gut als möglich zu dienen. Gestern kam einer deiner Jünger aus Judäa, der sagte, er käme in deinem Namen, um zu erfahren, ob Nachrichten für dich zu überbringen seien. Er nannte sich Judas von Kerioth. Doch ich zog es vor, Isaak abzuwarten, um ihm den Brief zu geben. Und ich wunderte mich, daß du jemand anderen geschickt hast, da du doch wissen mußt, daß Isaak jeden Sabbat hierher kommt, um sich auszuruhen. Anderes habe ich dir nicht mitzuteilen. Ich küsse deine heiligen Füße und bitte dich, sie zu deinem Diener und Freund zu lenken, wie du es versprochen hast. Grüße an Simon. Dir, Meister und Freund, einen Friedenskuß und die Bitte um deinen Segen! Lazarus."

Und jetzt der andere Brief: "Sei gegrüßt, Lazarus. Ich habe mich entschlossen. Für die doppelte Summe kannst du Jonas haben. Doch stelle ich diese Bedingung, von der ich auf keinen Fall abgehen werde: ich will, daß Jonas zuvor noch die Ernte einbringen hilft. Er kann dann beim Mond des Tischri im Morgengrauen abgeholt werden. Ich verlange aber, daß Jesus von Nazareth ihn persönlich abholt. Ich bitte ihn, unter mein Dach zu kommen, damit auch ich ihn kennenlerne. Ich verlange eine sofortige Zahlung nach ordnungsgemäßem Vertrag. Doras."»

«Welche Pest!» schreit Petrus. «Doch wer soll denn zahlen? Wer weiß, wieviel er verlangt, und wir... wir sind immer ohne einen Heller!»

«Simon zahlt, um damit mich und den armen Jonas glücklich zu machen. Er bekommt nur ein Wrack von einem Menschen, der ihm nicht mehr nützlich sein kann. Doch er erwirbt sich ein großes Verdienst für den Himmel.»

«Du? Oh!» Alle sind erstaunt. Auch die Söhne des Alphäus vergessen vor Staunen einen Augenblick ihre Trauer.

«Er ist es! Es ist recht und billig, daß man es erfährt.»

«Es wäre auch recht zu erfahren, warum Judas von Kerioth zu Lazarus gegangen ist. Wer hat ihn denn dorthin geschickt? Du etwa?»

Doch Jesus gibt Petrus keine Antwort. Er ist sehr ernst und nachdenklich geworden. Er sagt nur: «Laßt Joseph sich erquicken, und dann wollen wir uns alle zur Ruhe begeben. Ich werde die Antwort für Lazarus vorbereiten... Ist Isaak immer noch in Nazareth?»

«Er wartet dort auf mich.»

«Dann werden wir alle nach Nazareth gehen.»

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«Nein! Deine Mutter sagt...» Alle sind erregt.

«Schweigt! Ich will es so. Die Mutter spricht mit ihrem Herzen voller Liebe, ich urteile mit meinem Verstand. Ich möchte es so, weil Judas nicht dabei ist. Ich möchte den Vettern Simon und Joseph die Freundeshand reichen und mit ihnen weinen, bevor die Trauerzeit zu Ende ist. Dann kehren wir nach Kapharnaum, nach Genesareth, an den See zurück, um dort das Ende des Mondes des Tischri abzuwarten. Wir werden die beiden Marien mit uns nehmen. Eure Mutter hat nun viel Liebe nötig. Wir werden sie ihr geben. Meine Mutter hat Frieden nötig. Ich bin ihr Friede!»

«Glaubst du, daß in Nazareth ...» fragt Petrus.

«Ich glaube gar nichts!»

«Ah, gut so; denn wenn sie sie belästigen oder ihr Schmerzen bereiten, dann bekommen sie es mit mir zu tun!» sagt Petrus erbost.

Jesus liebkost ihn, doch er ist nachdenklich. Ich möchte sagen, er ist traurig. Dann geht er zu Judas und Jakobus und setzt sich zu ihnen, um sie zu trösten.

Die anderen reden leise, um sie in ihrem Schmerz nicht zu stören.

143. JESUS SCHLIESST IM HAUSE MARIAS DES ALPHÄUS MIT DEM VETTER SIMON FRIEDEN

Der Abend senkt sich in einem herrlichen Abendrot nieder, das zuerst wie erlöschendes Feuer wirkt, dann dunkler wird, bis es die Farbe eines rötlichen Violetts annimmt. Eine einmalige, herrliche Farbe, die den Himmel gegen Westen zeichnet, während der Osten langsam erlischt, um im dunklen Kobaltblau des Himmels zu verschwinden, wo sich bereits die ersten Sterne entzünden und der wachsende Mond sich in seiner zweiten Phase zeigt. Die Landleute beeilen sich heimzugehen, und schon sieht man an den Rauchwölkchen über den niedrigen Häusern von Nazareth, daß auf den Kochstellen bereits das Feuer brennt.

Jesus kehrt in die Stadt zurück, und im Gegensatz zum Wunsch der anderen will er nicht, daß jemand seine Mutter verständige.

«Es wird nichts geschehen. Warum sie vorher aufregen?» sagt er. Nun sind sie bei den ersten Häusern angelangt. Einige Leute grüßen, andere flüstern hinter ihrem Rücken, weitere drehen sich um oder schlagen die Türen zu, wenn die Gruppe der Apostel vorübergeht.

Das Minenspiel des Petrus ist ein wahres Gedicht! Aber auch die anderen sind beunruhigt. Die Söhne des Alphäus wirken wie zwei Verurteilte. Sie gehen mit Jesus voraus, gesenkten Hauptes. Doch sie beobachten alles, und ab und zu schauen sie sich gegenseitig an; dann blicken sie zu Jesus, wie um Verständnis bittend. Er antwortet, als ob nichts Besonderes

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wäre, mit der gewohnten Liebenswürdigkeit auf die Begrüßungen und neigt sich liebevoll den Kindern zu, die in ihrer Einfalt nicht für diesen oder jenen Partei nehmen, sondern immer die kleinen Freunde ihres Jesus sind, der so gut zu ihnen ist.

Besonders eines der Kinder, ein kugelrundes Dickerchen von ungefähr vier Jahren, löst sich von der Hand der Mutter, springt Jesus mit ausgestreckten Ärmchen entgegen und bittet: «Nimm mich, nimm mich!» Und Jesus stellt ihn zufrieden, nimmt ihn auf die Arme und küßt ihn auf den kleinen Mund, der ganz verschmiert ist von einer süßen, saftigen Feige, an der das Kind noch saugt. Der Kleine faßt alle seine kindliche Liebe zusammen, bietet Jesus ein Stückchen seiner Feige an und fordert ihn auf: «Nimm nur, sie ist gut!» Jesus lacht, als ihm das kleine Männchen den Bissen in den Mund steckt. Isaak kommt vom Brunnen mit Krügen beladen. Er sieht Jesus, stellt die Krüge auf den Boden und ruft aus: «Oh, mein Herr!» und eilt Jesus entgegen. «Soeben ist deine Mutter nach Hause gegangen. Sie war bei der Schwägerin. Aber... hast du den Brief nicht bekommen?» fragt er.

«Gerade deswegen bin ich hier. Sag der Mama noch nichts. Zuerst will ich in das Haus des Alphäus gehen.» Isaak sagt klugerweise nichts anderes als: «Ich gehorche dir», nimmt seine Krüge und geht nach Hause.

«Nun wollen wir hingehen. Ihr, meine Freunde, erwartet uns hier. Wir werden uns nicht lange aufhalten.»

«Nein, wirklich. Wir wollen nicht das Haus der Trauer betreten, sondern ziehen es vor, hier draußen zu bleiben. Nicht wahr?» sagt Petrus.

«Petrus hat recht! Wir bleiben auf der Straße, doch in deiner Nähe.»

Jesus gibt dem Willen aller nach. Er lächelt jedoch und sagt: «Sie werden mir nichts antun. Glaubt mir! Sie sind nicht böse. Sie sind nur von menschlichen Gefühlen erfüllt. Laßt uns gehen!»

Nun sind sie auf der Straße zum Hause; sie betreten den Garten. Jesus geht voran, hinter ihm kommen Judas und Jakobus. Jesus betritt die Schwelle der Küche. Maria des Alphäus ist am Herd mit Kochen beschäftigt. Sie weint. In einer Ecke sitzen Simon und Joseph mit anderen Männern. Unter ihnen befindet sich auch Alphäus der Sara. Sie sehen wie stumme Statuen aus. Ob es so Brauch ist? Ich weiß es nicht.

«Der Friede sei mit diesem Haus und der Seele, die es verlassen hat.»

Die Witwe stößt einen Schrei aus und stellt sich mit einer instinktiven, abwehrenden Geste zwischen Jesus und die anderen. Simon und Joseph erheben sich mit finsteren, ungläubigen Gesichtern. Doch Jesus tut, als ob er ihre feindliche Haltung nicht bemerke. Er geht zu den beiden Männern (Simon ist schon ungefähr fünfzig Jahre alt, wenn nicht älter) und streckt ihnen die Hände entgegen. Die beiden sind fassungslos, wagen jedoch nicht, etwas Ungehöriges zu tun. Alphäus der Sara zittert und leidet sichtlich.

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«Simon, du bist nun das Familienhaupt. Warum empfängst du mich nicht? Ich komme, um mit dir zu klagen. Wie gerne wäre ich in der Stunde des Schmerzes bei euch gewesen! Es war nicht meine Schuld, daß ich nicht hier war. Sei gerecht, Simon! Du mußt es zugeben!»

Der Mann verharrt immer noch in seiner abwehrenden Haltung.

«Und du, Joseph, mit dem mir so teuren Namen? Warum nimmst du meinen Kuß nicht an? Wollt ihr mir nicht erlauben, mit euch zu weinen? Der Tod ist ein Band der echten Liebe. Und wir liebten uns! Warum soll

jetzt Zwietracht herrschen?»

«Deinetwegen hatte unser Vater einen so kummervollen Tod», sagt Joseph hart. Und Simon: «Du hättest hierbleiben sollen. Du hast gewußt, daß er im Sterben lag. Warum bist du nicht hiergeblieben? Er hat nach dir verlangt.»

«Ich hätte nicht mehr für ihn tun können, als ich schon getan hatte; ihr wißt es...»

Simon sagt nun einsichtsvoller: «Es ist wahr! Ich weiß, daß du gekommen bist und daß er dich weggejagt hat. Aber er war krank und gekränkt.»

«Ich weiß es, und ich habe deiner Mutter und deinen Brüdern gesagt: "Ich trage es ihm nicht nach, denn ich verstehe sein Herz." Aber über allem steht Gott. Und Gott hat von allen dieses Leiden verlangt: von mir,

der ich gelitten habe, glaubt es mir, als ob mein Fleisch in Stücke zerrissen worden wäre; von eurem Vater, der in diesem großen Leid eine große Wahrheit verstanden hat, die ihm Zeit seines Lebens verborgen geblieben

war; von euch, die ihr durch dieses Leid Gelegenheit habt, ein Opfer darzubringen, das heilsamer ist als das eines geschlachteten Jungtieres; und von Jakobus und Judas, die nun nicht weniger erwachsen sind als du,

mein Simon; auf ihnen lag das größte Gewicht an Schmerz, der sie bedrückte wie ein Mühlstein, und sie sind reif geworden in den Augen Gottes.»

«Welche Wahrheit hat unser Vater erkannt? Eine einzige: daß in seiner

letzten Stunde sein eigenes Blut ihm zum Feind geworden ist», sagt Joseph hart.

«Nein, denn über dem Blute steht der Geist. Er hat den Schmerz Abrahams verstanden, und deshalb ist Abraham ihm zu Hilfe gekommen»,

antwortet Jesus.

«Möge dies wahr sein! Doch wer gibt uns die Gewähr dafür?»

«Ich, Simon. Und mehr noch als ich, der Tod deines Vaters. Hat er mich nicht gesucht? Du selbst hast es gesagt.»

«Ich habe es gesagt, das ist wahr. Er wollte Jesus. Er hat gesagt: "Wenigstens meine Seele soll nicht sterben! Er kann es machen. Ich habe ihn abgewiesen, und nun wird er nicht mehr kommen. O Tod ohne Jesus! Welch ein Schrecken! Warum habe ich ihn weggejagt?" Ja, so hat er

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gesagt. Und er hat hinzugefügt: "Er hat mich oft gefragt: 'Soll ich gehen?" und ich habe ihn weggeschickt... Nun kommt er nicht wieder." Er hat dich gewollt... nach dir verlangt. Deine Mutter hat dich suchen lassen, doch sie konnten dich nicht finden in Kapharnaum, und er hat deswegen sehr geweint. Und mit seiner letzten Kraft hat er die Hände deiner Mutter ergriffen und hat sie nicht mehr fortgehen lassen. Er konnte nur noch stammeln. Aber er hat gesagt: "Die Mutter ist ein wenig vom Sohn. Ich halte die Mutter fest, um etwas von ihm zu haben; denn ich habe Angst vor dem Tod." Mein armer Vater!»

Hier beginnt eine orientalische Szene mit lauten Klagerufen und Schmerzgejammer, an der alle teilnehmen; selbst Jakobus und Judas, die es gewagt haben, einzutreten. Am ruhigsten ist Jesus. Er weint nur lautlos.

«Du weinst? Du hast ihn also geliebt?» fragt Simon.

«Oh, Simon! Du fragst mich das? Wenn ich gekonnt hätte, glaubst du, ich hätte diesen Schmerz zugelassen? Doch ich bin mit dem Vater, aber nicht über dem Vater.»

«Du heilst Sterbende, aber ihn hast du nicht geheilt», sagt Joseph verbittert.

«Er hat nicht an mich geglaubt.»

«Das ist wahr, Joseph,» bemerkt der Bruder Simon.

«Er glaubte nicht, und er konnte seinen Groll nicht überwinden. Ich vermag nichts, wo Unglaube und Haß herrschen. Daher sage ich euch: haßt eure Brüder nicht! Hier sind sie. Ihr Kummer darf nicht von eurem Groll vermehrt werden. Eure Mutter leidet unter diesem weiterbestehenden Haß mehr als unter dem Tod, der von selbst ein Ende nimmt, und mit dem euer Vater den Frieden gefunden hat; denn sein Verlangen nach mir erwirkte ihm die Vergebung Gottes. Ich spreche mit euch nicht von mir und verlange von euch nichts für mich. Ich bin in der Welt, doch ich bin nicht von dieser Welt. Er, der in meinem Innern lebt, entschädigt mich für das, was die Welt mir vorenthält. Ich leide in meiner Menschheit, doch mein Geist erhebt sich über die Erde und jubelt in himmlischen Dingen. Doch sie! ... Fehlt nicht gegen das Gebot der Liebe und des Blutes. Liebt euch! Es ist keine Geringschätzung des Blutes in Jakobus und Judas. Und selbst wenn es der Fall wäre... verzeiht! Betrachtet die Dinge gerechterweise, und ihr werdet sehen, daß sie am stärksten vom Schmerz betroffen sind, weil die Bedürfnisse ihrer gottgeweihten Seelen nicht verstanden werden. Dennoch ist in ihnen kein Haß! Nur das Verlangen nach Liebe. Nicht wahr, meine Vettern?»

Jakobus und Judas, welche die Mutter an ihr Herz drückt, bejahen unter Tränen.

«Simon, du bist der Älteste. Gib ein Beispiel...»

«Ich... meinetwegen... doch die Welt... und du...»

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«Oh, die Welt! Sie vergißt und wechselt mit jedem neuen Tag... Und ich? Komm, gib mir deinen Bruderkuß! Ich liebe dich! Du weißt es. Wirf deine Krusten ab, die dich so hart machen und gar nicht zu dir passen, sondern dir aufgedrückt wurden von einem, der dir fremd ist und nicht so gerecht ist wie du. Urteile immer mit deinem guten Herzen!»

Simon, immer noch etwas widerstrebend, öffnet die Arme. Jesus küßt ihn und führt ihn zu seinen Brüdern. Sie küssen sich unter Tränen und Wehklagen.

«Nun du, Joseph...»

«Nein, bestehe nicht darauf! Ich denke an den Schmerz des Vaters.»

«Wahrlich, du verewigst ihn mit deiner Verbitterung.»

«Was tuts! Ich bin treu!»

Jesus drängt nicht weiter. Er wendet sich an Simon: «Es ist spät geworden, aber wenn du erlaubst... unser Herz brennt darauf, seinen Leichnam zu ehren. Wo ist Alphäus? Wo habt ihr ihn beigesetzt?»

«Hinter dem Hause. Wo der Ölgarten an den Felsen grenzt. Eine würdige Grabstätte!»

«Ich bitte dich, führe mich dorthin! Maria, fasse Mut! Dein Gemahl jubelt, weil er deine Söhne um dich sieht. Bleibt hier! Ich will mit Simon gehen. Seid im Frieden! Joseph, dir sage ich, was ich auch deinem Vater gesagt habe: "Ich zürne dir nicht. Ich liebe dich. Wenn du mich brauchst, rufe mich! Ich werde kommen, um mit dir zu weinen. Leb wohl!"» Und Jesus geht mit Simon hinaus.

Die Apostel sind erstaunt. Doch sie sehen die beiden in gutem Einvernehmen und freuen sich darüber.

«Kommt auch ihr!» sagt Jesus. «Sie sind meine Jünger, Simon. Auch sie möchten deinem Vater Ehre erweisen. Laßt uns gehen!»

Sie gehen zum Ölgarten, und alles ist zu Ende.

144. «DIE GNADE WIRKT IMMER, WO DER GUTE WILLE ZUR GERECHTIGKEIT VORHANDEN IST»

Jesus sagt:

«Wie du siehst, hat sich Simon, der nicht so verstockt ist, wenigstens teilweise der Gerechtigkeit mit heiliger Bereitschaft unterworfen. Er ist nicht sofort mein Jünger oder gar Apostel geworden, wie du ihn in deiner Unkenntnis vor einem Jahr bezeichnet hast; doch er ist nach dieser Begegnung bei Anlaß des Todes des Alphäus wenigstens kein feindlich gesinnter Zuschauer mehr. Er ist der Beschützer seiner wie auch meiner Mutter; ein Mann, der sie, wenn es nötig ist, vor dem Spott der Leute schützt und verteidigt. Nicht stark genug, sich denen entgegenzustellen,

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die mich als verrückt erklärten; noch viel zu sehr Mensch, um sich nicht meinetwegen etwas zu schämen und besorgt zu sein, daß ich seiner Familie schaden könnte, besonders wegen meines Apostolates, das den Sekten so entgegengesetzt ist. Doch er ist schon auf dem guten Weg. Auf diesem wird er nach meinem Opfer fortfahren, immer sicherer werdend, bis er mit seinem Blute für mich Zeugnis ablegen wird. Die Gnade wirkt manchmal wie ein Blitz, manchmal aber auch sehr langsam. Doch dort, wo der gute Wille vorhanden ist, wirkt sie immer.

Geh in Frieden. Bewahre den Frieden inmitten deiner Leiden! Die Vorbereitungszeit auf Ostern hat begonnen, und du trägst für mich das Kreuz. Ich segne dich, Maria vom Kreuze Jesu.»

Später sagt er:

«Nichts von alledem. Mit grenzenloser Liebe und zarter Klugheit mußt du alle annehmen und darfst niemand abweisen. Sich abkapseln würde nur die Neugier vieler noch mehr reizen. Ablehnung wäre Lieblosigkeit. Ich habe es dir gesagt: du wirst die Stadt sein, die man sucht. Nicht alle kommen mit aufrichtigem Herzen? Was tun? Du mußt klug sein, das genügt. Befürchtest du, Zeit zu verlieren? Wer ist der Herr der Zeit? Ich! Also? Auf, auf, ohne Angst, ohne Aufregung, ohne Ungeduld! Du siehst, wie oft ich mein Programm ändern mußte? Und ich war es... Friede, Friede und Liebe für alle, das genügt!»

Mündlich werde ich Ihnen sagen, weshalb diese kleine Lektion.

145. JESUS WIRD IN NAZARETH SCHLECHT EMPFANGEN

Ich sehe einen großen quadratischen Raum. Ich sage Raum, obgleich ich weiß, daß es sich um die Synagoge von Nazareth handelt (wie mein innerer Mahner zu mir sagt), denn außer den nackten Wänden, die gelblich getüncht sind, sehe ich nur auf einer Seite eine Kanzel und ein hohes Lesepult mit Pergamentrollen. Lesepult oder Regal, wie ihr wollt. Es ist eine Art geneigter Tisch, der nur einen Fuß hat und auf dem die Rollen nebeneinanderliegen.

Es sind auch Menschen da, die beten... nicht, wie wir es tun, sondern nach einer Seite gebeugt und die Hände nicht gefaltet, sondern erhoben; ungefähr so wie der Priester sie am Altare hält. Auf der Kanzel und über dem Pult hängen sieben Lampen.

Ich verstehe den Sinn dieser Vision nicht, die für einige Zeit unverändert in mir bleibt. Doch Jesus trägt mir auf, sie niederzuschreiben, und ich tue es.

Ich bin wieder in der Synagoge von Nazareth.

Der Rabbi liest etwas vor. Ich höre die Kantilene seiner näselnden Stimme, aber ich kann die Worte in einer mir unbekannten Sprache nicht verstehen. Unter den Menschen sehe ich Jesus mit den Vettern und anderen, die bestimmt auch mit ihm verwandt sind, die ich jedoch nicht kenne.

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Nach der Lesung wendet der Rabbi der Menge einen fragenden Blick zu. Jesus geht nach vorne und bittet darum, heute die Versammlung leiten zu dürfen.

Ich höre seine schöne Stimme, die den Vers des Isaias liest, der im Evangelium enthalten ist: «Der Geist des Herrn ist über mir...» und ich höre seine Erklärung, in der er sich den Überbringer der Frohen Botschaft nennt, des Gesetzes der Liebe, das die frühere Härte durch die Barmherzigkeit ersetzt; damit alle das Heil erlangen, die durch Adams Schuld in der Seele krank geworden sind und folglich auch im Fleische, da die Sünde immer Laster und das Laster auch körperliche Krankheiten hervorruft. Und damit alle, die Gefangene des Geistes des Bösen sind, Befreiung finden. «Ich bin gekommen, diese Ketten zu zerbrechen, den Weg zum Himmel zu öffnen, den verblendeten Seelen das Licht zu bringen und den tauben Seelen das Gehör zu schenken. Die Zeit der Gnade des Herrn ist da. Sie ist unter euch. Sie ist es, die zu euch spricht. Die Patriarchen haben diesen Tag ersehnt, den die Stimme des Allerhöchsten angekündigt und dessen Stunde die Propheten vorausgesagt haben. Und durch übernatürliche Einwirkung ist ihnen schon kundgetan worden, daß der Morgen dieses Tages angebrochen ist und daß ihr Einzug ins Paradies nicht mehr fern ist. Sie frohlocken darüber im Geiste, sie, die schon heilig sind und denen nur noch mein Segen fehlt, um Bürger des Himmels zu werden. Ihr seht es! Kommt zum Licht, das aufgegangen ist! Legt eure Leidenschaften ab, um gefügig zu werden und Christus nachzufolgen. Habt den guten Willen zu glauben, euch zu bessern und das Heil zu wollen, und das Heil wird euch gegeben werden. Es liegt in meinen Händen. Aber ich schenke es nur denen, die guten Willens sind, es anzunehmen. Denn es wäre Beleidigung der Gnade gegenüber, es denen zu geben, die weiterhin dem bösen Geiste dienen wollen.»

Ein Gemurmel geht durch die Synagoge. Jesus schaut umher. Er liest auf den Gesichtern und in den Herzen und fährt fort: «Ich verstehe, was ihr denkt. Da ich Nazarener bin, glaubt ihr ein Anrecht auf Privilegien zu haben. Doch das ist nur euer Egoismus, nicht die Kraft eures Glaubens. Ich sage euch: wahrlich, kein Prophet wird in seiner 'Vaterstadt gut aufgenommen. Andere Orte haben mich aufgenommen, und viele andere, deren Name für euch ein Ärgernis bedeutet, werden mich mit noch größerem Glauben aufnehmen. Dort werde ich meine Nachfolger finden, während ich hier, in meiner Heimat, nichts tun kann, denn sie ist mir verschlossen und feindlich. Aber ich erinnere euch an Elias und Elisäus. Der erste fand Glauben bei einer Frau in Phönizien, der andere bei einem Syrer. Und bei beiden konnte das Wunder gewirkt werden. Die Leute, die in Israel am Verhungern waren, bekamen kein Brot, und die Aussätzigen fanden keine Reinigung, weil ihr Herz den guten Willen nicht hatte, den der Prophet wie eine Perle suchte. Das wird auch euch

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geschehen, da ihr feindlich und ungläubig dem Worte Gottes gegenüber seid.»

Die Menge beginnt zu schreien und versucht handgreiflich zu werden. Doch die Apostel, die Vettern, Judas, Jakobus und Simon verteidigen Jesus; da jagen die wütenden Nazarener ihn aus der Stadt. Sie verfolgen ihn bis zur Spitze des Berges und drohen ihm nicht nur mit Worten. Doch Jesus wendet sich um und bannt sie mit seinem magnetischen Blick, so daß sie sich nicht bewegen können. Dann schreitet er unbehelligt durch ihre Mitte und verschwindet auf einem Bergpfad.

Ich sehe ein sehr kleines Dorf, das nur aus einer Handvoll Häuser besteht. Wir würden es heute einen Weiler nennen. Es liegt höher als Nazareth, das man tiefer im Tale sieht, ist aber nur einige Kilometer davon entfernt. Eine sehr armselige Ortschaft.

Jesus spricht mit Maria, die auf einem Mäuerlein bei einem Häuschen sitzt. Vielleicht ist es das Haus von Freunden oder zumindest gastfreundlich gesinnter Leute entsprechend den Gebräuchen orientalischer Gastfreundschaft. Jesus hat sich hierher zurückgezogen, nachdem er von Nazareth vertrieben worden war, und er erwartet die Apostel, die in der Nachbarschaft verstreut waren, während er selbst bei Maria weilte.

Mit ihm sind nur die drei Vettern, die sich im Augenblick in der Küche befinden und sich mit einer älteren Frau unterhalten, die Thaddäus "Mutter" nennt. Somit verstehe ich, daß es Maria des Kleophas ist. Es ist eine ältere Frau, und ich erkenne sie wieder; sie war mit der seligen Jungfrau an der Hochzeit von Kana. Sicher hat sich Maria des Kleophas mit ihren Söhnen dorthin zurückgezogen, damit Jesus ungestört mit seiner Mutter sprechen könne.

Maria ist betrübt. Sie hat vom Vorfall in der Synagoge gehört und ist traurig darüber. Jesus tröstet sie. Maria bittet den Sohn, sich von Nazareth fernzuhalten, wo alle gegen ihn sind, selbst die Verwandten, die ihn als einen Narren bezeichnen, der nur Streit und Zwietracht verursache.

Doch Jesus macht eine lächelnde Miene. Es scheint, als ob er sagen wolle: «Es war zu erwarten, Schwamm darüber.» Maria aber ist sehr besorgt. So antwortet Jesus: «Mama, wenn der Menschensohn nur dorthin gehen wollte, wo er geliebt wird, dann müßte er seine Schritte von dieser Erde wenden und zum Himmel zurückkehren. Ich habe überall Feinde. Denn man haßt die Wahrheit, und ich bin die Wahrheit! Doch ich bin nicht gekommen, um bequem Liebe zu finden. Ich bin gekommen, um den Willen des Vaters zu erfüllen und die Menschen zu erlösen. Du bist die Liebe, Mama, meine Liebe, die mich für alles entschädigt. Du, und diese kleine Herde, die sich jeden Tag um einige Schäflein vergrößert, die ich den Wölfen der Leidenschaften entreiße und in den Schafstall Gottes führe. Das ist meine Pflicht. Ich bin gekommen, um diese Aufgabe zu erfüllen, und ich muß sie erfüllen selbst bis zum Zerschellen an den Steinen

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ihrer Herzen, die sich dem Guten verschließen. Erst wenn ich hingeopfert bin und diese Herzen in meinem Blute bade, werde ich sie erweichen können und ihnen mein Zeichen aufdrücken, das jenes des Feindes auslöscht. Mutter, deswegen bin ich vom Himmel herabgestiegen. Ich kann nichts anderes wünschen als dies zu erfüllen.»

«O Sohn! Mein Sohn!» sagt Maria mit klagender Stimme. Jesus liebkost sie. Ich bemerke, daß Maria außer dem üblichen Schleier auch den Mantel über das Haupt gezogen hat. Sie ist ganz verhüllt wie eine Priesterin.

«Ich werde einige Zeit abwesend sein, um dich zufriedenzustellen. Wenn ich in die Nähe komme, werde ich dich benachrichtigen lassen.»

«Sende Johannes! Mir scheint, daß ich in ihm ein Stück von dir sehe. Auch seine Mutter ist voller Sorge um mich und um dich. Sie erhofft, das ist wahr, einen Vorzugsplatz für ihre Söhne. Aber sie ist Frau und Mutter, Jesus! Man muß sie entschuldigen. Sie will auch mit dir darüber sprechen. Doch sie ist dir aufrichtig ergeben. Wenn sie aber vom Menschlichen befreit sein wird, das noch in ihr, in ihren Söhnen wie in den anderen und in allen steckt, dann, mein Sohn, wird sie stark im Glauben sein. Es ist schmerzlich, daß alle von dir ein irdisches Wohl erwarten; ein Wohl, das, wenn nicht menschlich, egoistisch ist. Aber die Sünde mit ihrer Begehrlichkeit beherrscht sie. Noch ist die gesegnete Stunde nicht gekommen - die ich so sehr fürchte, obwohl die Liebe zu Gott und zu den Menschen sie mich ersehnen läßt - in der du die Sünde tilgen wirst. Oh, diese Stunde! Wie zittert das Herz deiner Mutter vor dieser Stunde! Was werden sie dir antun, Sohn? Sohn, Erlöser, dem die Propheten ein so großes Martyrium vorhergesagt haben!»

«Denk nicht daran, Mutter! Gott wird dir in jener Stunde beistehen. Mir und dir wird Gott helfen. Und danach wird Friede sein. Ich sage es dir noch einmal. Nun gehe, denn der Abend wird sich über das Land senken und der Weg ist weit. Ich segne dich!»

146. JESUS MIT DER MUTTER IM HAUSE DER JOHANNA DES CHUZA

Ich sehe Jesus zum Hause Johannas des Chuza gehen. Als der Pförtner ihn von weitem erkennt, stößt er einen Freudenruf aus, in den das ganze Haus einstimmt. Jesus tritt lächelnd und segnend ein.

Johanna eilt aus dem ganz in Blüten stehenden Garten herbei, um die Füße des Meisters zu küssen. Auch Chuza kommt. Er verneigt sich zuerst sehr tief und küßt dann den Saum des Gewandes Jesu. Chuza ist ein schöner Mann, ungefähr vierzig Jahre alt und nicht sehr groß, doch gut

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proportioniert. Er hat schwarze Haare, die an den Schläfen schon einige Silberfäden aufweisen, lebhafte, dunkle Augen, eine bleiche Gesichtsfarbe und dazu einen schwarzen, wohlgepflegten Bart.

Johanna ist größer als ihr Gatte. Von der überstandenen Krankheit ist nur eine Magerkeit übriggeblieben, die jedoch nicht mehr skelettartig wirkt. Sie gleicht jetzt einer geschmeidigen Palme, die als Krone ein schönes Haupt mit sanften, schwarzen Augen hat, und eine Fülle rabenschwarzer Haare, die sehr hübsch frisiert sind. Die glatte, hohe Stirn erscheint noch weißer in der schwarzen Umrahmung, und der kleine, feingezeichnete Mund sticht mit seinem gesunden Rot von den zarten, bleichen Wangen ab, die die Farbe von Kamelienblüten haben. Sie ist eine wunderschöne Frau... und sie ist es, die Longinus auf Kalvaria den Beutel reicht. Dort ist sie erschüttert, ganz verschleiert und weint. Heute hingegen ist sie glücklich, ihr Haupt ist unbedeckt. Doch da ist sie.

«Wem verdanke ich die Freude, dich als Gast zu haben?» fragt Chuza.

«Der Notwendigkeit einer Rast in Erwartung meiner Mutter. Ich komme von Nazareth; und meine Mutter muß für einige Zeit mit mir sein. Ich werde mit ihr nach Kapharnaum gehen.»

«Warum bleibt ihr nicht hier? Ich bin nicht würdig, aber ...» sagt Johanna.

«Du bist wohl würdig. Doch meine Mutter ist nicht allein. Ihre seit einigen Tagen verwitwete Schwägerin ist mit ihr.»

«Das Haus ist groß genug und kann mehr als eine Person beherbergen. Du hast mir soviel Freude geschenkt, daß dir mein ganzes Haus offensteht. Befiehl, mein Herr! Du hast den Tod von diesem Hause ferngehalten und hast meine Rose zum Erblühen gebracht», sagt Chuza, um seine Frau zu unterstützen, die er sehr zu lieben scheint. Ich erkenne es daran, wie er sie anschaut.

«Ich befehle nicht. Doch nehme ich gern an. Meine Mutter ist abgespannt und hat in der letzten Zeit sehr gelitten. Sie hat Angst um mich; und ich möchte ihr zeigen, daß es Menschen gibt, die mich lieben.»

«Oh, bring sie hierher! Ich werde sie wie eine Tochter und als ihre Dienerin lieben», ruft Johanna aus.

Jesus ist einverstanden. Chuza geht hinaus, um sofort Anweisungen zu geben, und die Vision teilt sich: ich sehe Jesus im herrlichen Garten Chuzas, wie er mit Chuza und seiner Gemahlin spricht, und sehe in Nazareth die Ankunft des bequemen und schnellen Wagens, mit welchem Jonathan Maria in Nazareth abholt.

Natürlich gerät die Stadt über dieses Ereignis in Bewegung. Als Maria und ihre Schwägerin, von Jonathan wie zwei Königinnen betreut, den Wagen besteigen, nachdem sie Alphäus der Sara die Schlüssel des Hauses anvertraut haben, wächst das Stimmengewirr an. Der Wagen fährt ab, während Alphäus sich für die schlechte Behandlung Jesu in der Synagoge

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mit den Worten rächt: «Die Samariter sind besser als wir. Seht, wie einer, der zu Herodes gehört, die Mutter Jesu ehrt! Und wir? ... Ich schäme mich, Nazarener zu sein!»

Es entsteht ein wahrer Tumult zwischen den beiden Parteien. Es werden unzählige Fragen an Alphäus gestellt.

«Aber sicher!» antwortet er. «Gäste im Hause des Prokurators. Habt ihr gehört, was sein Verwalter gesagt hat: "Mein Herr bittet dich, sein Haus zu beehren." Beehren, versteht ihr? Und es ist der reiche, mächtige Chuza; seine Frau ist eine königliche Prinzessin. Beehren! Und wir, oder besser, ihr habt mit Steinen nach ihm geworfen. Welch eine Schande!»

Die Nazarener widersprechen nicht, und Alphäus faßt noch mehr Mut. «Ja, wenn man ihn hat, dann hat man alles. Dann braucht man den Rückhalt der Menschen nicht. Doch glaubt ihr, es sei unnütz, Chuza zum Freunde zu haben? Glaubt ihr, es sei ein Vorteil, wenn er euch verachtet? Er ist der Prokurator des Tetrarchen, wißt ihr? Ihr sagt nichts? Handelt wie Samariter gegenüber Christus! Ihr werdet euch den Zorn der Großen zuziehen. Und dann... dann möchte ich euch sehen! Ohne Hilfe des Himmels und ohne Hilfe der Erde! Ihr Törichten! Ihr Bösewichte! Ihr Mißtrauischen!» Der Hagel der Vorwürfe und Warnungen hält an, während die Nazarener sich wie geschlagene Pudel davonschleichen. Alphäus bleibt allein wie ein rächender Erzengel an der Türe des Hauses von Maria stehen...

Es ist schon spät am Abend, als der Wagen Jonathans im Trab der schweren Pferde längs des Sees daherkommt. Die Diener Chuzas, die schon am Portal warten, geben das Signal, kommen mit Lampen herbei und verstärken somit die Helligkeit, für die der Mond gesorgt hat. Johanna und Chuza eilen herbei. Auch Jesus erscheint lächelnd, und hinter ihm folgt die Gruppe der Apostel. Als Maria aussteigt, verneigt sich Johanna bis zur Erde und grüßt demütig: «Lob der Blume aus königlichem Geschlecht! Lob und Segen der Mutter des Erlösers, des Wortes!»

Auch Chuza macht eine Verbeugung, so tief, wie er sie nicht einmal vor Herodes macht, und sagt: «Gepriesen sei diese Stunde, die dich zu mir bringt! Gepriesen seist du, Mutter Jesu!»

Maria antwortet sanft und demütig: «Gepriesen sei unser Erlöser, und gesegnet seien die Guten, die meinen Sohn lieben!»

Sie gehen alle zusammen ins Haus, von lebhaften Ehrenbezeugungen begleitet. Johanna hält Maria an der Hand, lächelt und sagt: «Du wirst mir erlauben, daß ich dir diene, nicht wahr?»

«Nicht mir! Diene ihm und liebe ihn immer! Dann hast du mir alles gegeben. Die Welt liebt ihn nicht. Das ist mein Leiden.»

«Ich weiß. Warum wohl diese Lieblosigkeit in einem Teil der Welt, während andere für ihn ihr Leben geben würden?»

«Weil er für viele das Zeichen des Widerspruchs ist. Weil er das Feuer

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ist, das das Metall reinigt. Das Gold wird rein. Die Schlacken fallen auf den Boden und werden weggeworfen. Das ist mir schon in meiner frühesten Kindheit geoffenbart worden. Und Tag für Tag erfüllt sich die Prophezeiung.»

«Weine nicht, Maria! Wir werden ihn lieben und verteidigen», tröstet sie Johanna. Doch Maria fährt fort, lautlos zu weinen, was nur Johanna bemerkt, die sich mit ihr in einer halbdunklen Ecke niedergelassen hat.

So endet alles.

147. JESUS BEI DER WEINLESE IM HAUSE ANNAS - DAS WUNDER AM GELÄHMTEN KINDE

Alle Dörfer in Galiläa sind bei der fröhlichen Arbeit der Weinlese. Die Männer erklettern hohe Leitern und pflücken die Trauben von den Weinlauben und den Rebstöcken; die Frauen tragen goldene oder rubinrote Trauben in Körben auf dem Kopf zu den Bütten. Lieder, Gelächter und Scherze sind von Hügel zu Hügel, von Garten zu Garten zu hören, und die Luft ist erfüllt von dem Duft des Mostes und dem Gesumme der Bienen, die wie betrunken um die Ranken herumschwirren, an denen noch Trauben hängen, und um die Körbe und die Bütten, in welche die Beeren hineingeschüttet werden, wo sie in der trüben Brühe des Mostes verschwinden. Die Kinder sind saftverschmiert und sehen wie Faune aus; sie zwitschern wie Schwalben über den Wiesen, auf den Hügeln und auf den Straßen.

Jesus ist auf dem Weg zu einem Dorfe unweit des Sees. Ein Dorf in einer Ebene, die wie ein großes Flußbett aussieht, eingebettet zwischen zwei Hügelketten, die nach Norden ziehen. Die Ebene ist gut bewässert, denn ein Fluß (ich nehme an, der Jordan) durchzieht sie.

Jesus kommt auf der Hauptstraße daher und wird von vielen mit dem Ruf: «Rabbi! Rabbi!» begrüßt.

Er segnet und geht weiter.

Vor dem Dorf befindet sich ein reiches Gut, an dessen Eingang zwei alte Eheleute den Meister erwarten. «Tritt ein! Wenn die Arbeit beendet ist, werden alle hierherkommen, um dich zu hören. Wieviel Freude bringst du uns! Sie breitet sich aus wie der Pflanzensaft in den Ranken, und wird zum Wein der Freude für die Herzen. Ist das deine Mutter?» fragt der Herr des Hauses.

«Sie ist es. Ich habe sie mitgebracht, denn sie gehört nun ebenfalls zu meinen Jüngern. Sie ist die letzte in der Reihenfolge der Aufnahme, doch die erste, was die Treue betrifft. Sie ist der Apostel schlechthin! Sie hat mir gepredigt, schon bevor ich geboren wurde... Mutter, komm! Schau,

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zu Beginn meiner Verkündigung war diese Frau so gut zu mir, deinem müden Sohn, daß ich dich nicht vermißte!»

«Der Herr möge dir Gnade schenken, gute Frau!»

«Ich habe Gnade, denn ich besitze den Messias und dich. Komm! Das Haus ist kühl und nicht zu hell. Du kannst ausruhen, denn du wirst müde sein.»

«Mich ermüdet nur der Haß in dieser Welt. Aber ihm nachzufolgen und ihn zu hören, das war mein Wunsch seit meiner frühesten Kindheit.»

«Wußtest du, daß du die zukünftige Mutter des Erlösers sein werdest?»

«O nein. Doch ich hoffte, so lange leben zu dürfen, um ihm dienen zu können; als letzte unter seinen Bekehrten, doch treu! Oh, treu!»

«Du hörst ihn und du dienst ihm. Und du bist die erste. Auch ich bin Mutter und habe Söhne, die sehr gelehrt sind. Wenn ich sie sprechen höre, dann hüpft mein Herz vor Stolz. Und was empfindest du, wenn du ihn hörst ?»

«Ein sanftes Entzücken. Ich versenke mich in mein Nichts, und die Güte, die er selbst ist, erhebt mich. Ich sehe dann mit einfältigem Blick die Ewige Wahrheit, und sie wird in meinem Geist zu Fleisch und Blut.»

«Gepriesen sei dein Herz! Es ist rein, und daher versteht es auch das Wort. Wir sind härter, weil wir voller Schuld sind.»

«Ich möchte darum allen mein Herz schenken, damit die Liebe euch zum Lichte des Verstehens werde. Denn, glaube mir, er ist die Liebe, und ich bin die Mutter, und so ist natürlicherweise auch in mir die Liebe, die alles leicht macht.»

Die beiden Frauen sprechen noch miteinander, während Jesus mit dem Herrn bei den Bütten plaudert, in welche die Traubenleser Körbe über Körbe von Trauben schütten. Die Apostel sitzen im Schatten einer Jasminlaube und essen Weintrauben mit Brot; man sieht, daß es ihnen gut mundet.

Der Tag geht zur Neige und somit auch die Arbeit. Die Tagelöhner haben sich nun alle im weiten ländlichen Innenhof versammelt, wo die Luft voll scharfen Duftes gekelterter Trauben ist. Andere Bauern kommen von den nahen Höfen.

Jesus geht eine kleine Treppe hinauf, die zu einem erhöhten Bogengang führt, unter dem die Vorratssäcke und die Arbeitsgeräte ihren Platz haben. Wie lächelt Jesus, als er die kleine Treppe emporsteigt! Ich sehe dieses Lächeln unter dem Wogen seiner weichen Haare, die eine abendliche Brise bewegt. Ich möchte wissen, warum er so strahlend lächelt. Die Freude dieses Lächelns erfüllt mein Herz, das heute so traurig ist, und erfreut es wie der Wein, von dem der Hausherr gesprochen hat.

Es ist nicht das erstemal, daß er mich heute erfreut. Schon am Morgen. Sie haben mich wegen eines dauernden Seelenkummers weinen sehen - da ist er mir bei der heiligen Kommunion wie üblich bei den Worten "Ecce Agnus Dei" erschienen. Aber er hat sich nicht

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damit begnügt, Sie mit Liebe zu betrachten, Pater, und mir zuzulächeln. Er hat seinen Platz links des Bettes verlassen und ist auf die rechte Seite gekommen, wo er mich mit seinen schmalen Händen fühlbar liebkost und mir gesagt hat: «Nicht weinen!»

Doch nun erfüllt mich sein Lächeln mit Frieden.

Er wendet sich um und setzt sich auf die oberste Stufe der Treppe, die nun zur Tribüne für die glücklichsten Zuhörer wird: die Herren des Hauses, die Apostel und auch Maria, die in ihrer Demut nicht selbst versucht hat, auf einen Ehrenplatz zu gehen, sondern von der Herrin dorthin geführt worden ist. Maria sitzt auf der Stufe unter Jesus, so daß ihr blonder Kopf in der Höhe der Knie des Sohnes ist. Da sie seitlich von ihm sitzt, kann sie Jesus mit ihrem sanften, liebevollen Taubenblick ins Antlitz schauen. Das zarte Profil Mariens hebt sich klar wie Marmor von dem dunklen Hintergrund der Mauer ab.

Weiter unten sitzen die Apostel und die Hausherren. Im Hof sind alle Dorfbewohner versammelt; die einen bleiben stehen, die anderen haben sich bereits auf den Boden und wieder andere auf die Fässer gesetzt. Einige sind sogar auf die Feigenbäume in den vier Ecken des Hofes geklettert.

Jesus spricht langsam. Er läßt dabei eine Hand in einen großen Getreidesack gleiten, der hinter Maria steht. Es scheint, als ob er mit den Körnern spiele oder sie streichle, während er mit der Rechten würdevolle Gesten ausführt.

«Es ist mir gesagt worden: "Komm, o Jesus, um die Arbeit des Menschen zu segnen!" Und so bin ich gekommen. Im Namen Gottes segne ich sie; denn jede redliche Arbeit verdient den Segen des Ewigen Herrn. Doch wie ich schon gesagt habe: die erste Bedingung, um des Segens Gottes würdig zu sein, ist die Redlichkeit in all seinem Tun.

Nun wollen wir miteinander sehen, wann und unter welchen Voraussetzungen die Werke ehrbar sind. Sie sind es, wenn man während der Arbeit im Geiste den Ewigen Gott gegenwärtig hat.

Kann jemand sündigen, der sagt: "Gott sieht mich. Gott hat seine Augen über mir, und es entgeht ihm keine Kleinigkeit meiner Handlungen?" Nein. Denn der Gedanke an Gott ist ein heilsamer Gedanke und hält mehr als alles andere von der Sünde ab. Aber soll man Gott nur fürchten?

Nein! Hört! Es ist euch gesagt worden: "Fürchte den Herrn deinen Gott!" Und die Patriarchen haben gezittert, wie auch die Propheten gezittert haben, wenn das Antlitz Gottes oder ein Engel des Herrn vor ihrem gerechten Geiste erschien. Wahrlich, in Zeiten des göttlichen Zornes mußte die Erscheinung des Übernatürlichen das Herz erzittern lassen. Wer, selbst wenn er rein ist wie ein kleines Kind, zittert nicht vor dem Mächtigen, vor dessen ewiger Herrlichkeit die Engel in Anbetung das paradiesische Alleluja singen? Den unerträglichen Glanz eines Engels mildert Gott mit einem barmherzigen Schleier, um dem menschlichen Auge zu ermöglichen, den

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Engel zu bewundern, ohne daß die Pupillen und der Geist geblendet werden. Was wird also die Anschauung Gottes sein?

Doch das ist so, solange der Zorn dauert. Sobald aber auf den Zorn der Friede folgt und der Gott Israels sagt: "Ich habe es geschworen. Ich stehe zu meinem Bündnis. Hier ist er, den ich sende, und ich bin es selbst, obwohl ich es nicht bin; doch mein Wort nimmt Fleisch an, um Erlösung zu werden", dann muß der Furcht die Liebe folgen. Und nur die Liebe zum Ewigen Gott wird in Freude gewandelt werden, denn die Zeit des Friedens zwischen Gott und dem Menschen ist für die Erde gekommen. Wenn die ersten Frühlingswinde den Blütenstaub des Weinberges verwehen, muß der Landwirt immer noch fürchten, daß Unwetter und Ungeziefer der Frucht schädlich werden können. Doch wenn die frohe Stunde der Weinlese gekommen ist, dann hat alle Furcht ein Ende, und das Herz jubelt, da die Ernte nun sicher ist.

Vorhergesagt durch die Worte der Propheten, ist das Reis aus dem Geschlechte Jesse entsprossen. Nun ist er unter euch. Herrliche Traube, die euch den Saft der Ewigen Weisheit bringt und nichts anderes verlangt, als geerntet und gekeltert und Wein für die Menschen zu werden! Wein endloser Freude für jene, die sich mit ihm nähren. Jedoch wehe dem, dem dieser Wein angeboten worden, und von ihm zurückgewiesen wird, und dreimal wehe dem, der ihn, nachdem er ihn genossen, ausgespieen oder in seinem Innern mit den Speisen Satans vermischt hat!

Und nun kehre ich zum Ausgangspunkt zurück. Die erste Bedingung, um den Segen Gottes zu bekommen, sei es für geistige oder für leibliche Werke, ist die Redlichkeit der Absicht.

Redlich ist, wer sagt: "Ich befolge das Gesetz, nicht um von den Menschen gelobt zu werden, sondern aus Treue zu Gott." Redlich ist, wer sagt: "Ich folge Christus nach, nicht der Wunder wegen, die er wirkt, sondern der guten Ratschläge wegen, die er uns für das ewige Leben gibt." Redlich ist, wer sagt: "Ich arbeite nicht aus Gier nach Gewinn, sondern weil Gott uns die Arbeit als Mittel der Heiligung aufgrund ihres bildenden, abtötenden, vorbeugenden und erhöhenden Wertes gegeben hat. Ich arbeite, um meinem Nächsten helfen zu können. Ich arbeite, um die Wunder Gottes ins Licht zu setzen, des Gottes, der aus einem winzigen Korn eine reiche Ähre bildet, aus einem Samen der Weintraube einen großen Rebstock, aus einer Nuß einen Nußbaum und aus mir, einem armen Menschen, einem Nichts, das nach seinem Willen aus dem Nichts erschaffen wurde, seinen Gehilfen in der unermüdlichen Arbeit, um die Kornfelder, Weinberge und Obstgärten fortzubestehen, sowie die Erde zu bevölkern."

Es gibt Menschen, die wie Lasttiere arbeiten. Jedoch ohne eine andere Religion als diese: ihren Reichtum zu vermehren. Stirbt an ihrer Seite der weniger begünstigte Nachbar vor Hunger und Entbehrung? Verhungern die Söhne dieses Unglücklichen? Was kümmert das den gierigen Häufer

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des Reichtums? Da gibt es andere, die noch härter sind, die nicht arbeiten, sondern arbeiten lassen und Reichtümer anhäufen mit dem Schweiß der anderen. Da gibt es weiterhin solche, die vergeuden, was sie aus den Mühen der anderen herausgequetscht haben. Für sie ist die Arbeit eine Schande. Sagt nur nicht: "Und Gott schützt sie." Nein! Er schützt sie nicht. Heute können sie eine Stunde des Sieges feiern. Doch bald werden sie die Strenge Gottes zu spüren bekommen, die ihnen noch in diesem irdischen Leben oder aber in der Ewigkeit das Gebot in Erinnerung rufen wird: "Ich bin der Herr dein Gott. Liebe mich über alles und deinen Nächsten wie dich selbst!"

Oh, wenn diese Worte in der Ewigkeit ertönen, dann werden sie furchtbarer sein als die Blitze auf dem Sinai!

Viele, zu viele Worte sagt man euch. Ich sage euch nur dies: Liebt Gott! Liebt den Nächsten! Sie sind wie die Arbeit, die die Furche, die zur Frühjahrszeit um den Weinstock herum gegraben wird, fruchtbar werden läßt. Die Gottes- und Nächstenliebe sind wie die Egge, die die Scholle vom Unkraut der Eigensucht und der bösen Leidenschaften reinigt; wie die Hacke, die einen Graben um die Pflanze gräbt, damit sie nicht von den Schmarotzergewächsen befallen wird und mit frischem Wasser genährt werden kann. Sie ist wie das Messer, das die überschüssigen Ranken beschneidet, um die Lebenskraft der Pflanze zu stärken und sie derart zu leiten, daß sie Früchte bringt; wie das Band, das die Pflanze an den Pfahl bindet; und es ist endlich wie die Sonne, die die Früchte des guten Willens zum Reifen bringt und aus ihnen Früchte des ewigen Lebens macht.

Nun freut ihr euch, denn das Jahr war gut, die Ernte reich und die Weinlese ausgiebig. Doch in Wahrheit sage ich euch, diese eure Freude ist geringer als ein winziges Sandkorn im Vergleich zur maßlosen Freude, die euch erwartet, wenn der ewige Vater zu euch sagen wird: "Kommt, ihr fruchtbaren Ranken, die ihr mit dem wahren Weinstock verbunden seid! Ihr seid zu jedem Werk bereit gewesen, auch zu schmerzhaften, um reiche Frucht zu bringen, und ihr kommt zu mir voll süßer Säfte der Gottes- und Nächstenliebe! Blüht in meinen Gärten für die ganze Ewigkeit."

Erstrebt diese ewige Freude! Strebt mit Treue diesem Gut zu und preist mit Dankbarkeit den Ewigen, der euch hilft, es zu erreichen! Preist ihn für die Gnade seines Wortes und lobt ihn für die Gnade der reichen Ernte! Liebt mit Dankbarkeit den Herrn und fürchtet euch nicht! Gott vergilt die Werke aller, die ihn lieben, mit einem hundertfachen Lohn.»

Jesus hat geendet. Aber alle rufen: «Segne uns, segne uns! Gib uns deinen Segen!»

Jesus erhebt sich, breitet die Arme aus und ruft mit sehr lauter Stimme aus: «Der Herr segne euch und behüte euch! Er zeige euch sein Angesicht und habe Erbarmen mit euch! Der Herr zeige euch sein Antlitz und gebe

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euch seinen Segen! Der Name des Herrn sei in eurem Herzen, über euren Häusern und über euren Feldern!»

Die kleine versammelte Schar jubelt dem Messias zu. Doch dann verstummt sie, teilt sich und läßt eine Mutter durchgehen, die auf den Armen einen etwa zehn Jahre alten gelähmten Jungen trägt. Am Fuße der Treppe angelangt, hält sie das Kind in die Höhe, als wolle sie es Jesus darbieten.

«Sie ist eine meiner Mägde. Der Knabe fiel im vergangenen Jahr von der hohen Terrasse und brach sich das Kreuz. Er wird nun das ganze Leben auf dem Rücken liegen müssen», erklärt der Herr.

«Sie hat all die letzten Monate auf dich gehofft,» sagt die Herrin.

«Sag ihr, sie möge zu mir kommen.»

Doch die arme Frau ist so erregt, daß es aussieht, als wäre sie gelähmt. Sie zittert am ganzen Leibe und stolpert über ihr eigenes langes Kleid, als sie mit dem Kind in den Armen die hohen Stufen hinaufsteigt.

Maria steht mitleidig auf und geht der Frau mit dem Kind entgegen. «Komm, habe keine Angst! Mein Sohn liebt dich. Gib mir dein Kind! Dann kannst du besser hinaufsteigen. Komm, meine Tochter! Auch ich bin eine Mutter!» Und sie nimmt ihr den Knaben ab, dem sie sanft zulächelt, und geht nun mit der Mitleid erregenden Last auf ihren Armen die Treppe hinauf. Die Mutter des Jungen folgt ihr weinend.

Maria steht nun vor Jesus. Sie kniet nieder und sagt: «Sohn! Um dieser Mutter willen!» Sonst nichts.

Jesus fragt nicht einmal wie gewöhnlich: «Was willst du, daß ich für dich tue? Glaubst du, daß ich es tun kann?» Nein, heute lächelt er nur und sagt: «Frau, komm hierher!»

Die Frau geht an die Seite Marias. Jesus legt eine Hand auf ihr Haupt und sagt nur: «Freue dich!» und er hat noch nicht zu Ende gesprochen, als der Knabe, der bis dahin schwer auf den Armen Marias gelegen hatte mit regungslosen Beinen, sich mit einem Ruck aufsetzt, um mit dem Freudenschrei: «Mama!» an die mütterliche Brust zu flüchten.

Die Hosanna-Rufe scheinen bis zum Himmel zu steigen, der in der Abendröte glüht. Die Frau hat ihren Knaben ans Herz gedrückt und fragt: «Was muß ich tun, um dir zu bezeugen, wie glücklich ich bin?»

Jesus liebkost sie noch einmal: «Gut sein, Gott und deinen Nächsten lieben und in dieser Liebe auch deinen Sohn erziehen.»

Doch die Frau ist noch nicht zufrieden. Sie möchte... sie möchte... und endlich bittet sie: «Deinen Kuß und den Kuß deiner Mutter für mein Kind!»

Jesus beugt sich und küßt den Jungen. Maria tut dasselbe. Und während die Frau strahlend davoneilt, von beifallklatschenden Freunden gefolgt, erklärt Jesus der Hausherrin: «Es bedurfte nicht mehr. Das Kind befand sich in den Armen meiner Mutter. Auch ohne bittende Worte

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hätte ich es geheilt; denn sie ist glücklich, wenn sie eine Not lindern kann und ich will sie glücklich machen.»

Und Jesus und Maria wechseln einen der Blicke, die nur jemand, der sie gesehen hat, verstehen kann, so tief und bedeutungsvoll sind sie!

148. JESUS BEI DORAS - DER TOD DES JONAS

Ich sehe wieder die Ebene von Esdrelon bei Tage, an einem leichtbewölkten Tag, gegen Ende des Herbstes. Es scheint, daß es während der Nacht geregnet hat; einer der ersten Regenfälle der traurigen Wintermonate; die Erde ist feucht, aber nicht schlammig. Es bläst auch ein Wind, ein feuchter Wind, der die gelben Blätter von den Bäumen reißt und mit seinem feuchten Atem in die Knochen dringt.

Auf den Feldern sehe ich vereinzelte Paare von Pflugtieren. Sie wenden mühsam die fette Erde dieser fruchtbaren Ebene, um sie für den Samen vorzubereiten. Es schmerzt mich ganz besonders, mitanzusehen, daß an verschiedenen Stellen Menschen diese Arbeit der Ochsen verrichten müssen. Sie ziehen die Pflugschar mit der vollen Kraft ihrer Arme und Schultern und müssen sich bei dieser harten Arbeit, die selbst jungen Ochsen beschwerlich ist, wie Sklaven abmühen.

Auch Jesus schaut zu und sieht. Und sein Antlitz wird traurig; er ist dem Weinen nahe.

Die Jünger, elf an der Zahl, denn Judas ist noch abwesend und die Hirten sind nicht mehr da, reden miteinander, und Petrus sagt: «Klein, arm und beschwerlich ist auch das Boot... doch hundertmal besser als diese Plage!» Und dann fragt er: «Meister, sind dies wohl schon die Knechte des Doras?»

Simon der Zelote antwortet: «Ich glaube nicht. Die Felder des Doras beginnen hinter dem Obstgarten, wenn ich nicht irre. Wir können sie noch nicht sehen.»

Doch Petrus, wie immer neugierig, verläßt die Straße und schlägt einen Feldweg ein, der zwei Äcker trennt. Auf dem spärlichen Gras sitzen vier magere, schwitzende Landarbeiter. Sie keuchen wegen der Mühe. Petrus fragt sie: «Gehört ihr zu Doras ?»

«Nein, wir gehören zu einem Verwandten von ihm, zu Jochanan. Wer bist du?»

«Ich bin Petrus des Jonas, Fischer in Galiläa bis zum Mond der Ziv. Jetzt gehöre ich zu Jesus von Nazareth, dem Messias der Frohen Botschaft.» Petrus sagt dies mit Ehrfurcht und Stolz, wie wenn einer sagen würde: «Ich gehöre dem hohen und göttlichen Caesar von Rom.» Sein ehrliches Gesicht strahlt in der Freude, sich zu Jesus bekennen zu können.

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«Oh, der Messias! Wo ist er?» fragen die vier Unglücklichen.

«Dort ist er. Der große blonde Herr mit dem dunkelroten Gewand. Derjenige, der gerade hierher blickt und mich lächelnd erwartet.»

«Oh... wenn wir zu ihm hingehen, wird der uns wohl wegjagen?»

«Euch wegjagen? Warum? Er ist der Freund der Unglücklichen, der Armen, der Unterdrückten, und mir scheint, daß ihr zu diesen gehört...»

«Oh, und ob! Nicht so, wie die des Doras. Wir haben wenigstens genug Brot und werden nur gepeitscht, wenn wir die Arbeit unterbrechen; aber...»

«Wenn das schöne Herrchen Jochanan euch hier so redend antreffen würde, würde es euch...»

«Ja, er würde uns peitschen, wie er nicht einmal seine Hunde peitscht ...»

Petrus pfeift bedeutungsvoll. Dann sagt er: «Da ist es wohl besser, zu handeln...» und er legt seine Hände wie einen Trichter an den Mund und ruft laut: «Meister, komm hierher! Hier sind Seelen, die leiden und nach dir verlangen.»

«Was tust du? Ihn! Zu uns! Wir sind doch nur elende Knechte.» Die vier Männer sind außer sich vor Erregung.

«Die Hiebe sind nicht angenehm, und wenn der schöne Pharisäer zufällig daherkommt, dann möchte ich nicht eine Tracht von ihm bekommen...» lacht Petrus und schüttelt den, der die erschrockenste Miene hat.

Jesus eilt mit langen Schritten auf sie zu. Die vier wissen sich nicht zu helfen. Sie möchten ihm entgegengehen, doch die Angst lähmt sie. Arme, menschliche Wesen, welche die menschliche Bosheit derart eingeschüchtert hat! Sie werfen sich zu Boden und beten in dieser Stellung den Meister an, der zu ihnen kommt.

«Der Friede sei mit allen, die mich ersehnen! Wer nach mir verlangt, will das Gute, und ich liebe ihn wie einen Freund. Steht auf! Wer seid ihr?»

Doch die vier wagen kaum, zu Jesus aufzuschauen, und bleiben stumm auf den Knien.

Petrus sagt: «Es sind vier Knechte des Pharisäers Jochanan, eines Verwandten des Doras. Sie möchten mit dir sprechen... doch wenn er hier vorbeikommt, werden sie ausgepeitscht, und daher habe ich dich gebeten zu kommen. Erhebt euch! Er wird euch nicht verschlingen. Habt Vertrauen! Bedenkt, daß er euer Freund ist.»

«Wir... wir wissen von dir... Jonas hat uns erzählt...»

«Ich komme seinetwegen. Ich weiß, daß er mich verkündet hat. Was wißt ihr von mir?»

«... daß du der Messias bist; daß Jonas dich gesehen hat, als du noch ganz klein warst; daß Engel den guten Menschen bei deiner Ankunft den Frieden verkündet haben; daß du verfolgt worden bist, jedoch verschont bliebst und nun deine Hirten besucht hast... und daß du sie liebst. Diese

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letzteren Dinge hat er erst jetzt gesagt. Und wir dachten, wenn er so gut ist und die Hirten liebt und sie aufsucht, so hat er uns gewiß auch ein bißchen lieb... Wir brauchen so sehr einen Menschen, der uns liebt.»

«Ich liebe euch! Habt ihr viel zu leiden?»

«O ja... doch die Knechte des Doras noch viel mehr. Wenn Jochanan uns hier beim Reden erwischte... Doch heute ist er in Gergesa. Er ist noch nicht vom Laubhüttenfest zurückgekehrt. Doch sein Verwalter wird uns heute abend das Essen verteilen, nachdem er unsere Arbeit überprüft hat. Aber das macht nichts. Wir werden die Zeit wieder einholen, wenn wir auf die Essenrast zur sechsten Stunde verzichten.»

«Sag, Lieber, wäre ich nicht imstande, dieses Gerät dort zu handhaben? Ist die Arbeit schwierig?» fragt Petrus.

«Schwierig nicht, aber mühsam. Man braucht Kraft dazu.»

«Die habe ich. Zeige es mir! Wenn ich es fertigbringe, dann kannst du reden und ich mache den Ochsen. Los, Johannes, Andreas und Jakobus, kommt zum Unterricht! Wir wechseln jetzt von den Fischen zu den Bodenwürmern. Los!»

Petrus legt die Hand an den Querbalken. An jedem Pflug sind zwei Männer, einer auf der einen und einer auf der anderen Seite der langen Stange. Petrus beobachtet und macht alle Bewegungen des Landarbeiters nach. Stark wie er ist und noch dazu gut ausgeruht, arbeitet er gut, und der Mann lobt ihn.

«Nun bin ich ein Meister im Pflügen», ruft der gute Petrus zufrieden aus. «Los, Johannes, komm hierher. Ein Stier und ein Jungtier am Pflug. An den anderen Pflug Jakobus und du, stummes Kalb von einem Bruder! Los... hüh-hott!» Und die beiden Pflüge ackern nebeneinander die Erde und ziehen Furchen übers ganze Feld; am Ende desselben wenden sie und machen neue Furchen. Es scheint, als ob die vier Jünger nie andere Arbeit getan hätten.

«Wie gut sind deine Freunde!» sagt der mutigste der Knechte des Jochanan. «Sind sie durch dich so gut geworden?»

«Ich habe eine Richtschnur für ihre Güte aufgestellt. Wie du beim Beschneiden der Obstbäume. Doch die Güte war in ihnen. Nun ist sie zum Erblühen gekommen, denn es ist jemand da, der dafür sorgt.»

«Sie sind auch demütig, deine Freunde, wenn sie uns armen Knechten einen solchen Dienst erweisen.»

«Mit mir kann nur sein, wer die Demut, die Sanftmut, die Enthaltsamkeit, die Ehrlichkeit und die Liebe liebt; vor allem die Nächstenliebe! Denn wer Gott und den Nächsten liebt, hat folglich alle anderen Tugenden und erreicht den Himmel.»

«Könnten auch wir ihn verdienen, wir, denen keine Zeit bleibt, zum Tempel zu gehen oder zu beten, und die nicht einmal den Blick von der Scholle erheben dürfen?»

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«Antwortet mir: tragt ihr in euch Haß gegen den, der euch so hart behandelt? Hegt ihr Auflehnung und Vorwürfe gegen Gott, weil er euch unter die Niedrigsten der Erde gereiht hat?»

«O nein, Herr! Das ist eben unser Los. Doch wenn wir auf unser Lager sinken, sagen wir: "Nun, der Gott Abrahams weiß, daß wir erschöpft sind und nichts anderes mehr sagen können, als: 'Gott sei gepriesen!"' und: "Auch heute haben wir leben können, ohne eine Sünde zu begehen ...... Weißt du, wir könnten schon ein wenig betrügen... zum Beispiel zu unserem Brot eine Frucht essen oder unser gesottenes Gemüse mit Öl würzen. Doch der Herr hat gesagt: "Für die Knechte genügt Brot und gesottenes Gemüse und zur Zeit der Ernte etwas Essig im Trinkwasser, um den Durst zu stillen und Kraft zu geben." Und so tun wir es. Außerdem... es könnte uns auch schlechter gehen.»

«Und ich sage euch, der Gott Abrahams hat wahrlich Freude an euren Herzen, während er dagegen sein erzürntes Antlitz jenen zuwendet, die ihn im Tempel mit lügnerischen Gebeten beleidigen, während sie den Nächsten verachten.»

«Doch untereinander lieben sie sich! Wenigstens scheint es so; denn sie ehren sich gegenseitig mit Geschenken und Verneigungen. Nur uns lieben sie nicht. Doch das ist gerecht; wir sind ja nicht ihresgleichen.»

«Nein. Im Reiche meines Vaters ist es nicht gerecht. Dort wird anders geurteilt. Nicht die Reichen und die Mächtigen als solche werden geehrt werden, sondern nur jene, die immer Gott geliebt und ihn über sich selbst und über alle anderen Dinge wie Geld, Macht, Frauen und reiche Tafeln gestellt haben; und wenn sie auch alle Menschen, ob arm oder reich, berühmt oder unbekannt, gelehrt oder unwissend, gut oder böse, geliebt haben. Ja, auch die Bösen muß man lieben. Nicht ihrer Bosheit wegen, sondern aus Mitleid mit ihrer Seele, ihren tödlichen Wunden. Man muß sie lieben mit einer Liebe, die den himmlischen Vater bestürmt, sie zu heilen und zu erlösen. Im Himmelreich werden jene selig sein, die dem Herrn in Wahrheit und Gerechtigkeit gedient und die Eltern und Verwandten mit Ehrfurcht geliebt haben; die auf keinerlei Weise gestohlen haben, das heißt, die gerecht im Geben und in ihren Forderungen waren; die nicht getötet, weder den Ruf noch das Leben, und auch nie den Vorsatz gehabt haben, zu töten - selbst wenn das Verhalten der anderen so grausam war, daß es einem das Herz zerrissen hat; die nicht falsch geschworen und damit dem Nächsten und der Wahrheit geschadet haben; die keinen Ehebruch oder Sünden des Fleisches begangen haben; die immer sanft und ergeben ihr Los ertragen haben, ohne die anderen zu beneiden. Ihrer ist das Himmelreich, und der ärmste Bettler kann dort oben ein seliger König sein, während der Herrscher mit seiner Macht weniger als ein Nichts sein kann; er wird zur Beute Satans, wenn er gegen die ewigen zehn Gebote gesündigt hat.»

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Die Männer hören mit offenen Munde zu. Bei Jesus sind Bartholomäus, Matthäus, Simon, Philippus, Thomas, Jakobus und Judas des Alphäus. Die anderen vier machen weiter mit ihrer Arbeit; sie sind rot und in Schweiß gebadet, doch recht fröhlich. Petrus vermag alle fröhlich zu stimmen.

«Oh, wie hatte Jonas recht, dich "heilig" zu nennen. Alles in dir ist heilig: die Worte, der Blick, das Lächeln. Wir haben noch nie die Seele so gespürt.»

«Habt ihr Jonas schon lange nicht mehr gesehen?»

«Seit er krank ist.»

«Krank?»

«Ja, Meister. Er kann einfach nicht mehr. Er schleppte sich schon zuvor nur noch dahin. Doch seit der Arbeit dieses Sommers und der Ernte kann er nicht mehr aufrecht stehen. Und doch... man zwingt ihn zur Arbeit! Oh, du sagst, man muß alle lieben. Aber es ist sehr schwer, Hyänen zu lieben! Und Doras ist schlimmer als eine Hyäne.»

«Jonas liebt ihn ...»

«Ja, Meister. Und ich sage, er ist heilig wie alle, die aus Treue zu Gott dem Herrn als Märtyrer gestorben sind.»

«Das hast du gut gesagt! Wie heißt du?»

«Michäas, und dies ist Saul, dies Joel und dies Isaias.»

«Ich werde mich eurer Namen beim Vater erinnern. Ihr sagt, Jonas ist schwer krank?»

«Ja. Gleich nach der Arbeit wirft er sich auf die Streu, und wir sehen ihn nicht mehr. Die anderen Knechte des Doras berichteten uns dies.»

«Ist er jetzt bei der Arbeit?»

«Wenn er sich aufrecht halten kann, ja. Er müßte hinter dem Apfelgarten dort sein.»

«Hatte Doras eine gute Ernte?»

«O ja, eine großartige Ernte. Die Pflanzen mußten gestützt werden wegen der wunderbaren Größe der Früchte, und Doras mußte neue Bütten anfertigen lassen, denn die Weintrauben hatten in den alten nicht Platz, so reich war die Ernte.»

«Dann wird Doras seinen Diener wohl besonders belohnt haben!»

«Belohnt? Oh, Herr, wie schlecht kennst du ihn.»

«Jonas berichtete mir, daß Doras ihn vor einigen Jahren wegen des Verlustes einiger Weintrauben halbtot geprügelt und ihn wegen der Schulden zum Sklaven gemacht hat. Dieses Jahr, da er wunderbaren Überfluß hat, müßte er ihm doch eine Belohnung geben.»

«Nein! Er hat ihn furchtbar geprügelt und beschuldigt, er hätte in den vorhergehenden Jahren den Boden nicht genügend bearbeitet und daher keine so reiche Ernte wie heuer ermöglicht.»

«Dieser Mensch ist ein Raubtier», ruft Matthäus aus.

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«Nein, er ist ein seelenloser Mensch», sagt Jesus. «Ich muß euch verlassen, meine Söhne, mit meinem Segen. Habt ihr Brot und Speise für heute?»

«Wir haben dieses Brot», und sie zeigen einen dunklen Laib, den sie aus einem am Boden liegenden Säckchen genommen haben.

«Nehmt meinen Anteil. Ich kann euch nichts anderes geben. Doch ich werde heute bei Doras sein, und ...»

«Du bei Doras?»

«Ja, um Jonas abzuholen! Wußtet ihr es nicht?»

«Niemand weiß hier etwas. Aber... sei mißtrauisch, Meister! Du wirst wie ein Lamm in der Höhle des Wolfes sein.»

«Er kann mir nichts antun. Nehmt meine Speise! Jakobus, gib ihnen, was wir haben. Auch unseren Wein. Freut auch ihr euch ein wenig, ihr armen Freunde! Das ist gut für Leib und Seele. Petrus! Gehen wir!»

«Ich komme, Meister. Wir wollen nur noch diese Furche fertigpflügen», und er rennt zu Jesus, vor Anstrengung ganz erschöpft. Er trocknet sich mit dem Mantel, den er abgelegt hatte, den Schweiß und hängt ihn sich wieder um. Er lächelt glücklich. Die vier Knechte können ihm nicht genug danken. «Wirst du nochmals hierher zurückkommen, Meister?»

«Ja, erwartet mich. Grüßt Jonas! Wollt ihr?»

«O ja! Das Feld muß bis zum Abend gepflügt sein. Mehr als zwei Drittel sind schon getan. Gut und schnell! Deine Freunde sind stark. Gott möge euch segnen! Heute ist für uns ein größeres Fest als das der ungesäuerten Brote. Oh, Gott möge euch alle segnen! Alle, alle!»

Jesus geht zum Apfelgarten. Sie durchschreiten ihn und kommen zu den Feldern des Doras. Andere Landarbeiter gehen hinter dem Pflug oder stehen gebeugt, um die Schollen vom Unkraut zu befreien. Doch Jonas ist nicht unter ihnen. Jesus wird erkannt, und die Männer grüßen ihn, ohne von der Arbeit abzulassen.

«Wo ist Jonas?»

«Vor zwei Stunden ist er auf den Schollen zusammengesunken und mußte nach Hause getragen werden. Armer Jonas! Er wird nur mehr wenig zu leiden haben, denn er ist am Ende. Wir werden nie mehr einen so guten Freund haben.»

«Ihr habt mich auf Erden und Jonas in Abrahams Schoß. Die Toten lieben die Lebenden mit doppelter Liebe: mit ihrer eigenen und mit jener, die sie in der Vereinigung mit Gott, der vollkommenen Liebe, empfangen.»

«Oh, geh rasch zu ihm, damit er dich in seinen Leiden sieht!»

Jesus segnet sie und geht.

«Und was tust du nun? Was wirst du Doras sagen?» fragen die Apostel.

«Ich werde hingehen, als ob ich nichts von allem wüßte. Wenn er sich

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ertappt sieht, dann ist er fähig, es Jonas und seinen anderen Knechten zu spüren zu geben.»

«Dein Freund hat recht, er ist ein Schakal», sagt Petrus zu Simon.

«Lazarus sagt immer nur die Wahrheit und nie etwas Böses. Du wirst ihn kennen und lieben lernen», antwortet Simon.

Man sieht nun das Haus des Pharisäers. Breit und niedrig, doch gut gebaut, liegt es inmitten eines bereits abgeernteten Obstgartens. Ein reiches, bequemes Landhaus. Petrus und Simon gehen voraus, um sie anzumelden.

Doras kommt heraus. Ein alter Mann mit einem harten, raubgierigen Gesicht, spöttischen Augen, einem Schlangenmund, der mit einem falschen Lächeln grinst, umrahmt von einem schon fast weißen Bart.

«Heil dir, Jesus!» grüßt er familiär und mit offenkundiger Herablassung.

Jesus sagt nicht: «Friede», sondern: «Dir ebenfalls!»

«Tritt ein! Das Haus steht dir offen. Du bist pünktlich wie ein König.»

«Wie ein ehrbarer Mann», entgegnet Jesus.

Doras lacht wie über einen Witz.

Jesus wendet sich um und sagt zu seinen Jüngern, die nicht zum Eintreten aufgefordert worden sind: «Kommt herein! Dies sind meine Freunde.»

«Sie sollen hereinkommen... aber... ist einer nicht der Zöllner, der Sohn des Alphäus?»

«Es ist Matthäus, der Jünger Christi», erwidert Jesus mit einem Ton in der Stimme, den der andere versteht, worauf er noch spöttischer lacht.

Doras möchte den "armen" Meister aus Galiläa mit dem Glanz seines großen Hauses verblüffen. Es ist prunkvoll, aber kalt. Die Diener scheinen Sklaven zu sein. Sie gehen gebückt, schleichen schnell davon, in ständiger Angst vor Bestrafung. Man spürt, daß in diesem Haus Kälte und Haß herrschen.

Doch Jesus läßt sich weder von der Zurschaustellung der Reichtümer noch durch die Hinweise auf Stellung und Beziehungen beeindrucken. Und Doras, der die Gleichgültigkeit des Meisters bemerkt, nimmt ihn mit sich in den Obstgarten, zeigt ihm seltene Gewächse und bietet ihm von den Früchten an, welche Diener auf goldenen Platten und Schüsseln herbeitragen. Jesus kostet und lobt den Wohlgeschmack der Früchte, die in Fruchtsäften eingekocht sind, wie die schönsten Pfirsiche, teils in natürlichem Zustand aufbewahrt werden; dazu Birnen von außergewöhnlicher Größe.

«Solche Früchte habe nur ich allein in ganz Palästina, und ich glaube, daß es auf der ganzen Sinai-Halbinsel keine gleichwertigen gibt. Ich habe sie von Persien und noch von viel weiter her kommen lassen. Der Transport allein hat mich ein Talent gekostet. Nicht einmal die Statthalter

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haben solches Obst. Vielleicht nicht einmal der Kaiser. Ich zähle die Früchte und will alle ihre Kerne davon haben. Und die Birnen dürfen nur an meinem Tische gegessen werden, da ich nicht will, daß auch nur ein Kern davon verschwindet. Annas sende ich welche, aber nur gekocht, damit sie bestimmt unfruchtbar sind.»

«Es sind aber Pflanzen Gottes. Und die Menschen sind alle gleich!»

«Gleich? ... Nein! Ich... und diese deine Galiläer?»

«Die Seele kommt von Gott, und er erschafft sie für alle gleich.»

«Aber ich bin Doras, der getreue Pharisäer! ...» Er plustert sich auf wie ein Truthahn, als er das sagt.

Jesus schaut ihn an mit seinen Augen, die wie Saphire blitzen und bald Mitleid, bald Strenge widerspiegeln. Jesus ist viel größer als Doras; er überragt in seinem purpurnen Gewand den kleinen, etwas buckligen Pharisäer, der wie vermummt in seinem überweiten, mit großartigen Fransen ausgestatteten Kleid aussieht.

Doras ruft aus, nachdem er sich eine Weile selbstgefällig bewundert hat: «Aber Jesus, wie konntest du Lazarus, den Bruder einer Dirne, in das Haus des Doras, des reinen Pharisäers, schicken? Deinen Freund Lazarus? Das hättest du nicht tun sollen! Weißt du nicht, daß er mit dem Bann belegt ist, weil seine Schwester eine Dirne ist?»

«Ich weiß nur, daß Lazarus und seine Werke untadelig sind.»

«Doch die Welt vergißt die Sünde seines Hauses nicht, und nach ihrer Überzeugung breitet sich die Schande auch auf die Freunde aus. Geh nicht dorthin! Warum bist du kein Pharisäer? Willst du einer werden? ... Ich bin einflußreich... ich kann dich aufnehmen lassen, obwohl du Galiläer bist. Im Synedrium erreiche ich alles. Annas ist in meiner Hand wie dieser Zipfel meines Mantels. Man würde dich mehr fürchten!»

«Ich will nur geliebt werden.»

«Ich werde dich lieben. Siehst du, daß ich dich liebe, da ich dir wunschgemäß Jonas überlasse?»

«Ich habe für ihn gezahlt.»

«Das ist wahr; und ich habe mich sehr darüber gewundert, daß du eine solche Summe aufbringen konntest.»

«Nicht ich, sondern ein Freund für mich.»

«Gut, gut, ich will nicht nachforschen. Ich sage nur: du siehst, daß ich dich liebe und dich zufriedenstellen möchte! Nach dem Mahle werde ich dir Jonas übergeben. Nur für dich bringe ich ein solches Opfer...» und er lacht sein grausames Lachen.

Jesus blickt ihn immer strenger an und kreuzt seine Hände auf der Brust. Sie sind immer noch im Obstgarten und warten auf die Mahlzeit.

«Du mußt mich aber auch zufriedenstellen. Freude für Freude! Ich gebe dir meinen besten Knecht. Ich verzichte somit auf einen künftigen Nutzen. Dieses Jahr hat mir dein Segen - ich weiß, daß du vor der großen

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Hitze gekommen bist - eine reiche Ernte beschert, die meine Besitzungen berühmt gemacht hat. Nun mußt du meine Herden und meine Felder segnen. Dann werde ich im kommenden Jahr Jonas nicht vermissen, und außerdem werde ich Ersatz für ihn finden. Komm, segne! Gib mir die Genugtuung, daß ich in ganz Palästina bekannt werde, daß meine Herden und Scheunen überreich sind. Komm!» und er packt Jesus am Arm und versucht ihn, von Habgier erfaßt, wegzuführen.

Doch Jesus bewegt sich nicht von der Stelle. «Wo ist Jonas ?» fragt er streng.

«Beim Pflügen. Er wollte dies noch für seinen guten Herrn erledigen. Doch bevor das Mahl beendet sein wird, wird er kommen. Komm schon und segne meine Herden, die Felder, die Obstgärten, die Weinberge und die Scheunen! Alles, alles... Oh, wie wird die Ernte im kommenden Jahr ertragreich sein!»

«Wo ist Jonas?» wiederholt Jesus streng.

«Aber ich habe dir doch gesagt, daß er das Pflügen beaufsichtigt. Er ist der erste Knecht und muß nicht arbeiten: er beaufsichtigt!»

«Lügner!»

«Ich? ... Ich schwöre es bei Jahwe!»

«Gotteslästerer!»

«Ich ein Gotteslästerer? Ich, der getreueste der Treuen! Hüte dich!»

«Mörder!» Jesus hat seine Stimme immer mehr erhoben, und das letzte Wort tönt wie ein Donnerschlag.

Die Jünger kommen näher. Die Diener erscheinen ängstlich an den Türen. Das Antlitz Jesu wird unerträglich in seiner Strenge. Die Augen scheinen phosphoreszierende Strahlen auszusenden.

Doras wird für einen Augenblick von Angst überfallen. Er wird kleiner und gleicht einem kleinen Knäuel neben der hohen Gestalt Jesu, die in schweren, roten Wollstoff gekleidet ist. Dann aber überkommt Doras wieder der Hochmut; er bellt mit kreischender Stimme wie ein heulender Wolf: «In meinem Hause befehle ich allein. Hinaus, elender Galiläer!»

«Ich werde dein Haus verlassen, und dich, deine Felder, deine Gerätschaften und deine Weinberge verfluchen... für dieses und die kommenden Jahre!»

«Nein, das nicht! Ja, es ist wahr... Jonas ist krank. Doch er wird gut gepflegt. Nimm deinen Fluch zurück!»

«Wo ist Jonas? Ein Diener soll mich zu ihm führen, sofort! Ich habe für ihn bezahlt; da er für dich nur eine Ware ist, eine Maschine, und ich ihn erworben habe, will ich ihn haben.»

Doras zieht eine goldene Pfeife aus der Brusttasche und pfeift dreimal. Aus allen Teilen des Hauses und des Gutes eilt eine Schar Diener herbei. Sie kriechen beinahe in die Nähe des gefürchteten Gebieters. «Bringt diesem hier Jonas und übergebt ihn ihm... Wohin gehst du?»

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Jesus antwortet nicht. Er geht hinter den Dienern her durch den Garten bis zu den Hütten der Landarbeiter. Sie betreten die Hütte des Jonas. Er ist nur mehr ein Skelett, er keucht vor Fieber, halbnackt auf der Rohrmatte, auf der als Matratze ein geflicktes Gewand und als Decke ein noch zerrissenerer Mantel liegen. Die junge Magd von damals pflegt ihn auch jetzt, so gut es möglich ist.

«Jonas, mein Freund! Ich bin gekommen, dich abzuholen.»

«Du, mein Herr? Ich sterbe... oh, ich bin glücklich, daß du bei mir bist!»

«Treuer Freund, du bist jetzt frei. Du wirst nicht hier sterben. Ich werde dich in mein Haus bringen.»

«Frei? Warum? In dein Haus? Ach ja, du hast mir versprochen, daß ich deine Mutter noch einmal sehen dürfe.»

Jesus ist ganz Liebe; er beugt sich über das Lager des Unglücklichen. Und Jonas scheint sich vor Freude zu beleben.

«Petrus, du bist stark! Hebe Jonas auf, und ihr gebt ihm eure Mäntel. Dieses Bett ist zu hart für seinen Zustand.»

Die Jünger legen sofort ihre Mäntel ab, falten sie und breiten sie auf dem Lager aus. Aus einigen machen sie auch ein Kissen. Petrus legt seine Last, die nur aus Knochen besteht, vorsichtig nieder, und Jesus bedeckt Jonas mit seinem eigenen Mantel.

«Petrus, hast du Geld?»

«Ja, Meister. Ich habe vierzig Denare.»

«Gut, dann laßt uns gehen! Mut, Jonas! Noch eine kleine Mühe, dann wirst du in meinem Hause bei Maria den Frieden finden ...»

«Maria! Ja. Oh! Dein Haus!» In seiner Erschöpfung weint der arme Jonas. Er kann nur noch weinen. «Leb wohl, Frau! Der Herr möge dich um deiner Güte willen segnen!»

«Leb wohl, Herr! Leb wohl, Jonas! Bete, betet für mich!» das Mädchen weint.

Als sie die Schwelle erreichen, steht dort Doras. Jonas überfällt die Angst, und er hält eine Hand schützend vors Gesicht. Doch Jesus legt ihm eine Hand auf das Haupt und geht an seiner Seite hinaus, strenger als ein Richter. Der armselige Zug bewegt sich durch das Hoftor und schlägt den Feldweg ein.

«Das Bett gehört mir. Ich habe dir den Knecht verkauft, aber nicht das Bett!»

Jesus wirft ihm wortlos die Geldbörse vor die Füße. Doras nimmt und entleert sie. «Vierzig Denare und fünf Drachmen, das ist wenig!» Jesus blickt den habgierigen, widerlichen Quäler nur an; es ist unmöglich zu beschreiben, was seine Miene ausdrückt. Er antwortet nicht.

«Sag wenigstens, daß du den Fluch aufhebst.»

Jesus blitzt ihn wiederum an und wirft ihm die Worte zu: «Ich überlasse

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dich unserem Gott vom Sinai!» Dann geht er hochaufgerichtet neben der einfachen Tragbahre her, die von Petrus und Andreas vorsichtig getragen wird.

Doras sieht nun, daß alles nutzlos ist und daß der Fluch bestehen bleibt; er schreit wütend: «Wir werden uns wiedersehen, Jesus! Ich werde dir noch meine Krallen zeigen! Krieg bis zum Tode werde ich mit dir führen! Nimm ruhig diesen Schatten von einem Menschen mit! Er taugt zu nichts mehr. Ich spare somit die Begräbniskosten. Geh, geh, verdammter Satan! Das ganze Synedrium werde ich gegen dich aufhetzen. Satan! Satan!»

Jesus tut, als ob er nicht höre. Die Jünger sind bestürzt. Jesus kümmert sich nur um Jonas. Er sucht die besten und am wenigsten holprigen Wege, bis sie zu einer Kreuzung bei den Feldern Jochanans gelangen. Die vier Landarbeiter eilen herbei, den scheidenden Freund und Meister, der sie segnet, zu grüßen.

Doch der Weg von Esdrelon nach Nazareth ist lang, und es geht mit dieser schonungsbedürftigen Last nur langsam voran. Auf der Hauptstraße ist kein einziger Wagen oder Karren zu sehen. Nichts weit und breit. Sie gehen schweigend weiter. Jonas scheint zu schlafen. Doch er läßt die Hand Jesu nicht los.

Gegen Abend werden sie endlich von einem römischen Militärwagen eingeholt.

«Im Namen Gottes, haltet an!» sagt Jesus und hält den Arm hoch. Die beiden Soldaten halten an. Aus dem Verdeck, das übergezogen worden ist, weil es zu regnen beginnt, schaut ein pompös dekorierter Soldat heraus.

«Was willst du?» fragt er Jesus.

«Ich habe hier einen sterbenden Freund. Ich bitte für ihn um einen Platz auf dem Wagen.»

«Ich dürfte eigentlich nicht... aber steig ein! Wir sind schließlich keine Hunde.»

Die Bahre wird hineingehoben.

«Ist dies dein Freund? Wer bist du?»

«Der Rabbi Jesus von Nazareth.»

«Du? ... Oh!» Der Soldat schaut ihn neugierig an. «Wenn du es wirklich bist ... dann kommt alle herein, so viel Platz haben wir. Doch laßt euch nicht sehen. Die Verordnung lautet so; doch über der Weisung steht die Menschlichkeit. Nicht wahr? Und du bist gut! Ich weiß es. Wir Soldaten wissen alles... Wie ich es erfahren habe? Auch die Steine reden über das Gute und das Schlechte, und wir haben Ohren, um Caesar zu dienen. Du bist kein falscher Christus wie die anderen, die schon vor dir gekommen sind und aufrührerisch und rebellisch waren. Du bist gut. Rom weiß es. Dieser Mensch... ist sehr krank.»

«Ich bringe ihn deswegen zu meiner Mutter.»

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«Oh, sie wird ihn nur kurze Zeit zu pflegen haben. Gib ihm etwas Wein! Hier im Beutel ist welcher. Du, Aquila, gib den Pferden die Sporen, und du, Quintus, gib mir den Honig und die Butter, meine Ration. Sie wird ihm gut tun. Er hustet stark, und der Honig ist Arznei.»

«Du bist gut.»

«O nein, ich bin nur nicht ganz so böse wie viele andere. Ich freue mich, dich bei mir zu haben. Denke an Publius Quintillianus von der Italika. Ich bin in Caesarea stationiert. Doch nun gehe ich nach Ptolomais zur angeordneten Inspektion.»

«Bist du mir nicht feindlich gesinnt?»

«Ich? Ich bin der Feind der Bösen, niemals der Guten. Ich möchte auch gut sein. Sag mir, welche Lehre gibst du uns Männern des Schwertes?»

«Die Lehre ist für alle dieselbe: Gerechtigkeit, Redlichkeit, Mäßigkeit und Mitleid. Pflichterfüllung, ohne Mißbrauch der Macht. Auch in der harten Notwendigkeit der Waffen die Menschlichkeit üben. Sich bemühen, die Wahrheit zu suchen, also Gott, den Einen und Ewigen. Ohne diese Kenntnis bleibt jede Tat ohne Segen und somit ohne ewige Belohnung.»

«Doch was nützt mir nach dem Tode das Gute, das ich getan habe?»

«Wer zum Wahren Gott kommt, findet das Gute im anderen Leben wieder.»

«Werde ich wiedergeboren werden? Kann ich dann Tribun oder sogar Caesar werden?»

«Nein. Du wirst Gott ähnlich werden, mit dem du dich im Himmel in seiner ewigen Seligkeit vereinigst.»

«Wie? Ich im Olymp? Unter den Göttern?»

«Es gibt keine Götter! Es gibt nur den wahren Gott! Den, den ich predige. Den, der dich hört, der deine Güte sieht und dein Verlangen, das Gute kennenzulernen.»

«Das gefällt mir. Ich wußte nicht, daß Gott sich um einen armen heidnischen Soldaten kümmert.»

«Er hat dich erschaffen, Publius, er liebt dich also und möchte dich bei sich haben.»

«Oh, warum nicht? ... Aber... niemand sagt uns etwas über Gott... nie! ...»

«Ich werde nach Caesarea kommen, und du wirst mich hören.»

«O ja! Ich werde kommen, dich zu hören. Hier ist Nazareth. Ich wäre dir gerne noch weiter behilflich; doch wenn man mich sieht ...»

«Wir steigen hier aus, und ich segne dich für deine Barmherzigkeit!»

«Mein Gruß dir, Meister.»

«Der Herr möge sich euch kundtun, Soldaten! Lebt wohl!»

Sie steigen aus und setzen ihren Weg zu Fuß fort.

«Bald wirst du dich ausruhen können, Jonas», ermuntert Jesus.

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Jonas lächelt. Er wird immer ruhiger, je mehr, der Abend sich herniedersenkt und je sicherer er ist, weit von Doras entfernt zu sein.

Johannes geht mit seinem Bruder voraus, um Maria zu benachrichtigen. Als die kleine Gruppe in dem zu dieser Abendstunde wie verlassenen Nazareth ankommt, steht Maria schon an der Schwelle und wartet auf den Sohn.

«Mutter, hier ist Jonas. Er vertraut sich deiner Güte an, um einen Vorgeschmack seines Paradieses zu haben. Bist du nun glücklich, Jonas?»

«Glücklich, glücklich!» murmelt der Erschöpfte wie in Ekstase.

Er wird in den Raum getragen, in dem Joseph gestorben ist. «Du liegst auf dem Bett meines Vaters. Hier ist die Mutter. Und hier bin ich. Siehst du? Nazareth wird zu Bethlehem, und du bist nun der kleine Jesus zwischen zweien, die dich lieben... und alle hier verehren in dir den getreuen Knecht. Die Engel kannst du nicht sehen. Doch sie fliegen über dir mit ihren leuchtenden Flügeln und singen die Worte des Psalms der Geburt.»

Jesus ergießt seine Zärtlichkeit über den armen Jonas, der von Augenblick zu Augenblick immer mehr dahinschwindet. Es scheint, als habe er bis jetzt durchgehalten, nur um hier sterben zu können. Aber er ist selig. Er lächelt und versucht die Hand Jesu und die Marias zu küssen und zu sprechen... zu sprechen; doch die Atemnot hindert ihn daran. Maria tröstet ihn wie eine Mutter. Und er wiederholt: «Ja, ja», mit einem glücklichen Lächeln im ausgemergelten Gesicht.

Die Jünger beobachten schweigend und voll tiefer Rührung die Szene von der Gartentür aus.

«Gott hat deinen lang gehegten Wunsch erfüllt. Der Stern deiner langen Nacht wird nun zum Stern deines Ewigen Morgens. Du kennst seinen Namen», sagt Jesus.

«Jesus, dein Name! Oh, Jesus! Die Engel... Wer singt mir den himmlischen Hymnus? Die Seele hört ihn... aber auch das Ohr möchte ihn hören... Wer läßt mich glücklich einschlafen? ... Ich bin so müde... Viel Mühe und Arbeit habe ich immer ertragen. Viele Tränen habe ich vergossen... viele Beleidigungen erduldet... Doras... ich verzeihe ihm... doch ich will seine Stimme nicht mehr hören, die immer noch in meinen Ohren nachhallt... Sie tönt wie die Stimme Satans bei meinem Sterben. Wer übertönt diese Stimme mit den Worten des Paradieses?»

Es ist Maria, die nach der Melodie ihres Wiegenliedes leise singt: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden», und sie wiederholt es zwei- oder dreimal; denn sie sieht, wie Jonas dabei immer ruhiger wird.

«Doras spricht nicht mehr», sagt er nach einiger Zeit. «Nur noch die Engel. Es lag ein Kind... in einer Krippe... zwischen einem Ochsen und einem Esel, und das Kind war der Messias... und ich habe es angebetet...

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und mit ihm waren Joseph und Maria ...» Die Stimme erlischt in einem kurzen Seufzer, und schließlich hüllt ein tiefes Schweigen alles ein.

«Friede im Himmel dem Menschen guten Willens! Er ist tot. Wir werden ihn in unserer armen Begräbnisstätte beisetzen. Er verdient es, die Auferstehung der Toten an der Seite des Gerechten, meines Nährvaters, erwarten zu dürfen», sagt Jesus.

Und während Maria des Alphäus, die durch irgend jemanden benachrichtigt worden ist, eintritt, endet alles.

149. JESUS IM HAUSE DES JAKOBUS AM SEE MERON

Ich möchte sagen, daß Palästina außer dem See Genesareth und dem Toten Meer noch einen kleinen See oder Teich besitzt, dessen Name mir unbekannt ist.

Was Schätzungen anbetrifft, verstehe ich nichts; doch nach Augenmaß müßte dieses Becken drei Kilometer auf zwei Kilometer betragen. Also nicht besonders groß, wie man sieht. Dieser See ist sehr hübsch in seinen grünen Kranz eingebettet, und seine Oberfläche ist so himmelblau und friedlich, daß er aussieht wie eine blaue Emailplatte, die von verschiedenen blaugrünen Schattierungen durchzogen ist; vielleicht wegen des Flusses, der im Norden einströmt, um dann im Süden wieder den See zu verlassen. Da dieser nicht sehr tief ist, erscheint der Flußlauf wie eine lebendige Ader in diesem stillen Wasser.

Man sieht hier keine Segelboote; nur einige kleine Ruderboote, auf denen der einsame Fischer seine Angelschnur handhabt oder für den einen oder anderen Wanderer, der den Weg abkürzen möchte, den Fährmann spielt. Und Herden, Herden und wieder Herden, die von den Weideplätzen auf den Bergen kommen, da bereits der Herbst begonnen hat, und nun an diesen grünen, fetten Uferwiesen weiden können.

Am südlichen Ende des Sees, der eine ovale Form hat, führt eine Hauptstraße vorbei, die sich von Ost nach West hinzieht; richtiger von Nordost nach Südwest. Die Straße ist in gutem Zustand und stark begangen von Passanten, die sich in die umliegenden Ortschaften begeben.

Auf dieser Straße sehe ich Jesus mit den Seinen daherkommen. Der Tag ist schon weit fortgeschritten, und Petrus bemerkt: «Es wäre besser, nicht erst zu dieser Frau zu gehen. Die Tage werden immer kürzer und unfreundlicher, und Jerusalem ist noch sehr weit entfernt.»

«Wir werden rechtzeitig ankommen. Glaube mir, Petrus, man gehorcht Gott mit einem guten Werk besser als mit der Teilnahme an einer äußeren Zeremonie. Diese Frau preist nun Gott mit allen ihren Kindern, die um das Familienhaupt versammelt sind. Der Vater ist jetzt so geheilt, daß er

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zum Laubhüttenfest in Jerusalem sein kann, während sein Leib zu diesem Zeitpunkt schon mit seinen Bandagen und Balsamdüften im Grabe ruhen müßte. Man darf den Glauben nie zerstören durch die Äußerlichkeit der Handlungen! Nie kritisieren! Wie kannst du dich über die Pharisäer wundern, wenn es dir selbst an Barmherzigkeit fehlt, wenn du dem Nächsten dein Herz verschließest und sagst: "Ich diene Gott, und das genügt?"»

«Du hast recht, Meister. ich bin dümmer als ein Esel.»

«Ich behalte dich bei mir, um dich weise zu machen. Habe keine Angst! Chuza hat mir den Wagen bis fast nach Jabbok zur Verfügung gestellt. Von dort zur Fähre ist der Weg kurz. Er hat so sehr darauf bestanden und vernünftige Gründe angeführt, daß ich nachgegeben habe, obgleich ich behaupte, daß der König der Armen sich mit den Mitteln der Armen bedienen muß. Doch der Tod des Jonas hat eine Verzögerung verursacht, und ich muß nun meine Pläne diesen unvorhergesehenen Umständen anpassen.»

Die Jünger reden über Jonas, beklagen sein armseliges Leben und beneiden ihn wegen seines seligen Todes.

Simon der Zelote murmelt: «Ich habe ihn nicht glücklich machen und dem Meister keinen echten Jünger schenken können, der im langen Martyrium und im unerschütterlichen Glauben herangereift ist... Das tut mir leid. Die Welt braucht viele treue Geschöpfe, die von Jesus überzeugt sind, um die vielen anderen auszugleichen, die ihm nicht glauben und ihn verneinen werden.»

«Lassen wir das, Simon», antwortet Jesus. «Jonas ist nun viel glücklicher und kann tiefer wirken. Du hast für ihn und für mich mehr getan, als irgendein anderer hätte tun können. Auch seinetwegen danke ich dir. Nun weiß er, wer sein Befreier war. Und er segnet dich dafür.»

«Dann muß er aber Doras verfluchen», sagt Petrus.

Jesus schaut Petrus an und fragt: «Glaubst du? Dann bist du im Irrtum. Jonas war ein Gerechter. Nun ist er ein Heiliger. In seinem Leben hat er nie gehaßt und nie verflucht. Und jetzt haßt und verflucht er erst recht nicht! Er blickt aus dem Warteraum zum Paradiese auf und jubiliert, da er bereits weiß, daß der Limbus die Wartenden bald entlassen wird. Er segnet dich.»

«Und Doras... wird dein Fluch wirken?»

«Wie meinst du das, Petrus?»

«Nun, daß er nachdenkt und sich ändert oder daß ihn deine Strafe trifft.»

«Ich habe ihn Gottes Gerechtigkeit anheimgestellt. Ich, die Liebe, habe ihn verlassen.»

«Barmherzigkeit! Ich möchte nicht an seiner Stelle sein.»

«Ich auch nicht.»

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«Und ich auch nicht.»

«Niemand möchte es. Wie wird die Gerechtigkeit des Vollkommenen wohl aussehen?» fragen die Jünger.

«Sie ist Verzückung für die Guten und Feuer für die Satane, meine Freunde. Wahrlich, ich sage euch, das ganze Leben lang Sklave, Aussätziger oder Bettler sein ist königliche Glückseligkeit im Vergleich zu einer einzigen Stunde göttlichen Strafgerichtes.»

«Es regnet, Meister. Was sollen wir tun? Wohin gehen wir?»

Tatsächlich ist der See, in dem sich die bleiernen Wolken des Himmels widerspiegeln, dunkel geworden, und die ersten schweren Regentropfen klatschen auf das Wasser und künden einen Platzregen an.

«Wir müssen in irgendein Haus gehen und im Namen Gottes um Zuflucht bitten.»

«Hoffentlich finden wir jemand, der so gut ist wie der Römer. Ich konnte es kaum glauben... Ich bin ihnen immer aus dem Weg gegangen, als ob sie unrein wären, und nun sehe ich, daß sie... nun, alles in allem... sie sind besser als viele von uns», sagt Petrus.

«Gefallen dir die Römer?» fragt Jesus.

«Eh... ich finde sie nicht schlimmer als wir es sind. Sie sind eben Ausländer.»

Jesus lächelt und sagt nichts. Sie werden von einer jungen Frau eingeholt, die acht Schafe vor sich hertreibt.

«Frau, kannst du uns sagen, wo wir Unterkunft finden können?» fragt Petrus.

«Ich bin die Magd eines armen, alleinstehenden Mannes. Wenn ihr mitkommen wollt... Ich nehme an, mein Herr wird euch in seiner Güte aufnehmen.»

«Gehen wir mit ihr!»

Inmitten der Schafe, die mit ihren fetten Leibern dahintrotten, eilen sie weiter, um dem Regen zu entfliehen. Nun verlassen sie die Hauptstraße, um in einen Weg einzubiegen, der zu einem niederen Haus führt. Ich erkenne das Haus des Bauern Jakobus wieder, dieses Jakobus des Matthias und der Maria, den beiden Waisen aus der Vision im August, wenn ich nicht irre.

«Hier ist es! Geht rasch voran, während ich die Schafe in den Stall bringe! Hinter dem Mäuerchen ist ein Hof und durch diesen gelangt man ins Haus. Er wird in der Küche sein. Achtet nicht darauf, wenn er nicht viel redet... Er hat viel Verdruß.» Die Frau eilt zu einer elenden Hütte zu meiner Rechten. Jesus biegt mit den Seinen nach links ab.

Hier ist die Tenne mit dem Brunnen, dem Backofen im Hintergrund und dem Apfelbaum auf der einen Seite. Und hier ist die weit geöffnete Türe zur Küche, in der ein Feuer brennt und ein Mann ein Ackergerät zu reparieren scheint.

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«Der Friede sei mit diesem Hause! Ich bitte dich für heute Nacht um Unterkunft für mich und meine Freunde», sagt Jesus auf der Türschwelle.

Der Mann hebt den Kopf. «Komm herein!» sagt er, «und Gott möge dir denselben Frieden geben, den du mir wünschest! Aber Friede? Hier? Der Friede ist seit einiger Zeit dem Jakobus nicht wohlgesinnt. Komm herein, komm herein! Kommt alle herein! Das Feuer ist das einzige, was ich euch in Fülle anbieten kann... weil... Oh! ... Aber... aber du, der du nun die Kapuze abnimmst (Jesus hatte sein Haupt mit einem Zipfel des Mantels bedeckt) und den ich nun gut sehen kann... du bist doch... ja, du bist der Rabbi von Galiläa, von dem sie sagen, daß es der Messias sei, der Wunder wirkt. Bist du es? Sag es mir, im Namen Gottes!»

«Ich bin Jesus von Nazareth, der Messias. Kennst du mich?»

«Ich habe dich am vergangenen Vollmond im Hause des Judas und der Anna gehört. Ich war bei den Weinlesern, weil ich arm bin. Eine Kette von Unglücksfällen: Hagel, Ungeziefer, Krankheiten der Gewächse und der Schafe... Für mich, der ich allein mit einer Magd lebe, genügte mein Besitz. Aber nun habe ich Schulden machen müssen, denn ein Unglück kommt nach dem anderen. Um nicht alle meine Schafe verkaufen zu müssen, habe ich bei anderen gearbeitet. Und meine eigenen Felder! Es schien, als ob der Krieg darüber gebraust wäre, so verbrannt waren sie, und die Reben und Ölbäume trugen keine Früchte. Seit meine Frau gestorben ist, es ist nun sechs Jahre her, scheint es, als ob Satan sich hier vergnüge. Siehst du? Ich arbeite mit diesem Pflug. Doch das Holz ist ganz morsch. Was soll ich tun? Ich bin kein Schreiner und nagle und nagle fest, doch es hilft nichts. Und ich muß nun auf jeden Pfennig schauen... Ich werde ein weiteres Schaf verkaufen müssen, um die Ackergeräte reparieren lassen zu können. Das Dach ist undicht; doch die Felder machen mir mehr Sorgen als das Haus. Schade! Die Schafe sind alle trächtig... ich hoffte, wieder eine Herde zusammenzubekommen. Aber ...»

«Ich sehe, daß ich eine Last bin, wo schon eine schwere Last zu tragen ist.»

«Du eine Last? Nein! Ich habe dich reden gehört und... und in meinem Herzen ist zurückgeblieben, was du gesagt hast. Es ist wahr, ich habe ehrlich gearbeitet, und doch... vielleicht war ich doch nicht gut genug. Ich glaube, daß meine Frau besser war; denn sie hatte Mitleid mit allen, die arme Lia, die viel zu früh sterben mußte. Es war zuviel für mich! Ich glaube, der damalige Wohlstand wurde uns vom Himmel ihrer Güte wegen geschenkt. Ich möchte auch gut werden, schon weil du es forderst, und auch, um meine Frau nachzuahmen. Ich verlange nicht viel... nur, daß ich in diesem Haus bleiben kann, in dem sie gestorben ist und ich geboren wurde; daß ich Brot habe für mich und die Magd, die für den Haushalt sorgt und die Schafe hütet, so gut sie kann. Ich habe keine Knechte mehr.

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Ich hatte zwei, das war genug; denn auch ich arbeitete auf den Feldern und für die Oliven. Doch nun habe ich nur mehr für mich allein Brot, und das ist sogar recht knapp!»

«Du sollst dich unsretwegen nicht einschränken!»

«Nein, Meister. Wenn ich auch nur einen Bissen hätte, so würde ich ihn dir geben. Es ist eine Ehre für mich, dich hier zu haben... Ich hätte dies nie erwartet. Doch ich klage dir mein Leid, denn du bist gut und kannst es verstehen.»

«Ja, ich verstehe. Gib mir diesen Hammer! Man macht es nicht so. So zerbricht das Holz. Gib mir auch den Pfriem! Aber erst mußt du ihn glühend werden lassen. So können wir ein Loch in das Holz brennen und den Bolzen ohne Mühe durchstecken. Laß mich nur machen! Ich war Schreiner!»

«Du willst für mich arbeiten? Das niemals!»

«Laß mich nur machen! Du beherbergst mich, und ich helfe dir. Man muß sich gegenseitig lieben und einander nach Möglichkeit helfen.»

«Du schenkst Frieden, gibst Weisheit und wirkst Wunder. Du gibst schon viel, so viel.»

«Ich gebe auch die Arbeit. Auf, gehorche!» Und Jesus, der seine Tunika abgelegt hat, arbeitet schnell und gut an der zerbrochenen Deichsel, bohrt, nagelt, dübelt und prüft, ob alles nun hält. «Das hält noch eine Zeitlang, bis zum nächsten Jahr. Dann könntest du dir einen neuen Pflug anschaffen!»

«Ja, ich glaube es. Der Pflug ist in deinen Händen gewesen und wird zum Segen für meine Erde werden.»

«Nicht deshalb, Jakobus! Du selbst wirst der Segen deiner Erde sein.»

«Warum, mein Herr?»

«Weil du barmherzig bist. Du verschließt dich nicht im Groll des Egoismus und des Neides, sondern nimmst meine Lehre an und setzest sie in die Tat um. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.»

«Womit kann ich dir dienen, Herr? Ich habe beinahe keinen Platz und keine Nahrung für deine Bedürfnisse. Ich habe nur den guten Willen; doch noch nie hat mich meine Armut so sehr bedrückt wie jetzt, da ich dir und deinen Freunden Ehre erweisen möchte.»

«Mir genügt dein guter Wille. Wahrlich, ich sage dir, selbst ein einziges Glas Wasser, das in meinem Namen gereicht wird, hat eine große Bedeutung in den Augen Gottes. Ich war ein müder Wanderer unter dem Regen, und du hast mich aufgenommen. Nun kommt die Stunde der Mahlzeit und du sagst: "Ich biete dir an, was ich habe." Die Nacht bricht herein, und du bietest mir dein Dach an wie einem Freund. Was willst du denn noch mehr tun? Glaube mir, Jakobus: der Menschensohn legt keinen Wert auf eine pompöse Einladung und auserlesene Speisen; er achtet nur

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auf die Gefühle des Herzens. Der Sohn Gottes sagt zum Vater: "Vater, segne meine Wohltäter und alle, die in meinem Namen den Brüdern Barmherzigkeit erweisen!" Das sage ich für dich.»

Die Magd, die mit dem Herrn gesprochen hatte, während Jesus am Pflug arbeitete, kommt nun mit Brot, frischgemolkener Milch, einigen armseligen Äpfeln und einem Teller voller Oliven.

«Ich habe nicht mehr», entschuldigt sich der Mann.

«Oh, ich sehe unter deinen Speisen eine Nahrung, die du nicht sehen kannst. Und damit nähre ich mich; denn sie hat einen himmlischen Geschmack.»

«Du, der Sohn Gottes, nährst dich vielleicht mit einer Speise, die Engel dir bringen. Vielleicht lebst du von einem geistigen Brot.»

«Ja. Die Seele ist wertvoller als der Leib, und dies nicht in mir allein. Doch ich nähre mich nicht mit Engelsbrot, sondern von der Liebe des Vaters und der Menschen. Sie finde ich auch auf deinem Tisch, und ich preise dafür den Vater, der mich liebevoll zu dir geführt hat, und ich segne dich, der du mich mit Liebe aufnimmst und mir Liebe schenkst. Das ist meine Speise: die Erfüllung des Willens meines Vaters.»

«Segne also du und biete an meiner Stelle Gott die Nahrung an! Heute bist du das Haupt meiner Familie, und immer wirst du mein Meister und Freund sein!»

Jesus nimmt die Speise und opfert sie auf; er hält sie auf den Handflächen in die Höhe, und betet dabei einen Psalm, wie ich annehme. Dann setzt er sich, und teilt sie aus.

Damit ist alles zu Ende.

150. RÜCKKEHR ZUR FURT DES JORDANS BEI JERICHO

«Ich wundere mich, daß der Täufer nicht da ist», sagt Johannes zum Meister. Alle sind am Ostufer des Jordans, beim bekannten Übergang, wo einst Johannes taufte.

«Er ist auch nicht am anderen Ufer», bemerkt Jakobus.

«Sie werden ihn wieder eingesperrt haben, um nochmals Lösegeld zu bekommen», meint Petrus. «Sie haben einen schlechten Ruf, gewisse Leute des Herodes!»

«Wir werden den Fluß überqueren und uns erkundigen», sagt Jesus. Sie setzen über und fragen am anderen Ufer einen Fährmann: «Tauft Johannes nicht mehr hier?»

«Nein. Er lebt an der Grenze von Samaria. Soweit ist es gekommen! Ein Heiliger muß sich bei den Samaritern vor den Bürgern Israels schützen! Und dann wundert man sich, wenn sich Gott von euch abwendet?

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Ich wundere mich nur über eines: daß er nicht ganz Palästina wie Sodom und Gomorrha behandelt!»

«Er tut es nicht um der Guten willen, die es immer noch gibt, und wegen jener, die zwar nicht in allem gerecht sind, doch nach der Gerechtigkeit dürsten und die Lehren jener befolgen, die Heiligkeit predigen», antwortet Jesus.

«Zwei also: der Täufer und der Messias. Den ersten kenne ich, denn ich habe ihm hier am Jordan gedient, als ich mit meiner Fähre Gläubige zu ihm ruderte, ohne dafür ein Entgelt zu verlangen; denn er sagt, man solle mit dem gerechten Lohn zufrieden sein. So schien es mir gerecht, mich mit dem Verdienst zufriedenzugeben, den ich durch meine andere Arbeit bekam, und es erschien mir ungerecht, Geld anzunehmen, wenn ich eine Seele zur Reinigung bringen konnte. Die Freunde nannten mich deswegen verrückt. Doch schließlich... Wen geht es etwas an, wenn ich mich mit wenig zufrieden gebe? Außerdem sehe ich, daß ich noch nicht Hungers gestorben bin, und ich hoffe, daß mir bei meinem Tod Vater Abraham zulächeln wird.»

«Du bist auf dem rechten Wege, Mann! Wer bist du?» fragt Jesus.

«Oh, ich habe einen großen Namen und muß selbst darüber lachen, denn andere Weisheit als für das Ruder habe ich nicht. Ich heiße Salomon.»

«Du bist weise genug, um beurteilen zu können, daß man eine Reinigung, an der man mitwirkt, nicht mit Geld beeinträchtigen darf. Ich sage dir, nicht Abraham allein, sondern der Gott Abrahams wird dir bei deinem Tode wie einem treuen Sohn zulächeln.»

«Oh, Gott! Sagst du das im Ernst? Wer bist du?»

«Ich bin ein Gerechter.»

«Dann höre! Ich habe zu dir gesagt, daß es in Israel zwei gibt: einer ist der Täufer, der andere der Messias. Bist du der Messias?»

«Ich bin es.»

«Oh, ewige Barmherzigkeit! Aber ich hörte eines Tages die Pharisäer sagen... Nein, lassen wir das! Ich will meinen Mund nicht beschmutzen. Du bist nicht so, wie sie dich darstellen, diese gespaltenen Zungen!»

«Wohin gehst du, Herr?» Der von der Offenbarung überraschte Mann hat nun eine ganz andere Weise zu reden. Erst war seine Redeweise biedermännisch, nun ist er ein Glaubender, der ganz Anbetung ist.

«Nach Jerusalem über Jericho. Zum Laubhüttenfest gehe ich.»

«Nach Jerusalem? Auch du?»

«Ich bin ein Sohn des Gesetzes. Ich schaffe das Gesetz nicht ab. Ich gebe euch Licht und Kraft, um es vollkommen zu befolgen.»

«Aber in Jerusalem haßt man dich bereits. Ich meine, die Großen, die Pharisäer von Jerusalem. Ich habe dir schon gesagt, daß ich gehört habe ...»

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«Laß sie machen! Sie tun ihre Pflicht; oder das, was sie für ihre Pflicht halten. Und ich tue meine. Wahrlich, ich sage dir, bevor die Stunde kommt, können sie mir nichts antun.»

«Welche Stunde, Herr?» fragen die Jünger und der Bootsmann zugleich.

«Die Stunde des Sieges über die Finsternis.»

«Wirst du bis ans Ende der Welt leben?»

«Nein, es wird eine Finsternis kommen, die schlimmer sein wird als das Erlöschen der Gestirne und der Tod aller Menschen auf unserem Planeten. Und dies wird sein, wenn die Menschen das Licht, das ich bin, auslöschen. Bei vielen ist das Verbrechen schon beschlossen. Leb wohl, Salomon!»

«Ich folge dir, Meister.»

«Nein. Komm in drei Tagen nach Bel Nidrash! Der Friede sei mit dir!»

Jesus geht mit den nachdenklichen Jüngern fort.

«Worüber denkt ihr nach? Habt keine Angst, weder meinet- noch euretwegen! Wir sind durch die Dekapolis und Peräa gekommen, und überall haben wir Landleute bei der Feldarbeit gesehen. Wo die Erde noch mit Stoppeln und Unkraut bedeckt, trocken und hart war, voll von Parasitengewächsen, die der Sommerwind herangetragen und gesät hat mit Samen der Gewächse der trostlosen Wüsteneien: das waren die Felder der Arbeitsscheuen und der Genießer. Anderswo war die Erde vom Pflug schon geöffnet und gereinigt durch das Feuer und durch Hände von Steinen, Wurzeln und Quecken. Was also vorher ungut war infolge unnützen Gewächses, wurde durch die Reinigung des Feuers und der Hacke verändert in Gutes: in Dünger und Salze, die die Fruchtbarkeit fördern. Die Erde muß geklagt haben unter der Schneide des Pfluges, der sie öffnet und durchrüttelt, und unter dem Biß des Feuers, das über ihre Wunden hinfegt. Aber sie wird frohlocken im Frühling und sagen: "Der Mensch hat mich gemartert, um mir eine reiche Ernte zu ermöglichen, die mir Schönheit bringt!" Das sind die Felder der Arbeitswilligen. Und wiederum anderswo waren die Felder schon sauber bestellt, sogar gereinigt von der Asche: ein wahres Brautbett für die Vermählung der Scholle mit dem Samen zu einer fruchtbaren Vereinigung für die Herrlichkeit der Ähren. Das waren die Felder der Hochherzigen in der Vollkommenheit ihres Tuns.

Genauso ist es mit dem Herzen. Ich bin die Pflugschar und mein Wort ist das Feuer zur Vorbereitung des ewigen Sieges.

Es gibt Träge oder Genießer, die noch nicht nach mir verlangen, mich ablehnen, sich in ihren Lastern gefallen und den schlechten Leidenschaften frönen, die ihnen wie blumige Festkleider vorkommen, jedoch nur Leiden und Dornen sind, die die Seele zu Tode verwunden, sie binden und daraus Holz für das Feuer der Hölle machen. So sind Dekapolis und Peräa jetzt... und nicht nur sie! Man bittet mich nicht um Wunder, weil man

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die Schärfe des Wortes und das Brennen des Feuers fürchtet. Doch ihre Stunde wird kommen. Anderswo erträgt man die Schärfe und die Hitze und denkt dabei: "Es tut weh, aber es reinigt mich und macht mich aufnahmefähig für das Gute." Sie sind es, die den Heroismus nicht aufbringen, es selbst zu tun, aber warten wollen, bis ich es an ihnen vollbringe. Das ist der erste Schritt auf meinem Wege. Schließlich gibt es weitere, die durch ihre tagtägliche Mitarbeit meine Arbeit unterstützen und nicht nur gehen, sondern dahinfliegen auf der Straße Gottes. Diese sind die getreuen Jünger; ihr und sie, die da und dort in Israel verstreut leben.»

«Aber wir sind nur wenige, gegen so viele. Wir sind demütige Menschen gegen die Mächtigen. Wie können wir dich verteidigen, wenn sie dir schaden wollen?»

«Freunde, denkt an den Traum Jakobs! Er sah eine unzählbare Engelschar die Leiter, die vom Himmel zum Patriarchen führte, auf- und absteigen. Eine riesige Zahl, und doch war es nur ein Teil der Engelscharen... Nun, selbst wenn all die Engelschöre, die Gott das Alleluja singen, herniedersteigen würden, um mich zu verteidigen, wenn die Stunde da ist, vermöchten sie es nicht. Die Gerechtigkeit muß vollzogen werden.»

«Du meinst wohl, die Ungerechtigkeit! Denn du bist heilig, und wenn sie dir Böses zufügen, dich hassen, dann sind sie ungerecht.»

«Deswegen sage ich, daß einige das Verbrechen schon begangen haben. Wer in Gedanken tötet, ist schon ein Mörder; wer in Gedanken stiehlt, ist schon ein Dieb; wer in Gedanken die Ehe bricht, ist schon ein Ehebrecher; wer in Gedanken Verrat übt, ist schon ein Verräter. Der Vater weiß es, und ich weiß es. Doch er läßt mich gehen. Und ich gehe. Deswegen bin ich gekommen! Doch noch muß das Korn reifen, und es wird noch ein erstes und ein zweites Mal gesät werden, bevor Brot und Wein den Menschen zur Speise gegeben werden.»

«Wird dann ein Freuden- und Friedenfest gefeiert werden?»

«Des Friedens? Ja. Der Freude? Auch. Aber... O Petrus! O meine Freunde! Wie viele Tränen wird es geben zwischen dem ersten und dem zweiten Kelch! Und erst, wenn der letzte Tropfen des dritten Kelches getrunken sein wird, werden die Freude unter den Gerechten und der Friede für die Menschen guten Willens gesichert sein.»

«Und du wirst dabeisein, nicht wahr?»

«Ich? Wann fehlt je bei einer rituellen Feier das Haupt der Familie? Bin ich nicht das Haupt der großen Familie des Christus?»

Simon der Zelote, der noch nicht gesprochen hat, sagt wie zu sich selbst: «Wer ist es, der da mit blutroten Kleidern kommt? Er ist schön in seinem Gewande und schreitet in der Größe seiner Stärke einher. "Ich bin es, der gerecht spricht und beschützt, um zu retten." Warum also sind deine Kleider rot gefärbt und deine Gewänder wie die dessen, der die Kelter

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tritt? "Ich habe allein die Kelter getreten. Das Jahr meiner Erlösung ist gekommen."» (Is 63,1-4)

«Simon, du hast verstanden», bemerkt Jesus.

«Ja, ich habe verstanden, mein Herr.»

Die beiden sehen sich an, die anderen betrachten sie staunend und fragen sich gegenseitig: «Aber spricht er denn von den roten Kleidern, die Jesus auch jetzt trägt, oder vom königlichen Purpur, in den er sich hüllen wird, wenn die Stunde da ist?»

Jesus zieht sich innerlich zurück, und es scheint, als ob er nichts mehr höre. Petrus nimmt Simon zur Seite und fragt ihn: «Du bist weise und demütig; erkläre meiner Unwissenheit deine Worte!»

«Ja, Bruder. Sein Name ist Erlöser. Die Kelche des Freuden- und Friedensmahles zwischen Mensch und Gott, Erde und Himmel, wird er selbst mit seinem Weine füllen, indem er sich selbst keltert im Leiden und aus Liebe zu uns allen. Daher wird er gegenwärtig sein, wenn auch die Mächte der Finsternis dann dem Scheine nach das Licht ausgelöscht haben, das er selbst ist. Oh, man muß diesen unseren Christus sehr lieben, denn viele werden ihm ihre Liebe verweigern. Sorgen wir dafür, daß uns in der Stunde seiner Verlassenheit nicht die davidischen Klagen und Vorwürfe treffen: "Eine Hundemeute (und wir wären darunter) umringt mich."» (Ps 21,17)

«Was sagst du? ... Aber wir werden ihn verteidigen, auf die Gefahr hin, mit ihm zu sterben.»

«Wir werden ihn verteidigen... Doch wir sind Menschen, Petrus. Und unser Mut wird dahingeschwunden sein, bevor seine Gebeine gebrochen werden (Ps 21,15). Ja, uns wird es ergehen wie dem eisigen Wasser des Himmels, das ein Blitz zu Regen schmelzen und der Wind am Boden wieder zu Eis werden läßt. So sind wir! Genau so! Unser augenblicklicher Mut als seine Jünger, den seine Nähe und seine Liebe zu männlichem Eifer entflammen läßt, wird unter dem Blitze Satans und seines Gefolges dahinschwinden. Und was wird von uns übrigbleiben? Nach der harten und notwendigen Prüfung werden uns der Glaube und die Liebe wieder stark machen, und wir werden wie ein Kristall, der den Schliff und den Bruch nicht mehr fürchtet. Doch dies werden wir erst verstehen und können, wenn wir ihn lieben, solange er bei uns ist. Dann, ja, dann hoffe ich, daß wir seinem Wort weder Feinde noch Verräter sein werden.»

«Du bist weise, Simon. Ich bin nicht gelehrt, und ich schäme mich oft, ihm so viele Fragen zu stellen. Und es schmerzt mich sehr, wenn es Dinge zum Weinen sind... Betrachte sein Antlitz! Es scheint, als ob es von einem inneren Weinen gewaschen werde. Betrachte seine Augen. Sie blicken nicht zum Himmel und nicht zur Erde; sie sind auf eine unbeschreibliche Weise offen. Und sein Gang, wie müde und gebeugt ist er! Er scheint durch seine Sorgen gealtert. Ich kann ihn so nicht sehen! Meister, Meister,

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lächle doch! Ich kann dich nicht so traurig sehen. Du bist mir so lieb wie ein Sohn, und ich würde dir meine Brust als Kissen geben, damit du darauf schläfst und von anderen Welten träumst... Oh, verzeih, wenn ich dich "Sohn" nenne. So sehr liebe ich dich, Jesus!»

«Ich bin der Sohn... Das ist mein Name. Aber ich bin nicht mehr traurig. Siehst du? Ich lächle, weil ihr mir Freunde seid. Dort ist auch schon Jericho, ganz rot im Sonnenuntergang. Zwei von euch sollen voraus gehen und eine Unterkunft suchen. Ich werde euch mit den anderen bei der Synagoge erwarten. Geht nun!»

Alles endet, während Johannes und Judas Thaddäus auf die Suche nach einem gastlichen Hause gehen.

151. JESUS IM HAUSE DES LAZARUS - MARTHA SPRICHT ÜBER MAGDALENA

Der Marktplatz von Jericho mit seinen Bäumen und seinen schreienden Händlern. In einer Ecke der Zöllner Zachäus, beschäftigt mit legalen und illegalen Geschäften. Er muß auch Käufer und Verkäufer von Schmucksachen sein, denn ich sehe, daß er etwas wägt und schätzt: Schmucksachen und Gegenstände aus Edelmetall, die ihm - ich weiß es nicht und vermute es nur - vielleicht an Stelle von Geld für Steuerabgaben gegeben oder aus anderem Zwang verkauft wurden.

Nun kommt eine schlanke, in einen großen Mantel eingehüllte Frau. Auch vor dem Gesicht hat sie ein dichtes, gelblich-weißes Damasttuch, das nicht erlaubt, ihr Antlitz zu sehen. Man erkennt nur die Schlankheit des Körpers, die trotz des gräulichen Überwurfs sichtbar ist. Sie muß noch jung sein, nach dem wenigen zu schließen, das man von ihr sieht, und zwar der Hand, die nun zum Vorschein kommt und ein goldenes Armband übergibt. Man sieht auch die mit Sandalen bekleideten Füße, d.h. nur die glatten und jugendlichen Zehen und ein wenig die schmale und schneeweiße Ferse.

Sie reicht ihr Armband wortlos hin, empfängt ohne Handeln und ohne Widerrede das Geld und dreht sich rasch um, um wegzukommen. Ich bemerke nun, daß hinter ihrem Rücken der Iskariot sie aufmerksam beobachtet und ihr beim Weggehen etwas sagt, das ich jedoch nicht verstehen kann. Doch sie antwortet nicht, als wäre sie stumm und geht etwas schwerfällig in ihrem hemmenden Gewand davon.

Judas fragt Zachäus: «Wer ist sie?»

Zachäus antwortet: «Ich frage meine Kunden nie nach dem Namen, besonders nicht, wenn sie so sympathisch sind wie diese Frau.»

«Sie ist noch jung, nicht wahr?»

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«Anscheinend.»

«Aber ist sie aus Judäa?»

«Wer kann das wissen; das Gold ist in allen Ländern gelb.»

«Laß mich das Armband sehen.»

«Willst du es kaufen?»

«Nein.»

«Dann nicht! Was meinst du? Ich gebe keine Auskünfte. Du könntest mich über sie ausfragen?»

«Ich wollte nur sehen, ob ich etwas über sie erfahren könnte aufgrund des Schmuckstückes.»

«So sehr beschäftigt sie dich? Bist du ein Hellseher, der raten kann, oder ein Spürhund, der den Geruch erkennt? Geh weiter, beruhige dich! Eine Frau wie sie ist entweder ehrenwert und unglücklich oder aussätzig. Deshalb... nichts zu machen!»

«Ich habe kein Verlangen nach Frauen», antwortet Judas verächtlich.

«Mag sein... doch deinem Gesicht traue ich wenig. Wenn du also sonst nichts willst, dann geh! Ich muß andere bedienen.»

Judas entfernt sich verärgert; er fragt einen Bäcker und einen Obsthändler, ob sie die Frau kennen, die eben zuvor bei ihnen Brot und Äpfel gekauft hat, und ob sie ihm sagen können, wo sie wohnt. Sie wissen es nicht. Sie antworten: «Sie kommt seit einiger Zeit jeden zweiten oder dritten Tag. Doch wer sie ist und wo sie wohnt, das wissen wir nicht.»

«Wie spricht sie denn?»

«Na, mit dem Munde!»

Judas schimpft und geht von dannen, um direkt mit der Gruppe Jesu und den Jüngern zusammenzutreffen, die ihr Brot und das Nötige für den Tag einkaufen. Beide Seiten sind überrascht, aber nicht gerade begeistert. Jesus sagt nur: «Hier bist du?», und während Judas etwas stammelt, lacht Petrus laut auf und sagt: «Nun ja, ich bin blind und ungläubig. Ich kann hier keine Weinstöcke sehen. Und an ein Wunder glaube ich nicht.»

«Aber was sagst du da?» fragen zwei oder drei Jünger.

«Ich sage die Wahrheit. Hier sind keine Weinberge. Und ich kann nicht glauben, daß Judas in diesem Staube Weinlese halten kann, nur weil er ein Jünger des Meisters ist.»

«Die Weinlese ist schon zu Ende», antwortet Judas trocken.

«Und Kerioth liegt viele Meilen weit entfernt», erwidert Petrus.

«Du forderst mich immer heraus. Du bist mir feindlich gesinnt.»

«Nein. Ich bin nur nicht so dumm, wie du mich haben möchtest.»

«Genug jetzt!» gebietet Jesus. Er ist sehr ernst. Er wendet sich an Judas: «Ich habe dich hier nicht erwartet. Ich hätte dich eher in Jerusalem am Laubhüttenfest vermutet.»

«Morgen will ich hingehen. Ich habe hier nur auf einen Freund der Familie gewartet, der ...»

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«Bitte, genug!»

«Du glaubst mir nicht, Meister? Ich schwöre es dir.»

«Ich habe dich nichts gefragt, und ich bitte dich, nichts zu sagen. Du bist hier, das genügt. Gedenkst du mit uns zu kommen, oder hast du noch etwas zu erledigen? Antworte ohne Umschweife!»

«Nein, ich habe alles erledigt. Nun, da der Erwartete nicht kommt, gehe ich zum Feste nach Jerusalem. Und wohin gehst du?»

«Nach Jerusalem!»

«Noch heute?»

«Heute abend will ich in Bethanien sein.»

«Bei Lazarus?»

«Bei Lazarus.»

«Dann werde auch ich kommen.»

«Ja, du kommst mit, bis nach Bethanien. Von dort werden Andreas, Jakobus des Zebedäus und Thomas nach Gethsemane gehen, um für uns alles vorzubereiten und auf uns zu warten, und du wirst mit ihnen gehen.» Jesus betont so stark, was er sagt, daß Judas es nicht wagt, etwas zu erwidern.

«Und wir?» fragt Petrus.

«Du wirst mit meinen Vettern und Matthäus dahin gehen, wohin ich euch sende, um am Abend wieder zurückzukommen. Johannes, Bartholomäus, Simon und Philippus bleiben bei mir: das heißt, sie gehen nach Bethanien und melden dort, daß der Meister ankommt und um die neunte Stunde zu ihnen sprechen wird.»

Sie gehen eilends durch die abgeernteten Felder. Es ist Gewitterstimmung; nicht am Himmel, sondern in den Herzen. Alle spüren es und ziehen schweigend dahin.

Sie erreichen Bethanien, und da sie von Jericho kommen, stoßen sie schon am Ortseingang auf das Haus des Lazarus. Jesus entläßt eine Gruppe nach Jerusalem, eine andere schickt er nach Bethlehem und sagt: «Geht beruhigt! Auf halbem Wege werdet ihr Isaak, Elias und die anderen treffen. Sagt ihnen, daß ich für längere Zeit in Jerusalem bleibe und sie dort erwarte, um sie zu segnen!»

Inzwischen hat Simon am Gittertor geklopft und Einlaß erhalten. Die Diener melden Lazarus die Ankunft Jesu, der sofort herbeikommt. Judas Iskariot, der sich schon einige Meter entfernt hatte, kommt zurück mit der Entschuldigung: «Meister, ich habe dir mißfallen. Ich habe nachgedacht. Verzeih mir!» er späht dabei durch das offene Tor in den Garten und zum Hause.

«Es ist gut, geh nur! Geh, laß die anderen nicht warten.»

Judas muß schließlich gehen. Petrus brummt: «Er hat sich eingebildet, du würdest deine Anweisungen ändern.»

«Das niemals, Petrus. Ich weiß, was ich tue. Doch du mußt diesen Mann bemitleiden ...»

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«Ich will es versuchen. Aber ich kann es nicht versprechen... Leb wohl, Meister! Komm, Matthäus, und auch ihr beiden! Laßt uns rasch gehen!»

«Mein Friede sei immer mit euch!»

Jesus geht mit den vier übrigen Jüngern in den Hof, und nachdem er Lazarus geküßt hat, stellt er Johannes, Philippus und Bartholomäus vor, die er dann entläßt, um mit Lazarus allein zu sein.

Sie gehen zum Haus. Dieses Mal steht unter dem schönen Portal eine Frau. Es ist Martha. Sie ist nicht so hochgewachsen wie ihre Schwester, doch immer noch groß; außerdem ist sie braun, während die andere blond und rosig ist. Martha ist jedoch eine schöne, junge Frau mit einem wohlproportionierten, rundlichen Körper, einem dunklen Köpfchen mit gebräunter, glatter Stirn, zwei sanften, friedlichen und schwarzen Augen, die von langen dunklen Wimpern beschattet sind, einer leicht nach unten gebogenen Nase und einem sehr roten, kleinen Mund zwischen den gebräunten Wangen. Sie lächelt und zeigt dabei starke, strahlende Zähne.

Sie trägt ein dunkelblaues Kleid mit roten und grünen Borten am Hals und an den bis zu den Ellbogen reichenden Ärmeln, aus denen andere Ärmel, hervorschauen, die aus feinstem Leinen und an den Handgelenken mit einem Kordeldurchzug gerafft sind. Auch am Hals sieht man die feingefältelte Krause mit der Kordel. Als Gürtel dient eine blau-rot-grüne Schärpe aus feinstem Stoffe, die um die Hüfte gelegt ist und auf der linken Seite mit Fransen herabhängt. Ein vornehmes, keusches Gewand.

«Ich habe eine Schwester, Meister; es ist Martha. Sie ist gut und fromm. Sie ist der Trost und die Ehre der Familie und die Freude des armen Lazarus. Früher war sie meine erste und einzige Freude. Nun ist sie die zweite, weil nun du die erste Stelle eingenommen hast.»

Martha verbeugt sich bis zur Erde und küßt den Saum des Gewandes Jesu.

«Friede der guten Schwester und der keuschen Frau! Steh auf!»

Martha steht auf und geht zusammen mit Jesus und Lazarus in das Haus. Dann bittet sie um die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen, um sich um das Haus zu kümmern.

«Die ist mein Friede ...» murmelt Lazarus und betrachtet Jesus. Ein forschender Blick. Doch Jesus tut so, als ob er es nicht bemerke.

Lazarus fragt: «Und Jonas?»

«Er ist tot.»

«Tot? Dann ...»

«Ich habe ihn sterbend übernommen. Er durfte frei und glücklich in meinem Hause in Nazareth zwischen mir und meiner Mutter sterben.»

«Doras hat ihn also zu Tode gequält, bevor er ihn dir überlassen hat.»

«Durch Überanstrengung, ja... aber auch mit Schlägen!»

«Er ist ein Dämon und haßt dich. Er haßt die ganze Welt, diese Hyäne... Hat er es dir nicht selbst gesagt, daß er dich haßt?»

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«Er hat es gesagt.»

«Mißtraue ihm, Jesus! Er ist zu allem fähig. Herr, was hat dir Doras gesagt? Hat er nicht gesagt, daß du mich meiden sollst? Hat er dir den armen Lazarus nicht in ein schlechtes Licht gerückt?»

«Ich glaube, daß du mich zur Genüge kennst, um zu verstehen, daß ich aus mir und mit Gerechtigkeit urteile. Wen ich liebe, den liebe ich ohne abzuwägen, ob die Liebe mir in den Augen der Welt nütze oder schade.»

«Aber dieser Mensch ist gefährlich und nur darauf bedacht zu verletzen und zu schaden. Mich hat er vor einigen Tagen auch gequält. Er ist zu mir gekommen und hat gesagt... Oh, ich habe doch schon so viel Leid! Warum will man auch dich mir entreißen?»

«Ich bin der Trost der Unglücklichen und der Freund der Verlassenen. Ich bin auch deshalb zu dir gekommen.»

«Ah... dann weißt du es also schon? ... Oh, meine Schande!»

«Nein, warum deine Schande? Ich weiß... Sollte ich dich ächten, dich, der du leidest? Ich bin die Barmherzigkeit, der Friede, die Vergebung und die Liebe für alle. Und was werde ich für die Unschuldigen sein? Nicht du hast die Sünde begangen, deretwegen du leidest. Sollte ich dich anklagen, während ich auch für sie Mitleid empfinde?»

«Hast du sie gesehen?»

«Ich habe sie gesehen. Weine nicht!»

Doch Lazarus läßt das Haupt auf die am Tische aufgestützten Arme sinken und weint mit schmerzlichem Schluchzen. Martha kommt an die Türe und ist erstaunt. Jesus deutet ihr an, ruhig zu sein. Und Martha geht wieder hinaus mit großen Tränen in den Augen, die lautlos über die Wangen rollen. Lazarus beruhigt sich langsam und entschuldigt sich wegen seiner Schwäche. Jesus tröstet ihn, und da der Freund wünscht, sich etwas zurückziehen zu dürfen, geht Jesus in den Garten und wandelt zwischen den Beeten auf und ab, dort, wo noch die eine oder andere Rose blüht.

Martha erreicht ihn kurz danach. «Meister, hat Lazarus gesprochen?»

«Ja, Martha!»

«Lazarus findet keine Ruhe mehr, seit er weiß, daß du es weißt und daß du sie gesehen hast.»

«Woher weiß er es?»

«Zuerst sagte es ihm der Mann, der mit dir war und erklärte, daß er dein Jünger sei; ein junger, hochgewachsener, dunkler, bartloser; dann Doras. Dieser hat ihn mit seiner Verachtung beleidigt. Der erstere hat nur gesagt, daß ihr sie auf dem See gesehen... mit ihren Liebhabern.»

«Aber weint deswegen nicht! Glaubt ihr, daß ich eure Wunde nicht kannte? Ich kannte sie schon, als ich noch beim Vater war. Laß dich nicht niederdrücken, Martha! Erhebe dein Herz und deine Stirne!»

«Bete für sie, Meister! Ich bete... doch ich kann ihr nicht ganz verzeihen, und so lehnt der Ewige vielleicht mein Gebet ab!»

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«Das hast du gut gesagt. Man muß verzeihen, um Verzeihung zu erlangen und erhört zu werden. Ich bete auch für sie. Doch gib mir deine Vergebung und die des Lazarus! Du gute Schwester, du kannst sprechen und kannst noch mehr als ich erhalten. Seine Wunde ist zu offen und entzündet, als daß meine Hand sie so bald berühren dürfte. Du kannst es tun. Schenkt mir eure volle, heilige Vergebung, und ich werde das weitere tun ...»

«Verzeihen? ... Das können wir nicht. Unsere Mutter ist vor Schmerz über ihr übles Benehmen gestorben... und damals war es noch wenig im Vergleich zu heute. Ich sehe immer noch die Qualen der Mutter; ich habe sie stets vor Augen. Und ich sehe, was Lazarus leidet.»

«Sie ist krank, Martha. Eine Kranke, eine Irre! Verzeiht ihr!»

«Sie ist besessen, Meister!»

«Was ist die satanische Besessenheit anderes als eine Krankheit der Seele, die, von Satan angesteckt, in einen teuflischen Geist ausartet. Wie könnte man sonst gewisse Entartungen in den Menschen verstehen? Entartungen, die den Menschen schlimmer als ein wildes Tier werden lassen, schamloser als ein Affe und so weiter und in einem Bastardzustand enden, bei dem Mensch, Tier und Satan vermengt sind. Das ist die Erklärung für das, was uns bei vielen Geschöpfen als eine unbegreifliche Ungeheuerlichkeit verblüfft. Weine nicht. Verzeih! Ich sehe! Denn ich habe eine Schau, die über das Sehen der Augen und des Herzens hinausgeht. Ich habe die Schau Gottes. Ich sehe! Ich sage dir, verzeihe, denn sie ist krank.»

«Wirst du sie heilen?»

«Ich werde sie heilen. Habe Vertrauen! Ich werde dich glücklich machen; doch du mußt verzeihen und Lazarus sagen, daß auch er es muß. Verzeihe ihr! Liebe sie aufs neue! Versuche, dich ihr zu nähern. Sprich mit ihr, wie wenn sie wie du wäre. Sprich mit ihr von mir!»

«Wie soll sie dich, den Heiligen, verstehen?»

«Es wird so scheinen, daß sie nicht versteht. Aber schon allein mein Name ist Rettung. Mache, daß sie an mich denkt und mich beim Namen nennt! Oh, Satan flieht, wenn mein Name in einem Herzen gedacht wird. Lächle, Martha, in dieser Hoffnung. Schau diese Rose an! Der Regen der letzten Tage hatte sie entkräftet, doch die heutige Sonne hat sie neu geöffnet. Und sie ist nun noch viel schöner, denn Regentropfen sind zwischen den Blütenblättern geblieben und haben sie mit Edelsteinen besetzt. So wird es mit eurem Hause sein: heute noch Tränen und Schmerz, aber dann... Freude und Herrlichkeit! Geh! Sprich davon mit Lazarus, während ich im Frieden deines Gartens zum Vater bete für Maria und für euch...»

Alles endet damit.

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152. WIEDER IM HAUSE DES LAZARUS NACH DEM LAUBHÜTTENFEST - EINLADUNG VON JOSEPH AUS ARIMATHÄA

Jesus ist wiederum bei Lazarus. Aus dem, was ich hören kann, schließe ich, daß die Feste schon vorüber sind und daß Jesus auf das Drängen des Freundes, der nie von Jesus getrennt sein möchte, zurückgekehrt ist. Ich verstehe, daß Jesus nur mit Simon und Johannes bei Lazarus ist, während die anderen in der ganzen Umgebung verstreut sind. Endlich begreife ich noch, daß eine Zusammenkunft stattgefunden hat von Freunden, die Lazarus treu geblieben sind und die er eingeladen hat, um sie mit Jesus zusammenzuführen.

Alles dies verstehe ich, weil Lazarus noch besser den Charakter eines jeden beleuchtet. Er spricht von Joseph von Arimathäa und bezeichnet ihn als einen gerechten Mann, einen wahren Israeliten. Er sagt: «Er wagt nicht zu sprechen, weil er das Synedrium fürchtet, dem er angehört, und das dich schon haßt. Doch er erhofft in dir den von den Propheten Verheißenen. Von sich aus hat er mich gebeten, kommen zu dürfen, um dich kennenlernen und selbst beurteilen zu können, da ihm unrichtig erscheint, was deine Feinde von dir sagten. Sogar aus Galiläa sind Pharisäer gekommen, um dich der Sünde zu beschuldigen. Doch Joseph hat so über dich geurteilt: "Wer Wunder wirken kann, der hat Gott. Wer Gott hat, kann nicht in der Sünde leben, sondern nur jemand sein, den Gott liebt." Er möchte dich in seinem Hause haben. Er hat mich gebeten, es dir zu sagen. Und ich möchte dich bitten: erhöre seine und meine Bitte!»

«Ich bin mehr für die Armen gekommen und für die seelisch und körperlich Leidenden als für die Mächtigen, die in mir nur einen Gegenstand für eigene Interessen sehen. Aber ich werde zu Joseph gehen. Ich bin nicht voreingenommen den Mächtigen gegenüber. Einer meiner Jünger (der aus Neugierde und Wichtigtuerei ohne meinen Auftrag zu dir gegangen ist - er ist noch jung und bedarf der Nachsicht) kann meine Achtung mächtigen Kasten gegenüber bezeugen, die sich selbst als "die Beschützer des Gesetzes" bezeichnen und zu verstehen geben, daß sie "Stützen" des Allerhöchsten sind. Oh! Der Ewige braucht keine Stützen! Keiner der Schriftgelehrten hatte je soviel Achtung vor den Priestern des Tempels wie ich.»

«Ich weiß es, und noch viele andere wissen es... Doch nur die Besten geben dieser Tatsache den rechten Namen. Die anderen sagen: Scheinheiligkeit.»

«Jeder kann nur geben, was er in sich hat, Lazarus.»

«Das ist wahr. Doch gehe zu Joseph! Er möchte dich am nächsten Sabbat begrüßen.»

«Ich werde hingehen. Du kannst es ihn wissen lassen.»

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«Auch Nikodemus ist gut. Er aber ... hat zu mir gesagt... Darf ich dir eine Kritik über einen deiner Jünger vortragen?»

«Sage sie! Wenn sie gerecht ist, hat er recht; wenn sie ungerecht ist, dann kritisiert er eine Konversion; denn der Geist gibt dem Geist des Menschen Licht, wenn es ein guter Mensch ist, und der Geist des Menschen, der vom Geiste Gottes geleitet wird, hat übermenschliche Weisheit und liest die Wahrheit in den Herzen.»

«Er hat zu mir gesagt: "Ich kritisiere nicht, daß sich unter den Jüngern Jesu Unwissende und ein Zöllner befinden. Doch einen halte ich nicht für würdig, zu den Seinen zu gehören, da er selbst nicht weiß, ob er für oder gegen ihn ist, und einem Chamäleon gleicht, das die Farbe und das Aussehen dessen annimmt, der gerade in seiner Nähe ist."»

«Es ist Iskariot. Ich weiß es! Doch glaubt es alle: Jugend ist Wein, der gärt und sich dann klärt. Während der Gärung schwillt und schäumt er nach allen Seiten, aus Überschuß an Kraft. Der Frühjahrswind biegt die Zweige nach allen Richtungen und zerzaust die Blätter wie ein Narr. Doch müssen wir ihm dankbar sein, denn dadurch werden die Blüten befruchtet. Judas ist Wein und Wind. Doch bösartig ist er nicht. Seine Art verwirrt und stört, stößt sogar ab und verletzt. Doch ist er nicht von Grund auf schlecht... Er ist ein Füllen mit feurigem Blute.»

«Du sagst es; ich bin nicht in der Lage, es zu beurteilen. Von ihm ist mir eine bittere Erinnerung geblieben, weil er mir gesagt hat, daß du sie gesehen hast.»

«Doch diese Bitterkeit wird nun gemildert zu Honig durch mein Versprechen.»

«Ja. Doch ich erinnere mich an jenen Augenblick. Den Schmerz vergißt man nicht, auch wenn er aufgehört hat.»

«Lazarus, Lazarus, du betrübst dich wegen zu vieler Dinge... und so nichtiger! Laß die Tage vergehen. Es sind nur Luftblasen, die dahinschwinden und nicht mehr zurückkommen mit ihren lustigen oder traurigen Farben. Blicke zum Himmel auf! Er enttäuscht nicht. Er ist den Gerechten vorbehalten.»

«Ja, Meister und Freund. Ich will nicht darüber urteilen, daß Judas mit dir ist, und du ihn bei dir behältst. Ich kann nur beten, daß er dir nicht schadet.»

Jesus lächelt, und alles ist zu Ende.

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153. JESUS BEGEGNET GAMALIEL BEIM MAHLE JOSEPHS VON ARIMATHÄA

Arimathäa liegt in einer gebirgigen Gegend. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte es in einer Ebene vermutet. Es liegt jedoch in den Bergen; obgleich diese schon zur Ebene abfallen, die an bestimmten Straßenwindungen im Westen sehr fruchtbar ist. An diesem Novembermorgen liegt sie unter einem niedrigen Nebelschleier, der den Anschein einer endlosen Wasserfläche erweckt.

Jesus hat Simon und Thomas bei sich. Andere Apostel sehe ich nicht. Ich habe das Gefühl, daß er sehr weise abwägt, wen er zu gewissen Menschen und an bestimmte Orte mitnehmen kann, ohne den Gastgeber zu beunruhigen. Diese Judäer müssen noch empfindlicher sein als romantische Dämchen...

Ich höre, daß sie über Joseph von Arimathäa sprechen, und Thomas, der ihn anscheinend sehr gut kennt, beschreibt die weiten und schönen Besitztümer, die sich über den Berg ausdehnen, besonders in Richtung Jerusalem, längs der Straße, die von der Hauptstadt nach Arimathäa und von da nach Joppe führt. Thomas lobt auch die Felder, die in der Ebene längs der Straße liegen und ebenfalls Eigentum Josephs von Arimathäa sind.

«Wenigstens werden hier die Menschen nicht wie Tiere behandelt. Oh, dieser Doras!» sagt Simon. Tatsächlich sind die Landarbeiter hier wohlgenährt und ordentlich gekleidet, und sie sehen auch zufrieden aus. Sie grüßen ehrerbietig, denn sie wissen bestimmt schon, wer der große, schöne Mann ist, der durch die Felder von Arimathäa zum Hause ihres Herrn geht; und sie beobachten ihn unter gegenseitigem Flüstern.

Als bereits das Haus Josephs in Sicht ist, erscheint ein Diener, der nach einer tiefen Verbeugung fragt: «Bist du der erwartete Rabbi ?»

«Ich bin es», antwortet Jesus.

Der Mann grüßt ergebenst und eilt fort, seinen Herrn zu benachrichtigen.

Das Haus ist von einer immergrünen Hecke umzäunt, die hier die hohe Mauer des Hauses von Lazarus ersetzt und die Gebäude gegen die Straße hin isoliert, ohne jedoch anderes zu sein als die Fortsetzung des baumreichen Gartens.

Joseph von Arimathäa kommt in seinem weiten Gewand, das mit Fransen besetzt ist, Jesus entgegen und verneigt sich tief vor ihm mit auf der Brust gekreuzten Armen. Es ist nicht der demütige Gruß eines Menschen, der in Jesus den fleischgewordenen Gott erkennt und sich bis zur Kniebeuge verdemütigt, um kniend den Fuß oder den Saum des Gewandes zu küssen; doch es ist immer noch eine sehr respektvolle Begrüßung. Auch Jesus verneigt sich ebenso und gibt dann seinen Friedensgruß.

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«Komm herein, Meister! Du machst mich glücklich mit der Annahme meiner Einladung. Ich habe nicht so viel Entgegenkommen zu erhoffen gewagt.»

«Warum? Ich gehe doch auch zu Lazarus und...»

«Lazarus ist dein Freund; ich bin dir unbekannt.»

«Du bist eine wahrheitssuchende Seele. Daher wirst du von der Wahrheit nicht zurückgewiesen.»

«Bist du die Wahrheit?»

«Ich bin der Weg, das Leben und die Wahrheit. Wer mich liebt und mir nachfolgt, wird in sich den sicheren Weg und das selige Leben haben, und er wird Gott erkennen dürfen, denn Gott ist außer der Liebe und der Gerechtigkeit auch die Wahrheit.»

«Du bist ein großer Gelehrter. Aus jedem deiner Worte strömt Weisheit.» Dann wendet er sich an Simon: «Es freut mich, daß du nach einer so langen Abwesenheit in mein Haus zurückkehrst.»

«Nicht aus eigenem Willen bin ich dir ferngeblieben. Du weißt, welches Schicksal ich zu tragen hatte und wieviel Tränen es im Leben des kleinen Simon gab, der von deinem Vater sehr geliebt wurde.»

«Ich weiß es, und ich nehme an, daß dir bekannt ist, daß von meiner Seite kein Wort zu deiner Ungunst kam.»

«Ich weiß alles. Mein treuer Diener hat mir gesagt, daß ich es dir zu verdanken habe, wenn meine Habe geachtet wurde. Gott möge es dir vergelten!»

«Ich hatte einen Posten im Synedrium und habe dies ausgenützt, damit einem Freund meines Hauses Gerechtigkeit geschehe.»

«Viele waren Freunde meines Hauses, und viele waren einflußreich im Synedrium, aber nicht so gerecht wie du.»

«Wer ist dieser Mann? Er scheint mir nicht fremd, doch weiß ich nicht, wo...»

«Ich bin Thomas, genannt Didimus!»

«Ach! Schau da! Lebt der alte Vater noch?»

«Er lebt. Er hat noch seinen Handel, und meine Brüder sind bei ihm. Ich habe ihn verlassen, um dem Meister zu folgen; doch mein Vater ist glücklich darüber.»

«Er ist ein wahrer Israelit, und da er glaubt, daß Jesus von Nazareth der Messias ist, kann er nur glücklich darüber sein, daß sein Sohn zu den Erwählten gehört.»

Sie sind nun bereits im Hausgarten angelangt.

«Ich habe Lazarus hier behalten. Er sitzt in der Bibliothek und liest einen Bericht über die letzten Sitzungen des Synedriums. Er wollte nicht bleiben, weil... Ich weiß, daß es dir bekannt ist... Daher wollte er nicht bleiben. Doch ich habe gesagt: "Nein, es ist nicht recht, daß du dich schämst. In meinem Hause beleidigt dich niemand. Bleibe! Wer sich

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zurückzieht, ist allein gegen die ganze Welt. Und da die Welt mehr böse als gut ist, wird der Einzelgänger niedergeworfen und zertreten." Habe ich nicht recht?»

«Gut hast du gesprochen und recht hast du getan,» antwortet Jesus.

«Meister, heute werden Nikodemus und Gamaliel hier sein. Hast du etwas dagegen?»

«Warum sollte es mir nicht gefallen? Ich kenne seine Weisheit.»

«Ja, er wollte dich sehen und dennoch auf seiner Ansicht beharren. Du weißt schon... Ideen! Er sagt, er habe den Messias schon gesehen; er wartet nur noch auf das Zeichen, das er ihm für sein Auftreten versprochen hat. Aber er sagt auch, du seist "ein Mann Gottes". Er sagt nicht "der Mann", er sagt "ein Mann"... Rabbinische Spitzfindigkeiten, nicht wahr? Du bist deswegen nicht beleidigt?»

Jesus antwortet: «Spitzfindigkeiten! Gut hast du es gesagt. Man muß ihn seinen Weg gehen lassen. Die Besten gehen ihn allein und legen selbst alle unnützen Wildlinge ab, die nur ins Kraut schießen und keine Früchte tragen; sie kommen dann zu mir.»

«Ich wollte dir seine Worte sagen, denn ganz bestimmt wiederholt er sie auch dir. Er ist sehr aufrichtig», bemerkt Joseph.

«Eine seltene Tugend, die ich sehr zu schätzen weiß», antwortet Jesus.

«Ja. Ich habe ihm auch gesagt: "Aber mit dem Meister ist auch Lazarus von Bethanien." Ich mußte dies sagen, weil... nun ja... wegen seiner Schwester. Doch Gamaliel hat geantwortet: "Ist sie denn anwesend? Nein? Na also. Der Schlamm fällt vom Kleide, wenn es nicht mehr im Schlamm ist. Und dann meine ich, wenn in sein Haus ein Mann Gottes geht, kann ich, ein Gesetzesgelehrter, mich ihm doch nähern."»

«Gamaliel urteilt gut. Pharisäer und Gelehrter bis ins Mark, doch auch redlich und gerecht.»

«Es freut mich, dies von dir zu hören. Meister, hier ist Lazarus.»

Lazarus beugt sich nieder, um das Gewand Jesu zu küssen. Er ist glücklich, bei ihm zu sein; aber man erkennt auch seine offensichtliche Erregung wegen der zu erwartenden Miteingeladenen. Ich bin sicher, daß der arme Lazarus außer den Leiden, die den Menschen durch die Überlieferung der Geschichte bekannt sind, noch ein Leiden hatte, das von vielen nicht erkannt und bedacht wird: das seelische Leiden des schrecklichen Stachels beim Gedanken: «Was werden sie von mir sagen? Was werden sie von mir denken? Wie werden sie mich einschätzen? Werden sie mich mit Worten oder Blicken der Verachtung treffen?» Der Stachel, unter dem alle leiden, in deren Familie ein Makel ist!

Inzwischen sind sie in den prächtigen Saal getreten, in dem die Tische bereit stehen, und sie warten nur noch auf Gamaliel und Nikodemus, denn die anderen vier Gäste sind schon angekommen. Ich höre, wie sie mit ihren Namen vorgestellt werden: Felix, Simon, Johannes und Cornelius.

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Es kommt viel Bewegung unter die Diener, als Nikodemus und Gamaliel eintreten; der immer beeindruckende Gamaliel in seinem schneeweißen Gewande, das er mit der Würde eines Königs trägt. Joseph beeilt sich, ihm entgegenzugehen; die gegenseitige Begrüßung ist sehr feierlich. Auch Jesus hat sich verneigt und wird vom großen Rabbi mit den Worten begrüßt: «Der Herr sei mit dir!» worauf er antwortet: «Und sein Friede sei stets dein Begleiter!» Auch Lazarus verneigt sich, und ebenso die anderen.

Gamaliel nimmt in der Mitte der Tafel zwischen Jesus und Joseph Platz. Neben Jesus ist Lazarus, neben Joseph von Arimathäa Nikodemus.

Nach den rituellen Gebeten, die Gamaliel nach einem typisch orientalischen Höflichkeitsaustausch zwischen den drei Hauptpersonen, Jesus, Gamaliel und Joseph, gesprochen hat, beginnt das Mahl.

Gamaliel ist sehr würdevoll, aber nicht hochmütig. Er hört mehr zu, als daß er selbst spricht. Aber man sieht, daß er über jedes Wort, das Jesus sagt, nachdenkt; und oft betrachtet, er ihn mit seinen dunklen, ernsten Augen. Wenn Jesus schweigt, weil ein Thema erschöpft ist, belebt er mit einer geeigneten Frage wieder die Unterhaltung.

Lazarus ist zunächst etwas verwirrt. Doch dann faßt er Mut und spricht ebenfalls.

Direkte Fragen über die Persönlichkeit Jesu werden bis zum Ende der Mahlzeit nicht gestellt.

Dann jedoch entsteht zwischen dem Mann, der Felix genannt wird, und Lazarus, dem sich dann Nikodemus und schließlich Johannes anschließen, ein Gespräch über den Beweis zugunsten oder gegen einen Wunder Wirkenden. Jesus schweigt. Er lächelt manchmal geheimnisvoll, aber er schweigt. Auch Gamaliel schweigt. Mit einem Ellbogen aufs Polster gestützt, betrachtet er Jesus eingehend. Es scheint, als wolle er übernatürliche Worte entziffern, die in die bleiche, glatte Haut des mageren Antlitzes Jesu eingegraben sind. Es sieht so aus, als wolle er jede Faser analysieren.

Felix besteht darauf, daß die Heiligkeit des Täufers unantastbar ist, und aus dieser unbestrittenen und unbestreitbaren Heiligkeit zieht er eine für Jesus, den Urheber zahlreicher bekannter Wunder, keine günstige Folgerung. Er sagt: «Die Wunder sind kein Beweis der Heiligkeit; denn im Leben des Täufers fehlen sie. Niemand in Israel führt ein Leben wie er. Er nimmt an keinem Festmahl teil, hat keine Freundschaft und keinerlei Bequemlichkeit. Er hat nur Leiden und Gefangenschaft zur Ehre des Gesetzes. Er hat nur Einsamkeit; denn obgleich er Jünger hat, lebt er nicht mit ihnen und findet in allen, auch in den besten, Fehler, und er tadelt alle. Während... ja, während der anwesende Meister von Nazareth zwar Wunder gewirkt hat, doch, wie ich feststellen muß, auch liebt, was das Leben bietet. Er hält Freundschaften nicht unter seiner Würde. Verzeihe, wenn einer der Alten des Synedriums es dir sagt. Doch

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ist es allzu leicht, bekannten und mit dem Fluch belegten Sündern im Namen Gottes Vergebung und Liebe zu gewähren. Du solltest das nicht tun, Jesus!»

Jesus lächelt und schweigt. Lazarus antwortet an seiner Statt: «Unser mächtiger Herr ist frei, seine Diener wie und wohin er will zu leiten. Moses hat er die Macht gegeben, Wunder zu wirken; Aaron, seinem ersten Hohenpriester, nicht. (Lazarus ist in diesem Punkte nicht sehr genau in der Auslegung der Bibel.) Und nun? Was schließt du daraus? Ist der eine heiliger als der andere?»

«Ganz bestimmt», antwortet Felix.

«Dann ist Jesus der heiligste, denn er wirkt Wunder.»

Felix ist verwirrt. Aber er hält an einem Punkt fest: «Aaron hatte schon das höchste Priesteramt erhalten. Das genügte vollkommen.»

«Nein, Freund», antwortet Nikodemus. «Das Hohepriesteramt war ein Auftrag; ja, eine heilige Mission, doch nicht mehr als eine Mission. Nicht alle Hohenpriester Israels waren Heilige. Und doch waren sie Hohepriester, auch wenn sie keine Heiligen waren.»

«Du willst doch nicht sagen, daß der Hohepriester ein Mensch ohne Gnade ist?» ruft Felix aus.

«Felix, wir wollen nicht mit brennendem Feuer spielen. Ich, du, Gamaliel, Joseph, Nikodemus, alle wissen wir viele Dinge ...» sagt der mit dem Namen Johannes.

«Aber wie, aber wie? Gamaliel, sprich du ...» Felix ist verärgert.

«Wenn er gerecht ist, wird er die Wahrheit sagen, die du nicht hören willst», sagen die drei, die gegen Felix aufgebracht sind.

Joseph versucht, Frieden zu stiften. Jesus, wie auch Simon der Zelote und der andere Simon, der Freund Josephs, schweigen. Gamaliel scheint mit den Fransen seines Gewandes zu spielen und blickt von unten her auf Jesus.

«So sprich doch, Gamaliel!» ruft Felix.

«Ja, sprich!», wiederholen die drei.

«Ich sage: die Schwächen der Familie müssen verborgen bleiben», sagt Gamaliel.

«Das ist keine Antwort!» schreit Felix. «Es scheint, als wolltest du damit bekennen, daß im Hause des Hohenpriesters Sünden begangen werden!»

«Der Mund der Wahrheit», sagen die drei.

Gamaliel richtet sich auf und wendet sich Jesus zu: «Hier ist der Meister, der den Gelehrtesten nicht nachsteht. Er soll reden!»

«Du willst es! Ich gehorche. Ich sage: der Mensch ist Mensch. Die Sendung überragt den Menschen. Doch der Mensch, der mit einer Sendung betraut wurde, wird fähig, sie als Übermensch zu meistern, wenn er dank eines heiligen Lebens Gott zum Freunde hat. Er hat gesagt: "Du

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bist Priester nach der von mir gegebenen Ordnung." Was steht auf dem Brustschild geschrieben? "Lehre und Wahrheit." Dies müßten die Hohenpriester besitzen. Zur Lehre kommt man durch ausdauernde Betrachtung, die darauf abzielt, den Allerweisesten zu verstehen. Zur Wahrheit kommt man durch die absolute Treue zum Guten. Wer mit dem Bösen spielt, fällt in die Lüge und verliert die Wahrheit.»

«Gut, du hast als großer Lehrer geantwortet. Ich, Gamaliel, sage es dir. Du übertriffst mich.»

«Dann soll er auch erklären, warum Aaron keine Wunder wirkte, dagegen Moses», drängt Felix.

Jesus antwortet sofort: «Weil Moses sich über die Menge der Israeliten, die blind und schwer von Begriff und auch widerspenstig waren, durchsetzen und erreichen mußte, Einfluß auf sie zu gewinnen und sie nach dem Willen Gottes zu beugen. Der Mensch ist der ewig Widerspenstige, das ewige Kind. Er wird nur von dem ergriffen, was aus der Regel fällt. Das Wunder ist so. Es ist ein Licht, das man vor den verdunkelten Pupillen bewegt, und ein lauter Ton an den tauben Ohren, aufweckend und aufmunternd. Er verkündet: "Hier ist Gott."»

«Du sagst dies zu deinem eigenen Vorteil», entgegnet Felix.

«Zu meinem Vorteil? Was füge ich mir hinzu, wenn ich Wunder wirke? Kann ich größer erscheinen, wenn ich einen Grashalm unter die Füße lege? So verhält sich das Wunder zur Heiligkeit. Es gibt Heilige, die nie Wunder gewirkt haben. Es gibt Magier und Geisterbeschwörer, die mit dunklen Kräften Wunder wirken, also übermenschliche Dinge tun, die aber nicht heilig sind.... denn Dämonen sind mit ihnen am Werk. Ich werde immer ich selbst sein, auch wenn ich keine Wunder mehr wirke.»

«Sehr gut! Du bist groß, Jesus!» bestätigt Gamaliel.

«Und wer ist nach deiner Ansicht dieser "Große" ?» fragt Felix, sich an Gamaliel wendend.

«Der größte Prophet, den ich kenne, sowohl in seinen Werken, als auch in seinen Worten», antwortet dieser.

«Er ist der Messias, ich sage es dir, Gamaliel. Glaube an ihn, du Weiser und Gerechter!» sagt Joseph.

«Wie? Auch du, Führer der Judäer, du vom Hohen Rat, unser Ruhm, verfällst der Vergötterung eines Menschen? Was beweist dir, daß er der Christus ist? Ich werde es nicht glauben, selbst wenn ich ihn Wunder wirken sähe. Warum tut er keines vor uns? Sag es ihm, der du ihn lobst; sage es ihm, der du ihn verteidigst», sagt Felix zu Gamaliel und Joseph.

«Nein, ich habe ihn nicht eingeladen als Spielball der Freunde, und ich möchte dich daran erinnern, daß er mein Gast ist», antwortet Joseph ernst.

Felix steht auf und geht verärgert und unhöflich fort.

Es herrscht Schweigen. Jesus wendet sich an Gamaliel: «Und du, verlangst du keine Wunder, um zu glauben?»

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«Es sind nicht die Wunder eines Mannes Gottes, die mir den Stachel der drei Fragen aus dem Herzen reißen, die immer noch ohne Antwort sind.»

«Welche Fragen?»

«Lebt der Messias? War es jener? Ist es dieser?»

«Er ist es, sage ich dir, Gamaliel!» ruft Joseph. «Spürst du nicht, daß er heilig, verschieden, mächtig ist? Ja? Was erwartest du noch, um zu glauben?»

Gamaliel gibt Joseph keine Antwort. Er wendet sich an Jesus: «Zum ersten, laß dich nicht verdrießen, o Jesus, wenn ich in meinen Ansichten verharre. Einmal, als noch der große und weise Hillel lebte, glaubte ich, und er mit mir, der Messias sei in Israel. Welch ein großes Aufblitzen der göttlichen Sonne an jenem kalten späten Wintertag! Es war an Ostern... Die Leute bangten um die Ernten, die der Frost getroffen hatte. Ich sagte, nachdem ich die Worte gehört hatte: "Israel ist gerettet! Von heute an doppelten Ertrag auf den Feldern und Segen in den Herzen! Der Ersehnte hat sich zum erstenmal in seinem Glanz gezeigt!" Ich hatte mich nicht geirrt. Alle konnten feststellen, welcher Art die Ernte war im verlängerten Jahr von dreizehn Monaten, das sich jetzt wiederholt...» (Das hebräische Jahr zählte zwölf Monate von 29 oder 3O Tagen mit einem zusätzlichen Monat alle zwei oder drei Jahre.)

«Welche Worte hast du gehört? Wer sagte sie?»

«Ein Knabe... etwas älter als ein Kind... auf dessen unschuldig sanftem Gesicht sich Gott widerspiegelte! Es war vor neunzehn Jahren, wenn ich mich recht erinnere... und ich suche, diese Stimme 'wieder zu hören... die Worte der Weisheit sprach... In welchem Teil der Erde lebt er? Ich meine... er war Gott. In Gestalt eines Knaben, um die Menschen nicht zu erschrecken. Und wie ein Blitz, der am Himmel aufleuchtet und das Firmament von Osten nach Westen und von Norden nach Süden durchzuckt. Er, der Göttliche, zieht in seinem Gewande barmherziger Schönheit, mit der Stimme und dem Antlitz eines Knaben und mit göttlichen Gedanken über die Erde, um den Menschen zu sagen: "Ich bin es!" Ich frage mich: wann wird er wohl wieder in Israel sein? ... Wann? Und ich sage mir: dann, wenn Israel der Altar für den Fuß Gottes sein wird. Und mein Herz seufzt, wenn es die Niederträchtigkeit Israels sieht: "Niemals!" Oh! ... harte Antwort! Aber wahr. Kann die Heiligkeit in ihrem Messias herniedersteigen, solange in uns der Greuel herrscht?»

«Sie kann und tut es; denn sie ist Barmherzigkeit», antwortet Jesus.

Gamaliel schaut Jesus nachdenklich an und fragt: «Wie lautet dein wahrer Name?»

Jesus erhebt sich würdevoll und sagt: «Ich bin, der ich bin. Der Gedanke und das Wort des Vaters. Ich bin der Messias des Herrn!»

«Du? ... Ich kann es nicht glauben. Deine Heiligkeit ist groß. Doch der

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Knabe, an den ich glaube, hat damals gesagt: "Ich werde ein Zeichen geben: die Steine werden beben, wenn meine Stunde gekommen ist!" Ich erwarte dieses Zeichen, um zu glauben. Kannst du es mir geben, um mich zu überzeugen, daß du der Erwartete bist?»

Die beiden, die sich nun feierlich und hochgewachsen gegenüberstehen, der eine im weiten fallenden Leinenkleide, der andere im einfachen dunkelroten Gewand; der eine alt, der andere jung, betrachten sich fest, beide mit gebieterischem und tiefem Blick.

Dann läßt Jesus den rechten Arm sinken, den er an die Brust gehalten hatte, und ruft aus, als wolle er schwören: «Dieses Zeichen willst du? Du wirst es haben. Ich wiederhole die Worte von einst: "Die Steine des Tempels des Herrn werden erzittern bei meinen letzten Worten." Erwarte dieses Zeichen, du Gelehrter Israels, du gerechter Mann, und dann glaube, wenn du Vergebung und Rettung finden willst! Selig schon jetzt, wenn du vorher schon glauben könntest! Doch du kannst es nicht. Jahrhunderte von falschen Erwartungen nach einer richtigen Verheißung und angehäufter Stolz machen dich blind für die Wahrheit und den Glauben.»

«Du sagst es gut. Ich werde auf das Zeichen warten. Leb wohl! Der Herr sei mit dir!»

«Leb wohl, Gamaliel! Der Geist des Ewigen möge dich erleuchten und führen!»

Alle grüßen Gamaliel, der mit Nikodemus, Johannes und Simon (dem Synedristen) geht. Jesus, Joseph, Lazarus, Thomas, Simon der Zelote und Cornelius bleiben zurück.

«Er kann sich nicht beugen. Ich möchte ihn unter deinen Jüngern haben. Ein entscheidendes Gewicht zu deinen Gunsten... aber es gelingt mir nicht», sagt Joseph von Arimathäa.

«Sei nicht traurig deswegen! Keinem Gewicht wird es gelingen, mich vor dem Sturm zu bewahren, der sich schon vorbereitet. Aber Gamaliel... wenn er sich nicht beugt und für Christus ausspricht, wird er sich ebenso nicht gegen Christus stellen. Er ist einer, der wartet...»

Alles ist zu Ende.

154. HEILUNG DES STERBENDEN KINDES - DER SOLDAT ALEXANDER - MISSTRAUEN GEGEN JESUS

Das Innere des Tempels. Jesus ist mit den Seinen ganz nahe beim eigentlichen Tempel, dem Allerheiligsten, in das nur Priester eintreten dürfen. Es ist ein wunderschöner Hof, zu dem man durch eine Vorhalle gelangt; von da aus geht es über einen noch schöneren zur oberen Terrasse, auf der der Würfel des Heiligtums steht. Es ist unnütz, mich zu bemühen!

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Selbst wenn ich den Tempel tausendmal sähe, selbst wenn ich ihn zweitausendmal beschriebe: sei es wegen der Fülle des Ortes, sei es wegen meiner Unfähigkeit, Namen zu behalten und eine Zeichnung anzufertigen -meine Darstellung dieses herrlichen Ortes, der ein Labyrinth ist, wäre immer unvollständig.

Sie scheinen alle im Gebet versunken. Auch viele andere Israeliten, alles Männer, sind hier, und jeder betet für sich. Der Abend sinkt am Ende dieses drückenden Novembertages ganz plötzlich nieder.

Ein Stimmengewirr wird hörbar. Eine laute, aufgeregte Männerstimme, die lateinisch flucht, vermischt sich mit hebräischen Rufen und Geschrei. Es hört sich an wie Gezänk, und eine weibliche Stimme schreit: «Oh, laßt ihn doch durchgehen. Er sagt, daß er ihn heilen kann.»

Die Andacht im prächtigen Hof ist gestört. Viele Köpfe drehen sich in die Richtung, aus der die Stimmen kommen. Auch Judas Iskariot wendet sich um. Groß wie er ist, kann er sehen und berichtet: «Ein römischer Soldat kämpft, um hereinzukommen. Er schändet den heiligen Ort. Schrecklich!» Viele unterstützen ihn.

«Laßt mich durch, ihr jüdischen Hunde! Jesus ist hier. Ich weiß es. Ich will zu ihm. Mit euren dummen Steinen kann ich nichts anfangen. Das Kind stirbt; er kann es retten. Weg, ihr scheinheiligen Hyänen!»

Als Jesus verstanden hat, daß man zu ihm will, geht er sofort zur Vorhalle, in der die Bewegung und der Lärm entstanden sind. Er ruft: «Ruhe und Ehrfurcht an diesem Orte und zur Stunde des Opfers!»

«Oh, Jesus! Sei gegrüßt! Ich bin Alexander. Macht Platz, ihr Hunde!»

Jesus sagt ruhig und langsam: «Ja, macht Platz! Ich werde den Heiden anderswohin führen; er weiß nicht, was dieser Ort für uns bedeutet.»

Der Kreis löst sich auf; Jesus geht zum Soldaten hin, dessen Panzerhemd blutbefleckt ist. «Bist du verwundet? Komm, hier können wir nicht bleiben», und er führt ihn durch verschiedene Höfe hinaus.

«Ich bin nicht verwundet, aber ein Kind... Mein Pferd ist mir bei der Burg Antonia wild geworden und hat es mit den Hufen am Kopf getroffen. Prokulus hat gesagt: "Nichts mehr zu machen!" Ich habe keine Schuld, doch durch mich ist es geschehen, und die Mutter ist verzweifelt. Ich habe gesehen, wie du vorbeigekommen bist und habe mir gesagt: "Prokulus nicht, er aber schon." Und ich habe gesagt: "Frau, komm! Jesus wird es heilen." Sie haben mich aufgehalten, diese Wahnsinnigen, und nun ist das Kind vielleicht schon tot», antwortet der Soldat, den ich schon am Fischtor gesehen habe.

«Laß uns gehen!»

Jesus macht sich auf den Weg, gefolgt von den Seinen und einem ganzen Schwarm von Leuten.

Auf den Stufen, die den Säulengang abgrenzen, lehnt an einer Säule eine untröstliche Frau, die ihr sterbendes Kind beweint. Der Junge ist

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schon ganz steif, mit violetten, halbgeöffneten Lippen und dem charakteristischen Röcheln eines Hirnverletzten. Eine Binde ist um den Kopf gewickelt; sie ist an der Stirn und im Nacken mit Blut getränkt.

«Sein Schädel ist vorne und hinten offen. Man kann die Hirnmasse sehen. Die Knochen sind in diesem Alter noch weich, und das Pferd war groß und frisch beschlagen ...» erklärt Alexander.

Jesus ist bei der Frau angelangt, die nicht mehr sprechen kann vor Schmerz. Jesus legt ihr die Hand aufs Haupt. «Weine nicht, Frau!» sagt er mit der ganzen Zartheit, deren er fähig ist, mit unendlicher Güte. «Habe Vertrauen! Gib mir dein Kind!»

Die Frau betrachtet ihn betroffen. Die Leute beschuldigen die Römer und klagen über das sterbende Kind und seine Mutter. Alexander ist voll des Zornes über die ungerechte Anklage, aber auch des Mitleids und der Hoffnung.

Jesus setzt sich zu der Frau, da er sieht, daß sie regungslos ist. Er nimmt das Köpfchen des Kindes in seine langen Hände, beugt sich über das Gesichtlein und haucht auf den kleinen, röchelnden Mund... Nur ein Augenblick, dann erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht, das durch die nach vorn gefallenen Haare etwas verdeckt ist. Es richtet sich auf, öffnet die Äuglein und versucht, sich aufzusetzen. Die Mutter fürchtet, daß es sich um das letzte Aufbäumen vor dem Tode handle, und drückt es aufschreiend ans Herz.

«Laß es los, Frau! Kind, komm zu mir!» sagt Jesus, der immer noch an der Seite der Frau sitzt, und streckt dem Kinde lächelnd die Arme entgegen. Das Kind wirft sich sicher in seine Arme und weint, nicht aus Schmerz, sondern aus Angst, in der Erinnerung an das Pferd.

«Das Pferd ist nicht mehr da», beruhigt es Jesus. «Alles ist vorbei. Tut es dir nicht mehr weh?»

«Nein. Aber ich habe Angst, ich habe Angst!»

«Du siehst, Frau. Es ist nur die Angst. Das geht vorbei. Bringt mir Wasser. Das Blut und die Binde erschrecken ihn. Gib mir einen von deinen Äpfeln, Johannes! Nimm ihn, Kleiner! Iß, er ist gut!»

Sie bringen Wasser. Es ist Alexander, der es in seinem Helm trägt. Jesus will die Binde abnehmen. Alexander und die Mutter sagen: «Nein! Es wird wieder bluten, denn der Kopf hat Wunden ...»

Jesus lächelt und löst die Binde. Eins, zwei, drei... acht Runden. Er nimmt die blutigen Teile ab. Von der Mitte der Stirn bis zum Nacken ist eine noch weiche Blutkruste in den Härchen des Kindes. Jesus netzt ein Tuch und wäscht ab.

«Aber darunter ist die Wunde! Wenn du das geronnene Blut wegnimmst, beginnt die Blutung wieder!»

Die Mutter hält die Hände vor die Augen, um nichts sehen zu müssen. Jesus wäscht und wäscht. Die Blutkruste löst sich. Man sieht die gereinigten

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Härchen. Sie sind feucht, doch darunter ist keine Wunde mehr. Auch die Stirne ist heil. Es ist nur ein kleines rotes Mal dort, wo sich die Narbe gebildet hat.

Die Leute schreien vor Verblüffung. Die Frau wagt es, aufzublicken; als sie sieht und versteht, kann sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie hängt sich an Jesus, umarmt ihn zusammen mit dem Kinde und weint. Jesus erträgt diesen Dankeserguß und Tränenstrom.

«Ich danke dir, Jesus», sagt Alexander. «Ich hätte gelitten, wenn dieses unschuldige Kind gestorben wäre.»

«Du warst gut und hattest Vertrauen. Leb wohl, Alexander! Geh zu deinem Dienst!» Alexander geht bereits, als die Beamten des Tempels und die Priester in Scharen herankommen. «Der Hohepriester fordert dich und den heidnischen Schänder durch uns auf, den Tempel zu verlassen! Und zwar sofort! Ihr habt die Zeremonie des Rauchopfers gestört. Dieser hier ist in den Ort eingedrungen, der Israel vorbehalten ist. Es ist nicht das erstemal, daß durch deine Schuld der Tempel in Aufruhr ist. Der Hohepriester und mit ihm die Ältesten vom Dienst verbieten dir, den Fuß hierher zu setzen. Geh und bleib bei deinen Heiden!»

«Wir sind doch keine Hunde. Er sagt: "Es gibt nur einen Gott, den Schöpfer der Juden und der Römer!" Wenn dieses das Haus Gottes ist und ich eines seiner Geschöpfe bin, dann kann auch ich eintreten», entgegnet Alexander auf die verächtliche Bemerkung des Priesters, er sei ein Heide.

«Schweige, Alexander! Ich rede», unterbricht ihn Jesus, der, nachdem er das Kind geküßt und es seiner Mutter zurückgegeben hat, aufsteht. Er sagt zur Gruppe, die ihn wegjagen will: «Niemand kann einem Gläubigen, einem wahren Israeliten, den man nicht als Sünder anklagen kann, verbieten, im Heiligtum zu beten.»

«Aber im Tempel das Gesetz zu erklären, das schon! Du hast dir das Recht dazu herausgenommen, ohne es zu haben oder zu erbitten. Wer bist du? Wer kennt dich? Wieso eignest du dir einen Namen und eine Stellung an, die dir nicht gehören?»

Jesus blickt sie eindringlich an und ruft dann: «Judas von Kerioth, komm hierher!»

Judas scheint von dieser Einladung nicht gerade begeistert zu sein. Er hatte versucht zu verschwinden, als die Priester und Beamten des Tempels erschienen. Doch muß er gehorchen, denn Petrus und Judas des Alphäus drängen ihn nach vorne.

«Judas, antworte! Und ihr, schaut ihn an! Ihr kennt ihn. Er gehört zum Tempel. Ihr kennt ihn?» Sie müssen gezwungenermaßen mit Ja antworten.

«Judas, was habe ich dich zu tun geheißen, als ich zum erstenmal hier gesprochen habe? Vorüber hast du dich gewundert? Und was habe ich dir auf dein Erstaunen geantwortet? Sprich und sei aufrichtig!»

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«Er sagte mir: "Rufe den diensttuenden Beamten, damit ich ihn um die Erlaubnis bitten kann, hier zu lehren!" Und er nannte seinen Namen, wies sich aus und gab an, zu welchem Stamme er gehört. Ich wunderte mich darüber, hielt das für eine unnütze Formalität, da er sagte, er sei der Messias! Er aber sagte mir: "Es ist notwendig, denn wenn die Stunde kommt, dann erinnere dich, daß ich nie gegen die Würde des Tempels und seiner Beamten gefehlt habe." Ja, das hat er gesagt! Der Wahrheit zu Ehren muß ich es bestätigen.» Judas hat anfänglich etwas unsicher, fast widerwillig gesprochen. Doch dann, mit einer der plötzlichen Schwenkungen, die ihm eigen sind, ist er sehr sicher und beinahe arrogant geworden.

«Ich wundere mich, daß du ihn verteidigst. Du hast unser Vertrauen in dich verraten», rügt ein Priester Judas.

«Ich habe niemand verraten. Wie viele unter euch halten zum Täufer! Sind sie deswegen Verräter? Ich gehöre zu Christus! Das ist es.»

«Gut. Aber hier darf er nicht reden. Er kann als Gläubiger kommen; aber nicht als Freund der Heiden, Dirnen, Zöllner und...»

«Nun antwortet mir», unterbricht ihn Jesus streng, doch ruhig. «Wer sind die Ältesten vom Dienst?»

«Doras und Felix, Judäer, Joachim von Kapharnaum und Joseph der Ituräer.»

«Ich habe verstanden. Laßt uns gehen! Sagt den drei Anklägern, der Ituräer kann mich nicht angeklagt haben, daß der Tempel nicht ganz Israel und Israel nicht die ganze Welt ist, und daß der Geifer der Schlangen, so giftig er auch sein mag, die Stimme Gottes nicht ersticken, noch meine Schritte bei meinem Wandeln unter den Menschen lähmen kann, solange meine Stunde nicht gekommen ist. Und danach... oh, sagt ihnen, daß dann die Menschen die Henker richten werden, das Sühnopfer aber erhöhen und es zu ihrer einzigen Liebe machen werden. Geht! Auch wir wollen gehen!» Und Jesus hüllt sich in den weiten, schweren, dunklen Mantel ein und geht inmitten der Seinen von dannen.

Als letzter folgt Alexander, der während der Auseinandersetzung geblieben war. Außerhalb der Mauer, beim Turm Antonia, sagt er: «Ich grüße dich, Meister! Ich bitte dich um Verzeihung, daß ich die Ursache dieses Angriffes auf dich gewesen bin.»

«Oh, das muß dir nicht leid tun. Sie haben nur einen Vorwand gesucht. Sie haben ihn gefunden. Wenn es nicht du gewesen wärest, dann hätten sie einen anderen gefunden. Ihr in Rom macht im Zirkus Spiele mit wilden Tieren und Schlangen, nicht wahr? Ich aber sage dir, kein wildes Tier ist grausamer und heimtückischer als der Mensch, der einen anderen Menschen töten will.»

«Und ich sage dir, daß ich im Dienste des Caesar alle Regionen Roms kennengelernt habe. Doch habe ich unter den Tausenden von Untertanen, denen ich begegnet bin, keinen getroffen, der göttlicher war, als du es bist.

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Nein, unsere Götter sind nicht so göttlich wie du! Sie sind rachsüchtig, grausam, streitsüchtig und verlogen. Du bist gut. Du bist wahrlich nur ein Mensch, der nicht Mensch ist. Leb wohl, Meister!»

«Leb wohl, Alexander! Schreite voran auf dem Wege des Lichtes!»

Alles ist zu Ende.

155. JESUS SPRICHT BEI NACHT MIT NIKODEMUS IM GETHSEMANE

Jesus befindet sich in der Küche des kleinen Hauses im Ölgarten beim Nachtmahl mit seinen Jüngern. Sie sprechen von den Tagesereignissen, jedoch nicht von denen des zuvor beschriebenen Tages; denn ich höre von anderen Begebenheiten, unter anderem von der Heilung eines Aussätzigen bei den Gräbern längs der Straße nach Bethphage.

«Auch ein römischer Centurio war unter der Menge», sagt Bartholomäus und fügt hinzu: «Er hat mich von seinem Pferd herunter gefragt: "Macht der Mann, dem du nachfolgst, öfters ähnliche Dinge?" Und nach meiner bejahenden Antwort hat er ausgerufen: "Dann ist er also größer als Äskulap und wird reicher werden als Krösus!" Darauf habe ich geantwortet: "Er wird in den Augen der Welt immer arm sein, denn er nimmt nichts und gibt nur, und er will nur die Seelen zum wahren Gott führen." Der Centurio hat mich verwundert angesehen und dann das Pferd angespornt, um im Galopp davonzureiten.»

«Auch eine römische Dame in ihrer Sänfte war da. Es muß nur eine Frau gewesen sein. Sie hatte die Vorhänge zugezogen, doch hat sie neugierig herausgeschaut. Ich habe es gesehen», sagt Thomas.

«Ja, es war an der oberen Kurve der Straße. Sie hat anhalten lassen, als der Aussätzige ausgerufen hat: "Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!" Dann hat sie den Vorhang bewegt, und ich konnte sehen, wie sie dich mit einer wertvollen Lupe beobachtet und dann ironisch gelacht hat. Doch als sie bemerkte, daß du ihn nur durch dein Wort geheilt hast, da hat sie mich gerufen und gefragt: "Ist er das, den sie den Messias nennen?" Ich habe mit "Ja" geantwortet, und sie hat mich gefragt: "Und du bist bei ihm? Ist er wirklich gut?"» Johannes hatte gesprochen.

«So hast du sie gesehen? Wie war sie?» fragen Judas und Petrus.

«Na ja... eben eine Frau.»

«Welch eine Entdeckung!» lacht Petrus. Und Iskariot bohrt weiter: «War sie schön, jung, reich?»

«Ja, mir scheint, sie war jung und auch schön. Doch ich habe mehr zu Jesus hingeschaut als zu ihr. Ich wollte sehen, ob Jesus bereits weitergegangen war ...»

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«Du Dummkopf», murmelt Iskariot zwischen den Zähnen.

«Warum?» verteidigt ihn Jakobus des Zebedäus. «Mein Bruder ist kein Geck auf der Suche nach Abenteuern. Er hat aus Anstand geantwortet. Aber er ist seiner ersten Eigenschaft nicht untreu geworden.»

«Welcher?» will Iskariot wissen.

«Jünger zu sein, dessen einzige Liebe der Meister ist.»

Judas senkt verärgert das Haupt.

«Und dann... es ist nicht gut, im Gespräch mit Römern gesehen zu werden», sagt Philippus. «Sie klagen uns schon als Galiläer an und sagen, wir seien weniger "rein" als die Judäer. Und dies auch der Geburt wegen. Dann klagen sie uns an, daß wir oft in Tiberias sind, dem Treffpunkt der Heiden, Römer, Phönizier und Syrer. Und... oh, wegen wie vieler Dinge klagen sie uns an!»

«Du bist gut, Philippus, und ziehst einen Schleier über die Härte der Wahrheit, die du sagst. Doch ohne den Schleier ist sie dies: man klagt mich vieler, vieler Dinge an!», sagt Jesus, der bis dahin geschwiegen hat.

«Im Grunde haben sie nicht völlig unrecht. Zuviel Berührung mit den Heiden!» sagt Iskariot.

«Glaubst du, daß es nur die Heiden sind, die das Gesetz des Moses nicht haben?» fragt Jesus.

«Wer sonst?»

«Judas! ... Kannst du bei unserem Gott schwören, kein Heidentum im Herzen zu haben? Kannst du schwören, daß die Israeliten in hervorragender Stellung davon frei sind?»

«Aber Meister! ... Von anderen weiß ich es nicht... aber ich... von mir kann ich schwören ...»

«Was ist denn deiner Meinung nach das Heidentum?» fragt Jesus weiter.

«Die Befolgung einer falschen Religion, und das Anbeten vieler Götter», antwortet Judas ungestüm.

«Welche sind das?»

«Die Götter der Griechen und der Römer, der Ägypter... nun ja, die Götter mit den tausend Namen, die nach Ansicht der Heiden den Olymp bevölkern.»

«Gibt es keine anderen Götter? Nur diese olympischen?»

«Welche anderen? Sind es nicht schon genug?»

«Zu viele, ja, zu viele. Doch es gibt noch andere, auf deren Altären von allen Menschen Weihrauch geopfert wird, sogar von den Priestern, den Schriftgelehrten, den Rabbis, den Pharisäern, den Sadduzäern und den Herodianern, das sind alles Israeliten, nicht wahr? Und nicht nur von ihnen, sondern auch von meinen Jüngern.»

«Aber dies ganz bestimmt nicht», sagen alle einstimmig.

«Nein? Freunde... wer von euch frönt nicht einem oder mehreren geheimen Kulten? Für den einen ist es die Schönheit und die Eleganz. Für

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einen anderen der Stolz auf sein Wissen. Ein anderer beweihräuchert die Hoffnung, einmal groß zu werden, im menschlichen Sinn. Wieder ein anderer betet die Frau an. Ein anderer das Geld. Wieder ein anderer verbeugt sich vor seinem Wissen, und so weiter. In Wahrheit sage ich euch: es gibt keinen Menschen, der ganz frei vom Götzendienst ist. Warum also die Heiden verachten, die es von Geburt her sind, wenn man, obwohl dem wahren Gott angehörig, dem Willen nach Heide bleibt?»

«Aber wir sind Menschen, Meister!» rufen mehrere aus.

«Das ist wahr. Dann aber... liebt alle, denn ich bin für alle gekommen, und ihr seid nicht mehr als ich.»

«Doch sie klagen uns an, und du wirst in deiner Sendung behindert.»

«Sie wird trotzdem vorangehen.»

«Übrigens, da wir von Frauen sprechen», sagt Petrus, der neben Jesus sitzt und darüber ganz glücklich ist, «seit einigen Tagen, vielmehr seitdem du nach der Rückkehr aus Judäa das erstemal in Bethanien gesprochen hast, folgt uns ständig eine ganz verschleierte Frau. Ich weiß nicht, wie sie von unseren Plänen erfährt. Ich weiß nur, daß sie dir aus den hintersten Reihen zuhört, wenn du sprichst, oder sich den Menschen anschließt, die dir auf dem Wege folgen, oder auch hinter uns hergeht, wenn wir durch die Felder ziehen, um dich anzukündigen. Fast immer ist sie da. In Bethanien hat sie mir hinter dem Schleier zugeflüstert: "Der Mann, von dem du sagst, daß er reden wird, ist es wirklich Jesus von Nazareth?" Ich habe mit "Ja" geantwortet, und am Abend war sie hinter einem Baum, um dir zuzuhören. Dann habe ich sie aus den Augen verloren. Aber nun habe ich sie schon zwei- oder dreimal in Jerusalem gesehen. Heute habe ich sie gefragt: "Brauchst du ihn? Bist du krank? Willst du Almosen?" Sie hat nur den Kopf geschüttelt, denn sie spricht mit niemand.»

«Mich hat sie eines Tages gefragt: "Wo wohnt Jesus?", und ich habe ihr geantwortet: "Im Gethsemane"», sagt Johannes.

«Oh, du guter Dummkopf. Das hättest du nicht tun dürfen. Du hättest sagen sollen: "Nimm den Schleier ab! Gib dich zu erkennen, dann werde ich es dir sagen"», fährt ihn der Iskariot an.

«Aber seit wann sollen wir das verlangen?» ruft Johannes schlicht und unschuldig aus.

«Die anderen kann man sehen, sie aber ist ganz verhüllt. Entweder ist sie eine Spionin oder eine Aussätzige. Sie soll uns nicht folgen und nichts erfahren. Wenn sie eine Spionin ist, dann geschieht es, um uns zu schaden. Vielleicht wird sie vom Synedrium dafür bezahlt ...»

«Ach, benützt das Synedrium solche Mittel?» fragt Petrus. «Bist du dir dessen sicher?»

«Ganz sicher. Ich war im Tempel und weiß es.»

«Schöne Sache! Hierzu paßt wunderbar das, was der Meister zuvor gesagt hat», bemerkt Petrus.

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«Was?» will Judas, rot vor Neugier wissen.

«Daß es auch unter den Priestern Heiden gibt.»

«Was hat das mit der Bezahlung einer Spionin zu tun?»

«Manches, manches! Warum zahlen sie? Um den Messias zu besiegen und triumphieren zu können. Also gehen sie mit ihren unsauberen Seelen unter den reinen Kleidern zum Altare», antwortet Petrus mit seinem gesunden Menschenverstand.

«Gut also», schließt Judas kurz ab, «diese Frau ist eine Gefahr für uns und für das Volk. Für das Volk, wenn sie aussätzig ist... für uns, wenn sie eine Spionin ist.»

«Also für ihn...» entgegnet Petrus.

«Nun, wenn er fällt, fallen wir mit ihm ...»

«Ach so», lacht Petrus und beschließt: «Und wenn man fällt, geht das Idol in Stücke, und man hat seine Zeit, sein Geld und vielleicht sogar das Leben auf das Spiel gesetzt, und deshalb... ja, ja... und deshalb ist es besser, darauf zu sehen, daß man nicht fällt oder sich wenigstens rechtzeitig davonmacht, nicht wahr? Ich jedoch, ich umarme ihn noch fester. Wenn er, von den Verrätern Gottes getroffen, fällt, will ich mit ihm fallen.» Und Petrus umarmt Jesus fest mit seinen kurzen Armen.

«Ich ahnte nicht, so ungeschickt gehandelt zu haben, Meister», sagt Johannes ganz traurig. Er sitzt Jesus gegenüber. «Schlage mich, mißhandle mich, aber rette dich! Wehe mir, wenn ich durch meine Schuld deinen Tod verursachte! Oh, ich könnte nie mehr Frieden finden! Mein Antlitz würde vom Weinen zerfurcht, und mein Augenlicht verbrannt. Was habe ich angestellt! Judas hat recht, ich bin ein Dummkopf.»

«Nein, Johannes, du bist kein Dummkopf und du hast recht gehandelt. Laßt sie nur kommen! Immer! Achtet ihren Schleier! Es kann sein, daß er zum Schutz im Kampfe zwischen der Sünde und dem Wunsche nach Erlösung getragen wird. Wißt ihr, welche Wunden in einem Menschen aufbrechen, in dem dieser Kampf beginnt? Wißt ihr, welche Reue und wieviel Scham? Du hast gesagt, Johannes, mein geliebter Sohn mit dem Herzen eines guten Kindes, daß dein Antlitz gefurcht würde vom ständigen Weinen, wenn du zur Ursache meines Unglücks würdest. Doch wisse: wenn ein erwecktes Gewissen beginnt, das Fleisch, das die Ursache der Sünde war, zu zähmen und es abzutöten, um mit dem Geiste zu triumphieren, dann muß alles mutig verzehrt werden, was anziehend für das Fleisch war, und das Geschöpf altert und verwelkt unter dem Rauch dieses alles durchdringenden Feuers. Erst danach, nach erfolgter Erlösung, wird eine neue heilige und vollkommenere Schönheit geschaffen; denn es ist die Schönheit der Seele, welche zutage tritt im Blick, im Lächeln, in der Stimme, in der ehrbar erhobenen Stirne, auf die Gottes Vergebung sich senkte, die leuchtet wie ein Diadem.»

«Dann habe ich also nichts Schlechtes getan?»

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«Nein! Und auch Petrus hat nichts Böses getan. Laßt sie gewähren! Jetzt soll jeder zur Ruhe gehen. Ich bleibe mit Johannes und Simon hier, ich habe mit ihnen zu reden. Geht also!»

Die Jünger ziehen sich zurück. Vielleicht schlafen sie in der Scheune. Ich weiß es nicht. Sie gehen weg, doch bestimmt nicht nach Jerusalem, denn dort sind die Tore schon seit mehreren Stunden geschlossen.

«Simon, du hast gesagt, daß Lazarus heute den Isaak mit Maximinus zu dir geschickt hat, während ich beim Turme Davids war. Was wollte er?»

«Er wollte dir sagen, daß Nikodemus bei ihm ist und mit dir im geheimen reden möchte. Ich habe mir erlaubt zu sagen: "Er soll kommen. Der Meister wird ihn heute nacht erwarten." Du hast ja nur die Nacht, um allein sein zu können. Daher habe ich zu dir gesagt: "Entlasse alle bis auf Johannes und mich!" Johannes wird bis zur Brücke des Kedron gehen und dort Nikodemus erwarten, der in einem der Häuser des Lazarus vor der Mauer ist. Habe ich es falsch gemacht?»

«Du hast es recht gemacht. Mach dich auf den Weg, Johannes!»

Nur Simon und Jesus bleiben zurück. Jesus ist nachdenklich. Simon achtet sein Schweigen. Doch Jesus unterbricht es plötzlich, und als ob er ein inneres Selbstgespräch fortführen wollte, sagt er mit lauter Stimme: «Ja, es ist gut, so zu handeln. Isaak, Elias und die anderen genügen, um die Idee lebendig zu erhalten, die schon in den Guten und Demütigen Wurzeln geschlagen hat. Für die Mächtigen braucht es andere Mittel. Da sind Lazarus, Chuza, Joseph und noch weitere... Doch die Mächtigen wollen nichts von mir wissen. Sie fürchten und zittern um ihre Macht. Ich werde das judäische Herz verlassen, das Christus immer feindlicher gesinnt ist.»

«Werden wir nach Galiläa zurückkehren?»

«Nein! Aber weg von Jerusalem! Judäa muß die Frohe Botschaft hören. Das ist auch Israel. Aber hier... du siehst es... hier dient alles nur dazu, mich anzuklagen. Ich werde mich zurückziehen, nun zum zweitenmal ...»

«Meister, hier ist Nikodemus», sagt Johannes, der zuerst hereinkommt.

Sie grüßen sich. Dann verlassen Simon und Johannes die Küche, um die beiden allein zu lassen.

«Meister, verzeihe, daß ich dich im geheimen sprechen wollte. Ich mißtraue deinet- und meinetwegen vielen. Es ist nicht nur Feigheit meinerseits. Auch Klugheit und der Wunsch, dir mehr zu nützen, als wenn ich dir offen angehören würde. Du hast viele Feinde. Ich bin einer der wenigen, die dich bewundern. Ich habe mich mit Lazarus beraten. Lazarus ist mächtig durch seine Geburt, gefürchtet, weil er in Rom in Gunst steht, gerecht in den Augen Gottes, weise durch sein langes Studium und seine

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Kultur, dein wahrer Freund und mein wahrer Freund! Aus all diesen Gründen habe ich mit ihm reden wollen. Und ich bin glücklich, daß er genauso urteilt wie ich. Ich habe ihm von den letzten Diskussionen des Synedriums über dich gesprochen.»

«Die letzten Anschuldigungen. Sage die Wahrheit nur ungeschminkt, wie sie ist.»

«Die letzten Beschuldigungen. Ja, Meister. Ich war daran zu sagen: "Nun, auch ich bin einer der Seinigen", damit wenigstens einer in dieser Versammlung auf deiner Seite stehe. Doch Joseph ist zu mir gekommen und hat mir zugeflüstert: "Schweige! Wir wollen unsere Gedanken verborgen halten. Ich werde dir den Grund nachher sagen." Nachdem wir hinausgegangen waren, hat er gesagt... ja, er hat gesagt: "Du wirst so mehr nützen. Wenn sie uns als Jünger wissen, dann halten sie vor uns verborgen, was sie denken und beschließen, und können ihm und uns schaden. Wenn sie uns für einfache Zuhörer halten, werden sie uns nichts verbergen." Ich verstand, daß er recht hatte. Sie sind derart böse. Auch ich habe meine Interessen und Pflichten... und Joseph ebenso. Verstehst du, Meister?»

«Ich mache euch keine Vorwürfe. Bevor du kamst, habe ich dies Simon gesagt. Ich habe auch beschlossen, mich von Jerusalem fernzuhalten.»

«Du haßt uns, weil wir dich nicht lieben?»

«Nein, ich hasse nicht einmal meine Feinde.»

«Du sagst es. Es ist so. Doch welch ein Schmerz für mich und Joseph! Und Lazarus! Was wird Lazarus sagen, der gerade heute beschlossen hat, dir sagen zu lassen, daß du diesen Ort verlassen sollst, um in eines seiner Landhäuser von Sion zu ziehen. Weißt du, Lazarus ist sehr reich und mächtig. Große Teile dieser Stadt gehören ihm und auch viele Ländereien in Palästina. Der Vater hatte zu seinem Besitz und dem der Eucheria, die aus deinem Stamm und deiner Familie herkommt, noch die Belohnung der Römer für ihren treuen Diener hinzugefügt und so seinen Söhnen eine bedeutende Erbschaft hinterlassen. Doch hat er, was noch mehr zählt, eine geheime, aber starke Freundschaft mit Rom. Ohne diese... was hätte sein Haus vor der Schande schützen können nach dem anstößigen Benehmen Marias, nach ihrer Scheidung, die sie nur erhielt, weil "sie" es war? Zügellos hat sie gelebt in dieser Stadt, in der sein Grundbesitz sich befindet, und in Tiberias mit dem vornehmen Bordell; Rom und Athen haben dort ein Zentrum der Prostitution errichtet, auch für viele des auserwählten Volkes. Wahrlich, wenn Theophilus der Syrer ein überzeugter Proselyt gewesen wäre, dann hätte er seinen Kindern nicht diese hellenisierende Erziehung gegeben, die soviel Tugend tötet und soviel Laster sät; eine Erziehung, die zwar von Lazarus und besonders von Martha getrunken und ohne Folgen wieder ausgeschieden wurde, die jedoch die unbändige Maria angesteckt und verdorben und aus ihr den Abscheu der Familie und

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Palästinas gemacht hat. Nein, ohne den mächtigen Schatten der Gunst von Rom wären sie mehr als die Aussätzigen mit Acht belegt worden. Nütze also die Freundschaft mit Lazarus.»

«Nein. Ich ziehe mich zurück. Wer mich will, soll zu mir kommen.»

«Ich hätte nicht reden sollen!» Nikodemus ist niedergeschlagen.

«Nein. Warte und überzeuge dich!», und Jesus öffnet eine Türe und ruft: «Simon, Johannes, kommt zu mir!»

Die beiden eilen herbei.

«Simon, wiederhole Nikodemus, was ich dir vor seinem Eintreten gesagt habe.»

«Daß für die Demütigen Hirten genügen, für die Mächtigen Lazarus, Nikodemus, Joseph und Chuza, und daß du dich zurückziehen willst, fern von Jerusalem, jedoch ohne Judäa aufzugeben. Das hast du gesagt. Warum läßt du es mich wiederholen? Was ist vorgefallen?»

«Nichts. Nikodemus befürchtete, ich wolle seiner Worte wegen gehen.»

«Ich habe dem Meister gesagt, daß ihm das Synedrium immer feindlicher gesinnt ist und daß es gut wäre, wenn er sich unter den Schutz des Lazarus stellen würde. Er hat deine Güter geschützt, denn Rom steht hinter ihm. Er würde auch Jesus beschützen.»

«Das ist wahr. Es ist ein guter Rat. Obwohl meine Sippe auch in Rom nicht geachtet war, hat ein Wort Theophilus meinen Besitz während der Verbannung und als ich aussätzig war, bewahrt. Lazarus ist dein guter Freund, Meister.»

«Ich weiß es, doch ich habe gesprochen. Und was ich gesagt habe, das tue ich.»

«Werden wir dich also verlieren?»

«Nein, Nikodemus. Zum Täufer gehen Menschen aller Sekten. Zu mir dürfen Menschen aller Sekten und aus allen Ständen kommen.»

«Wir kamen zu dir, da wir wissen, daß du mehr bist als Johannes!»

«Ihr könnt auch weiterhin kommen. Auch ich werde ein einsamer Lehrer wie Johannes sein und zu Scharen sprechen, die die Stimme Gottes hören wollen und fähig sind zu glauben, daß ich diese Stimme bin. Die anderen werden mich vergessen, sofern sie dazu imstande sind.»

«Meister, du bist traurig und enttäuscht. Du hast Grund dazu. Alle hören dich an und erwarten von dir Wunder. Sogar ein Höfling des Herodes, einer, der das natürliche Gutsein an diesem unzüchtigen Hofe verloren haben müßte; sogar römische Soldaten glauben an dich. Nur wir hier von Sion sind so hart... Doch nicht alle. Du siehst es. Wir wissen, Meister, daß du von Gott kommst und sein Lehrer, der größte von allen, bist. Sogar Gamaliel sagt es! Keiner kann deine Wunder wirken, wenn Gott nicht mit ihm ist. Das glauben sogar Gelehrte wie Gamaliel. Woran liegt es, daß wir nicht den Glauben haben wie die Kleinen in Israel? Oh, sage es mir genau! Bist du der Messias des Herrn? Der Erwartete? Das Wort des Vaters? Bist

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du Mensch geworden, um Israel dem Bunde gemäß zu belehren und zu erlösen?»

«Fragst du das aus dir selbst oder haben andere dir aufgetragen, mich danach zu fragen?»

«Aus mir, aus mir selbst, Herr! Ich bin beunruhigt. Ein Sturm ist in mir! Gegenwinde und Gegenstimmen. Warum ist in mir, dem reifen Manne, nicht die friedliche Sicherheit, die einer hat, der unbelesen und kindlich ist, die ihm das Lächeln ins Antlitz, das Licht in die Augen und die Sonne ins Herz legt? Wie glaubst du, Johannes, um so ruhig zu sein? Lehre mich, o Sohn, dein Geheimnis; das Geheimnis, dank dessen du in Jesus, dem Nazarener, den Messias sehen und verstehen kannst.»

Johannes wird rot wie eine Erdbeere, neigt das Haupt, wie um sich zu entschuldigen, etwas so Großes zu sagen, und antwortet einfach: «Weil ich ihn liebe!»

«Weil du liebst! Und du, Simon, rechtschaffener Mann an der Schwelle des Alters, du, der du gelehrt und so schwer geprüft worden bist, daß du versucht bist, überall Täuschung zu befürchten?»

«Weil ich nachdenke.»

«Lieben! Nachdenken! Auch ich liebe und denke nach, und doch bin ich immer noch nicht sicher.»

Nun greift Jesus ein: «Ich sage dir das wahre Geheimnis. Diese haben es verstanden, aufs neue geboren zu werden, mit einem neuen Geist, der von jeder Kette frei und von jeder anderen Idee unberührt ist. Deshalb konnten sie Gott verstehen. Wenn jemand nicht wiedergeboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen und nicht an seinen König glauben.»

«Wie kann ein schon erwachsener Mensch wiedergeboren werden? Aus dem Mutterschoß ausgestoßen, kann der Mensch niemals mehr dahin zurückkehren. Meinst du etwa eine Wiedergeburt, wie sie von vielen Heiden angenommen wird? Aber nein, das ist bei dir nicht möglich, und dann wäre es nicht ein Wiedereingehen in den Schoß, sondern eine Wiedergeburt außerhalb der Zeit. Also nicht in diesem Leben. Wie? Wie?»

«Es gibt nur ein Dasein des Fleisches auf der Erde und ein ewiges Leben im Jenseits. Jetzt spreche ich nicht von Fleisch und Blut, sondern vom unsterblichen Geist, der durch zwei Dinge zum wahren Leben wiedergeboren wird: durch das Wasser und durch den Heiligen Geist. Doch das wichtigere ist der Heilige Geist, ohne den das Wasser nichts als ein Symbol ist. Wer mit Wasser gereinigt ist, muß sich dann mit dem Heiligen Geist reinigen und durch ihn sich entzünden und leuchten, wenn er hier und im Ewigen Reiche im Schoße Gottes leben will. Denn was vom Fleische gezeugt wird, ist und bleibt Fleisch und stirbt, nachdem es ihm in seinen Begierden und Sünden gedient hat. Doch was vom Geiste gezeugt wird, ist Geist und kehrt zum Schöpfer-Geist zurück, nachdem es bis zum vollkommenen Alter den eigenen Geist empor geführt hat. Das Himmelreich wird nur von

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solchen bewohnt sein, die das vollkommene geistige Alter erreicht haben. Wundere dich daher nicht, wenn ich sage: "Ihr müßt aufs neue geboren werden." Diese hier haben es verstanden, wiedergeboren zu werden. Dieser junge Mann hat sein Fleisch abgetötet und den Geist wiedergeboren werden lassen; er hat sein Ich auf den Scheiterhaufen der Liebe gelegt. Alles, was Materie war, wurde verbrannt. Aus der Asche geht seine neue geistige Blume hervor, eine wunderbare Sonnenblume, die sich unablässig der ewigen Sonne zuwendet. Der Ältere hat die Axt der Meditation an die Wurzeln seines alten Denkens angelegt, hat den Baum entwurzelt und nur den Kern des guten Willens zurückbehalten, aus dem sein neues Denken geboren wurde. Nun liebt er Gott mit neuem Geiste und kann ihn sehen. Jeder hat seine Methode, um den Hafen zu erreichen. Jeder Wind ist gut, wenn man das Segel zu handhaben versteht. Ihr spürt den Wind wehen und müßt das Boot manövrieren und darauf achten, in welche Richtung er bläst. Doch könnt ihr nicht sagen, woher er kommt, noch herbeirufen, den ihr nötig habt. Auch der Heilige Geist ruft, kommt rufend und geht vorüber. Doch nur, wer aufmerksam ist, kann ihm folgen. Der Sohn kennt die Stimme des Vaters; der Geist kennt die Stimme des Geistes, von dem er erschaffen wurde.»

«Wie kann dies alles geschehen?»

«Du, Lehrer in Israel, fragst mich danach? Du kennst diese Dinge nicht? Man spricht von dem und bezeugt das, was man weiß und gesehen hat. So spreche ich von dem und bezeuge das, was ich weiß. Wie wirst du je Dinge annehmen können, die du nicht gesehen hast, wenn du nicht das Zeugnis annimmst, das ich dir bringe? Wie wirst du an den Geist glauben können, wenn du nicht an das fleischgewordene Wort glaubst? Ich bin auf die Welt gekommen, um wieder zum Himmel aufzufahren und jene mitzunehmen, die hier unten sind. Einer allein ist vom Himmel herabgestiegen: der Menschensohn. Und einer allein wird zum Himmel aufsteigen mit der Macht, den Himmel zu öffnen: Ich, der Menschensohn. Denke an Moses! Er hat in der Wüste eine Schlange erhöht, um die Kranken Israels zu heilen (Ex 21,4-9). Wenn ich erhöht sein werde, dann werden diejenigen, die jetzt das Fieber der Sünde blind, taub, stumm, irr, aussätzig und krank macht, geheilt werden, und jeder, der an mich glaubt, wird ewiges Leben erlangen. Auch sie, die an mich geglaubt haben, werden dieses selige Leben haben.

Senke nicht deine Stirn, Nikodemus. Ich bin gekommen, um zu retten, nicht, um zugrunde zu richten. Gott hat seinen eingeborenen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit die Menschen dieser Welt verdammt werden, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. Auf der Welt habe ich alle möglichen Sünden angetroffen, alle Irrlehren, alle Götzendienereien. Aber kann eine Schwalbe, die schnell über dem Staube fliegt, ihr Gefieder beschmutzen? Nein! Sie zieht nur über die traurigen Straßen der Erde ein

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blaues Komma, bringt einen Duft aus dem Himmel, stößt einen Ruf aus, um die Menschen aufzurütteln und sie zu bewegen, den Blick vom Schlamm zu erheben und ihrem Flug zu folgen, der zum Himmel zurückführt. So ist es mit mir. Ich komme, um euch mit mir zu nehmen. Kommt! Wer an den Eingeborenen Sohn glaubt, wird nicht gerichtet. Er ist schon gerettet, denn der Sohn bittet den Vater und sagt: "Dieser liebt mich." Doch wer nicht glaubt, dem nützen heilige Werke nicht. Er ist schon gerichtet, denn er hat nicht an den Namen des Einen Sohnes Gottes geglaubt. Kennst du meinen Namen, Nikodemus?»

«Jesus.»

«Nein, Erlöser. Ich bin die Erlösung. Wer nicht an mich glaubt, lehnt sein Heil ab und ist von der Ewigen Gerechtigkeit gerichtet. Und das Urteil wird lauten: "Das Licht war dir gesandt worden, dir und der Welt, um für euch Rettung zu sein. Du und die anderen Menschen, ihr habt dem Licht die Finsternis vorgezogen, denn ihr habt die schlechten Werke, die euch zur Gewohnheit geworden sind, den guten Werken vorgezogen. Er hat euch diese gezeigt, damit ihr heilig werdet." Ihr habt das Licht gehaßt, denn die Übeltäter lieben die Finsternis für ihre Verbrechen, und ihr seid dem Lichte entflohen, damit es eure verborgenen Wunden nicht beleuchte. Das gilt nicht für dich, Nikodemus. Das ist die Wahrheit. Und die Strafe wird dem Urteil entsprechen, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft.

Was nun sie betrifft, die mich lieben und die die Wahrheiten, die ich lehre, in die Tat umsetzen und so zum zweitenmal im Geist geboren werden - das ist die echtere Geburt - sage ich dir, daß sie das Licht nicht scheuen, sondern sich ihm nähern, damit ihr Licht das Licht vermehre, von dem sie erleuchtet worden sind, in einer gegenseitigen Verherrlichung, die Gott in seinen Kindern und die Kinder im Vater beglückt.

Nein, die Kinder des Lichtes fürchten nicht, erleuchtet zu werden. Sie sagen vielmehr in ihrem Herzen und durch ihre Werke: "Nicht ich, sondern Er, der Vater, Er, der Sohn, und Er, der Heilige Geist haben in mir das Gute vollbracht! Ihnen sei Ehre in Ewigkeit."

Und vom Himmel antwortet der ewige Hymnus der Drei Personen, die sich in vollkommener Einheit lieben: "Du seist gesegnet in Ewigkeit, wahrer Sohn unseres Willens." Johannes, denke an diese Worte, wenn es an der Zeit sein wird, sie niederzuschreiben...

Nikodemus, bist du nun überzeugt?»

«Ja, Meister. Wann kann ich dich wieder sprechen?»

«Lazarus wird wissen, wohin er dich führen kann. Ich werde zu ihm gehen, bevor ich mich von hier entferne.»

«Ich gehe, Meister. Segne deinen Diener!»

«Mein Friede sei mit dir!»

Nikodemus geht mit Johannes hinaus.

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Jesus wendet sich an Simon: «Siehst du das Werk der Macht der Finsternis? Wie eine Spinne legt sie ihren Hinterhalt und umwickelt und fesselt den, der nicht zu sterben vermag, um als Schmetterling wiedergeboren zu werden, stark genug, das dunkle Gewebe zu zerreißen und es zu verlassen, während er zur Erinnerung an seinen Sieg Fetzen des leichten Netzes auf den goldenen Flügeln davonträgt, wie Standarten und Oriflammen, die dem Feind entrissen worden sind. Sterben, um zu leben. Sterben, um die Kraft zum Sterben zu haben. Komm, Simon, geh zur Ruhe! Gott sei mit dir!»

Alles ist zu Ende.

156. JESUS BEI LAZARUS, BEVOR ER ZUM "TRÜGERISCHEN GEWÄSSER" GEHT

Jesus steigt den Bergpfad hinan, der zu der Hochebene führt, auf welcher Bethanien erbaut worden ist. Er schlägt diesmal nicht die Hauptstraße ein, sondern diesen steiler ansteigenden Weg, der von Nordwest nach Osten führt und sehr wenig begangen ist, eben weil er so steil ist. Nur die eiligen Reisenden benützen ihn, solche, die Herden haben und sie nicht dem Verkehr der Hauptstraße aussetzen wollen, und solche, die, wie Jesus heute, nicht von zu vielen gesehen werden möchten. Jesus geht voraus und spricht mit dem Zeloten. Dahinter bilden die Vettern mit Johannes und Andreas eine Gruppe, eine weitere Gruppe besteht aus Jakobus des Zebedäus, Matthäus, Johannes und Philippus, und schließlich kommen Bartholomäus, Petrus und Iskariot.

Doch als die Hochebene erreicht ist, auf der Bethanien an diesem schönen Novembertag in der Sonne liegt und von wo aus man im Osten den Jordan und die Straße sieht, die nach Jericho führt, gibt Jesus Johannes Anweisung, Lazarus von seinem Kommen zu unterrichten. Während Johannes davoneilt, geht Jesus mit den Seinen langsam weiter. Er wird immer wieder von Bewohnern der Ortschaft gegrüßt.

Die erste, die aus dem Hause des Lazarus kommt, ist eine Frau, die sich bis auf die Erde verneigt und sagt: «Glücklich dieser Tag für das Haus meiner Herrin! Komm, Meister, hier ist Maximinus und am Tore auch schon Lazarus!»

Auch Maximinus kommt eilends herbei. Ich weiß nicht genau, wer er ist. Ich habe den Eindruck, er sei ein wenig begüterter Verwandter, der von den Kindern des Theophilus aufgenommen worden ist, oder aber ein Verwalter ihrer großen Besitztümer, der jedoch wie ein Freund behandelt wird aufgrund seines jahrelangen Dienstes für die Familie. Vielleicht ist es auch der Sohn eines Verwalters des Vaters, der dann an dessen Stelle bei

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den Kindern des Theophilus im Dienste geblieben ist. Er ist etwas älter als Lazarus, ungefähr fünfunddreißig Jahre alt oder etwas darüber.

«Wir haben nicht gehofft, dich sobald wiederzusehen», sagt er.

«Ich bitte um Herberge für eine Nacht.»

«Wäre es für immer, so würdest du uns glücklich machen.»

Nun sind sie an der Schwelle, und Lazarus küßt und umarmt Jesus und begrüßt die Jünger. Dann legt er einen Arm um die Hüfte Jesu, betritt mit ihm den Garten, sondert sich von den anderen ab und fragt sofort: «Wem verdanke ich die Freude, dich hier zu haben?»

«Dem Haß der Synedristen.»

«Haben sie dir wieder Böses angetan?»

«Nein! Aber sie wollen es tun. Die Stunde ist noch nicht gekommen. Solange ich nicht ganz Palästina gepflügt und den Samen ausgestreut habe, darf ich nicht niedergeschlagen werden.»

«Du mußt auch deine Ernte einbringen, guter Meister. Das ist nur recht und billig!»

«Meine Ernte werden meine Freunde einbringen. Sie werden die Sense anlegen, dort wo ich gesät habe. Lazarus, ich habe beschlossen, mich von Jerusalem zu entfernen. Ich weiß, daß es unnütz ist; ich weiß es im voraus. Aber es wird mir wenigstens die Möglichkeit geben, das Evangelium zu verkünden. In Sion ist es mir verwehrt.»

«Ich habe dir durch Nikodemus sagen lassen, du könntest auf eines meiner Besitztümer gehen. Niemand kann dir dort Gewalt antun. Du könntest ohne Belästigungen deine Aufgabe erfüllen. Oh, mein Haus! Es ist das glücklichste aller meiner Häuser, das geheiligt wird von deiner Lehre und deinem Atem. Mach mir die Freude, dir nützlich zu sein, Meister!»

«Du siehst, daß ich schon dabei bin. Denn in Jerusalem kann ich nicht bleiben. Ich selbst würde nicht belästigt, aber man würde jene belästigen, die zu mir kommen. Ich werde in Richtung Efraim gehen. Zwischen diesem Ort und dem Jordan will ich das Evangelium verkünden und taufen wie Johannes.»

«In den Ländereien um diesen Ort habe ich ein Häuschen. Aber es ist nur eine Hütte für die landwirtschaftlichen Geräte der Arbeiter. Manchmal schlafen sie auch dort, wenn sie zur Zeit der Heuernte oder der Weinlese dort sind. Es ist armselig. Nur ein einfaches Dach auf vier Mauern. Doch es liegt immerhin auf meinem Land, das wissen alle. Dies zu wissen, wird eine Abschreckung für die Schakale sein. Nimm es an, Herr. Ich werde Diener hinsenden, um es herzurichten.»

«Das ist nicht notwendig. Wenn dort deine Landarbeiter schlafen können, dann genügt es auch für uns.»

«Ich will es nicht mit Luxus ausstatten, nur einige Betten mehr aufstellen lassen, arm, wie du es gern hast, und auch für Decken, Stühle, Krüge

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und Becher sorgen. Ihr müßt auch essen und euch zudecken, besonders in diesen Wintermonaten. Laß mich nur machen! Ich brauche es ja nicht selbst zu tun. Hier kommt Martha. Sie hat einen praktischen Sinn und kümmert sich um alle häuslichen Angelegenheiten. Sie ist für das Haus geschaffen und für die Sorge um Leib und Seele aller Hausbewohner. Komm, meine gute, reine Herbergsmutter! Siehst du? Auch ich habe mich unter ihre mütterliche Fürsorge gestellt und lebe in ihrem Erbschaftsanteil. So brauche ich meine Mutter nicht zu sehr zu beweinen.

Martha, Jesus will sich in die Ebene des "Trügerischen Gewässers" zurückziehen. Gut ist nur der fruchtbare Boden; das Haus ist eher ein Stall zu nennen. Aber Jesus wünscht ein Haus der Armut. Es muß mit dem Nötigsten ausgestattet werden. Gib Anweisungen, du bist so tüchtig!» Lazarus küßt die wunderschöne Hand der Schwester, die ihn dann mit mütterlicher Geste liebkost.

Martha sagt: «Ich werde sofort hingehen und Maximinus und Marcella mitnehmen. Die Fuhrleute können beim Einrichten helfen. Segne mich, Meister, so werde ich etwas von dir mitnehmen.»

«Ja, meine gute Herbergsmutter. Ich nenne dich so wie Lazarus. Ich gebe dir mein Herz, damit du es in deinem Herzen tragen kannst.»

«Ist dir bekannt, Meister, daß heute auf diesen Weiden Isaak, Elias und die anderen sind? Sie haben mich um Erlaubnis gebeten, auf den Wiesen der Ebene die Tiere weiden zu dürfen, damit sie etwas beisammen sein können; ich habe zugestimmt. Heute werden sie hier eintreffen; ich erwarte sie für die Mahlzeit.»

«Das freut mich sehr. Ich werde ihnen Anweisungen geben.»

«Ja... um miteinander in Verbindung zu bleiben. Machmal mußt du aber selbst kommen.»

«Ich werde kommen; ich habe darüber schon mit Simon gesprochen. Und da es nicht recht ist, daß ich dein Haus mit den Jüngern überfalle, werde ich in das Haus Simons gehen...»

«Nein, Meister! Warum willst du mir diesen Schmerz bereiten?»

«Bestehe nicht darauf, Lazarus... Ich weiß schon, was richtig ist.»

«Aber dann ...»

«Dann werde ich auf deinen Besitzungen bleiben. Was Simon nicht weiß, weiß ich. Er, der erwerben wollte, ohne sich zu zeigen und ohne zu verhandeln, nur um in der Nähe des Lazarus von Bethanien zu sein, war der Sohn des Theophilus, der treue Freund Simons des Zeloten und der große Freund Jesu von Nazareth. Er, der die Summe für Jonas verdoppelt hat und das Guthaben Simons damit nicht belasten wollte, um ihm die Möglichkeit zu geben, viel für den armen Meister und die Armen des Meisters zu tun: er trägt den Namen Lazarus. Er, der verborgen und aufmerksam wirkt, leitet und alle guten Kräfte einsetzt, um mir Hilfe, Trost und Schutz zu gewähren, ist Lazarus von Bethanien. Ich weiß es.»

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«Oh, sag es nicht! Ich hatte so geglaubt, im Verborgenen recht zu handeln.»

«Für die Menschen ist es ein Geheimnis, aber nicht für mich. Ich lese in den Herzen. Willst du, daß ich dir sage, warum deine natürliche Güte sich mit übernatürlicher Vollkommenheit verbindet? Weil du ein übernatürliches Geschenk erbittest: die Rettung einer Seele, sowie deine und Marthas Heiligung. Und du fühlst, daß es nicht genügt, gut nach der Meinung der Welt zu sein, sondern daß es notwendig ist, gut nach den Gesetzen des Geistes zu sein, um die Gnade Gottes zu besitzen. Du hast meine Worte nicht gehört. Aber ich habe gesagt: "Wenn ihr Gutes tut, tut es im Verborgenen, und euer Vater wird es euch reichlich vergelten!" Du hast aus dem natürlichen Antrieb zur Demut gehandelt. Und in Wahrheit sage ich dir, daß der Vater dir eine Vergeltung vorbereitet, die du dir nicht vorstellen kannst.»

«Die Rettung Marias?»

«Ja, und noch viel mehr!»

«Was gibt es, Meister, das unmöglicher wäre?»

Jesus schaut ihn an und lächelt. Dann sagt er mit dem Ton des Psalmisten:

«Der Herr herrscht, und mit ihm seine Heiligen.

Aus seinen Strahlen bereitet er Kronen und legt sie auf das Haupt der Heiligen, wo sie in Ewigkeit erstrahlen in den Augen Gottes und des Universums. Aus welchem Metall bestehen sie? Mit welchen Edelsteinen sind sie geschmückt? Gold, reinstes Gold ist der Ring, entstanden im doppelten Feuer der göttlichen Liebe und der menschlichen Liebe, bearbeitet mit dem Meißel des Willens, der hämmert, feilt, schneidet und verfeinert.

Perlen von großer Schönheit und Smaragde, grüner als das Gras im April, Türkise von der Farbe des Himmels, Opale bleich wie der Mond, Amethyste, verschämten Veilchen gleich, Jaspisse, Saphyre, Hyazinthen und Topase. Sie sind eingefügt für das ganze Leben. Und, um das Werk zu vollenden, ein Ring von Rubinen, ein großer Reif um die glorreiche Stirn.

Denn der Gesegnete besaß Glauben und Hoffnung, Sanftmut und Keuschheit, Mäßigkeit und Stärke, Gerechtigkeit, Klugheit und grenzenlose Barmherzigkeit; und in seinem Grunde ist mit Blut mein Name und der Glaube an mich, die Liebe zu mir und sein Name im Himmel eingetragen.

Freut euch, ihr Gerechten im Herrn! Der Mensch weiß es nicht, Gott aber sieht!

Er schreibt meine Versprechen in die ewigen Bücher ein und mit ihnen eure Werke und eure Namen, ihr Fürsten der künftigen Zeiten, ihr ewigen Sieger mit Christus, dem Herrn.»

Lazarus betrachtet ihn verwundert. Dann murmelt er: «Oh, ich werde nicht fähig sein.»

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«Glaubst du?» und Jesus bricht einen biegsamen Weidenzweig ab, der über den Weg hängt, und sagt: «Schau! Wie meine Hand diesen Zweig mit Leichtigkeit biegen kann, so wird die Liebe deine Seele biegen und ihr eine ewige Krone bereiten. Die Liebe ist der individuelle Erlöser. Wer liebt, beginnt seine Erlösung. Der Menschensohn wird sie dann zur Vollendung bringen.»

157. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN GEWÄSSER": VORBEREITUNG DER JÜNGER AUF DAS GEMEINSCHAFTSLEBEN

Wenn man dieses niedrige und einfache Haus mit dem Haus in Bethanien vergleicht, dann ist es wirklich nur eine Hütte, wie Lazarus sagt. Aber wenn man es mit den Häusern des Doras für seine Landarbeiter vergleicht, so ist es recht schön.

Sehr niedrig und sehr breit, solide gebaut, hat es eine Küche, besser gesagt einen Kamin in einem ganz verräucherten Raum, in dem ein Tisch, Stühle, Krüge und ein einfaches Gestell stehen; auf letzterem befinden sich Teller und Becher. Eine breite Tür aus rohem Holz gibt Licht. An derselben Hauswand sind noch drei weitere Türen, die in drei lange, enge Kammern führen mit gekalkten Wänden und gestampften Fußböden, wie in der Küche. In zwei dieser Kammern stehen nun Betten. Es scheinen kleine Schlafsäle zu sein. Die vielen Haken in den Wänden zeugen davon, daß hier viele Werkzeuge und vielleicht auch landwirtschaftliche Erzeugnisse aufgehängt wurden. Nun dienen sie als Kleiderhaken, und tragen Mäntel und Taschen. Die dritte Kammer (mehr ein breiter Gang als eine Kammer, denn die Breite ist zu der Länge unproportioniert) ist leer. Sie scheint auch zur Aufnahme von Tieren zu dienen, denn eine Futterkrippe und Ringe hängen an einer Wand, und der Boden weist Spuren von beschlagenen Tieren auf.

Nahe bei letzterem Raum befindet sich freistehend ein breiter, einfacher Schuppen, der aus einem schindelbedeckten Dach und kaum entrindeten Baumstämmen besteht. Es ist mehr ein Wetterdach als ein Schuppen, denn er ist nach drei Seiten hin offen; davon sind zwei mindestens zehn Meter lang, die dritte nicht mehr als fünf. Im Sommer muß an der Südseite ein Weinstock seine Reben von einem Stamm zum anderen ausbreiten. Nun ist er entlaubt und zeigt seine skelettartigen Ranken, wie auch ein riesiger Feigenbaum, der kahl ist und im Sommer das Brunnenbecken in der Mitte des Vorplatzes überschattet. Der Brunnen ist wohl als Tiertränke gedacht, denn er besteht nur aus einem Loch in Bodenhöhe mit einer primitiven Einfassung von flachen Steinen.

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Das ist das Haus, das Jesus und seine Jünger an dem als "Trügerischen Gewässer" bezeichneten Ort beherbergt. Felder, Wiesen und Weingärten umgeben es, und in einer Entfernung von ungefähr dreihundert Metern (nehmt meine Schätzungen nicht als Glaubenssatz) sieht man ein anderes Haus inmitten der Felder, das bedeutend schöner ist, weil es eine Terrasse auf dem Dach hat, die dem kleinen Haus hier fehlt. Jenseits dieses Gebäudes verhindern Olivenbäume und andere Bäume, teils kahl, teils nur spärlich belaubt, die Aussicht.

Petrus, sein Bruder und Johannes arbeiten mit Eifer daran, den Vorplatz und die Kammern zu fegen, die Betten herzurichten und Wasser zu schöpfen. Petrus macht um den Brunnen herum ein Geländer, um daran Stricke anzubringen und das Wasserholen zu vereinfachen. Die beiden Vettern Jesu arbeiten mit dem Hammer und der Feile an Schlössern und Fensterläden, und Jakobus des Zebedäus hilft mit der Säge und dem Beil wie ein Werftarbeiter.

Thomas ist in der Küche beschäftigt, und er scheint ein erprobter Koch zu sein, so gut versteht er es, Feuer und Flamme zu handhaben und flink das Gemüse zu säubern, das der schöne Iskariot aus dem nahen Dorf zu holen geruht. Ich nehme an, daß es ein mehr oder weniger kleines Dorf ist, denn Iskariot murmelt etwas und erklärt, daß nur zweimal in der Woche Brot gebacken wird und daß es somit an diesem Tage keines gibt. Petrus hört zu und sagt: «Dann backen wir eben Pfannkuchen auf der Flamme. Dort ist Mehl. Schnell, zieh den Kittel aus und mach einen Teig! Ich werde dann für das Backen sorgen. Ich kann es.»

Und ich kann nicht umhin zu lachen, als ich sehe, wie Iskariot sich verdemütigt, im Unterkleid das Mehl zu sieben, und sich dabei einpudert.

Jesus ist nicht da, und mit ihm fehlen Simon, Bartholomäus, Matthäus und Philippus.

«Am schlimmsten ist es heute», antwortet Petrus auf eine mürrische Frage Iskariots. «Doch morgen wird es schon besser gehen und im Frühjahr wird es ganz gut gehen.»

«Im Frühjahr? Werden wir denn bis dahin hierbleiben?» fragt Judas erschrocken.

«Warum? Ist es denn kein richtiges Haus? Wenn es regnet, werden wir nicht naß, Trinkwasser gibt es, und auch der Herd fehlt nicht. Was willst du mehr? Mir gefällt es hier gut, denn es riecht nicht nach Pharisäern und Genossen.»

«Petrus, laß uns die Netze einziehen!» sagt Andreas und zieht den Bruder mit sich fort, bevor der Streit zwischen ihm und Iskariot ausbricht.

«Dieser Mensch kann mich nicht leiden!» ruft Judas aus.

«Nein, das darfst du nicht sagen. Er ist mit allen so. Doch er ist gut. Nur du bist immer unzufrieden», antwortet Thomas, der stets guter Laune ist.

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«Ich hatte mir etwas anderes vorgestellt ...»

«Mein Vetter verbietet dir nicht, etwas anderes zu suchen», sagt Jakobus des Alphäus trocken. «Ich glaube, daß wir alle, weil wir eben dumm sind, geglaubt haben, daß es etwas anderes wäre, ihm nachzufolgen. Aber nur, weil wir einen harten Schädel und einen großen Hochmut haben! Er hat uns nie die Gefahr und die Mühen verheimlicht, die mit seiner Nachfolge verbunden sind.»

Judas murmelt etwas zwischen den Zähnen. Es antwortet ihm der andere Judas, der Thaddäus, der an einem Gestell in der Küche arbeitet, um daraus einen kleinen Schrank zu machen. «Du hast unrecht! Auch nach den Bräuchen hast du unrecht. Jeder Israelit ist zur Arbeit verpflichtet und wir arbeiten. Ist dir die Arbeit eine solche Last? Ich spüre sie nicht, denn bei ihm wird mir jede Arbeit leicht.»

«Auch ich beklage mich nicht. Und ich bin zufrieden, wie wenn ich in einer Familie lebte», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Hier werden wir viel tun können ...» bemerkt Judas Iskariot spöttisch.

«Aber was willst du denn eigentlich? Was erwartest du denn? Einen Satrapenhof? Ich erlaube dir nicht, zu kritisieren, was mein Vetter macht! Hast du verstanden?» explodiert Thaddäus.

«Schweig, Bruder! Jesus will diese Streitereien nicht! Sprechen wir so wenig wie möglich und arbeiten wir so viel wie möglich. Es ist wohl besser für alle. Andererseits, wenn es Jesus nicht gelingt, die Herzen zu wandeln, willst du es mit deinen Worten besser können?» fragt Jakobus des Alphäus.

«Das Herz, das sich nicht ändert, ist wohl meines, nicht wahr?» fragt Iskariot angriffslustig. Doch Jakobus antwortet ihm nicht. Er steckt einen Nagel zwischen die Zähne, nagelt sehr eifrig die Bretter zusammen und macht dabei einen Lärm, in dem sich das Murren Iskariots verliert.

Es vergeht einige Zeit, dann kommt Isaak mit Eiern und einem Korb frischer, knuspriger Brote, und Andreas bringt gleichzeitig einen Eimer mit Fischen.

«Hier», sagt Isaak. «Der Verwalter schickt dies und läßt fragen, ob sonst nichts fehlt. Er habe den Auftrag, euch zu helfen.»

«Siehst du, daß wir nicht Hungers sterben?» sagt Thomas zu Iskariot. Dann wendet er sich an Andreas: «Gib mir die Fische, Andreas. Wie schön! Doch wie bereitet man sie zu? ... Ich weiß nicht, wie man das macht.»

«Ich mache das schon, ich bin Fischer», sagt Andreas, und er geht in die Ecke, um die noch lebenden Fische zu töten und auszunehmen.

«Der Meister kommt. Er ist durchs Dorf und die Felder gegangen. Ihr werdet sehen, wie schnell die Leute kommen. Er hat schon einen Augenkranken geheilt. Als ich durch die Felder kam, wußten sie es schon alle ...»

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«Nun ja... ich, ich... es gelten nur die Hirten... Wir haben - ich wenigstens - ein sicheres Leben aufgegeben, und dies und das getan; aber das alles zählt nicht... !»

Isaak betrachtet Iskariot verwundert, antwortet jedoch klugerweise nicht. Die anderen tun es ihm gleich, doch innerlich sind sie alle erregt.

«Friede euch allen!» Jesus steht lächelnd und gütig an der Schwelle. Es scheint, als ob bei seiner Ankunft die Sonne heller strahlte. «Wie tüchtig ihr seid! Alle bei der Arbeit. Kann ich dir helfen, Vetter?»

«Nein, ruhe dich aus! Ich bin fertig.»

«Wir sind reichlich mit Lebensmitteln versorgt. Alle wollten geben. Wenn nur alle die Herzen der Demütigen hätten», sagt Jesus etwas traurig.

«Oh, mein Meister! Gott möge dich segnen!» Es ist Petrus, der mit einem Bündel Holz auf den Schultern hereinkommt und unter seiner Last hervor Jesus grüßt.

«Auch dich, Petrus, möge der Herr segnen. Ihr habt viel gearbeitet.»

«Und noch mehr wollen wir in den freien Stunden tun. Wir haben ein Landhaus. Wir werden ein Eden daraus machen. Ich habe schon den Brunnen hergerichtet, damit man in der Nacht sehen kann, wo er ist, und beim Einfüllen die Krüge nicht verliert. Und dann schau, wie tüchtig deine Vettern sind! Alles notwendige Dinge für jemanden, der länger an einem Ort leben muß; ich, ein Fischer, hätte es nicht fertiggebracht. Wirklich tüchtig, auch Thomas! Er könnte sich in der Küche des Herodes anstellen lassen. Auch Judas ist tüchtig; er hat prächtige Pfannkuchen gebacken...»

«Und umsonst, denn es gibt Brot», antwortet Judas verstimmt. Petrus schaut ihn an, und ich bin auf eine gepfefferte Antwort gefaßt; doch er schüttelt nur den Kopf, bringt die Asche in Ordnung und legt seine Pfannkuchen darauf.

«Es ist gleich alles fertig», sagt Thomas und lacht.

«Wird er heute sprechen?» fragt Jakobus des Zebedäus.

«Ja, zwischen der sechsten und der neunten Stunde. Eure Gefährten haben es gesagt. So werden wir also pünktlich essen.»

Nach einer Weile legt Johannes das Brot auf den Tisch, stellt die Stühle zurecht, bringt die Becher und die Krüge, und Thomas trägt gesottenes Gemüse und gebratenen Fisch herbei.

Jesus sitzt in der Mitte, opfert auf, segnet, teilt aus, und alle essen mit Appetit.

Sie essen noch, als sich auf dem Vorplatz schon die ersten Leute zeigen. Petrus steht auf und geht an die Tür. «Was wollt ihr?»

«Den Meister. Wird er nicht hier sprechen?»

«Er wird sprechen, doch jetzt ißt er, denn er ist auch ein Mensch. Setzt euch dorthin und wartet!» Die Leute gehen unter das einfache Dach.

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«Es wird kalt werden und oft regnen. Ich meine, es wäre besser, den leeren Stall zu benützen. Ich habe ihn so gut als möglich gereinigt. Die Krippe wird die Kanzel sein.»

«Spotte nicht! Der Rabbi ist Rabbi», sagt Judas.

«Warum Spöttereien? Wenn er in einem Stall geboren wurde, kann er auch von einer Krippe aus predigen.»

«Petrus hat recht. Doch ich bitte euch, liebt einander!» Jesus scheint etwas müde bei diesen Worten.

Sie beenden die Mahlzeit; Jesus geht sofort hinaus und begibt sich zu der kleinen Gruppe.

«Warte, Meister!» ruft Petrus hinter ihm her. «Dein Vetter hat dir einen Hocker gemacht, denn der Boden ist dort drüben feucht.»

«Nicht nötig. Du weißt doch, daß ich stehend spreche. Die Leute wollen mich sehen, und auch ich will sie sehen. Es wäre besser, ihr würdet Bänke und Liegen machen. Vielleicht kommen Kranke...»

«Du denkst immer nur an die anderen, guter Meister», sagt Johannes und küßt Jesus die Hand. Jesus geht mit einem etwas traurigen Lächeln zu der kleinen Gruppe. Mit ihm sind alle Jünger.

Petrus, der an der Seite Jesu steht, zieht ihn zu sich und sagt leise: «Hinter der Mauer ist die verschleierte Frau. Ich habe sie schon frühmorgens gesehen. Sie ist uns von Bethanien aus gefolgt. Soll ich sie wegjagen oder dalassen?»

«Lasse sie; ich habe es schon gesagt.»

«Aber wenn sie eine Spionin ist, wie Iskariot sagt?»

«Sie ist es nicht. Vertraue dem, was ich sage! Laß sie in Frieden und sag den anderen nichts! Achte ihr Geheimnis!»

«Ich habe niemand etwas gesagt, denn ich dachte, es sei besser, zu schweigen.»

«Friede mit euch, die ihr das Wort sucht!» beginnt Jesus. Er geht ans Ende des Schuppens und hat die Mauer des Hauses im Rücken. Er spricht langsam zu den etwa zwanzig Personen, die auf der Erde sitzen oder sich an die Säulen lehnen in der lauen Wärme dieses sonnigen Novembertages.

«Der Mensch irrt in seiner Auffassung über Leben und Tod und im Gebrauch dieser beiden Benennungen. Er nennt "Leben" die Zeit, in der er, von der Mutter geboren, anfängt zu atmen, sich zu ernähren, zu bewegen, zu denken und zu handeln; und er nennt "Tod" den Augenblick, in welchem Atmung, Ernährung, Bewegung, Denken und die Tätigkeiten aufhören und der Körper zu einer kalten, gefühllosen Hülle wird, bereit, in einen Schoß einzugehen: in das Grab. Doch es ist nicht so. Ich will euch das "Leben" verständlich machen und euch die für das Leben notwendigen Werke zeigen.

Das Leben beginnt nicht mit der Existenz und endet nicht mit dem Ende des Leibes. Das Leben beginnt vor der Geburt und hat dann kein

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Ende mehr, denn die Seele kann nicht sterben: das heißt, sie vergeht nicht. Sie stirbt für ihre himmlische Bestimmung, aber sie überlebt ihre Strafe (wenn sie diese verdient hat). Für diese Bestimmung stirbt selig, wer in der Gnade stirbt. Wenn dieses Leben von einem Geschwür befallen wird, das den Tod für seine Bestimmung bedeutet, dauert es in Ewigkeit in der Verdammnis und der Qual fort. Wenn es jedoch unbefleckt bleibt, erreicht es die Vollkommenheit des Lebens, in der es ewig vollkommen und glückselig ist wie sein Schöpfer.

Haben wir Pflichten gegen das Leben? Ja! Es ist ein Geschenk Gottes. Jede Gabe Gottes muß sorgfältig benützt und erhalten werden; denn es ist eine so heilige Sache wie der Geber. Würdet ihr das Geschenk eines Königs verschleudern? Nein! Es wird den Erben weitergegeben, und von den Erben den nächsten Erben, als Ruhm der Familie. Warum also das Geschenk Gottes mißbrauchen? Wie benützt und bewahrt man aber dieses königliche Geschenk? Auf welche Weise erhält man die paradiesische Blume der Seele am Leben, um sie für den Himmel zu bewahren? Wie kann man erreichen, höher und über die Existenz hinaus zu "leben"?

Israel hat diesbezüglich klare Gesetze und braucht sie nur zu befolgen. Israel hat Propheten und Gerechte, die in Wort und Tat Beispiel geben, wie die Gesetze befolgt werden sollen. Israel hat auch seine Heiligen. Israel kann und dürfte daher nicht irren. Aber ich sehe Flecken in den Herzen und tote Seelen überall. Daher sage ich euch: tut Buße, öffnet eure Seelen dem Wort! Setzt das unveränderliche Gesetz in die Tat um! Erneuert das Blut des erschöpften "Lebens", das in euch dahinsiecht, wenn es nicht schon tot ist. Kommt zum wahren Leben, kommt zu Gott! Beweint eure Sünden. Ruft: "Erbarmen!" Aber erhebt euch! Seid keine lebenden Toten, damit ihr morgen keine ewig Büßenden sein müßt. Ich rede von nichts anderem als von der Art und Weise, das Leben zu erlangen und zu bewahren. Ein anderer (der Täufer) hat zu euch gesagt: "Tut Buße! Reinigt euch vom unreinen Feuer der Unzucht, dem Schlamm eurer Sünden!"

Ich sage euch: Arme Freunde, laßt uns miteinander das Gesetz betrachten. Laßt uns in ihm wieder die väterliche Stimme des wahren Gottes hören und dann miteinander den Ewigen bitten: "Deine Barmherzigkeit komme über unsere Herzen!"

Es ist jetzt düsterer Winter. Doch bald kommt der Frühling. Eine tote Seele ist trauriger als ein in der Kälte erstarrter Hain. Aber wenn Demut, Wille, Buße und Glaube euch erfüllen, so wie der Frühling den Hain erfüllt, dann wird das Leben in euch zurückkehren, und ihr werdet für Gott erblühen, um morgen, dem Morgen der Ewigkeit der Ewigkeiten, die ewige Frucht des wahren Lebens zu finden.

Kommt zum Leben! Hört auf, nur zu existieren, und fangt an zu "leben"! Der Tod wird dann nicht das "Ende", sondern der Anfang sein. Der

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Beginn eines Tages ohne Sonnenuntergang, einer Freude ohne Ermüdung und Maß. Der Tod wird der Sieg dessen sein, was vor dem Fleische war. Er wird auch der Sieg des Fleisches sein, das zur ewigen Auferstehung berufen ist, um an diesem Leben teilzunehmen, das ich im Namen des wahren Gottes all jenen verspreche, die das "Leben" für ihre Seele gewollt und die Sinne und die Leidenschaften bekämpft haben, um die Freiheit der Kinder Gottes zu genießen.

Geht! Alle Tage zu dieser Stunde werde ich zu euch über die ewige Wahrheit sprechen. Der Herr sei mit euch!»

Die Menge zerstreut sich langsam. Jesus geht zum einsamen Häuschen, und alles ist zu Ende.

158. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN GEWÄSSER": «ICH BIN DER HERR, DEIN GOTT!»

Es sind heute doppelt so viele Leute da wie gestern, auch einige vornehme Personen unter ihnen. Manche sind auf Eseln gekommen und nehmen ihre Mahlzeit unter dem Vordach ein, an dessen Pfähle sie die Tiere angebunden haben. Alle erwarten den Meister.

Der Tag ist kalt, aber klar. Die Leute reden miteinander. Die Vorlauteren erklären, wer der Meister ist und warum er an diesem Orte spricht. Einer fragt: «Aber ist er denn größer als Johannes?»

«Nein, er ist nur anders. Johannes - ich war beim Täufer - ist der Vorläufer und die Stimme der Gerechtigkeit. Dieser ist der Messias und die Stimme der Weisheit und der Barmherzigkeit.»

«Wie kannst du das wissen?» fragen viele.

«Drei ständige Jünger des Johannes des Täufers haben es mir gesagt! Wenn ihr wüßtet! Sie haben gesehen, wie er geboren wurde. Denkt einmal: er wurde aus dem Licht geboren. Es war ein so starkes Licht, daß sie - sie waren Hirten - aus dem Schafstall flüchteten mit den Tieren, die vor Schrecken verrückt geworden waren. Und sie haben gesehen, wie ganz Bethlehem brannte. Dann sind die Engel vom Himmel herabgekommen und haben das Feuer mit ihren Flügeln gelöscht. Er war auf die Erde gekommen als Kind aus dem Licht geboren... Das ganze Feuer ist zu einem großen Stern geworden.»

«Aber nein! So war es nicht!»

«So war es! Mir hat es einer gesagt, ein Stallbursche aus Bethlehem, als ich noch ein Kind war. Jetzt, da der Messias ein Mann geworden ist, rühmt sich der ehemalige Stallbursche damit.»

«Es war nicht so. Der Stern ist nachher erschienen. Er ist mit den Magiern aus dem Morgenlande gekommen; von ihnen war einer ein Verwandter

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Salomons und daher des Messias, denn er ist aus dem Geschlechte Davids, und David ist der Vater Salomons. Und Salomon liebte die Königin von Saba, weil sie schön war und der Geschenke wegen, die sie ihm brachte, und sie schenkte ihm einen Sohn, der aus Juda war, obwohl er aus der Gegend jenseits des Nils kam.»

«Was erzählst du da? Bist du verrückt?»

«Nein. Willst du sagen, daß es nicht wahr ist, daß ihm der Verwandte den Weihrauch brachte, wie es unter Königen und in seinem Stamme Brauch ist?»

«Ich weiß, wie es sich zutrug», sagt ein anderer. «Ich weiß es, denn Isaak ist einer der Hirten, und er ist mein Freund. Also, das Kind wurde in einem Stall geboren und war aus dem Hause Davids. So war es vorhergesagt.»

«Aber ist er nicht aus Nazareth?»

«Laßt mich doch reden! ... Er wurde in Bethlehem geboren, weil er aus dem Geschlechte Davids war und es um die Zeit des Erlasses geschah. Die Hirten haben ein Licht gesehen, wie es kein schöneres gibt, und der kleinste von ihnen - der unschuldigste - hat als erster den Engel des Herrn gesehen, der zu ihm mit Harfenklang in der Stimme sagte: "Der Erlöser ist geboren. Geht und betet ihn an!" Dann haben die Engelscharen gesungen: "Ehre sei Gott und Friede den guten Menschen." Und die Hirten haben sich auf den Weg gemacht und ein Kind gefunden, in einer Futterkrippe zwischen einem Ochsen und einem Esel, und die Mutter und den Vater. Sie haben es angebetet und dann alle drei in das Haus einer guten Frau gebracht. Das Kind wuchs heran wie alle, schön, gut und ganz Liebe. Dann kamen die Magier von jenseits des Euphrats und des Nils, denn sie hatten einen Stern gesehen und in ihm den Stern Balaams erkannt (Num 24,15-19). Doch das Kind konnte schon gehen. Der König Herodes befahl es zu ermorden, weil er um sein Reich fürchtete. Doch der Engel des Herrn hatte die Gefahr verkündet, und die Kinder von Bethlehem mußten sterben, während er fliehen konnte, weiter als Matarea. Dann ist er nach Nazareth zurückgekehrt, um Schreiner zu werden. Als seine Zeit gekommen war, nachdem der Täufer, sein Vetter, ihn angekündigt hatte, begann er seine Mission und hat zuerst die Hirten aufgesucht. Isaak hat er nach dreißigjähriger Krankheit von seiner Lähmung geheilt... Jetzt verkündet ihn Isaak unermüdlich. So ist es!»

«Aber die drei Jünger des Täufers haben mir genau diese Worte gesagt», verteidigt sich der erste ganz verwirrt.

«Sie sind schon wahr. Was nicht stimmt, ist die Schilderung des Stallburschen. Warum rühmt er sich? Es wäre besser, er würde zu den Bethlehemiten sagen, daß sie gut sein sollen. Weder in Bethlehem noch in Jerusalem konnte er predigen.»

«Ja. Meinst du vielleicht, die Schriftgelehrten und Pharisäer könnten

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seine Worte lieben? Das sind doch Schlangen und Hyänen, wie sie der Täufer nennt.»

«Ich möchte geheilt werden. Siehst du, ich habe ein schwärendes Bein. Ich habe schrecklich gelitten, als ich auf dem Maultier hierherkam. Doch ich hatte ihn schon in Sion gesucht; er war nicht mehr dort ...» sagt einer.

«Sie haben ihm mit dem Tode gedroht», sagt ein anderer.

«Diese Hunde!»

«Ja. Woher kommst du denn?»

«Von Lydda.»

«Das ist ein weiter Weg!»

«Ich, ich möchte ihm meinen Irrtum bekennen. Ich habe es dem Täufer gesagt. Doch er hat mich so beschimpft, daß ich davongelaufen bin. Nun fürchte ich, keine Verzeihung mehr zu erhalten...» sagt ein anderer.

«Was hast du denn getan?»

«Etwas sehr Böses! Ihm werde ich es bekennen. Was meint ihr, wird er mich verfluchen?»

«Nein. Ich habe ihn in Bethsaida reden hören. Ich war zufällig dort. Welche Worte! Er hat von einer Sünderin gesprochen. Beinahe wollte ich sie gewesen sein, um solcher Worte würdig zu sein», sagt ein vornehmer Greis.

«Da kommt er!» rufen mehrere Stimmen zugleich.

«Barmherzigkeit! Ich schäme mich!» schreit der Schuldvolle und will fliehen.

«Wohin fliehst du, mein Sohn? Ist dein Herz so schwarz, daß du das Licht hassen und vor ihm flüchten mußt? Hast du so schwer gesündigt, daß du vor mir Angst hast? Vor mir, der Vergebung? Welche Sünde hast du denn begangen? Nicht einmal wenn du Gott getötet hättest, müßtest du fürchten, wenn du nur wahre Reue im Herzen hast. Weine nicht! Oder komme vielmehr hierher und laß uns miteinander weinen!»

Jesus hatte die Hand erhoben, um den Fliehenden aufzuhalten, ergreift ihn nun fest, wendet sich den Wartenden zu und sagt: «Nur einen Augenblick, um dieses Herz zu erleichtern! Dann komme ich zu euch.» Er entfernt sich längs des Hauses und stößt an der Ecke auf die verschleierte Frau an ihrem Horchposten. Jesus schaut sie einen Augenblick fest an, geht dann noch zehn Schritte weiter und bleibt stehen: «Was hast du getan, mein Sohn?»

Der Mann fällt auf die Knie. Er ist ungefähr fünfzig Jahre alt. Ein von vielen Lastern zerstörtes und von einer geheimen Qual verwüstetes Gesicht. Er breitet die Arme aus und ruft: «Um mit Weibern das ganze väterliche Erbe verprassen zu können, habe ich meine Mutter und meinen Bruder getötet. Seitdem habe ich keine Ruhe mehr... Meine Speise... Blut! Mein Schlaf... ein Alptraum! Meine Lust... ach, in den Armen der Dirnen, in ihrem Schrei der Unzucht spürte ich den kalten Leichnam

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meiner Mutter und das Röcheln meines vergifteten Bruders. Verflucht seien die Dirnen, diese Schlangen, Medusen und unersättlichen Muränen... mein Verderben, mein Ruin!»

«Verfluche nicht! Ich verfluche dich nicht.»

«Du verdammst mich nicht?»

«Nein! Ich beweine deine Schuld und nehme sie auf mich! Schwer ist sie! Sie zerreißt mir die Glieder. Aber ich nehme sie fest in meine Arme, um sie dir abzunehmen und auf mich zu laden... Und ich verzeihe dir! Ja, ich vergebe dir deine große Schuld.» Jesus legt die Hände auf das Haupt des schluchzenden Mannes und betet: «Vater, auch für ihn werde mein Blut vergossen. Jetzt fließen die Tränen, und mein Gebet dringt zu dir, Vater. Verzeihe ihm, denn er bereut. Dein Sohn, dem das Urteil über alles anvertraut ist, will es so.» Er verbleibt noch einige Augenblicke in dieser Haltung; dann beugt er sich, zieht den Mann an sich und sagt zu ihm: «Deine Schuld ist verziehen! Es liegt nun an dir, was von deinen Verbrechen überbleibt, mit einem Leben der Buße zu sühnen.»

«Gott hat mir verziehen? Und die Mutter? Und der Bruder?»

«Wenn Gott verziehen hat, dann ist dir von allen verziehen worden. Gehe und sündige nicht mehr!»

Der Mann weint noch stärker und küßt ihm die Hand. Jesus überläßt ihn seinen Tränen. Er geht zum Haus. Die verschleierte Frau macht eine Bewegung, als wolle sie ihm entgegengehen; doch dann senkt sie das Haupt und bewegt sich nicht. Jesus geht an ihr vorbei, ohne sie anzusehen.

Er ist nun an seinem Platz und spricht: «Eine Seele ist zum Herrn zurückgekehrt. Seine Allmacht sei gepriesen! Sie entreißt die von ihm erschaffenen Seelen den satanischen Schlingen, und führt sie auf den Weg des Himmels zurück. Warum hatte sich diese Seele verirrt? Weil sie die Gebote aus den Augen verloren hatte.

Es steht geschrieben (Ex 19; 20), daß der Herr sich auf Sinai kundgetan hat in seiner ganzen schrecklichen Macht, um mit dieser zu sagen: "Ich bin Gott. Dies ist mein Wille! Und dies sind die Blitze, die ich bereithalte für alle, die gegen den Willen Gottes aufbegehren." Bevor er so sprach, verlangte er, daß niemand aus dem Volk emporsteige, um den, der ist, anzuschauen, und daß auch die Priester sich reinigten, bevor sie sich in die Nähe Gottes begaben, um nicht erschlagen zu werden. Und dies, weil es die Zeit der Gerechtigkeit und der Prüfungen war. Die Himmel waren verschlossen wie von einem Stein über dem Geheimnis des Himmels und dem Zorn Gottes, und nur die Blitze der Gerechtigkeit fielen auf die schuldigen Söhne nieder. Aber jetzt ist es nicht mehr so! Jetzt ist der Gerechte gekommen, um die Gerechtigkeit zu erfüllen, und die Zeit ist da, in der das göttliche Wort ohne Blitze und ohne Schranken direkt zu den Menschen spricht, um ihnen die Gnade und das Leben zu geben.

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Das erste Wort des Vaters und Herrn ist: "Ich bin der Herr, dein Gott!" Es gibt keinen Augenblick des Tages, an dem dieses Wort nicht ertönt und nicht kundgetan wird durch die Stimme und den Finger Gottes. Wo? Überall! Alles spricht unaufhörlich davon. Vom Gras bis zu den Sternen, vom Wasser bis zum Feuer, von der Wolle bis zur Nahrung, vom Licht bis zur Finsternis, von der Gesundheit bis zur Krankheit, vom Reichtum bis zur Armut, alles bekundet: "Ich bin der Herr! Durch mich erhaltet ihr alles! Ein Gedanke von mir gibt es dir, ein anderer Gedanke von mir nimmt es dir; es gibt keine Heeresmacht noch Verteidigung, die dich von meinem Willen abschirmen könnten!" Er ruft in der Stimme des Windes, er singt im Plätschern des Wassers, er duftet im Wohlgeruch der Blumen und er spaltet die Rücken der Berge; er flüstert, spricht, ruft und schreit in den Gewissen: "Ich bin der Herr, dein Gott!"

Vergeßt es nie! Verschließt eure Augen, eure Ohren nicht, und unterdrückt nicht das Gewissen, um dieses Wort nicht zur hören! Es ist da, und es kommt der Augenblick, da es vom Feuerfinger Gottes an die Wand des Gastsaales, auf die stürmische Welle, auf die Lippen des lächelnden Kindes oder die Todesblässe des sterbenden Greises, auf die duftende Rose oder das übelriechende Grab geschrieben wird. Es kommt auch der Augenblick, wo es im Rausche des Weines und der Lust, aus den Rädern der Geschäftigkeit und der Ruhe der Nacht, bei einem einsamen Spaziergang, seine Stimme erhebt und sagt: "Ich bin der Herr, dein Gott!" Und weder das Fleisch, das gierig küßt, noch das Mahl, das du unmäßig verzehrst, noch das Gold, das du zusammenraffst, noch das Bett der Trägheit: kein Stillesein und kein Schlaf vermag, es zum Schweigen zu bringen.

"Ich bin der Herr, dein Gott", der Begleiter, der dich nicht verläßt, der Gast, den du nicht abweisen kannst! Bist du gut? Dann ist auch der Gast und Begleiter dein guter Freund. Bist du verdorben und schuldbeladen, dann wird der Gast und Begleiter zum erzürnten König und gibt keinen Frieden. Er verläßt dich nicht, er läßt dich nicht los. Nur den Verdammten ist es möglich, sich von Gott zu trennen. Aber diese Trennung ist eine unaufhörliche Qual, die ewig dauert. "Ich bin der Herr, dein Gott", und er fügt hinzu: "der dich hinausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Hause deiner Knechtschaft." Oh, wie wahr sind diese Worte gerade jetzt! Aus welch einem Ägypten führt er dich heraus, hin zum verheißenen Land, mit dem nicht dieser Erdenort, sondern der Himmel gemeint ist! Das ewige Reich des Herrn, wo es weder Hunger noch Durst, weder Tod

noch Kälte gibt, sondern alles nur Seligkeit und Friede ist, und jeder Geist von Freude und Frieden gesättigt sein wird.

Vom wahren Sklaventum befreit er dich jetzt. Er ist der Befreier! Ich bin es! Ich komme, eure Ketten zu zerbrechen. Jeder menschliche Machthaber wird den Tod kennenlernen, und durch seinen Tod werden die versklavten Völker befreit. Doch Satan stirbt nicht. Er ist ewig. Er ist der

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Bezwinger, der euch in Ketten gelegt hat, um euch hinzuschleppen, wohin er will. Die Sünde ist in euch. Und die Sünde ist die Kette, an welcher Satan euch hält. Ich komme, die Kette zu zerbrechen. Im Namen des Vaters komme ich, und weil ich es wünsche. Dadurch erfüllt sich die Verheißung, die nicht verstanden wird: "Ich führte dich aus Ägypten heraus und entriß dich dem Sklaventum."

Das findet jetzt seine spirituelle Erfüllung. Der Herr, euer Gott, entreißt euch dem Lande des Götzen, der die Stammeltern verführt hat. Er entreißt euch der Sklaverei der Schuld, bekleidet euch wieder mit der Gnade und läßt euch in sein Reich ein.

Wahrlich, ich sage euch: wer zu mir kommen will, wird die Stimme des Allerhöchsten voll väterlicher Zärtlichkeit im glücklichen Herzen hören können. "Ich bin der Herr, dein Gott, und ich ziehe dich, befreit und glücklich, an mich."

Kommt! Wendet euer Herz, euer Antlitz, euer Gebet, euren Willen zum Herrn! Die Stunde der Gnade ist gekommen.»

Jesus hat geendet. Er geht segnend an der Menge vorüber, streichelt eine Greisin und ein dunkelhaariges, kleines, fröhlich lachendes Mädchen.

«Mache mich gesund, Meister! Ich bin schwer krank», sagt der Mann mit dem schwärenden Bein.

«Zuerst die Seele, zuerst die Seele! Tue Buße!»

«Gib mir die Taufe wie Johannes! Ich kann nicht zu ihm gehen, denn ich bin krank.»

«Komm!» Jesus geht zum Fluß, der jenseits zweier großer Wiesen fließt und von einem Gebüsch verdeckt ist. Er legt die Sandalen ab, und der Mann, der sich mit seinen Krücken an die Stelle geschleppt hat, tut es ihm nach. Sie gehen zum Ufer; Jesus formt seine beiden Hände zur Schale, schöpft Wasser und gießt es auf das Haupt des Mannes, der im Wasser steht.

«Nimm nun die Binde ab!» ordnet Jesus an, während er hinauf und zurück zum Pfad geht.

Der Mann folgt ihm. Das Bein ist geheilt. Die Menge schreit ihr Erstaunen.

«Ich auch!»

«Ich auch!»

«Auch wir wollen deine Taufe!» rufen sie.

Jesus ist schon auf halbem Weg. Er wendet sich um und sagt: «Morgen! Nun geht und seid gut! Der Friede sei mit euch!»

Alles ist zu Ende; Jesus kehrt ins Haus zurück, in die Küche, in der es schon dunkel ist, obwohl es die ersten Stunden am Nachmittag sind.

Die Jünger umringen ihn. Petrus fragt: «Der Mann, den du mit dir hinter das Haus genommen hast, was hatte er?»

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«Der Reinigung bedurfte er.»

«Er ist nicht zurückgekommen. Er hat nicht um die Taufe gebeten.»

«Er ist dahin gegangen, wohin ich ihn gewiesen habe.»

«Wohin?»

«Zum Sühnen, Petrus.»

«In den Kerker?»

«Nein, zum Sühnen für den Rest seines Lebens.»

«Er reinigt sich also nicht mit dem Wasser?»

«Auch die Tränen sind Wasser.»

«Das ist wahr. Nun, da du dieses Wunder gewirkt hast, wer weiß, wie viele noch kommen werden... Heute waren es schon doppelt so viele...»

«Ja, wenn ich alles tun sollte, ich könnte es nicht. Ihr werdet taufen. Zuerst einer, dann zu zweit, zu dritt, zu vielen. Ich werde predigen und die Kranken und Schuldbeladenen heilen.»

«Wir sollen taufen? Oh! Ich bin dessen nicht würdig. Nimm diese Aufgabe von mir, Herr! Vielmehr habe ich es nötig, getauft zu werden!»Petrus kniet nieder und fleht ihn an.

Jesus neigt sich zu ihm und sagt: «Gerade du wirst als erster taufen. Von morgen an.»

«Nein, Herr! Wie soll ich es tun, da ich schwärzer bin als der Kamin dort?»

Jesus lächelt über die demütige Aufrichtigkeit des Apostels, der noch immer kniet und dabei seine großen gefalteten Fischerhände auf die Knie Jesu gelegt hat. Er küßt ihn auf die Stirn, am graumelierten Ansatz des wilden, krausen Haares. «Hier, ich taufe dich mit einem Kuß. Bist du nun zufrieden?»

«Ich werde sofort eine weitere Sünde begehen, um noch einen Kuß zu bekommen.»

«Nein, so nicht! Man spottet Gottes nicht und mißbraucht seine Gnaden nicht.»

«Gibst du mir keinen Kuß? Irgendeine Sünde habe ich doch sicher auch», sagt Iskariot.

Jesus schaut ihn eindringlich an. Sein Auge wechselt vom Licht der Freude, das es klar machte, solange er mit Petrus sprach, zu einer strengen Dunkelheit, ich möchte sagen Müdigkeit. Dann sagt er: «Ja, auch dir. Komm! Ich will gegen niemand ungerecht sein. Sei gut, Judas! Wenn du nur den Willen dazu hättest! ... Du bist jung. Ein ganzes Leben liegt vor dir, um immer höher zu steigen bis zur Vollkommenheit der Heiligkeit», und er küßt ihn.

«Nun bist du an der Reihe, Simon, mein Freund. Und du, Matthäus, mein Sieg. Und du, weiser Bartholomäus. Und du, getreuer Philippus. Und du, Thomas, mit deinem heiteren Sinn. Komm, Andreas, mit deinem tätigen Schweigen. Und du, Jakobus, meine erste Begegnung. Und du,

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Freude deines Meisters. Und du, Judas, Gefährte der Kindheit und der Jugendzeit. Und du, Jakobus, der mich an den Gerechten erinnert in deinem Aussehen und deinem Herzen. Alle, alle... doch denkt daran: meine Liebe umfaßt vieles; aber ich brauche euren guten Willen. Von morgen an werdet ihr, in eurem Leben als meine Jünger, einen Schritt voran machen. Doch denkt daran, jeder Schritt nach vorne ist eine Ehre und eine Verpflichtung.»

«Meister, eines Tages hast du zu mir, Johannes, Jakobus und Andreas gesagt, daß du uns lehren werdest, zu beten. Ich meine, wenn wir beten könnten, so wie du betest, wären wir sicher fähiger und würdiger für unsere Aufgabe» sagt Petrus.

«Ich habe dir damals geantwortet: "Wenn ihr genügend unterwiesen seid, werde ich euch das erhabenste Gebet lehren, euch 'mein' Gebet geben."

Aber auch es wirkt nicht, wenn es nur mit dem Munde gebetet wird. Erhebet euch darum mit der Seele und dem Willen zu Gott. Das Gebet ist eine Gabe Gottes, die Gott dem Menschen schenkt, und die der Mensch Gott wieder darbietet.»

«Wie? Sind wir noch nicht würdig zu beten? Ganz Israel betet...» sagt Iskariot.

«Ja, Judas; doch du siehst an seinen Werken, wie Israel betet. Ich will aus euch keine Verräter machen. Wer nur äußerlich betet und sich innerlich gegen das Gute widersetzt, ist ein Verräter!»

«Und wann läßt du uns Wunder wirken?» fragt wieder Iskariot.

«Wir? Wir und Wunder wirken? Ewige Barmherzigkeit! Wir trinken immerhin reines Wasser. Wir und Wunder? Aber Knabe, du phantasierst wohl?» Petrus ist entsetzt, erregt, ganz außer sich.

«Er hat es uns in Judäa gesagt. Ist es vielleicht nicht wahr?»

«Ja, es ist wahr. Ich habe es gesagt. Und ihr werdet es tun. Aber solange in euch zuviel Fleisch ist, werdet ihr keine Wunder wirken.»

«Wir werden fasten», sagt Iskariot.

«Das nützt nichts. Unter Fleisch verstehe ich die schlechten Leidenschaften, den dreifachen Hunger, und hinter dieser heimtückischen Dreiheit den Schweif ihrer Laster... Gleich Kindern einer entwürdigten Bigamie gebiert die Hoffart des Geistes mit der Gier des Fleisches und der Herrschsucht alles Böse, das im Menschen und in der Welt vorhanden ist.»

«Deinetwegen haben wir alles verlassen», entgegnet Judas.

«Aber nicht euch selbst.»

«Müssen wir denn sterben? Wir werden es tun, nur um mit dir zusammensein zu können. Ich wenigstens...»

«Nein, ich verlange nicht euren körperlichen Tod. Ich verlange, daß die animalischen und satanischen Neigungen in euch absterben, und sie sterben

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nicht, solange das Fleisch befriedigt sein will und Lüge, Stolz, Zorn, Hochmut, Gaumenlust, Geiz und Habgier in euch sind.»

«Wir sind zu menschlich, trotz deiner göttlichen Nähe», murmelt Bartholomäus.

«Und er ist immer so heilig gewesen, wir können es bestätigen», versichert der Vetter Jakobus.

«Er weiß, wie wir sind... Wir dürfen uns dadurch nicht niederdrücken lassen. Wir müssen aber sagen: "Gib uns Tag für Tag die Kraft, dir zu dienen! " Wenn wir sagen würden: "Wir sind ohne Sünde", sind wir Betrogene und Betrüger. Wessen wohl? Unsere eigenen; denn wir wissen, was wir sind, auch wenn wir es nicht sagen wollen. Kann man Gott betrügen? Aber wenn wir sagen: "Wir sind schwach und Sünder, hilf uns mit deiner Kraft und deiner Vergebung!", dann wird Gott uns nicht enttäuschen und uns in seiner Güte und Gerechtigkeit vergeben und unsere armen Herzen von der Bosheit reinigen.»

«Selig bist du, Johannes; denn die Wahrheit spricht auf deinen Lippen, die den Duft der Unschuld haben und nur die anbetungswürdige Liebe küssen», sagt Jesus; dabei erhebt er sich und zieht den Lieblingsjünger an sich, der von seiner dunklen Ecke her gesprochen hat.

159. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN GEWÄSSER": «DU SOLLST KEINE GÖTTER NEBEN MIR HABEN»

«Es steht geschrieben: "Du sollst keine Götter neben mir haben. Du sollst dir keinerlei Statue oder Bildnis machen von dem, was im Himmel oder auf der Erde oder in den Wassern unter der Erde ist. Du sollst solche Dinge nicht anbeten noch ihnen Ehre erweisen. Ich bin der Herr, dein Gott, mächtig und eifersüchtig. Ich bestrafe die Bosheit der Väter an den Söhnen bis ins dritte und vierte Geschlecht, wenn sie mich hassen, und schenke tausendfaches Erbarmen denen, die mich lieben und meine Gebote befolgen..."» Die Stimme Jesu dröhnt im überfüllten Raum, denn es regnet, und alle haben sich unter das Dach geflüchtet. In der ersten Reihe befinden sich vier Kranke: ein Blinder, der von einer Frau geführt wird, ein ganz mit Schorf bedecktes Kind, eine gelb aussehende, an Gelbsucht oder Malaria leidende Frau, und der vierte ist auf einer Bahre gebracht worden.

Jesus spricht und lehnt sich dabei an die leere Futterkrippe. Johannes, die beiden Vettern, sowie Matthäus und Philippus sind bei ihm, während Judas und Petrus, Bartholomäus, Jakobus und Andreas am Eingang stehen und dafür sorgen, daß alle, die noch ankommen, eintreten können. Thomas und Simon gehen unter den Leuten umher, gebieten den Kindern zu schweigen, sammeln Almosen ein und hören Fragen an.

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«"Du sollst keine Götter neben mir haben!" Ihr habt gehört, daß Gott mit seinem Blick und seiner Stimme allgegenwärtig ist. Wir sind immer unter seinen Augen. Eingeschlossen in einer Kammer oder in der Menschenmenge des Tempels, immer sind wir unter seinen Augen: verborgene Wohltäter, die auch dem Beschenkten das Antlitz nicht zeigen, und Mörder, die den Wanderer an einer einsamen Kurve überfallen und töten, alle sind wir gleicherweise unter seinen Augen.

Unter seinen Augen ist der König inmitten seines Hofstaates; der Soldat auf dem Schlachtfeld; der Levit im Innern des Tempels; der über seine Bücher gebeugte Gelehrte; der Landmann auf seiner Scholle; der Händler an seiner Theke; die Mutter, die sich über die Wiege neigt; die Braut im Brautgemach; die Jungfrau in der Stille der väterlichen Wohnung; das Kind in der Schule; der Greis in seiner Sterbekammer... alle sind sie unter seinen Augen und ebenfalls alle Werke des Menschen.

Alle menschlichen Handlungen! Schreckliches Wort! Und tröstliches Wort! Schrecklich, wenn die Werke sündhaft sind; tröstlich, wenn sie heilig sind! Das Wissen um Gottes Gegenwart ist Zügel bei der bösen Tat, Hilfe bei der guten Tat. Gott sieht, wenn ich gut handle. Ich weiß, daß er nicht vergißt, was er gesehen hat. Ich glaube, daß er die guten Taten belohnt. Daher bin ich sicher, diesen Lohn zu erhalten, und auf diese Sicherheit verlasse ich mich. Sie wird mir ein ruhiges Leben und einen friedlichen Tod geben, denn im Leben und im Sterben wird meine Seele vom Sternenschein der Freundschaft Gottes getröstet. So denkt, wer Gutes tut. Doch warum denkt, wer Böses tut, nicht daran, daß unter den verbotenen Handlungen die Götzendienste sind? Warum sagt er nicht: "Gott sieht, daß ich heiligen Dienst vortäusche und einen lügnerischen Götzen oder falsche Götter anbete, denen ich einen den Menschen verborgenen Altar errichtet habe, der aber Gott bekannt ist?"

Welche Götter, werdet ihr fragen, wenn nicht einmal im Tempel ein Bildnis Gottes ist? Was für ein Gesicht haben diese Götter, wenn es unmöglich ist, ein Bild des wahren Gottes anzufertigen? Ja, es ist unmöglich, sein Bild zu machen; denn er ist der Vollkommene, der Reinste und kann von den Menschen nicht in würdiger Weise dargestellt werden. Nur der Geist ahnt seine unkörperliche und unerreichbare Schönheit, hört seine Stimme und erfreut sich der Liebkosung, wenn er sich in einen seiner Heiligen ergießt, den er göttlicher Berührung für würdig erachtet. Doch das Auge, das Gehör und die Hand des Menschen können nicht sehen, hören und berühren und daher auch nicht mit dem Klang der Zither oder mit Hammer und Meißel in Marmor darstellen, was der Herr ist.

O Glückseligkeit ohne Ende, wenn die Geister der Gerechten Gott sehen werden. Der erste Blick wird die Morgenröte der Glückseligkeit sein, die für alle Ewigkeit eure Begleiterin sein wird. Was er aber nicht für den wahren Gott tun kann, macht der Mensch für die verlogenen Götter.

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Einer errichtet der Frau einen Altar, der andere dem Gold, der dritte der Macht, noch ein anderer der Wissenschaft und wieder einer militärischem Triumph. Der eine betet den Mächtigen an, der seiner Natur ähnlich, doch im Willen oder Glück überlegen ist; der andere betet sich selbst an und sagt: "Niemand ist mir gleich." Das sind Götter von Personen, die zum Volke Gottes gehören.

Wundert euch nicht über die Heiden, die Tiere, Reptilien oder Sterne anbeten! Wie viele Reptilien, wie viele Tiere und erloschene Sterne werden in euren Herzen angebetet! Die Lippen sagen verlogene Worte, um zu schmeicheln, zu besitzen, zu verderben. Sind es nicht Gebete verborgenen Götzendienstes? Die Herzen brüten Rachegedanken, Gedanken des Betrügens und der Unzucht. Ist es nicht Götzendienst, wenn man den Genuß, das Geld, die Gier und das Böse anbetet?

Es steht geschrieben: "Du sollst deinen Gott allein anbeten, den wahren, den einzigen, den ewigen Gott." Es steht geschrieben: "Ich bin der starke und eifersüchtige Gott!"

Stark: keine andere Kraft ist gewaltiger als die seine. Der Mensch ist frei in seinem Tun. Satan ist frei zu versuchen. Aber wenn Gott sagt: "Genug!" dann kann der Mensch nicht mehr schlecht handeln, und Satan kann nicht mehr versuchen. Er wird in seine Hölle geworfen, niedergeschlagen infolge seines Übermaßes seiner bösen Taten; denn es gibt Grenzen, die zu überschreiten Gott nicht erlaubt.

Eifersüchtig: Worauf? Welche Art von Eifersucht ist das? Die armselige Eifersucht der kleinen Menschen? Nein! Vielmehr die heilige Eifersucht Gottes auf seine Kinder. Die gerechte Eifersucht, die liebende Eifersucht. Er hat euch erschaffen. Er liebt euch. Er will euch. Er weiß, was euch schadet. Er kennt, was dazu treibt, euch von ihm zu trennen. Und er ist eifersüchtig auf den, der sich zwischen den Vater und seine Söhne schiebt und sie ablenkt von der einzigen Liebe, die Heil und Friede ist: Gott! Ihr müßt diese erhabene Eifersucht zu verstehen suchen, die nicht kleinlich und grausam und keine Kerkermeisterin ist. Die vielmehr unendliche Liebe, unendliche Güte und Freiheit ohne Grenzen ist; die sich auf das Geschöpf bezieht, um es an sich zu ziehen, um es in der Ewigkeit an sich und an seiner Unendlichkeit teilhaben zu lassen. Ein guter Vater will sich an seinem Reichtum nicht allein erfreuen, sondern möchte, daß sich seine Söhne mit ihm daran erfreuen. Im Grunde hat er ihn mehr für seine Kinder als für sich selbst angehäuft. Ebenso Gott. Aber er legt in diese Liebe und diesen Wunsch die Vollkommenheit, die allen seinen Werken eigen ist.

Enttäuscht den Herrn nicht! Er verheißt Strafe für die Schuldigen und die Kinder der schuldigen Kinder. Gott lügt nie in seinen Verheißungen. Doch verliert nicht euren Mut, o Menschenkinder und Kinder Gottes! Hört und freut euch der anderen Verheißung: "Und ich werde Barmherzigkeit

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walten lassen bis zu tausendmal für alle, die mich lieben und meine Gebote beobachten."

Bis zur tausendsten Generation der Guten und bis zur tausendsten Schwäche der armen Menschenkinder, welche nicht aus Bosheit fallen, sondern infolge der Bosheit und der Schlingen Satans. Mehr noch. Ich sage euch, daß er euch die Arme öffnet, wenn ihr mit reuigem Herzen und einem in Tränen gereinigten Antlitz sagt: "Vater, ich habe gesündigt. Ich weiß es. Ich verdemütige mich und bekenne es vor dir. Verzeihe mir! Deine Vergebung wird meine Kraft sein, um zurückkehren zu können und das wahre Leben zu leben. "

Fürchtet euch nicht! Bevor ihr aus Schwäche sündigt, weiß der Vater, daß ihr sündigen werdet. Aber sein Herz verschließt sich nur, wenn ihr im Sündigen verharrt und sündigen wollt und so aus einer bestimmten Sünde oder aus vielen Sünden eure abscheulichen Götter macht. Zerschlagt jedes Götzenbild, schafft Platz dem wahren Gott! So wird er mit seiner Herrlichkeit niedersteigen und euer Herz heiligen, wenn er sich allein in ihm sieht.

Gebt Gott seine Wohnstatt wieder. Sie ist nicht in den steinernen Tempeln, sie ist im Herzen der Menschen. Reinigt seine Schwelle, befreit das Innere von allem unnützen und schuldvollen Kram! Für Gott allein! Das Herz eines Menschen, in welchem Gott wohnt, ist vergleichbar mit dem Paradiese; es ist das Herz eines Menschen, dessen Liebe seinen göttlichen Gast lobpreist.

Macht aus allen euren Herzen einen Himmel! Beginnt das Zusammenwohnen mit dem Allerhöchsten! In eurem ewigen Morgen wird es vollkommen werden in Macht und Freude. Aber schon wird es die verzückte Verwunderung Abrahams, Jakobs und Moses' finden. Denn es wird nicht mehr die von Blitzen umzuckte, schreckensvolle Begegnung mit dem Allmächtigen sein, sondern das Verbleiben mit dem Vater und Freund, der herniedersteigt, um zu sagen: "Meine Freude ist es, unter den Menschen zu weilen. Du machst mich glücklich! Ich danke dir, mein Kind!"»

Die Menge, nun mehr als hundert, erwacht langsam aus ihrer Verzückung. Die einen beginnen zu weinen, andere zu lächeln, in derselben Hoffnung auf die Freude. Ein mächtiger Seufzer geht durch die Reihen, und dann eine Art erlösender Schrei: «Sei gepriesen! Du öffnest uns den Weg des Friedens!»

Jesus lächelt und antwortet: «Der Friede ist in euch, wenn ihr von heute an dem Guten folgt.»

Dann geht er zu den Kranken und legt dem Kind, dem Blinden und der gelbsüchtigen Frau die Hand auf; und er neigt sich über den Gelähmten und sagt: «Ich will!» Der Mann schaut ihn an und ruft dann: «Die Hitze im Körper ist erloschen!» und er springt auf die Füße, so wie er ist, bis sie ihm die Decken des Bettes überwerfen, während die Mutter das Kind, das

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nun ohne Ausschlag ist, aufnimmt und der Blinde die Augen öffnet und schließt, infolge der ungewohnten Berührung mit dem Licht. Die Frauen schreien: «Dina ist nicht mehr gelb wie der wilde Hahnenfuß!»

Die Erregung hat den Höhepunkt erreicht. Die einen schreien, die anderen segnen, wieder andere drängen, um zu sehen, und noch andere möchten hinausgehen, um so schnell als möglich alles im Dorf zu erzählen. Jesus wird von allen Seiten aufgehalten. Petrus sieht, daß sie ihn beinahe erdrücken, und ruft: «Meine Freunde! Man erdrückt den Meister! Los, schaffen wir Platz!» und mit einer wahren Ellbogengymnastik und einigen Fußtritten in die Waden gelingt es den Zwölfen, Platz zu schaffen und Jesus zu befreien und ihn hinauszuführen. «Morgen werde ich vorsorgen», sagt er. «Du an der Türe und die anderen im Hintergrund. Haben sie dir weh getan?»

«Nein.»

«Sie schienen alle verrückt zu sein. Welch ein Benehmen!»

«Laß sie gewähren! Sie waren glücklich, und ich mit ihnen. Geht und tauft diejenigen, welche die Taufe wünschen! Ich gehe ins Haus. Du, Judas, gibst mit Simon den Armen das Almosen. Alles! Wir haben viel mehr als es recht ist für Apostel des Herrn. Geh, Petrus, geh! Fürchte nicht, zuviel zu geben. Ich werde dich beim Vater rechtfertigen, denn ich befehle es dir. Lebt wohl, Freunde!»

Jesus zieht sich müde und in Schweiß ins Haus zurück, während jeder Jünger seiner ihm zugeteilten Aufgabe unter den Pilgern nachgeht.

160. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN GEWÄSSER": «DU SOLLST MEINEN NAMEN NICHT UNNÜTZ AUSSPRECHEN»

Die Jünger sind alle aufgeregt. Sie gleichen einem aufgescheuchten Bienenschwarm, so erregt sind sie. Sie reden, blicken hinaus nach allen Richtungen. Jesus ist nicht da. Schließlich beraten sie über das, was sie bewegt, und beschließen, was Petrus nun Johannes befiehlt: «Geh und suche den Meister! Er ist im Wald am Fluß. Sag ihm, er möge gleich kommen oder sagen, was zu tun ist.»

Johannes läuft im Galopp davon. Iskariot sagt: «Ich verstehe nicht, warum so eine Aufregung und soviel Unhöflichkeit! Ich wäre hingegangen und hätte ihn mit allen Ehren willkommen geheißen. Sein Besuch ist eine Ehre für uns. Also...»

«Ich weiß nichts. Er wird verschieden von seinem Blutsverwandten sein; ... Aber, wer mit Hyänen zusammen ist, nimmt ihren Geruch und ihren Instinkt an. Übrigens, du wolltest die Frau wegjagen... Paß auf! Der

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Meister will es nicht, und ich bin zu ihrem Schutz aufgestellt. Wehe, wenn du sie anrührst! Ich bin nicht der Meister. Nur damit du es weißt!»

«Wer ist sie denn? Die schöne Herodias vielleicht?»

«Sei nicht albern!»

«Du bist es, der mich so tun läßt. Du hast um sie eine königliche Wache aufgezogen, als wäre sie eine Fürstin...»

«Der Meister hat mir gesagt: "Sorge dafür, daß sie nicht gestört wird, und achte sie!" Ich tue es.»

«Aber wer ist sie? Weißt du es?» fragt Thomas.

«Ich nicht.»

«Los, sag schon! Du weißt es», drängen mehrere.

«Ich schwöre euch, daß ich es nicht weiß. Der Meister weiß es bestimmt. Doch ich weiß es nicht.»

«Man muß ihn durch Johannes fragen lassen. Ihm sagt er alles.»

«Warum? Was ist an Johannes Besonderes? Ist dein Bruder ein Gott?»

«Nein, Judas! Er ist unser Bester.»

«Ihr könnt euch die Mühe sparen», sagt Jakobus des Alphäus. «Gestern hat mein Bruder sie gesehen, als er mit dem Fisch, den ihm Andreas gegeben hatte, vom Fluß zurückkam. Er war es, der Jesus gefragt hat, und Jesus hat geantwortet: "Sie hat kein Gesicht. Es ist eine Seele, die Gott sucht. Für mich ist sie nichts anderes, und ich will, daß dies auch für euch gelte!" Er hat dieses "will" auf eine Art ausgesprochen, daß ich euch rate, nicht darauf zu bestehen, weiter zu fragen.»

«So werde ich zu ihr hingehen,» sagt Judas von Kerioth.

«Versuche es, wenn du dazu fähig bist», sagt Petrus rot wie ein Hahnenkamm.

«Verrätst du mich bei Jesus?»

«Ich überlasse dieses Handwerk denen vom Tempel. Wir vom See verdienen unser Brot mit Arbeit und nicht mit Anzeigerei. Ihr braucht nie Angst zu haben, von Simon des Jonas ausspioniert zu werden. Aber du sollst mich nicht reizen und dir nicht erlauben, dem Meister gegenüber ungehorsam zu sein; denn ich bin da ...»

«Und wer bist du? Ein armer Mann wie ich.»

«Ja, mein Herr. Sogar noch ärmer, noch dümmer und noch geringer als du. Ich weiß das und schäme mich nicht. Ich würde mich schämen, wenn mein Herz wie das deine wäre. Doch der Meister hat mir diese Aufgabe übertragen und ich erfülle sie.»

«Wie, mein Herz? Und was ist mit meinem Herzen, daß es dich so ekelt? Sprich, klage an, beleidige mich ...»

«Jetzt aber Schluß!» fährt der Zelote auf, und mit ihm Bartholomäus. «Mach Schluß, Judas! Hab Achtung vor den grauen Haaren des Petrus!»

«Ich respektiere alle, aber ich will wissen, was in mir ist...»

«Darauf antworte ich dir sogleich... Laßt mich reden! ... Es ist

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Hochmut in dir, soviel, um diese Küche damit zu füllen, und Falschheit und Sinnenlust.»

«Ich falsch?»

Alle mischen sich ein und Judas muß schweigen. Simon sagt ruhig zu Petrus: «Entschuldige, Freund, wenn ich dir etwas sage. Er hat Fehler, aber auch du hast einige. Ein großer Fehler von dir ist, daß du die Jugend nicht verstehst; denn du nimmst keine Rücksicht auf Alter, Geburt... und viele andere Dinge. Schau, du handelst so aus Liebe zu Jesus. Aber du wirst nicht gewahr, daß diese Streitereien ihn verdrießen. Ihm sage ich es nicht (und er weist auf Judas). An dich aber, der du reif und redlich bist, richte ich die Bitte. Er hat soviel Ärger mit seinen Feinden. Sollen wir ihm auch im eigenen Nest Sorgen bereiten?»

«Es stimmt, Jesus ist sehr traurig und sogar abgemagert», sagt Judas Thaddäus. «Des Nachts höre ich, wie er sich dreht und wendet auf seinem Lager und seufzt. Vor einigen Tagen bin ich aufgestanden und habe gesehen, daß er beim Beten weinte. Ich habe ihn gefragt: "Was hast du?", und er hat mich umarmt und gesagt: "Habe mich gern! Wie mühsam ist es, der Erlöser zu sein!"»

«Auch ich habe ihn weinend angetroffen... Es war im Wald, beim Flusse», sagt Philippus. «Auf meinen fragenden Blick hat er geantwortet: "Weißt du, was den Himmel von der Erde unterscheidet, außer der sichtbaren Gegenwart Gottes? Es ist der Mangel an Liebe unter den Menschen. Das würgt mich wie ein Strick. Ich bin gekommen, den Vögeln Körner zu streuen, um von ihnen, die sich lieben, geliebt zu werden!"»

Judas Iskariot (er hat die Selbstkontrolle verloren) wirft sich auf den Boden und weint wie ein kleiner Junge.

Gerade in diesem Augenblick kommen Jesus und Johannes zur Türe herein.

«Was ist hier los? Warum diese Tränen?»

«Meine Schuld, Meister. Ich habe gefehlt. Ich habe Judas zu hart getadelt», sagt Petrus offen.

«Nein, ich... ich... der Schuldige bin ich. Ich bin... ich bereite dir Schmerzen, ich bin nicht gut... Ich störe, bringe Unruhe in die Gruppe, gehorche nicht! Petrus hat recht. Aber helft mir doch, gut zu sein! Ich habe hier etwas, hier im Herzen, das mich Dinge tun läßt, die ich nicht tun will. Es ist stärker als ich... und ich verursache dir Leiden, dir, Meister, dem ich nur Freude bereiten möchte. Glaube es, es ist nicht Falschheit!»

«Aber ja, Judas. Ich zweifle nicht daran. Du bist zu mir gekommen mit der ganzen Aufrichtigkeit deines Herzens, mit wahrem Eifer. Doch du bist jung... Niemand, nicht einmal du selbst kennst dich, wie ich dich kenne. Auf, erhebe dich und komm hierher! Nachher werden wir beide allein miteinander reden. Zuerst wollen wir aber das besprechen, weshalb ihr mich gerufen habt. Was ist denn schon dabei, daß auch Manaen gekommen ist?

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Kann nicht auch ein Milchbruder des Herodes durstig sein nach dem wahren Gott? Habt ihr wirklich Angst um mich? Aber nein! Habt Vertrauen zu meinem Wort! Dieser Mensch kommt in ehrlicher Absicht.»

«Warum aber hat er sich nicht zu erkennen gegeben?» fragen die Jünger.

«Weil er eben als "Seele" kommt, nicht als der Verwandte von Herodes! Er hat sich in Schweigen gehüllt, weil er glaubt, daß vor dem Wort Gottes die Verwandtschaft mit einem König nichts gilt... Wir wollen sein Schweigen achten.»

«Aber wenn er doch von ihm geschickt worden ist? ...»

«Von wem? Von Herodes? Habt keine Angst!»

«Wer schickt ihn sonst? Wie weiß er etwas von dir?»

«Durch den Täufer, meinen Vetter. Glaubt ihr, daß er im Kerker über mich geschwiegen hat? Oder durch Chuza... oder durch die Stimme des Volkes... oder auch durch den Haß der Pharisäer. Auch die Wellen und die Luft reden bereits von mir. Der Stein ist in das ruhige Wasser geworfen worden, und die Wellen ziehen immer weitere Kreise und tragen die Offenbarung ans ferne Ufer. Der Stab hat das Metall angeschlagen, und der Hall wird von der Luft weitergetragen. Die Erde hat gelernt zu sagen: "Jesus" und wird niemals mehr schweigen. Geht und seid freundlich mit ihm wie mit jedem anderen! Geht! Ich bleibe mit Judas.»

Die Jünger gehorchen.

Jesus betrachtet Judas, der noch weint, und fragt ihn: «Nun, hast du mir nichts zu sagen? Ich weiß zwar alles über dich, doch möchte ich es von dir selbst hören. Warum diese Tränen? Und vorerst, warum diese Unruhe, die dich immer so unzufrieden macht?»

«O ja, Meister, du hast es gesagt. Ich bin von Natur aus eifersüchtig. Du weißt es sicher. Und ich leide, wenn ich so vieles sehe. Das macht mich unruhig und ungerecht. Ich werde böse, obwohl ich es nicht möchte, nein...»

«Weine nicht wieder. Auf wen bist du eifersüchtig? Gewöhne dir an, mit deiner wahren Seele zu sprechen. Du sprichst viel, manchmal zuviel. Doch womit? Mit dem Instinkt und dem Verstand. Du vollbringst eine mühsame und beständige Arbeit, um zu sagen, was du sagen willst: ich spreche von dir, von deinem Ich... Bei dem, was du zu den anderen und über die anderen sagst, kennst du keine Zügel und keine Grenzen. Genauso zügellos ist dein gieriges Fleisch. Es ist dein tolles Roß; du bist wie ein Wagenlenker, dem der Veranstalter des Rennens zwei verrückte Rennpferde überlassen hat. Das eine ist die Sinnlichkeit, das andere... willst du hören, was das andere ist? Ja? Es ist der Irrtum, den du nicht bezähmen willst. Du bist ein fähiger Wagenlenker; doch bist du unklug, denn du verläßt dich auf deine Fähigkeiten und glaubst, daß sie genügen. Du willst als erster das Ziel erreichen und verlierst keine Zeit, um ein Pferd auszuwechseln.

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Du treibst sie vielmehr mit der Peitsche an. Du willst "Sieger" sein. Du willst Beifall haben... Weißt du nicht, daß jeder Sieg sicher ist, wenn er mit beständiger, geduldiger und kluger Arbeit errungen wird? Ich spreche mit deiner Seele. Und aus ihr erwarte ich dein Bekenntnis. Oder muß ich dir sagen, was ich in ihr sehe?»

«Ich finde, daß auch du ungerecht und unbeständig bist, und das schmerzt mich.»

«Warum beschuldigst du mich? Worin habe ich in deinen Augen gefehlt?»

«Als ich dich zu meinen Freunden mitnehmen wollte, hast du nicht gewollt und gesagt: "Ich ziehe es vor, bei den Demütigen zu bleiben"; dann haben Simon und Lazarus gesagt, es wäre gut, sich unter den Schutz eines Mächtigen zu stellen, und du hast dies angenommen. Du bevorzugst Petrus, Simon und Johannes... Du...»

«Was sonst noch?»

«Nichts anderes, Jesus.»

«Nichts als Wolken und Blasen im Schaum der Wellen. Du tust mir leid, denn du bist ein armer Mensch, der sich selbst quält, obwohl er sich freuen könnte. Kannst du sagen, daß dieser Ort vornehm ist? Kannst du verstehen, daß ich einen guten Grund hatte, der mich veranlaßte, das Angebot anzunehmen? Wenn Sion weniger stiefmütterlich mit seinen Propheten wäre, müßte ich nicht hier verborgen sein, wie einer, der die menschliche Gerechtigkeit fürchtet und ein Asyl braucht.»

«Nein.»

«Also? Willst du sagen, daß ich dir keine Aufträge wie den anderen gegeben habe? Kannst du sagen, daß ich hart gegen dich gewesen bin, wenn du gefehlt hast? Du bist nicht aufrichtig gewesen... die Weinberge... Oh, die Weinberge! Wie hießen denn diese Weinberge? Du hattest kein Mitleid mit Leidenden und Büßenden. Du warst auch nicht ehrerbietig mir gegenüber, und die anderen haben es bemerkt... Und nur eine Stimme hat sich jeweils zu deiner Verteidigung erhoben, immer... die meine! Die anderen hätten allen Grund, eifersüchtig zu sein; denn wenn ich einen in Schutz genommen habe, dann warst es du.»

Judas weint beschämt und erregt.

«Ich gehe. Es ist die Stunde, in der ich allen gehöre. Du bleibe hier und denke nach!»

«Verzeih mir, Meister... Ich kann keinen Frieden finden ohne deine Verzeihung. Sei meinetwegen nicht traurig. Ich bin ein schlimmer Junge. Ich liebe und peinige... So bin ich mit meiner Mutter... so mit dir... so würde ich auch mit meiner Frau sein, wenn ich einmal heiraten sollte. Es wäre besser, ich könnte sterben...»

«Es wäre richtiger, du würdest dich bessern. Doch ich will dir verzeihen. Leb wohl!»

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Jesus geht zur Tür. Petrus steht draußen: «Komm, Meister, es ist schon spät. Es sind viele Menschen da. In Bälde bricht der Abend herein, und du hast noch nicht gegessen. Dieser Bursche ist an allem schuld.»

«Dieser "Bursche" braucht euch alle, um nicht mehr an all dem schuld zu sein! Schau zu, daß du es nicht vergißt, Petrus! Wenn er dein Sohn wäre, würdest du ihn dann bemitleiden?»

«Hm... ja und nein. Ich hätte Mitleid, aber ich würde ihm auch etwas beibringen; auch wenn er schon ein Mann wäre... wie einem ungezogenen Bengel. Aber wenn er mein Sohn wäre, wäre es nicht so!»

«Genug jetzt!»

«Ja, genug, mein Herr! Schau, dort ist Manaen. Der dort mit dem fast schwarzen Mantel, so dunkelrot ist er. Er hat mir dies für die Armen gegeben und mich gefragt, ob er zum Schlafen bleiben kann.»

«Was hast du geantwortet?»

«Die Wahrheit. "Wir haben nur für uns Betten, geh ins Dorf!"»

Jesus schweigt. Er läßt Petrus im Zweifel und begibt sich zu Johannes, dem er etwas sagt. Dann geht er an seinen Platz und beginnt zu reden.

«Der Friede sei mit euch allen, und mit dem Frieden mögen auch Licht und Heiligkeit über euch kommen! Es steht geschrieben: "Du sollst meinen Namen nicht mißbrauchen!" Wann mißbraucht man ihn? Nur wenn man flucht? Nein! Auch wenn man ihn nennt, ohne daß man sich Gottes würdig erweist. Kann ein Sohn sagen: "Ich liebe meinen Vater und ehre ihn", wenn er dann alles überhört, was der Vater ihm gebietet? Nicht wenn man "Vater, Vater" sagt, liebt man den Vater. Nicht wenn man nur "Gott, Gott" sagt, liebt man den Herrn.

In Israel gibt es, wie ich schon vorgestern dargelegt habe, viele Götzen, die in den Herzen verborgen sind, aber es gibt auch heuchlerisches Lob Gottes. Ein Lob, dem die Werke derer, die Gott loben, nicht entsprechen. In Israel herrscht die Neigung, viele Sünden in äußerlichen Dingen zu suchen, und sie nicht dort finden zu wollen, wo sie wirklich sind, im Innern. In Israel gibt es einen dummen Hochmut, eine menschenwidrige und antispirituelle Gewohnheit: als Fluch zu betrachten, wenn von heidnischen Lippen der Name unseres Gottes genannt wird. Das geht soweit, daß man den Heiden verbietet, sich dem wahren Gott zu nähern, da man dies als Sakrileg verurteilt. So war es bis jetzt. Nun aber soll es anders werden.

Der Gott Israels ist derselbe Gott, der alle Menschen erschaffen hat. Warum also verhindern, daß die Geschöpfe die Anziehung ihres Schöpfers verspüren? Glaubt ihr nicht, daß die Heiden etwas Unbefriedigtes in sich spüren, das ruft, sich regt, sucht? Wen? Was? Den unbekannten Gott! Und glaubt ihr nicht, daß, wenn ein Heide aus sich selbst zum Altare des unbekannten Gottes strebt, zu diesem geistlichen Altare im Innern, der die Seele ist, in welcher stets eine Erinnerung an den Schöpfer lebt; glaubt ihr nicht, daß es die Seele ist, die darauf wartet, von der Herrlichkeit Gottes

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in Besitz genommen zu werden? Wie es der Fall war bei der nach erhaltenen Weisungen von Moses errichteten Bundeslade? Die Seele trauert, solange sie nicht in diesem Besitz ist. Glaubt ihr, daß Gott ihr Anerbieten zurückweist als eine Schändung? Glaubt ihr, daß ein solcher Akt der Seele, der erweckt worden ist durch ein eigenes, ehrliches Verlangen und durch himmlische Anrufe, nicht bedeutet: "Ich komme!" für Gott, der erwidert: "Komme!"? Glaubt ihr, daß der Gottesdienst eines Israeliten heilig sei, der nur das opfert, was ihm nach seinen Vergnügen noch bleibt, und der vor Gottes Gegenwart hintritt und ihn, den Reinsten, beim Namen nennt mit einer Seele und einem Leib, die beide nur ein Gewürm von Sünden sind?

Nein! In Wahrheit sage ich euch, daß das vollendete Sakrileg vom Israeliten begangen wird, der unreinen Herzens den Namen Gottes mißbräuchlich ausspricht. Er mißbraucht den Namen Gottes, weil er aufgrund seiner seelischen Verfassung weiß, denn dumm ist er nicht, daß er ihn vergeblich ausspricht. Oh, ich sehe das betrübte Antlitz des Herrn, das sich mit Abscheu anderswohin abwendet, wenn ein Heuchler ihn anruft, ein Unbußfertiger ihn nennt! Und es erfüllt mich mit Schrecken, mich, der ich doch diesen göttlichen Zorn nicht verdiene.

In mehr als einem Herzen lese ich den Gedanken: "Also, dann kann niemand den Namen Gottes nennen, außer den Kindern, denn in jedem Menschen ist Unreinheit und Sünde." Nein, sagt das nicht! Gerade von den Sündern soll dieser Name angerufen werden, und von allen, die sich von Satan umklammert fühlen und sich von der Sünde und dem Verführer befreien wollen. Wollen! Das ist es, was das Sakrileg in Gottesdienst umwandelt. Geheilt werden wollen! Den Mächtigen anrufen, um Verzeihung und Heilung zu erlangen. Ihn anrufen, um den Verführer in die Flucht zu schlagen.

In der Genesis (13,1-8) steht geschrieben, daß die Schlange Eva in der Stunde verführte, da der Herr nicht in Eden wandelte. Wäre Gott im Garten Eden gewesen, hätte Satan nicht dort sein können. Hätte Eva Gott angerufen, wäre Satan geflohen. Habt diesen Gedanken stets in euren Herzen! Und ruft den Herrn mit Aufrichtigkeit an! Sein Name bedeutet Rettung. Viele von euch möchten zum Fluß hinabsteigen und sich reinigen. Doch reinigt euer Herz unaufhörlich, indem ihr mit der Liebe das Wort "Gott" hineinschreibt! Keine lügnerischen Gebete! Keine gewohnheitsmäßigen Übungen! Sagt vielmehr mit eurem Herzen, mit eurem Denken, mit euren Werken, mit eurem ganzen Sein den Namen: Gott! Sagt ihn, um nicht allein zu sein! Sagt ihn, um unterstützt zu werden! Sagt ihn, um Verzeihung zu erhalten!

Begreift die Bedeutung des Wortes Gottes vom Sinai: Mißbrauch ist, wenn man "Gott" ohne Bekehrung zum Guten ausspricht. Das ist Sünde! Mißbrauch ist es nicht, wenn sich euch, wie der Pulsschlag des Herzens,

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in jeder Minute des Tages, in jedem eurer Werke, in euren Nöten, Versuchungen und Schmerzen das kindhafte Wort der Liebe auf die Lippen drängt: "Komm, mein Gott!" Dann sündigt ihr wahrlich nicht, wenn ihr den heiligen Namen Gottes anruft.

Geht nun! Der Friede sei mit euch!»

Es ist kein Kranker anwesend. Jesus bleibt mit gefalteten Händen an der Wand stehen, während es unter dem Vordach schon dunkel wird. Er betrachtet diejenigen, die auf den Maultieren fortreiten, die sich zum Fluß begeben mit dem Verlangen, sich zu reinigen, und die über die Felder in Richtung des Dorfes gehen. Der Mann im dunkelroten Gewande scheint unschlüssig zu sein, was er tun soll. Jesus beobachtet ihn. Schließlich bewegt er sich und geht zu seinem Pferd; er hat ein herrliches weißes Pferd mit einer roten Schabracke, die unter dem reichverzierten Sattel hervorschaut.

«Mann, warte auf mich!» sagt Jesus und begibt sich zu ihm. «Der Abend bricht herein. Hast du einen Platz zum Schlafen? Kommst du von weit her? Bist du allein?»

Der Mann antwortet: «Von sehr weither... und ich gehe... ich weiß nicht wohin. Ins Dorf, wenn ich dort etwas finde; wenn nicht, nach Jericho, wo ich meine Begleitung zurückgelassen habe, da ich ihr nicht vertraue.»

«Nein, ich biete dir mein Lager an. Es ist schon bereit. Hast du etwas zum Essen mit?»

«Nichts habe ich. Ich habe angenommen, ein gastfreundliches Dorf zu finden.»

«Du wirst haben, was du brauchst. Nichts wird dir fehlen.»

«Nichts. Nicht einmal der Haß gegen Herodes! Weißt du, wer ich bin?»

«Es gibt nur einen Namen für alle, die mich suchen: Brüder im Namen Gottes! Komm, wir wollen zusammen das Brot brechen. Du kannst dein Pferd in diesem Schuppen unterbringen. Ich werde hier schlafen und es für dich bewachen ...»

«Nein, auf keinen Fall! Ich werde hier schlafen. Das Brot nehme ich dankbar an, sonst nichts. Ich werde meinen schmutzigen Körper nicht dahinlegen, wo du dich mit deinem heiligen Leib niederlegst.»

«Du glaubst also, daß ich heilig bin?»

«Ich weiß, daß du heilig bist! Johannes, Chuza... deine Werke... deine Worte... Die ganze Gegend klingt davon wie die Muschel, die das Rauschen des Meeres in sich bewahrt. Ich bin immer beim Täufer abgestiegen; dann habe ich ihn verloren. Aber er hat mir gesagt: "Einer, der mehr ist als ich, wird dich aufnehmen und erheben." Es kann kein anderer sein als du. Sobald ich deinen Aufenthalt erfahren habe, bin ich aufgebrochen.»

Sie sind allein unter dem Dach. Die Jünger reden neben der Küche miteinander und beobachten.

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Der Zelote kommt vom Fluß, denn er war heute als Täufer bestimmt; er hat die letzten Getauften bei sich. Jesus segnet sie und sagt zu Simon: «Dieser Mann ist ein Pilger, der im Namen Gottes Herberge sucht. Und im Namen Gottes heißen wir ihn als Freund willkommen.»

Simon verneigt sich; der Mann ebenfalls. Sie betreten den Schuppen, und Manaen bindet sein Pferd an die Krippe. Johannes kommt auf ein Zeichen Jesu herbei und bringt Heu und einen Eimer mit Wasser. Auch Petrus kommt mit einem Öllämpchen, denn es ist schon dunkel.

«Ich werde mich hier wohl fühlen. Gott möge es euch lohnen!» sagt der Reiter und begibt sich nun mit Jesus und Simon in die Küche, wo ein Bündel Kienspäne für Beleuchtung sorgt.

Alles ist zu Ende.

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J

 

Gepriesen sei Gott unser Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,

Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.

 

 

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