Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band II:
Erstes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)
95. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus. S. 9
96. Jesus predigt und wirkt Wunder im Hause Petri. S. 15
97. Jesus betet in der Nacht. S. 20
98. Der Aussätzige bei Chorazim wird geheilt. S. 23
99. Heilung des Gelähmten im Haus e Petri in Kapharnaum. S. 27
100. Der wunderbare Fischfang. S. 33
101. Iskariot findet Jesus erneut im Gethsemane und wird als Jünger
angenommen. S. 35
102. Jesus wirkt am Fischtor das Wunder der zerbrochenen Klingen. S. 38
103. Iskariot ist im Tempel, wo Jesus predigt. S. 42
104. Jesus belehrt Judas Iskariot. S. 47
105. Jesus begegnet Johannes des Zebedäus im Garten Gethsemane. S. 53
106. "Johannes, der Stammvater aller, die sich als Hostien hingeben aus Liebe
zu mir". S. 58
107. Jesus und Judas Iskariot begegnen Simon dem Zeloten und Johannes. S. 59
108. Jesus, Johannes, Simon und Judas gehen nach Bethlehem. S. 63
109. Jesus und die Hirten Elias, Levi und Joseph. S. 66
110. Jesus in der Herberge von Bethlehem - Er predigt auf den Trümmern von
Annas Haus. S. 76
111. Jesus und die Hirten Elias, Levi und Joseph. S. 84
112. Jesus in Jutta beim Hirten Isaak. S. 90
113. Jesus in Hebron - Das Haus des Zacharias - Aglaia. S. 98
114. Jesus in Kerioth - Tod es alten Saul. S. 105
115. Jesus mit den Hirten auf dem Rückweg nach Hebron. S. 115
116. Jesus auf dem Berg des Fastens und am Felsen der Versuchung. S. 121
117. Am Übergang des Jordan, Begegnung mit den Hirten Johannes, Matthias und
Simeon. S. 131
118. Iskariot verkauft Diomedes die Schmuckstücke der Aglaia. S. 136
119. Jesus weint über Judas. Simon der Zelote tröstet ihn. S. 143
120. "Bei euch stehen die Guten im selben Verhältnis zu den Bösen wie die
Apostel zu Judas".S. 147
121. Begegnung Jesu mit Lazarus in Bethanien. S. 148
122. Jesus kehrt nach Jerusalem zurück und hört im Tempel Iskariot - Im
Ölgarten. S. 154
123. Jesus spricht mit dem Soldaten Alexander am Fischtor. S. 159
124. Jesus und Isaak bei Doko - Aufbruch nach Esdrelon. S. 164
125. Jesus beim Hirten Jonas in der Ebene von Esdrelon. S. 167
126. Abschied von Jonas und Rückkehr nach Nazareth. S. 173
127. Am Tag darauf im Haus von Nazareth. S. 180
128. Jesus unterrichtet die Jünger im Olivenhain. S. 185
129. Jesus unterweist die Jünger zu Hause. S. 189
130. Unterweisung der Jünger mit der allerheiligsten Jungfrau Maria im Garten
von Nazareth. S. 192
131. Heilung der Schönen von Chorazim -Predigt in der Synagoge von Kapharnaum.
S. 197
132. Jakobus des Alphäus wird als Jünger angenommen Jesus predigt neben dem
Zahltisch des Matthäus. S. 205
133. Jesus predigt vor der Menge in Bethsaida. S. 210
134. Berufung des Matthäus zum Jünger. S. 216
135. Jesus auf dem See in Tiberias - Belehrung der Jünger vor der Stadt. S.
223
136. Jesus sucht Jonathan im Hause Chuzas, in Tiberia. S. 232
137. Jesus im Hause des Onkels Alphäus und danach in seinem eigenen Haus. S.
236
138. Jesus befragt seine Mutter über die Apostel. S. 246
139. "Wieviel Menschliches bei den Aposteln!". S. 247
140. Heilung Johannas des Chuza, bei Kana. S. 249
141. Jesus im Libanon bei den Hirten Benjamin und Daniel. S. 256
142. Jesus erhält in der Stadt am Meer. Briefe über Jonas. S. 262
143. Jesus schliesst im Hause Marias des Alphäus mit dem Vetter Simon Frieden.
S. 269
144. "Die Gnade wirkt immer, wo der gute Wille zur Gerechtigkeit vorhanden
ist". S. 273
145. Jesus wird in Nazareth schlecht empfangen. S. 274
146. Jesus mit der Mutter im Hause der Johanna des Chuza. S. 277
147. Jesus bei der Weinlese im Hause Annas - Das Wunder am gelähmten Kinde. S.
280
148. Jesus bei Doras - Der Tod des Jonas. S. 286
149. Jesus im Hause des Jakobus am See Meron. S. 299
150. Rückkehr zur Furt des Jordans bei Jericho. S. 304
151. Jesus im Hause des Lazarus - Martha spricht über Magdalena. S. 309
152. Wieder im Hause des Lazarus nach dem Laubhüttenfest - Einladung von
Joseph aus Arimathäa. S. 315
153. Jesus begegnet Gamaliel beim Mahle Josephs von Arimathäa. S. 317
154. Heilung des sterbenden Kindes - Der Soldat Alexander - Misstrauen gegen
Jesus. S. 324
155. Jesus spricht bei Nacht mit Nikodemus im Gethsemane. S. 329
156. Jesus bei Lazarus, bevor er zum 'Trügerischen Gewässer' geht. S. 339
157. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': Vorbereitung der Jünger auf das
Gemeinschaftsleben. S. 343
158. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': "Ich bin der Herr, dein Gott!".
S. 349
159. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst keine Götter neben mir
haben". S. 357
160. Jesus beim zum 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst meinen Namen nicht
unnütz aussprechen". S. 361
95. DIE HEILUNG DER
SCHWIEGERMUTTER DES PETRUS
Petrus spricht mit Jesus: «Meister,
ich möchte dich bitten, in mein Haus zu kommen. Ich wagte nicht, es dir am
vergangenen Samstag zu sagen. Aber... ich möchte, daß du kommst.»
«Nach Bethsaida?»
«Nein... hier, in das Geburtshaus
meiner Frau.»
«Weshalb dieser Wunsch, Petrus?»
«Aus vielen Gründen; und heute ist
mir gesagt worden, daß meine Schwiegermutter krank ist. Wenn du sie heilen
könntest, vielleicht würde sie ...»
«Sprich zu Ende, Simon.»
«Ich möchte sagen... wenn du dich
ihr nähern würdest, dann würde sie aufhören... ja, weißt du, es ist etwas
anderes, ob ich über jemand sprechen höre... oder ob ich ihn selbst sehe und
höre. Und wenn einer noch dazu geheilt würde... dann ...»
«Dann würde auch ihr Groll
aufhören, willst du wohl sagen.»
«Nein, Groll nicht... doch weißt
du, der Ort ist in viele Meinungen gespalten, und sie weiß nicht, wem sie recht
geben soll. Komm also, Jesus!»
«Ich komme. Laß uns gehen! Sagt den
Wartenden Bescheid, daß ich vor deinem Hause zu ihnen sprechen werde.»
Sie gehen bis zu einem niedrigen
Haus; es ist noch niedriger als das Haus des Petrus in Bethsaida und liegt auch
näher am See. Es ist von diesem durch eine Böschung aus Felsgestein getrennt,
und ich glaube, daß bei Sturm die Wellen gegen die Mauern des Hauses schlagen.
Das Haus ist wohl niedrig, aber sehr breit und bietet Platz für mehrere
Personen.
Im Garten vor dem Hause, dem See
zugewandt, steht nur ein alter, knorriger Weinstock, der sich über eine roh
gezimmerte Pergola ausbreitet, sowie ein alter Feigenbaum, den der Seewind ganz
nach dem Hause hingebogen hat. Die zerzauste Krone berührt die Hauswand und
schlägt gegen die Fensterläden, die geschlossen sind, um die pralle Sonne
abzuhalten. Es gibt hier nur diesen Weinstock und den Feigenbaum und einen
niedrigen Brunnen mit einer grünbemoosten Mauer.
«Tritt ein, Meister!»
Es sind Frauen in der Küche; die
einen flicken Netze, die anderen bereiten die Mahlzeit. Sie begrüßen Petrus;
dann verneigen sie sich verlegen vor Jesus und werfen ihm einstweilen neugierige
Blicke zu.
«Friede diesem Hause! Wie geht es
der Kranken?»
9
«Sprich du, denn du bist die ältere
Schwiegertochter», sagen drei Frauen zu einer, die sich gerade die Hände an
einem Schürzenzipfel abtrocknet.
«Das Fieber ist hoch, sehr hoch.
Wir haben den Arzt gerufen; doch er sagt, sie sei zu alt, um gesund werden zu
können, und wenn das Übel von den Knochen zum Herz zieht und das Fieber noch
mehr steigt, dann führt das, besonders in diesem Alter, zum Tod. Sie ißt schon
nichts mehr; ich gebe mir Mühe, gutes Essen für sie zu bereiten; auch jetzt
wieder, schau, Simon! Ich koche ihr gerade diese Suppe, die sie immer so gerne
mochte. Ich habe vom Schwager den besten Fisch bekommen. Doch ich glaube nicht,
daß sie essen kann. Sie ist so unruhig. Sie schreit, weint, klagt, lästert ...»
«Habt Geduld mit ihr, als ob sie
eure Mutter wäre; Gott wird es euch lohnen! Bringt mich zu ihr.»
«Rabbi... Rabbi... ich weiß nicht,
ob sie dich sehen will. Sie will niemand sehen. Ich wage nicht, ihr zu sagen:
"Nun bringe ich dir den Rabbi."»
Jesus lächelt, ohne die Ruhe zu
verlieren. Er wendet sich an Petrus: «Also ist es an dir, Simon. Du bist ein
Mann und der älteste der Schwiegersöhne, wie du mir gesagt hast. Geh!»
Petrus verzieht vielsagend das
Gesicht und gehorcht. Er geht durch die Küche, betritt dann ein Zimmer, und
durch die von ihm geschlossene Türe hört man ihn mit einer Frau verhandeln. Er
steckt den Kopf heraus, winkt mit der Hand und sagt: «Komm, Meister, mach
schnell!» und fügt leise, kaum verständlich hinzu: «Bevor sie ihre Meinung
ändert.»
Jesus geht rasch durch die Küche
und öffnet die Türe. Auf der Schwelle stehend, sagt er seinen sanften,
feierlichen Gruß: «Der Friede sei mit dir!» Dann betritt er das Zimmer, obwohl
ihm keine Antwort gegeben worden ist. Er geht zu einem niedrigen Lager, auf dem
ein ganz grauhaariges Weiblein liegt. Infolge des hohen Fiebers, das ihr
eingefallenes Gesicht stark rötet, atmet sie schwer.
Jesus beugt sich über das Lager und
lächelt der Alten zu: «Hast du Schmerzen?»
«Ich sterbe.»
«Nein, du wirst nicht sterben.
Vermagst du zu glauben, daß ich dich heilen kann?»
«Warum solltest du dies tun? Du
kennst mich doch nicht.»
«Für Simon, der mich darum gebeten
hat, und auch deinetwegen, um deiner Seele Zeit zu geben, das Licht zu erblicken
und zu lieben.»
«Simon? Er täte besser... Wie kommt
es, daß Simon an mich denkt?»
«Weil er besser ist, als du
glaubst. Ich kenne ihn und weiß es. Ich kenne ihn und freue mich, seine Bitte zu
erfüllen.»
«So willst du mich heilen? Ich
werde noch nicht sterben?»
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«Jetzt wirst du nicht sterben.
Kannst du an mich glauben?»
«Ich glaube, ich glaube, wenn ich
nur nicht sterbe!»
Jesus lächelt wieder. Er ergreift
ihre Hand. Sie ist voller Runzeln und geschwollener Adern und verschwindet in
der jugendlichen Hand Jesu. Er richtet sich nun auf und nimmt das Aussehen an,
das er beim Wunderwirken hat... Dann ruft er: «Sei geheilt! Ich will es! Erhebe
dich!» Und läßt ihre Hand los, die wieder zurückfällt, ohne daß die Alte
jammert, während sie kurz vorher, als Jesus sie, wenn auch mit großer Zartheit,
anfaßte, laut aufschrie.
Eine kurze Weile des Schweigens;
dann ruft die Alte auf: «O Gott der Väter! Ich habe nichts mehr, ich bin
geheilt! Kommt, kommt!»
Die Schwiegertöchter eilen herbei.
«Seht!» sagt die Alte, «ich kann mich ohne Schmerzen bewegen. Ich habe kein
Fieber mehr. Schaut, wie ich frisch bin. Und das Herz schlägt nicht mehr wie der
Hammer eines Schmiedes. Oh, nun sterbe ich nicht!»
Kein Wort für den Herrn. Doch Jesus
macht sich nichts daraus. Er sagt zur ältesten der Schwiegertöchter: «Kleide sie
an, sie soll aufstehen! Sie kann es.» Dann will er gehen.
Simon wendet sich ganz beschämt an
die Schwiegermutter: «Der Meister hat dich geheilt. Sagst du ihm nichts?»
«Natürlich, ich dachte nicht daran.
Danke! Was kann ich tun, um dir meinen Dank zu bezeugen?»
«Gut sein, sehr gut sein. Denn der
Ewige war gut zu dir! Und wenn es dir nichts ausmacht, dann lasse mich heute in
deinem Hause etwas ausruhen. Ich habe während der Woche sämtliche Ortschaften in
der Umgebung besucht und ich bin heute morgen hier angekommen. Ich bin müde.»
«Natürlich, natürlich! Bleibe nur,
wenn du willst!» Es liegt jedoch wenig Begeisterung in ihrer Stimme.
Jesus setzt sich mit Petrus,
Andreas, Jakobus und Johannes in den Garten.
«Meister!»
«Mein Petrus?»
«Ich schäme mich.»
Jesus macht eine Handbewegung, als
wolle er sagen: «Laß es gut sein!»
Dann fügt er bei: «Sie ist nicht
die erste und wird auch nicht die letzte sein, die nicht sofort dankbar ist.
Doch ich erwarte keine Dankbarkeit. Es genügt mir, den Seelen die Mittel zu
geben, sich zu retten. Ich tue meine Pflicht. Es liegt an ihnen, auch ihre zu
tun.»
«Oh, hat es denn auch schon andere
dieser Art gegeben? Wo? ...»
«Neugieriger Petrus! Ich will dich
zufriedenstellen, obgleich ich unnötige Neugier nicht liebe.
In Nazareth: erinnerst du dich an
Saras Mutter? Sie war sehr krank, als wir nach Nazareth kamen, und man sagte
uns, daß das Kind weine. Um es, das gut und sanft ist, nicht Waise und später
Stieftochter werden zu lassen, habe ich die Frau aufgesucht... ich wollte sie
heilen... doch ich hatte den Fuß noch nicht über die Schwelle gesetzt, da jagten
mich der Mann und ein Freund von ihm davon: "Weg, weg! Wir wollen keine
Scherereien mit der Synagoge!" Für sie, für viele bin ich schon ein Aufrührer...
Ich habe sie trotzdem geheilt... wegen ihrer Kinder. Und zu Sara, die im Garten
war, habe ich liebevoll gesagt: "Ich heile deine Mutter! Geh nach Hause und
weine nicht mehr!" Und die Frau war im gleichen Augenblick geheilt; das Kind hat
es ihr, dem Vater und auch dem Onkel erzählt; weil das Kind mit mir gesprochen
hatte, wurde es bestraft. Ich weiß es, denn das Kind ist mir nachgegangen, als
ich den Ort verließ ...»
«Ich hätte sie wieder krank werden
lassen.»
«Aber Petrus!»
Jesus blickt ihn streng an: «Ist
dies die Lehre, die ich dir und den anderen verkünde? Was hast du auf meinen
Lippen gehört, seit du mich zum ersten Mal reden gehört hast? Worüber habe ich
gesprochen, welche Bedingungen habe ich an die gestellt, die meine wahren Jünger
sein wollen?»
«Es ist wahr, Meister, ich bin ein
Esel. Verzeih, doch ich kann es nicht ertragen, wenn man dich nicht liebt.»
«O Petrus, du wirst noch mehr
Undank sehen. Viele Überraschungen wirst du erleben, Petrus; Personen, die von
der sogenannten "heiligen" Welt wie die Zöllner verachtet werden, im Gegenteil,
werden ein Vorbild für die Welt sein, ein Vorbild, nicht nachgeahmt von denen,
die sie verachten; Heiden werden zu meinen Getreuesten gehören; Dirnen, die
durch ihre Willenskraft und ihre Buße wieder rein werden; Sünder, die sich
bekehren!»
«Höre, daß ein Sünder sich bekehrt,
halte ich für möglich; aber eine Dirne und ein Zöllner! ...»
«Du glaubst es nicht?»
«Ich nicht.»
«Dann irrst du, Simon; doch da
kommt deine Schwiegermutter zu uns.»
«Meister, ich bitte dich, setze
dich an meinen Tisch!»
«Danke, Frau, Gott möge es dir
vergelten!»
Sie gehen in die Küche und setzen
sich an den Tisch, und die Alte bedient die Männer großzügig mit Fischsuppe und
Bratfisch.
«Ich habe nur dies», entschuldigt
sie sich. Und um nicht aus der Übung zu kommen, sagt sie zu Petrus: «Alles
müssen deine Schwäger machen, seitdem du nach Bethsaida gegangen bist. Wenn du
wenigstens meine Tochter reich gemacht hättest; aber ich höre, daß du oft
abwesend bist und nicht fischen gehst.»
12
«Ich folge dem Meister. Ich war mit
ihm in Jerusalem, und auch am Sabbat bin ich bei ihm. Ich verliere die Zeit
nicht mit Unsinn.»
«Doch du verdienst nichts. Statt
der Diener des Propheten zu sein, würdest du besser tun, wieder hierher zu
kommen. So hätte wenigstens meine Tochter, das arme Geschöpf, Verwandte, die sie
ernähren, während du den Heiligen spielst.»
«Schämst du dich nicht, so zu
sprechen vor ihm, der dich geheilt hat?»
«Ich kritisiere ihn nicht! Er tut
sein Handwerk. Ich kritisiere dich, weil du den Nichtstuer spielst. Übrigens, du
wirst nie ein Prophet noch ein Priester werden. Du bist ein Dummkopf, ein Sünder
und ein Nichtsnutz.»
«Du hast Glück, daß er zugegen ist,
sonst ...»
«Simon, deine Schwiegermutter hat
dir einen vortrefflichen Rat gegeben. Du kannst auch von hier aus fischen. Du
hast vorher ja auch in Kapharnaum gefischt, wie ich höre; du kannst hierher
zurückkehren.»
«Und wieder hier wohnen? Aber
Meister, du ...»
«Hör zu, mein Petrus! Wenn du hier
bist, dann wirst du entweder auf dem See oder bei mir sein. Was macht es dir
also aus, in diesem Haus zu wohnen?» Jesus hat die Hand auf die Schulter Petri
gelegt, und man hat den Eindruck, daß sich Jesu Ruhe auf den kochenden Apostel
überträgt.
«Du hast recht, du hast immer
recht. Ich werde es tun! Doch diese?»Er zeigt auf Johannes und Jakobus, seine
Gehilfen und Gefährten.
«Können die denn nicht auch
hierherkommen?»
«Oh, unser Vater und besonders
unsere Mutter sind viel glücklicher, wenn sie uns bei dir wissen, als wenn wir
zu Hause sind. Sie werden uns nicht hindern.»
«Vielleicht kommt dann auch
Zebedäus», sagt Petrus.
«Bestimmt, nicht nur vielleicht.
Und andere mit ihm. Wir werden kommen, Meister, ohne Zweifel; wir werden
kommen.»
«Ist Jesus von Nazareth hier?»
fragt ein Kind, das am Eingang zum Garten erscheint.
«Er ist hier, komm herein! ...»
Es kommt ein kleiner Junge herein,
den ich als eines der Kinder wiedererkenne, die ich in einer der ersten Visionen
von Kapharnaum gesehen hatte; es war vor die Füße Jesu gepurzelt und hatte
versprochen, brav zu sein, um den Honig des Paradieses kosten zu können.
«Kleiner Freund, komm näher!» sagt
Jesus.
Der Junge, ein wenig
eingeschüchtert durch so viele Menschen, die ihn betrachten, faßt Mut und eilt
zu Jesus, der ihn in seine Arme schließt, auf seine Knie setzt und ihm auf einem
Stückchen Brot etwas vom Fisch gibt.
«Hier, Jesus, das ist für dich.
Auch heute hat die Person zu mir gesagt: "Es ist Sabbat. Bring dies dem Meister
von Nazareth und sage deinem Freund, daß er für mich beten soll"... er weiß
nämlich, daß du mein Freund bist.» Das Kind lacht glücklich und ißt nun sein
Brot mit Fisch.
13
«Fein, kleiner Jakobus, sage der
Person, daß meine Gebete für ihn zum Vater aufsteigen.»
«Ist es für die Armen?» will Petrus
wissen.
«Ja.»
«Ist es wieder dasselbe Almosen?
Laß uns sehen!»
Jesus gibt ihm die Börse. Petrus
leert alles aus und zählt. «Immer die gleich hohe Summe. Wer ist die Person?
Sag, Kleiner, wer ist es?»
«Ich darf und werde es nicht
sagen.»
«Welcher Eigensinn! Los, sei nett,
dann gebe ich dir eine Frucht.»
«Ich werde dir nichts sagen, ob du
mich nun schimpfst oder mich verwöhnst.»
«Hört, was für eine Zunge!»
«Jakobus hat recht, Petrus. Er
steht zu seinem gegebenen Wort; laß ihn in Frieden!»
«Weißt du denn, Meister, wer diese
Person ist?»
Jesus antwortet nicht. Er kümmert
sich um das Kind, dem er noch ein Stückchen gebratenen Fisch gibt, das er zuvor
von allen Gräten befreit hat. Doch Petrus läßt nicht locker, und Jesus muß ihm
antworten.
«Ich weiß alles, Simon.»
«Und wir dürfen es nicht wissen?»
«Wirst du nie von deinen schlechten
Gewohnheiten loskommen?» Jesus rügt ihn lächelnd und sagt: «Bald wirst du es
wissen. Das Böse möchte verborgen bleiben und dies gelingt ihm nicht immer. Doch
was das Gute betrifft, selbst wenn es verborgen bleiben möchte, um verdienstvoll
zu sein, wird es eines Tages zur Ehre Gottes aufgedeckt, dessen Wesen in einem
seiner Kinder aufleuchtet. Das Wesen Gottes ist die Liebe. Und dieser hat es
verstanden, denn er liebt seinen Nächsten. Geh, Jakobus, und bringe dem Manne
meinen Segen!»
So endet die Vision.
Darauf sagt Jesus nur für mich:
«Den Gruß, weicher dir so gut gefällt, meinen Gruß: "Der Friede sei mit dir!",
mußt auch du als einzigen Gruß allen gegenüber anwenden. Selbst wenn es mein
Stellvertreter wäre, sollst du so grüßen, wie ich gegrüßt und zu grüßen gelehrt
habe. Ist denn nicht Gott selber Friede? Der Friede, den wir als das Schönste
betrachten. Heißt das nicht Gott selbst loben, wenn man den Frieden lobt? Sage
deshalb: "Der Friede sei mit dir", nicht mit Ihnen oder mit euch, sondern mit
dir, so wie ich es sagte. Und wenn es geschehen sollte, daß du in ein Haus
eintrittst, dann sage: "Frieden diesem Hause!" Es gibt keinen schöneren,
vielsagenderen, heiligeren Gruß als diesen, und keinen, der so sehr an mich
erinnert.
Auf Wiedersehen! Der Friede sei mit
dir!»
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96. JESUS PREDIGT UND WIRKT WUNDER
IM HAUSE PETRI
Jesus ist am Garteneingang des
Hauses der Schwiegermutter Petri auf einen Stapel von Körben und Seilen
gestiegen. Der Garten ist voller Menschen; andere sitzen am Ufer des Sees, oder
in den ans Trockene gezogenen Booten. Es scheint, daß Jesus schon eine Weile
spricht, denn die Rede ist in vollem Gange.
Ich höre: «Sicher haben viele von
euch in ihren Herzen so gedacht, doch dem ist nicht so. Der Herr hat es an Güte
seinem Volke gegenüber nie fehlen lassen, obwohl dieses ihm tausend- und
zehntausendmal die Treue gebrochen hat. Hört dieses Gleichnis; es wird euch
helfen zu verstehen.
Ein König hatte viele, viele schöne
Pferde in seinen Stallungen. Doch eines liebte er besonders. Er hatte alles
daran gesetzt, es zu bekommen, und dann, als es ihm gehörte, hatte er es an
einem bevorzugten Ort untergebracht, zu dem er immer wieder ging, um den
Liebling mit seinen Augen und mit seinem Herz zu betrachten. Er träumte davon,
aus ihm das Wunder seines Königreiches zu machen. Und als das Pferd sich den
Befehlen seines Herrn widersetzte, ungehorsam war und zu einem anderen Herrn
flüchtete, hatte der König in seinem Schmerze und seinem Mißfallen dem Rebellen
nach der Strafe Verzeihung versprochen. Getreu diesem Versprechen, wachte er,
wenn auch von ferne, über seinen Liebling und sandte ihm Geschenke und Wächter,
die die Erinnerung an ihn in seinem Herzen wachhalten sollten.
Doch das Pferd war in seiner Liebe
und in seinem Verlangen nach vollständiger Vergebung nicht so standhaft, wie es
der König war, obwohl es unter der Verbannung aus dem Reiche litt. Es war
manchmal gut, manchmal böse; öfters böse, als gut; doch der König hatte Geduld
und versuchte alles, um sein bevorzugtes Pferd zu einem treuen Freund zu machen.
Je mehr Zeit aber verstrich, desto
bockiger wurde das Pferd. Es verlangte nach dem König und jammerte über die
Peitsche des anderen Herrn, doch es wollte nicht wirklich dem König gehören. Es
fehlte ihm der feste Wille dazu. Erschöpft, niedergeschlagen und seufzend gab es
aber nicht zu: "Es ist meine Schuld, daß es mir so geht", sondern schob die
Schuld auf den König. Nachdem dieser alles unternommen hatte, machte er einen
letzten Versuch.
"Bis jetzt", sagte er, "habe ich
Boten und Freunde gesandt. Jetzt werde ich ihm meinen eigenen Sohn schicken. Er
hat das gleiche Herz wie ich und wird ihm mit der gleichen Liebe zureden - mehr
noch, denn mein Sohn ist mein eigenes, aber von der Liebe verklärtes Ich." So
sandte er den Sohn.
Dies ist das Gleichnis. Nun sagt:
Glaubt ihr, daß der König dieses Tier liebte?»
15
«Grenzenlos liebte er es.»
«Konnte das Tier sich über seinen
eigenen Herrn beklagen wegen der Übel, die es erleiden mußte, da es ihn
verlassen hatte?»
«Nein, das konnte es nicht»,
antwortet die Menge.
«Antwortet noch auf diese Frage:
Wie hat nach eurer Meinung dieses Pferd den Sohn seines Königs empfangen, der
gekommen war, es zu befreien, zu heilen und aufs neue in den besseren Stall zu
bringen?»
«Natürlich mit Dank, Freude und
Zuneigung.»
«Doch wenn der Sohn des Königs zum
Pferd gesagt hätte: "Ich bin gekommen, um dies und das für dich zu tun; doch du
mußt nun gut, gehorsam, willig und mir treu ergeben sein"... was glaubt ihr,
hätte das Pferd gesagt?»
«Oh, das ist doch keine Frage.
Nachdem es erfahren hatte, was es heißt, aus dem Königreich ausgestoßen zu sein,
wird es auf das vom Königssohn Verlangte eingegangen sein.»
«Also, was denkt ihr, wäre die
Pflicht des Pferdes gewesen?»
«Noch besser zu sein, als es von
ihm verlangt wurde, noch anhänglicher und gehorsamer, um die Verzeihung der
einstigen Schuld zu erlangen, und aus Dankbarkeit für das empfangene Gute.»
«Und wenn es sich nicht so
verhalten hätte?»
«Dann hätte es den Tod verdient;
denn es wäre schlimmer als ein wildes Tier gewesen.»
«Freunde, ihr habt gut geurteilt.
Tut daher auch ihr das, was ihr von dem Pferd erwarten würdet!
Ihr Menschen, geliebte Geschöpfe
Gottes des Königs des Himmels und meines und eures Vaters; ihr, denen gemäß den
Propheten Gott seinen eigenen Sohn sendet: ich beschwöre euch zu eurem eigenen
Besten, da ich euch liebe, wie nur Gott lieben kann, Gott, der in mir ist, um
das Wunder der Erlösung zu wirken, seid wenigstens so, wie nach eurem Urteil
dieses Tier hätte sein sollen. Wehe dem, der sich als Mensch noch um eine Stufe
unter das Tier erniedrigt! Wenn es für jene, die bis zu diesem Augenblick
gesündigt haben, noch eine Entschuldigung geben konnte - zuviel Zeit ist ja
vergangen, seit das Gesetz gegeben wurde und zuviel Erdenstaub hat sich
inzwischen auf es gelegt - jetzt gibt es keine Entschuldigung mehr! Ich bin
gekommen, um euch das Wort Gottes wieder zu bringen. Der Menschensohn ist unter
den Menschen, um sie zu Gott zurückzuführen. Folgt mir nach! Ich bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben.»
Die gewöhnliche Unruhe unter dem
Volke...
Jesus gebietet den Jüngern: «Laßt
die Armen nach vorne kommen! Ich habe für sie die reiche Spende eines Menschen,
der sich ihrem Gebete empfiehlt, um von Gott Verzeihung zu erhalten.»
Es kommen drei Greise in Lumpen
gekleidet, zwei Blinde, ein Krüppel und eine Witwe mit sieben ausgehungerten
Kindern nach vorne.
16
Jesus betrachtet einen nach dem
anderen genau, lächelt der Witwe und besonders den Kindern zu. Er sagt zu
Johannes: «Bringe diese in den Garten! Ich will später mit ihnen sprechen.»
Dann wird er ernst, sein Auge
flammt auf, als ein Alter vor ihm erscheint. Doch er sagt noch nichts.
Er ruft Petrus und läßt sich die
Börse bringen, die er kurz zuvor erhalten hat, und eine andere, mit kleineren
Geldstücken, die unter den Guten gesammelt worden sind. Er leert alles auf das
Bänkchen beim Brunnen, zählt und teilt. Er macht sechs Teile: einen sehr großen,
alles Silberstücke, und fünf kleine mit vielen Bronzemünzen und nur wenigen
größeren Geldstücken. Er ruft die kranken Armen und fragt: «Habt ihr mir nichts
zu sagen?»
Die Blinden schweigen. Der
Verkrüppelte sagt: «Der, von dem du kommst, möge dich beschützen!» sonst nichts.
Jesus legt in seine gesunde Hand
das Almosen.
Der Mann sagt: «Gott möge es dir
vergelten; doch mehr als dieses wünsche ich mir von dir die Heilung!»
«Du hast nicht darum gebeten.»
«Ich bin arm und ein Wurm, den die
Großen zertreten... ich wagte nicht zu hoffen, daß du Mitleid mit einem Bettler
haben könntest.»
«Ich bin das Erbarmen, das sich
über alles Elend neigt und mich anruft. Ich weise keinen zurück. Ich verlange
nur Liebe und Vertrauen, um sagen zu können: Ich achte auf deine Bitte.»
«O mein Herr! Ich glaube und liebe
dich. Hilf mir doch, heile deinen Diener!»
Jesus fährt mit seiner Hand wie
liebkosend über den gekrümmten Rücken und spricht: «Ich will, daß du gesund
bist.» Unter endlosen Lobpreisungen richtet sich der Mann behende und
wohlgestaltet auf.
Jesus gibt den Blinden das Almosen
und wartet einen Moment; dann läßt er sie gehen. Er ruft die Alten. Er gibt dem
ersten das Almosen, tröstet und hilft ihm, das Geld in den Gürtel zu stecken.
Jesus erkundigt sich mitleidig nach dem Befinden des zweiten, der ihm die
Geschichte seiner kranken Tochter erzählt.
«Ich habe nur sie! Nun wird sie mir
sterben. Was wird aus mir werden? Oh, wenn du kämest! Sie kann nicht kommen, sie
kann sich nicht mehr aufrichten, sie möchte gerne, doch es ist ihr unmöglich.
Meister, Herr, Jesus, habe Erbarmen mit uns!»
«Wo wohnst du, Vater?»
«In Chorazim. Frage nach Isaak des
Jonas, genannt der "Erwachsene". Willst du wirklich kommen? Wirst du mein
Unglück nicht vergessen? Und wirst du meine Tochter heilen?»
«Glaubst du, daß ich sie heilen
kann?»
«Und wie ich es glaube! Deswegen
sage ich es dir!»
17
«Geh nach Hause, Vater, deine
Tochter wird dich unter der Türe begrüßen!»
«Aber sie ist doch im Bett und kann
nicht aufstehen seit drei... Oh! Nun habe ich begriffen! Oh, danke, danke,
Meister! Gepriesen seist du und der, welcher dich gesandt hat! Gott sei
gepriesen und sein Messias!»Der Alte geht weinend davon und bemüht sich, so
rasch wie möglich vorwärtszukommen. Doch als er schon außerhalb des Gartens ist,
wendet er sich um: «Meister, wirst du trotzdem in mein armes Haus kommen? Isaak
erwartet dich, um dir die Füße zu küssen, sie mit seinen Tränen abzuwaschen und
dir das Brot der Liebe zu reichen. Komm, Jesus, ich werde den Dorfbewohnern von
dir erzählen.»
«Ich werde kommen. Ziehe im Frieden
und sei glücklich!»
Nun kommt der dritte Greis nach
vorne, der zerlumpteste. Doch Jesus hat nur noch den großen Haufen Münzen. Er
ruft laut: «Frau, komm mit deinen Kindern!»
Die Frau, noch jung und gelenkig,
tritt mit geneigtem Haupte vor. Sie gleicht einer traurigen Henne mit traurigen
Kücklein.
«Seit wann bist du Witwe, Frau?»
«Im Monat des Tischri werden es
drei Jahre.»
«Wie alt bist du?»
«Siebenundzwanzig.»
«Sind dies alles deine Kinder?»
«Ja, Meister, und ich habe nichts
mehr. Alles ist aufgebraucht... Wie kann ich arbeiten, wenn mich niemand mit all
diesen Kleinen haben will?»
«Gott verläßt nicht einmal den
Wurm, den er erschaffen hat. Er wird auch dich nicht verlassen, Frau. Wo wohnst
du?»
«Am See, drei Stadien von Bethsaida
entfernt. "Er" hat zu mir gesagt, ich solle kommen. Mein Mann ist im See
ertrunken, er war Fischer.»
"Er", das ist Andreas; er ist rot
geworden und möchte am liebsten verschwinden.
«Du hast recht getan, Andreas, der
Frau zu sagen, daß sie zu mir kommen solle.»
Andreas, ermutigt, murmelt: «Der
Mann war mein Freund, er war gut und starb bei einem Gewitter; dabei ging auch
sein Boot verloren.»
«Nimm dies, Frau! Es wird dir für
längere Zeit reichen. Dann wird eine neue Sonne über deinen Tag aufgehen. Sei
gut, erziehe deine Kinder im Gesetz, und Gottes Hilfe wird dir nicht fehlen. Ich
segne dich: dich und die Kleinen.» Und er liebkost eines nach dem anderen mit
großem Erbarmen.
Mit ihrem Schatz, den sie ans Herz
drückt, geht die Frau dann weg.
«Und ich?» fragt der Greis, der
allein übriggeblieben ist. Jesus betrachtet ihn und schweigt.
18
«Nichts für mich? Du bist nicht
gerecht. Ich komme von weither, denn man sagte mir, daß du Geld verteilst; und
nun sehe ich, daß du den einen viel gibst und mir nichts. Einem armen Greis, der
krank ist; und er will, daß man an ihn glaubt.»
«Aber schämst du dich nicht, so zu
lügen? Du bist schon mit einem Bein im Grabe und lügst und versuchst, Hungernde
zu berauben. Warum willst du den Brüdern das Almosen stehlen, das ich angenommen
habe, um es gerecht zu verteilen?»
«Aber ich ...»
«Schweige! Du hättest aus meinem
Schweigen und meinem Handeln verstehen müssen, daß ich dich kenne, und hättest,
meinem Beispiel folgend, schweigen sollen. Warum willst du, daß ich dich
beschäme?»
«Ich bin arm.»
«Nein, du bist geizig und ein Dieb.
Du lebst für das Geld und für den Wucher!»
«Ich habe nie gegen Wucherzinsen
geliehen, Gott ist mir Zeuge!»
«Ist es nicht schlimmster Wucher,
die zu berauben, die wirklich Not leiden? Geh und bereue, damit Gott dir
verzeihe!»
«Ich schwöre dir... !»
«Schweige, ich befehle es dir! Es
steht geschrieben: "Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen!" Wenn ich nicht
Ehrfurcht vor deinem Alter hätte, dann würde ich dich durchsuchen und an deiner
Brust die mit Gold gefüllte Börse finden: dein wahres Herz! Geh weg!»
Der Alte ist nun so beschämt
darüber, daß sein Geheimnis entdeckt ist, daß er weggeht, ohne den strengen Ton
nötig zu haben, der in der Stimme Jesu liegt. Die Leute lachen ihn aus,
verspotten ihn und beschimpfen ihn als Dieb.
«Schweigt! Wenn er gefehlt hat, so
sollt ihr nicht auch fehlen! Er hat gegen die Aufrichtigkeit gefehlt; er ist
unehrlich. Ihr fehlt gegen die Nächstenliebe, wenn ihr ihn beschimpft. Der
Bruder, der fehlt, darf nicht beleidigt werden. Jeder hat seine Fehler. Niemand
außer Gott ist vollkommen. Ich mußte ihn beschämen, denn es ist nicht erlaubt zu
betrügen, besonders die Armen. Aber nur der Vater weiß, wie sehr es mich
geschmerzt hat, dies zu tun. Auch ihr sollt Schmerz empfinden, wenn ihr mit
ansehen müßt, wie ein Israelit gegen das Gesetz verstößt, indem er einen Armen
und eine Witwe zu betrügen versucht. Seid nicht habgierig! Eure Seele soll euer
Schatz sein, nicht das Geld. Seid nicht meineidig! Eure Sprache soll klar und
gut sein wie auch eure Taten. Lebt so, daß in der Stunde eures Todes der Friede
in eurem Herzen ist. Der Friede dessen, der als Gerechter gelebt hat. Geht nun
nach Hause ...»
«Erbarmen, Herr! Dieser mein Sohn
ist stumm wegen eines Dämons, der ihn quält.»
«Und dieser mein Bruder ist wie ein
unreines Tier, das sich im Schlamm
19
wälzt und Kot verzehrt. Soweit hat
ihn ein böser Geist gebracht, und nun muß er unfreiwillig schmutzige Dinge tun.»
Jesus geht zu der Gruppe, die ihn
anfleht. Er breitet die Arme aus und gebietet: «Fahrt aus ihnen aus! Gebt Gott
seine Geschöpfe zurück!»
Unter Schreien und Zuckungen werden
die beiden Unglücklichen geheilt. Die Frauen, die sie zu Jesus geführt hatten,
fallen vor ihm nieder, loben und preisen ihn.
«Geht nach Hause und erweist euch
Gott gegenüber dankbar! Der Friede sei mit euch allen. Geht!»
Die Menschen gehen weg und
unterhalten sich weiterhin über das Vorgefallene. Die vier Jünger umringen den
Meister.
«Freunde, ich sage euch, in Israel
finden sich alle Sünden, und die Dämonen haben hier ihren Wohnsitz
aufgeschlagen. Es gibt eine Besessenheit, welche die Lippen verstummen läßt und
dazu verleitet, wie ein Ungeheuer zu leben und Unrat zu essen. Doch schlimmer
und weit verbreiteter ist die Besessenheit, die die Herzen der Ehrlichkeit und
der Liebe verschließt und aus ihnen schmutzige Lasterhöhlen macht. Oh, mein
Vater!» Jesus setzt sich; er ist niedergeschlagen.
«Du bist müde, Meister?»
«Nicht müde, mein Johannes. Doch
betrübt bin ich über den Zustand der Herzen und den geringen Willen zur
Besserung. Ich bin gekommen... doch der Mensch, der Mensch... oh, mein Vater!»
«Meister, ich liebe dich, wir alle
lieben dich ...»
«Ich weiß, doch ihr seid sehr
wenige... und mein Wunsch, sehr viele zu retten, ist so groß.»
Jesus schließt Johannes in seine
Arme und legt sein Haupt an das des Johannes. Er ist traurig. Petrus, Andreas
und Jakobus stehen dabei und betrachten ihn mit Liebe und Traurigkeit.
So endet die Vision.
97. JESUS BETET IN DER NACHT
Ich sehe, wie Jesus das Haus des
Petrus in Kapharnaum verläßt und bemüht ist, dabei möglichst wenig Aufsehen zu
machen. Ich verstehe, daß er dort übernachtet hat, um seinen Petrus
zufriedenzustellen.
Es ist noch tiefe Nacht, und der
Himmel ist voller Sterne. Der See spiegelt ihren Glanz nur schwach wider, und
man würde das stille Gewässer wohl nicht bemerken, wäre nicht der Wellenschlag
am kiesigen Strand, der die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Jesus verschließt die
Türe, betrachtet den Himmel, den See, die Straße. Er überlegt, dann geht er
nicht den See entlang, sondern in Richtung der Ortschaft, biegt jedoch davor zu
20
den Feldern ab und erreicht auf
einem kleinen Feldweg einen Olivenhain. In diesem grünen Frieden sinkt Jesus auf
die Knie, um zu beten.
Er betet inbrünstig. Zuerst kniend,
dann, wie gestärkt, aufrechtstehend, immer wieder den Blick zum Himmel erhebend.
Unter dem schwachen Leuchten des aufsteigenden Tages sieht sein Antlitz noch
vergeistigter aus. Er betet und lächelt nun, während er zuvor schwer geseufzt
hat, als trüge er eine tödliche Last. Er betet mit ausgebreiteten Armen und
gleicht einem lebendigen Kreuz, hochgewachsen und engelhaft wie er ist: ein
Anblick der Güte und Milde. Es sieht aus, als ob er die ganze Landschaft segnen
würde, den beginnenden Tag, die erlöschenden Sterne und den See, der langsam
sichtbar wird.
«Meister, wir haben dich so
gesucht! Wir haben die Türe verschlossen vorgefunden, als wir vom Fischfang
zurückgekehrt sind und haben gedacht, daß du weggegangen bist. Wir konnten dich
nicht finden. Endlich hat uns ein Bauer gesagt, der seine Körbe zum Markte fuhr
und uns nach dir: "Jesus, Jesus..." rufen hörte: "Ruft ihr den Meister, der zu
den Scharen spricht? Er ist diesen Feldweg gegangen, dem Hügel zu. Er muß im
Ölgarten des Michäas sein, denn dorthin geht er öfters. Ich habe ihn dort schon
andere Male gesehen." Er hatte recht. Warum bist du so früh fortgegangen,
Meister? Warum hast du dich nicht ausgeruht? War das Bett nicht bequem?» Petrus,
der Jesus endlich gefunden hat, sagt dies alles in einem Atemzug.
«Nein, Petrus, das Bett ist gut und
der Raum ist schön. Doch ich bin gewohnt, dies öfters zu tun, um meinen Geist zu
erheben und mich mit dem Vater zu vereinigen. Das Gebet ist eine Kraft für uns
selbst und für die anderen. Durch das Gebet erreicht man alles. Wenn die
erbetene Gnade vom Vater auch nicht immer gewährt wird, so darf man daraus nicht
schließen, es sei ein Mangel an Liebe seitens des Vaters.
Man muß vielmehr immer davon
überzeugt sein, daß es gemäß einer göttlichen Ordnung geschieht, die das
Geschick eines jeden Menschen zu dessen eigenem Wohle leitet. Immer aber gibt
das Gebet Frieden und seelisches Gleichgewicht, um vielen auf uns zukommenden
Dingen entgegentreten zu können, ohne vom heiligen Wege abzukommen. Es kommt
leicht vor, Petrus, du weißt es, daß die Umgebung den Geist verdunkelt und das
Herz beunruhigt. Wie kann aber ein verdunkelter Geist und ein unruhiges Herz
Gottes Stimme vernehmen?»
«Das ist wahr. Doch wir verstehen
es nicht zu beten. Wir können nicht so schöne Worte sagen wie du.»
«Sagt das, was ihr könnt und wie
ihr es könnt! Es sind nicht die Worte, sondern die Beweggründe, die sie
begleiten, die dem Vater wohlgefällig sind.»
«Wir möchten so beten, wie du
betest.»
«Ich werde euch auch beten lehren.
Ich werde euch das heiligste Gebet
21
lehren. Doch damit es nicht eine
leere Formel auf euren Lippen sei, möchte ich, daß eure Seele schon ein bißchen
Heiligkeit, Licht und Weisheit besitze; darin will ich euch zunächst
unterweisen. Dann werde ich euch das heilige Gebet lehren. Wollt ihr etwas von
mir, da ihr mich gesucht habt?»
«Nein, Meister; doch es sind so
viele, die etwas von dir wollen. Es waren schon Menschen auf dem Wege nach
Kapharnaum; sie waren arm, krank, schmerzgebeugt, Menschen voll guten Willens,
mit dem Wunsche, sich belehren zu lassen. Sie verlangten nach dir. Wir sagten zu
ihnen: "Der Meister ist müde und schläft. Geht wieder... und kommt am nächsten
Sabbat! "»
«Nein, Simon, das sollst du nicht
sagen. Es gibt nicht nur einen Tag in der Woche für die Frömmigkeit. Ich bin die
Liebe, das Licht, das Heil - an jedem Tage der Woche.»
«Doch bis jetzt hast du nur am
Sabbat gesprochen.»
«Weil ich noch unbekannt war. Doch
je bekannter ich werde, desto mehr wird jeder Tag von Gnade und Gnaden
überfließen. In Wahrheit sage ich dir: eine Zeit wird kommen, in der dem
Menschensohn für die Ruhe und Mahlzeit nicht einmal die Spanne bleibt, die dem
Spatz gewährt ist, um sich auf seinem Ast auszuruhen und sich mit Körnern zu
sättigen.»
«Dann wirst du krank werden; das
werden wir nicht zulassen. Deine Güte darf dich nicht unglücklich machen.»
«Und du glaubst, daß mich dies
unglücklich machen könnte? Aber Petrus! Wenn alle Welt zu mir käme und mich
hören wollte, um über die Sünden zu weinen und die Leiden in meinem Herzen
abzuladen, um an Leib und Seele geheilt zu werden, und wenn ich mich erschöpfte
im Reden, im Verzeihen, im Verschwenden meiner Macht, dann wäre ich sehr, sehr
glücklich, Petrus, daß ich nicht einmal mehr dem Himmel nachweinen würde, wo ich
im Vater war (dieser Ausdruck ist zu verstehen im Lichte von Johannes 16,28;
20,17) ... Von woher waren die Leute, die zu mir kommen wollten?»
«Von Chorazim, von Bethsaida, von
Kapharnaum und sogar von Tiberias und Gergesa sind sie gekommen und von den
hundert kleinen Ortschaften, die zwischen den Städten verstreut liegen.»
«Geht und sagt ihnen, daß ich nach
Chorazim, nach Bethsaida und in die umliegenden Dörfer kommen werde.»
«Warum bleibst du nicht in
Kapharnaum?»
«Weil ich für alle gekommen bin und
alle mich haben sollen; und übrigens erwartet mich der alte Isaak... Er soll in
seiner Hoffnung nicht enttäuscht werden.»
«Du wirst also hier auf uns
warten?»
«Nein. Ich gehe nun, und ihr bleibt
in Kapharnaum, um die Menschen zu mir zu weisen; später werde ich zurückkommen.»
22
«So müssen wir allein bleiben ...»
Petrus ist betrübt.
«Nicht traurig sein! Der Gehorsam
soll dich froh machen, und ebenso die Überzeugung, ein mir nützlicher Jünger zu
sein; und mit dir in gleicher Weise diese anderen.»
Petrus und Andreas, Jakobus und
Johannes beruhigen sich.
Jesus segnet sie, und sie trennen
sich.
So endet die Vision.
98. DER AUSSÄTZIGE BEI CHORAZIM
WIRD GEHEILT
Mit einer fotografischen
Genauigkeit habe ich seit dem frühen Morgen einen armen Aussätzigen vor meinem
geistigen Auge.
Er ist wahrlich nur mehr ein
menschliches Wrack. Ich könnte nicht einmal sagen, wie alt er ist, denn die
Krankheit hat sich bei ihm verheerend ausgewirkt. Da er halbnackt ist, gewahrt
man seinen zum Skelett abgemagerten Körper, der wie eine zerfressene Mumie
aussieht. Hände und Füße sind verkrümmt und es fehlen Teile davon, so daß die
kläglichen Gliedmaßen nichts Menschliches mehr an sich haben. Die armen
verkrüppelten Hände gleichen den Pfoten eines geflügelten Monstrums, die Füße
Ochsenhufen, so plump und entstellt sind sie.
Und erst der Kopf! Ich glaube, der
Kopf eines Toten, der unbegraben bleibt und von der Sonne und dem Wind
mumifiziert wird, könnte diesem Haupte gleichen. Einige übriggebliebene
Haarbüschel da und dort auf der gelblichen Haut, die voller Krusten ist, gleich
angetrocknetem Staub auf einem Schädel; halboffene und tiefeingefallene Augen;
angefressene Lippen und eine Nase, bei der der Knorpel sichtbar wird; die Ohren,
die nur ansatzmäßig vorhandene Muscheln sind; und alles überzogen von einer
ledernen, gelblichen Haut, unter der die Knochen hervorstehen. Die Haut scheint
nur die Aufgabe zu haben, die armen Knochen in ihrem schmutzigen "Sack"
zusammenzuhalten, der mit Narben und eitrigen Wunden bedeckt ist. Eine Ruine!
Beim Anblick dieses von einer
vertrockneten Haut überzogenen Gerippes in seinem schmutzigen und zerfetzten
Mantel überkommt mich unwillkürlich der Gedanke an den in der Welt
umherziehenden "Tod"; nur hält dieser Mann statt der Sense einen knorrigen Ast
als Stock in der Hand.
Er steht an der Schwelle einer
abseits liegenden Spelunke, die so verwahrlost ist, daß ich nicht sagen kann, ob
sie ursprünglich ein Grab oder ein Unterstand für Holzfäller war, oder ob sie
der Überrest eines zerstörten Hauses ist.
Er blickt nach der Straße, die
etwas mehr als hundert Meter von seinem
23
Unterschlupf entfernt liegt, eine
staubige Hauptstraße, auf der noch die Sonne brütet. Niemand bewegt sich auf
ihr. Soweit das Auge reicht, nur Sonne, Staub und Einsamkeit. Weiter oben, in
Richtung Nordwesten, muß ein Dorf oder eine Stadt sein. Ich kann die ersten
Häuser in etwa einem Kilometer Entfernung sehen.
Der Aussätzige hält seufzend
Ausschau. Dann nimmt er eine verbeulte Tasse, füllt sie an einem ärmlichen
Rinnsal und trinkt. Nun schleppt er sich zu einem Gebüsch, bückt sich und reißt
einige wilde Rüben aus dem Boden. Er geht zum Bächlein zurück, reinigt die Rüben
im seichten Wasser vom ärgsten Schmutz und beginnt, langsam zu essen; unter
großer Mühe führt er die verstümmelten Hände zum Mund. Die Rüben müssen hart wie
Holz sein, denn er hat Mühe, sie zu kauen; oft muß er ausspucken, da er nicht
schlucken kann, selbst wenn er Wasser dazu trinkt.
«Wo bist du, Abel?» ruft eine
Stimme. Der Aussätzige wendet sich um, und auf seinen Lippen liegt etwas wie ein
Lächeln. Doch es ist nur noch ein Zerrbild davon, denn diese Lippen, von denen
nicht mehr viel übrigbleibt, vermögen nicht mehr zu lächeln. Mit eigenartig
kreischender Stimme antwortet er: «Hier bin ich. Ich hoffte nicht mehr, daß du
kommen würdest. Ich dachte, dir wäre ein Unheil zugestoßen; ich war sehr
traurig. Wenn auch du mir fehlst, was bleibt dann dem armen Abel?» Während er so
spricht, begibt er sich zur Straße, soweit ihm dies die Vorschriften erlauben.
Auf der Straße kommt ihm ein Mann
mit raschen Schritten entgegen.
«Bist du es wirklich, Samuel? Oh,
wenn du nicht der bist, den ich erwarte... wer du auch sein magst, tu mir kein
Leid an!»
«Ich bin es, Abel, wirklich ich...
Und ich bin gesund. Schau, wie ich renne. Ich habe mich etwas verspätet, ich
weiß. Ich war in Sorge um dich. Doch wenn du nun erfährst... oh, du wirst
glücklich sein! Hier habe ich nicht nur die üblichen Brotkrusten, sondern ein
ganzes, frisches, gutes Brot... nur für dich... auch guten Fisch und Käse. Alles
für dich. Ich will, daß du feierst, mein armer Freund, um dich auf ein größeres
Fest vorzubereiten.»
«Seit wann bist du so reich? Ich
verstehe nichts mehr ...»
«Ich werde es dir sagen.»
«Und du bist gesund, ich erkenne
dich nicht wieder.»
«Höre also: Ich erfuhr, daß in
Kapharnaum der heilige Rabbi sei, und ich bin hingegangen...»
«Bleib stehen, bleib stehen! Ich
bin ansteckend! ...»
«Oh, das macht nichts, ich habe vor
nichts mehr Angst.»
Der Mann, der niemand anderer ist
als der arme Gelähmte, der im Hause der Schwiegermutter des Petrus durch Jesus
geheilt worden ist, steht nun wenige Schritte vor dem Aussätzigen. Er hat im
Gehen gesprochen und dabei glücklich gelächelt.
24
Der Aussätzige sagt wiederum: «Im
Namen Gottes, bleibe stehen! Wenn dich jemand sieht...»
«Ich bleibe stehen... Schau, ich
lege die Vorräte hierhin. Iß, während ich rede.»
Er legt das Bündel auf einen großen
Stein und öffnet es. Dann geht er einige Schritte zurück, während der Aussätzige
näherkommt und sich auf die unerwartete Nahrung stürzt. «Oh, wie lange ist es
her, seit ich das letzte Mal solche Sachen gegessen habe. Wie gut sie sind! Ich
dachte schon, ich müßte mit leerem Magen zur Ruhe gehen. Kein einziger
Mitleidiger ist heute gekommen, auch du nicht. So habe ich versucht, Wurzeln zu
kauen ...»
«Armer Abel! Ich habe es mir
gedacht. Doch ich sagte mir: "Gut, jetzt wird er traurig sein, doch bald wird er
glücklich sein."»
«Glücklich, ja, über die gute
Nahrung...»
«Nein, du wirst für immer glücklich
sein!»
Der Aussätzige schüttelt das Haupt.
«Höre, Abel, wenn du glauben
kannst, wirst du glücklich sein.»
«Glauben? An wen?»
«An den Meister, an den Meister,
der mich geheilt hat.»
«Aber ich bin aussätzig und im
Endstadium. Wie kann er mich heilen?»
«Oh, er kann es! Er ist heilig!»
«Ja, auch Elisäus heilte den
aussätzigen Naaman; doch ich... ich kann nicht zum Jordan gehen.»
«Du wirst ohne Wasser geheilt
werden. Höre, dieser Meister ist der Messias, verstehst du? Der Messias! Der
Sohn Gottes ist er. Und er wird alle heilen, die Glauben haben. Er sagt: "Ich
will", und die Dämonen fliehen, die Glieder werden gerade und die blinden Augen
sehen!»
«Oh, und ob ich den Glauben habe!
Doch wo kann ich den Messias sehen?»
«Deswegen bin ich gekommen. Er ist
dort, in jenem Dorf. Ich weiß, wo er heute abend sein wird. Wenn du willst...
ich habe mir gesagt: ich werde es Abel berichten, und wenn Abel fühlt, daß er
glauben kann, dann werde ich ihn zum Meister begleiten.»
«Bist du verrückt, Samuel? Wenn ich
mich Häusern nähere, werde ich gesteinigt!»
«Nicht zu den Häusern. Der Abend
bricht an. Ich bringe dich bis zum Wäldchen; dann werde ich gehen und den
Meister rufen. Ich begleite dich!»
«Geh, geh schnell weg! Ich werde
allein bis dorthin gehen. Ich werde zwischen den Hecken im Graben kriechen. Doch
du, geh, geh! Oh, geh, mein guter Freund! Wenn du wüßtest, was es heißt, diese
Krankheit zu haben... und was es heißt, auf Heilung hoffen zu können!»
25
Der Aussätzige kümmert sich nicht
mehr um die Nahrung. Er weint und fleht seinen Freund mit Gesten an.
«Ich gehe, und du kommst nach!»
sagt der ehemalige Gelähmte und eilt davon.
Abel kriecht mühsam in den Graben,
der längs der Straße verläuft und voller Disteln ist. Nur in der Mitte ist ein
dünnes Rinnsal. Der Abend sinkt nieder, während der Unglückliche sich durch das
Sträucherdickicht dahinschleppt, immer auf der Lauer, ob er einen Schritt hört.
Zweimal legt er sich flach in den Graben. Das erste Mal wegen eines Reiters, der
auf der Straße vorbeitrabt; das zweite Mal, weil drei Männer vorbeikommen, die
mit Heu beladen zum Dorfe gehen. Dann kriecht er weiter.
Doch noch vor ihm erreicht Jesus
mit Samuel das Wäldchen. Samuel sagt zu Jesus: «Gleich wird er kommen. Er kann
nur langsam gehen wegen der Wunden. Habe Geduld!»
«Ich habe keine Eile.»
«Wirst du ihn heilen?»
«Glaubt er?»
«Oh! ... Er starb fast vor Hunger;
er sah nach vielen Jahren der Entbehrung die erste gute Nahrung; er hat alles
bis auf einige Bissen zurückgelassen, um so rasch als möglich hierherzukommen.»
«Woher kennst du ihn?»
«Ich lebte von Almosen, nachdem ich
verunglückt war, und ich zog auf den Straßen von einem Ort zum anderen. Hier kam
ich jeden siebten Tag vorbei, und so lernte ich den Armen kennen... an einem
Tage, da er vom Hunger getrieben bis zur Straße kam, auf der Suche nach etwas
Eßbarem. Es war während eines furchtbaren Gewitters. Er wühlte im Abfall wie ein
Hund. Ich hatte trockenes Brot im Beutel, eine Gabe mildtätiger Menschen, und
teilte es mit ihm. Seitdem sind wir Freunde, und jede Woche versorge ich ihn mit
dem, was ich habe... Habe ich viel, bekommt er reichlich, habe ich wenig, erhält
er wenig. Ich tue, was ich kann, als wäre er mein Bruder. Und seit dem Abend, da
du mich geheilt hast - gepriesen seist du dafür - denke ich an ihn... und an
dich!»
«Du bist gut, Samuel. Darum hat die
Gnade dich heimgesucht. Wer liebt, erhält alles bei Gott. Doch hier ist etwas im
Gebüsch!»
«Bist du es, Abel?»
«Ich bin es.»
«Komm, der Meister erwartet dich
hier unter dem Nußbaum!»
Der Aussätzige kriecht aus dem
Graben und rutscht mühsam die Böschung hinauf bis zur Wiese. Jesus steht dort,
mit dem Rücken an einen sehr hohen Nußbaum gelehnt, und erwartet ihn.
«Meister, Messias, Heiliger, habe
Erbarmen mit mir!» ruft der Aussätzige aus und wirft sich im Grase Jesus zu
Füßen. Das Gesicht noch auf dem Erdboden, ruft er noch einmal: «O mein Herr!
Wenn du willst,
26
kannst du mich rein machen!» Dann
richtet er sich auf und kniend hebt er die knochendürren Arme mit den
verkrüppelten Händen hoch und zeigt das verwüstete Gesicht... Die Tränen rinnen
ihm über die Wangen und die wunden Lippen.
Jesus betrachtet ihn voller
Erbarmen. Er betrachtet diese Menschenlarve, die zerstört ist durch die
schreckliche Krankheit. Nur eine wahre Nächstenliebe erträgt ihre Nähe, so
abstoßend und stinkend ist sie.
Doch siehe, Jesus streckt ihm seine
schöne, gesunde Hand entgegen, seine rechte Hand, wie um den Armen zu
streicheln.
Dieser jedoch wirft sich zurück auf
die Fersen und schreit: «Berühre mich nicht! Habe Erbarmen mit dir!»
Doch Jesus macht einen Schritt
vorwärts. Feierlich, voller Güte und Milde legt er seine Hand auf das vom
Aussatz zerfressene Haupt und sagt mit ruhiger, liebevoller, doch auch
machtvoller Stimme: «Ich will! Sei rein!»
Die Hand bleibt einige Augenblicke
auf dem armen Haupt. «Steh auf, geh zum Priester und erfülle, was das Gesetz
vorschreibt! Erzähle nicht, was ich dir getan habe. Bleibe nur gut! Sündige nie
wieder! Ich segne dich.»
«O Herr! Abel! Du bist ganz
gesund!» ruft Samuel, der die Verwandlung des Freundes beobachtet hat, freudig
aus.
«Ja, er ist gesund. Durch seinen
Glauben hat er es verdient. Lebe wohl! Der Friede sei mit dir!»
«Meister! Meister! Meister! Ich
gehe nicht weg von dir! Ich kann mich nicht von dir trennen.»
«Tu, was das Gesetz vorschreibt!
Dann sehen wir uns wieder. Zum zweiten Mal komme mein Segen über dich!»
Jesus geht und gibt Samuel ein
Zeichen, daß er bleiben soll. Die beiden Freunde weinen vor Freude, während sie
im Mondschein zum letzten Mal in die Unglückshöhle zurückkehren.
Die Vision endet hier.
99. HEILUNG DES GELÄHMTEN IM HAUSE
PETRI IN KAPHARNAUM
Ich sehe die Ufer des Sees
Genesareth. Ich sehe die ans Land gezogenen Boote der Fischer. An sie gelehnt,
sind Petrus und Andreas damit beschäftigt, die Netze auszubessern, die ihnen die
Helfer triefend übergeben, nachdem sie sie im See von den Anhängseln gereinigt
haben. In einer Entfernung von zehn Metern sind Johannes und Jakobus über ihr
Boot gebeugt und damit beschäftigt, alles in Ordnung zu bringen, wobei ihnen
27
ein Junge und ein ungefähr
fünfzigjähriger Mann helfen, den ich für Zebedäus halte, weil der Junge ihn
"Meister" nennt und er dem Jakobus sehr ähnlich sieht.
Petrus und Andreas, mit den
Schultern an das Boot gelehnt, arbeiten schweigend daran, die Netzfäden und die
Signalkorken auszubessern. Nur ab und zu wechseln sie einige Worte über ihre
Arbeit, die, wie ich vermute, vergeblich war.
Petrus ärgert sich nicht wegen der
leeren Geldbörse oder der unbelohnten Mühe; er sagt: «Es tut mir leid... was
werden wir tun, um diesen Armen Nahrung zu geben? Wir bekommen nur selten
Spenden, und diese zehn Denare und sieben Drachmen, die wir in diesen vier Tagen
gesammelt haben, werde ich nicht anrühren. Nur der Meister soll bestimmen, wann
und wie diese Münzen verwendet werden sollen. Und bis zum Sabbat ist er nicht
da. Hätte ich einen guten Fang gehabt! Auch die kleinsten Fische hätte ich
zubereitet und sie dann den Armen gegeben; und wenn einer im Hause deswegen
gemurrt hätte, dann hätte ich mir nichts daraus gemacht. Die Gesunden können
sich selbst helfen, doch die Kranken!»
«Der arme Gelähmte... sie haben ihn
auf einem weiten Weg mühsam hierhergebracht...» sagt Andreas.
«Höre, Bruder! Ich meine, wir
sollten nicht so getrennt bleiben... Ich weiß nicht, warum uns der Meister nicht
immer bei sich haben will. Wenigstens hätte ich nicht immer die Armen vor Augen,
denen ich nicht helfen kann... und wenn ich sie dann sähe, könnte ich ihnen
sagen: "Er ist da!"»
«Hier bin ich!» Jesus hat sich auf
dem weichen Sande lautlos genähert.
Petrus und Andreas machen einen
Freudensprung und rufen aus: «Oh, Meister!» Und zu ihren Freunden: «Jakobus,
Johannes, der Meister ist da, kommt!»
Die beiden kommen herbei, und alle
drängen sich um Jesus. Einer küßt sein Gewand, der andere die Hände, und
Johannes wagt sogar, seinen Arm um Jesu Hüfte und sein Haupt an dessen Brust zu
legen. Jesus küßt ihn auf die Haare.
«Worüber habt ihr gesprochen?»
«Meister, wir sprachen darüber, wie
nötig wir dich haben.»
«Warum, Freunde?»
«Um dich sehen und lieben zu
können, und dann auch der Armen und Kranken wegen. Seit zwei und mehr Tagen
warten sie auf dich. Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe sie dorthin
gebracht. Siehst du die Hütte auf dem brachen Feld? Dort machen die
Schiffshandwerker ihre Reparaturen. Ich habe dorthin auch einen Gelähmten
gebracht, der hohes Fieber hat, und ein Kind, das an der Brust seiner Mutter
stirbt. Ich konnte sie nicht fortschicken, dich zu suchen.»
28
«Du hast gut getan. Doch wie
konntest du ihnen helfen, und wer hat sie hergebracht? Du sagtest doch, daß es
Arme sind.»
«Gewiß, Meister; denn die Reichen
haben Wagen und Pferde, die Armen aber nur ihre Beine. Sie hätten dir nicht
nacheilen können. Ich tat, was ich konnte. Schau, das ist die Spende, die ich
bekommen habe. Ich habe nichts davon angerührt. Das ist deine Sache.»
«Petrus, du hättest es gleichwohl
tun können. Gewiß... Mein Petrus, es tut mir leid, daß du meinetwegen gescholten
wirst und Mühen hast.»
«Nein, Meister, darüber mache dir
keine Sorgen! Mir macht es nichts aus. Nur, daß ich nicht mehr Barmherzigkeit
üben konnte, bedauere ich. Doch glaube mir, ich habe, wir alle haben getan, was
wir konnten.»
«Ich weiß es; ich weiß auch, daß du
vergeblich gearbeitet hast. Doch wenn auch keine Nahrung da ist, die
Nächstenliebe bleibt: die lebendige und aktive Nächstenliebe, die in den Augen
Gottes heilig ist.»
Kinder kommen schreiend daher: «Der
Meister ist da, der Meister ist da! Jesus ist gekommen, Jesus ist gekommen!» und
sie schmiegen sich an ihn, der sie liebkost, während er gleichzeitig mit den
Jüngern spricht: «Simon, ich gehe in dein Haus. Du und ihr anderen geht und
verkündet, daß ich gekommen bin, und dann bringt mir die Kranken!»
Die Jünger eilen in alle Richtungen
fort. Doch ganz Kapharnaum weiß bereits, daß Jesus angekommen ist. Die Kinder
haben dafür gesorgt: wie Bienen aus dem Bienenstock zu den verschiedenen Blumen,
so sind sie in die Häuser, auf die Straßen und Plätze "geflogen". Freudig
überbringen sie die Botschaft den Müttern, den Reisenden, den Alten, die an der
Sonne sitzen, und kommen zurück, um sich nochmals liebkosen zu lassen von ihm,
der sie liebt; und ein mutiges Kind sagt: «Sprich heute zu uns und für uns,
Jesus! Wir lieben dich sehr, weißt du, und wir sind besser als die Erwachsenen.»
Jesus lächelt dem kleinen
Psychologen zu und verspricht: «Ich werde zu euch sprechen.» Und von den Kindern
gefolgt, geht er zum Hause und betritt es mit seinem üblichen Gruß: «Der Friede
sei in diesem Hause!»
Die Menschen versammeln sich im
großen Raum, der für die Segel, Netze, Körbe und Vorräte bestimmt ist. Man
sieht, daß Petrus alles für Jesus vorbereitet und die Dinge in eine Ecke
gebracht hat. Den See sieht man von hier aus nicht. Man hört nur sein träges
Rauschen. Man sieht die kleine moosbewachsene Mauer des Gartens, den alten
Rebstock und den dichtbelaubten Feigenbaum. Der Raum ist vollgestopft mit
Leuten; wer keinen Platz gefunden hat, steht im Garten oder auf der Straße.
Jesus beginnt zu reden. In der
ersten Reihe befinden sich fünf hochgestellte Personen, die sich herrschsüchtig
breitgemacht haben, gestützt auf die Ehrfurcht, welche die Bevölkerung ihnen
bezeugt. Ihr Verhalten, die vornehme Kleidung und ihr Hochmut lassen sie als
Pharisäer und Schriftgelehrte erkennen. Jesus möchte jedoch seine Kinder um sich
29
haben. Einen Kranz unschuldiger
Gesichtlein mit engelgleichem Lächeln und leuchtenden Augen, die zu ihm
aufschauen. Jesus spricht, und von Zeit zu Zeit streichelt er im Reden das eine
oder andere lockige Köpfchen eines Kindes, das sich zu seinen Füßen
niedergesetzt hat und den Kopf an sein Knie lehnt. Jesus sitzt auf einem großen
Haufen von Netzen und Körben.
«"Mein Geliebter ist in seinen
Garten gegangen, zu den Balsambeeten, um sich an den Pflanzen zu erfreuen und
Lilien zu pflücken... Hirte ist er auf Liliengefilden", (HI 6,2), so spricht
Salomon, der Sohn Davids, von dem ich abstamme, ich, der Messias Israels.
Mein Garten! Welcher Garten ist
schöner und Gottes würdiger als der Himmel, in dem die vom Vater erschaffenen
Engel die Blumen sind? Aber der einzige eingeborene Sohn des Vaters, der
Menschensohn, wollte einen anderen Garten; denn für den Menschen habe ich
Fleisch angenommen, ohne welches ich die Schuld der Menschen nicht tilgen
könnte. Ein Garten, der nur wenig unter dem himmlischen stehen würde, wenn die
Söhne Adams, die ganz für den Himmel bestimmt waren, die Kinder Gottes, sich wie
sanfte Bienen aus dem Bienenkorbe entfernt hätten, um die Erde mit Heiligkeit zu
bevölkern. Doch der Feind hat Verwirrung und Dornen in das Herz Adams gesät, und
Unkraut und Dornen aus diesem Herzen haben die Erde überwuchert. Kein Garten ist
sie mehr, nur dürre Wüste und Wildnis, in welcher das Fieber schwelt und die
Schlangen nisten.
Doch der Erwählte des Vaters hat
noch einen Garten auf dieser Erde, auf welcher Satan herrscht. In diesen Garten
geht er, um sich an seiner himmlischen Nahrung zu weiden: der Liebe und der
Reinheit; und aus diesem Beet pflückt er die geliebten Blumen, in denen keine
Sinneslust, keine Unreinheit und kein Hochmut ist: die Kleinen! (Jesus liebkost
viele Kinder, die aufleuchten und freudvoll ihm zulächeln.) Dies sind meine
Lilien!
Salomon in seinem Reichtum hatte
kein Gewand, das schöner war als die Lilie im duftenden Felde, und kein Diadem
von solch köstlicher, herrlicher Anmut wie das der Lilie mit ihrem Perlenkelch.
Doch meinem Herzen ist keine Lilie kostbarer als diese Kleinen. Es gibt kein
Blumenbeet, keinen Garten der Reichen voll edler Lilien, der mir wertvoller wäre
als ein einziges dieser reinen, unschuldigen, aufrichtigen, einfachen Kinder.
O ihr Frauen und Männer Israels! O
ihr Großen und Schlichten, was Vermögen und Stellung betrifft, hört! Ihr seid
hier, um mich kennen und lieben zu lernen. So sollt ihr nun erfahren, welches
die erste Bedingung ist, um mir anzugehören. Ich sage euch keine schwierigen
Worte, noch gebe ich euch schwierige Vorbilder. Ich sage nur: "Nehmt diese
Kinder zum Vorbild!"
Wer von euch hat nicht einen Sohn,
einen Enkel oder einen Bruder im Kindesalter im Hause? Ist ein solches Kind
nicht eine Erholung, ein Trost,
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ein Band zwischen Eltern,
Verwandten, Freunden; ein Kind, dessen Seele rein ist wie ein schöner Morgen,
dessen Gesichtlein die Wolken vertreibt und Hoffnungen weckt, dessen
Liebkosungen die Tränen trocknen und Lebenskraft einflößen? Warum ist in ihnen
eine solche Macht? In ihnen, die schwach, unreif und unwissend sind? Weil in
ihnen Gott wohnt, die Kraft und die Weisheit Gottes! Die wahre Weisheit: sie
können lieben und glauben. Sie können glauben und wollen. Sie verstehen es, in
dieser Liebe und in diesem Glauben zu leben. Seid also wie sie: einfach, rein,
liebevoll, aufrichtig und gläubig!
Es gibt keinen Weisen in Israel,
der größer wäre als der Kleinste von diesen, dessen Seele Gott gehört und ihr
das Reich Gottes. Gesegnete des Vaters, Geliebte des Sohnes, Blumen meines
Gartens, mein Friede sei über euch und über allen, die euch aus Liebe zu mir
nachahmen!»
Jesus hat geendet.
«Meister», ruft Petrus von der
anderen Seite, «hier sind die Kranken. Zwei können warten, bis du hinausgehst;
aber hier ist einer eingekeilt in der Menge und hält nicht mehr stand. Wir
können nicht durchkommen. Soll ich ihn fortschicken?»
«Nein, laßt ihn durch das Dach
herab.»
«Gut gesagt; wir werden es sofort
tun.»
Man hört auf dem niederen Dach über
dem Saale herumtrampeln. Da dieser Raum nicht zum eigentlichen Wohnhause gehört,
hat er keine zementierte Terrasse, sondern ist nur mit schieferähnlichen Platten
bedeckt. Es entsteht nun eine Öffnung, und mittels Seilen wird die Bahre mit dem
Kranken hinuntergelassen. Sie wird direkt vor Jesus niedergestellt. Die Menschen
drängen sich näher, um besser zu sehen.
«Du hast einen großen Glauben
gehabt, wie auch jene, die dich hierhergebracht haben.»
«O Jesus, wie sollten wir nicht an
dich glauben?»
«Nun wohl, so sage ich dir, Sohn
(der Mann ist noch jung), alle deine Sünden sind dir vergeben.»
Der Mann schaut Jesus weinend an...
vielleicht ist er enttäuscht, weil er auf eine leibliche Heilung hoffte. Die
Pharisäer und die Schriftgelehrten flüstern miteinander, rümpfen die Nase und
verziehen Stirne und Mund mit Verachtung.
«Warum murrt ihr in euren Herzen
mehr noch als mit den Lippen? Was ist nach eurer Meinung leichter, dem Gelähmten
zu sagen: "die Sünden sind dir vergeben" oder "steh auf, nimm dein Bett und
geh"? Ihr denkt, daß nur Gott Sünden vergeben kann. Doch ihr könnt nicht
beantworten, was größer ist, weil der Mann da, dessen ganzer Körper krank ist,
all sein Vermögen aufgewendet hat, ohne geheilt worden zu sein. Nur Gott kann
ihn heilen. Nun, damit ihr wißt, daß ich alles vermag, damit ihr erkennt, daß
der Menschensohn Macht über Leib und Seele, über Himmel
31
und Erde hat, sage ich zu diesem
Mann: "Steh auf, nimm dein Bett und geh! Geh nach Hause und sei heilig!"»
Den Mann erfaßt ein Schütteln, er
schreit auf, erhebt sich und wirft sich Jesus zu Füßen, küßt sie, weint und
lacht gleichzeitig, und mit ihm die Angehörigen und die Menschenmenge, die nun
einen Weg freigibt, um ihn wie im Triumph durchzulassen. Jubelnd folgt ihm das
Volk, aber ohne die fünf Grollenden, die überheblich weggehen.
So kann nun die Mutter mit dem
Säugling, der zum Skelett abgemagert ist, bis zu Jesus gelangen. Sie zeigt ihn
ihm und sagt nur: «Jesus, du liebst sie, die Kinder. Du selbst hast es gesagt.
Um dieser Liebe und um deiner Mutter willen! ...» und sie weint.
Jesus nimmt ihn, den sterbenden
Säugling, drückt ihn an sein Herz und hält sein wächsernes Gesichtlein mit den
violetten Lippen und den schon gesenkten Lidern an seinen Mund, einen Augenblick
nur... und als er es von seinem blonden Bart wegnimmt, ist das Gesichtlein
rosig, und das Mündlein umspielt ein seliges Lächeln; die Augen schauen lebhaft
und neugierig um sich, und das Kind greift mit den zuvor verkrampften Händchen
in die Haare und in den Bart Jesu, der dazu lacht.
«O mein Sohn!» ruft die selige
Mutter aus.
«Nimm es, Frau, sei glücklich und
gut!»
Die Frau nimmt das Wiedergeborene
und drückt es an ihre Brust, und das Kleine macht sofort seinen Anspruch auf
Nahrung geltend; es sucht die Brust, enthüllt sie und trinkt, trinkt gierig und
glücklich...
Jesus segnet und geht weiter, bis
zur Schwelle, wo der Fieberkranke wartet.
«Meister, sei gut!»
«Auch du! Nütze deine
wiedererlangten Kräfte in der Gerechtigkeit!»Er streichelt ihn liebevoll und
geht hinaus.
Am Ufer umgeben und preisen ihn
viele, die ihm teils vorausgeeilt sind, teils nachfolgen und ihn bitten.
«Wir haben dich nicht hören können.
Wir konnten nicht hineingelangen. Sprich auch zu uns!»
Jesus gibt ein bejahendes Zeichen,
und da die Menge ihn fast erdrückt, steigt er in das Boot des Petrus. Auch das
genügt nicht. Der Ansturm ist zu groß.
«Stoße das Boot ins Wasser und
entferne es ein wenig vom Ufer!»
Die Vision ist hier zu Ende.
32
100. DER WUNDERBARE FISCHFANG
Die Vision beginnt wieder mit den
Worten Jesu:
«Wenn im Frühjahr alles blüht, dann
sagt der Bauer glücklich: "Es wird viele Früchte geben." Er jubelt in seinem
Herzen, erfüllt von dieser Hoffnung. Doch vom Frühjahr bis zum Herbst, vom Monat
der Blüte bis zum Monat der Ernte, wie viele Tage, wieviel Wind und Regen, Sonne
und Gewitter sind da zu erwarten! Manchmal gibt es Kriege oder Grausamkeiten der
Mächtigen, Krankheiten der Pflanzen; bisweilen erkrankt der Bauer selbst, und
die Pflanzen werden nicht mehr freigelegt oder gestützt, werden nicht mehr
bewässert, beschnitten, aufgerichtet und gereinigt. Obwohl die Bäume eine reiche
Ernte versprochen haben, verkümmern sie nunmehr und sterben teilweise oder ganz
ab.
Ihr folgt mir nach. Ihr liebt mich.
Ihr seid wie die Pflanzen im Frühjahr: ihr schmückt euch mit guten Vorsätzen und
Liebe. Israel ist wahrlich an diesem Beginn meines Apostolates wie unsere
liebliche Landschaft im strahlenden Monat des Nisan.
Dazu hört: Wie eine Glut, die zur
Trockenheit führt, wird Satan kommen, der mich beneidet, um euch mit seinem Atem
zu verbrennen. Die Welt wird kommen mit ihrem eisigen Wind, um eure Blüten
erfrieren zu lassen. Es werden die Leidenschaften wie Stürme kommen. Der
Überdruß wird wie ein anhaltender Regen sein. Alle meine und eure Feinde werden
kommen, um unfruchtbar zu machen, was aus diesem eurem heiligen Streben in Gott
erblühen sollte.
Ich warne euch, denn ich weiß. Doch
all dieses soll verloren sein, wenn ich nicht mehr zu euch sprechen und keine
Wunder mehr wirken kann? Nein! Ich säe und bebaue, solange meine Zeit währt.
Dann wird es in euch wachsen und reifen, wenn ihr gut darüber wacht.
Betrachtet diesen Feigenbaum am
Hause des Simon des Jonas! Derjenige, welcher ihn pflanzte, hat nicht den
geeigneten Platz gewählt. Er pflanzte ihn an die feuchte Mauer der Nordseite;
der Baum wäre eingegangen, wenn er sich nicht selbst um sein Überleben gekümmert
hätte. Er hat Sonne und Licht gesucht. Nun seht ihr: er ist ganz krumm, doch
stark und frei, labt sich schon am Morgen an der Sonne und bereitet daraus Saft
für seine hundert und aber hundert süßen Früchte. Er hat sich selbst gewehrt. Er
sagte gleichsam: "Der Schöpfer wollte, daß ich den Menschen Freude und Früchte
schenke. Ich will, daß sein Wille meinen Willen leite." Ein Feigenbaum! Ein Baum
ohne Sprache! Ohne Seele! Und ihr, Kinder Gottes, Menschenkinder, seid ihr denn
weniger als eine holzige Pflanze?
Strebt danach, Früchte des ewigen
Lebens hervorzubringen! Ich bebaue euch und als letztes werde ich euch einen
Saft geben, wie es keinen wirksameren gibt. Laßt nicht zu, daß Satan auf den
Ruinen meiner Arbeit,
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Sucht die Kraft! Sucht das Leben!
Ich bin das Leben, die Kraft, die Sonne, das Licht aller, die mich lieben. Ich
bin gekommen, um euch dahin zu führen, von wo ich gekommen bin. Ich spreche
hier, um euch alle aufzurufen, sich unter das Gesetz der zehn Gebote zu stellen,
die ewiges Leben gewährleisten; und mit einem Ratschlag der Liebe sage ich euch:
"Liebt Gott und den Nächsten!" Dies ist die erste Bedingung, um alles Gute
erfüllen zu können. Es ist das heiligste der heiligen zehn Gebote Gottes. Liebt!
Jene, welche Gott mit reiner Liebe um seiner selbst willen lieben und für die
Gott der Herr ist, werden im Himmel und auf Erden den Frieden haben, der für sie
das Zelt und die Krone sein wird.»
Nach dem Segen Jesu entfernen sich
die Leute nur ungern; und doch sind keine Kranken oder Arme unter ihnen.
Jesus sagt zu Simon: «Rufe die
anderen beiden herbei! Wir wollen auf den See hinausfahren und das Netz
auswerfen.»
«Meister, meine Arme schmerzen
noch, da ich die ganze Nacht Umsonst das Netz ausgeworfen und eingezogen habe.
Die Fische sind in der Tiefe, wer weiß wo.»
«Tu, was ich dir sage, Petrus! Höre
immer auf den, der dich liebt!»
«Ich werde tun, was du sagst, aus
Achtung vor deinem Wort.» Und er ruft laut die Gehilfen und auch Jakobus und
Johannes herbei.
«Laßt uns zum Fischfang ausfahren!
Der Meister will es.» Und während sie wegfahren, sagt er zu Jesus: «Doch ich muß
es dir sagen, Meister, daß die Stunde nicht günstig ist. Wer weiß, wo die Fische
zu dieser Stunde sind, um sich auszuruhen ...»
Jesus, der am Bug sitzt, lächelt
und schweigt.
Sie fahren in einem Bogen über den
See und werfen dann das Netz aus. Einige Minuten des Wartens, dann erhält das
Boot eigenartige Stöße, obwohl der See ruhig wie Glas unter der schon
hochstehenden Sonne liegt.
«Das sind Fische, Meister!» sagt
Petrus mit aufgerissenen Augen. Jesus lächelt und schweigt.
«Hissen, hissen! ...» befiehlt
Petrus den Jungen. Doch das Boot neigt sich zur Seite des Netzes. «Oh, Jakob,
Johannes! Schnell! Kommt! Bringt die Ruder! Schnell!»
Sie kommen, und mit der Kraft der
beiden Mannschaften gelingt es, das Netz hochzuziehen, ohne den Fang zu
beschädigen.
Die Boote legen an. Sie sind dicht
nebeneinander. Ein Korb, zwei, fünf, zehn. Alle sind voll von erstaunlicher
Beute. Und immer noch zappeln Fische im Netz, silbern und golden, und versuchen,
dem Tod zu entfliehen. Es bleibt keine andere Wahl: der Rest muß ins Boot
geleert werden! So geschieht es auch, und der Schiffsboden wimmelt von Leben,
das mit dem Tod kämpft. Die Boote sind tief ins Wasser gesunken wegen des
ungewöhnlichen Gewichtes.
34
Stangen bereithalten, um den
Zusammenstoß zu vermeiden! Das Gewicht ist zu groß!»
Während des Manövers hat Petrus
keine Zeit zum Nachdenken. Doch, wie sie am Ufer sind, tut er es und versteht.
Er fühlt Reue: «Meister, Herr! Gehe weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.
Ich bin nicht wert, in deiner Nähe zu sein!» Er wirft sich vor Jesus auf den
kiesigen, feuchten Strand.
Jesus betrachtet ihn und lächelt:
«Steh auf! Folge mir nach! Ich lasse dich nicht mehr los! Von nun an wirst du
Menschenfischer sein, und mit dir diese deine Gefährten! Fürchtet nichts mehr!
Ich rufe euch! Kommt!»
«Sofort, Herr! Ihr kümmert euch um
die Boote. Bringt alles Zebedäus und meinem Schwager! Laßt uns gehen! Alles für
dich, Jesus! Der Ewige sei gepriesen für diese Erwählung!»
Die Vision ist zu Ende.
101. ISKARIOT FINDET JESUS ERNEUT
IM GETHSEMANE UND WIRD ALS JÜNGER ANGENOMMEN
Am Nachmittag sehe ich Jesus...
unter den Olivenbäumen. Er sitzt auf einer Anhöhe in seiner üblichen Art, die
Ellbogen auf die Knie gestützt, die Unterarme nach vorne gestreckt und die Hände
gefaltet. Der Abend sinkt nieder, und es wird immer dunkler im dichten
Olivenhain.
Jesus ist allein. Er hat seinen
Mantel abgelegt, als ob ihm heiß wäre, und sein helles Gewand hebt sich ab vom
Grün der Umgebung.
Ein Mann kommt zwischen den Bäumen
den Hügel herunter. Es scheint, als ob er etwas oder jemanden suche. Er ist groß
und in ein farbenfrohes Gewand gekleidet; das rötliche Gelb dieses Gewandes läßt
den Mantel mit seinen wallenden Fransen noch auffälliger erscheinen. Das Gesicht
kann ich nicht gut sehen, da die Beleuchtung und die Entfernung dies nicht
erlauben; außerdem verhüllt er es mit einem Zipfel des Mantels. Als er Jesus
erblickt, macht er eine Bewegung, wie um zu sagen: «Hier ist er also!» und
beschleunigt seinen Schritt. Aus einigen Metern Entfernung ruft er: «Sei
gegrüßt, Meister!»
Jesus dreht sich plötzlich um und
hebt das Antlitz, da der Angekommene etwas höher steht. Er betrachtet ihn ernst
und beinahe traurig. Der andere wiederholt: «Ich grüße dich, Meister! Ich bin
Judas von Kerioth. Erkennst du mich nicht? Erinnerst du dich nicht?»
«Ich erkenne dich und erinnere
mich. Du hast am letzten Osterfest zusammen mit Thomas mit mir gesprochen.»
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«Und zu dem du gesagt hast:
"Überlege es dir und entscheide dich vor meiner Rückkehr!" Ich habe entschieden:
Ich komme!»
«Warum kommst du, Judas?» Jesus ist
nun wirklich betrübt.
«Warum? Ich habe es dir schon
gesagt... Ich träume vom Reiche Israels und habe dich als König gesehen.»
«Deshalb kommst du?»
«Deshalb! Ich stelle mich selbst
und alles, was ich besitze, Fähigkeiten, Kenntnisse, Freundschaften und Mühen in
deinen Dienst und in den Dienst deiner Mission für den Wiederaufbau Israels.»
Die beiden stehen sich nun
gegenüber, ganz nah, und beobachten sich genau. Jesus ist ernst bis zur
Traurigkeit, der andere überheblich in seiner Träumerei, lachend, jung und
schön, leichtfertig und ehrsüchtig.
«Ich habe dich nicht gesucht,
Judas.»
«Ich habe es gesehen; aber ich habe
dich gesucht. Seit Tagen schon habe ich Leute an die Tore gesandt, die mir deine
Ankunft mitteilen sollten. Ich glaubte, du kämest mit deinen Jüngern; so wäre es
leicht gewesen, dich zu bemerken. Jedoch... Ich habe erkannt, daß du da gewesen
bist, denn eine Gruppe von Pilgern sprach lobpreisend über die Heilung eines
Kranken. Doch niemand konnte mir sagen, wo du dich aufhältst. Da fiel mir dieser
Ort ein, und ich bin hierhergekommen. Hätte ich dich hier nicht angetroffen,
dann hätte ich die Hoffnung aufgegeben, dich zu finden...»
«Glaubst du, daß es gut für dich
ist, mich nun gefunden zu haben?»
«Ja, denn ich suchte dich; ich
verlangte nach dir; ich wollte dich!»
«Warum? Warum hast du mich
gesucht?»
«Ich habe es dir doch gesagt,
Meister; hast du mich nicht verstanden?»
«Ich habe dich verstanden, o ja,
ich habe dich verstanden. Doch ich wünsche, daß auch du mich verstehst, bevor du
mir nachfolgst. Komm, laß uns miteinander reden, während wir gehen!» Und so
gehen sie nebeneinander die kleinen Pfade auf und ab, die den Ölgarten
durchqueren. «Du willst mir folgen eines menschlichen Beweggrundes wegen. Judas,
ich muß dich enttäuschen; ich bin nicht deswegen gekommen.»
«Bist du nicht der verheißene König
der Juden? Von dem die Propheten gesprochen haben? Auch andere sind schon
gekommen. Doch fehlten bei ihnen zu viele Dinge, und sie fielen wie Blätter im
Winde. Du hast Gott mit dir, denn du wirkst Wunder. Wo aber Gott ist, hat die
Sendung bestimmt Erfolg.»
«Du hast recht gesprochen. Ich habe
Gott mit mir. Ich bin sein Wort. Ich bin von den Propheten vorausgesagt, den
Patriarchen verheißen und vom Volk erwartet. Doch warum, o Israel, bist du so
blind und taub geworden, daß du den wahren Sinn der Geschehnisse nicht mehr
lesen und sehen, hören und verstehen kannst? Mein Reich ist nicht von dieser
Welt, Judas. Gib deine Denkweise auf! Zu Israel komme ich, um Licht und
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Herrlichkeit zu bringen; doch nicht
das Licht und die Herrlichkeit dieser Welt. Ich komme, um die Gerechten Israels
ins Reich zu führen. Denn aus Israel und mit Israel soll die Pflanze des ewigen
Lebens erwachsen, deren Mark das Blut des Herrn ist; die Pflanze, die sich über
die ganze Erde ausbreiten wird bis ans Ende der Zeiten. Aus Israel kommen meine
ersten Jünger, aus Israel meine ersten Bekenner. Aber auch meine Verfolger, auch
meine Peiniger, auch mein Verräter...»
«Nein, Meister! Das wird niemals
geschehen. Wenn auch alle dich verraten, ich bleibe dir treu und werde dich
verteidigen.»
«Du, Judas? Und worauf gründest du
diese deine Sicherheit?»
«Auf meine Ehre als Mann.»
«Diese ist verletzlicher als ein
Spinnennetz. Von Gott müssen wir die Kraft erbitten, um redlich und treu sein zu
können. Der Mensch? Der Mensch schafft menschliche Werke. Um Werke des Geistes
zu schaffen - denn dem Messias in Wahrheit und Gerechtigkeit nachfolgen,
bedeutet Werke des Geistes schaffen - muß der Mensch absterben und neu geboren
werden. Bist du dazu fähig?»
«Ja, Meister! Und dann... nicht
ganz Israel wird dich lieben; doch Peiniger und Verräter des Messias wird es in
Israel nicht geben; es erwartet dich seit Jahrhunderten.»
«Es wird sie geben. Denke an die
Propheten! An ihre Worte... und an ihr Ende! Ich bin dazu bestimmt, viele zu
enttäuschen. Und du bist einer von diesen, Judas. Du hast hier vor dir einen
sanften, friedlichen Armen, der arm bleiben will. Ich bin nicht gekommen, um
mich aufzudrängen und Krieg zu führen. Ich werde den Starken und Mächtigen kein
Reich und keine Macht streitig machen. Ich werde nur Satan die Seelen streitig
machen und bin gekommen, die Ketten Satans mit dem Feuer meiner Liebe zu
sprengen. Ich komme, um Barmherzigkeit, Opferbereitschaft, Demut und
Enthaltsamkeit zu lehren. Ich sage dir, ich sage allen: "Habt keinen Durst nach
menschlichem Reichtum, sondern arbeitet für ewige Schätze!" Gib dich nicht der
Illusion hin, Judas, mich als den Besieger Roms und der herrschenden Parteien zu
sehen. Männer wie Herodes und die Caesaren können ruhig schlafen, während ich zu
den Menschen rede. Ich bin nicht gekommen, Szepter zu entreißen... mein ewiges
Szepter ist schon bereit. Doch keiner, der nicht Liebe ist, wie ich es bin,
könnte es ergreifen. Geh, Judas, und denke darüber nach!»
«Weisest du mich ab, Meister?»
«Ich weise niemand ab; denn wer
abweist, liebt nicht. Doch sage mir, Judas: Wie würdest du die Tat eines
Menschen bezeichnen, der weiß, daß er eine ansteckende Krankheit hat, und einen
Unwissenden, der sich ihm nähert, um aus seinem Kelch zu trinken, warnt:
"Überlege, was du tust"? Würdest du dies Haß oder Liebe nennen?»
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«Liebe würde ich es nennen; denn er
will nicht, daß der Unwissende seine Gesundheit aufs Spiel setzt.»
«Nimm also auch meine Worte in
diesem Sinn!»
«Kann ich meine Gesundheit
ruinieren, wenn ich mit dir komme? Niemals!»
«Mehr als die Gesundheit kannst du
ruinieren; denn - denke wohl daran, Judas - wenig wird dem angerechnet, der zum
Mörder wird, weil er glaubt, Gerechtigkeit zu üben, während er die Wahrheit
nicht kennt; doch groß ist die Schuld desjenigen, der, obwohl er die Wahrheit
kennt, ihr nicht nur nicht folgt, sondern zu ihrem Feind wird.»
«Das werde ich nicht. Nimm mich,
Meister! Du darfst mich nicht abweisen. Wenn du der Erlöser bist und siehst, daß
ich ein Sünder bin, ein verlorenes Schaf, blind und vom Wege abgekommen, warum
weigerst du dich, mich zu retten? Nimm mich; ich werde dir bis zum Tode folgen!»
«Bis zum Tode, das ist die
Wahrheit! Doch dann ...»
«Dann, Meister?»
«Die Zukunft liegt im Schoße
Gottes. Geh! Morgen werden wir uns am Fischtor wiedersehen.»
«Danke, Meister. Der Herr sei mit
dir!»
«Und seine Barmherzigkeit möge dich
retten!»
Hier endet die Vision.
102. JESUS WIRKT AM FISCHTOR DAS
WUNDER DER ZERBROCHENEN KLINGEN
Ich sehe Jesus einsam auf einer
schattigen Straße dahingehen. Es scheint ein fruchtbares, wasserreiches Tal zu
sein. Ich möchte sagen, Tälchen, denn es ist eingeengt von kleinen Hügeln, und
in der Mitte fließt ein Bächlein.
Zu dieser Morgenstunde ist der Ort
verlassen. Es muß eben erst Tag geworden sein, ein schöner, vorsommerlicher Tag,
und außer dem Vogelgezwitscher in den Bäumen - meist Olivenbäume, besonders auf
dem Hügel zur Linken, während auf dem anderen dornige Akazien, Agaven und
sonstige distelartige Stauden wachsen - und dem klagenden Gurren der wilden
Turteltauben, die in den Ritzen des öderen Berges nisten, ist nichts zu hören.
Auch das Bächlein mit seinem spärlichen Wasser scheint keinerlei Geräusch zu
verursachen und spiegelt das Grün ringsum wider, so daß es die Farbe eines
dunkelgrünen Smaragdes hat.
Jesus geht nun über einen
primitiven Steg; es handelt sich um einen gespaltenen Baumstamm, der über den
Bach gelegt ist und weder Geländer noch sonstige Sicherung hat. Er setzt auf der
anderen Uferseite seinen Weg fort.
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Nun sieht man Mauern und Tore, auch
Händler mit Gemüse und anderen Lebensmitteln, die sich vor den noch
verschlossenen Toren versammelt haben. Esel und Maultiere streiten und machen
großen Lärm; aber auch ihre Eigentümer sind nicht zum Scherzen aufgelegt.
Beleidigungen und Hiebe fallen nicht nur auf die Rücken der Langohren, sondern
auch auf menschliche Köpfe.
Zwei sind ernsthaft miteinander in
Streit geraten - Ursache: ein Esel hat sich über einen Korb herrlichen Salates
eines Esels hergemacht, der einem anderen Herrn gehörte. Vielleicht ist dies nur
ein erwünschter Vorwand, einen alten Hader auszufechten. Tatsache ist, daß aus
den kurzen Gewändern, die bis zu den Waden reichen, zwei handbreite Messer
gezogen werden, deren Klingen in der Sonne blitzen.
Weiber kreischen, Männer rufen;
doch niemand versucht, die beiden am bäuerlichen Duell zu hindern.
Jesus, der nachdenklich des Weges
kommt, hebt das Haupt, sieht die beiden und eilt mit raschen Schritten auf sie
zu. «Halt, im Namen Gottes!» gebietet er.
«Nein, ich will diesen verdammten
Hund erledigen!»
«Auch ich! Du liebst die Fransen?
Ich werde aus deinen Eingeweiden Fransen machen.»
Die beiden kreisen um Jesus herum,
stoßen und beleidigen ihn, damit er ihnen aus dem Wege gehe. Sie versuchen, sich
zu treffen, doch ohne Erfolg, da Jesus mit klugen Bewegungen seines Mantels die
Hiebe ablenkt und den Angriff abwehrt. Sein Mantel ist zerrissen. Das Volk
schreit: «Geh weg, Nazarener, sonst trifft es auch dich!» Doch er rührt sich
nicht und ist darum bemüht, die beiden zur Ruhe zu bewegen, durch die Anrufung
Gottes. Ohne Erfolg! Der Zorn macht die beiden Gegner wahnsinnig.
Von Jesus strömt eine wundervolle
Kraft aus. Zum letztenmal mahnt er: «Ich gebiete euch, macht Schluß!»
«Nein! Geh weg, du Hund von einem
Nazarener!»
Da hebt Jesus mit blitzendem
Machtausdruck die Hände. Er sagt kein Wort. Doch die Klingen zersplittern am
Boden, als ob sie aus Glas und auf Fels gefallen wären.
Die beiden betrachten verwundert
die nun wertlos gewordenen, kurzen Messergriffe, die sie in den Händen halten.
Die Verblüffung betäubt ihren Zorn. Die Leute ringsum schreien ebenfalls vor
Verwunderung auf.
«Und nun?» fragt Jesus streng. «Wo
ist eure Kraft?»
Auch die Wachtsoldaten am Tore, die
durch das Geschrei aufmerksam geworden sind, eilen erstaunt herbei, und einer
bückt sich, um die Splitter aufzulesen. Er prüft sie mit dem Fingernagel und
kann nicht fassen, daß sie aus Stahl sind.
«Und nun», wiederholt Jesus, «wo
ist eure Kraft? Worauf gründet ihr
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euer Recht? Auf die Metallsplitter
hier im Staube? Auf diese Metallstücke, die keine andere Kraft hatten als die
der Sünde des Zornes gegen einen Bruder, durch die ihr den Segen Gottes und alle
Kraft verloren hättet? Oh, ihr Armseligen, die ihr euch auf menschliche Mittel
stützt, um zu siegen, und nicht wißt, daß nicht die Gewalt, sondern die
Heiligkeit auf Erden und im Jenseits siegreich macht! Denn Gott ist mit den
Gerechten.
Hört, ihr alle aus Israel, und auch
ihr, römische Soldaten! Das Wort Gottes spricht zu allen Menschenkindern, und
der Menschensohn wird es den Heiden nicht verwehren.
Das zweite Gebot Gottes ist das
Gebot der Nächstenliebe. Gott ist gut und will Wohlwollen in seinen Kindern. Wer
nicht wohlwollend zu seinem Nächsten ist, kann nicht Kind Gottes genannt werden
und kann nicht Gott für sich haben. Der Mensch ist nicht ein unvernünftiges
Tier, das sich wehrt und der Beute wegen beißt. Der Mensch hat eine Vernunft und
eine Seele. Die Vernunft sagt ihm, wie er sich als Mensch zu verhalten hat. Die
Seele sagt ihm, wie man heilig lebt. Jeder, der nicht so handelt, stellt sich
unter die Tiere und fällt in die Schlingen Satans; denn die Sünde des Zornes
öffnet Satan die Tür zum Herzen.
Liebt einander! Ich sage euch
nichts anderes. Liebt euren Nächsten, wie es der Herr, der Gott Israels, will!
Seid nicht vom Blut Kains! Warum seid ihr es? Für einige Münzen könnt ihr zum
Mörder werden. Wegen einer Handbreit Erde. Wegen eines besseren Arbeitsplatzes.
Wegen einer Frau. Was sind das für Dinge? Ewige? Nein! Sie dauern weniger als
ein Leben, das nur ein Augenblick der Ewigkeit ist. Und was verliert ihr, wenn
ihr nach ihnen trachtet? Den ewigen Frieden, der den Gerechten verheißen ist und
den euch der Messias mit seinem Reiche bringen wird.
Kommt auf den Weg der Wahrheit!
Folgt der Stimme Gottes! Liebt euch! Seid redlich, enthaltsam, demütig und
gerecht! Geht und denkt darüber nach.»
«Wer bist du, daß du solches sagst
und mit deinem Willen das Schwert vernichten kannst? Nur einer kann solche Dinge
tun: der Messias. Nicht einmal Johannes der Täufer ist mächtiger. Bist du
vielleicht der Messias ?» fragen drei oder vier.
«Ich bin es.»
«Du? Du, der die Kranken heilst und
Gott in Galiläa verkündest?»
«Ich bin es!»
«Ich habe eine alte Mutter, die im
Sterben liegt; rette sie.»
«Und ich, siehst du? Ich werde
kraftlos vor Schmerzen. Meine Kinder sind noch klein; heile mich!»
«Geh nach Hause. Deine Mutter wird
dir heute abend das Nachtmahl bereiten, und du, sei geheilt! Ich will es!»
Die Menge schreit. Dann fragen sie:
«Wie ist dein Name?»
«Jesus von Nazareth!»
40
«Jesus, Jesus!
Hosanna! Hosanna!»
Die Menge befindet sich in einem
Freudentaumel. So können die Esel machen, was sie wollen, und niemand achtet
mehr darauf.
Mütter kommen aus der Stadt, denn
das Geschehene hat sich schon herumgesprochen. Sie bringen ihre Kinder. Jesus
segnet sie und lächelt ihnen zu. Er versucht den Kreis der Begeisterten zu
durchbrechen, um in die Stadt zu gelangen und dahin zu gehen, wohin er will.
Doch das Volk läßt ihn nicht frei.
«Bleibe bei uns! In Judäa! Auch wir
sind Kinder Abrahams», schreien sie.
«Meister!» Judas kommt daher.
«Meister, du bist mir vorausgegangen. Was geschieht hier?»
«Der Rabbi hat ein Wunder gewirkt!
Nicht in Galiläa, nein, hier, bei uns wollen wir ihn haben.»
«Siehst du, Meister? Ganz Israel
liebt dich. Es wäre gut, wenn du hierbleiben würdest. Warum entziehst du dich?»
«Ich entziehe mich nicht. Ich bin
eigens allein gekommen, damit die ungeschliffenen Manieren der galiläischen
Jünger die Empfindsamkeit der Judäer nicht verletzen. Ich will alle Schafe
Israels unter dem Szepter Gottes vereinigen.»
«Aus diesem Grunde habe ich dir
gesagt: "Nimm mich, ich bin aus Judäa und weiß, wie man mit meinesgleichen
umgeht!" Du bleibst also in Jerusalem?»
«Einige Tage, um einen Jünger zu
erwarten. Auch er ist aus Judäa. Dann werde ich durch Judäa ziehen.»
«Oh, ich werde mit dir gehen; ich
will dich begleiten. Du wirst in mein Dorf kommen, und ich werde dich in mein
Haus führen. Wirst du kommen, Meister?»
«Ich werde kommen... Vom Täufer
weißt du nichts, du, der du aus Judäa bist und bei den Mächtigen wohnst?»
«Ich weiß, daß er noch im Gefängnis
ist; doch sie wollen ihn freilassen, denn die Bevölkerung droht mit Aufruhr,
wenn ihr Prophet nicht ausgeliefert wird. Kennst du ihn?»
«Ich kenne ihn.»
«Liebst du ihn? Was denkst du von
ihm?»
«Ich denke, daß kein anderer Mensch
mehr dem Elias gleichen kann als er.»
«Hältst du ihn wirklich für den
Vorläufer?»
«Er ist es. Er ist der Morgenstern,
der die Sonne ankündigt. Selig, die sich durch seine Predigten auf die Sonne
vorbereitet haben!»
«Johannes ist sehr streng.»
«Mit den anderen nicht strenger als
mit sich selbst.»
«Das ist wahr. Doch es ist schwer,
ihn in seinen Bußübungen nachzuahmen. Du bist gütiger, und es ist leichter, dich
zu lieben.»
41
«Und doch ...»
«Und doch, Meister?»
«Und doch, so wie er wegen seiner
Strenge gehaßt wird, so wird man mich wegen meiner Güte hassen; denn wir beide
predigen Gott, und Gott ist bei den Bösen unbeliebt. Es steht geschrieben, daß
es so ist. So wie er mir in der Verkündigung vorangeht, so wird er mir auch im
Tode vorangehen. Doch wehe den Mördern der Buße und der Güte!»
«Warum, Meister, immer diese
traurigen Voraussagen? Die Menschen lieben dich, du siehst es...»
«Weil es eine Gewißheit ist. Die
demütigen Menschen lieben mich. Doch die Menge besteht nicht nur aus Demut und
Demütigen. Ich bin jedoch nicht traurig. Es ist ruhige Vorausschau der Zukunft
und Anpassung an den Willen des Vaters, der mich dazu gesandt hat. Dafür bin ich
gekommen. Wir sind nun am Tempel. Ich werde zum Bel Nidrasch gehen, um die
Scharen zu unterrichten. Wenn du willst, bleibe.»
«Ich will an deiner Seite bleiben.
Ich habe nur ein Ziel: dir zu dienen und dir zum Triumph zu verhelfen.»
Sie gehen in den Tempel, und alles
ist zu Ende.
103. ISKARIOT IST IM TEMPEL, WO
JESUS PREDIGT
Ich sehe Jesus und an seiner Seite
Judas Iskariot. Sie lassen die Umfassungsmauer des Tempels hinter sich, und
nachdem sie die erste Terrasse oder den ersten Treppenabsatz, wenn das besser
gefällt, erklommen haben, bleiben sie an einem Torbogen stehen, der in einen
weiten, mit verschiedenfarbigen Marmorplatten gepflasterten Hof führt. Der Platz
ist sehr schön und von Menschen überfüllt.
Jesus schaut umher und erblickt
eine Stelle, die ihm gefällt. Doch bevor er sich dorthin begibt, sagt er zu
Judas: «Rufe mir den Vorsteher des Ortes! Ich muß mich zu erkennen geben, damit
man nicht sagen kann, ich hätte gegen die Vorschriften und die Ehrfurcht
verstoßen.»
«Meister, du bist über die Bräuche
erhaben. Niemand hat ein größeres Recht als du, im Hause Gottes zu sprechen; du,
sein Messias!»
«Ich weiß es, und du weißt es; doch
sie wissen es nicht. Ich bin nicht gekommen, um Ärgernis zu erzeugen oder zur
Gesetzesübertretung und zur Mißachtung der Bräuche anzuleiten. Ich bin im
Gegenteil gekommen, um Ehrfurcht, Demut und Gehorsam zu lehren und Ärgernisse zu
verhindern. Ich will darum bitten, im Namen Gottes sprechen zu dürfen, und werde
mich vom Vorsteher des Ortes als dazu berechtigt erklären lassen.»
«Neulich hast du es nicht getan.»
«Neulich brannte in mir der Eifer
für das Haus Gottes, das durch zu
42
viele Dinge entheiligt war. Neulich
war ich der Sohn des Vaters, der Erbe, der im Namen des Vaters und aus Liebe zu
meinem Hause handelte kraft seiner Hoheit, der die Vorsteher und Priester
unterstehen. Nun bin ich der Lehrmeister Israels und belehre Israel auch
darüber. Und übrigens, Judas, glaubst du, daß der Jünger über dem Meister
steht?»
«Nein, Jesus!»
«Wer bist du also, und wer bin
ich?»
«Du bist der Meister, und ich der
Jünger.»
«Wenn du das anerkennst, weshalb
willst du den Meister belehren? Geh und gehorche! Ich gehorche meinem Vater. Du
gehorche deinem Meister! Erste Bedingung für den Sohn Gottes: unbedingter
Gehorsam ohne Widerrede in der Überzeugung, daß der Vater nur heilige
Anweisungen geben kann. Erste Bedingung für den Jünger: dem Meister gehorchen im
Bewußtsein, daß der Meister nur gerechte Aufträge geben kann.»
«Es ist wahr. Bitte verzeih! Ich
werde gehorchen.»
«Es sei dir verziehen! Geh nun! Und
noch etwas, Judas: Erinnere dich in Zukunft immer daran!»
«Zu gehorchen? Ja!»
«Nein: Erinnere dich daran, daß ich
dem Tempel gegenüber respektvoll und demütig war. Dem Tempel gegenüber, das
heißt, den mächtigen Kasten gegenüber. Geh!»
Judas betrachtet ihn nachdenklich
und fragend... doch wagt er nicht, weitere Fragen zu stellen. So geht er in
Gedanken davon... um mit einer feierlich gekleideten Persönlichkeit
zurückzukommen.
«Hier, Meister, ist der Vorsteher.»
«Der Friede sei mit dir! Ich bitte
darum, mit den Lehrern Israels unterrichten zu dürfen.»
«Bist du ein Rabbi?»
«Ich bin es.»
«Wer war dein Lehrer?»
«Der Geist des Herrn, der zu mir
spricht in seiner Weisheit und mich erleuchtet über jedes Wort der Heiligen
Schrift.»
«Dann stehst du also über Hillel,
da du sagst, ohne Lehrer alle Wissenschaft zu kennen? Wie kann jemand Wissen
besitzen, wenn ihn niemand unterrichtet hat?»
«Wie hat sich David, der ungelehrte
Hirte, gebildet, der nach dem Willen des Herrn der mächtige und weise König
wurde?»
«Dein Name?»
«Jesus, der Sohn des Joseph von
Jakob, aus dem Geschlechte Davids und der Maria, Tochter Joachims aus dem Hause
Davids und der Anna des Aaron. Maria war die Jungfrau, die durch den
Hohenpriester im Tempel vermählt wurde, nach dem Gesetze Israels, da sie Waise
war.»
«Wer kann dies bestätigen?»
43
«Es müssen noch Leviten hier sein,
die sich daran erinnern; Zeitgenossen des Zacharias aus dem Jahrgang des Abias,
meines Verwandten. Befrage sie, wenn du an meiner Aufrichtigkeit zweifelst!»
«Ich will dir glauben. Doch wer
beweist mir, daß du fähig bist zu unterrichten?»
«Höre mich an und urteile selbst.»
«Ich will dich nicht hindern...
Aber, bist du nicht ein Nazarener?»
«Ich bin in Bethlehem in Judäa
geboren zur Zeit der Volkszählung, die Caesar verordnet hatte. Die Kinder Davids
sind überall verstreut aufgrund ungerechter Vorschriften. Doch das Geschlecht
stammt aus Judäa.»
«Weißt du... die Pharisäer... ganz
Judäa... und Galiläa ...»
«Ich weiß. Doch beruhige dich, in
Bethlehem sah ich das Licht, in Bethlehem Ephrata; von dorther stammt mein
Geschlecht. Wenn ich jetzt in Galiläa lebe, so nur, damit sich die Schrift
erfülle.»
Der Vorsteher entfernt sich einige
Meter, da man ihn gerufen hat.
Judas fragt nun Jesus: «Warum hast
du nicht gesagt, daß du der Messias bist?»
«Es wird aus meinen Worten
hervorgehen.»
«Welches ist die Weissagung, die in
Erfüllung gehen wird?»
«Ganz Israel wird unter der Lehre
des Wortes Christi vereint werden. Ich bin der Hirte, von dem die Propheten
sprechen, und ich bin gekommen, um die Schafe von allen Seiten zusammenzurufen.
Ich komme, um die Kranken zu heilen und die Herumirrenden auf die gute Weide zu
führen. Für mich gibt es kein Judäa und kein Galiläa, kein Dekapolis und kein
Idumäa. Es gibt nur eines: die Liebe, die mit nur einem Auge schaut und in einer
einzigen Umarmung vereint, um zu retten.»
Jesus ist verzückt. Von seiner
Gestalt scheinen Strahlen auszugehen; er lächelt in seiner Schau. Judas
betrachtet ihn voller Bewunderung.
Neugierige Leute haben sich den
beiden zugesellt, deren verschiedenartige Stattlichkeit anzieht und auffällt.
Jesus senkt den Blick und lächelt
der kleinen Gruppe zu mit seinem Lächeln, dessen Lieblichkeit kein Maler jemals
zeichnen und kein Gläubiger, der es nicht gesehen, sich jemals vorstellen kann.
Er sagt: «Kommt, wenn euch das Verlangen nach ewigen Worten drängt!»
Er begibt sich unter einen Torbogen
und, an eine Säule gelehnt, beginnt er zu sprechen. Er beginnt mit einem
Rückblick auf den Vorgang am Morgen.
«Als ich heute morgen in Sion
ankam, mußte ich sehen, daß zwei Söhne Abrahams wegen ein paar Denaren bereit
waren, sich gegenseitig umzubringen. Im Namen Gottes hätte ich sie verfluchen
können, denn Gott sagt: "Du sollst nicht töten", und er sagt auch, daß verflucht
sein wird, wer den Geboten nicht gehorcht.
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Doch ich hatte Mitleid mit ihrer
Unwissenheit über den Geist des Gesetzes und ich habe den Mord nur verhindert,
um den beiden Gelegenheit zur Reue zu geben, Gelegenheit, Gott kennenzulernen
und ihm in Gehorsam zu dienen, damit sie nicht nur den lieben, der sie ebenfalls
liebt, sondern auch ihre Feinde.
Ja, Israel, ein neuer Tag bricht an
für dich, und das Gebot der Liebe wird leuchtender. Beginnt das Jahr etwa mit
dem nebligen Etanim oder dem traurigen Kislew mit Tagen, die kürzer als ein
Traum, und Nächten, die lang wie eine Krankheit sind? Nein! Es beginnt mit dem
sonnigen, blühenden, heiteren Monat Nisan, in dem alles lacht und das
Menschenherz, auch das ärmste und traurigste, sich der Hoffnung öffnet, weil nun
der Sommer, die Ähren, die Sonne und die Früchte kommen! Süß ist der Schlummer
auf einer blumenreichen Wiese mit den Sternen als Lichtern; einfach ist es sich
zu ernähren, denn jede Scholle bringt Gemüse oder Obst hervor, um den Hunger des
Menschen zu stillen.
Höre also, Israel: Der Winter, die
Wartezeit, ist vorüber! Nun kommt die Freude der erfüllten Verheißung. Brot und
Wein sind bereitet für deinen Hunger. Die Sonne befindet sich unter euch, und
alles empfängt von dieser Sonne tieferen und süßeren Atem. Auch das Gebot des
Gesetzes, das erste, das heiligste der heiligen Gebote: "Liebe Gott und liebe
deinen Nächsten! "
In dem begrenzten Licht, das dir
bisher gewährt war - du hättest nicht mehr tun können, da auf dir noch der Zorn
Gottes lastete aufgrund der Lieblosigkeit Adams - wurde dir gesagt: "Liebe jene,
die dich lieben und hasse deine Feinde!" Feind war nicht nur, wer die Grenzen
deines Eigentums überschritt, sondern auch jeder, der dir persönlich geschadet
oder dich sonstwie beleidigt zu haben schien. So war der Haß in allen Herzen;
denn wo ist der Mensch, der den Bruder nicht freiwillig oder unfreiwillig
beleidigt? Und wer erreicht das Greisenalter, ohne je beleidigt worden zu sein?
Ich sage euch: Liebt auch jene, die
euch beleidigen! Tut dies im Gedanken, daß Adam und jeder Mensch durch ihn zu
einem Übertreter der Gebote Gottes geworden ist, und daß es keinen gibt, der
sagen kann: "Ich habe Gott nie beleidigt." Und doch, Gott verzeiht nicht nur
einmal, sondern zehnmal, nein, tausend- und zehntausendmal, und der Fortbestand
der Menschheit ist der Beweis dafür. Verzeiht daher, wie euch Gott verzeiht. Und
wenn ihr es nicht aus Liebe zum Bruder, der euch geschadet hat, tun könnt, dann
tut es aus Liebe zu Gott, der euch Brot und Leben gibt, der für alle eure
irdischen Bedürfnisse sorgt und jedes Ereignis vorgesehen hat, um euch den
ewigen Frieden bei ihm zu bereiten.
Dies ist das neue Gesetz, das
Gesetz des Frühlings Gottes, der Blütezeit der Gnade, die zu den Menschen
gekommen ist; der Zeit, die euch die Frucht, die ihresgleichen nicht hat,
schenken und die Pforten des Himmel erschließen wird.
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Die Stimme, die in der Wüste rief,
wird nicht gehört. Doch sie ist nicht verstummt. Sie spricht immer noch für
Israel zu Gott und spricht immer noch zum Herzen eines jeden aufrechten
Israeliten. Und sie sagt, nachdem sie euch aufgefordert hat zur Buße, um den Weg
des Herrn, der kommt, zu bereiten und um Nächstenliebe zu üben, und dem vom
Überfluß zu geben, dem das Allernötigste fehlt, sie sagt: "Das Lamm Gottes, das
hinwegnimmt die Sünden der Welt, das mit dem Feuer des Heiligen Geistes tauft,
ist unter euch; es wird die Tenne säubern und den Weizen einbringen."
Erkennt ihn, den der Vorläufer euch
anzeigt! Seine Leiden wirken bei Gott, um euch das Licht zu geben. Ihr werdet
sehen! Eure geistigen Augen öffnen sich. Erkennt das Licht, das kommt! Ich löse
die Stimme des Propheten ab, der den Messias verkündet, und mit der Macht, die
mir vom Vater gegeben wurde, und mit meiner eigenen Macht verstärke ich sie und
rufe euch zur Wahrheit des Gesetzes. Bereitet eure Herzen vor auf die Gnade der
nahen Erlösung! Der Erlöser ist unter euch. Selig, die würdig sind, erlöst zu
werden, weil sie guten Willen gehabt haben! Der Friede sei mit euch!»
Einer fragt: «Bist du ein Jünger
des Täufers, da du mit so großer Verehrung von ihm sprichst?»
«Ich bin von ihm am Ufer des Jordan
getauft worden, bevor er eingekerkert wurde. Ich verehre ihn, denn er ist heilig
in den Augen Gottes. Wahrlich, ich sage euch, unter den Söhnen Abrahams ist
keiner, der in der Gnade größer ist als er. Von seiner Geburt bis zu seinem Tode
ruhen die Augen Gottes mit Wohlgefallen unablässig auf diesem Gebenedeiten.»
«Hat er dir die Ankunft des Messias
versichert?»
«Sein Wort, das nicht lügt, hat den
Anwesenden den schon lebenden Messias bezeichnet.»
«Wann und wo?»
«Als die Stunde gekommen war, ihn
zu bezeichnen.»
Judas aber fühlt sich verpflichtet,
nach allen Seiten hin zu sagen: «Der Messias ist jener, der zu euch spricht. Ich
bezeuge dies, ich, der ich ihn kenne, da ich sein erster Jünger bin.»
«Er? ... Oh! ...» Die Menschen
gehen verschüchtert auf die Seite. Doch Jesus ist so gut, daß er auf sie zugeht.
«Verlangt von ihm ein Wunder! Er
ist mächtig. Er heilt. Er liest in den Herzen! Er beantwortet jede Frage.»
«Sprich du für mich; ich bin krank.
Das rechte Auge ist blind, und das linke beginnt nun auch auszutrocknen.»
«Meister!»
«Judas?» Jesus, der ein kleines
Mädchen streichelt, wendet sich um.
«Meister, dieser Mann ist beinahe
blind und möchte das Augenlicht zurückerlangen. Ich sage ihm, daß du ihm helfen
kannst.»
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«Ich kann es, wenn man glaubt.
Mann, hast du Glauben?»
«Ich glaube an den Gott Israels.
Ich bin gekommen, um im Teiche Bethsaida unterzutauchen. Doch es sind immer
andere vor mir da.»
«Kannst du an mich glauben?»
«Wenn ich an den Engel des Teiches
glaube, soll ich dann nicht an dich glauben, da dein Jünger sagt, du seist der
Messias?»
Jesus lächelt. Er befeuchtet seinen
Finger mit Speichel und berührt damit das kranke Auge. «Was siehst du?»
«Ich sehe die Dinge ohne den
vorherigen Nebel. Willst du das andere nicht heilen?»
Jesus lächelt wiederum. Er
wiederholt den Vorgang auf dem blinden Auge. «Was siehst du?» fragt er, indem er
das Lid hochhebt.
«Oh, Herr Israels! Ich kann sehen
wie damals, als ich ein Kind war und auf den Wiesen herumsprang. Sei gepriesen
in Ewigkeit!»
Der Mann hat sich Jesus zu Füßen
geworfen und weint.
«Geh, und sei von nun an gut aus
Dankbarkeit Gott gegenüber!»
Ein Levit, der nach dem erfolgten
Wunder hinzugekommen ist, fragt: «Wer gibt dir die Kraft für solche Eingriffe?»
«Du fragst mich dies? Doch ich will
es dir sagen, wenn du mir die Frage beantwortest: Ist der Prophet, der den
Messias vorhersagt, größer als der Messias selbst?»
«Welch eine Frage! Der Messias ist
größer, denn er ist der vom Allerhöchsten verheißene Erlöser.»
«Warum wirkten dann die Propheten
Wunder? Wer gab ihnen die Macht dazu?»
«Gott hat sie ihnen gegeben, um den
Menschen zu zeigen, daß er mit ihnen sei.»
«Nun, mit derselben Kraft wirke ich
Wunder: Gott ist mit mir, ich bin mit ihm. Ich beweise den Menschen, daß es so
ist und daß der Messias - mit mehr Recht und in größerem Maße - das tun kann,
was die Propheten getan haben.»
Der Levit geht in Gedanken
versunken weg, und alles ist zu Ende.
104. JESUS BELEHRT JUDAS ISKARIOT
Jesus und Judas verlassen den
Tempel. Zuvor haben sie auf dem für die männlichen Israeliten bestimmten Platze
in allernächster Nähe des Allerheiligsten gebetet.
Judas möchte bei Jesus bleiben.
Doch der Meister lehnt ab. «Judas, ich wünsche in den nächtlichen Stunden allein
zu bleiben. In der Nacht schöpft mein Geist vom Vater seine Nahrung. Gebet,
Betrachtung und
47
Einsamkeit habe ich nötiger als
materielle Nahrung. Wer für den Geist leben und andere dazu führen will, muß das
Fleisch verleugnen, ich möchte sagen, es töten und alle seine Sorge dem Geiste
zuwenden. Alle, du weißt es, Judas! Auch du solltest so handeln, wenn du
wirklich Gott, also dem Übernatürlichen, gehören willst.»
«Aber wir sind noch auf Erden,
Meister. Wie können wir das Fleisch vernachlässigen und alle Pflege nur dem
Geiste schenken? Steht das, was du sagst, nicht im Widerspruch zum Gebot Gottes:
"Du sollst nicht töten" ? Ist darin nicht auch enthalten: sich selbst nicht
töten? Wenn das Leben eine Gabe Gottes ist, sollten wir es also nicht lieben?»
«Ich werde dir so antworten, wie
ich einem Einfachen gegenüber nicht antworten würde; für diesen würde es
genügen, den Blick der Seele oder des Geistes auf übernatürliche Sphären zu
richten, um ihn mit uns im Fluge in die Regionen des Geistes zu tragen. Du bist
kein Einfacher. Du bist in einer Umgebung aufgewachsen, die dich verfeinert
hat... dich aber auch mit ihren Spitzfindigkeiten und ihren Lehren verseucht
hat. Erinnerst du dich an Salomon, Judas? Er war weise, der Weiseste seiner
Zeit. Erinnerst du dich, daß er sagte, nachdem er alles Wissenswerte wußte: "O
Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit! Gott fürchten und seine Gebote
halten, das ist der wahre Mensch." Nun sage ich dir: es ist vernünftig, den
Speisen das Nahrhafte zu entnehmen, nicht das Gift. Wenn wir erkennen, daß uns
eine Speise schadet, da sie in uns unheilvolle Reaktionen hervorruft, die von
unseren Organen nicht verarbeitet werden, dann müssen wir diese Speise meiden,
auch wenn sie unserem Gaumen zusagt. Besser nur einfaches Brot und Quellwasser,
als auserlesene Speisen von der Tafel des Königs, deren Gewürze stören und
vergiften.»
«Was soll ich lassen, Meister? ...»
«Alles, von dem du weißt, daß es
dich beunruhigt. Denn Gott ist Friede, und wenn du den Weg Gottes beschreiten
willst, mußt du deinen Geist, dein Herz und dein Fleisch freimachen von allem,
was nicht Frieden, sondern Beunruhigung erzeugt. Ich weiß, daß es schwer ist,
sich selbst zu erneuern; doch ich bin hier, um dir dabei zu helfen. Ich bin
gekommen, um den Menschen zu helfen, wieder Kinder Gottes zu werden, sich wie in
einer zweiten Erschaffung zu erneuern - eine Selbsterneuerung, die man selbst
will. Doch will ich dir auf deine Fragen antworten, damit du nicht sagen kannst,
daß du meinetwegen im Irrtum geblieben bist. Es stimmt, daß Selbstmord dem Mord
gleichkommt. Sowohl eigenes als auch fremdes Leben ist ein Geschenk Gottes, und
nur Gott, der es gegeben hat, hat das Recht, es wieder zu nehmen. Wer sich
selbst entleibt, bekennt damit seinen Hochmut, und Gott haßt den Hochmut.»
«Den Hochmut, sagst du? Ich würde
eher meinen, die Verzweiflung.»
«Ist denn die Verzweiflung nicht
Hochmut? Überlege, Judas! Warum verzweifelt jemand? Entweder weil er meint, wenn
ein Unheil auf ihn
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zukommt, allein damit fertig werden
zu müssen, obwohl er es nicht kann, oder weil er schuldig ist und glaubt, daß
Gott ihm nicht verzeihen könne. Ist nicht sowohl im ersten als auch im zweiten
Falle der Hochmut die Ursache? Der Mensch, der sich selbst helfen will, hat die
Demut nicht, die Hand zum Vater auszustrecken und ihn zu bitten: "Ich kann
nicht, doch du kannst. Hilf mir, denn auf dich hoffe und warte ich." Der andere
Mensch sagt: "Gott kann mir nicht verzeihen", da er Gott mit seinem eigenen
Maßstab mißt und glaubt, daß einer, der so beleidigt worden ist, nicht mehr
verzeihen könnte. Also auch hier Hochmut. Der Demütige bemitleidet und verzeiht,
auch wenn ihn die Beleidigung schmerzt. Der Hochmütige verzeiht nicht. Er ist
auch hochmütig, weil er seine Stirne nicht beugen und sagen kann: "Vater, ich
habe gesündigt, verzeihe deinem armen, schuldbeladenen Kinde!" Weißt du denn
nicht, Judas, daß der Vater alles vergeben kann, wenn er um Verzeihung gebeten
wird mit einem aufrichtigen und zerknirschten Herzen, das demütig und willig zur
Auferstehung im Guten ist!»
«Doch bestimmte Vergehen werden
nicht verziehen, können nicht verziehen werden!»
«Du sagst es. Und es ist wahr, weil
der Mensch es so will. Doch in Wahrheit, ja in Wahrheit sage ich dir, wenn der
Schuldige selbst nach dem größten aller Verbrechen zu den Füßen des Vaters eilen
würde - er nennt sich deswegen Vater, o Judas, und er ist der Vater von
unendlicher Vollkommenheit - und weinend um Verzeihung bäte und sich zum Sühnen
anböte, aber ohne Verzweiflung, dann würde der Vater ihm die Möglichkeit der
Sühne geben, um ihn der Verzeihung würdig zu machen und seine Seele zu retten!»
«Somit sagst du, daß die Menschen,
die die Schrift nennt und die sich selbst töteten, schlecht gehandelt haben?» (2
Kön 17,23)
«Es ist nicht erlaubt, jemandem
Gewalt anzutun, auch nicht sich selbst. Es ist immer Unrecht. In ihrer
ungenügenden Kenntnis des Guten werden sie aber in bestimmten Fällen noch
Barmherzigkeit von Gott erhalten. Doch wenn das Wort jede Wahrheit geklärt und
mit seinem Geiste die Geister gestärkt haben wird, von da an wird keinem mehr
verziehen werden, der in Verzweiflung stirbt. Nicht im Augenblick des besonderen
Gerichtes und auch nicht nach Jahrhunderten von Höllenqualen beim letzten
Gericht! Niemals! Ist das Härte von seiten Gottes? Nein: Gerechtigkeit! Gott
wird sagen: "Du hast gerichtet, du, Geschöpf, mit Verstand und übernatürlichem
Wissen begabt, von mir erschaffen mit einem freien Willen; du hast gesagt: 'Gott
verzeiht mir nicht. Ich bin von ihm für immer getrennt. Ich richte mich für
meine Verfehlung selbst. Ich werde aus dem Leben scheiden, um den Vorwürfen zu
entgehen', ohne dabei zu bedenken, daß die Vorwürfe dich nicht mehr erreicht
hätten, wenn du dich an mein väterliches Herz geflüchtet hättest. Und so, wie du
dich gerichtet
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hast, bist du jetzt! Ich
vergewaltige die Freiheit nicht, die ich dir gegeben habe."
So wird der Ewige dem Selbstmörder
antworten. Denke daran, Judas! Das Leben ist ein Geschenk und muß geliebt
werden. Doch was für ein Geschenk ist es? Ein heiliges Geschenk! Daher soll es
auf heilige Weise geliebt werden. Das Leben dauert, solange der Körper die Kraft
dazu hat. Dann beginnt das große Leben. Das ewige Leben. Voller Seligkeit für
die Gerechten, voller Qualen für die Ungerechten. Ist das Leben Zweck oder
Mittel? Es ist Mittel! Es dient zum Endziel, das Ewigkeit heißt. Also geben wir
dem Leben das, was ihm genügt, um sich zu erhalten und dem Geiste zu dienen zur
Erreichung seines Zieles. Enthaltsamkeit des Fleisches mit all seinen Begierden
- allen! Enthaltsamkeit des Geistes mit all seinen Wünschen - allen!
Enthaltsamkeit des Herzens mit all seinen Leidenschaften, die menschlich sind.
Ungehemmt bleibe jedoch der Auftrieb der Leidenschaften, die des Himmels sind:
der Liebe zu Gott und dem Nächsten; des Willens, Gott und dem Nächsten zu
dienen; des Gehorsams gegenüber dem Wort Gottes; des Heldentums im Guten und in
der Tugend.
Ich habe dir geantwortet, Judas.
Bist du nun überzeugt? Genügt dir diese Erklärung? Sei aufrichtig und frage,
wenn dir noch etwas unklar ist. Ich bin hier, um dir Lehrer zu sein!»
«Ich habe verstanden, es genügt
mir. Aber es ist sehr schwer, in die Tat umzusetzen, was ich verstanden habe. Du
kannst es, weil du heilig bist. Doch ich... Ich bin ein Mensch, jung und voller
Lebenskraft!»
«Ich bin für die Menschen gekommen,
Judas. Nicht für die Engel. Diese brauchen keinen Meister. Sie sehen Gott. Sie
leben in seinem Paradies. Sie kennen die Leidenschaften der Menschen, denn der
Geist, der ihr Leben ist, läßt sie alles kennen; auch diejenigen, die nicht zu
Schutzengeln der Menschen bestimmt sind. Doch als Geister, die sie sind, können
sie nur in einem sündigen, wie einer von ihnen es getan und die in der Liebe
weniger Starken nach sich gezogen hat: mit dem Hochmut, dem Pfeil, der Luzifer,
den schönsten der Erzengel, verwundete und ihn zum abstoßendsten Ungeheuer des
Abgrunds machte. Ich bin nicht für die Engel gekommen, die sich nach dem Fall
Luzifers schon bei der geringsten Spur eines hochmütigen Gedankens entsetzen.
Ich bin für die Menschen gekommen; um aus Menschen Engel zu machen.
Der Mensch war die Krone der
Schöpfung. Er hatte vom Engel den Geist und vom Tier die volle Schönheit in all
ihren leiblichen und moralischen Aspekten. Kein anderes Wesen kam dem Menschen
gleich. Er war der König der Erde, wie Gott der König des Himmels ist, und eines
Tages, am Tag, an dem er zum letzten Male auf der Erde eingeschlafen wäre, hätte
er mit dem Vater im Himmel König sein können.
Satan hat dem Mensch-Engel die
Flügel ausgerissen und ihm Raubtierglieder
50
und eine Gier nach Unreinem
gegeben; er hat aus ihm etwas gemacht, das man nicht Mensch, sondern
Mensch-Dämon nennen sollte. Ich will die von Satan verursachte Entstellung
auslöschen, den Hunger des unreinen Fleisches vernichten, dem Menschen die
Flügel wieder geben und ihn wieder zum König, zum Miterben des Vaters und des
himmlischen Reiches machen. Ich weiß, daß der Mensch, wenn er nur wollte, tun
könnte, was ich sage, um wieder König und Engel zu werden. Ich werde euch keine
Dinge sagen, die ihr nicht tun könnt. Ich gehöre nicht zu den Rednern, welche
Lehren verkünden, die man nicht verwirklichen kann. Ich habe wahres Fleisch
angenommen, um wissen zu können aus der Erfahrung des Fleisches, wie die
Versuchungen des Menschen sind.»
«Und die Sünden?»
«Versucht können alle werden.
Sünder nur, die es wollen.»
«Hast du je gesündigt, Jesus?»
«Ich habe nie sündigen wollen. Und
dies, nicht weil ich der Sohn des Vaters bin. Ich habe den festen Willen, dem
Menschen zu zeigen, daß der Menschensohn nicht gesündigt hat, weil er nicht
sündigen wollte, und daß der Mensch, wenn er nicht will, nicht sündigen wird.»
«Bist du nie in Versuchung
gekommen?»
«Ich bin 3O Jahre alt, Judas. Ich
habe nicht in einer Höhle auf einem Berg gelebt, sondern unter Menschen; und
wenn ich am einsamsten Ort der Erde gelebt hätte, glaubst du, daß ich vor
Versuchungen verschont geblieben wäre? Alle haben wir in uns das Gute und das
Böse. Alles tragen wir in uns. Über dem Guten schwebt der Hauch Gottes und
belebt es wie ein Weihrauchfaß, voll von wohltuendem, heiligem Weihrauch. Auf
das Böse bläst Satan und entzündet es zu einem verderblichen Feuer. Doch der
aufmerksame Wille und das unablässige Gebet sind wie feuchter Sand für das
höllische Feuer; sie löschen und ersticken es.»
«Aber wenn du noch nie gesündigt
hast, wie kannst du dann die Sünder beurteilen?»
«Ich bin Mensch und bin Sohn
Gottes. Was ich als Mensch nicht erkennen oder nur schwer beurteilen könnte,
erkenne und beurteile ich als Sohn Gottes. Und übrigens, Judas, beantworte mir
diese Frage: Leidet einer, der Hunger hat, mehr, wenn er sagt: "Ich setze mich
an den Tisch", oder wenn er sagt: "Ich habe nichts zu essen"?»
«Er leidet mehr im zweiten Falle;
denn das Wissen darum, daß er leer ausgeht, vermittelt ihm das Aroma der
Speisen, und der Magen zieht sich vor Verlangen zusammen.»
«Also, die Versuchung nagt wie
dieses Verlangen, Judas. Satan läßt es heftiger, deutlicher und verführerischer
werden als jede vollbrachte Tat. Die Tat befriedigt, manchmal ekelt sie an; die
Versuchung aber läßt nicht nach, sondern bringt wie ein gestutzter Baum
üppigeres Laub hervor.»
«Hast du nie nachgegeben?»
51
«Ich habe nie nachgegeben.»
«Wie ist dir das gelungen?»
«Ich habe gesagt: "Vater, führe
mich nicht in Versuchung!"»
«Was, du, der Messias, der Wunder
wirkt, du hast den Vater um Hilfe gebeten?»
«Nicht nur um Hilfe; ich habe ihn
gebeten, mich nicht in Versuchung zu führen. Glaubst du, weil ich ICH bin, kann
ich auf den Vater verzichten? O nein! In Wahrheit sage ich dir, daß der Vater
dem Sohn alles gewährt, daß der Sohn aber auch alles vom Vater erhält. Ich sage
dir, daß alles, was in meinem Namen vom Vater erbeten wird, gewährt wird. Doch
nun sind wir am Gethsemani; hier wohne ich. Man sieht schon die ersten
Olivenbäume jenseits der Mauer. Du wohnst hinter Tophet. Der Abend senkt sich
schon nieder. Es ist besser, wenn du nicht bis dort hinauf mitkommst. Wir sehen
uns morgen am selben Platz. Lebe wohl! Der Friede sei mit dir!»
«Der Friede sei auch mit dir,
Meister! Doch möchte ich dir noch etwas sagen. Ich werde bis zum Kedron mitgehen
und dann umkehren. Warum wohnst du in einem solch bescheidenen Haus? Weißt du,
die Leute achten auf viele Dinge. Kennst du niemand in der Stadt mit einem
schönen Haus? Ich könnte dich zu Freunden bringen, wenn du willst. Aus
Freundschaft zu mir würden sie dich aufnehmen... und es wäre eine Unterkunft,
die deiner würdiger wäre.»
«Glaubst du? Ich glaube nicht. Das
Würdige und das Unwürdige gibt es in allen Ständen. Und ohne gegen die Liebe
fehlen zu wollen, sondern um der Gerechtigkeit willen, sage ich dir, daß der
Unwürdige, der böswillige Unwürdige, sich oft unter den Großen befindet. Es ist
nicht nötig und nützt nichts, mächtig zu sein, um gut zu sein oder um die Sünden
vor Gott verbergen zu können. Alles muß unter meinem Zeichen umgekehrt werden.
Und groß wird nicht der Mächtige sein, sondern der Demütige und Heilige.»
«Doch um geachtet zu werden, um
sich durchzusetzen ...»
«Wird Herodes geachtet? Wird Caesar
geachtet? Nein! Sie werden verwünscht und verflucht von den Lippen und in den
Herzen. Glaube mir, Judas, bei den Guten und auch bei denen, die nur guten
Willens sind, werde ich mich mehr mit der Bescheidenheit als mit der
Herrschsucht durchsetzen.»
«Doch dann... wirst du die
Mächtigen immer verachten? Du wirst sie dir zu Feinden machen. Ich dachte schon
daran, mit vielen Bekannten von dir zu sprechen, die einen Namen haben ...»
«Ich verachte niemand. Ich werde zu
den Armen wie zu den Reichen gehen, zu den Sklaven wie zu den Königen, zu den
Reinen wie zu den Sündern. Doch wenn ich jedem, der mir Brot und Obdach für
meine Mühen gibt, wie immer auch das Dach und die Speisen sein mögen, dankbar
bin,
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so werde ich doch stets dem
Demütigen den Vorzug geben. Die Großen haben schon so viele Freuden. Die Armen
nichts als ein redliches Gewissen, eine treue Liebe, wie die Kinder, und ich
werde von den meisten von ihnen angehört. Ich werde immer den Armen, den
Betrübten und den Sündern mich zuneigen. Ich danke dir für deine gute Absicht.
Doch lasse mich an diesem Ort des Friedens und Gebetes allein. Geh! Gott möge
dich darüber erleuchten, was gut ist!»
Jesus entläßt den Jünger und
verschwindet unter den Olivenbäumen.
Die Vision ist zu Ende.
105. JESUS BEGEGNET JOHANNES DES
ZEBEDÄUS IM GARTEN GETHSEMANE
Ich sehe Jesus, der sich zu einem
niedrigen, weißen Haus inmitten des Ölgartens begibt. Ein Jüngling begrüßt ihn.
Er scheint hier zu wohnen, denn er hat Gartenwerkzeuge in den Händen.
«Gott sei mit dir, Rabbi! Dein
Jünger Johannes ist gekommen, und nun ist er wieder aufgebrochen, um dir
entgegenzugehen.»
«Ist es schon lange her?»
«Nein, eben ist er jenen Pfad
gegangen. Wir haben angenommen, du würdest von Bethanien her kommen.»
Jesus macht sich rasch auf den Weg,
umgeht den Felsenvorsprung und erblickt Johannes, der fast im Laufschritt gegen
die Stadt hinuntereilt.
Jesus ruft ihn, und der Jünger
wendet sich um. Sein Gesicht erstrahlt mit dem Ausruf: «Oh, mein Meister!» Er
kommt eilends zurück. Jesus streckt ihm die Arme entgegen, und die beiden
umarmen sich herzlich.
«Ich kam, um dich zu suchen... Wir
glaubten, du wärest in Bethanien, wie du gesagt hattest.»
«Ja, ich hatte es im Sinn. Ich muß
nun aber in der Umgebung von Jerusalem mit der Verkündigung der Frohen Botschaft
beginnen. Doch dann habe ich mich in der Stadt aufgehalten... um einen neuen
Jünger zu unterweisen.»
«Alles, was du tust, ist wohlgetan,
Meister, geht gut aus. Siehst du, auch jetzt haben wir uns sofort gefunden.»
Die beiden gehen zusammen. Jesus
legt seinen Arm auf die Schulter des Johannes, der etwas kleiner ist als er und
zu ihm aufschauen muß, doch selig über diese Vertraulichkeit ist. So kehren sie
zum kleinen Haus zurück.
«Bist du schon länger hier?»
«Nein, Meister. Ich bin morgens mit
Simon aufgebrochen, dem ich mitgeteilt habe, was du mir aufgetragen hattest.
Dann haben wir uns in
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den Feldern von Bethanien
aufgehalten, unter den Armen Lebensmittel verteilt und den auf den Feldern
arbeitenden Bauern von dir erzählt. Als die Sonne nicht mehr so heiß war, haben
wir uns getrennt. Simon ist zu einem Freund gegangen, dem er von dir erzählen
will. Es ist der Eigentümer von beinahe ganz Bethanien. Sie kennen sich schon
lange; schon die Väter der beiden kannten sich. Doch morgen wird Petrus
hierherkommen. Er hat mir gesagt, daß er glücklich darüber ist, dir dienen zu
dürfen. Simon ist sehr tüchtig. Ich möchte so sein wie er, doch ich bin nur ein
ungebildeter Bursche.»
«Nein, Johannes, auch du tust viel
Gutes!»
«Bist du wirklich zufrieden mit
deinem armen Johannes?»
«Sehr zufrieden, mein Johannes,
sehr!»
«Oh, mein Meister!» Johannes beugt
sich flink, um die Hand Jesu zu küssen, und streicht sie sich dann zärtlich über
die Wange.
Sie sind nun beim Häuschen
angelangt und treten in die niedrige, verrauchte Küche. Der Hausherr grüßt: «Der
Friede sei mit dir!»
Jesus antwortet: «Friede sei mit
diesem Hause, mit dir und mit allen, die darin wohnen! Ich habe hier einen
Jünger dabei.»
«Es ist auch für ihn Brot und Öl
vorhanden.»
«Ich habe getrockneten Fisch
gebracht, den mir Jakobus und Petrus gegeben haben. Und in Nazareth hat mir
deine Mutter Brot und Honig für dich mitgegeben. Ich bin gelaufen, ohne je zu
rasten, doch nun wird das Brot hart sein.»
«Das macht nichts, Johannes. Es hat
immer den Duft der Hände meiner Mutter.»
Johannes entnimmt seinem Reisesack,
den er aus einer Ecke holt, die Schätze. Ich sehe, wie der getrocknete Fisch auf
eine eigenartige Weise zubereitet wird. Man legt ihn für einige Minuten in
heißes Wasser, darauf ölt und röstet man ihn über der Flamme.
Jesus segnet die Speisen und setzt
sich mit dem Jünger an den Tisch. Auch der Herr des Hauses, den Jesus Jonas
nennt, und dessen Sohn setzen sich. Die Mutter kommt und geht und trägt Fisch,
schwarze Oliven und gesottenes, mit Öl zubereitetes Gemüse auf. Jesus bietet
auch Honig an. Er bietet ihn der Mutter auf einem Stück Brot an. «Er ist von
meinem Bienenstock; meine Mutter pflegt die Bienen. Iß, er ist gut! Du, Maria,
bist auch sehr gut zu mir und verdienst den Honig und noch mehr», sagt Jesus,
denn die Frau möchte ihn nicht auf den süßen Honig verzichten lassen.
Das Nachtmahl wird unter kurzen,
allgemeinen Gesprächen rasch beendet.
Nach dem Dankgebet sagt Jesus zu
Johannes: «Komm, laß uns zusammen in den Ölgarten gehen! Die Nacht ist warm und
hell. Es ist angenehm, noch etwas draußen zu weilen.»
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Der Hausherr sagt: «Meister, ich
grüße dich. Ich bin müde, und auch mein Sohn ist müde. Wir wollen zur Ruhe
gehen. Ich lasse die Türe angelehnt und die kleine Lampe auf dem Tisch brennen.
Du weißt, wie du es machen mußt.»
«Geh nur, Jonas! Lösche auch die
Lampe aus. Der Mond scheint so hell, daß man ohne Licht sehen kann.»
«Doch wo wird dein Jünger
schlafen?»
«Bei mir. Auf meiner Lagermatte ist
auch für ihn Platz. Nicht wahr, Johannes?»
Johannes ist entzückt beim
Gedanken, an der Seite Jesu ruhen zu dürfen.
Sie gehen nun in den Ölgarten. Doch
zuerst hat Johannes noch etwas aus der bereits in die Ecke gelegten Tasche
genommen. Nach einer kurzen Wegstrecke erreichen sie eine Anhöhe, von der man
ganz Jerusalem überblicken kann.
«Laß uns hier niedersitzen und
miteinander reden!» sagt Jesus.
Doch Johannes setzt sich zu den
Füßen Jesu in das kurze Gras, legt seine Arme auf die Knie Jesu, stützt seinen
Kopf auf die Arme und blickt immer wieder zu Jesus auf. Er gleicht einem Kinde
an der Seite seiner geliebtesten Person. «Es ist auch hier schön, Meister.
Schau, wie groß die Stadt nachts erscheint; größer als bei Tag.»
«Das kommt vom Mondschein, der die
Umrisse verwischt. Schau: es sieht so aus, als ob sich die Grenzen in der
silbrigen Helle ausdehnten. Schau zur Kuppel des Tempels dort! Scheint es nicht,
als schwebe sie in der Luft?»
«Es scheint, als ob die Engel sie
auf ihren silbernen Flügeln tragen würden.»
Jesus seufzt.
«Warum seufzt du, Meister?»
«Weil die Engel den Tempel
verlassen haben. Sein Aussehen von Reinheit und Heiligkeit ist nur der Mauer
geblieben. Jene, die ihm dieses Aussehen auch in der Seele verleihen sollten -
denn jeder Ort hat seine Seele, das heißt, er besitzt den Geist, zu dem er
erhöht worden ist, und der Tempel hat oder sollte als Seele das Gebet und die
Heiligkeit haben - sind die ersten, die sie ihm nehmen. Man kann nicht geben,
was man nicht besitzt, Johannes! Und wenn dort auch sehr viele Priester und
Leviten leben, so ist nicht einmal ein Zehntel davon fähig, der heiligen Stätte
Leben zu verleihen. Sie bringen nur Tod. Sie übertragen ihren eigenen geistigen
Tod auf das Heilige. Sie haben nur die Formeln, doch nicht deren Leben. Sie sind
Leichen, die einzig durch die Verwesung, die sie aufbläst, warm bleiben.»
«Haben sie dir weh getan, Meister?»
Johannes ist bekümmert.
«Nein, im Gegenteil, sie haben mich
auf meine Bitte hin sprechen lassen.»
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«Du hast sie darum gebeten? Warum?»
«Weil ich den Streit nicht beginnen
will. Er wird trotzdem nicht zu verhindern sein. Denn ich erwecke in manchen
eine törichte, menschliche Angst und werde anderen zum Vorwurf. Doch dies steht
in ihrem Buch, nicht in meinem.»
Zunächst folgt ein Schweigen; dann
beginnt Johannes wieder zu sprechen: «Meister... ich kenne Annas und Kaiphas.
Durch Geschäfte kam meine Familie mit ihnen in Verbindung, und als ich wegen
Johannes dem Täufer in Judäa war, kam ich auch zum Tempel, und sie waren gut zum
Sohn des Zebedäus. Mein Vater versorgt sie stets mit dem besten Fisch. Es ist so
Brauch, weißt du. Wenn man Freunde haben und sie behalten will, muß man handeln
...»
«Ich weiß es», sagt Jesus ernst.
«Wenn du meinst, dann werde ich für
dich mit dem Hohenpriester reden. Und dann... wenn du willst, ich kenne
jemanden, der in Geschäftsverbindung mit seinem Vater steht. Es ist ein reicher
Fischhändler. Er hat ein großes, vornehmes Haus beim Reitplatz, denn es sind
wohlhabende Leute; aber sie sind sehr gut. Es wäre dort für dich bequemer und
weniger mühsam. Um nach hier zu kommen, führt der Weg durch den Stadtteil Ophel,
der schmutzig und immer voller Esel und böser Buben ist.»
«Nein, Johannes, ich danke dir. Ich
bin gerne hier. Spürst du den Frieden? Ich sagte dies auch dem anderen Jünger,
der mir den gleichen Vorschlag gemacht hat. Er hat allerdings gesagt: "Um höher
eingeschätzt zu werden" *»
«Ich sagte nur, damit du weniger
ermüdest.»
«Ich werde nicht müde. Ich werde
viel gehen müssen und niemals müde werden. Weißt du, was mich ermüdet? Die
Lieblosigkeit. Oh, sie liegt mir wie eine schwere Last auf dem Herzen.»
«Ich liebe dich, Jesus!»
«Ja, und du tröstest mich. Ich
liebe dich sehr, Johannes, und werde dich immer lieben; denn du wirst mich
niemals verraten.»
«Verraten? Dich? Oh!»
«Und doch gibt es viele, die mich
verraten werden. Johannes, höre zu. Ich sagte dir, daß ich mich verspätet habe,
weil ich einen neuen Jünger zu unterweisen hatte. Er ist ein junger Jude,
gebildet und bekannt.»
«Dann wirst du mit ihm weniger Mühe
haben als mit uns, Meister. Ich bin froh für dich, daß du einen hast, der
fähiger ist als wir es sind.»
«Glaubst du, daß er mir weniger
Mühe macht?»
«Nun, wenn er nicht so unwissend
ist, wie wir es sind, dann wird er dich besser verstehen und dir besser dienen;
besonders, wenn er dich mehr liebt.»
«Das hast du gut gesagt. Doch die
Liebe hängt nicht von der Erziehung und von der Bildung ab. Ein jungfräuliches
Herz liebt mit der ganzen
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Kraft seiner ersten Liebe. Das gilt
auch für die Jungfräulichkeit im Denken. Der Geliebte prägt sich tiefer in ein
jungfräuliches Herz und in einen jungfräulichen Geist ein als dort, wo schon
andere Liebesbeziehungen vorhanden sind. Doch wenn Gott will... Höre, Johannes:
ich bitte dich, ihm Freund zu sein. Mein Herz erzittert beim Gedanken, dich
"ungeschorenes Lamm" neben einen Kenner des Lebens zu stellen. Auch wenn er sich
beherrscht, da er weiß, daß du das Lamm, aber auch ein Adler bist, so wird
dieser Erfahrene sicher versuchen, dich dazu zu verleiten, den Boden zu
berühren, der immer voller Unrat ist. Du aber, mit deinem gesunden
Menschenverstand, du wirst dich mit einem Flügelschlag frei machen und nur dem
Blau des Himmels und der Sonne zustreben. Ich bitte dich darum, werde - indem du
so bleibst, wie du bist - der Freund des neuen Jüngers, der von Simon Petrus und
auch von den anderen nicht sehr geliebt werden wird, und flöße ihm deine Seele
ein!»
«Oh, Meister, genügst du nicht
dafür?»
«Ich bin der Meister, dem man nicht
alles sagt. Du bist der Mitjünger, etwas jünger, dem man sich leichter
anvertraut. Ich wünsche nicht, daß du mir sagst, was er dir anvertrauen wird.
Ich hasse die Spione und die Verräter. Doch bitte ich dich, ihn durch deinen
Glauben zu bekehren und mit deiner Liebe und deiner Reinheit zu überzeugen,
Johannes! Er ist ein von toten Wassern verseuchtes Land. Es muß von der Sonne
der Liebe getrocknet, mit der Redlichkeit der Gedanken, Wünsche und Werke
gereinigt und dann mit dem Glauben bepflanzt werden. Du kannst dies tun.»
«Wenn du glaubst, daß ich es
kann... oh! ... ja! Wenn du sagst, daß ich es kann, werde ich es tun. Aus Liebe
zu dir!»
«Danke, Johannes!»
«Meister, du hast von Simon Petrus
gesprochen. Nun erinnere ich mich an etwas, was ich dir gleich am Anfang sagen
wollte. Die Freude, deine Stimme zu hören, hat mich dann von dem Gedanken
weggebracht. Als wir nach dem Pfingstfest nach Kapharnaum zurückgekehrt sind,
haben wir sofort die übliche Summe des Unbekannten vorgefunden. Der Knabe hatte
das Geld meiner Mutter gebracht. Ich habe es dann Petrus gegeben; er hat es mir
wieder zurückgegeben und sagte, daß ich ein wenig davon für die Rückkehr und den
Aufenthalt in Doko verwenden und den Rest dir geben solle, da du ihn brauchen
könntest... weil auch Petrus dachte, daß es hier nötig sei... doch du sagst
nein... Ich habe nur zwei Denare davon ausgegeben an zwei Arme bei Ephraim. Für
mich habe ich nur das verwendet, was meine Mutter und einige gute Menschen,
denen ich deinen Namen verkündet habe, mir gegeben haben. Hier ist der Beutel.»
«Wir wollen es morgen unter die
Armen verteilen. So wird auch Judas unsere Gebräuche kennenlernen.»
«Ist dein Vetter gekommen? Wie
konnte er so rasch hier sein? Als ich in Nazareth war, sagte er mir nicht, daß
er weggehen werde.»
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«Nein, Judas ist der neue Jünger.
Er ist aus Kerioth. Doch du hast ihn an Ostern gesehen, am Abend, als Simon
geheilt wurde. Er war mit Thomas zusammen.»
«Oh, der ist es!» Johannes ist ein
wenig verblüfft.
«Er ist es... Und was macht
Thomas?»
«Er hat deinem Wunsch entsprochen,
hat Simon, den Kananäer verlassen und hat den Weg zum Meere eingeschlagen,
Philippus und Bartholomäus entgegen.»
«Ja, ich will, daß ihr euch ohne
Bevorzugung liebt, euch gegenseitig helft und ertragt. Niemand ist vollkommen,
Johannes. Weder die Jungen noch die Alten. Doch wenn ihr guten Willens seid,
gelangt ihr zur Vollkommenheit, und was dann in euch noch fehlt, will ich
ergänzen. Ihr seid wie Söhne einer heiligen Familie. Unter ihnen gibt es viele
ungleiche Charaktere. Der eine ist stark, der andere sanft, wieder andere mutig,
scheu, impulsiv oder sehr zurückhaltend. Wärt ihr alle gleich, wärt ihr eine
starke Kraft in einem Charakter mit den Mängeln aller. So aber bildet ihr eine
vollkommene Gemeinschaft, weil ihr euch gegenseitig ergänzt. Die Liebe vereinigt
euch, sie muß euch verbinden, die Liebe zur Sache Gottes!»
«Und um deinetwillen, Jesus.»
«Zuerst die Sache Gottes und dann
die Liebe zu seinem Christus!»
«Ich? Wer bin ich in unserer
Familie?»
«Du sollst der liebevolle Friede
des Gesalbten Gottes sein. Bist du müde, Johannes? Willst du umkehren? Ich
bleibe noch, um zu beten.»
«So bleibe auch ich, um mit dir zu
beten. Laß mich hier bleiben und mit dir beten.»
«So bleibe!»
Jesus betet Psalmen, und Johannes
betet mit. Doch seine Stimme erlischt bald, und der Apostel schläft ein, das
Haupt auf dem Schoße Jesu. Jesus lächelt und legt seinen Mantel über die
Schultern des Schlafenden, um dann im betrachtenden Gebet fortzufahren.
So endet die Vision.
106. «JOHANNES, DER STAMMVATER
ALLER,
DIE SICH ALS HOSTIEN HINGEBEN AUS
LIEBE ZU MIR»
Jesus sagt dann:
«Noch ein Vergleich zwischen meinem
Johannes und einem anderen Jünger. Ein Vergleich, aus dem die Gestalt meines
Lieblingsjüngers immer klarer hervorgeht. Er entäußert sich sogar seiner Art und
Weise zu denken und zu urteilen, um "der Jünger" zu sein. Er gibt sich hin ohne
Vorbehalt und ohne irgendeinen Rückbehalt nicht einmal ein Molekül,
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aus der Zeit vor seiner Erwählung.
Judas will sich nicht selbst entäußern. Seine Hingabe ist unwirklich. Er trägt
in sich sein vom Hochmut, von der Sinnlichkeit und Begehrlichkeit krankes Ich.
Er ändert seine Denkart nicht. Er neutralisiert die Wirkung der Hingabe und der
Gnade.
Judas ist der Vorläufer aller
verfehlten Apostel. Und es sind ihrer viele! Johannes ist das Vorbild aller, die
aus Liebe zu mir Hostie werden: dein Vorbild! (Die Ausführungen sind an die
Seherin gerichtet.)
Ich und meine Mutter sind die
erhabensten Opferhostien. Uns erreichen ist schwer, ja unmöglich, denn unser
Opfer bestand in einer totalen Bitternis. Doch mein Johannes! Er ist die Hostie,
die von allen Arten der mich Liebenden nachgeahmt werden kann: Jungfrauen,
Märtyrer, Bekenner, Verkünder des Evangeliums, Diener Gottes und der
Gottesmutter, Aktiver und Kontemplativer; er ist das Beispiel für alle! Er ist
der mich Liebende!
Beachte die unterschiedliche Art
des Überlegens. Judas fragt, verhandelt, versteift sich, und auch wenn er
anscheinend nachgibt, behält er doch seine Mentalität. Johannes fühlt sich ein
Nichts, nimmt alles an, fragt nicht nach dem Warum und ist nur darauf bedacht,
mich glücklich zu machen. Darin ist er beispielhaft.
Hast du nicht gespürt, wie es dir
angesichts seiner einfachen und treuen Liebe ganz friedvoll ums Herz wurde? Oh,
mein Johannes! Ich wünsche, daß mein kleiner Johannes immer mehr meinem
Lieblingsjünger gleicht.
Nimm alles an und sage stets wie
der Apostel: "Alles, was du tust, ist gut getan, Meister!", um so dieser meiner
Worte würdig zu werden: "Du bist mein geliebter Friede." Auch ich habe Trost
nötig, Maria. Gib ihn mir! Mein Herz ist deine Ruhestatt!»
107. JESUS UND JUDAS ISKARIOT
BEGEGNEN SIMON DEM ZELOTEN UND JOHANNES
Ich sehe Jesus mit Judas in der
Nähe eines Tores der Tempelmauern auf und ab gehen.
«Bist du sicher, daß er kommen
wird?» fragt Judas.
«Ich bin dessen sicher. Er verließ
beim Morgengrauen Bethanien und müßte hierauf mit meinem ersten Jünger in
Gethsemane zusammengetroffen sein.»
Ein Augenblick des Schweigens, dann
bleibt Jesus stehen und schaut Judas, der vor ihm steht, forschend an. Er legt
ihm eine Hand auf die Schulter und fragt: «Warum sagst du mir nicht, was du
denkst, Judas?»
«Welche Gedanken? Ich habe keine
besonderen Gedanken in diesem Augenblick, Meister. Fragen stelle ich dir doch
genug. Du kannst dich nicht darüber beklagen, daß ich redefaul bin.»
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«Du stellst mir viele Fragen und
erzählst mir viele Dinge über die Stadt und ihre Bewohner; doch eröffnest du mir
nicht dein Herz. Was glaubst du, welche Bedeutung für mich die Nachrichten über
die Verwaltung oder die Besonderheiten dieser oder jener Familie haben? Ich bin
kein Müßiggänger, der hierhergekommen ist, um sich die Zeit zu vertreiben. Du
weißt, wozu ich gekommen bin. Und du kannst wohl verstehen, daß es mir in erster
Linie darauf ankommt, der Meister meiner Jünger zu sein. Deshalb verlange ich
von ihnen Aufrichtigkeit und Vertrauen. Hat dich dein Vater geliebt, Judas?»
«Er hat mich sehr geliebt. Ich war
sein Stolz. Wenn ich von der Schule heimkehrte und auch später, als ich von
Jerusalem nach Kerioth zurückkehrte, verlangte er, daß ich ihm alles sage. Er
interessierte sich für alles, was ich tat; wenn es etwas Erfreuliches war,
freute er sich; wenn die Dinge weniger gut liefen, tröstete er mich; und wenn
ich manchmal - wir machen ja alle Fehler - etwas falsch gemacht hatte und
deswegen gescholten wurde, dann zeigte er mir, wie sehr der Tadel gerechtfertigt
war, oder führte mir mein begangenes Unrecht vor Augen. Doch er tat dies in so
gütiger Weise wie ein älterer Bruder. Er schloß stets mit den Worten: "Ich sage
dir dies, weil ich will, daß mein Judas ein Gerechter sei. Ich will, daß ich
gesegnet sei in meinem Sohne..." Mein Vater...»
Jesus, der immer aufmerksam den
Jünger betrachtet hat, ist ehrlich gerührt vom Bericht über den Vater und sagt:
«Ja, Judas, sei überzeugt von dem, was ich dir sage: nichts kann deinen Vater
glücklicher machen, als wenn du mein getreuer Jünger bist. Die Seele deines
Vaters wird dort, wo sie auf das ewige Licht wartet, frohlocken, wenn sie sieht,
daß du mein Jünger bist; denn wenn er dich so erzogen hat, dann ist er ein
Gerechter gewesen. Doch um mein Jünger zu sein, mußt du dir sagen: "Ich habe
meinen verlorenen Vater wieder gefunden, der mir wie ein älterer Bruder war; ich
habe ihn wiedergefunden in meinem Jesus und ich werde ihm wie dem betrauerten
Vater alles sagen, um Führung, Segen und gütigen Tadel zu erhalten." Gebe es der
ewige Gott, und mögest du, vor allem du, dafür sorgen, daß Jesus von dir sagen
kann: "Du bist gut. Ich segne dich."»
«O ja, Jesus. Ja! Wenn du mich so
sehr liebst, werde ich gut werden, so wie du es willst und wie mein Vater es
gewollt hat. Und meine Mutter wird diesen Dorn nicht mehr im Herzen spüren. Sie
sagte immer: "Du hast keine Führung mehr, Sohn, und hättest sie doch so nötig!"
Oh! Wenn sie nun erfährt, daß ich dich liebe.»
«Ich werde dich lieben, wie kein
anderer Mensch es könnte. Ich werde dich sehr, sehr lieben, ich liebe dich
überaus; enttäusche mich nicht!»
«Nein, Meister, nein! Ich war
voller Widersprüche, Neid, Eifersucht, Herrschsucht, Sinnlichkeit, alles in mir
wehrte sich gegen die guten Stimmen. Noch vor kurzem, siehst du? Da hast du mich
gekränkt, oder besser, nicht du, sondern mein schlechter Charakter... Ich
glaubte, dein
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erster Jünger zu sein... und du
hast mir gesagt, daß du schon einen anderen hast.»
«Du selbst hast ihn gesehen.
Erinnerst du dich nicht, daß ich an Ostern mit vielen Galiläern im Tempel war?»
«Ich glaubte, es seien Freunde...
Ich nahm an, ich sei der erste Erwählte und daher der Bevorzugte.»
«In meinem Herzen gibt es keinen
Unterschied zwischen den Ersten und den Letzten. Wenn der Erste schuldig würde,
und der Letzte ein Heiliger wäre, dann gäbe es in den Augen Gottes einen
Unterschied. Doch ich, ich werde sie trotzdem lieben: mit seliger Liebe den
Heiligen, mit schmerzhafter Liebe den Sünder. Doch da kommt Johannes mit Simon.
Johannes ist mein Erster; von Simon sprach ich vor zwei Tagen. Simon und
Johannes hast du schon gesehen. Der eine war krank.»
«Ach so, der Aussätzige. Ich
erinnere mich. Ist er schon Jünger?»
«Seit dem darauffolgenden Tag!»
«Und warum habe ich eine so lange
Wartezeit?»
«Judas?!»
«Es ist wahr, Verzeihung!»
Johannes hat den Meister gesehen
und macht Simon darauf aufmerksam. Sie beschleunigen den Schritt. Der Gruß des
Johannes ist ein Kuß, den Jesus erwidert. Simon aber wirft sich zu Boden und
küßt Jesus die Füße und ruft aus: «Ehre meinem Erlöser! Segne deinen Diener,
damit seine Werke heilig in den Augen Gottes seien, und ich ihn mit meiner
Verherrlichung lobpreise, weil er dich mir geschenkt hat.»
Jesus legt Simon die Hand aufs
Haupt: «Ja, ich segne dich, um dir für deine Arbeit zu danken. Steh auf, Simon!
Das ist Johannes, das Simon: er ist mein neuer Jünger. Auch er will der Wahrheit
nachfolgen. So wird er euch allen Bruder sein.»
Sie begrüßen sich gegenseitig: die
beiden aus Judäa mit Zurückhaltung, Johannes mit Begeisterung und Wärme.
«Bist du müde, Simon?» fragt Jesus.
«Nein. Meister. Mit der Gesundheit
hast du mir auch eine Lebenskraft geschenkt, die ich bis dahin nicht gekannt
habe.»
«Ich weiß, daß du sie gut
verwendest. Ich habe mit vielen gesprochen, und alle haben mir bestätigt, daß du
sie schon über den Messias unterrichtet hast.»
Simon lacht zufrieden: «Auch
gestern habe ich mit einem über dich gesprochen, der ein ehrenhafter Israelit
ist. Ich hoffe, daß du ihn eines Tages kennenlernst. Ich möchte dich zu ihm
führen.»
«Das ist nicht unmöglich.»
Judas unterbricht sie: «Meister, du
hast versprochen, mit mir nach Judäa zu kommen.»
«Das ist wahr. Simon wird
fortfahren, die Menschen auf mein Kommen
61
vorzubereiten. Die Zeit ist kurz,
Freunde, und das Volk ist zahlreich. Jetzt gehe ich mit Simon. Gegen Abend könnt
ihr beide mir auf dem Weg zum Ölberg entgegenkommen; wir wollen an die Armen
Almosen verteilen. Geht nun!»
Jesus, nun mit Simon allein, stellt
die Frage: «Der Mann in Bethanien ist also ein wahrer Israelit?»
«Ein wahrer Israelit. Er hat wohl
alle vorherrschenden Ansichten, doch er hat auch eine wahre Sehnsucht nach dem
Messias. Als ich zu ihm sagte:
"Er ist unter uns da hat er sofort
geantwortet: "Ich bin glücklich, in
dieser Zeit zu leben!"»
«Wir werden eines Tages zu ihm
gehen und seinem Haus Segen bringen. Hast du den neuen Jünger gesehen?»
«Ich habe ihn gesehen. Er ist jung
und anscheinend intelligent.»
«Ja, er ist es. Du, der du auch aus
Judäa stammst, wirst seinen Ideen mit mehr Verständnis begegnen als die
anderen.»
«Ist dies ein Wunsch oder ein
Befehl?»
«Es ist ein liebevoller Befehl. Du,
der du gelitten hast, kannst mehr Nachsicht haben. Das Leid ist Lehrer in vielen
Dingen.»
«Wenn du es mir gebietest, werde
ich für ihn ganz Nachsicht sein.»
«Ja, so ist es recht. Vielleicht
wird sich mein Petrus, und nicht nur er allein, daran stoßen, wie ich mich
dieses Jüngers annehme. Doch eines Tages werden sie verstehen... Je schlimmer
jemand veranlagt ist, um so mehr braucht er Verständnis. Die anderen, oh, die
anderen schleifen sich gegenseitig ab. Ich will nicht alles allein tun. Ich
verlange den Willen des Menschen und die Mithilfe der anderen, um einen Menschen
zu erziehen. Ich rufe euch auf, mir zu helfen, und ich bin euch für eure Hilfe
dankbar.»
«Meister, vermutest du, daß du von
ihm enttäuscht werden wirst?»
«Nein. Aber er ist jung und in
Jerusalem aufgewachsen.»
«Oh, in deiner Nähe wird er alle
Untugenden dieser Stadt ablegen, dessen bin ich sicher. Ich, schon alt und durch
Verbitterung verhärtet, bin unter deinen Augen ein neuer Mensch geworden.»
Jesus murmelt: «So sei es.»
Dann sagt er laut: «Komm mit mir in
den Tempel! Ich will das Volk unterweisen.»
Die Vision ist zu Ende.
62
108. JESUS, JOHANNES, SIMON UND
JUDAS GEHEN NACH BETHLEHEM
Schon am frühen Morgen sehe ich
Jesus vor dem Tempeltore, wo er wie immer mit den Jüngern Simon und Judas
zusammentrifft. Mit Jesus ist Johannes. Ich höre, daß er sagt: «Freunde, ich
bitte euch, mit mir durch Judäa zu gehen; wenn es euch nicht zu schwer fällt,
besonders dir, Simon.»
«Warum, Meister?»
«Der Weg in den Bergen von Judäa
ist hart, und noch härter dürfte es dir fallen, gewissen Menschen zu begegnen,
die dir weh getan haben.»
«Was den Weg betrifft, kann ich
dich beruhigen; denn seit du mich geheilt hast, bin ich kräftiger als ein
Junger, und keine Mühe ist mir zuviel, besonders wenn sie für dich ist und ich
sie mit dir auf mich nehme. Was die Begegnung mit Leuten betrifft, die mir
geschadet haben, gibt es im Herzen Simons, seit es dir gehört, keinen Groll
mehr; es ist sogar frei von jeder Bitterkeit über den erlittenen Schmerz. Der
Haß ist abgefallen mit den Schuppen der Krankheit, und ich weiß nicht, glaube
mir, welches das größere Wunder ist, das du an mir vollbracht hast: mein
verwestes Fleisch zu heilen oder mein von Rachsucht entbranntes Herz. Ich meine
nicht zu irren in der Annahme, daß das größere Wunder das letztere war. Eine
geistige Wunde heilt immer schwerer, und du hast sie sofort geheilt. Wahrlich,
das ist ein Wunder! Denn ein Mensch mit schlechten Angewohnheiten kann nicht
plötzlich geheilt werden, wenn nicht du diese Angewohnheiten mit deinem
heiligenden Willen zunichte machst.»
«Du urteilst richtig!»
«Warum handelst du nicht mit allen
so?» fragt Judas etwas beleidigt.
«Aber er tut es doch, Judas. Warum
sprichst du so mit dem Meister? Fühlst du dich in seiner Nähe nicht wie
umgewandelt? Ich war schon ein Jünger des Johannes des Täufers. Doch ganz
umgewandelt wurde ich erst, als Jesus zu mir sagte: "Komm!"» Johannes, der sich
gewöhnlich nicht ins Gespräch einmischt, kann diesmal nicht schweigen. Sanft und
liebevoll hat er eine Hand auf den Arm des Judas gelegt, wie um ihn zu
beruhigen, und spricht zu ihm ruhig und überzeugend. Dann kommt ihm zum
Bewußtsein, daß er mit seiner Rede Jesus zuvorgekommen ist; er wird rot und
sagt: «Verzeihe, Meister! Ich habe an deiner Statt gesprochen... denn ich
wollte... ich wollte, daß Judas dich nicht betrübe.»
«Ja, Johannes. Aber er hat mich
nicht als Jünger betrübt. Dies wird erst geschehen, wenn er in seiner Art zu
denken verharrt. Es betrübt mich nur, wenn ich feststellen muß, daß Satan den
Menschen verdirbt und seinen Geist irreführt. Alle, wißt ihr? Alle habt ihr den
Geist verwirrt durch ihn. Doch der Tag wird kommen, ja er wird kommen, an dem
ihr in euch die Kraft Gottes, seine Gnade spürt: ihr werdet die Weisheit mit
seinem Geiste empfangen. Dann seid ihr imstande, gerecht zu urteilen.»
63
«Und werden wir alle richtig
urteilen?»
«Nein, Judas!»
«Aber sprichst du von uns Jüngern
oder von allen Menschen?»
«Zunächst meine ich euch, dann all
die anderen. Wenn die Zeit gekommen ist, wird der Meister seine Arbeiter
einsetzen und sie in die Welt senden.»
«Tust du dies nicht schon jetzt?»
«Für den Moment benütze ich euch
nur, um zu sagen: "Der Messias ist da. Kommt zu ihm!" Später werde ich euch dazu
fähig machen, in meinem Namen zu predigen und in meinem Namen Wunder zu wirken
...»
«Oh, auch Wunder?»
«Ja, am Leib und an der Seele.»
«Oh, wie wird man uns dann
bewundern!» Judas wiegt sich schon in dieser Vorstellung.
«Wir werden dann nicht mehr mit dem
Meister zusammen sein, und... ich werde immer Angst haben, als Mensch das zu
tun, was Gottes ist», sagt Johannes und betrachtet Jesus gedankenvoll und auch
ein wenig traurig.
«Johannes, wenn der Meister es
erlaubt, möchte ich dir meine Gedanken verraten», sagt Simon.
«Sprich zu Johannes! Ich wünsche,
daß ihr euch gegenseitig beratet.»
«Weißt du schon, daß es ein Rat
ist?»
Jesus lächelt und schweigt.
«So werde ich es dir sagen,
Johannes. Du darfst nicht, wir dürfen keine Angst haben. Wir werden uns auf die
Weisheit des heiligen Meisters stützen und auf sein Versprechen. Wenn er sagt:
"Ich sende euch", dann ist dies ein Zeichen dafür, daß er weiß, daß er uns
senden kann, ohne daß wir ihm oder uns schaden oder der Sache Gottes, die uns
allen teuer wie eine Braut sein muß. Wenn er uns verspricht, unsere geistige
Armseligkeit zu bekleiden mit dem Glanz der Macht, die der Vater ihm für uns
gibt, dürfen wir sicher sein, daß er es tun wird und daß wir die Fähigkeiten
erlangen werden, nicht aus uns, sondern durch seine Barmherzigkeit. Sicher wird
dies alles nur geschehen, wenn wir den Hochmut und die menschlichen Wünsche in
unserem Handeln ausschalten. Ich denke, daß, wenn wir unsere Aufgabe, die
geistiger Natur ist, mit weltlichen Belangen vermischen, die Verheißung Christi
nicht in Erfüllung gehen wird. Nicht weil er unfähig ist, sondern weil wir sein
Wirken erdrosseln mit der Schlinge des Hochmuts. Ich weiß nicht, ob ich mich gut
ausgedrückt habe.»
«Du hast dich sehr gut ausgedrückt.
Ich hatte unrecht. Aber weißt du, ich glaube, daß im Grunde der Wunsch, als
Jünger des Messias bewundert zu werden - als Jünger, die ihm in solch hohem Maße
angehören, daß sie gewürdigt werden zu vollbringen, was er vollbringt - im
Verlangen besteht, die machtvolle Gestalt des Gesalbten bei den Menschen noch
64
machtvoller werden zu lassen. "Lob
sei dem Meister, der solche Jünger hat" möchte ich damit sagen», antwortet
Judas.
«Es ist nicht alles falsch, was du
sagst. Doch sieh, Judas, ich komme von einer Kaste, die verfolgt wird, weil sie
schlecht verstanden hat, was und wie der Messias sein soll. Ja, wenn wir ihn
ersehnt hätten, wie er seinem Wesen nach tatsächlich ist, wären wir nicht
Irrtümern verfallen, die ein Schlag gegen die Wahrheit und eine Auflehnung gegen
das Gesetz Roms bedeuten, wofür wir sowohl von Gott als auch von Rom bestraft
werden. Wir wollten in Christus einen Eroberer und einen Befreier Israels sehen,
einen neuen Makkabäer, größer noch als der große Judas. Und warum? Weil wir
unsere Interessen, das Vaterland und seine Bevölkerung, über die Interessen
Gottes gestellt haben. Oh, auch die Interessen des Vaterlands sind heilig; doch
was sind sie im Vergleich zum ewigen Himmel?
Als ich in den langen Stunden der
Verfolgung und dann in der Abgesondertheit litt; als ich geflohen war und mich
in den Höhlen der wilden Tiere verbarg und mit ihnen Nahrung und Lager teilte,
um der römischen Gewalt und vor allem der Angeberei falscher Freunde zu
entgehen; als ich den Tod erwartend schon den Geruch des Grabes in meiner Höhle
der Aussätzigen um mich spürte, wieviel habe ich da nachgedacht und gesehen. Ich
habe die wahre Gestalt des Messias gesehen: deine, Meister; demütig und gut;
deine, Meister und König des Geistes; deine, o Christus, Sohn des Vaters, der
uns zum Vater führt und nicht in die Paläste aus Staub, nicht zu Göttern des
Schlammes... Du... oh, es fällt mir leicht, dir nachzufolgen, weil - verzeih
meine Kühnheit, die sich gerecht nennt -weil ich dich sehe, wie ich dich gedacht
habe; ich erkenne dich wieder, sofort habe ich dich wiedererkannt. Es ist nicht
ein "Dich-Erkennen", sondern ein "Wiedererkennen" des Einen, den die Seele
bereits kannte...»
«Deswegen habe ich dich berufen...
und deshalb nehme ich dich mit auf diese meine erste Reise durch Judäa. Ich
will, daß du mich vollends wiedererkennst... und ich will, daß auch diejenigen,
welche noch nicht das Alter haben, um durch ernsthafte Betrachtung zur Wahrheit
zu gelangen, erfahren, wie sich die Ankunft ihres Meisters in seiner Zeit
vollzogen hat. Alsdann werdet ihr verstehen. Wir sind schon am Davidsturm. Das
Osttor ist nahe.»
«Gehen wir dort hinaus?»
«Ja, Judas. Wir werden zuerst nach
Bethlehem gehen, dorthin, wo ich geboren wurde. Es ist gut, daß ihr den Ort
kennenlernt... damit ihr den anderen davon sprechen könnt. Auch das gehört zur
Kenntnis des Messias und der Schrift. Ihr werdet die Prophezeiungen nicht als
solche, sondern schon in geschichtlichen Ereignissen wiederfinden. Laßt uns den
Häusern des Herodes entlang gehen!»
«Der alte, lasterhafte Wolf!»
«Richtet nicht! Gott richtet. Laßt
uns diesen Gartenweg einschlagen.
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Unter dem Schatten eines Baumes bei
einem gastlichen Hause wollen wir dann ausruhen, solange die Sonne glüht. Dann
werden wir weiterziehen.»
Die Vision ist zu Ende.
109. JESUS IN BETHLEHEM IM HAUSE
DES LANDWIRTS UND IN DER GROTTE
Eine Straße in der Ebene, steinig,
staubig und von der Sommersonne ganz ausgetrocknet, unter mächtigen Ölbäumen,
die schon winzige Oliven aufweisen. Am Boden, dort wo er nicht betreten wird,
liegt eine kleine Schicht winziger Olivenblütchen, die nach der Befruchtung
abgefallen sind.
Jesus und die drei Jünger gehen
hintereinander auf dem schmalen Streifen, der im Schatten der Ölbäume sein Grün
bewahrt hat und daher auch nicht so staubig ist.
Die Straße macht eine rechtwinklige
Biegung und führt leicht ansteigend zu einer Mulde in der Form eines Hufeisens.
Größere und kleinere Häuser bilden hier eine kleine Ortschaft. Gerade an der
Straßenbiegung steht ein würfelförmiges Gebäude, das von einer niedrigen Kuppel
überhöht ist. Es ist verschlossen und sieht verlassen aus.
«Hier ist das Grabmal Rachels»,
sagt Simon.
«So sind wir also angekommen. Gehen
wir sofort in die Stadt hinein?»
«Nein, Judas. Zuerst werde ich euch
einen Ort zeigen, dann gehen wir in die Stadt, und da es noch hell am Tag ist
und die Nacht sternenklar sein wird, können wir zur Bevölkerung sprechen, wenn
sie uns zuhören will.»
«Warum sollte sie nicht?»
Sie sind am Grabmahl. Es ist uralt,
aber gut erhalten und schön weiß gekalkt.
Jesus bleibt stehen, um an einem
ländlichen Brunnen in der Nähe zu trinken. Eine Frau, die zum Wasserholen
gekommen ist, bietet ihm Wasser an.
Jesus fragt: «Bist du von
Bethlehem?»
«Jawohl. Doch jetzt, zur Zeit der
Ernte, bin ich mit meinem Manne hier auf den Feldern, um die Äcker und den
Obstgarten zu besorgen. Bist du ein Galiläer?»
«Ich bin in Bethlehem geboren, doch
lebe ich in Nazareth in Galiläa.»
«Wurdest du auch verfolgt?»
«Meine Familie; doch warum sagst
du: du auch? Gibt es unter den Bethlehemiten viele Verfolgte?»
«Weißt du dies denn nicht? Wie alt
bist du?»
«Dreißig Jahre.»
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«Dann wurdest du also gerade damals
geboren... oh, was für ein Unglück! Aber warum mußte er hier geboren werden?»
«Wer?»
«Man sagte von ihm, er sei der
Erlöser. Verflucht seien die Dummköpfe, die vom Alkohol betrunken in den Wolken
Engel sahen, im Geblöke und im Muhen Himmelsstimmen hörten und dann noch im
Nebel der Betrunkenheit drei Landstreicher mit den Heiligsten der Erde
verwechselten. Verflucht sie und alle, die ihnen glaubten!»
«Doch mit all deinen Verwünschungen
erklärst du mir nicht, was sich damals zugetragen hat. Warum all die
Verfluchung?»
«Warum? ... Höre, wohin willst du
gehen?»
«Nach Bethlehem, mit meinen
Freunden hier. Ich habe dort zu tun. Ich muß alte Freunde begrüßen und ihnen den
Gruß meiner Mutter bringen. Doch zuvor möchte ich vieles erfahren, denn meine
Familie ist schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Wir verließen die Stadt,
als ich erst einige Monate alt war.»
«Vor dem Unglück also. Höre, wenn
du dich nicht ekelst vor dem Hause eines Bauern, dann komm und teile mit uns
Brot und Salz. Auch deine Gefährten sollen kommen. Dann können wir während des
Nachtmahls sprechen, und ich gebe euch bis morgen Unterkunft. Mein Haus ist
klein, doch über dem Stall ist viel Heu angehäuft. Die Nacht ist warm und hell.
Wenn du meinst, kannst du dort schlafen.»
«Der Herr Israels vergelte dir
deine Gastfreundschaft. Mit Freuden komme ich in dein Haus.»
«Der Pilger bringt Segen. Laßt uns
gehen. Ich muß aber zuvor noch sechs Krüge auf frisch gepflanztes Gemüse
gießen.»
«Ich werde dir dabei helfen.»
«Nein, du bist ein Herr. Dein
Benehmen verrät es mir.»
«Ich bin ein Handwerker, Frau.
Dieser hier ist ein Fischer. Nur die beiden Juden sind von Rang und Vermögen.
Nicht ich.» Er nimmt vom niedrigen Brunnenmäuerchen einen Krug und läßt ihn in
den Brunnen hinunter. Johannes hilft ihm dabei. Auch die anderen wollen etwas
mittun. Sie fragen die Frau: «Wo ist der Garten! Zeige ihn uns, wir bringen dir
das Wasser.»
«Gott möge euch dafür segnen. Die
Nieren schmerzen mich vor Müdigkeit. Kommt...»
Und während Jesus seinen Krug
hochzieht, verschwinden die drei auf einem kleinen Pfad und kommen dann mit zwei
leeren Krügen zurück, füllen diese und gehen wieder weg. Dies tun sie nicht nur
dreimal, sondern mindestens zehnmal. Judas sagt lachend: «Sie kann uns nicht
genug segnen für unsere Hilfe. Wir wollen soviel Wasser auf den Salat gießen,
daß die Erde wenigstens zwei Tage feucht bleibt und die Frau nicht noch mehr
Nierenschmerzen bekommt.» Wie er zum letztenmal zurückkehrt, sagt er: «Meister,
ich glaube, wir haben es schlecht getroffen.»
67
«Wieso, Judas?»
«Weil sie etwas gegen den Messias
hat. Ich habe gesagt: "Nicht fluchen! Weißt du nicht, daß der Messias die größte
Gnade für das Volk Israel ist? Jahwe hatte ihn Jakob verheißen und seitdem allen
Propheten und Gerechten Israels. Und du haßt ihn?" Darauf hat sie geantwortet:
"Nicht ihn, sondern jenen, der von den betrunkenen Hirten und den elenden
Wahrsagern aus dem Orient Messias genannt wurde." Und da du es bist ...»
«Schon gut! Ich weiß, daß ich
gesetzt bin zum Widerspruch vieler. Hast du ihr gesagt, wer ich bin?»
«Nein, ich bin doch nicht dumm. Ich
will deine und unsere Schultern schonen.»
«Du hast gut getan. Nicht wegen der
Schultern, sondern weil ich mich zu erkennen geben möchte, wann ich es für
richtig halte. Laß uns gehen!»
Judas geht voraus bis zum Garten.
Die Frau leert die letzten drei Krüge und bringt die Männer zu einem einfachen
Haus inmitten des Obstgartens.
«Geht hinein, mein Mann ist schon
zu Hause.»
Sie betreten eine niedrige,
verrauchte Küche. «Der Friede sei mit diesem Hause!», grüßt Jesus.
«Wer du auch sein magst, der Segen
Gottes komme auf dich und die Deinen. Tritt ein!» antwortet der Mann und bringt
vorerst ein Gefäß mit Wasser, damit die vier Männer sich erfrischen und reinigen
können. Dann treten sie alle ein und nehmen an einem grob gezimmerten Tisch
Platz.
«Ich danke euch im Namen meiner
Frau. Sie hat mir berichtet. Ich bin noch nie Galiläern begegnet; man hat mir
gesagt, daß sie grob und ungebildet seien. Doch ihr seid gut und höflich
gewesen. Obwohl müde, habt ihr noch viel gearbeitet. Kommt ihr von weit her?»
«Wir kommen von Jerusalem. Diese
hier sind Juden. Ich und der andere sind von Galiläa. Doch glaube mir, Mann,
Gute und Böse gibt es überall.»
«Das stimmt! So treffe ich schon
bei der ersten Begegnung mit einem Galiläer auf einen Guten. Frau, bring das
Essen! Ich habe nur Brot, Gemüse, Oliven und Käse. Ich bin ein Bauer.»
«Auch ich bin kein Herr, sondern
ein Zimmermann.»
«Du, mit solch vornehmem Wesen?»
Die Frau mischt sich ein: «Der Gast
ist aus Bethlehem, ich habe es dir gesagt. Und wenn die Seinen verfolgt wurden,
dann vielleicht, weil sie reich und gelehrt waren, wie es Josua von Ur, Matthias
des Isaak und Levi des Abraham waren... arme Unglückliche!»
«Du bist nicht gefragt worden.
Verzeiht ihr. Die Weiber sind geschwätziger als die Spatzen am Abend.»
«Waren diese Familien aus
Bethlehem?»
68
«Wie, du kennst sie nicht, der du
von Bethlehem bist?»
«Wir mußten flüchten, als ich
wenige Monate alt war'»
Die Frau, die wirklich geschwätzig
zu sein scheint, fängt nun wieder an: «Er ist vor dem großen Morden
weggegangen.»
«Das sieht man, sonst wäre er nicht
mehr auf der Welt. Bist du denn nachher nicht mehr zurückgekehrt?»
«Nein.»
«Welch großes Unglück! Nur noch
wenige wirst du antreffen und grüßen können. Viele wurden getötet, viele konnten
fliehen, und viele sind noch vermißt. Man hat nie erfahren, ob sie in der Wüste
umgekommen oder im Gefängnis umgebracht worden sind zur Strafe für ihre
Auflehnung. Aber war das überhaupt ein Aufstand? Wer hätte ruhig zusehen können,
wie so viele Unschuldige niedergemetzelt wurden? Doch es ist nicht gerecht, daß
Levi und Elias noch am Leben sind, während so viele Unschuldige ihr Leben lassen
mußten.»
«Wer sind die beiden und was tun
sie?»
«Du hast doch bestimmt vom
Kindermord des Herodes gehört! Mehr als tausend Kinder in der Stadt und weitere
tausend in der Umgebung. (Was die unschuldigen Kinder im Gemetzel des Herodes
betrifft, beträgt die genaue Zahl zweiunddreißig. In der Stadt Bethlehem selbst
wurden achtzehn und in der näheren Umgebung vierzehn getötet. Unter den
Getöteten waren auch sechs Mädchen, die nicht als solche von den Häschern
erkannt wurden, da Mädchen und Knaben auf gleiche Art gekleidet waren. Auch
geschah alles im Dunkel der Nacht und wurde sehr rasch vollzogen. Wie es immer
vorkommt, übertreibt auch der Bauer hier und entstellt den wahren Sachverhalt.
Auf diese Weise sind viele falsche Legenden entstanden und haben die Wahrheit
verdunkelt.) Alle waren Knaben, fast alle, denn bei der Hast und im Dunkel und
der Verwirrung ergriffen die Grausamen in den überfallenen Häusern auch Mädchen.
Sie rissen die Kinder aus den Wiegen, aus den Betten der Mütter und durchbohrten
sie wie säugende Gazellen, die der Bogenschütze trifft. Und warum dies alles?
Nur weil ein Häuflein Hirten, die, um die eisige Kälte der Nacht zu ertragen, in
großen Zügen Most getrunken hatten, im Delirium erzählten, Engel gesehen, Lieder
gehört und Botschaften vernommen zu haben, und uns in Bethlehem zuriefen: "Kommt
und betet an! Der Messias ist geboren." Stell dir vor: Der Messias in einer
Höhle!
ich muß, in Wahrheit, sagen: wir
waren alle betrunken, auch ich, der ich damals noch ein Jüngling war; auch meine
Frau, die damals nur einige Jahre zählte; denn wir glaubten alle, und in einer
armen galiläischen Frau wollten wir die Jungfrau erkennen, die geboren hatte und
von der die Propheten sprechen. Ein einfacher Galiläer war bei ihr! Bestimmt ihr
Gatte. Wie konnte sie als seine Gattin Jungfrau sein? Und trotzdem! Wir glaubten
und brachten Geschenke, beteten an und boten unsere Häuser
69
als Herberge an... Oh, sie spielte
ihre Rolle gut! Arme Anna! Sie hat ihren Besitz und das Leben verloren und auch
die Kinder ihrer Tochter, die als einzige sich retten konnte, weil sie mit einem
Händler von Jerusalem verheiratet war. Anna verlor ihr Hab und Gut, ihr Haus
wurde eingeäschert und die Umgebung auf Befehl des Herodes verwüstet. Nun ist es
ein verwildertes Feld, auf dem das Vieh weidet.»
«Alles durch die Schuld der
Hirten?»
«Nein, auch der drei Zauberer, die
aus Reichen Satans gekommen sind. Vielleicht waren die drei auch
Teufelsgesellen. Und wir Dummköpfe erachteten ihr Kommen für eine ganz besondere
Ehre! Der arme Vorsteher der Synagoge! Wir töteten ihn, weil er geschworen
hatte, daß die Prophezeiungen ein Siegel der Wahrheit auf die Worte der Hirten
und der Magier setzten.»
«So ist also alles die Schuld der
Hirten und der Weisen?»
«Nein, Galiläer, auch unsere; auch
unserer Leichtgläubigkeit. Ja, wir erwarteten schon seit langem den Messias.
Jahrhunderte des Wartens! Und es gab immer wieder Enttäuschungen in den letzten
Zeiten wegen irgendeines falschen Messias. Einer war ein Galiläer wie du, ein
anderer hieß Theudas (Apg 5,36-37). Lügner waren sie! Sie, der Messias? Es waren
nur Abenteurer auf der Jagd nach Glück. Diese Lektion hätte uns wachsam machen
müssen. Aber ...»
«Warum aber verflucht ihr alle
Hirten und die Weisen? Wenn ihr euch selbst als Dummköpfe bezeichnet, dann
solltet ihr euch gleichfalls selbst anklagen. Denn der Fluch ist im Gesetz der
Liebe nicht erlaubt. Fluch zieht Fluch nach sich. Seid ihr denn sicher, daß ihr
richtig gehandelt habt? Könnte es nicht wahr sein, daß die Hirten und Weisen die
Wahrheit gesagt haben, die ihnen von Gott enthüllt worden war? Warum nehmt ihr
an, daß sie Lügner waren?»
«Weil die Zeit der Prophezeiungen
nicht erfüllt war. Nachher haben wir nachgedacht... nachdem uns das Blut, das
die Brunnentröge und Bäche rötete, die Augen des Denkens geöffnet hatte.»
«Hätte der Allerhöchste aus
übervoller Liebe zu seinem Volk die Ankunft des Erlösers nicht vorverlegen
können? Worauf gründeten die Weisen ihre Behauptung? Du hast gesagt, daß sie vom
Orient gekommen sind...»
«Auf ihre Berechnungen über einen
neuen Stern.»
«Steht nicht geschrieben: "Ein
Stern geht auf über Jakob, ein Zepter erhebt sich aus Israel"? Ist Jakob nicht
der große Patriarch, der auf diesem Boden von Bethlehem Halt gemacht hat, an
diesem Ort, der ihm so teuer war wie sein Augapfel, weil hier seine geliebte
Rachel starb? ...
Und hat nicht der Mund des
Propheten gesprochen: "Ein Reis wächst aus Isaias Stamm, und eine Blume erblüht
aus seiner Wurzel"? Isai, der Vater Davids, wurde hier geboren. Das Reis aus dem
Stamme, aus der
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Wurzel gerissen durch tyrannische
Anmaßung, ist dies nicht die Jungfrau, die den Sohn gebären wird, den sie nicht
durch einen Mann empfangen hat, sondern durch göttlichen Willen, da sie sonst
nicht mehr Jungfrau wäre? Daher wird er der "Emmanuel" sein, der Sohn Gottes und
somit Gott selbst und der, welcher Gott zum Volke Gottes bringt, wie sein Name
besagt.
Und sagen die Prophezeiungen nicht,
daß er den Heiden als "ein großes Licht" kundgetan werden soll? Könnte der
Stern, den die Weisen gesehen haben, nicht der Stern Jakobs gewesen sein, das
große Licht der beiden Weissagungen des Bilean und des Isaias?
Und steht in den Weissagungen nicht
auch der Kindermord von Bethlehem, befohlen von Herodes? "Einen Schrei vernahm
man in der Höhe... Es ist Rachel, die um ihre Kinder weint." Es war
vorhergesagt, daß Wehklagen die Gebeine Rachels in ihrem Grabe in Ephrata
erschüttern würde, wenn das heilige Volk durch seinen Erlöser den Lohn empfangen
werde. Tränen, die sich in himmlische Freuden verwandeln werden, wie der
Regenbogen, der sich mit den letzten Tropfen des Gewitters bildet und somit
sagt: "Jetzt kann es wieder heiter werden."»
«Du bist sehr gelehrt. Bist du ein
Rabbi ?»
«Ich bin es.»
«Und ich spüre es. Es ist Licht und
Wahrheit in deinen Worten. Doch... zu viele Wunden bluten noch in Bethlehem
wegen des wahren oder falschen Messias. Ich würde ihm niemals raten, hierher zu
kommen. Das Volk würde ihn ablehnen, wie man einen Stiefsohn zurückweist, durch
dessen Verschulden die eigenen Kinder umgekommen sind. Doch wenn er es auch
gewesen ist, dann wird er mit den anderen umgekommen sein.»
«Wo wohnen Levi und Elias jetzt?»
«Warum? Kennst du sie?» Der Mann
wird mißtrauisch.
«Ich kenne sie nicht. Ihre
Gesichter sind mir unbekannt. Doch sie sind unglücklich, und ich habe immer
Erbarmen mit den Unglücklichen. Ich möchte sie besuchen.»
«Du wärest der erste nach dreißig
Jahren. Sie sind immer noch Hirten und dienen immer noch einem reichen
Herodianer von Jerusalem, der sich viele Güter der Ermordeten angeeignet hat...
Einer profitiert immer. Du wirst sie bei den Herden finden auf den Hügeln, die
am Weg nach Hebron liegen. Doch einen Rat will ich dir geben: laß dich nicht von
Leuten aus Bethlehem sehen, wenn du mit den Hirten sprichst. Es würde dir
schaden. Wir dulden sie nur, weil es den Herodianer gibt, sonst ...»
«Oh, der Haß! Warum hassen?»
«Weil er berechtigt ist. Sie haben
uns Böses angetan.»
«Sie glaubten, recht zu handeln.»
«Sie haben schlecht gehandelt. Wir
hätten sie umbringen sollen, weil
71
sie mit ihrer Dummheit den Tod so
vieler verursacht haben. Doch anfangs waren wir unschlüssig... und nachher war
der Herodianer da.»
«Wenn er nicht wäre, hättet ihr sie
aus Rache ermordet?»
«Auch jetzt noch würden wir sie
töten, wenn wir nicht Angst vor ihrem Arbeitgeber hätten.»
«Mann, ich sage dir, hasse nicht!
Wünsche nicht, Böses zu tun! Hier gibt es keine Schuld. Doch, selbst wenn es
eine gäbe, müßtest du verzeihen. Im Namen Gottes mußt du verzeihen. Sage es auch
den anderen in Bethlehem! Wenn der Haß von euren Herzen gefallen ist, wird der
Messias kommen. Dann werdet ihr ihn erkennen, denn er lebt. Er war schon auf
dieser Welt, als der Kindermord geschah. Ich sage es euch! Nicht die Hirten und
Weisen sind schuldig, sondern der Satan hat den Mord verursacht. Der Messias ist
euch hier geboren worden und ist gekommen, um dem Land seiner Väter das Licht zu
bringen. Als Sohn der jungfräulichen Mutter aus dem Geschlechte Davids erschloß
er auf den Ruinen des Hauses Davids der Welt den Strom der ewigen Gnaden und das
ewige Leben.»
«Weg, geh weg von hier! Du
Nachfolger des falschen Messias, der falsch gewesen sein muß, da er uns, hier in
Bethlehem, nur Unheil gebracht hat. Du verteidigst ihn und deshalb ...»
«Schweige, Mann! Ich bin aus Judäa
und habe einflußreiche Freunde. Ich könnte dafür sorgen, daß du die Beleidigung
bereust!» Mit diesen Worten springt Judas auf, packt den Bauern an seinem Gewand
und schüttelt ihn wütend.
«Nein, nein! Weg von hier! Ich will
keine Unannehmlichkeiten, weder mit den Bethlehemiten noch mit Rom und Herodes.
Schert euch fort, Verfluchte, wenn ihr nicht ein Andenken von mir haben wollt!
Fort! ...»
«Laß uns gehen, Judas! Keine
Aufregung. Lassen wir ihn in seinem Wahn. Gott kehrt nicht dort ein, wo der Haß
regiert. Laßt uns gehen!»
«Ja, laßt uns gehen; aber man wird
es mir zahlen!»
«Nein, Judas, nein! Sprich nicht
so! Sie sind blind... Auf meinem Wege werden sie zahlreich sein.»
Sie treten aus dem Haus und folgen
Simon und Johannes, die mit der Frau hinter dem Stall plaudern.
«Verzeih meinem Mann, Herr! Ich
dachte nicht, ein solches Unheil anzurichten... Hier, nimm sie, du kannst sie
morgen früh essen. Sie sind ganz frisch. Ich kann dir leider nichts anderes
geben... verzeih! (Sie überreicht Jesus einige Eier.) Doch wo werdet ihr nun
schlafen?»
«Mach dir keine Sorgen! Ich weiß,
wohin ich gehen kann. Geh im Frieden, um deiner Güte willen! Lebe wohl!»
Sie gehen einige Meter schweigend,
dann explodiert Judas: «Warum läßt du dich nicht anbeten? Warum wirfst du diesen
Fluchenden nicht nieder zu Boden, weil er gegen dich, den Messias, gefehlt hat?
Oh, ich
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hätte es getan! Die Samaritaner
müßten durch Wunder eingeäschert werden. Nur Wunder vermögen sie zu
erschüttern!»
«Oh, wie oft werde ich das noch
hören! Sollte ich sie verbrennen wegen jeder Sünde gegen mich? Nein, Judas. Ich
bin gekommen, um neu aufzubauen, nicht um zu zerstören.»
«Schon, doch inzwischen bringen
dich die anderen um. Jesus entgegnet nichts.
Simon fragt: «Wohin gehen wir nun,
Meister?»
«Kommt mit mir! Ich kenne einen
Ort.»
«Aber wenn du nie hier gewesen bist
nach der Flucht, wie kannst du ihn dann erkennen?» fragt Judas erstaunt.
«Ich kenne ihn! Er ist nicht schön.
Ich war schon einmal dort. Er ist nicht direkt in Bethlehem, sondern etwas
außerhalb. Laßt uns hier abbiegen!»
Jesus geht voraus, und ihm folgen
Simon, Judas und zuletzt Johannes...
Im Schweigen, das nur vom Knirschen
der Sandalen auf dem Kies des Weges gestört wird, hört man ein Schluchzen.
«Wer weint da?» fragt Jesus, sich
umwendend.
Judas sagt: «Es ist Johannes. Er
hat Angst gehabt.»
«Nein, nicht Angst. Ich hatte schon
die Hand am Messer, das im Gürtel steckt; doch dann habe ich mich an dein "nicht
töten, verzeihen" erinnert... du sagst es immer.»
«Warum weinst du dann?» fragt
Judas.
«Ich leide, weil ich sehen muß, daß
die Welt Jesus ablehnt. Sie kennt ihn nicht und will ihn nicht kennen. Oh, das
ist ein großer Schmerz! So als würden sie mein Herz mit glühenden Dornen
durchwühlen. Es tut mir so weh, als hätte ich mitansehen müssen, wie meine
Mutter niedergetreten und meinem Vater ins Gesicht gespien wird... Mehr noch...
als müßte ich mitansehen, wie die römischen Pferde in der Bundeslade gefüttert
werden und im Allerheiligsten sich ausruhen.»
«Weine nicht, mein Johannes! Dieses
Mal und noch unendlich viele Male wirst du dir sagen müssen: "Er war das Licht,
das kam, um in der Finsternis zu leuchten, doch die Finsternis hat es nicht
begriffen. Er kam in die Welt, die durch ihn erschaffen worden war, doch die
Welt hat ihn nicht erkannt. Er kam in seine Stadt, in sein Haus, und die
Seinigen nahmen ihn nicht auf." Oh, weine nicht so!»
«Das wird in Galiläa nicht
vorkommen», seufzt Johannes.
«Auch nicht in Judäa», entgegnet
Judas. «Jerusalem ist die Hauptstadt, und vor drei Tagen hat sie dich umjubelt,
dich, den Messias. Hier... dieser Ort mit ungehobelten Hirten, Bauern und
Gärtnern kann nicht als Maßstab genommen werden. Auch die Galiläer sind sicher
nicht alle gut. Übrigens, woher war denn Judas, der falsche Messias? Man sagte
...»
73
«Genug, Judas! Es ist nicht wert,
sich deswegen aufzuregen. Ich bin ruhig. Seid auch ihr es! Judas, komm hierher!
Ich muß mit dir reden.»
Judas holt Jesus ein. «Nimm hier
diesen Beutel! Du sollst morgen einkaufen gehen.»
«Und jetzt, wo werden wir nun
übernachten?»
Jesus lächelt und schweigt. Die
Nacht ist hereingebrochen. Der Mond umkleidet sich mit hellem Schein. Die
Nachtigallen schlagen in den Ölbäumen. Der Bach gleicht einem silbrigen,
singenden Bande. Von den abgemähten Wiesen steigt ein warmer, ich möchte fast
sagen betäubender Duft auf. Man hört Tiere muhen und blöken. Und am Himmel
Sterne, Sterne, Sterne, eine Saat von Sternen, wie hingestreut auf das
Himmelszelt - ein Baldachin voller funkelnder Edelsteine über den Hügeln von
Bethlehem.
«Aber hier... sind nur Ruinen.
Wohin führst du uns? Die Stadt ist doch dort!»
«Ich weiß es. Komm! Folge dem
Bache, hinter mir, noch einige Schritte, dann will ich dir die Unterkunft des
Königs von Israel anbieten.»
Judas zuckt die Schultern und
schweigt.
Noch einige Schritte. Dann
zerfallene Häuser. Überbleibsel von Wohnungen... Ein kleiner Durchgang zwischen
zwei Mauern...
Jesus sagt: «Habt ihr den Zunder?
Zündet an!»
Simon zieht eine kleine Lampe aus
seinem Sack, zündet sie an und reicht sie Jesus.
«Tretet ein!» sagt der Meister und
hält das Lämpchen hoch. «Tretet ein! Dies hier ist die Geburtskammer des Königs
von Israel.»
«Du machst Scherze, Meister. Das
ist eine schmutzige Höhle. Ich kann hier nicht bleiben. Mir ekelt davor; so
feucht, kalt, stinkend, voller Skorpione und vielleicht auch Schlangen ...»
«Und doch, Freunde: hier wurde von
der Jungfrau in der Nacht des 25. des Monats Encenie Jesus Christus, der
Emmanuel, das Wort Gottes, geboren, das aus Liebe zu den Menschen Fleisch
geworden ist. ICH, der ich zu euch spreche! Auch damals wie heute war die Welt
taub für die Stimmen des Himmels, die zu den Herzen sprachen... Sie haben die
Mutter weggewiesen... Und hier... nein, Judas, wende deinen Blick nicht mit
Widerwillen von diesen Fledermäusen, diesen grünen Eidechsen, diesen
Spinngeweben ab; hebe nicht dein reich gesäumtes Gewand aus Ekel und Furcht, es
könnte den von tierischen Exkrementen verunreinigten Boden berühren. Diese
Fledermäuse sind die Kinder der Kinder jener, die die ersten sich bewegenden
"Spielzeuge" vor den Augen des Kindes waren, dem die Engel das «Gloria» sangen,
das von den Hirten gehört wurde. Sie waren nicht betrunken, sondern voller
ekstatischer Freude, wahrer Freude... Diese Eidechsen mit ihrem schillernden
Smaragdgrün waren die ersten Farben, die meine Augensterne wahrnahmen, die
ersten nach dem zarten
74
Weiß des mütterlichen Kleides und
des Antlitzes. Die Spinngewebe waren der Baldachin meiner königlichen Wiege.
Dieser Boden... du darfst ohne Abscheu auf ihm stehen... ist zwar bedeckt mit
Kot... aber geheiligt durch ihre Füße... die Füße der Heiligen, der großen
Heiligen, der Reinsten, der Unbefleckten, der Gottesgebärerin, die gebar, weil
sie erwählt worden war, weil es der Wille Gottes und nicht des Mannes war, die
durch Gott Mutter wurde. Sie, die Makellose, hat diesen Boden mit ihren Füßen
berührt. Du kannst auch darauf gehen... und Gott möge es fügen, daß durch deine
Fußsohlen die von ihr ausgegangene Reinheit bis in dein Herz emporsteige.»
Simon ist in die Knie gesunken.
Johannes geht zur Futterkrippe und legt sein Haupt weinend in sie. Judas ist
entsetzt, doch dann siegt die Rührung, und ohne auf sein schönes Gewand zu
achten, wirft er sich auf die Erde, nimmt den Saum des Kleides Jesu und küßt ihn
und schlägt sich an die Brust mit den Worten: «Oh, guter Meister, hab Erbarmen
mit der Blindheit deines Dieners! Mein Hochmut schwindet dahin... Ich sehe dich,
wie du bist. Nicht der König, so wie ich ihn mir vorstellte, sondern der ewige
Fürst, der Vater der zukünftigen Zeit, der König des Friedens. Erbarmen, mein
Herr und mein Gott... Erbarmen!»
«Ja, mein ganzes Erbarmen! Nun
werden wir schlafen an der Stelle, wo das Kind und die Mutter geschlafen haben.
Dort hat Johannes schon den Platz der anbetenden Mutter eingenommen... hier, wo
Simon steht, stand mein Nährvater oder wenn ihr wollt, werde ich euch von jener
Nacht erzählen...»
«O ja, Meister! Erzähle uns von
deinem Heranwachsen! Damit es die Lichtperle in unseren Herzen werde und damit
wir es der Welt weitererzählen können.»
«Und um deine Mutter zu ehren,
nicht nur als deine Mutter, sondern auch als die Jungfrau!»
Zuerst hat Judas gesprochen, dann
Simon und schließlich Johannes, der bei der Krippe weint und lächelt.
«Kommt hierher aufs Heu! Hört zu
...» Und Jesus erzählt von der Nacht seiner Geburt. «Als für die Mutter die Zeit
gekommen war, da sie das Kind gebären sollte, wurde auf Anordnung des Caesar
Augustus vom kaiserlichen Delegaten Publius Sulpitius Quirinius - während
Sentius Saturninus Statthalter von Palästina war - bekanntgemacht, daß alle
Bewohner des Kaiserreiches gezählt werden sollten. Wer nicht Sklave war, mußte
sich an seinen Ursprungsort begeben und sich in die Listen des Imperiums
eintragen lassen. Joseph, der Bräutigam der Mutter, war aus dem Geschlechte
Davids wie auch die Mutter. Dem Befehl gehorchend, verließen sie Nazareth und
begaben sich nach Bethlehem, der Wiege des königlichen Geschlechtes. Das Wetter
war kalt ...»
Jesus erzählt und erzählt... und so
endet alles.
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110. JESUS IN DER HERBERGE VON
BETHLEHEM - ER PREDIGT AUF DEN TRÜMMERN VON ANNAS HAUS
Die ersten Stunden eines
lichterfüllten Sommermorgens. Der Himmel färbt sich mit dem Rosa einiger zarter
Wölkchen, die wie Wattebäuschchen auf einem tiefblauen Satinteppich liegen. In
der Luft erklingt das Singen der Vögel, die schon vom Lichte berauscht sind...
Spatzen, Amseln, Rotkehlchen zirpen, zwitschern, schwatzen und fliegen hin und
her. Der eine mit einem Strohhalm im Schnäbelchen, der andere mit einem kleinen
Moospolster, wieder ein anderer mit einem Bündelchen Heu, um das Nest recht
schön und warm zu machen. Schwalben stürzen sich vom Himmel auf den kleinen
Bach, um sich die schneeweiße Brust mit den rotfarbenen Rändern in den Wellen zu
waschen; und nach der Erfrischung schnappen sie eine verschlafene, an einem
Stengel hängende Mücke und schwingen sich damit wieder in die Lüfte, metallen
schimmernd und voller Jubel zwitschernd.
Zwei Bachstelzen in grauem
Seidengefieder schreiten anmutig wie zwei Dämchen am Ufer des Baches dahin und
achten dabei sehr auf den hochgestellten Schwanz mit dem schwarzen Samt. Sie
spiegeln sich im Wasser, finden sich schön, nehmen die Promenade wieder auf,
werden von einer Amsel verspottet, die ihnen mit dem langen gelben Schnabel wie
ein richtiger Spitzbub des Waldes nachpfeift. In einem wilden Apfelbaum, der
sich einsam über die Ruinen erhebt, ruft eine Lerche unaufhörlich nach dem
Gefährten und gibt erst Ruhe, als dieser mit einem dicken Wurm daherkommt, der
sich im schmalen Schnabel windet. Zwei Turmtauben, die wahrscheinlich aus einem
städtischen Taubenschlag entflohen sind und die freie Wohnung in den Ruinen
vorgezogen haben, machen sich gegenseitig den Hof, der Täuberich angreifend, die
Taube schamhaft gurrend.
Jesus hat die Hände über der Brust
gekreuzt, sieht all diesen heiteren Tierchen zu und lächelt.
«Bist du schon bereit, Meister?»
fragt Simon hinter seinem Rücken.
«Ja, bereit. Schlafen denn die
anderen noch?»
«Ja, noch immer.»
«Sie sind jung... Ich habe mich in
diesem Bach gewaschen... Ein frisches Wasser, das den Geist von den nächtlichen
Nebeln befreit.»
«Nun will ich gehen.»
Während Simon, nur mit einer kurzen
Tunika bekleidet, sich waschen geht und sich dann wieder anzieht, erscheinen
Judas und Johannes.
«Gott zum Gruß! Meister, sind wir
zu spät dran?»
«Nein. Der Tag beginnt gerade. Doch
nun beeilt euch, und dann gehen wir!»
Die beiden waschen sich und legen
dann Tunika und Mantel an.
Bevor Jesus sich zum Gehen
anschickt, pflückt er noch einige Blümchen,
76
die in den Mauerritzen gewachsen
sind, und legt sie in eine kleine Holzschachtel, in welcher schon andere
Kleinigkeiten liegen, die ich nicht unterscheiden kann. Er erklärt: «Das bringe
ich der Mutter mit. Sie wird sich darüber freuen... Laßt uns gehen!»
«Wohin, Meister?»
«Nach Bethlehem!»
«Doch noch? Mir scheint, dort ist
die Luft für uns nicht gut ...»
«Gehen wir dennoch! Gehen wir. Ich
möchte euch zeigen, wo die Weisen damals abgestiegen sind, und wo ich gewesen
bin.»
«Dann höre! Entschuldige, Meister,
aber laß mich etwas sagen! Erlaube, daß ich mich in Bethlehem und in der
Herberge um alles kümmere. Euch aus Galiläa bringt man in Judäa nicht viel Liebe
entgegen und hier noch weniger als anderswo. Laß es uns so machen: Du und
Johannes, ihr zeigt euch schon in euren Kleidern als Galiläer. Sie sind zu
einfach. Und erst die Haare! Warum versteift ihr euch, sie so lang zu tragen?
Ich und Simon werden unsere Mäntel mit euren vertauschen. Simon gibt seinen
Johannes, und ich meinen dem Meister. So... seht ihr? Nun gleicht ihr schon ein
wenig Judäern. Und nun noch dieses.» Er nimmt seine Kopfbedeckung, ein Tuch mit
gelben, braunen, roten und grünen Streifen, die sich folgen wie beim Mantel und
von einer gelben Kordel zusammengehalten werden; er befestigt sie am Haupte
Jesu, zieht den Stoff über seine Wangen herunter und verbirgt darunter die
langen blonden Haare. Johannes nimmt den dunkelgrünen Mantel mit der
Kopfbedeckung von Simon. «Oh, jetzt geht es besser. Ich habe einen praktischen
Sinn.»
«Ja, Judas. Du hast einen
praktischen Sinn, das ist wahr. Achte jedoch darauf, daß dieser praktische Sinn
den anderen nicht übertreffe!»
«Welchen, Meister?»
«Den Sinn für die spirituellen
Dinge!»
«O nein! Doch in bestimmten Fällen
ist es gut, als Politiker statt Botschafter auftreten zu können. Und höre, sei
so gut... es ist zu deinem Wohl. Stelle mich nicht als Lügner hin, wenn ich
Dinge sage, die nicht ganz der Wahrheit entsprechen.»
«Was willst du damit sagen? Warum
lügen? Ich bin die Wahrheit und will keine Lügen, weder in mir, noch um mich
herum.»
«Oh, ich werde nur halbe Lügen
sagen. Ich werde sagen, daß wir von weit entfernten Orten zurückkehren,
vielleicht aus Ägypten, und daß wir uns nach lieben Bekannten erkundigen
möchten. Ich werde sagen, daß wir aus dem Exil heimkehrende Juden sind. Im
Grunde genommen ist ja etwas Wahres daran... und dann spreche ja ich... eine
Lüge mehr oder weniger...»
«Aber Judas, warum willst du
betrügen?»
«Laß es gut sein, Meister! Die Welt
wird regiert mit Täuschungen. Manchmal sind sie gut und notwendig. Doch, um dich
zufriedenzustellen,
77
werde ich nur sagen, daß wir von
weither gekommen und Juden sind. Dies ist doch zu dreiviertel wahr? Und du
Johannes, sprichst am besten nicht. Du würdest dich verraten.»
«Ich werde schweigen.»
«Wenn das alles gut geht, werden
wir das übrige sagen. Doch ich habe wenig Hoffnung; ich merke alles, denn ich
bin schlau.»
«Ich sehe es, Judas; doch mir wäre
es lieber, wenn du einfacher wärest.»
«Das hilft wenig. In deiner Gruppe
werde ich der Mann der schwierigen Aufgaben sein. Laß mich nur machen!»
Jesus ist nicht einverstanden, doch
gibt er nach.
Sie gehen um die Ruinen herum und
dann an einem Mauerwerk ohne Fenster entlang, hinter dem man Muhen, Gewieher,
Geblöke und das merkwürdige Gegurgel der Kamele oder Dromedare hört. Nun biegen
sie um die Ecke des Mauerwerks und sind auf dem Marktplatz von Bethlehem. In der
Mitte des Platzes befindet sich das Brunnenbecken immer noch in seiner
zierlichen Form; es scheint aber auf der der Herberge gegenüberliegenden Seite
etwas verändert worden zu sein. Dort wo das kleine Haus stand, das ich im Geiste
immer noch unter dem Schein des großen Sternes silbern glänzen sehe, ist nun ein
Trümmerhaufen. Nur die Treppe steht noch mit dem kleinen Balkon. Jesus schaut
sich um und seufzt. Der Platz ist voller Menschen, die sich um die Händler mit
ihren Lebensmitteln, Gebrauchsgegenständen, Stoffen usw. scharen; die Waren sind
auf Bänken ausgebreitet oder in Körben, die auf dem Boden stehen. Die Händler
sitzen inmitten ihrer Ware, wenn sie nicht gerade schreiend und gestikulierend
vor einem Käufer stehen, um mit ihm zu verhandeln.
«Es ist Markttag», sagt Simon.
Die Türe - besser gesagt das Tor -
der Herberge ist weit geöffnet, und eine Reihe beladener Eselchen kommt gerade
aus dem Hof heraus.
Judas geht als erster hinein. Er
schaut sich um und hält dann herrisch einen kleinen, schmutzigen Stallburschen
an, der nur mit einem ärmellosen, bis zu den Knien reichenden Unterkleid angetan
ist.
«Knecht!» schreit er ihn an. «Ruf
deinen Herrn! Aber sofort! Mach schnell, ich bin nicht gewohnt zu warten!»
Der Junge eilt davon, einen
Reisigbesen hinter sich herziehend.
«Aber Judas! Was ist das für eine
Art!»
«Beruhige dich, Meister! Laß mich
nur machen! Sie müssen uns für reich und Städter halten.»
Der Hausherr kommt keuchend und
unter vielen Verbeugungen heran; er buckelt besonders vor Judas, der sehr
vornehm im dunkelroten Mantel Jesu aussieht, den er über sein goldgelbes Kleid
mit Gürtel und Fransen gezogen hat.
«Mann, wir kommen von sehr weit
her. Wir sind Judäer einer asiatischen
78
Gemeinde und wurden verfolgt.
Dieser hier ist in Bethlehem geboren und möchte nun seine alten Freunde
besuchen. Wir begleiten ihn. Wir kommen von Jerusalem, wo wir den Allerhöchsten
in seinem Tempel angebetet haben. Kannst du uns Informationen geben?»
«Herr, ich stehe dir zu Diensten...
befiehl!»
«Wir möchten über viele Bescheid
wissen... besonders über Anna, die Frau, deren Haus deiner Herberge
gegenüberstand.»
«Ah, die Unglückliche! Anna könnt
ihr nur noch in Abrahams Schoß suchen, und auch ihre Kinder.»
«Tot? Und warum?»
«Habt ihr nichts vom Morden des
Herodes gehört? Alle Welt sprach davon, und auch Caesar hat ihn bezeichnet als
das "Schwein, das sich von Blut ernährt". Ach, was habe ich gesagt! Zeigt mich
bitte nicht an! Bist du wirklich Jude?»
«Hier das Zeichen meines Stammes.
Also? Sprich!»
«Anna wurde von den Soldaten des
Herodes mit all ihren Kindern bis auf eines ermordet.»
«Aber warum denn? Sie war so gut!»
«Kanntest du sie?»
«Sehr gut», lügt Judas unverschämt.
«Sie wurde getötet, weil sie jene
aufgenommen hatte, die sich Mutter und Vater des Messias nannten. Komm hierher,
in diesen Raum. Die Wände haben Ohren, und von diesen Dingen sprechen ist
gefährlich.»
Sie betreten einen kleinen,
dunklen, niedrigen Raum und setzen sich auf einen niedrigen Diwan.
«Hier... ich hatte eine gute Nase.
Ich bin nicht umsonst ein Wirt. Ich bin hier geboren, als Sohn von Wirtssöhnen.
Ich habe die Schlauheit im Blute. Ich habe die Leute nicht gewollt. Ich hätte
vielleicht ein Loch für sie finden können. Doch es waren Galiläer, arme,
unbekannte Galiläer! ... Nein, Ezechias läßt sich nicht hereinlegen. Und dann
... ich spürte, daß sie so ganz anders waren... diese Frau... mit den Augen ...
etwas ganz Eigenartiges... nein, nein, sie mußte den Dämon in sich haben und mit
ihm sprechen... Er muß sie hierhergebracht haben; nicht zu mir, aber in diese
Stadt. Anna war unschuldig wie ein Lamm; sie hat sie dann einige Tage später
aufgenommen, mit dem Kinde. Sie sagten von ihm, daß es der Messias sei. Oh,
wieviel Denare habe ich in diesen Tagen eingenommen! Nicht nur wegen der
Einschreibung! Es kamen auch solche, die sich nicht registrieren lassen mußten.
Sie kamen sogar über das Meer und aus Ägypten, um die Leute zu sehen...
monatelang! Einen reichen Verdienst habe ich gehabt... Zuletzt sind noch drei
Könige, drei Magier gekommen, drei Mächtige, was weiß ich. Ein Hofstaat, der
kein Ende nahm! Sie belegten alle meine Ställe und haben in Gold dafür bezahlt,
im voraus und genug für einen ganzen Monat... und sind dann schon anderntags
wieder fortgezogen
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und haben alles hier gelassen! Wenn
ich an die Geschenke zurückdenke... sogar für die Stallburschen, für die Frauen
und für mich. Oh, ich kann mich über den Messias, ob es nun der wahre oder der
falsche war, nicht beklagen. Ich habe durch ihn Säcke voll Geld verdient.
Unglück hat es mir nicht gebracht, auch keine Toten; denn ich hatte erst kurz
zuvor geheiratet und deshalb... Doch die anderen!»
«Wir möchten die Orte der Gemetzel
sehen.»
«Die Orte? Aber in allen Häusern
haben sie stattgefunden. Meilenweit um Bethlehem herum hat es Tote gegeben!
Kommt mit mir!»
Sie gehen eine Treppe hinauf und
betreten eine Dachterrasse. Von oben sieht man viele Äcker und ganz Bethlehem,
das wie ein geöffneter Fächer auf seinen Hügeln liegt.
«Seht ihr die Ruinen? Die Häuser
wurden angezündet, weil die Väter ihre Söhne mit den Waffen verteidigten. Seht
ihr dort den mit Efeu bewachsenen Brunnen? Das ist der Rest der Synagoge. Sie
wurde mit dem Vorsteher verbrannt, weil er das Kind den Messias nannte;
Überlebende haben sie in Raserei wegen des Mordes an ihren Kindern in Brand
gesteckt. Wir hatten nachher noch lange viel Ungemach... Und dort, dort und
dort... seht ihr die Gräber? Es sind die Gräber der Opfer. Sie sehen mit ihrem
Weiß wie im Grünen verlorene Schafe aus. Lauter Unschuldige, und ihre Väter und
Mütter! Seht ihr das Becken dort? Sein Wasser war rot, nachdem die Häscher ihre
Hände und ihre Waffen darin gewaschen hatten. Und der Bach dort hinten, habt ihr
ihn gesehen? Er war rosarot von dem vielen Blut, das er von den Abzugskanälen
aufgenommen hatte. Und schaut: das dort ist alles, was von Anna übriggeblieben
ist!»
Jesus weint.
«Habt ihr sie gut gekannt?» fragt
der Wirt.
Judas antwortet: «Ja, sie war für
seine Mutter wie eine Schwester. Nicht wahr, Freund?»
Jesus antwortet nur: «Ja.»
«Ich verstehe», sagt der Wirt und
wird nachdenklich.
Jesus neigt sich, um leise mit
Judas zu sprechen.
«Mein Freund möchte zu den Ruinen
dort gehen», sagt Judas.
«Er soll nur gehen; sie gehören
allen.»
Sie grüßen und gehen. Der Wirt ist
enttäuscht. Vielleicht hatte er mit Einnahmen gerechnet.
Sie überqueren den Platz und
steigen die Reste der Treppe hinauf.
«Von hier aus ließ mich die Mutter
den Weisen zuwinken... und diese Treppe mußten wir hinuntersteigen, um nach
Ägypten zu flüchten.»
Leute drehen sich nach den vier
Männern auf den Ruinen um, und einer fragt: «Sind es Verwandte der Ermordeten?»
«Freunde.»
Eine Frau schreit: «Schadet
wenigstens der Toten nicht, wie andere
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Freunde der Lebenden geschadet
haben, um sich dann in Sicherheit zu bringen ...»
Jesus steht aufrecht auf dem
Treppenabsatz vor dem Rest des Schutzmäuerchens, also etwa zwei Meter über dem
Platz und mit einer öden Leere im Rücken. Eine sonnenerfüllte Leere, die das
helle Leinenkleid Jesu noch weißer erscheinen läßt, nun, da der Mantel von
seinen Schultern geglitten ist und wie ein farbenprächtiger Untergrund zu seinen
Füßen liegt. Der Hintergrund ist grün und verwildert, einst der gepflegte Garten
Annas, nun voller Unrat.
Jesus breitet die Arme aus. Judas
sieht die Geste und sagt: «Sage nichts, es wäre unklug!»
Doch Jesus erfüllt den Platz mit
seiner mächtigen Stimme: «Männer von Juda! Männer von Bethlehem, hört! Hört, ihr
Frauen des Ortes, der Rachel heilig ist! Hört auf einen, der von David abstammt,
der als Verfolgter hat leiden müssen und nun gewürdigt worden ist, zu euch zu
sprechen, um euch Licht und Trost zu bringen. Hört!»
Die Leute hören auf zu schwatzen,
zu streiten und zu handeln und drängen sich zusammen.
«Er ist ein Rabbi!»
«Er kommt bestimmt von Jerusalem.»
«Wer ist es?»
«Welch ein schöner Mann!»
«Welche Stimme!»
«Welch eine Haltung!»
«Klar, als Nachkomme Davids!»
«So ist er also einer von uns?»
«Hören wir, was er sagt!»
Alle stehen vor der Stiege, die nun
als Kanzel dient.
«In der Genesis steht geschrieben:
"Ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau... sie wird dir den Kopf
zertreten, und du wirst ihrer Ferse nachstellen." Und weiterhin steht
geschrieben: "Ich werde deine Leiden vermehren, und in Schmerzen wirst du
gebären... und die Erde soll Dornen und Disteln tragen" (Gen 3,16-18). Dies ist
die Verurteilung des Mannes, der Frau und der Schlange.
Von weither bin ich gekommen, um
Rachels Grab zu ehren; ich habe im Abendwind, im Tau der Nacht, im Klagen der
Nachtigall morgens das Echo der Seufzer der alten Rachel gehört, die die Stimmen
der Mütter von Bethlehem in den Gräbern oder in der Stille ihrer Herzen
wiederholen. Ich habe den Schmerzschrei Jakobs im Schmerze der Witwer
wiedergefunden, die keine Frau mehr haben, weil der Schmerz sie getötet hat. Ich
weine mit euch. Doch hört, ihr Brüder meiner Erde. Bethlehem, gesegnete Erde,
die kleinste unter den Städten Judas, aber die größte in den Augen Gottes und
der Menschen, Wiege des Erlösers, wie Michäus sagt, und
81
gerade deshalb zum Tabernakel
bestimmt, in dem die Herrlichkeit Gottes, das Feuer Gottes, seine
menschgewordene Liebe wohnt, hat den Haß Satans entfesselt.
"Ich werde Feindschaft setzen
zwischen dir und der Frau... sie wird dich mit ihrem Fuß zertreten, und du wirst
ihrer Ferse nachstellen." Gibt es eine schlimmere Feindschaft als eine, die sich
gegen die Kinder, das Herz des Herzens der Frau, richtet? Gibt es einen
stärkeren Fuß als den der Mutter des Erlösers? Darum war die Rache des besiegten
Satans natürlich, der nicht der Ferse der Mutter Gottes, sondern den Herzen der
Mütter nachstellte.
Welch unermeßliches Leid bringt der
Verlust eines Kindes mit sich, dem man das Leben geschenkt hat! Schrecklich ist
das Leid jener, die im Schweiße ihres Angesichts für die Nachkommenschaft gesät
und gearbeitet haben und nun kinderlose Väter sind! Doch freue dich, Bethlehem!
Dein reines Blut, das Blut der Unschuldigen, hat dem Messias einen leuchtenden,
purpurnen Weg bereitet.»
Die Menschen werden immer
unruhiger, nachdem Jesus den Erlöser genannt hat, und dann noch die Mutter
desselben; sie haben nun einen klaren Grund zur Aufregung.
«Schweige, Meister! Laß uns gehen!»
sagt Judas.
Doch Jesus hört nicht auf ihn,
sondern fährt fort: «... dem Messias, den die Gnade Gottvaters vor den Tyrannen
gerettet hat, um ihn zu bewahren zur Rettung des Volkes ...»
Der Tumult beginnt.
Eine kreischende Frauenstimme
schreit: «Fünf, fünf Kinder habe ich geboren, und keines ist mehr in meinem
Hause. Ich Arme!» Und sie schreit hysterisch weiter.
Eine andere Frau wirft sich in den
Staub, zerreißt ihre Kleider, zeigt eine verstümmelte Brust und schreit: «Hier,
hier an dieser Brust haben sie meinen Erstgeborenen getötet. Das Schwert ist
durch ihn in meine Brust gedrungen... oh, mein Elisäus!»
«Und ich? Und ich? Seht dort mein
Haus! Drei Gräber in einem, vom Vater bewacht. Mann und Kinder beisammen! Hier,
hier! Wenn es einen Erlöser gibt, gebe er mir meine Kinder, meinen Mann wieder
und rette er mich vor der Verzweiflung und vor dem Beelzebub.»
Alle schreien gleichzeitig: «Unsere
Kinder, unsere Männer, die Väter! Er soll sie uns wiedergeben, wenn er der
Erlöser ist!»
Jesus gebietet mit einer Geste
seiner Arme zu schweigen. «Brüder meines Landes, ich möchte euch eure Kinder im
Fleische, auch im Fleische zurückgeben. Doch sage ich euch, seid gut, beruhigt
euch, verzeiht, hofft und freut euch in einer Hoffnung; jubelt in einer
Gewißheit. Bald werdet ihr eure Söhne wieder haben als Engel im Himmel; denn der
Messias ist im Begriff, die Pforten des Himmels zu öffnen, und wenn ihr gerecht
seid,
82
wird der Tod für euch zum
wiedergewonnenen Leben und zur wiederkehrenden Liebe.»
«Ah, bist du der Messias? Im Namen
Gottes, sage es uns!»
Jesus läßt in seiner sanften Art
die Arme sinken, daß es eine Umarmung zu sein scheint und antwortet: «Ich bin
es.»
«Weg, weg mit dir! Deine Schuld ist
es also 1» Es kommt ein Stein geflogen, von Pfiffen und Beleidigungen begleitet.
Judas macht einen Sprung nach
vorne... oh, wenn er doch immer so gewesen wäre! Er stellt sich vor den Meister
auf das Mäuerchen, breitet den Mantel aus und wehrt furchtlos die Steine ab.
Blutend ruft er Johannes und Simon zu: «Führt Jesus weg, hinter die Bäume dort!
Ich werde nachkommen. Geht um Himmels willen!» Dann wendet er sich zur Menge:
«Tollwütige Hunde! Ich bin vom Tempel, ich werde euch dort und in Rom anzeigen!»
Die Menge zeigt sich einen
Augenblick lang eingeschüchtert; dann aber geht das Steinwerfen - zum Glück sehr
ungeordnet - weiter. Judas bleibt furchtlos an seinem Platz und antwortet auf
die Flüche mit Schimpfworten. Er tut noch mehr, er fängt einen Stein im Fluge
auf und wirft ihn einem Alten an den Kopf, der wie eine lebend gerupfte Elster
schreiend davonläuft. Und da die Leute nun versuchen, sein Podium zu ersteigen,
hebt Judas rasch einen Ast vom Boden auf (er ist nun vom Mäuerchen
herabgestiegen) und läßt ihn erbarmungslos auf Rücken, Köpfe und Hände
niedersausen. Soldaten eilen herbei und bahnen sich mit Lanzen den Weg.
«Wer bist du? Weshalb dieser
Streit?»
«Ein Judäer, der von diesem
Gesindel überfallen worden ist. Ich war mit einem Rabbi zusammen, der den
Priestern wohlbekannt ist. Er hat zu diesen Hunden gesprochen. Sie sind
daraufhin ausfällig geworden und haben uns angegriffen.»
«Wer bist du?»
«Judas von Kerioth, einst zum
Tempel gehörend, jetzt ein Jünger des Rabbi, Jesus von Galiläa. Freund des
Pharisäers Simon, des Sadduzäers Jochanan, des Mitglieds des Synedriums Joseph
von Arimathäa und nicht zuletzt, du kannst es überprüfen, des Eleazar Ben Anna,
des großen Freundes des Prokonsuls.»
«Ich werde nachprüfen. Wohin gehst
du?»
«Mit meinem Freund nach Kerioth und
dann nach Jerusalem.»
«Geh! Wir werden euch den Rücken
decken.»
Judas reicht dem Soldaten einige
Münzen. Es muß verboten, aber dennoch Brauch sein... denn ein Soldat nimmt das
Geld rasch und gierig zu sich, grüßt dann und lacht. Judas springt von seinem
Podium herunter, durchquert mit langen Schritten das unbeackerte Feld und holt
die Gefährten ein.
83
«Bist du stark verwundet?»
«Nicht der Rede wert, Meister... Es
war ja für dich! Ich habe ihnen auch zurückgegeben. Ich muß ganz mit Blut
verschmiert sein...»
«Ja, auf der Wange... Hier ist
Wasser.»
Johannes befeuchtet ein Stückchen
Stoff und reinigt Judas die Wange.
«Es tut mir leid, Judas... Doch du
siehst, wie wenig es hilft zu sagen, daß wir von Judäa sind... Deinem
praktischen Sinn folgend ...»
«Bestien sind sie. Ich hoffe, daß
du dich davon überzeugt hast, Meister. Und daß du dich nicht weiter der Gefahr
aussetzest.»
«O nein... aber nicht aus Angst,
sondern weil es im Augenblick unnütz ist. Wenn man uns nicht haben will, so
wollen wir sie nicht verwünschen, sondern uns zurückhalten und für die armen
Verirrten beten, die Hungers sterben, weil sie das Brot nicht sehen. Laß uns
diesen einsamen Weg einschlagen! Ich glaube, man kann so auf die Straße nach
Hebron gelangen und dann die Hirten treffen.»
«Um nochmals mit Steinen beworfen
zu werden!»
«Nein, um ihnen zu sagen: "Ich bin
es!"»
«Dann werden sie uns sicher
verprügeln. Seit dreißig Jahren leiden sie wegen dir.»
«Wir werden sehen.»
Sie gehen durch ein schattiges,
dichtes, frisches Wäldchen, und ich verliere sie aus den Augen.
111. JESUS UND DIE HIRTEN ELIAS,
LEVI UND JOSEPH
Die Hügel werden höher und waldiger
als die von Bethlehem und steigen immer mehr an, bis sie zu einer wahren
Gebirgskette werden.
Jesus geht allen voran, richtet
seinen Blick nach vorne und rundum, als ob er etwas suche. Er spricht nicht. Er
lauscht auch mehr den Lauten der Tiere als den Stimmen der Jünger, die einige
Schritte hinter ihm hergehen und sich unterhalten.
Eine Glocke läutet in der Ferne,
doch der Wind bringt den Klang eines Glöckleins mit sich. Jesus lächelt. Er
wendet sich um und sagt: «Ich höre Schafe.»
«Wo, Meister?»
«Ich glaube, dort hinten, doch das
Gebüsch verdeckt mir die Sicht.»
Johannes sagt nichts. Er legt das
Oberkleid ab - den Mantel haben sie alle aufgerollt über die Schulter gelegt,
denn es ist heiß geworden - und klettert, nur mit dem Unterkleid angetan, an
einem hohen, glatten Baumstamm hoch und höher, bis er endlich sehen kann. «Ja,
Meister, große Herden und drei Hirten sind dort hinter dem Laubwerk.» Johannes
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steigt wieder vom Baum herab, und
sie können nun zielsicher weitergehen.
«Werden sie es sein?»
«Wir werden fragen, Simon, und wenn
sie es nicht sind, werden sie uns Bescheid sagen... Sie kennen sich ja
untereinander.»
Noch etwa hundert Meter, dann kommt
eine weite, grüne Weide, ganz umsäumt von großen, alten Bäumen. Viele Schafe
bewegen sich auf dem gewellten Rasen und fressen das üppige Gras. Drei Männer
blicken auf sie. Einer von ihnen ist alt und ganz weißhaarig; die beiden anderen
sind etwa dreißig bis vierzig Jahre alt.
«Sei vorsichtig, Meister, sie sind
Hirten!» rät Judas, als er sieht, daß Jesus sich beeilt.
Doch Jesus antwortet ihm nicht. Er
geht groß und schön in seinem weißen Gewande, die Abendsonne auf dem Antlitz,
dahin. Er sieht wie ein Engel aus, so strahlend ist er.
«Der Friede sei mit euch, Freunde!»
grüßt er, als er am Rand der Wiese ist.
Die drei wenden sich ihm erstaunt
zu. Es folgt ein Schweigen. Dann stellt der Alte die Frage: «Wer bist du?»
«Einer, der dich liebt!»
«Da wärest du nach vielen Jahren
der erste. Woher kommt ihr?»
«Aus Galiläa.»
«Oh! ...» Der Alte betrachtet Jesus
aufmerksam. Auch die anderen beiden kommen nun näher. «Von Galiläa?» wiederholt
der Hirte und fügt leise, wie für sich selbst hinzu: «Auch er kam von Galiläa...
Aus welchem Ort, Herr?»
«Aus Nazareth.»
«Oh, dann sage mir... ist dir nie
ein Kind mit einer Frau namens Maria und einem Mann mit Namen Joseph begegnet,
die dorthin zurückgekehrt sind? Es war ein Kind, noch schöner als die Mutter;
nie habe ich ein schöneres auf den Hügeln Judäas gesehen. Ein Kind, geboren in
Bethlehem von Juda zur Zeit des Ediktes. Ein Kind, das zum großen Glück für die
Welt fliehen konnte. Mein Leben würde ich geben, um zu erfahren, ob es noch
lebt; es muß bereits ein Mann geworden sein.»
«Warum sagst du, daß es ein großes
Glück für die Welt gewesen ist, daß es fliehen konnte?»
«Weil es der Erlöser, der Messias
war und Herodes es töten wollte. Ich war nicht hier, als es mit dem Vater und
der Mutter verschwand. Als ich zurückkam und von dem Kindermord hörte... denn
auch ich hatte Kinder (ein Seufzer), Herr, und eine Frau (ein Seufzer), und ich
mußte erfahren, daß sie getötet worden waren (ein weiterer Seufzer). Doch ich
schwöre dir beim Gott Abrahams: ich zitterte mehr um ihn als um mein eigenes
Fleisch und Blut. Ich erfuhr, daß sie hatten fliehen können, aber nichts
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weiter. Mir ward nicht einmal
erlaubt, die ermordeten Kinder an mich zu nehmen... und die Steine flogen auf
mich zu wie auf einen Aussätzigen, einen Unreinen, und ich wurde als Mörder
verfolgt. Ich mußte in die Wälder flüchten und wie ein Wolf leben, bis ich einen
neuen Herrn gefunden hatte. Oh, Anna ist nicht mehr... Das Leben ist hart und
grausam! Wenn ein Schaf verunglückt, wenn der Wolf ein Lamm zerreißt, und ich
dafür auch bis aufs Blut geprügelt oder um den kargen Lohn betrogen werde; wenn
ich in den Wäldern für andere arbeiten muß und irgend etwas passiert und ich
dann auch noch bezahlen muß, stets das dreifache des Wertes: all das macht mir
nichts aus. Ich habe zum Allerhöchsten gesagt: "Laß mich deinen Messias sehen,
laß mich wenigstens wissen, ob er lebt... dann hat alles andere keine Bedeutung
für mich". Herr, ich habe dir gesagt, wie ich von den Bethlehemiten behandelt
worden bin und wie mein Arbeitgeber mit mir umgeht. Ich hätte Böses mit Bösem
vergelten können, um nicht unter meinem Arbeitgeber Not leiden zu müssen. Aber
ich wollte nur verzeihen, leiden, ehrbar sein; denn die Engel hatten gesagt:
"Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens
sind."»
«Sagten sie wirklich so?»
«Ja, Herr, du mußt es glauben, denn
du wenigstens bist gut. Du weißt und glaubst, daß der Erlöser geboren ist.
Niemand will es mehr glauben. Doch die Engel lügen nicht... und wir waren nicht
betrunken, wie man sagte. Dieser hier war damals noch ein Kind, und er hat den
Engel zuerst gesehen. Er hatte nur Milch getrunken. Kann Milch betrunken machen?
Die Engel haben gesagt: "Heute ist in der Stadt Davids der Erlöser geboren, der
Christus, der Herr ist. Ihr werdet ihn daran erkennen: Ihr werdet ein Kind
finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend."»
«Sagten sie wirklich so? Habt ihr
nicht falsch verstanden? Irrt ihr euch nicht nach so langer Zeit?»
«O nein; nicht wahr, Levi? Um es
nicht zu vergessen - wir hätten es nicht vergessen können, da diese Worte des
Himmels mit Feuer in unseren Herzen eingebrannt waren - sagen wir es jeden
Morgen, wenn die Sonne aufgeht, und jeden Abend, wenn der erste Stern leuchtet
als Gebet, um Segen, Kraft und Stärke in seinem und dem Namen seiner Mutter zu
erhalten.»
«Oh, sagtet ihr "Christus"?»
«Nein, Herr, wir sagen: "Ehre sei
Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind,
durch Jesus Christus, der von Maria geboren wurde in einem Stall zu Bethlehem,
der, eingewickelt in Windeln, in einer Krippe lag und der Welterlöser ist."»
«Wen sucht ihr also?»
«Jesus Christus, den Sohn Marias,
den Nazarener, den Erlöser!»
«Ich bin es.»
86
Jesus erstrahlt, als er dies sagt
und sich diesen Liebenden offenbart, die so treu, ausdauernd und geduldig sind.
«Du! Oh, Herr! Der Erlöser, unser
Jesus?!» Die drei Hirten fallen auf die Knie und küssen, weinend vor Freude,
seine Füße.
«Steht auf, steht auf, Elias, und
auch du, Levi, und du, dessen Namen ich nicht kenne.»
«Er ist Joseph, Sohn des Joseph.»
«Diese hier sind meine Jünger:
Johannes der Galiläer, Simon und Judas aus Judäa.»
Die Hirten haben ihre Gesichter
erhoben, bleiben jedoch auf den Knien und beten den Erlöser mit liebevollen
Blicken an, mit vor Rührung bebenden Lippen, abwechselnd rot und blaß vor
Freude. Jesus läßt sich ins Gras nieder.
«Nein, Herr, du sollst dich nicht
ins Gras setzen, du nicht, du bist der König Israels.»
«Laßt mich, Freunde; ich bin arm.
Ein Zimmermann für die Welt. Reich nur an Liebe für die Welt und an Liebe,
welche die Guten mir schenken. Ich bin gekommen, um mit euch zu sein, am Abend
das Brot mit euch zu brechen, um an eurer Seite auf dem Heulager zu schlafen und
bei euch Trost zu finden.»
«Oh, Trost?! Wir sind rauh und
verfolgt.»
«Auch ich bin verfolgt worden; doch
ihr gebt mir das, was ich suche: Liebe, Glauben und Hoffnung, die die Jahre
überdauern und zum Blühen gelangen. Seht ihr? Ihr habt verstanden ohne zu
zweifeln, darauf zu warten, daß ich komme. Und ich bin gekommen!»
«O ja, du bist gekommen. Wenn ich
nun sterben sollte, so hätte ich keine unerfüllte Hoffnung mehr.»
«O nein, Elias, du wirst leben bis
nach dem Triumph des Christus. Du hast meinen Anfang gesehen, und du sollst auch
meine Verherrlichung schauen. Und wo sind die anderen? Ihr wart doch zwölf:
Elias, Levi, Samuel, Jonas, Isaak, Tobias, Jonathan, Daniel, Simeon, Johannes,
Joseph und Benjamin. Meine Mutter nannte mir immer eure Namen, als die Namen
meiner ersten Freunde.»
Die Hirten sind immer mehr gerührt.
«Wo sind die anderen?»
«Der alte Samuel ist schon seit
zwanzig Jahren gestorben, an Altersschwäche. Joseph wurde ermordet, weil er vor
der verschlossenen Tür die Frau verteidigte, die erst einige Stunden zuvor ein
Kind geboren hatte, und ihr zur Flucht mit dem Kind verhalf. Levi habe ich auch
zu mir genommen. Er ist verfolgt worden. Benjamin ist mit Daniel Hirte im
Libanon. Simon, Johannes und Tobias, der sich nun zum Andenken an seinen Vater,
der ebenfalls getötet wurde, Matthias nennt, sind Jünger Johannes des Täufers.
Jonas steht in der Ebene von Esdrelon im Dienst eines Pharisäers.
87
Isaak lebt mit seinen kranken
Nieren im tiefsten Elend und allein in Jutta. Wir helfen ihm, so gut wir können;
doch wir sind selbst alle Verstoßene, und unsere Hilfe ist wie ein Tautropfen in
einem Brand. Jonathan ist nun Diener bei einem Großen des Herodes.»
«Wie seid ihr, besonders Jonathan,
Jonas, Daniel und Benjamin, zu solchen Posten gekommen?»
«Ich erinnere mich an Zacharias,
deinen Verwandten... deine Mutter hatte mich damals zu ihm gesandt. Als wir nun
als Verfolgte und Verfluchte in den Schluchten Judäas waren, führte ich die
Hirten zu ihm. Er war gut. Er bewahrte sie vor dem Hungertod und suchte ihnen
Arbeitgeber. Er tat, was er konnte. Ich hatte vom Herodianer schon alle Herden
der Anna übernommen... und bin geblieben. Als der Täufer Mann geworden war,
begann er zu predigen. Simon, Johannes und Tobias sind mit ihm gegangen.»
«Doch jetzt ist der Täufer
eingekerkert.»
«Ja, und sie halten Wache bei
Machaerus mit einer Handvoll Schafe, um nicht verdächtig zu erscheinen. Ein
Reicher hat ihnen die Schafe gegeben, ein Jünger des Johannes, deines
Verwandten.»
«Ich möchte sie alle sehen.»
«Ja, Herr, wir wollen alle gehen
und ihnen sagen: "Kommt, er lebt, er denkt an euch und liebt euch."»
«Und er will euch zu seinen
Freunden machen.»
«Ja, Herr!»
«Doch zuvor wollen wir zu Isaak
gehen. Wo sind Samuel und Joseph begraben?»
«Samuel in Hebron. Er ist im
Dienste des Zacharias geblieben. Joseph hat kein Grab. Er verbrannte mit seinem
Haus.»
«Nicht in den Flammen der
Grausamen, sondern in den Flammen des Herrn; bald wird er in der Herrlichkeit
sein. Ich sage es euch. Dir Joseph, Sohn des Joseph, sage ich es. Komm her,
damit ich dich küssen und so deinem Vater danken kann.»
«Und meine Kinder?»
«Sie sind Engel, Elias. Engel, die
das Gloria wiederholen werden, wenn der Erlöser gekrönt werden wird.»
«Zum König?»
«Nein, als Erlöser! O Schar der
Gerechten und Heiligen! Und voran die weißen und purpurnen Reihen der
gemarterten Kinder! Die Pforten der Limben werden geöffnet; zusammen ziehen wir
in das Reich ein, das kein Ende kennt. Und ihr werdet Väter, Mütter und Kinder
im Herrn wiedersehn! Glaubt nur!»
«Ja, Herr!»
«Nennt mich Meister. Es wird Abend.
Der erste Stern erscheint. Sag dein Gebet vor dem Abendbrot!»
88
«Nicht ich, du!»
«Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens und würdig sind, das Licht zu
sehen und ihm zu dienen! Der Erlöser ist unter ihnen. Der Hirte aus königlichem
Geschlecht ist bei seiner Herde. Der Morgenstern ist aufgegangen. Freut euch,
ihr Gerechten! Freut euch im Herrn! Er, der das Gewölbe der Himmel erschaffen
und mit Sternen besät hat; er, der die Meere als Grenzen der Erdteile gesetzt
hat; er, der die Winde und den Tau bildet und den Verlauf der Jahreszeiten
regelt, um seinen Kindern Brot und Wein zu schenken; er will euch jetzt die
kostbarste Nahrung geben: das lebendige Brot, das vom Himmel kommt, und den Wein
des ewigen Rebstocks! Kommt, ihr meine ersten Anbeter. Kommt, um den Vater in
Wahrheit kennenzulernen, ihm in Heiligkeit zu folgen und ewigen Lohn zu
erhalten!» Jesus hat stehend und mit ausgebreiteten Armen gebetet, während die
Hirten und Jünger knieten.
Es wird Brot gereicht und in einer
Schüssel frisch gemolkene Milch. Und da nur drei Schüsselchen oder ausgehöhlte
Gurken vorhanden sind, essen zuerst Jesus, Simon und Judas, dann Johannes, dem
Jesus seine Schüssel gibt, Levi und Joseph und als letzter Elias.
Die Schafe blöken nicht mehr; sie
drängen sich zu einem großen Haufen zusammen und warten darauf, daß man sie an
einen geschlossenen Ort bringt. Ich sehe, wie die drei Hirten sie in das
Wäldchen unter eine Überdachung treiben, die aus mit Stricken zusammengebundenen
Zweigen besteht. Sie bereiten dann ein Heulager für Jesus und die Jünger.
Es werden auch einige Feuer
angezündet; vielleicht um die wilden Tiere fernzuhalten.
Judas und Johannes sind müde und
schlafen sofort ein. Simon möchte Jesus Gesellschaft leisten, doch auch er fällt
bald, noch im Sitzen und mit dem Rücken an einen Pfosten gelehnt, in einen
tiefen Schlaf. Jesus und die Hirten bleiben wach. Sie sprechen von Joseph, von
Maria, von der Flucht nach Ägypten und der Rückkehr nach Nazareth; und dann,
nach all den Fragen der Liebe, die Frage nach Höherem: Was tun, um Jesus zu
dienen? Wie können sie, die einfachen Hirten, es tun?
Und Jesus belehrt und erklärt: «Nun
gehe ich nach Judäa. Ihr werdet durch die Jünger immer informiert werden. Dann
lasse ich euch nachkommen. Inzwischen vereint ihr euch. Sorgt dafür, daß es
einer vom anderen erfahre, damit alle von meiner Gegenwart als Meister und
Erlöser auf dieser Erde hören. Macht es bekannt, wie ihr könnt. Ich verspreche
euch nicht, daß man euch Glauben schenkt. Auch ich bin Spott und Ablehnung
begegnet. Euch wird es ebenso gehen. Doch wie es euch bisher möglich war, stark
und gerecht zu bleiben in eurer Erwartung, seid es um so mehr jetzt, da ihr zu
mir gehört. Morgen werden wir nach Jutta gehen. Dann nach Hebron. Wollt ihr
mitkommen?»
89
«O ja... Die Straßen gehören allen,
und die Weiden gehören Gott. Nur Bethlehem ist uns untersagt infolge des
ungerechten Hasses. Auch in anderen Gebieten kennt man uns; doch dort verachten
sie uns nur und nennen uns "Säufer". Daher können wir hier nur wenig tun.»
«Ich werde euch anderswohin rufen.
Ich werde euch nicht verlassen.»
«Das ganze Leben lang?»
«Mein ganzes Leben lang.»
«Ich werde vor dir sterben,
Meister, denn ich bin alt.»
«Glaubst du? Ich glaube es nicht.
Eines der ersten Gesichter, die ich auf Erden sah, war das deinige, Elias, und
es wird auch eines der letzten sein. Ich werde in meinen Pupillen deinen vom
Schmerz über meinen Tod erschütterten Blick mitnehmen. Dann aber wirst du im
Herzen einen triumphalen, strahlenden Morgen schauen, und mit diesem Eindruck
wirst du den Tod erwarten... den Tod; die ewige Begegnung mit Jesus, den du als
Kind angebetet hast. Auch dann werden die Engel das Gloria singen "für die
Menschen, die guten Willens sind".»
Ich höre nichts mehr, die süße
Vision entschwindet, endet.
112. JESUS IN JUTTA BEIM HIRTEN
ISAAK
Ich sehe ein frisches Tal, in dem
ein nach Süden fließender Wildbach plätschert. Er versprüht seine fröhliche
Frische über die Weiden und anscheinend auch über die Abhänge, die smaragdgrün
sind in allen möglichen Schattierungen, und dieses Grün wirkt sich von der
Talsohle über die Büsche und Sträucher bis zu den Gipfeln der hohen Bäume aus.
Unter letzteren befinden sich viele Nußbäume und typische Waldbäume. Rundherum
viele saftige Weideplätze für die Tiere.
Jesus geht mit seinen Jüngern und
den drei Hirten zum Bach. Geduldig wartet er, wenn ein Schaf sich verspätet oder
einer der Hirten einem verirrten Lämmlein nachgehen muß. Er ist nun wahrlich der
gute Hirte. Auch er hat sich mit einem langen Zweig versehen, um die Ranken der
Brombeeren und des Weißdorns und auch die Waldreben zur Seite zu schieben, die
überall wachsen und sich an die Kleider heften. Seine Gestalt ist wirklich die
eines Hirten.
«Siehst du, Jutta liegt dort unten.
Wir gehen jetzt über den Bach. Dort ist eine Furt; im Sommer ist das Wasser hier
sehr niedrig, und so ist keine Brücke nötig. Von Hebron aus wäre der Weg kürzer
gewesen, doch du hast nicht gewollt.»
«Nein, Hebron besuchen wir erst
nachher. Zuerst muß man dorthin gehen, wo ein Mensch leidet. Die Toten leiden
nicht mehr, wenn sie im Leben gerecht gewesen sind. Und Samuel war ein
Gerechter. Es ist nicht
90
notwendig, das Gebet, auf das die
Toten angewiesen sind, an ihrer Begräbnisstätte zu verrichten.
Die Gebeine? Was sind sie ? Ein
Beweis der Macht Gottes, der den Menschen aus Staub erschuf. Nicht mehr! Auch
das Tier hat Gebein. Sein Skelett ist nicht so vollkommen wie das des Menschen,
und nur der Mensch hat als Krönung der Schöpfung eine aufrechte Haltung; er, der
König der Schöpfung, der König seiner Untertanen, hat sein Gesicht nach vorne
gerichtet und muß seinen Hals nicht krümmen, um nach oben zu blicken, nach oben,
wo der Vater wohnt. Aber es sind dennoch nur Knochen: Staub, der zu Staub wird.
Die ewige Güte hat beschlossen, am Tag der Ewigkeit den Leib zu erneuern, um dem
Seligen eine noch lebendigere Freude zu schenken. Stellt euch vor: die Geister
werden nicht nur vereint sein und sich wie auf Erden, aber noch viel mehr,
lieben; sie werden sich auch an der Gestalt, die sie auf Erden hatten,
wiedersehen: Kinder, lockig und lieb, wie die deinen, Elias; Väter und Mütter,
wie die euren, Levi und Joseph, voller Liebe im Blick und im Herzen. Und du,
Joseph, wirst endlich die Gesichter jener kennen, nach denen du dich sehnst.
Keine Waisen und keine Verwitweten unter den Gerechten wird es dort mehr
geben...
Man kann überall für die Toten
beten. Es ist das Gebet des Geistes, für den Geist dessen, der uns verbunden
war, zum vollkommenen Geist, der Gott und überall ist. O heilige Freiheit alles
Geistigen! Keine Entfernungen, keine Exile, keine Kerker, keine Gräber... Nichts
Trennendes oder Beengendes in einer schmerzlichen Ohnmacht für alles, was
außerhalb und über den Ketten des Fleisches liegt. Ihr geht mit eurem besten
Teil zu euren Lieben, und sie kommen mit ihrem besten Teil zu euch. In dieser
Vereinigung der Geister, die sich lieben, kreist alles um den ewigen Feuerball,
um Gott, den vollkommenen Geist, Schöpfer alles Geschaffenen. Und alles, was
war, ist und sein wird, wird Liebe, die euch liebt und euch zu lieben lehrt...
Doch hier sind wir an der Furt,
nehme ich an. Ich sehe eine Reihe von Steinen, die sich aus dem niedrigen Wasser
erheben.»
«Ja, es stimmt, Meister. Bei
Hochwasser ist es ein rauschender Wasserfall; jetzt ist es nur ein spärliches
Wasser, das sich lächelnd zwischen sechs großen Steinen hindurchschlängelt.»
Wirklich, sechs große quadratische
Steine liegen in kurzem Abstand auf dem Grund des Baches, und das Wasser, das
zuvor wie ein glänzendes Band dahinfloß, teilt sich in sieben schmälere Bänder,
sich beeilend und fröhlich, um sich nach dem Übergang wieder zu vereinigen und
plappernd den Weg über die Kiesel fortzusetzen.
Die Hirten achten auf die
Überquerung der Schafe, die teils von Stein zu Stein hüpfen, teils es vorziehen,
im nur handtiefen Wasser zu waten und aus den schäumenden Fluten zu trinken.
91
Jesus benützt die Steine, und die
Jünger folgen ihm. Am anderen Ufer setzen sie ihren Weg fort.
«Du hast mir gesagt, du wolltest
Isaak mitteilen lassen, daß du hier bist, doch ohne ins Dorf zu gehen.»
«Ja, das möchte ich.»
«Dann wird es gut sein, wenn wir
uns trennen. Ich werde zu ihm gehen, Levi und Joseph bleiben bei den Herden und
bei euch. Ich werde hier hinaufsteigen, das geht rascher.» Elias macht sich
daran, das Ufer hinaufzusteigen; er geht auf einen hellen Punkt zu, der aus
Häusern besteht, die in der Sonne glänzen.
Mir scheint, daß ich ihm folge.
Hier sind schon die ersten Häuser. Er biegt in ein Sträßlein, das zwischen
Häusern und Gärten hindurchführt, und geht auf diesem einige zehn Meter weiter.
Dann nimmt er eine breitere Straße und kommt auf einen Platz. Ich habe vergessen
zu sagen, daß sich dies in den ersten Morgenstunden abspielt. Ich sage es jetzt
als Erklärung dafür, daß auf dem Platze immer noch Markt ist und Hausfrauen und
Händler unter den Bäumen, die den Platz beschatten, handeln.
Elias geht zielsicher bis zu der
Stelle, an der der Platz wieder zur Straße, einer schönen Straße, wird.
Vielleicht ist es die schönste des Ortes. In der Ecke ist ein kleines Haus, nur
ein Raum mit der offenstehenden Türe. Gleich bei der Türe ein armes Lager und
darauf ein zum Skelett abgemagerter Kranker, der jeden Vorübergehenden mit
klagender Stimme um ein Almosen bittet.
Elias betritt das Haus wie ein
Blitz: «Isaak, ich bin es!»
«Du? Dich habe ich nicht erwartet.
Du warst beim letzten Mondwechsel hier.»
«Isaak, Isaak, weißt du, weshalb
ich komme?»
«Nein! Du bist aufgeregt, was geht
vor?»
«Ich habe Jesus von Nazareth
gesehen; er ist ein Mann geworden und nunmehr ein Rabbi. Er hat mich
aufgesucht... und nun will er dich sehen. Oh, Isaak, geht es dir schlecht?»
Isaak ist zusammengefallen, als
läge er im Sterben. Doch dann rafft er sich zusammen. «Nein, es war nur die
Nachricht. Wo ist er jetzt? Wie ist er? Oh, könnte ich ihn sehen!»
«Er ist drunten im Tal. Er schickt
mich, dir zu sagen: "Komm, Isaak, ich will dich sehen und segnen." Nun werde ich
jemand suchen, der mir hilft, dich zu ihm zu tragen.»
«Hat er genau das gesagt?»
«Ja, genau das. Aber was machst du
denn?»
«Ich gehe.»
Isaak wirft die Decken zurück,
bewegt die leblosen Beine, wirft sie vom Strohsack, stellt sie auf den Boden und
steht etwas unsicher und wankend
92
auf. All das geschieht in einem
Augenblick unter den aufgerissenen Augen des Elias, der nun endlich begreift und
schreit...
Eine neugierige Frau kommt an die
Türe. Sie sieht den Kranken aufrecht stehen, der, da er nichts anderes hat, sich
in eine der Decken hüllt, und sie rennt erschreckt davon und gackert wie eine
Henne.
«Laßt uns gehen... hier herum, um
rascher voranzukommen und keinen Menschenauflauf zu verursachen. Schnell,
Elias!»
Sie gehen rasch durch ein kleines
Türchen nach hinten in den Garten, stoßen den primitiven Verschluß aus dürrem
Reisig auf, und draußen eilen sie durch ein armseliges Gäßchen, kommen zu einem
Weg zwischen den Gärten und auf diesem durch Wiesen und Gebüsch hinab bis zum
Bache.
«Dort ist Jesus», sagt Elias, auf
ihn deutend. «Der große, schöne, blonde weißgekleidete junge Mann mit dem roten
Mantel...»
Isaak rennt, durchbricht die
blökende Herde und wirft sich mit dem Schrei des Triumphes, der Freude und der
Anbetung Jesus zu Füßen.
«Steh auf, Isaak! Ich bin gekommen,
dir Frieden und Segen zu bringen. Steh auf, damit ich dein Gesicht sehe!»
Doch Isaak kann nicht aufstehen. Es
sind zu viele Aufregungen zusammengekommen... und so bleibt er glückselig
weinend am Boden knien.
«Du bist sofort gekommen. Du hast
nicht erst überlegt, ob du auch kannst.»
«Du hast mir sagen lassen, ich soll
kommen, und ich bin gekommen.»
«Er hat nicht einmal die Türe
geschlossen, noch die Almosen an sich genommen, Meister.»
«Das ist nicht nötig, die Engel
werden über seine Behausung wachen. Bist du zufrieden, Isaak?»
«O Herr!»
«Nenne mich Meister!»
«Ja, Herr, mein Meister. Auch wenn
ich nicht geheilt worden wäre, wäre ich glücklich, dich zu sehen. Wie konnte ich
soviel Gnade bei dir finden?»
«Durch deinen Glauben und deine
Geduld, Isaak. Ich weiß, wieviel du gelitten hast.»
«Nichts, gar nichts mehr! Ich habe
dich gefunden! Du lebst und du bist hier! Das ist genug... alles, alles andere
ist vorbei! Aber, Herr und Meister, nun gehst du nicht mehr fort, nicht wahr?»
«Isaak, ich muß ganz Israel die
Frohe Botschaft bringen. Ich gehe... aber wenn ich auch nicht bleiben kann, so
kannst du mir nun folgen und dienen. Willst du mein Jünger sein, Isaak?»
«Oh, ich werde nicht gut genug
dafür sein!»
«Willst du bekennen, wer ich bin?
Gegen Spötter und Drohungen für mich Zeugnis ablegen und sagen, daß ich dich
gerufen habe und du gekommen bist?»
93
«Auch wenn du es nicht wolltest,
würde ich es allen erzählen. In diesem Punkt würde ich dir nicht gehorchen,
Meister. Verzeihe mir, daß ich es sage.»
Jesus lächelt: «Siehst du, daß du
zum Jünger tauglich bist?»
«Oh, wenn es nur das ist. Ich habe
geglaubt, es wäre schwieriger, und man müßte in die Schule der Rabbis gehen, um
dir dienen zu können, Meister der Meister... und als Greis zur Schule gehen ...»
Der Mann ist mindestens fünfzig Jahre alt.
«Die Schule hast du hinter dir,
Isaak!»
«Ich? Nein!»
«Doch! Hast du denn nicht
ununterbrochen geglaubt, Gott und den Nächsten geliebt und geachtet, keine
Eifersucht genährt und nicht begehrt, was Eigentum der anderen war, und selbst
dein Eigentum nicht zurückverlangt und dich stets bemüht, nicht zu sündigen?
Hast du in diesen dreißig Jahren des Leidens nicht all dies geübt?»
«Ja, Meister!»
«Du siehst, die Schule hast du
hinter dir. Mach so weiter und verkünde außerdem meine Gegenwart in der Welt!
Anderes ist nicht erforderlich.»
«Ich habe schon von dir gepredigt,
Herr Jesus! Als ich vertrieben worden war und hier in der Gegend um etwas Brot
bettelte und nur noch kleine Arbeiten machen konnte, weil die Krankheit
schlimmer wurde und mich von den Hüften nach unten lähmte, da kamen die Kinder
an mein Lager. Und ich erzählte ihnen von dir, den Kindern von damals und ihren
Kindern jetzt. Die Kinder sind gut und glauben immer... Ich erzählte von deiner
Geburt, von den Engeln, vom Stern und von den Waisen; auch von deiner Mutter.
Oh, sage mir, lebt sie noch?»
«Sie lebt und läßt dich grüßen. Sie
erzählte immer von euch.»
«Oh, wenn ich sie sehen könnte!»
«Du wirst sie sehen; eines Tages
wirst du in mein Haus kommen, und Maria wird dich begrüßen als Freund!»
«Maria... ja. Es ist, als hätte ich
Honig in meinem Munde, wenn ich diesen Namen ausspreche. Hier, in Jutta, ist
eine Frau, die seit kurzem Mutter ihres vierten Kindes geworden ist; als sie
selbst noch Kind war, gehörte sie zu meinen kleinen Freunden, und ihren Kindern
hat sie diese Namen gegeben: Maria und Joseph den beiden ersten, und dem
dritten, da sie es nicht Jesus zu nennen wagte, Emmanuel... als Segen für sich
selbst, ihr Haus und Israel. Nun denkt sie seit sechs Tagen darüber nach,
welchen Namen sie dem vierten Kinde geben solle. Oh, wenn sie erfährt, daß ich
geheilt worden bin! Und erst, daß du hier bist! Sara ist gut wie das Brot der
Mutter, und auch Joachim, ihr Mann, ist sehr gut. Auch die Eltern! Ihnen
verdanke ich, daß ich noch lebe. Sie haben mir ein Obdach gewährt und mir immer
geholfen.»
«Laß uns zu ihnen gehen, für die
Stunden der heißen Sonne um Obdach bitten und um ihnen für ihre Liebe Segen zu
bringen.»
94
«Nehmen wir diesen Weg, Meister! Er
ist einfacher für die Herde, und wir können den Menschen ausweichen, die sicher
aufgeregt sein werden. Die Alte, die mich beim Aufstehen gesehen hat, hat
bestimmt schon alles ringsum erzählt.»
Sie gehen eine Weile den Bach
entlang, dann wenden sie sich nach Süden und schlagen einen schmalen Weg ein,
der steil ansteigt und einem Bergvorsprung folgt, der wie ein Schiffsbug
aussieht. Ich erkenne den Ort. Er ist unverwechselbar. Dort, wo Jesus während
einer Vision im Frühjahr mit den Kindern gesprochen hat. Das übliche Mäuerchen,
welches das zum Tal abfallende Gut abgrenzt. Ich sehe die Wiesen mit den Apfel-,
Feigen- und Nußbäumen; hier das weiße Haus im Grünen, mit seinem vorspringenden
Flügel, der die Stufen überdacht und gleichzeitig eine Vorhalle bildet... dort
die kleine Kuppel auf dem höheren Teil, dann der Garten mit dem Brunnen, mit der
Laube und den Beeten...
Laute Stimmen kommen aus dem Hause.
Isaak geht voraus. Er tritt ein und ruft mit kräftiger Stimme: «Maria, Joseph,
Emmanuel, wo seid ihr? Kommt zu Jesus!»
Drei Kinder kommen: ein Mädchen von
etwa fünf Jahren und zwei Knaben von vier und zwei Jahren; der kleinste ist noch
etwas unsicher im Gehen. Sie bleiben offenen Mundes stehen vor dem...
"Auferstandenen". Dann schreit das Mädchen: «Isaak, Mama, Isaak ist hier! Judith
hat richtig gesehen!»
Aus einem Zimmer, in dem ein großes
Stimmengewirr zu hören ist, kommt eine Frau: die blühende Mutter! Braun, groß,
wohlgestaltet und schön in ihren Festkleidern: einem hellen Leinenkleid, das wie
ein reichgeschmücktes Hemd vom Hals bis zu den Fersen reicht und in den
kräftigen Hüften von einem Schal mit verschiedenfarbigen Streifen gehalten wird.
Ein leichter Schleier, mit Rosenranken bestickt, liegt auf den schwarzen Zöpfen
und fällt über die Brust und die Schultern herab. An der Stirne wird der
Schleier von einem Reifen aus kleinen Medaillen gehalten, die mit Kettchen
untereinander verbunden sind. Schwere Ohrringe hängen an den Ohren, und am Halse
wird die Tunika von einer Halskette, die durch Ösen am Kleide gezogen ist,
gehalten. An den Armen schwere silberne Armreifen.
«Isaak! Aber! ... Judith... Ich
hatte schon geglaubt, sie hätte einen Sonnenstich bekommen... Du kannst ja
gehen? Was ist geschehen? ...»
«Der Erlöser! Oh, Sara! Er ist
es... er ist gekommen!»
«Wer? Jesus von Nazareth? Wo ist
er?»
«Hinter dem Nußbaum, und er läßt
fragen, ob du ihn aufnehmen willst.»
«Joachim, Mutter, ihr alle, kommt!
Der Messias ist da!»
Frauen, Männer, Jugendliche, Kinder
kommen schreiend... doch als sie Jesus groß und majestätisch erblicken,
verlieren sie die Hast und bleiben wie erstarrt stehen.
95
«Der Friede sei mit diesem Hause
und euch allen. Der Friede und der Segen Gottes!» Jesus geht langsam und
lächelnd auf die Gruppe zu:
«Freunde, wollt ihr den Wanderer
aufnehmen?» Und er lächelt wieder.
Sein Lächeln besiegt die Angst. Der
Mann faßt Mut und spricht: «Tritt ein, Messias! Wir haben dich geliebt, ohne
dich zu kennen. Mehr noch wollen wir dich lieben, da wir dich nun kennen. Das
Haus ist festlich gestimmt aus drei Gründen: deinetwegen, Isaaks wegen und
anläßlich der Beschneidung meines dritten Knaben. Segne ihn, Meister! Frau,
bring das Kind! Komm herein, Herr!»
Sie betreten einen festlich
geschmückten Raum. Überall mit Speisen bedeckte Tische, Teppiche und Blumen.
Sara kommt mit einem schönen Säugling auf den Armen zurück und zeigt ihn Jesus.
«Gott sei immer mit ihm! Welchen
Namen hat das Kind?»
«Bis jetzt noch keinen! Das ist
Maria, da sind Joseph und Emmanuel und er hat noch keinen Namen.»
Jesus betrachtet das nahestehende
Ehepaar und lächelt: «Sucht einen Namen, wenn er heute beschnitten werden soll.»
Die beiden schauen sich an, blicken
auf Jesus, öffnen den Mund und schließen ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Alle
sind voller Erwartung.
Jesus drängt: «Es gibt viele große,
schöne und gesegnete Namen in der Geschichte Israels. Die schönsten und
gesegnetsten sind schon vergeben. Doch vielleicht gibt es noch einen ...»
Das Ehepaar sagt im gleichen
Augenblick: «Deinen, Herr!»; doch die Frau fügt hinzu: «Er ist zu heilig.»
Jesus lächelt und fragt: «Wann wird
er beschnitten?»
«Wir warten auf den Beschneider.»
«Ich werde bei der Zeremonie
zugegen sein. Ich bedanke mich bei euch für meinen Isaak. Er braucht nun die
Hilfe der Guten nicht mehr. Doch die Guten haben immer die Hilfe Gottes nötig.
So nennt den drittgeborenen Sohn: "Gott mit uns." Gott ist mit euch, seit ihr
meinem Diener Liebe erwiesen habt. Seid gesegnet! Auf Erden und im Himmel wird
eurer guten Tat gedacht werden.»
«Geht Isaak nun fort? Verläßt er
uns?»
«Tut es euch leid? Er muß seinem
Meister dienen. Er wird aber zurückkommen, wie auch ich wiederkommen werde. Ihr
werdet indessen vom Messias sprechen... Es ist vieles zu sagen, um die Welt zu
überzeugen! Doch hier kommt der Erwartete.»
Ein vornehm Gekleideter in
Begleitung eines Dieners kommt herein. Begrüßungen und Verbeugungen. «Wo ist das
Kind?» fragt er gebieterisch.
«Es ist hier. Doch begrüße erst den
Messias. Er ist hier.»
«Der Messias? ... Hat er Isaak
geheilt? Ich weiß davon, doch wir wollen nachher darüber reden. Ich habe es
eilig. Das Kind und seinen Namen!»
96
Die Anwesenden sind beschämt über
das Gebaren des Mannes. Doch Jesus lächelt, als ob die Unarten nicht für ihn
bestimmt wären. Er nimmt den Kleinen, berührt mit seinen schönen Fingern die
Stirne, als wolle er ihn segnen, und sagt: «Sein Name ist Jesaias.» Dann gibt er
den Knaben seinem Vater, der nun mit dem hochmütigen Mann und anderen in ein
Zimmer nebenan geht. Jesus bleibt wartend zurück, bis sie mit dem verzweifelt
schreienden Kinde zurückkommen.
«Gib mir das Kind, Frau. Es wird
nicht mehr weinen», sagt er, um die verängstigte Mutter zu trösten. Das Kind ist
auf den Knien Jesu sofort still. Jesus bildet mit den Kindern, die ihn umringen,
und den Hirten und Jüngern eine Gruppe. Draußen blöken die Schafe, welche Elias
in einen Verschlag gesperrt hat. Im Hause herrscht eine festliche Stimmung. Man
bringt Jesus und seinen Gefährten Süßigkeiten und Getränke. Doch Jesus verteilt
seinen Anteil unter die Kinder.
«Trinkst du nicht, Meister? Nimmst
du nichts? Es ist von Herzen gern gegeben.»
«Ich weiß es, Joachim, und von
Herzen gern nehme ich es an. Doch lasse mich erst die Kinder glücklich machen.
Sie sind meine Freude ...»
«Achte nicht auf den Mann,
Meister!»
«Nein, Isaak. Ich bete, damit er
das Licht sieht. Johannes, nimm die beiden Kinder und zeige ihnen die Lämmlein.
Und du, Maria, komm näher und sage mir: Wer bin ich?»
«Du bist Jesus, der Sohn der Maria
von Nazareth, in Bethlehem geboren. Isaak hat dich gesehen und hat mir den Namen
deiner Mutter gegeben, damit ich immer brav bleibe.»
«Gut wie der Engel Gottes, reiner
als eine auf dem Gipfel der Berge erblühte Lilie und fromm wie der heiligste
Levit sollst du sein, um sie nachzuahmen. Wirst du so sein?»
«Ja, Jesus.»
«Sage Meister oder Herr, Kind!»
«Laß nur; es soll mich mit meinem
Namen nennen, Judas. Nur auf unschuldigen Lippen verliert er nicht den Klang,
den er auf den Lippen meiner Mutter hat. Alle werden von nun an diesen Namen in
allen Zeiten nennen, die einen aus diesem, die anderen aus einem anderen Grunde,
und viele, um zu fluchen. Nur die Unschuldigen, ohne Berechnung und ohne Haß,
wie dieses Kind und meine Mutter, werden ihn voller Liebe aussprechen. Auch die
Sünder rufen mich an, aber um von mir Erbarmen zu erflehen. Doch meine Mutter
und die Kinder! ... Warum nennst du mich Jesus?» fragt er, die Kleine
liebkosend.
«Weil ich dich liebhabe wie meinen
Vater, meine Mutter und meine Brüderchen», sagt sie, umfaßt die Knie Jesu und
blickt dabei vertrauend auf zu ihm.
Jesus neigt sich liebevoll und küßt
das Kind. So endet alles.
97
113. JESUS IN HEBRON - DAS HAUS DES
ZACHARIAS - AGLAIA
«Wann werden wir ankommen?» fragt
Jesus, der inmitten der Gruppe geht. Die Schafherde trottet weidend hinten nach.
«Um die dritte Stunde. Es sind
ungefähr zehn Meilen», antwortet Elias.
«Gehen wird dann nach Kerioth?»
fragt Judas.
«Ja, wir werden dorthin gehen.»
«Wäre der Weg von Jutta nach
Kerioth nicht kürzer? Es muß doch gar nicht so weit sein, nicht wahr, du,
Hirte?»
«Zwei Meilen ungefähr.»
«So machen wir mehr als zwanzig
Meilen umsonst.»
«Judas, warum bist du so unmutig?»
fragt Jesus.
«Nicht unmutig, Meister. Doch du
hattest mir versprochen, in mein Haus zu kommen ...»
«Ich werde kommen. Immer halte ich
mein Versprechen.»
«Ich habe meine Mutter
benachrichtigen lassen... und du hast übrigens gesagt, den Toten ist man auch im
Geiste nah.»
«Ich habe es gesagt. Aber, Judas,
überlege einmal, ob du meinetwegen schon hast leiden müssen. Sie leiden seit
dreißig Jahren und haben mich noch nie verleugnet, nicht einmal in Gedanken! Sie
wußten nicht, ob ich noch am Leben oder schon längst gestorben sei, und doch
sind sie treu geblieben. Sie erinnern sich meiner, seit ich eben geboren war,
ein Kleinkind, das nur weinte und Milch nötig hatte; und trotzdem haben sie mich
immer als Gott verehrt. Meinetwegen wurden sie geschlagen, verflucht, verfolgt:
wie eine Schande Judäas behandelt. Doch ihr Glaube wankte nie bei all den
Schlägen und wurde nicht geschwächt, sondern schlug immer tiefere Wurzeln und
wurde immer lebendiger.»
«Seit einigen Tagen brennt mir eine
Frage auf den Lippen: sie sind deine Freunde und Gottes Freunde, nicht wahr? Die
Engel haben sie gesegnet mit dem Frieden des Himmels, nicht wahr? Sie blieben
gerecht gegen alle Versuchungen, nicht wahr? Erkläre mir nun, warum sind sie so
unglücklich geworden? Und Anna? Sie wurde ermordet, weil sie es gut mit dir
meinte...»
«Du schließt also daraus, daß meine
Liebe und die Liebe zu mir Unglück bringen.»
«Nein... aber...»
«Aber es ist so! Es mißfällt mir,
dich dem Lichte noch so verschlossen und ganz vom Menschlichen erfüllt zu sehen.
Laß ihn gewähren, Johannes, und auch du, Simon... Es ist mir lieber, wenn er
spricht. Ich mache nie Vorwürfe. Ich wünsche nur Offenheit der Seelen, um sie
erleuchten zu können. Komm hierher, Judas, und höre mir zu: du gehst von einer
unter den Menschen aller Zeiten weit verbreiteten Ansicht aus. Ich sagte:
Ansicht. Ich müßte jedoch sagen: Irrtum. Aber vorausgesetzt, daß ihr ohne
Bosheit
98
handelt und noch nicht wißt, was
Wahrheit ist, handelt es sich nicht um Irrtum, sondern nur um ein unfertiges
Urteil, wie das eines Kindes. Kinder seid ihr, arme Menschen! Und ich bin hier,
euer Meister, um aus euch Erwachsene zu machen, die imstande sind, das Wahre vom
Falschen, das Gute vom Bösen und das Bessere vom Guten zu unterscheiden. Hört
mich also an!
Was ist das Leben? Es ist eine Zeit
des Wartens, ich möchte sagen, der Vorhof der Limben, den Gottvater euch gibt,
um eure Natur als gute Kinder oder als Entartete zu prüfen, und euch in
Anbetracht eurer Werke eine Zukunft zu bereiten, die ohne Warten oder Prüfungen
sein wird. Nun sagt mir: wäre es gerecht, wenn einer, weil er das seltene Glück
gehabt hat, die Art zu erkennen, Gott in besonderer Weise zu dienen, auch noch
beständiges Glück im ganzen Leben hätte? Glaubt ihr nicht, daß er schon viel
erhält und sich glücklich nennen darf, auch wenn er, menschlich gesehen, nicht
glücklich ist? Wäre es nicht ungerecht, wenn einer, der schon das Glück einer
göttlichen Kundgebung im Herzen und ein ruhiges Gewissen hat, welches dies
bestätigt, obendrein noch irdische Ehren und Güter hätte? Wäre das nicht
ungerecht und unklug?»
«Meister, ich sage, dies wäre auch
entheiligend. Sind denn neben dir noch irdische Freuden nötig? Wie wäre es dann
mit dir? Wenn einer dich hat, und sie haben dich gehabt, sie, die einzigen
Reichen in Israel, weil sie dich seit dreißig Jahren besitzen, was braucht er
dann noch? Man legt keinen profanen Gegenstand auf den Sühnealtar, und die
heiligen Gefäße sind nur für heiligen Gebrauch bestimmt. Sie sind geheiligt seit
dem Tage, an dem sie dein heiliges Lächeln sahen, und nichts, aber auch gar
nichts, was außer dir ist, darf in ihr Herz einziehen, das dich schon besitzt.
Wäre ich doch an ihrer Stelle!» sagt Simon.
«Aber du hast dich beeilt, nachdem
du den Meister gesehen hast und geheilt worden bist, von deinen Gütern wieder
Besitz zu ergreifen», bemerkt Judas ironisch.
«Das ist wahr. Ich habe es gesagt
und getan. Doch weißt du warum? Wie kannst du urteilen, wenn du nicht alles
weißt? Mein Agent hatte klare Anweisungen. Nachdem Simon der Zelote nun geheilt
ist, und die Feinde ihm durch Isolierung nicht mehr schaden und ihn auch nicht
verfolgen können, da er keiner Sekte mehr angehört, sondern nur noch Jesus, kann
er über den Besitz verfügen, den ein ehrlicher und treuer Mensch für ihn
verwaltet hat. Und ich, Besitzer noch für eine Stunde, habe alles in Ordnung
bringen lassen, um beim Verkauf mehr Geld herauszuschlagen und um sagen zu
können... nein, ich sage es nicht.»
«Die Engel werden es für dich sagen
und ins ewige Buch einschreiben», ergänzt Jesus.
Simon betrachtet Jesus. Ihre Blicke
begegnen sich, erstaunt der eine, segnend der andere.
«So habe ich wie immer unrecht!»
99
«Nein, Judas. Du hast einen
praktischen Sinn. Du selbst hast es gesagt.»
«Oh, aber mit Jesus! ... Auch Simon
Petrus hing an seinem praktischen Sinn, und nun... Auch du, Judas, kannst wie
Petrus werden. Du bist erst seit kurzem mit dem Meister zusammen, wir etwas
länger, und wir haben uns schon ein wenig gebessert», sagt Johannes in seinem
sanften und tröstenden Ton.
«Er hat mich nicht gewollt; sonst
wäre ich schon an Ostern sein gewesen.» Judas ist heute richtig nervös.
Jesus unterbricht sie, und sagt zu
Levi: «Bist du noch nie in Galiläa gewesen?»
«Doch, Herr!»
«Dann kommst du mit mir und führst
mich zu Jonas. Kennst du ihn?»
«Ja, an Ostern sehen wir uns immer.
Ich ging damals zu ihm.»
Joseph neigt beschämt das Haupt.
Jesus sieht es. «Alle beide könnt ihr nicht mitkommen. Elias müßte mit den
Schafen allein bleiben. Du kannst mit mir bis zur Furt am Jericho kommen, dort
werden wir uns für einige Zeit trennen. Ich werde dir dann sagen, was du zu tun
hast.»
«Haben wir nichts mehr zu tun?»
«Doch, Judas, auch ihr.»
«Man sieht schon Häuser», sagt
Johannes, der den anderen einige Schritte vorausgeeilt ist.
«Es ist Hebron, auf einem
Bergrücken zwischen zwei Wasserläufen. Siehst du, Meister, das Haus, dort, im
Grünen versteckt und etwas höher als die anderen? Das ist das Haus des
Zacharias.»
«Beeilen wir uns!»
Sie legen rasch die letzten Meter
zurück und betreten das Dorf. Die Hufe der Schafe klappern auf dem
unregelmäßigen Pflaster der Straße. Sie kommen dem Haus näher. Die Leute
betrachten die Gruppe der Männer, die, im Weiß der Herde, so ungleich sind nach
Alter und Kleidung.
«Oh, es sieht hier nun anders aus.
Hier war das Tor...» sagt Elias.
Nun ist an Stelle des Gitters eine
eiserne Türe, die die Sicht versperrt, und auch die einst niedrige Mauer ist nun
mannshoch, so daß man nicht mehr über sie sehen kann.
«Vielleicht ist auf der Rückseite
ein Eingang. Laßt uns nachschauen.» Sie gehen um das Geviert, doch überall ist
die Mauer gleich hoch.
«Diese Mauer muß erst vor kurzem
gebaut worden sein», sagt Johannes und schaut sie an. «Sie hat keine Flecken,
und am Boden sind noch Steine voller Kalk.»
«Ich sehe das Grab auch nicht... es
lag vor dem Wald. Jetzt ist der Wald außerhalb der Mauer und allen zugänglich.
Sie bearbeiten dort Holz...»Elias ist erstaunt.
Ein Mann, ein alter Holzhauer,
klein aber stämmig, beobachtet die
100
Gruppe, hört am gefällten Stamm zu
sägen auf, geht auf die Fremden zu und fragt: «Wen sucht ihr?»
«Wir möchten hier ins Haus hinein
und am Grabe des Zacharias beten.»
«Es gibt kein Grab mehr. Wißt ihr
das nicht? Wer seid ihr?»
«Ich bin ein Freund des Hirten
Samuel; er ...»
«Nicht nötig, Elias», sagt Jesus.
Elias schweigt.
«Ah, Samuel! ... Ja! Doch seit
Johannes, der Sohn des Zacharias, im Gefängnis ist, gehört das Haus nicht mehr
ihm. Das ist ein großes Unglück, denn er schenkte jeden Verdienst aus seiner
Habe den Armen von Hebron. Eines Morgens kam einer vom Hofe des Herodes, warf
Joel hinaus und brachte Siegel an; dann ist er mit Bewaffneten zurückgekehrt und
hat die Mauer höher machen lassen. In der Ecke dort war das Grab. Er hat es
nicht gewollt... und an einem Morgen haben wir alles zerstört vorgefunden... die
armen Gebeine überallhin verstreut. Wir haben sie soweit es möglich war,
eingesammelt und in einem Behälter verwahrt. Und nun hält der Wüstling im Hause
des Zacharias seine Weiber. Jetzt ist eine Schauspielerin aus Rom hier; deshalb
hat er die Mauer höher machen lassen; er wollte nicht, daß man sieht... Das Haus
des Priesters Zacharias ein Freudenhaus! ... das Haus des Wunders und der Geburt
des Vorläufers! Denn ganz bestimmt ist Johannes der Vorläufer, wenn er auch
nicht der Messias ist. Wieviel Verdruß hatten wir wegen des Täufers! Doch er ist
unser Größter! Wahrhaft groß! Schon als er zur Welt kam, geschah ein Wunder.
Elisabeth, alt wie eine dürre Distel, wurde fruchtbar wie ein Apfelbaum im Adar:
dies war das erste Wunder. Dann kam eine Base, die heilig war, um Elisabeth zu
dienen und die stumme Stimme des Priesters zu lösen. Die Base hieß Maria. Ich
kann mich noch an sie erinnern. Man sah sie nur selten. Was geschah, weiß ich
nicht. Man sagt, daß sie, um Elisabeth glücklich zu machen, den Mund des
Zacharias an ihren gesegneten Schoß legte und ihren Finger in seinen Mund
steckte. Ich weiß es nicht. Sicher weiß ich, daß Zacharias nach neun Monaten des
Schweigens wieder sprechen konnte, Gott lobte und verkündete, daß der Messias da
sei. Mehr hat er nicht gesagt. Doch meine Frau behauptet - sie war in jenen
Tagen dabei - daß Zacharias sagte und Gott dafür lobte, daß sein Sohn dem Sohne
Gottes voraus gehen werde. Ich meine, es ist nicht so, wie die Leute glauben;
Johannes ist der Messias und geht vor dem Herrn, wie einst Abraham vor Gott.
Habe ich nicht recht?»
«Du hast recht, was den Geist des
Johannes betrifft, der stets vor Gott hergeht. Aber du hast nicht recht, was den
Messias betrifft.»
«Also die Frau, die sich die Mutter
des Sohnes Gottes nannte - so sagte Samuel - war es nicht? Ist er noch nicht
da?»
«Er ist da! Der Messias ist
geboren; ihm ist einer vorausgegangen, der in der Wüste seine Stimme erhebt, wie
der Prophet sagt.»
101
«Du bist der erste, der dies
versichert. Als Joel dem Täufer zum letztenmal ein Schaffell gebracht hat, wie
er es jedes Jahr zu Beginn des Winters tat, und ihn nach dem Messias fragte, da
hat er nicht geantwortet: "Er ist da!" Wenn er es sagen wird ...»
«Mann, ich war ein Jünger des
Johannes und habe ihn sagen hören: "Hier ist das Lamm Gottes", und dabei zeigte
er auf ...» sagt Johannes.
«Nein, nein, das Lamm ist er. Das
wahre Lamm, das allein herangewachsen ist, ohne Vater und ohne Mutter sozusagen.
Er war gerade Sohn des Gesetzes geworden, da hat er sich in die Höhlen der Berge
zurückgezogen, die vor der Wüste liegen, und ist dort im Gespräch mit Gott
herangewachsen. Derweil sind Elisabeth und Zacharias gestorben, und er ist nicht
zurückgekommen. Gott war ihm Vater und Mutter. Es gibt keinen größeren Heiligen
als ihn. Fragt nur in ganz Hebron. Samuel sagte es, die Bethlehemiten hatten
recht. Der Heilige Gottes ist Johannes.»
«Wenn einer zu dir sagen würde:
"Ich bin der Messias", was würdest du ihm entgegnen?» fragt Jesus.
«Ich würde ihn einen Lügner heißen
und ihn mit Steinwürfen verjagen.»
«Und wenn er als Beweis ein Wunder
wirken würde?»
«Dann würde ich ihn als
"Besessenen" bezeichnen. Der Messias wird da sein, wenn Johannes der Täufer sich
in seinem wahren Sein enthüllt. Der Haß des Herodes ist der Beweis dafür... Er,
der schlaue Unmensch, weiß, daß Johannes der Messias ist.»
«Er ist nicht in Bethlehem geboren
worden.»
«Doch sobald er frei ist, wird er
sich, da er seine baldige Ankunft schon verkündet hat, in Bethlehem zu erkennen
geben. Auch dort wartet man darauf; während... Geh doch selbst, wenn du Mut
hast, und sprich vor den Bethlehemiten von einem anderen Messias... dann wirst
du sehen ...»
«Habt ihr eine Synagoge?»
«Ja, zweihundert Schritte auf
dieser Straße geradeaus. Du kannst nicht fehlgehen. In der Nähe ist der Sarg mit
den entweihten Gebeinen.»
«Leb wohl, der Herr möge dich
erleuchten!»
Sie trennen sich; Jesus und die
Seinen gehen zur Vorderseite des Hauses. Am Portal steht eine junge, schamlos
gekleidete Frau. Sie ist wunderschön. «Herr, willst du ins Haus kommen? Tritt
ein!»
Jesus blickt sie streng an, wie ein
Richter, und sagt nichts. Dafür spricht Judas, der alle anderen auf seiner Seite
hat: «Verschwinde, du Schamlose! Vergifte uns nicht mit deinem Atem, du räudige
Hündin.»
Die Frau errötet und senkt das
Haupt. Sie schickt sich an, beschämt kehrtzumachen, während Vorübergehende und
Buben sie verspotten.
«Wer ist so rein, daß er sagen
kann: "Ich habe nie nach dem mir von Eva angebotenen Apfel verlangt"?», sagt
Jesus streng und fügt hinzu: «Zeigt mir ihn, und ich werde ihn als Heiligen
begrüßen! Ist niemand
102
unter euch? ... Wenn ihr sie nicht
aus Verachtung, sondern aus Schwäche meidet, dann zieht euch zurück. Ich
verpflichte die Schwachen nicht zu einem ungleichen Kampf. Frau, ich möchte
eintreten! Dieses Haus gehörte meinem Verwandten; es ist mir teuer.»
«Tritt ein, Herr, wenn du keinen
Abscheu vor mir hast.»
«Laß die Türe offen, damit die
Leute sehen können und keinen Grund zum Tadel haben.»
Jesus geht ernst und feierlich
hinein. Die Frau weist ihm schweigend den Weg. Doch die höhnischen Reden der
Menge treffen sie tief. Sie flieht in den Hintergrund des Gartens, während Jesus
bis zur Treppe geht und durch die halbgeöffnete Türe blickt, ohne hineinzugehen.
Dann begibt er sich an die Stelle, wo sich das Grabmal befand, das nun durch ein
heidnisches Tempelchen ersetzt worden ist.
«Die Gebeine der Gerechten, auch
wenn sie vertrocknet und zerstreut sind, strömen reinigenden Balsam und streuen
Samen ewigen Lebens aus. Friede den Toten, die gut gelebt haben! Friede den
Reinen, die im Herrn entschlafen sind. Friede allen, die litten, doch nichts vom
Laster wissen wollten! Friede den wahren Großen der Erde und des Himmels!
Friede!»
Die Frau hat Jesus unter dem Schutz
einer Hecke erreicht.
«Herr!»«Frau!»«Dein Name, Herr?»
«Jesus.»
«Habe ich nie gehört. Ich bin
Römerin, Schauspielerin und Tänzerin. Ich bin nur in leichtfertigen Dingen
erfahren. Was bedeutet dein Name? Ich heiße Aglaia... das bedeutet: Laster!»
«Mein Name bedeutet: Erlöser!»«Wie
erlösest du und wen?»
«Den, der mit gutem Willen der
Erlösung zustrebt. Ich erlöse, indem ich lehre, rein zu sein, das Leiden der
Ehre vorzuziehen, das Gute um jeden Preis zu tun...» Jesus spricht ohne
Bitterkeit, ohne sich nach der Frau umzudrehen.
«Ich bin verloren!» «Ich bin
derjenige, der die Verlorenen sucht...»«Ich bin tot.» «Ich bin der, der das
Leben gibt.» «Ich bin schmutzig und verlogen.» «Ich bin die Reinheit und die
Wahrheit.»
«Du bist auch die Güte, du, der du
mich nicht ansiehst, mich nicht anrührst und mich nicht in den Staub trittst.
Habe Erbarmen mit mir!»
«Zuerst sollst du Mitleid mit dir,
mit deiner Seele haben.» «Was ist die Seele?» «Die Seele ist das, was den
Menschen Gott ähnlich macht und nicht
103
einem Tier. Das Laster, die Sünde
töten sie, und wenn sie tot ist, wird der Mensch zum abstoßenden Tier.»
«Werde ich dich wiedersehen
können?»
«Wer mich sucht, wird mich finden.»
«Wo lebst du?»
«Dort, wo die Herzen einen Arzt und
Arznei brauchen, um wieder ehrbar zu werden.»
«Dann werde ich dich nicht mehr
sehen! Ich bin dort, wo man den Arzt, die Ehrbarkeit und die Arznei nicht will.»
«Nichts hindert dich hin zu kommen,
wo ich bin. Meinen Namen wird man auf den Straßen bis zu dir hin hören können.
Leb wohl!»
«Leb wohl, Herr! Laß mich dich
"Jesus" nennen. Oh, nicht um mich anzubiedern, sondern damit ein wenig Heil in
mich eindringe. Ich bin Aglaia, gedenke meiner!»
«Ja, lebe wohl!»
Die Frau bleibt im Hintergrund.
Jesus geht ernst von dannen. Er liest Erstaunen in den Gesichtern der Jünger und
Verachtung bei den Bewohnern von Hebron. Ein Diener schließt das Tor.
Jesus geht die Straße entlang. Er
klopft an der Synagoge. Ein mißtrauischer Alter schaut heraus. Er läßt Jesus
nicht einmal Zeit, zu sprechen. «Der Zutritt zur Synagoge, dem heiligen Ort, ist
allen untersagt, die mit Dirnen verkehren. Geh weg!»
Jesus wendet sich wortlos um und
setzt seinen Weg auf der Straße fort. Seine Leute folgen ihm. Erst als sie
außerhalb von Hebron sind, reden sie.
«Du hast es so gewollt, Meister»,
sagt Judas. «Es war eine Dirne!»
«Judas, wahrlich, ich sage dir: sie
wird dich übertreffen. Und du, der du mich tadelst, was sagst du zu den Leuten
von Judäa? An den heiligsten Orten von Judäa wurden wir verspottet und verjagt.
Aber so ist es. Es wird die Zeit kommen, da die Samariter und die Heiden den
wahren Gott anbeten, und das Volk Gottes wird sich mit Blut und einem Verbrechen
besudeln... einem Verbrechen, im Vergleich zu dem das Laster der Dirnen, die ihr
Fleisch und ihre Seele verkaufen, wenig Bedeutung hat. Ich habe bei den Gebeinen
meiner Verwandten und des gerechten Samuel nicht beten können. Das ist nun so.
Ruht im Frieden, heilige Gebeine, frohlockt ihr Seelen, die ihr in ihnen
wohntet. Die erste Auferstehung ist nahe. Dann wird der Tag kommen, an dem ihr
den Engeln als die Diener des Herrn gezeigt werdet.»
Jesus schweigt, und alles ist zu
Ende.
104
114. JESUS IN KERIOTH - TOD DES
ALTEN SAUL
Ich habe den Eindruck, daß sich die
steilste Stelle oder der engste Knoten im judäischen Gebirge zwischen Hebron und
Jutta befindet. Doch könnte ich mich auch täuschen, da dieses Tal vielleicht
breiter und ausgedehnter ist und sich einem recht weiten Horizont öffnet, wo nur
noch einzelne Berge statt ganzer Ketten in die Höhe ragen. Kann sein, daß es
einfach eine Mulde inmitten zweier Gebirgszüge ist. Es ist das erstemal, daß ich
es sehe, und ich verstehe nicht recht. Es gibt hier verschiedene nicht große,
aber gut unterhaltene Kornäcker, die größtenteils mit Gerste und Roggen bebaut
sind. In besonnten Lagen gibt es auch Weinpflanzungen. Es folgen an den Hängen
Sträucher, schöne Pinien, Tannen und andere Waldbäume. Ein leidlicher... Weg
führt in ein kleines Dorf.
«Es ist der Vorort von Kerioth. Ich
bitte dich, mit mir in mein Landhaus zu kommen. Meine Mutter erwartet dich dort.
Hierauf werden wir nach Kerioth gehen», sagt Judas, ganz aufgeregt.
Ich habe vergessen zu sagen, daß
sich Jesus jetzt nur in Begleitung von Judas, Simon und Johannes befindet. Die
Hirten sind nicht mehr da. Vielleicht sind sie auf den Weiden von Hebron
geblieben oder nach Bethlehem zurückgekehrt.
«Wie du willst, Judas; wir können
auch hier bleiben, um deine Mutter kennenzulernen.»
«O nein, dies ist nur ein
Behelfshaus. Meine Mutter kommt zur Erntezeit hierher. Sonst wohnt sie in
Kerioth. Willst du nicht, daß meine Stadt dich sieht? Willst du ihr dein Licht
nicht bringen?»
«Gewiß will ich, Judas. Doch weißt
du ja, daß ich nicht auf die Bescheidenheit des Ortes achte, der mich als Gast
aufnimmt.»
«Doch heute bist du mein Gast, und
Judas wird ein guter Gastgeber sein.»
Sie gehen noch an einigen da und
dort in den Feldern verstreuten Häusern vorbei, und Frauen und Männer kommen
herbei, die von den Kindern benachrichtigt worden sind. Es ist ganz
offensichtlich, daß diese Neugier schon früher geweckt worden ist, daß Judas
dafür gesorgt hat.
«Hier ist mein schlichtes Haus.
Verzeih seine Einfachheit.»
Doch das Haus ist keine Hütte,
sondern ein einstöckiger Würfel, großzügig und gut gehalten, inmitten eines
üppigen Obstgartens. Ein kleiner, sauberer Privatweg führt von der Hauptstraße
zum Gebäude.
«Erlaube, daß ich vorangehe,
Meister!»
«Geh nur!»
Judas eilt davon.
«Meister», sagt Simon, «Judas hat
die Dinge großartig aufgezogen. Ich hatte es befürchtet; doch nun bin ich
sicher. Du sagst, Meister, und du sagst es mit Recht: "Geist, Geist..." Doch er
versteht das nicht. Er wird
105
dich nie verstehen ... oder erst
sehr spät», verbesserte er sich, um Jesus nicht zu betrüben.
Jesus seufzt und schweigt.
Judas kommt mit einer etwa
fünfzigjährigen Frau aus dem Hause. Sie ist hochgewachsen, aber nicht so groß
wie der Sohn, der von ihr die schwarzen Augen und die reichen Haare hat. Doch
die Augen der Frau sind sanft und eher traurig, während die von Judas herrisch
und listig sind.
«Ich grüße dich, König von Israel»,
sagt sie, tief und unterwürfig sich verneigend.
«Erlaube, daß dir deine Dienerin
Gastfreundschaft gewähre.»
«Der Friede sei mit dir, Frau, und
Gott sei mit dir und mit deinem Söhne!»
«O ja, mit meinem Söhne!» Es ist
mehr ein Seufzer als eine Antwort.
«Steh auf, Mutter! Auch ich habe
eine Mutter und kann nicht erlauben, daß du meine Füße küssest. Im Namen meiner
Mutter küsse ich dich, Frau. Sie ist deine Schwester in der Liebe und der
schmerzlichen Bestimmung als Mutter der Gezeichneten.»
«Was willst du damit sagen, Messias
?» fragt Judas etwas beunruhigt.
Doch Jesus antwortet nicht. Er
umarmt die Frau, der er vom Boden sanft aufgeholfen hat, und küßt sie nun auf
die Wange. Dann geht er, sie an der Hand haltend, zum Hause.
Sie betreten einen kühlen Raum, in
dem leichte, gestreifte Vorhänge Schatten spenden. Es stehen schon kühle
Getränke und frisches Obst bereit. Doch bevor die Mutter des Judas einer
Dienerin ruft, kommt sie und bringt Wasser und Handtücher. Die Herrin möchte
Jesus behilflich sein, die Sandalen abzulegen und seine staubigen Füße zu
waschen; doch Jesus wehrt ab: «Nein, Mutter! Eine Mutter ist ein zu heiliges
Wesen, besonders wenn sie ehrbar und gut ist wie du, um ihr zu erlauben, wie
eine Sklavin zu dienen.»
Die Mutter betrachtet Judas mit
einem eigenartigen Blick. Dann geht sie hinaus. Jesus hat sich erfrischt. Als er
seine Sandalen wieder anlegen will, bringt ihm die Frau ein neues Paar.
«Hier, unser Messias. Ich hoffe, es
sei gutgetan... wie Judas es gewünscht hat. Er hat mir gesagt: "Etwas länger als
die meinen und genauso breit."»
«Aber warum, Judas?»
«Willst du mir denn nicht
gestatten, dir ein Geschenk zu machen? Bist du nicht mein König und Gott?»
«Ja, Judas! Doch hättest du dies
deiner Mutter nicht zumuten dürfen. Du weißt doch, wie ich bin...»
«Ich weiß, du bist heilig. Doch du
mußt auch als heiliger König erscheinen. Nur so wird man anerkannt. In der Welt,
die zu neun Teilen auf zehn
106
aus Dummen besteht, muß man mit dem
Äußeren imponieren. Ich weiß es.»
Jesus hat die neuen Sandalen
angezogen... die Riemen sind aus rotem, durchbrochenem Leder und reichen bis zu
den Waden. Sie sind viel schöner als seine einfachen Arbeitersandalen und
gleichen den Sandalen des Judas, die beinahe Schuhe sind und nur wenig vom Fuße
sehen lassen.
«Auch das Gewand, mein König! Ich
hatte es für meinen Judas angefertigt; doch er schenkt es dir. Es ist aus
Leinen, frisch und neu. Erlaube, daß eine Mutter dich kleide, als seiest du ihr
Sohn.»
Jesus wendet sich zu Judas um und
schaut ihn lange an, sagt aber nichts. Er macht den Haken am Halse des Gewandes
auf, läßt das weite Obergewand von den Schultern fallen und verbleibt in der
Tunika, die er darunter trägt. Die Frau zieht ihm das schöne, neue Gewand über
und reicht ihm einen reich bestickten Gürtel, an dem eine Kordel hängt, die mit
dichten Quasten endet. Jesus fühlt sich ohne Zweifel wohl im neuen, frischen
Gewand. Doch er sieht nicht glücklich aus. Inzwischen haben sich auch die
anderen gereinigt.
«Komm, Meister, das ist aus meinem
bescheidenen Obstgarten, und hier ist Honigwasser, wie es meine Mutter
zubereitet. Du, Simon, ziehst vielleicht diesen Weißwein vor. Nimm, er ist von
meinem Weinberg. Und du, Johannes? Wie der Meister?» Judas wiegt sich in dem
Bewußtsein, den Wein in silbernen Bechern anbieten und zeigen zu können, daß er
vermögend ist.
Die Mutter spricht wenig. Sie
blickt immer und immer wieder ihren Judas an... aber noch mehr betrachtet sie
Jesus. Und als Jesus ihr, bevor er sich selbst bedient, die schönste Frucht
anbietet (mir scheint, es seien sehr große Aprikosen, denn es sind gelbrote
Früchte, doch keine Äpfel) und sagt: «Immer zuerst die Mutter!», füllen sich
ihre Augen mit Tränen.
«Mama, ist das andere bereit?» will
Judas nun wissen.
«Ja, mein Sohn. Ich glaube, daß
alles gut ist. Doch ich habe immer hier gelebt und kenne die Gebräuche der
Könige nicht.»
«Was für Gebräuche, Frau? Welcher
König? Was hast du berichtet, Judas?»
«Bist du denn nicht der verheißene
König Israels? Es ist Zeit, daß die Welt dich als solchen grüßt, und das soll
zum ersten Male in meinem Haus und in meiner Stadt geschehen. Als König ehre ich
dich. Aus Liebe zu mir und auch aus Ehrfurcht vor deinem Namen Messias, Christus
und König, wie die Propheten nach Anordnung Jahwes dich genannt haben,
widersprich mir nicht!»
«Frau, Freunde; ich bitte euch! Ich
muß mit Judas sprechen. Ich muß ihm genaue Anweisungen geben.»
Die Mutter und die Jünger ziehen
sich zurück.
«Judas, was hast du getan ? So
wenig hast du mich bis jetzt verstanden?
107
Warum sollte ich mich so weit
erniedrigen und aus mir nur einen Mächtigen der Erde machen, einen, der danach
strebt, mächtig zu werden? Verstehst du denn nicht, daß dies für meine Sendung
eine Beleidigung und ein Hindernis wäre? Ja, verneine dies nicht. Ein Hindernis!
Israel ist Rom unterworfen. Du weißt, was geschieht, wenn sich einer gegen Rom
erhebt und als Volksführer auftritt und damit den Verdacht erweckt, einen
Volksaufstand anzuzetteln. Du hast doch gerade in diesen Tagen oft genug gehört,
was alles geschah, weil ein Kind als künftiger König - nach weltlichen Begriffen
- bezeichnet worden war. Und du! Und du! ...
Oh, Judas, was erwartest du von
meiner menschlichen Herrschaft? Was erhoffst du dir? Ich habe dir genug Zeit
gegeben, darüber nachzudenken und zu entscheiden. Ich habe seit dem ersten
Zusammentreffen klar mit dir gesprochen. Ich habe dich sogar abgelehnt, weil ich
wußte... weil ich weiß, lesen und sehen kann, was in dir vorgeht. Warum willst
du mir folgen, wenn du nicht so werden willst, wie ich es verlange? Geh fort,
Judas! Schade nicht dir und mir! Geh, es ist besser für dich. Du bist für diese
Aufgabe nicht geeignet. Sie fordert zuviel von dir. In dir steckt Stolz,
dreifache Begehrlichkeit, Anmaßung... auch deine Mutter scheint dich zu
fürchten. Ferner neigst du zur Lüge. Nein, nein, so darf mein Jünger nicht sein,
Judas. Ich hasse dich nicht; ich verfluche dich nicht. Ich sage dir nur, und
dies mit dem Schmerz eines Sehenden, der jemand, den er liebt, nicht ändern
kann! Ich sage dir nur: geh deines Weges, suche deinen Platz in der Welt; das
ist es doch, was du willst; aber trenne dich von mir!
Mein Weg, mein Königreich... oh,
welche Bedrängnis verbirgt sich in ihm! Weißt du, wo ich König sein werde? Weißt
du, wann ich zum König ernannt werde? Wenn ich auf einem Holz der Schmach und
Schande erhöht sein werde, wo der Purpur mein Blut, die Krone ein Kranz von
Dornen, meine Flagge ein Schild der Verhöhnung, die Posaunen, Orgeln und Harfen
die Schmähungen eines ganzen Volkes - meines Volkes - sein werden. Und weißt du
auch, auf wessen Betreiben all dies geschehen wird? Auf das Betreiben eines
Mannes, der mich nicht verstanden hat; der nichts verstanden hat; dessen Herz
aus Bronze ist, in dem der Hochmut, die Sinnlichkeit und der Geiz sich
eingenistet haben und mit ihnen ein Gewimmel von Schlangen dazu dienen, für mich
zur Kette und für ihn zum Fluch zu werden... Die anderen kennen mein Los nicht
in so klarer Weise. Ich bitte dich, sage ihnen nichts. Es soll zwischen mir und
dir bleiben. Übrigens, es ist kein Tadel, und du sollst darüber schweigen und
nicht sagen: "Ich bin getadelt worden". Hast du begriffen, Judas?»
Judas ist beschämt und glutrot. Er
steht verwirrt und gesenkten Hauptes vor Jesus. Dann fällt er auf die Knie und
legt sein Haupt auf die Knie Jesu und weint: «Ich liebe dich, Meister! Ich bin
hochmütig und schwerfällig, aber schicke mich nicht weg... Nein, Meister. Es
soll das letztemal sein, daß ich gefehlt habe. Du hast recht, ich habe nicht
nachgedacht.
108
Aber auch in diesem Irrtum ist
Liebe. Ich wollte dir große Ehre erweisen und wünschte, daß auch die anderen sie
dir erweisen... weil ich dich liebe. Du hast vor drei Tagen gesagt: "Wenn ihr
ohne Bosheit, sondern aus Unwissenheit fehlt, dann ist dies nicht ein Fehler,
sondern ein Mangel an Einsicht, wie es bei einem Kinde vorkommen kann, und ich
bin gekommen, Erwachsene aus euch zu machen." Hier, Meister, ich liege an deinen
Knien wie einst bei meinem Vater, und du hast zu mir gesagt, du wolltest mir ein
Vater sein... und ich bitte dich um Verzeihung! Ich bitte dich, aus mir einen
Erwachsenen zu machen, einen heiligen Erwachsenen. Schicke mich nicht fort,
Jesus, Jesus, Jesus... Nicht alles ist schlecht in mir. Du siehst: für dich habe
ich all dies verlassen und bin gekommen. Du stehst über den Ehren und Siegen,
die ich erntete, als ich anderen diente. Du, ja, du bist die Liebe des armen,
unglücklichen Judas, der dir nur Freude bereiten möchte und dir statt dessen
Schmerz bereitet ...»
«Genug, Judas. Noch einmal will ich
dir verzeihen ...» Jesus scheint müde zu sein... «Ich verzeihe dir und hoffe
sehr, daß du mich in Zukunft verstehst.»
«Ja, Meister! Ja! Doch nun demütige
mich nicht unter der Last eines Widerrufes, der mich lächerlich machen würde.
Ganz Kerioth weiß, daß ich mit dem Nachkommen Davids, dem König Israels,
komme... und alles ist vorbereitet, dich hier in meiner Stadt zu empfangen...
Ich glaubte, richtig zu handeln, dir zu zeigen, wie man es tun muß, um sich
Ehrfurcht und Gehorsam zu verschaffen. Und ich wollte es Johannes und Simon und
durch sie den anderen zeigen, die dich lieben, dich aber als ihresgleichen
behandeln. Auch die Mutter wäre betroffen als Mutter eines Sohnes, der lügt und
verrückt ist. Ihretwegen, mein Herr... Ich schwöre dir, daß ich...»
«Schwöre nicht mir! Schwöre dir
selbst, wenn du kannst, nicht mehr auf diese Weise zu sündigen. Der Mutter und
den Bewohnern werde ich es nicht antun, wieder fortzugehen, ohne Halt zu machen.
Steh auf...»
«Was wirst du den anderen sagen?»
«Die Wahrheit ...»
«Nein!»
«Die Wahrheit ... daß ich dir für
heute Anweisungen gegeben habe. Es gibt immer einen Weg, die Wahrheit mit Liebe
zu sagen. Laß uns gehen. Rufe deine Mutter und die anderen ...»
Jesus ist sehr streng. Doch er
lächelt wieder, als Judas mit der Mutter und den Jüngern hereinkommt.
Die Frau blickt Jesus forschend an;
doch sie sieht sein gütiges Wohlwollen und ist beruhigt. Ich habe den Eindruck,
daß ihr Herz voll Kummer ist.
«Wollen wir jetzt nach Kerioth
gehen? Ich bin ausgeruht und danke dir, Mutter, für all deine Güte. Der Himmel
möge es dir vergelten und
109
möge deinem Gatten, um den du
trauerst, für deine Mühe Frieden und Freude schenken!»
Die Frau möchte Jesus die Hand
küssen, doch Jesus erlaubt es nicht. Er legt ihr die Hand streichelnd auf das
Haupt.
«Der Wagen ist bereit, Meister.
Komm!»
Draußen steht tatsächlich ein von
Ochsen gezogener Wagen, ein schönes, bequemes Fuhrwerk, dessen Sitze mit Kissen
gepolstert sind und über das ein Vorhang aus rotem Stoff gespannt worden ist.
«Steig ein, Meister!»
«Zuerst die Mutter!»
Die Mutter steigt ein; dann folgen
Jesus und die anderen. «Hier Meister ...» (Judas nennt ihn nicht mehr König.)
Jesus nimmt vorne Platz neben
Judas, hinten die Frau und die Jünger. Der Fuhrmann treibt die Ochsen an und
geht neben dem Gespann einher.
Die Fahrt ist nur kurz. Es sind nur
etwa 40O Meter, vielleicht etwas mehr; schon sieht man die ersten Häuser von
Kerioth, das, wie mir scheint, eine bescheidene Stadt ist. Ein Knabe hält
Ausschau auf der sonnigen Straße und eilt dann wie ein Blitz davon. Als der
Wagen zu den ersten Häusern kommt, warten schon Vornehme und Volk mit Fahnen und
Zweigen, und Fahnen und Zweige schmücken die Straßen, von Haus zu Haus.
Freudenrufe und Verbeugungen bis zur Erde! Jesus kann nun nicht mehr umhin, von
seinem wackelnden Thron aus das Volk zu grüßen und zu segnen.
Der Wagen fährt weiter und biegt
dann über einen Platz in eine Straße ein, um vor einem Hause anzuhalten, dessen
Portal bereits geöffnet ist und vor dem zwei oder drei Frauen warten. Der Wagen
hält. Alles steigt aus.
«Mein Haus sei dein Haus, Meister!»
«Friede mit ihm, Judas. Friede und
Heiligkeit!»
Sie treten ein. Nach der
Eingangshalle gelangen sie in einen großen Saal mit niedrigen Diwanen und
schönen Möbeln, verziert mit Einlegearbeiten. Mit Jesus und seinen Begleitern
treten auch die Vornehmen des Ortes ein. Verbeugungen, Neugier, Feststimmung.
Ein alter, würdevoller Mann hält
eine Ansprache: «Ein großes Glück ist unserer Heimatstadt Kerioth widerfahren,
da wir dich, o Herr, bei uns haben. Ein großes Glück! Ein glücklicher Tag! Es
ist ein großes Glück, dich unter uns zu haben und ebenso ein Glück, zu sehen,
daß ein Sohn unserer Stadt dir Freund und Helfer ist. Glücklich kann er sich
preisen, dich vor allen anderen gekannt zu haben! Und du mögest hundertmal dafür
gepriesen sein, daß du dich geoffenbart hast: du, der seit Generationen und
Generationen Verheißene! Sprich, König und Herr! Unsere Herzen warten auf dein
Wort, so wie die dürstende Erde nach einem glühend heißen Sommer auf den
erquickenden Septemberregen wartet.»
110
«Danke, wer du auch sein magst,
danke! Und Dank auch den Bewohnern dieser Stadt, die dem Wort des Vaters und dem
Vater, dessen Wort ich bin, ihre Herzen entgegengebracht haben. Denn ihr müßt
wissen, daß nicht dem Menschensohn, der zu euch spricht, sondern dem
Allerhöchsten Herrn Dank und Ehre gebühren für diese Zeit des Friedens, in
welcher er die zerbrochene Vaterschaft mit den Menschenkindern wiederhergestellt
hat. Laßt uns den wahren Herrn loben: den Gott Abrahams, der seinem Volke
Erbarmen und Liebe erwiesen und ihm den verheißenen Erlöser geschenkt hat. Nicht
Jesus, dem Diener des Ewigen Willens, sondern diesem liebenden Willen sei Lob
und Ehre!»
«Du sprichst wie ein Heiliger. Ich
bin der Vorsteher der Synagoge. Es ist zwar nicht Sabbat, doch komm in mein
Haus, um das Gesetz auszulegen; denn mehr als nur mit königlichem Salböl bist du
mit der Ewigen Weisheit gesalbt.»
«Ich werde kommen.»
«Mein Herr ist vielleicht müde...»
«Nein, Judas, ich bin niemals müde,
von Gott zu sprechen, und niemals willens, die Herzen zu enttäuschen.»
«Komm also», drängt der Vorsteher
der Synagoge. «Ganz Kerioth steht draußen und wartet auf dich.»
«Laßt uns gehen!»
Zwischen Judas und dem
Synagogenvorsteher und umgeben von den städtischen Notabeln tritt Jesus aus dem
Haus... Und Menschen, überall stehen Menschen. Segnend geht Jesus an ihnen
vorbei. Die Synagoge befindet sich auf dem Platze. Sie treten ein. Jesus geht
zum Lehrstuhl. Er beginnt zu sprechen, strahlend in seinem hellen Gewande, mit
seinem vergeistigten Antlitz und den in seiner gewohnten Art ausgebreiteten
Armen:
«Volk von Kerioth! Das Wort Gottes
spricht. Hört mich an! Derjenige, der zu euch spricht, ist nur das Wort Gottes.
Seine Souveränität stammt vom Vater und wird zum Vater zurückkehren, nachdem es
Israel die Frohe Botschaft verkündet haben wird. Die Herzen und die Seelen mögen
sich der Wahrheit öffnen, damit man nicht im Irrtum verharre und keine
Verwirrung aufkomme.
Isaias (9,4-5) hat gesagt: "Im
Kampf werden dröhnende Stiefel und blutbefleckte Mäntel vom Feuer verzehrt
werden. Denn ein Kind wird uns geboren und ein Sohn uns geschenkt, auf dessen
Schultern die Herrschaft ruht. Sein Name ist: der Wunderbare, der Ratgeber,
Gott, der Starke, der Vater zukünftiger Zeiten, der Friedensfürst!" Dies ist
mein Name! Lassen wir den Caesaren und den Tetrarchen ihre Beute. Ich auch werde
auf Raub ausgehen; aber auf keinen Raub, der Strafe durch das Feuer verdient. Im
Gegenteil, ich werde dem Feuer Satans Beute um Beute entreißen und sie ins Reich
des Friedens bringen, dessen Fürst und Vater ich bin für ewige Zeiten.
111
"Gott" ' sagt ferner David, von
dessen Geschlecht ich abstamme, wie es vorhergesagt worden ist von denen, die
ihrer Heiligkeit wegen Gott wohlgefielen und berufen waren, mit ihm zu sprechen,
"Gott hat einen einzigen erwählt... den Sohn... doch das Werk ist von großer
Erhabenheit, denn es handelt sich nicht darum, das Haus eines Menschen zu
bereiten, sondern das Haus Gottes." So ist es. Gott, der König der Könige, hat
einen einzigen erwählt: seinen Sohn, um in den Seelen sein Zelt zu errichten. Er
hat schon das "Material" bereit. Oh, wieviel Gold der Liebe, wieviel Kupfer,
Silber und Eisen und edle Hölzer und kostbare Edelsteine! Alles ist in seinem
Wort angehäuft, und er verwendet es, um in euch die Wohnung Gottes zu errichten.
Doch wenn der Mensch nicht mithilft, wird der Herr sein Haus vergeblich bauen.
Dem Gold muß mit Gold entsprochen werden, dem Silber mit Silber, dem Kupfer mit
Kupfer, dem Eisen mit Eisen... Ebenso muß auch Liebe mit Liebe vergolten werden,
Enthaltsamkeit muß vorhanden sein, um die Reinheit zu bewahren, Ausdauer, um
treu zu bleiben, Festigkeit, um nicht nachzugeben. Dann wird heute der Stein
gebracht, morgen das Holz: heute das Opfer und morgen das Werk und der Bau.
Immerzu muß in euch am Tempel Gottes gebaut werden.
Der Meister, der Messias, der König
des ewigen Israel, des ewigen Gottesvolkes, ruft euch. Doch er will, daß ihr für
das Werk rein seid. Nieder mit dem Hochmut! Gott die Ehre! Weg mit den
menschlichen Gedanken. Gottes ist das Reich. Ihr Demütigen, sagt mit mir: "Dein
sind alle Dinge, Vater. Dir gehört alles, was gut ist. Lehre uns, dich
kennenzulernen und dir in Wahrheit zu dienen." Sagt: "Wer bin ich?" Und ihr
werdet erkennen, daß ihr erst dann etwas seid, wenn ihr eine gereinigte Wohnung
seid, in welche Gott niedersteigen und sich in ihr ruhen kann.
Ihr, die ihr alle Pilger und
Fremdlinge auf dieser Erde seid, schließt euch zusammen und geht dem verheißenen
Reiche entgegen! Der Weg sind die Gebote, die nicht aus Furcht vor der Strafe,
sondern aus Liebe zu Gott, dem heiligen Vater, gehalten werden müssen. Die
Bundeslade ist ein vollkommenes Herz, die das nahrhafte Manna der Weisheit
enthält, aus der der Zweig des guten Willens erblüht. Und damit das Haus hell
sei, kommt zum Licht der Welt! Ich bringe es euch. Ich bringe euch das Licht.
Nichts als das! Ich besitze keine Reichtümer und verspreche keine weltlichen
Ehren. Doch ich besitze alle übernatürlichen Reichtümer meines Vaters; denen,
die Gott in Liebe und Nächstenliebe dienen, verspreche ich den ewigen Ruhm des
Himmels.
Der Friede sei mit euch!»
Die Menschen haben aufmerksam
zugehört; jetzt flüstern sie unruhig miteinander. Jesus spricht mit dem
Synagogenvorsteher. Der Gruppe gesellen sich noch andere zu, vielleicht sind es
die Notabeln.
«Meister... bist du nicht der König
Israels? So hat man uns gesagt ...»
112
«Ich bin es.»
«Aber du hast gesagt ...»
«Daß ich die Reichtümer der Welt
weder besitze noch sie verspreche. Ich kann nur die Wahrheit sagen. So ist es!
Ich kenne eure Gedanken. Doch der Irrtum kommt von einer falschen Auslegung und
von eurer sehr großen Achtung vor dem Allerhöchsten. Es wurde euch gesagt: "Der
Messias kommt", und so habt ihr, wie viele in Israel, gedacht, daß Messias und
König ein und dasselbe sei. Erhebt euren Geist zu Höherem! Betrachtet den
schönen Sommerhimmel! Ihr meint, er ende dort am Horizont, dort, wo die Luft wie
Saphir leuchtet. Nein. Dahinter sind noch andere, reinere Sphären, noch klarere
Himmelsbläue, bis hin zu der unvorstellbaren des Paradieses, in das der Messias
die im Herrn verstorbenen Gerechten hinführen wird. Derselbe Unterschied besteht
zwischen dem messianisehen Königtum, so wie der Mensch es sich vorstellt, und
dem wirklichen, das rein göttlich ist.»
«Aber können wir arme Menschen den
Geist bis in die Sphären erheben, von denen du sprichst?»
«Ja, wenn ihr es wollt! Und wenn
ihr es wollt, werde ich euch helfen.»
«Wie sollen wir dich nennen, da du
kein König bist?»
«Meister, Jesus, wie ihr wollt!
Meister und Jesus bin ich, der Erlöser!»
Ein Greis sagt: «Höre Herr, vor
langer Zeit, als der Erlaß gegeben wurde, erreichte uns hier die Nachricht, daß
in Bethlehem der Erlöser geboren worden sei... und ich ging hin mit anderen...
Ich sah ein kleines Kind, in allem den anderen Kindern gleich. Doch ich glaubte
und betete es an. Dann erfuhr ich, daß es einen Heiligen, namens Johannes,
gibt... Welcher ist nun der wahre Messias?»
«Der, den du angebetet hast. Der
andere ist sein Vorläufer. Er ist groß und heilig vor den Augen des Höchsten;
aber er ist nicht der Messias.»
«Du warst es also?»
«Ich war es. Und was sahst du um
mich, den Neugeborenen, herum?»
«Armut und Sauberkeit, Ehrsamkeit
und Reinheit... Einen liebenswürdigen und ernsten Handwerker namens Joseph;
Handwerker, aber aus dem Geschlechte Davids. Eine junge, blonde und freundliche
Mutter mit Namen Maria, vor deren Anmut die schönsten Rosen von Engaddi
erbleichen, und die Lilien der königlichen Gärten unförmig erscheinen; und ein
Kind mit großen blauen Augen und mit Haaren, die aussahen wie gesponnenes
Gold... Anderes habe ich nicht gesehen. Und ich höre immer noch die Mutter zu
mir sagen: "Im Namen meines Kindes sage ich dir: der Herr sei mit dir bis zur
ewigen Begegnung, und seine Gnade begleite dich auf dem Wege dorthin!" Ich bin
84 Jahre alt... der Weg geht zu Ende. Ich hoffte nicht mehr, der Gnade des Herrn
zu begegnen; aber ich habe dich gefunden... und ich wünsche mir nichts anderes,
als nur noch dein Licht zu sehen! Ja, ich erkenne dich wie du bist, du in diesem
Gewande der
113
Barmherzigkeit, dem Fleisch, das du
angenommen hast. Ich sehe dich! Hört die Stimme dessen, der im Sterben das Licht
Gottes sehen darf!»
Die Leute drängen sich um den
verzückten Greis, der bei Jesus steht. Er stützt sich nicht mehr auf den Stab,
sondern erhebt die zitternden Arme und gleicht mit seinem weißen Haupt und dem
langen, geteilten Bart einem wahren Patriarchen oder Propheten.
«Ich sehe ihn: den Erwählten, den
Höchsten, den Vollkommenen, der herniedergestiegen ist mit der Kraft der Liebe
und zurückkehren wird zur Rechten des Vaters, um eins zu sein mit ihm. Doch
seht! Nicht als Stimme und körperloses Sein, wie Moses den Allerhöchsten sah und
wie nach der Genesis die ersten Menschen ihn kannten, wenn sie im Abendwind mit
ihm sprachen. Als Mensch sehe ich ihn zum Ewigen emporsteigen. Leuchtende,
strahlende Gestalt, göttliche Person! O Schönheit des Gottmenschen! Er ist der
König! Ja, er ist der König! Nicht Israels, sondern der Welt! Vor ihm verneigen
sich die Könige der Erde, und alle Szepter und Kronen sind nichts im Glanz
seines Szepters und seiner Edelsteine. Ein Diadem trägt er auf der Stirne. Ein
Szepter hat er in der Hand. Auf der Brust trägt er ein Rationale
(hohepriesterliches Gewandstück); Per en und Rubine von einer nie gesehenen
Pracht. Flammen lodern aus ihm wie aus einem erhabenen Herd. An den Handgelenken
hat er zwei Rubine, und ein Band von Rubinen unschlingt seine heiligen Füße:
Licht, Licht aus Rubinen! Schaut, ihr Völker, der ewige König! Ich sehe dich!
Ich sehe dich! Ich erhebe mich mit dir... O Herr, unser Erlöser! Das Licht
vermehrt sich im Auge meiner Seele... Der König ist mit seinem Blute geschmückt!
Der Kranz ist eine blutige Dornenkrone... das Szepter ist ein Kreuz... Welch ein
Mensch! Du bist es, Herr... Durch deinen Opfertod habe Erbarmen mit deinem
Diener! Jesus, deiner Barmherzigkeit empfehle ich meinen Geist.»
Der Greis, der bis dahin aufrecht
stand und im Feuer seiner Prophezeiung jünger schien, bricht plötzlich zusammen,
und er wäre zu Boden gefallen, wenn Jesus ihn nicht aufgefangen und gegen seine
Brust gehalten hätte.
«Saul!»
«Saul stirbt!»
«Hilfe!»
«Lauft!»
«Friede um den Gerechten, der
stirbt!» sagt Jesus, der sich langsam niedergelassen hat, um den immer schwerer
werdenden Alten besser stützen zu können. Es wird ganz still.
Jesus legt ihn nun auf den Boden.
Dann richtet er sich auf. «Friede seiner Seele! Er starb im Angesicht des
Lichtes. Nach kurzer Wartezeit wird er das Antlitz Gottes schauen und glücklich
sein. Es gibt keinen Tod, keine Trennung vom Leben für alle, die im Herrn
sterben.»
114
Die Leute entfernen sich nach einer
Weile und reden noch untereinander.
Es bleiben die Vornehmen, Jesus mit
den Seinen und der Vorsteher der Synagoge zurück.
«Hat er prophezeit, Herr?»
«Seine Augen haben die Wahrheit
gesehen. Laßt uns gehen!»
Sie verlassen den Raum.
«Meister, Saul ist vom Geist des
Herrn erfüllt gestorben. Wir, die wir ihn berührt haben, sind wir rein oder
unrein?»
«Unrein.»
«Und du?»
«Auch ich, wie die anderen. Ich
verändere das Gesetz nicht. Das Gesetz ist das Gesetz, und der Israelit befolgt
es. Wir sind unrein. Zwischen dem dritten und dem siebenten Tag müssen wir uns
reinigen. Judas, ich gehe nun nicht mehr zu deiner Mutter zurück. Ich will in
ihr Haus keine Unreinheit bringen. Laß sie benachrichtigen durch jemand, der es
tun kann. Der Friede sei mit dieser Stadt! Gehen wir!»
Ich sehe nichts mehr.
115. JESUS MIT DEN HIRTEN AUF DEM
RÜCKWEG NACH HEBRON
Jesus geht zusammen mit den Jüngern
auf einer Straße längs des Baches. Den Bach entlang, wenn man sich so ausdrücken
darf. Der Bach liegt in der Tiefe, während sich die Straße über ihm in Windungen
den Hang hinzieht, wie man dies oft in Gebirgsgegenden antrifft. Johannes, mit
einer prall gefüllten Tasche beladen, ist rot wie eine Purpurschnecke. Judas
trägt mit seiner eigenen auch die Tasche Jesu. Simon hat die Mäntel und seinen
Beutel. Jesus trägt nun wieder seine Sandalen und sein Kleid. Doch die Mutter
Judas hat es gewiß reinigen lassen; denn es sieht wieder frisch und sauber aus.
«Wieviel Früchte! Wie schön sind
die Reben auf den Hügeln!» sagt Johannes, der seine gute Laune trotz Hitze und
Last nicht verliert.
«Meister, ist dies der Fluß, an
dessen Ufern die Väter die wunderbaren Weintrauben pflückten?» (Num 13,16-27)
«Nein, an einem anderen, weiter
südlich. Doch das ganze Gebiet war gesegnet mit herrlichen Früchten.»
«Jetzt ist es nicht mehr ganz so,
doch noch immer sehr schön.»
«Zu viele Kriege haben den Boden
verwüstet. Hier ist Israel entstanden... und er mußte mit dem eigenen und
feindlichem Blute gedüngt werden.»
115
«Wo werden wir die Hirten finden?»
«Fünf Meilen von Hebron entfernt,
an den Ufern des Baches, den du erwähnt hast.»
«Hinter diesem Hügel also?»
«Ja.»
«Es ist sehr heiß. Der Sommer...
Wohin gehen wir nachher, Meister?»
«In eine noch heißere Gegend. Doch
ich bitte euch mitzukommen. Wir werden bei Nacht reisen. Die Sterne sind sehr
hell; es ist nicht dunkel. Ich will euch einen Ort zeigen ...»
«Eine Stadt?»
«Nein, einen Ort... der euch helfen
wird, den Meister zu verstehen... besser vielleicht als seine Worte.»
«Wir haben Tage verloren mit diesem
dummen Zwischenfall. Er hat alles verdorben... und meine Mutter, die sich soviel
Mühe gemacht hatte, war sehr enttäuscht. Ich kann nicht verstehen, weshalb du
dich bis nach der Reinigung absondern wolltest.»
«Judas, warum nennst du ein
Geschehnis dumm, das für einen wahren Gläubigen eine große Gnade war? Möchtest
du für dich selbst nicht einen solchen Tod? Er hatte sein ganzes Leben auf den
Messias gewartet; er ist, obwohl schon alt, auf beschwerlichem Wege gewandert,
um ihn anzubeten, als man zu ihm gesagt hat: "Er ist da." Er hatte in seinem
Herzen dreißig Jahre lang die Worte meiner Mutter bewahrt. In seiner letzten
Stunde, die ihm Gott geschenkt hat, wurde er vom Feuer der Liebe und des
Glaubens erfüllt. Sein Herz zersprang vor Freude und wurde vom Feuer Gottes als
wohlgefälliges Brandopfer verzehrt. Gibt es ein besseres Los als dieses?
Hat er das von dir vorbereitete
Fest verdorben? Du siehst hier einen Eingriff Gottes. Das, was des Menschen ist,
soll nicht vermischt werden mit dem, was Gottes ist. Deine Mutter wird mich
wieder einmal haben. Dieser Greis hätte mich ein anderes Mal nicht mehr haben
können. Ganz Kerioth kann zu Christus kommen, der Greis hatte keine Kraft mehr
dazu. Ich bin glücklich darüber, daß ich den Sterbenden an mein Herz drücken und
seinen Geist habe empfehlen können. Und dann... Weshalb sollen wir durch
Nichtbeachtung des Gesetzes Ärgernis erregen? Um den Menschen zu sagen: "Folgt
mir nach!" Es eilt, es eilt! Um sie auf den Weg der Heiligung zu führen, müssen
wir selbst den Weg gehen. Wie hätte ich sagen können, oder wie könnte ich sagen:
"Seid treu", wenn ich selbst untreu wäre?»
«Ich glaube, daß dieser Irrtum die
Ursache unseres Verfalls ist. Die Rabbis und Pharisäer überladen das Volk mit
Vorschriften, und dann... dann tun sie so wie jener, der das Haus des Täufers zu
einer Stätte des Lasters gemacht hat», bemerkt Simon.
«Das ist ein Mann des Herodes ...»
116
«Ja, Judas; doch die gleichen
Sünden werden auch von solchen begangen, die sich selbst als heilig bezeichnen.
Was sagst du dazu, Meister?» fragt Simon.
«Ich sage: wenn auch nur eine
Handvoll guten Sauerteigs im Mehl und echten Weihrauchs in Israel vorhanden ist,
kann Brot gebacken und der Altar geräuchert werden.»
«Was willst du damit sagen?»
«Ich will damit sagen, daß, wenn es
Menschen gibt, die mit aufrichtigem Herzen zur Wahrheit kommen, die Wahrheit
sich wie der Sauerteig im Mehl und wie Weihrauch über ganz Israel ausbreiten
wird.»
«Was hat die Frau zu dir gesagt?»
will Judas wissen. Jesus antwortet nicht. Er wendet sich an Johannes: «Es ist
schwer und ermüdet dich. Gib mir deine Last.»
«O nein, Jesus! Ich bin an Lasten
gewöhnt und dann... der Gedanke an die Freude, die Isaak haben wird, macht sie
mir leicht.»
Sie haben nun den Hügel umgangen.
Am anderen Hang, im Schatten der Bäume, weiden die Schafe des Elias. Die Hirten
sitzen im Schatten und bewachen die Tiere; doch als sie Jesus sehen, eilen sie
ihm entgegen.
«Der Friede sei mit euch! Hier also
seid ihr?»
«Wir waren in Sorgen um dich...
wegen der Verspätung ... und unsicher darüber, ob wir dir entgegengehen oder
gehorchen sollen ... So haben wir beschlossen, bis hierher zu kommen... um dir
und gleichzeitig unserer gemeinsamen Liebe zu gehorchen. Du solltest schon seit
mehreren Tagen hier sein.»
«Wir sind aufgehalten worden ...»
«Hoffentlich nichts Schlimmes?»
«Nein, Freund, nur der Tod eines
Getreuen an meiner Brust. Nichts anderes.»
«Was hätte auch vorfallen sollen,
Hirte, wenn die Dinge gut vorbereitet sind? Natürlich muß man wissen, wie dies
zu geschehen hat, und die Herzen darauf vorbereiten, sie entgegenzunehmen. Meine
Stadt hat Jesus alle Ehre erwiesen. Nicht wahr, Meister?»
«Das ist wahr, Isaak. Wir haben auf
dem Rückweg Sara besucht. Auch die Stadt Jutta hat es verstanden, ohne besondere
Vorbereitungen und nur aufgrund ihrer schlichten Güte und der wahren Worte
Isaaks, das Wesen meiner Lehre zu begreifen und mit einer praktischen, heiligen
und selbstlosen Liebe ihre Hingabe zu bezeugen. Sie sendet dir Kleidung und
Nahrung, Isaak, und zu den Almosen auf deinem Lager haben alle noch etwas
beisteuern wollen für dich, der du in die Welt zurückkehrst und nichts mehr
hast. Nimm es! Ich trage nie Geld mit mir herum, doch dieses habe ich für dich
angenommen; denn es ist gereinigt durch die Liebe.»
«Nein, Meister, behalte du es! ...
ich bin gewohnt, ohne es auszukommen.»
117
«Doch nun mußt du in die Dörfer
gehen, in die ich dich senden werde. Da brauchst du es. Der Arbeiter hat
Anspruch auf seinen Lohn, auch wenn er für die Seelen arbeitet. Denn noch ist
ein Körper zu ernähren, wie der des Eselchens, das dem Herrn dient. Es ist nicht
viel; aber du wirst es zu verwenden wissen. Johannes hat im Sack Kleider und
Sandalen... Joachim hat die seinen gegeben. Es wird alles etwas groß sein...
aber es liegt so viel Liebe in dem Geschenk!»
Isaak nimmt den Sack und zieht sich
in eine Hecke zurück, um sich anzuziehen. Er war immer noch barfuß und trug die
bizarre Toga, die aus einer Decke bestand.
«Meister», sagt Elias, «die Frau,
die im Hause des Johannes wohnt, sandte uns, als du drei Tage abwesend warst und
wir die Herden auf den Wiesen Hebrons weideten (sie gehören allen, und niemand
kann verjagt werden) einen Boten mit diesem Beutel und ließ ausrichten, daß sie
mit uns sprechen wolle... Ich weiß nicht, ob ich es recht gemacht habe, denn das
erstemal habe ich die Börse abgelehnt und gesagt, wir wollten nichts nehmen;
darauf ließ sie mir sagen: "Komm im Namen Jesu!" und ich bin hingegangen. Sie
hat gewartet, bis... der Mann, dessen Geliebte sie ist, fort war, und wollte
dann viele Dinge erfahren; doch ich habe wenig gesprochen... aus Vorsicht...
denn sie ist eine Dirne. Ich hatte Angst, daß es eine Falle für dich sein
könnte. Sie wollte wissen, wer du bist, wo du dich befindest, was du tust, ob du
ein Herr bist... Ich habe nur gesagt: "Er ist Jesus von Nazareth. Er ist ein
Lehrer und zieht lehrend durch Palästina." Ich habe gesagt, du seiest ein armer,
einfacher Arbeiter, den die Weisheit wissend gemacht hat... nicht mehr.»
«Du hast es gut gemacht», sagt
Jesus, und gleichzeitig ruft Judas aus: «Du hast es schlecht gemacht! Warum hast
du nicht gesagt, daß er der Messias, der König der Welt ist? Zerschmettert muß
sie werden, die hochmütige Römerin, durch Gottes Herrlichkeit!»
«Sie hätte mich nicht verstanden...
und dann? Ich wußte nicht, ob sie aufrichtig war. Du hast gesagt, was sie ist,
als du sie sahst. Konnte ich ihr die heiligen Dinge - und alles, was Jesus
betrifft, ist heilig - in den Mund schleudern? Sollte ich Jesus in Gefahr
bringen, durch meine Aussagen? Von allen erfährt er Böses, nicht aber durch
mich!»
«Laß uns gehen, Johannes, um ihr zu
sagen, daß es der Messias ist, und um ihr die heilige Wahrheit zu erklären ...»
«Ich nicht; es sei denn, Jesus
befiehlt es mir.»
«Hast du Angst? Was soll sie dir
schon antun? Ekelst du dich? Der Meister hat sich auch nicht geekelt.»
«Weder Angst noch Ekel! Ich habe
nur Mitleid mit ihr. Doch ich denke, wenn Jesus gewollt hätte, dann wäre er dort
geblieben und hätte sie unterwiesen. Er hat es nicht getan... so ist es auch
nicht an uns, es zu tun.»
«Zu jenem Zeitpunkt gab es noch
keine Anzeichen einer Bekehrung...
118
Jetzt ... Zeig mir den Beutel,
Elias!» Und Judas, der sich ins Gras gesetzt hat, leert den Inhalt des Beutels
auf einen Zipfel seines Mantels: Ringe, Armreife und Ketten rollen golden über
das mattgelbe Gewand des Judas.
«Alles Schmuckstücke! ... Was
machen wir damit?»
«Man kann sie verkaufen», sagt
Simon.
«Es sind lauter nichtssagende
Dinge», sagt Judas, obwohl er die Gegenstände bewundert.
«Ich habe dasselbe gesagt, als ich
sie entgegennahm; ich habe auch gesagt: "Dein Herr wird dich schlagen!" Sie hat
darauf erwidert: "Es gehört nicht ihm. Es ist mein Eigentum, und ich tue damit,
was ich will. Ich weiß, daß es Sündengeld ist... doch es wird edles Gold werden,
wenn es für Leute verwendet wird, die arm und gerecht sind... Er soll meiner
gedenken." Und sie weinte.»
«Gehe hin zu ihr, Meister.»
«Nein!»
«Schicke Simon!»
«Nein.»
«Dann gehe ich.»
«Nein.»
Jesu "Nein" sind klar und
gebieterisch.
«Habe ich unrecht getan, Meister,
mit ihr zu sprechen?» fragt Elias, der sieht, daß Jesus sehr ernst geworden ist.
«Du hast nicht unrecht gehandelt.
Aber es gibt nichts weiteres zu tun.»
«Aber vielleicht will die Frau sich
bessern und möchte belehrt werden», wirft Judas ein.
«In ihr sind schon viele Funken
vorhanden, um ein Feuer zu entfachen, in dem ihre Laster verbrennen können, um
ihre Seele durch die Reue wieder jungfräulich werden zu lassen. Vor kurzem habe
ich euch über den Sauerteig gesprochen, der das Mehl durchzieht und aus ihm
heiliges Brot macht. Hört ein kurzes Gleichnis:
Diese Frau ist wie das Mehl. Ein
Mehl, in das der Böse sein höllisches Pulver hineingemischt hat. Ich bin der
Sauerteig. Oder mein Wort ist der Sauerteig. Doch wenn zuviel Kleie oder Steine
in das Mehl, wenn Sand und Asche hineingemischt sind, kann es dann noch Brot
werden, selbst wenn der Sauerteig gut ist? Nein! Es müssen zuerst geduldig die
Kleie, die Asche, die Steine und der Sand aus dem Mehl ausgesiebt werden. Die
Barmherzigkeit geht vorüber und bietet das Sieb an... Vorerst kurze,
fundamentale Wahrheiten. Sie sind nötig für den, der im Netz der vollständigen
Unkenntnis, des Lasters und des Heidentums gefangen ist. Wenn die Seele sie
annimmt, beginnt die erste Reinigung. Die zweite erfolgt durch das Sieb der
Seele selbst, die ihr Sein mit dem Sein dessen vergleicht, der sich geoffenbart
hat. Sie empfindet Abscheu über sich selbst. Nun beginnt ihre eigene Arbeit.
Nach den Steinen, dem Sand und der Asche wird
119
auch das Mehl ausgeschieden, das
nicht fein genug gemahlen ist, um gutes Brot zu geben. Jetzt ist alles bereit.
Nun kommt die Barmherzigkeit noch einmal vorbei, versenkt sich in das
vorbereitete Mehl... auch dieses ist noch Vorbereitung, Judas... läßt es
aufgehen und wird Brot. Doch es ist ein langer Werdegang und erfordert den
"Willen" der Seele.
Die Frau hat schon das Wenige in
sich, das ihr gerechtermaßen zu geben war und ihr helfen kann, ihre Aufgabe zu
erfüllen. Lassen wir sie dabei ungestört, da sie den Willen dazu hat. Alles
stört eine Seele, die an sich arbeitet: die Neugier, der ungeordnete Eifer, der
Starrsinn, wie auch die übertriebene Frömmigkeit.»
«So gehen wir nicht zu ihr?»
«Nein. Und damit keiner von euch in
Versuchung kommt, brechen wir sofort auf. Im Walde ist es schattig. Wir werden
uns im Terbintotal ausruhen. Dort wollen wir uns trennen. Elias wird mit Levi zu
seinen Weiden zurückkehren, während Joseph mit mir bis zur Furt von Jericho
kommt. Dann werden wir uns wieder treffen. Du, Isaak, fährst fort mit dem, was
du in Jutta getan hast... und wirst dich von hier aus über Arimathäa und Lydda
bis nach Doko begeben. Dort werden wir uns treffen. Wir müssen Judäa
vorbereiten. Und du weißt, wie das gemacht wird. Du hast es schon in Jutta
getan.»
«Und wir?»
«Ihr? Ihr werdet, wie ich gesagt
habe, mit mir kommen, um meine Vorbereitung kennenzulernen. Auch ich habe mich
auf meine Sendung vorbereitet.»
«Du bist zu einem Rabbi gegangen?»
«Nein.»
«Zu Johannes?»
«Ich habe mich nur von ihm taufen
lassen.»
«Wie dann?»
«Bethlehem hat mit Steinen und mit
Herzen geantwortet. Auch dort, wohin ich dich mitnehme, Judas, werden die Steine
und ein Herz, mein Herz, sprechen und dir die Antwort geben.»
Elias, der Milch und dunkles Brot
gebracht hat, sagt: «Während ich auf dich gewartet habe, habe ich mit Isaak
versucht, die Leute von Hebron zu überzeugen. Aber sie glauben und überzeugen
sich nicht; sie wollen nur Johannes den Täufer. Er ist ihr Heiliger, und sie
wollen keinen anderen als ihn.»
«Eine Sünde, die vielen Ländern und
vielen Gläubigen gemeinsam ist, in der Gegenwart und der Zukunft. Sie blicken
auf den Arbeiter und nicht auf den Herrn, der den Arbeiter gesandt hat. Sie
erbitten vom Arbeiter etwas, ohne zu sagen: "Sag dies deinem Herrn!" Sie
vergessen, daß es den Arbeiter gibt, weil es den Arbeitgeber gibt, und daß
dieser den Arbeiter anlernt und ihn zum Arbeiten befähigt. Sie vergessen, daß
der Arbeiter
120
vermitteln, daß aber nur einer
entscheiden kann: der Herr! In diesem Falle Gott und sein "Wort" mit ihm. Das
ist nun einmal so. Das "Wort" empfindet darüber Schmerz, aber keinen Groll. Laßt
uns gehen.»
Die Vision ist beendet.
116. JESUS AUF DEM BERG DES FASTENS
UND AM FELSEN DER VERSUCHUNG
Ein wunderschöner Morgen irgendwo
in der Wildnis. Ein Lichtschein über einem Berggipfel. Der Tag ist am Erwachen.
Hoch oben einige übriggebliebene Sterne und die dünne Sichel des abnehmenden
Mondes, wie ein silbernes Komma auf dem dunkelblauen Samt des Himmels.
Der Berg scheint nicht zu einer
Gebirgskette zu gehören. Es ist aber ein Berg, nicht nur ein Hügel. Der Gipfel
ist viel weiter oben, doch man hat schon von halber Höhe ein sehr weites
Blickfeld: ein Zeichen, daß er hoch über die Ebene emporragt in der frischen
Morgenluft, in der sich das grünlich-weiße Licht noch unsicher den Weg bahnt. Es
wird immer heller, so daß die Umrisse und Einzelheiten klarer hervortreten. So
kann ich erkennen, daß der Berg kahl und felsig und von Rissen durchsetzt ist,
welche Grotten, Höhlen und Gesimse bilden. Ein wilder Ort, an dem nur vereinzelt
an Stellen, wo etwas Erde liegt und sich etwas Wasser vom Himmel ansammelt,
grüne Büschel wachsen, wilde stachelige Pflanzen und niedrige starre Stauden,
deren Namen ich nicht kenne.
Am Fuße des Berges dehnt sich eine
flache, steinige Wüste aus, an deren Ende eine dunkle Stelle ist, die auf eine
vom Grundwasser gespeiste Oase schließen läßt. Doch nun, beim Hellerwerden, kann
man erkennen, daß es nichts als Wasser ist: ein stehendes, ein düsteres, totes
Gewässer, ein See von unendlicher Traurigkeit. In diesem Zwielicht überkommt
mich die Erinnerung an die Vision einer toten Welt. Es scheint, daß der See alle
Dunkelheit des Nachthimmels in sich aufnimmt, alles Düstere des Bodens der
Umgebung; daß er in seinen toten Wassern alles schmutzige Grün der Dornenbüsche
und steifen Gräser enthält, die kilometerweit in der Ebene und an den Hängen den
einzigen Schmuck der Gegend bilden. Eine wahrlich trostlose Schau, und welch ein
Gegensatz zum sonnigen, lachenden See Genesareth!
Doch wenn ich hinauf zum Himmel
blicke, der von einer so absoluten Klarheit ist und immer heller wird; wenn ich
sehe, wie das Licht von Osten her in immer kraftvolleren Wogen näherrückt, wird
mir wieder froh ums Herz. Aber der Anblick dieses so düsteren toten Sees hat
etwas Beklemmendes an sich. Kein Vogel überfliegt das Wasser, kein Tier ist an
seinem Ufer. Nichts!
121
Während ich diese Trostlosigkeit
betrachte, erreicht mich die süße Stimme meines Jesus: «Nun sind wir da
angekommen, wo ich euch hinführen wollte.» Ich wende mich um und sehe ihn hinter
meinem Rücken zwischen Johannes, Simon und Judas auf einem Pfad am felsigen Fuße
des Berges. Es ist dies eigentlich nicht ein Pfad, sondern ein kaum
wahrnehmbarer Weg; ein Graben, den das Regenwasser im Verlauf der Jahrhunderte
in den Kalkstein gegraben hat und der jetzt eher ein Weg für die wilden Ziegen
als für Menschen ist.
Jesus schaut umher und wiederholt:
«Ja, hierher wollte ich euch führen. Hier hat Christus sich auf seine Mission
vorbereitet.»
«Aber hier ist doch nichts!»«Du
sagst es, hier ist nichts.»«Mit wem warst du hier?»«Mit meinem Geist und meinem
Vater.»«Ach, das war wohl ein Aufenthalt von wenigen Stunden?» «Nein, Judas,
nicht von wenigen Stunden... von vielen Tagen.»«Wer sorgte für dich? Wo hast du
geschlafen?»
«Als Diener hatte ich die wilden
Esel, die nachts in ihrer Höhle schliefen... in dieser hier, in der auch ich
Zuflucht gesucht habe. Als Diener hatte ich die Adler, die mit ihrem rauhen
Schrei verkündeten: "Es ist Tag" und fortflogen, um nach Beute zu suchen. Als
Freunde hatte ich die kleinen Hasen, die das spärliche Gras zu meinen Füßen
fraßen. Meine Speise und mein Trank waren, was die Wildblumen haben: der
nächtliche Tau und das Sonnenlicht. Nichts anderes!»
«Aber warum?»
«Um mich gut auf meine Sendung
vorzubereiten, wie du sagst. Die gut vorbereiteten Dinge gelingen gut. Du selbst
hast es gesagt. Und bei mir ging es nicht um ein dürftiges, wertloses Anliegen;
ich - als Diener des Herrn - hatte den Menschen das Wesen Gottes verständlich zu
machen, und sie aufgrund dieses Verständnisses zur Liebe im Geiste der Wahrheit
zu führen. Welch armseliger Diener des Herrn, der an seine eigene Verherrlichung
denkt und nicht an den Triumph des Herrn; der den eigenen Vorteil sucht und
davon träumt, sich selbst auf einen Thron emporzuschwingen; der aus göttlichen
Dingen banale Angelegenheiten macht und was himmlisch ist, entwürdigt. Ein
solcher Mensch ist nicht mehr Diener, auch wenn es nach außen hin so scheint. Er
ist ein Händler, ein Schwindler, der sich und andere betrügt, ja selbst Gott
betrügen möchte; ein Unglücklicher, der ein Fürst zu sein glaubt und doch nur
ein Sklave ist. Er gehört dem Dämon, dem König der Lüge. Hier, in dieser Höhle,
lebte Christus viele Tage von Abtötungen und Gebet, um sich auf seine Sendung
vorzubereiten. Wohin sollte ich zu meiner Vorbereitung gehen, Judas?»
Judas ist verunsichert und
verwirrt. Endlich antwortet er: «Ich weiß
122
nicht... ich dachte, zu irgendeinem
Rabbi... zu den Essenern... ich weiß nicht.»
«Hätte ich einen Rabbi finden
können, der mir mehr gesagt hätte als die Macht und die Weisheit Gottes? Und
hätte ich - ich, das ewige Wort des Vaters, ich, der ich war, als der Vater den
Menschen erschuf, und weiß, mit welchem unsterblichen Geist er belebt ist und
welche Kraft des freien Urteils- und Entscheidungsvermögens ihm der Schöpfer
gegeben hat - hätte ich Weisheit und Fähigkeit bei jenen schöpfen können, welche
die Unsterblichkeit der Seele, die Auferstehung nach dem Tode und die
Handlungsfreiheit des Menschen leugnen, welche Tugend und Laster, heilige und
schlechte Taten als Schicksal, dem man nicht entgehe, als unabwendbar
bezeichnen? O nein! Ihr habt eine Bestimmung, gewiß, ihr habt sie. Im Geiste
Gottes, der euch erschuf, liegt eure Bestimmung. Und es ist eine Bestimmung der
Liebe, des Friedens, der Glorie: "die Heiligkeit, seine Kinder zu sein". Diese
Bestimmung ist seit der Erschaffung Adams aus dem Schlamm dem Geiste Gottes
gegenwärtig, und so wird es bis zur Erschaffung der letzten Menschenseele sein.
Doch der Vater tut euch in eurem
Königsein keine Gewalt an. Ein gefangener König ist nicht mehr König; er ist ein
Verworfener. Ihr seid Könige, weil ihr in eurem kleinen individuellen Bereich
frei seid: in eurem Ich. In ihm könnt ihr machen, was ihr wollt und wie ihr es
wollt. Euch gegenüber und an den Grenzen eures kleinen Reiches habt ihr einen
königlichen Freund und zwei feindliche Mächte. Der Freund zeigt euch die Regeln,
die er gegeben hat, um diejenigen, die ihm gehören wollen, glücklich zu machen.
Er zeigt die Regeln, er, der Weise und Heilige, damit ihr, wenn ihr wollt, sie
befolgen und ewige Herrlichkeit verdienen könnt. Er sagt euch! Das sind sie! Mit
ihnen ist euch der ewige Sieg gewiß! Die beiden feindlichen Mächte sind Satan
und das Fleisch. Das Fleisch seid ihr und die Welt. Also die Pracht und die
Verführungen der Welt, der Reichtum, die Feste, die Ehren, die Macht, die man
von der Welt und in ihr haben kann und die nicht immer ehrbar sind und nicht
immer in ehrbarer Weise benützt werden, wenn sie einem aus mannigfaltigen
Gründen zufallen. Satan, der Gebieter über das Fleisch und die Welt, wirbt für
die Welt und das Fleisch. Auch er hat seine Regeln. Und wie hat er sie! Und da
das Ich vom Fleisch umgeben ist, und das Fleisch das Fleisch anzieht wie der
Magnet die Metallspäne, und da der Gesang des Verführers süßer als das Klagen
der verliebten Nachtigall im Mondenschein und im Dufte der Rosen ist, so ist es
leichter, diese Regeln zu befolgen, sich diesen Mächten zuzuwenden und zu ihnen
zu sagen: "Ihr seid meine Freunde, tretet ein!"
Tretet ein... Habt ihr je einen
Verbündeten gesehen, der immer anständig blieb und nicht einen Prozent verlangte
für die gebotene Hilfe? So machen es diese Mächte. Sie treten ein... und werden
zu Herrschern. Zu Herrschern? Nein, zu Polizisten! Sie binden euch, o Menschen,
an ihre
123
Galeerenbank, sie ketten euch an
und lassen euch das Haupt vom Joch nicht mehr erheben, und wenn ihr versucht,
euch loszureißen, dann schneiden sie euch mit den Ruten ins Fleisch. Entweder
ihr laßt euch verwunden, bis ihr nur noch ein elender Haufen zerschlagenes
Fleisch seid, so unnütz, daß ihre grausamen Füße euch wegstoßen, oder ihr
sterbt. Wenn ihr euch dieses Martyrium auferlegt, ja ihr selbst es euch
auferlegt, dann kommt die Barmherzigkeit, die einzige, die sich dieses
abstoßenden Elends erbarmt, vor dem die Welt - einer ihrer Gebieter - sich nun
ekelt und auf das der andere Gebieter, der Satan, seine Rachepfeile schießt. Die
Barmherzigkeit, die einzige, die sich erbarmt, kommt, sich beugt, aufrichtet,
pflegt, heilt und sagt: "Komm, fürchte dich nicht. Habe keine Angst, deine
Wunden sind nur noch Narben; doch sie sind so zahllos, daß du erschrecken
würdest, so sehr entstellen sie dich. Ich beachte sie nicht. Ich blicke auf
deinen Willen. Dieses guten Willens wegen fällst du mir auf. Darum sage ich dir:
Ich liebe dich! Komm mit mir." Und die Barmherzigkeit trägt dich in ihr Reich.
So versteht ihr, daß die
Barmherzigkeit und der königliche Freund ein und dieselbe Person sind. Ihr
werdet die Regeln wiederfinden, die sie euch gezeigt hat und die ihr nicht
befolgen wolltet. Nun wollt ihr, und ihr erreicht zuerst den Frieden des
Gewissens und dann den Frieden Gottes.
Sagt mir also: Wurde dieses
Schicksal von Einem allein für alle bestimmt, oder ist es von jedem persönlich
für sich selbst gewollt?»
«Es ist von jedem einzelnen frei
gewählt worden.»
«Du urteilst richtig, Simon. Konnte
ich zu den Leugnern der seligen Auferstehung und der Gnade Gottes gehen, um mich
zu bilden? Hierher bin ich gekommen. Als Menschensohn habe ich hier meine Seele
in ihren letzten Feinheiten bearbeitet und habe so ein dreißigjähriges Werk der
Vorbereitung und der Selbstverleugnung: in der tiefsten Erniedrigung vollendet,
um in Vollkommenheit mein Amt anzutreten. Nun bitte ich euch, ein paar Tage mit
mir in dieser Höhle zu verbringen. Dieser Aufenthalt wird immer noch weniger
trostlos sein, weil wir vier Freunde sind, um gemeinsam gegen die Traurigkeit,
die Angst, die Versuchungen und die Bedürfnisse unseres Leibes anzukämpfen. Ich
war allein. Und es wird auch weniger mühselig sein, weil es jetzt Sommer ist und
der Wind hier in der Höhe die Hitze mildert. Ich kam am Ende des Monats Tebet
hierher, und der Wind, der vom verschneiten Berggipfel herunterblies, war eisig.
Dieser Aufenthalt wird auch noch weniger qualvoll sein, weil er kürzer sein
wird, und wir über ein Minimum an Nahrung verfügen, die unseren Hunger lindert,
und in den kleinen Lederschläuchen, die ich euch von den Hirten geben ließ, ist
genügend Wasser für ein paar Tage. Ich... ich muß Satan zwei Seelen entreißen.
Nur die Buße bringt das zustande. Ich bitte euch um Hilfe. Für euch wird es
überdies von erzieherischem Wert sein. Ihr werdet lernen, wie man Satan seine
Opfer entreißt. Nicht so sehr mit
124
Worten als vielmehr mit Opfern ...
Die Worte! ... Der Spektakel Satans verhindert, daß sie gehört werden ... Jede
Seele in der Gewalt des Feindes befindet sich in einem wahren Strudel
teuflischer Stimmen... Wollt ihr bei mir bleiben? Wenn ihr nicht wollt, geht!
Ich bleibe. Wir werden uns in Thekoa wieder treffen, am Markt.»
«Nein, Meister, ich verlasse dich
nicht», sagt Johannes, während Simon gleichzeitig ausruft: «Du erhebst uns,
indem du uns bei dir behältst bei diesem Werk der Erlösung.»
Judas sieht nicht sehr begeistert
aus. Doch er macht gute Miene zur Situation und sagt: «Ich bleibe.»
«Nehmt also die Wasserbeutel und
die Taschen und tragt sie hinein, bevor die Sonne anfängt zu brennen. Macht
Kleinholz und häuft es neben dem Eingang auf. Die Nächte sind hier auch im
Sommer kühl, und nicht alle Tiere sind gutartig. Einen Ast zündet sofort an, den
dort von der harzhaltigen Akazie; er brennt gut. Wir wollen noch in die Fugen
und Ritzen leuchten, um mit dem Feuer Nattern und Skorpione zu vertreiben. Geht
ans Werk!»
Die gleiche Stelle auf dem Berg,
nur ist es jetzt Nacht. Eine ganz sternenklare Nacht. Die Schönheit des
nächtlichen Himmels, wie man sie wahrscheinlich nur in diesen beinahe tropischen
Ländern finden kann! Die Sterne sind groß und von einer wunderbaren Leuchtkraft.
Die größeren Konstellationen gleichen Trauben von Brillanten, hellen Topazen,
bleichen Saphiren, mild leuchtenden Opalen und dunklen Rubinen. Sie funkeln,
leuchten auf, erlöschen für einen Augenblick wie ein Auge, das zeitweise vom Lid
verdeckt wird, um danach in neuem Glanz zu erstrahlen. Ab und zu durchfurcht ein
Stern den Himmel und verschwindet irgendwo am Horizont. Ein Lichtstreifen, wie
der Jubelruf eines Sternes, der durch diese grenzenlosen, sternbesäten Weiten
fliegen darf.
Jesus sitzt an der Öffnung der
Höhle und spricht zu den drei Jüngern, die um ihn herum gruppiert sind. In ihrer
Mitte ist noch ein Häuflein glühender Holzstücke, die ihren rötlichen Schein auf
die vier Gesichter werfen.
«Ja, der Aufenthalt ist zu Ende;
dieser Aufenthalt. Das letztemal hat er vierzig Tage gedauert... und ich sage es
euch noch einmal: es war noch Winter auf diesen Hängen... und ich hatte keine
Nahrung. Etwas schwieriger als dieses Mal, nicht wahr? Aber ich weiß, daß ihr
auch jetzt gelitten habt. Das Wenige, das wir hatten und ich euch gab, war
nichts, besonders für den Hunger der Jüngeren. Es genügte gerade, um nicht in
Ohnmacht zu fallen. Wasser hattet ihr noch weniger. Es ist brütend heiß am Tage,
und ihr werdet sagen, so war es im Winter nicht. Doch damals blies ein trockener
Wind, der von der Höhe wehte und in der Lunge brannte. Er brachte aus der Wüste
Sand mit und trocknete alles noch mehr aus als diese Sommerhitze, die ihr mit
den säuerlichen Früchten, die beinahe reif
125
sind, leidlich ertragt. Damals bot
der Berg nur Wind und vom Eis verdorrte Kräuter unter den Skeletten der Akazien.
Ich habe euch nicht alles gegeben, sondern habe die letzten Brote und den
letzten Käse mit dem letzten Wasserbeutel für den Rückweg aufgespart. Ich weiß,
was der Rückweg war... erschöpft wie ich war in der Einsamkeit der Wüste ...
Suchen wir unsere Sachen zusammen
und gehen wir! Die Nacht ist noch heller als jene, in welcher wir hergekommen
sind. Es scheint kein Mond, aber vom Himmel regnet es Licht. Laßt uns gehen!
Denkt an diesen Ort! Erinnert euch stets daran, wie Christus sich vorbereitet
hat und wie sich auch seine Apostel vorbereiten: wie ich die Apostel lehre, sich
vorzubereiten!»
Sie erheben sich. Simon stochert
mit einem Zweig in der Asche, um das Feuer neu anzufachen, wirft getrocknete
Kräuter darauf und entzündet an der Flamme einen Akazienzweig. Diese Fackel hält
er am Eingang der Höhle in die Höhe, während Judas und Johannes Mäntel, Taschen
und die kleinen Wasserbeutel, von denen nur noch einer voll ist, zusammentragen.
Dann schlägt er die Fackel gegen den Felsen, nimmt seine Tasche, wirft sich wie
die anderen den Mantel um und bindet ihn sich um die Hüfte fest, damit er ihm
beim Gehen nicht hinderlich sei.
Sie steigen schweigend einer hinter
dem anderen einen schmalen Pfad hinab und treiben kleine Tiere in die Flucht,
die an den spärlichen Gräsern, die der brütenden Sonne widerstanden haben, ihren
Hunger zu stillen suchen. Der Weg ist lang und beschwerlich. Schließlich
erreichen sie die Ebene. Auch hier ist der Weg unbequem, denn Steine und
Steinsplitter bewegen sich heimtückisch unter den Füßen und verletzen diese, da
die Erde zu Staub zermahlen ist und Geröll verbirgt. Dürre, dornige Zweige
zerkratzen die Haut und verfangen sich in den Gewändern. Doch nun geht es
besser.
Am Himmel erstrahlen die Sterne
immer heller.
Sie marschieren, stundenlang. Die
Ebene wird unfruchtbarer und trostloser. Ein Glitzern leuchtet aus Erdritzen und
ausgetrockneten Löchern. Fast könnte man an schmutzige Brillantsplitter denken.
Johannes bückt sich, um sie zu betrachten. «Es ist das Salz des
Untergrundbodens, der davon gesättigt ist. Mit dem Frühjahrsregen steigt es an
die Oberfläche und trocknet dann ein. Deshalb gibt es hier kein Leben. Durch
tiefliegende Wasseradern bringt das östliche Meer Tod und Unfruchtbarkeit viele
Stadien weit ins Land hinein. Nur wo süße Quellen dieses ätzende Wasser mildern,
ist es möglich, wieder Pflanzen zu finden und eine Wiederbelebung der Natur zu
beobachten», erklärt Jesus.
Sie gehen weiter. Dann verweilt
Jesus beim hohlen Felsen, wo ich seine Versuchung durch Satan gesehen habe. «Wir
wollen hier haltmachen. Setzt euch nieder! Bald wird der Hahn krähen. Wir sind
nun schon sechs Stunden unterwegs, und ihr habt Hunger und Durst und werdet müde
126
sein. Nehmt! Eßt und trinkt! Setzt
euch hierher zu mir, ich will euch noch etwas sagen, was ihr später euren
Freunden und der Welt mitteilen sollt.»Jesus hat seine Tasche geöffnet und ihr
Brot und Käse entnommen, die er zerschneidet und an die Jünger verteilt. Dann
gießt er aus seinem Schlauch Wasser in ein Schüsselchen und reicht es ebenfalls
herum.
«Du ißt nicht, Meister?»
«Ich möchte zu euch sprechen. Hört
zu! Einmal hat mich ein Mann gefragt, ob ich nie versucht worden sei. Er fragte
mich, ob ich nie eine Sünde begangen und nie einer Versuchung erlegen sei. Und
er wunderte sich, daß ich, der Messias, die Hilfe des Vaters erbeten habe, um
widerstehen zu können, mit den Worten: "Vater, führe mich nicht in Versuchung!"»
Jesus spricht leise, ruhig, als ob
er etwas sagen würde, was allen unbekannt ist. Judas neigt verlegen das Haupt,
aber die anderen sind so vertieft in das, was Jesus sagt, daß sie es nicht
bemerken. Jesus fährt fort: «Nun sollt ihr, meine Freunde, erfahren, was dieser
Mann nur oberflächlich wußte. Ich war rein: rein durch meine Unschuld. Aber vor
dem Allerhöchsten ist man nie rein genug, und die Demut zum Bekenntnis: "Ich bin
ein Mensch und Sünder" ist schon Taufe und reinigt das Herz. Nach der Taufe bin
ich hierher gekommen. Ich bin das Lamm Gottes genannt worden von dem, der als
Heiliger und als Prophet die Wahrheit sah und den Geist vom Himmel her auf das
Wort niedersteigen sah und aus ihm mit dem Chrisam der Liebe den Gesalbten
machte, während die Stimme des Vaters die Himmel mit dem Schall seiner Worte
erfüllte, als er sagte: "Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein
Wohlgefallen habe." Du, Johannes, warst dabei, als der Täufer die Worte
wiederholte... Nach der Taufe, und obwohl rein von Natur aus und rein durch die
Taufe, wollte ich mich "vorbereiten". Ja, Judas, schau mich an! Mein Auge soll
dir sagen, was mein Mund bis jetzt verschwiegen hat.
Schau mich an, Judas! Betrachte
deinen Meister, der sich nicht über den Menschen erhoben hat, um der Messias zu
sein, sondern vielmehr in allem - außer in der Zustimmung zum Bösen - Mensch
sein wollte. Ja, so ist es.»
Nun hat Judas das Haupt erhoben und
betrachtet Jesus, der ihm gegenübersitzt. Im Sternenschein leuchten im bleichen
Antlitz die Augen Jesu wie zwei Fixsterne.
«Um sich vorzubereiten, ein Meister
zu sein, muß man erst Schüler gewesen sein. Ich war allwissend, als Gott. Meine
Einsicht ließ mich mittels meiner Erkenntnis die inneren Kämpfe des Menschen
geistig verstehen. Doch eines Tages hätte ein armer Freund, irgendein armer
Sohn, zu mir sagen können: "Du weißt nicht, was es heißt, Mensch zu sein und
Gefühle und Leidenschaften zu haben." Es wäre ein gerechter Vorwurf gewesen. Ich
bin hierher gekommen, auf den Berg, um mich vorzubereiten; nicht allein auf die
Sendung, sondern auch auf die Versuchung. Seht ihr? Hier,
127
wo ihr euch jetzt befindet, wurde
ich versucht. Von wem? Von einem Sterblichen? Nein. Zu gering wäre seine Macht
gewesen. Ich wurde vom Satan selbst versucht.
Ich war erschöpft. Seit vierzig
Tagen hatte ich nicht gegessen... doch solange ich ins Gebet vertieft war,
fühlte ich nichts in meiner Freude der Zwiesprache mit Gott. Ich empfand den
Hunger als erträglich, weil er nur die Materie betrifft, die Materie allein.
Dann kehrte ich zur Welt zurück... auf die Wege der Welt... und fühlte die
Bedürfnisse des Menschen. Ich hatte Hunger, ich hatte Durst. Ich fühlte die
schneidende Kälte der Wüstennacht. Ich fühlte den Körper, seinen Mangel an Ruhe
und Schlaf und die Erschöpfung vom langen Weg, den ich in einer derartigen
Verfassung zurückgelegt hatte; ich konnte nicht mehr weitergehen...
Denn auch ich habe Fleisch und
Blut, Freunde. Wahres Fleisch. Und es ist denselben Schwächen unterworfen, die
jedes Fleisch empfindet. Und mit dem Leib habe ich ein Herz. Ja, von der
menschlichen Natur habe ich den ersten und den zweiten der drei Teile, aus denen
der Mensch besteht, übernommen: die Materie mit ihren körperlichen Bedürfnissen
und das Gemüt mit seinen Neigungen. Und da ich mit meinem Willen alle nicht
guten Neigungen schon im Keime erstickt habe, konnten die heiligen Neigungen der
kindlichen Liebe, der Heimatliebe, der Freundschaft, der Arbeit und alles, was
gut und heilig, groß und mächtig ist, werden wie jahrhundertealte Zedern. So
habe ich hier die Sehnsucht nach meiner fernen Mutter empfunden. Hier habe ich
das Bedürfnis ihrer sorgenden Liebe in meiner Hinfälligkeit als Mensch
empfunden. Hier hat mich von neuem der Schmerz überwältigt, mich von der
Einzigen, die mich vollkommen liebt, trennen zu müssen. Hier habe ich das
Bedürfnis nach ihrer Pflege meiner menschlichen Gebrechlichkeit gespürt; hier
habe ich erneut den Schmerz erfahren, mich von der Einzigen getrennt zu haben,
die mich vollkommen liebte; hier habe ich den Schmerz vorausgefühlt, der mir
vorbehalten ist, und den Schmerz über ihren Schmerz, arme Mutter, die einmal
keine Tränen mehr haben wird, da sie so viele vergießen muß für ihren Sohn und
um der Menschen willen. Und hier habe ich die Müdigkeit des Helden und des
Asketen kennengelernt, der in einer Stunde die Vorahnung, die Nutzlosigkeit
seiner Bemühung erkennt.
Ich habe geweint. Die Traurigkeit,
sie ist ein magisches Mittel für Satan. Es ist keine Sünde, traurig zu sein,
wenn die Stunde leidvoll ist. Sünde ist, der Traurigkeit freien Lauf zu geben
und der Haltlosigkeit oder Verzweiflung zu verfallen. Satan ist sofort da, wenn
jemand von geistiger Mattigkeit befallen wird.
Er ist gekommen. Im Gewande eines
wohlwollenden Wanderers. Er gibt sich immer wohlwollend... Ich hatte Hunger...
und ich hatte meine dreißig Jahre im Blut. Satan hat mich versucht; denn er
glaubte, ich sei verwundbar, da er mich hungrig sah und auch mein Alter kannte.
Er hat
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mir seine Hilfe angeboten. Zuerst
hat er zu mir gesagt: "Gebiete diesen Steinen, Brot zu werden!"... Doch zu
allererst hat er mir von der Frau gesprochen. Oh! er versteht sich darauf, von
ihr zu sprechen. Er kennt sie von Grund auf. Er hat die Frau als erste verführt,
um aus ihr seine Verbündete in der Verführung zu machen. Ich bin nicht nur der
Sohn Gottes. Ich bin Jesus, der Handwerker von Nazareth. Ich sagte damals zum
Mann, der mich gefragt hat, ob ich die Versuchung kenne, und der mich beinahe
beschuldigte, ungerechterweise glücklich zu sein, da ich nicht wüßte, was Sünde
sei: "Der Akt bewirkt die Befriedigung. Die zurückgedrängte Versuchung weicht
nicht, sondern wird noch stärker, auch weil Satan sie anschürt!" Ich habe der
Versuchung des Hungers nach Brot und nach der Frau widerstanden. Und ihr sollt
wissen, daß Satan die Frau - menschlich gesprochen nicht zu Unrecht - mir zuerst
anbot, denn sie ist seine beste Verbündete, um sich in der Welt zu behaupten.
Der "Versucher", der sich mit
meinem: "Nicht vom Brot allein lebt der Mensch" nicht geschlagen gab, begann nun
von meiner Sendung zu sprechen. Satan wollte den Messias verführen, nachdem er
den jungen Mann versucht hatte. Und er trieb mich an, die unwürdigen Diener des
Tempels durch ein Wunder zu vernichten. Das Wunder, die Flamme des Himmels,
dient nicht dazu, um sich aus Weidenruten eine Krone zu winden und sich mit ihr
zu schmücken. Und man versucht Gott nicht, indem man um Wunder für menschliche
Zwecke bittet. Das wollte Satan. Das vorgebrachte Motiv war nur ein Vorwand. Die
Wahrheit war: "Rühme dich, der Messias zu sein!" Auf diese Weise dachte er, in
mir eine Begehrlichkeit zu wecken: den Hochmut.
Nicht besiegt von meinem: "Du
sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen!", hat er mich mit der dritten
Kraft seiner Natur versucht: dem Gold! Oh, das Gold! Eine große Sache ist das
Brot, noch begehrenswerter die Frau für den, der nach Nahrung und Genuß
verlangt. Ganz groß aber ist der Beifall der Massen für den Menschen... Wie
viele Verbrechen werden aus diesen drei Gründen begangen! Aber das Gold... das
Gold... Es ist der Schlüssel, der aufschließt, der Ring, der kettet, das Alpha
und Omega von neunundneunzig Prozent der menschlichen Handlungen. Für das Brot
und die Frau wird der Mensch zum Dieb. Um Macht zu erobern, wird er auch zum
Mörder. Doch für das Gold wird er zum Götzenanbeter. Der König des Goldes,
Satan, hat mir sein Gold angeboten, damit ich ihn anbete... Ich habe ihn
vertrieben mit den ewigen Worten: "Den Herrn, deinen Gott allein sollst du
anbeten!"
Und hier an dieser Stelle hat sich
dies ereignet.»
Jesus ist aufgestanden. Er scheint
viel größer als sonst in der ebenen Umgebung und in dem leicht
phosphoreszierenden Schein, der von den Sternen träufelt. Auch die Jünger stehen
auf. Jesus spricht weiter und blickt Judas fest in die Augen.
129
«Dann sind die Engel des Herrn
gekommen... Der Mensch Jesus hatte die dreifache Schlacht gewonnen. Der Mensch
Jesus wußte, was es heißt, Mensch zu sein, und er hatte gesiegt. Er war
erschöpft. Der Kampf war ermüdender gewesen wegen des langen Fastens. Doch es
war ein überwältigender Sieg des Geistes. Ich glaube, daß der ganze Himmel
gebebt hat, angesichts dieses Standhaltens eines mit Geist begabten Geschöpfes,
und ich glaube, daß von jenem Augenblick an die Gabe des Wunderwirkens in mir
war. Ich war Gott gewesen. Und ich bin Mensch geworden. Nun, da das Animalische
besiegt war, das zur Natur des Menschen gehört, bin ich der Gottmensch. Ich bin
es. Als Gott bin ich allmächtig! Und als Mensch kenne ich alles. Macht es also
wie ich, wenn ihr tun wollt, was ich vollbringe! Und tut es zu meinem
Gedächtnis!
Ein Mann wunderte sich, daß ich um
die Hilfe des Vaters gebeten habe und auch darum, mich nicht in Versuchung zu
führen, d.h. mich nicht Versuchungen preiszugeben, die meine Kräfte übersteigen
könnten. Ich
glaube, daß dieser Mensch, nun, da
er es weiß, sich nicht mehr wundern wird. Tut auch ihr so, zu meinem Gedächtnis
und um wie ich zu siegen. Zweifelt nie an mir, da ich stark bin in allen
Versuchungen des Lebens, siegreich in allen Kämpfen der fünf Sinne, der
Sinnlichkeit und der Gefühle. Ich beherrsche meine wahre Menschennatur und zudem
bin ich Gott. Erinnert euch an all das!
Ich hatte euch versprochen, euch an
diesen Ort zu führen, um euch die Möglichkeit zu geben, euren Lehrmeister
kennenzulernen... im Morgengrauen seines Tages: eines Morgengrauens, so klar und
rein wie am Mittag seines Lebens. Dann mache ich mich auf, um dem Abend meines
menschlichen Lebens entgegenzugehen... Einem von euch habe ich gesagt: "Auch ich
habe mich vorbereitet." Ihr seht, daß dies wahr ist. Ich danke euch, daß ihr mir
Gesellschaft geleistet habt bei dieser Rückkehr zu meinem Geburtsort und zum Ort
der Buße. Die erste Berührung mit der Welt hatte mich schon angeekelt und
entmutigt. Sie ist zu schlecht. Nun hat sich meine Seele mit dem Mark des Löwen
gestärkt: in der Vereinigung mit dem Vater im Gebet und in der Einsamkeit. Und
ich kann in die Welt zurückkehren, um mein Kreuz auf mich zu nehmen, mein erstes
Kreuz als Erlöser, das in der Berührung mit der Welt besteht, einer Welt, in der
zu wenige die Seele einer Maria, eines Johannes haben...
Nun hört gut zu, besonders du,
Johannes! Wir sind auf dem Weg zur Mutter und zu den Freunden. Ich bitte euch:
sagt der Mutter nichts von der Härte, mit der man sich der Liebe ihres Sohnes
widersetzt hat! Sie würde zu sehr leiden. Sie wird durch die Grausamkeit der
Menschen noch unendlich viel leiden müssen... doch bis dahin möge ihr der Kelch
erspart bleiben, der sehr bitter sein wird, wenn er ihr gereicht werden wird,
bitter wie ein Gift, das sich in die heiligen Organe und Venen einschlängeln und
ihr das Herz erstarren lassen wird. Oh, sagt meiner Mutter nicht, daß
130
Bethlehem und Hebron mich wie einen
Hund verjagt haben! Habt Erbarmen mit ihr! Du, Simon, bist alt und gut; du hast
eine besonnene Art und wirst darüber nicht sprechen, ich weiß es. Du, Judas,
bist aus Judäa und wirst aus lokalem Stolz nicht reden. Aber du, Johannes, du,
ein Galiläer und jung, falle nicht in die Sünde des Stolzes, der Kritik, der
Erbarmungslosigkeit! Schweige über das, was vorgefallen ist! Später dann... viel
später, wenn die Zeit gekommen ist, wirst du berichten, wie sehr ich dich
gebeten habe zu schweigen, wie auch allen anderen. Es gibt schon so viel zu
erzählen über das, was Christus betrifft. Warum also auch noch hinzufügen, was
vom Satan stammt und gegen Christus gerichtet ist? Freunde, versprecht ihr mir
dies alles?»
«Oh, Meister! Gewiß versprechen wir
es dir. Sei beruhigt!»
«Danke! Laßt uns nun bis zur
kleinen Oase gehen. Dort ist eine Quelle, eine Zisterne voll frischen Wassers
und Schatten und Grün. Die Straße zum Fluß führt daran vorbei. Wir werden dort
Nahrung und Erquickung bis zum Abend finden. Im Schein der Sterne werden wir
dann den Fluß, die Furt, erreichen. Dort warten wir auf Joseph, wenn er nicht
schon da ist. Laßt uns gehen!»
Und sie machen sich auf den Weg,
während die erste Röte am äußersten Osten des Himmels ankündet, daß ein neuer
Tag heraufsteigt...
117. AM ÜBERGANG DES JORDAN -
BEGEGNUNG MIT DEN HIRTEN JOHANNES, MATTHIAS UND SIMEON
Ich sehe den Übergang des Jordans
wieder, die grünen Wege, die auf beiden Seiten den Fluß entlang führen und von
vielen Reisenden begangen werden, des Schattens wegen. Reihen von Eseln kommen
und gehen, und Menschen begleiten sie.
Am Ufer des Flusses weiden drei
Männer einige Schafe. Auf dem Wege steht Joseph und späht wartend nach beiden
Richtungen. Weit in der Ferne, dort, wo die Straße auf den Fluß trifft, taucht
Jesus mit den drei Jüngern auf. Joseph ruft die Hirten, und diese treiben die
Schafe auf den Weg und lassen sie auf dem grasigen Pfad weiterlaufen. Sie gehen
eilend Jesus entgegen.
«Ich wage nicht recht... wie soll
ich ihn begrüßen?»
«Oh, er ist so gütig. Du kannst
sagen: "Der Friede sei mit dir!" Auch er grüßt immer so.»
«Er, ja... aber wir!»
«Und ich, wer bin ich? Ich gehöre
nicht einmal zu seinen ersten Anbetern, und doch ist er so gut zu mir... oh, so
gut!»
«Welcher ist es?»
131
«Sollen wir ihm vom Täufer
berichten, Matthias?»
«O ja!»
«Muß er dann nicht annehmen, daß
wir den Täufer ihm vorgezogen haben?»
«Aber nein, Simeon. Wenn er der
Messias ist, dann sieht er in die Herzen und wird darin lesen, daß wir im Täufer
ihn gesucht haben.»
«Du hast recht.»
Nun sind die zwei Gruppen nur noch
wenige Meter voneinander entfernt. Jesus lächelt schon auf die ihm eigene Art,
die nicht beschrieben werden kann. Joseph beschleunigt seinen Schritt. Auch die
Schafe gehen schneller, von ihren Hirten dazu angetrieben.
«Der Friede sei mit euch», sagt
Jesus und hebt die Arme wie zu einer Umarmung und fügt bei, sich an jeden
einzelnen wendend: «Der Friede sei mit dir, Simeon, Johannes und Matthias, meine
Getreuen und Getreuen von Johannes, dem Propheten! Friede sei mit dir, Joseph»,
und er küßt ihn auf die Wange. Die anderen drei knien noch. «Kommt, Freunde!
Unter diesen Bäumen am Flußufer wollen wir miteinander sprechen.»
Sie steigen hinunter, und Jesus
setzt sich auf eine vorstehende Wurzel, die anderen auf die Erde. Jesus lächelt
ihnen zu und beobachtet sie, einen nach dem anderen. «Laßt mich eure Gesichter
betrachten! Eure Gesinnung kenne ich schon. Ihr seid Gerechte, die dem Guten
folgen und es allen Vorteilen der Welt vorziehen. Ich bringe euch den Gruß
Isaaks, Elias' und Levis. Und einen weiteren Gruß, den meiner Mutter. Habt ihr
Nachricht vom Täufer?»
Die Männer, in ihrer Befangenheit
bis dahin schweigsam, fassen Mut und finden endlich Worte: «Er ist noch im
Gefängnis. Unser Herz zittert um ihn, da er in den Händen eines Grausamen ist,
der von einem teuflischen Geschöpf beherrscht wird und von einer verdorbenen
Gesellschaft umgeben ist. Wir lieben ihn... Du weißt, daß wir ihn lieben und daß
er unsere Liebe verdient. Nachdem du Bethlehem verlassen hattest, wurden wir von
den Menschen verfolgt... Doch mehr als durch ihren Haß wurden wir trostlos und
niedergeschlagen wie von Wind entwurzelte Bäume, weil wir dich verloren hatten.
Dann, nach Jahren der Leiden, ist es uns ergangen wie jemand, dem die Augenlider
zugenäht sind, der die Sonne sucht und sie nicht finden kann, weil er in einem
Kerker eingeschlossen ist. Doch obwohl er die Sonne nicht sieht, fühlt er ihre
Wärme auf der Haut. Genauso ist es uns ergangen: wir haben gefühlt, daß der
Täufer der Mann Gottes ist, der von den Propheten Geweissagte, der die Wege für
seinen Christus bereitet, und wir sind ihm gefolgt. Wir haben uns gesagt: "Wenn
er der Vorläufer ist, dann werden wir ihn bei ihm finden." Denn du, o Herr,
warst es, den wir suchten.»
«Ich weiß es. Und ihr habt mich
gefunden. Ich bin bei euch!»
132
de an jenem Tage nicht bei ihm.
Vielleicht sind wir für ihn irgendwohin gegangen. Er pflegte uns nämlich um
Hilfe im Dienst an den Seelen zu bitten, und dies mit soviel Liebe, wie wir ihn
auch mit Liebe anhörten, obwohl er so streng war; denn er ist nicht wie du, das
"Wort", doch er sagte Worte Gottes.»
«Ich weiß es. Und diesen kennt ihr
nicht?» fragt Jesus und zeigt auf Johannes.
«Wir haben ihn zusammen mit anderen
Galiläern gesehen, in den Reihen der Getreuesten des Täufers. Und wenn wir nicht
irren, dann heißt du Johannes und ist der, von dem er zu seinen besten Freunden
sagte: "Ich bin der Erste, dieser der Letzte. Dann wird er der Erste und ich der
Letzte sein." Wir haben nie verstanden, was damit gemeint ist.»
Jesus wendet sich mit einem noch
strahlenderen Lächeln zu Johannes an seiner Linken, zieht ihn an sein Herz und
erklärt: «Er meinte damit, daß er der erste gewesen ist, der gesagt hat: "Seht
das Lamm Gottes!" ' und daß dieser hier der Letzte der Freunde des
Menschensohnes sein wird, der zu den Scharen vom Lamm sprechen wird. (Johannes,
der Evangelist, lobpreist das Lamm tatsächlich etwa dreißigmal in der
Apokalypse, dem letzten Buch der Bibel.) Ich liebe ihn mehr als alle anderen
Menschen. Dies wollte der Täufer sagen. Doch wenn ihr ihn seht - ihr werdet ihn
noch mehrmals sehen und ihm dienen bis zur vorgezeichneten Stunde - sagt ihm,
daß er nicht der Letzte ist im Herzen des Christus. Nicht so sehr wegen des
Blutes, das uns verbindet, sondern wegen seiner Heiligkeit liebe ich ihn ebenso
wie diesen hier. Denkt immer daran: wenn dieser Heilige sich in seiner Demut als
den Letzten bezeichnet, dann nennt ihn das Wort Gottes Gefährten seines
geliebten Jüngers. Sagt ihm, daß ich diesen liebe, weil er den gleichen Namen
trägt und weil ich in ihm dieselben Merkmale des Täufers wiederfinde, der die
Seelen für Christus vorbereitet.»
«Wir werden es ihm sagen... doch
werden wir ihn wiedersehen?»
«Ihr werdet ihn wiedersehen.»
«Ja, Herodes wagt ihn aus Angst vor
dem Volke nicht zu töten. Und an seinem Hof der Habsucht und der Bestechung wäre
es leicht, ihn zu befreien, wenn wir genügend Geld hätten. Doch wenn es auch
viel ist, was die Freunde bereits gespendet haben, so fehlt doch noch viel. Und
wir haben große Angst, daß wir nicht mehr viel Zeit haben und er vorher
umgebracht wird ...»
«Wieviel, glaubt ihr, fehlt noch
für den Loskauf?»
«Nicht für den Loskauf, Herr. Der
Täufer ist der Herodias zu verhaßt, und sie beherrscht Herodes zu sehr, als daß
man an einen Loskauf denken könnte. Aber... in Machaerus sind, glaube ich, alle
Anwärter auf das Erbe versammelt. Alle wollen genießen und den großen Herrn
spielen: von den Ministern bis zu den Dienern. Und um dies tun zu können,
braucht man
133
Geld... Wir haben auch jemanden
gefunden, der den Täufer für einen großen Betrag aus dem Kerker lassen würde.
Auch Herodes wünscht es vielleicht; denn er hat Angst. Nur deshalb. Angst vor
dem Volke und vor seiner Frau. So könnte er das Volk zufriedenstellen und von
seiner Frau nicht angeschuldigt werden, ihr nicht entsprochen zu haben.»
«Wieviel verlangt sie?»
«Zwanzig Silbertalente. Wir haben
nur zwölfeinhalb.»
«Judas, du hast gesagt, die
Schmuckstücke seien sehr schön.»
«Schön und kostbar.»
«Wieviel können sie wert sein? Mir
scheint, du verstehst etwas davon?»
«O ja, ich verstehe mich darauf.
Warum willst du den Wert wissen, Meister? Willst du sie verkaufen? Warum?»
«Vielleicht... sag, wieviel können
sie wert sein?»
«Wenn sie zu einem guten Preis
verkauft werden, dann mindestens... mindestens sechs Talente.»
«Bist du sicher?»
«Ja, Meister... die Kette allein,
so dick und schön, aus reinem Gold, ist mindestens drei Talente wert. Ich habe
sie gut angesehen. Und auch die Armbänder... Ich kann mir nicht vorstellen, wie
die zarten Handgelenke der Aglaia sie tragen konnten.»
«Es waren ihre Fesseln, Judas!»
«Es ist wahr, Meister; doch viele
möchten solche Fesseln haben...»
«Kennst du einen möglichen Käufer?»
«Es gibt ihrer viele.»
«Ja, viele, die Menschen nur dem
Namen nach sind... Kennst du etwa einen möglichen Käufer?»
«Du willst sie also verkaufen? Für
den Täufer? Aber sieh zu, es ist verfluchtes Gold!»
«O menschliche Inkonsequenz! Du
sagtest soeben mit offenkundigem Verlangen danach, daß viele dieses Gold haben
möchten, und dann nennst du es verflucht. Judas, Judas... Es ist verflucht, ja,
es ist verflucht. Doch sie hat gesagt: "Es wird gereinigt, wenn es für Arme und
Heilige verwendet wird" ' und dafür hat sie es hergegeben, damit der damit
Beschenkte für ihre arme Seele bete, die sich noch als Larve eines zukünftigen
Schmetterlings im Innern ihres Herzens entwickelt. Wer ist heiliger und ärmer
als der Täufer? Er hat dieselbe Sendung wie Elias, ist aber an Heiligkeit größer
als Elias. Er ist ärmer als ich. Ich habe eine Mutter und ein Haus. Wenn man das
hat, und so rein und heilig, wie ich sie habe, ist man nie verlassen. Er aber
hat kein Heim mehr und nicht einmal das Grab der Mutter. Alles ist verwüstet und
entheiligt worden von der menschlichen Bosheit... Wer ist also Käufer?»
«Da wäre einer in Jericho, und in
Jerusalem gibt es viele. Doch der in Jericho, das ist ein verschlagener
Levantiner, ein Goldschmied, Wucherer,
134
Trödler, Liebeshändler, bestimmt
auch Dieb und vielleicht sogar Mörder... sicher von Rom verfolgt. Er läßt sich
Isaak nennen, um als Jude zu erscheinen. Doch sein richtiger Name ist Diomedes.
Ich kenne ihn gut.»
«Wir sehen es», unterbricht ihn
Simon der Zelote, der wenig spricht, aber alles beobachtet. Und er fragt:
«Wie kommt es, daß du ihn so gut
kennst?»
«Nun... weißt du... um
einflußreichen Freunden einen Gefallen zu tun, bin ich zu ihm gegangen ... und
habe mit ihm Geschäfte gemacht... Wir vom Tempel... weißt du ...»
«Ja, ihr treibt alle Arten von
Geschäften», beendet Simon den Satz mit kalter Ironie. Judas kocht vor Wut, aber
schweigt.
«Kann er kaufen?» fragt Jesus.
«Ich glaube schon. An Geld fehlt es
ihm nie. Natürlich muß man handeln können, denn der Grieche ist schlau, und wenn
er sieht, daß er es mit einem Ehrlichen zu tun hat, einer Nesttaube, die noch
nicht flügge ist, dann rupft er ihn gehörig. Aber wenn er es mit einem Geier wie
er zu tun hat...»
«Dann geh du, Judas. Du bist der
rechte Mann. Du hast die Schlauheit des Fuchses und die Habgier des Geiers. Oh!
Verzeih, Meister! Ich habe vor dir gesprochen», sagt Simon der Zelote.
«Ich denke wie du, und darum sage
ich Judas, er soll hingehen. Johannes, geh du mit ihm. Wir werden euch bei
Sonnenuntergang einholen. Der Treffpunkt ist am Marktplatz. Geh und tue dein
Bestes.»
Judas steht sofort auf. Johannes
hat die flehenden Augen eines vertriebenen Hündleins. Doch Jesus spricht wieder
mit den Hirten und sieht den bittenden Blick nicht. Und Johannes geht mit
Judas...
«Ich möchte euch zufriedenstellen»,
sagt Jesus.
«Du tust dies immer, Meister. Der
Allerhöchste möge dich in unserem Namen segnen! Ist denn dieser Mann dein
Freund?»
«Er ist es. Scheint dir dies
unmöglich?»
Der Hirte Johannes neigt das Haupt
und schweigt, und der Jünger Simon sagt:
«Nur wer gut ist, weiß zu sehen.
Ich bin nicht gut und sehe nicht, was die Güte sieht. Ich sehe nur das Äußere.
Doch das Gute ist auch im Innern. Auch du, Johannes, siehst wie ich. Doch der
Meister ist gut... und sieht...»
«Was siehst du, Simon, in Judas?
Ich befehle dir zu sprechen!»
«Nun, ich denke, wenn ich ihn so
anschaue, an bestimmte geheimnisvolle Orte, welche den Raubtieren Unterschlupf
bieten und Fiebersümpfe sind. Man sieht nur ein großes Gestrüpp und macht
ängstlich einen weiten Bogen herum. Doch dahinter gibt es auch Turteltauben und
Nachtigallen, und der Erdboden ist reich an gutem Wasser und heilsamen Kräutern.
Ich will annehmen, daß Judas so ist... Ich glaube es, weil du ihn angenommen
hast. Du, der du alles weißt...»
135
«Ja, ich weiß... Es sind viele
Falten im Herzen dieses Menschen... Doch es fehlen auch viele gute Seiten nicht;
du hast es in Bethlehem und selbst in Kerioth gesehen. Wenn diese guten Seiten
in ihm, die nur menschliche Güte sind, sich auf die Höhe einer spirituellen Güte
erheben würden, wäre Judas so, wie du ihn haben möchtest. Er ist noch jung ...»
«Auch Johannes ist jung ...»
«Und du denkst in deinem Herzen: er
ist ein besserer Mensch. Aber Johannes ist Johannes! Liebe ihn, Simon, diesen
armen Judas. Ich bitte dich darum. Wenn du ihn liebst ... wird er dir besser
erscheinen.»
«Ich bemühe mich, es zu tun ... für
dich ... Doch er selbst zerstört meine Anstrengungen, als wären sie Schilfrohre
... Aber Meister, ich kenne nur ein Gesetz: das zu tun, was du willst. Darum
liebe ich Judas, auch wenn sich in mir etwas gegen ihn und gegen mich selbst
regt ...»
«Was, Simon?»
«Ich weiß es nicht genau... Es ist
wie der Alarmruf des Soldaten auf der Nachtwache, der mir sagt: "Schlafe nicht!
Paß auf!" Ich weiß keinen... Namen dafür. Doch es ist etwas gegen ihn in mir.»
«Denke nicht mehr daran, Simon.
Strenge dich nicht an, es zu definieren. Es ist nicht gut, gewisse Wahrheiten zu
kennen... und du könntest in deinem Wissen fehlgehen. Laß deinen Meister machen!
Du aber, gib mir deine Liebe und vergiß nicht, daß sie mich glücklich macht!»
Alles ist zu Ende.
118. ISKARIOT VERKAUFT DIOMEDES DIE
SCHMUCKSTÜCKE DER AGLAIA
Der Marktplatz von Jericho. Es ist
der Abend eines langen, heißen Hochsommertags. Vom Markt am Morgen sieht man nur
noch Reste - Gemüseabfälle, Haufen von Unrat, aus den Körben verlorenes Stroh,
Heu von den Futtersäcken der Esel und Lumpen. Ober allem triumphieren die
Fliegen, und die Sonne brütet Gestank und Verwesung aus den wenig gefälligen
Dingen. Der weite Platz ist leer. Einige Passanten, einige Straßenjungen, welche
die auf den Bäumen des Platzes nistenden Vögel mit Steinen bewerfen; einige
Frauen beim Wasserholen. Das ist alles.
Jesus kommt aus einer Straße daher
und schaut sich um. Er sieht noch niemand. Geduldig lehnt er sich an einen
Baumstamm, wartet, und benützt die Gelegenheit, um mit den Jungen über die Liebe
zu sprechen, die von Gott ausgeht und vom Schöpfer zu allen Geschöpfen gelangt.
«Seid nicht grausam! Warum wollt
ihr die Vögel der Luft erschrecken? Sie haben ihre Nester dort oben. Sie haben
ihre Kleinen. Sie tun niemand etwas zuleide. Sie schenken uns Lieder und
Sauberkeit; denn sie ernähren
136
sich vom Abfall der Menschen und
von Insekten, die dem Getreide und den Früchten schaden. Warum sie verletzen
oder töten und den kleinen Vöglein Vater und Mutter wegnehmen? Würde es euch
gefallen, wenn ein Verbrecher in euer Haus käme, um alles darin zu zerstören und
eure Eltern zu töten oder euch zu verschleppen? Nein, das würde euch nicht
gefallen. Warum fügt ihr diesen unschuldigen Vöglein das zu, was ihr nicht
wollt, daß es euch geschehe? Wie wollt ihr eines Tages gute Menschen werden,
wenn ihr schon als Kinder eure Herzen verhärtet in eurem Verhalten gegenüber
diesen wehrlosen Vögelchen? Wißt ihr denn nicht, daß das Gesetz sagt: "Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst?" Wer den Nächsten nicht liebt, kann Gott auch
nicht lieben. Und wenn er Gott nicht liebt, wie kann er in sein Haus gehen und
dort beten? Gott könnte sagen... und er sagt es im Himmel: "Geh weg, ich kenne
dich nicht! Du willst ein Sohn sein? Nein! Du liebst die Brüder nicht, du
achtest in ihnen den Vater nicht, der sie erschuf; daher bist du kein Bruder und
Sohn, sondern ein Bastard: ein Stiefsohn Gottes und ein Stiefbruder der Brüder."
Seht ihr, wie er, der ewige Herr, liebt? In den kälteren Monaten läßt er die
Scheunen gefüllt sein, damit sich dort seine Vöglein einnisten können. In den
heißen Monaten gibt er ihnen Blätterschatten, um sie vor der Sonne zu schützen.
Im Winter ist auf den Feldern das Korn nur leicht mit Erde bedeckt, und es ist
nicht schwer, den Samen zu finden und sich mit ihm zu ernähren. Im Sommer wird
der Durst mit saftigen Früchten gestillt, und es können sichere und warme Nester
gebaut werden mit den Grashalmen und der Wolle, die die Schafe an den Hecken
verloren haben. Und er ist der Herr! Ihr kleinen Menschen seid von ihm wie die
Vögel erschaffen worden und seid ihre Brüder; warum wollt ihr verschieden sein
von ihm, und glauben, das Recht zu haben, mit diesen kleinen Tieren grausam
umzugehen? Seid zu allen barmherzig und nehmt niemand das weg, was ihm zusteht,
nicht nur den menschlichen Brüdern, sondern auch den Tieren, euren Dienern und
Freunden und Gott ...»
«Meister», ruft Simon, «Judas
kommt.»
«... Und Gott wird mit euch
barmherzig sein und euch alles geben, was ihr nötig habt, wie er es diesen
Unschuldigen gibt. Geht und empfangt den Frieden Gottes.»
Jesus verläßt nun den Kreis der
Straßenbuben, zu denen sich auch Erwachsene gesellt haben, und geht Judas und
Johannes entgegen, die eiligen Schrittes aus einer Seitenstraße herkommen. Judas
strahlt vor Freude. Johannes lächelt Jesus zu... scheint aber nicht gerade
glücklich zu sein.
«Komm, komm, Meister! Ich glaube,
es gut gemacht zu haben. Doch komm mit mir! Auf der Straße kann man nicht
sprechen.»
«Wohin, Judas?»
«Zur Herberge. Ich habe schon vier
Zimmer reservieren lassen... ganz
137
einfache, keine Sorge... Einmal um
in einem Bett ausruhen zu können, nach soviel Anstrengung in dieser Hitze, und
um eine anständige Mahlzeit zu uns zu nehmen, nicht wie die Vögel im Fluge;
außerdem können wir in Ruhe sprechen. Ich habe sehr gut verkauft! Nicht wahr,
Johannes ?»
Johannes stimmt ohne große
Begeisterung zu.
Doch Judas ist über seinen Handel
sehr zufrieden und so bemerkt er nicht, daß Jesus vom Vorschlag einer bequemen
Unterkunft nicht begeistert ist, und daß auch Johannes nicht glücklich aussieht.
Er fährt fort: «Ich habe mehr eingenommen, als ich erwartet hatte, und so habe
ich mir gesagt: "Es ist berechtigt, eine kleine Summe, hundert Denare für unsere
Betten und Mahlzeiten vorzubehalten. Wenn wir erschöpft sind, die wir doch immer
etwas gegessen haben, wie muß dann erst Jesus am Ende sein!" Ich muß achtgeben,
daß mein Meister nicht krank wird. Das ist eine Pflicht der Liebe; denn du
liebst mich und ich liebe dich... Es ist auch Platz für euch und die Schafe. Ich
habe an alles gedacht», sagt Judas zu den Hirten.
Jesus sagt kein Wort. Er folgt nur
mit den anderen.
Sie kommen zu einem kleinen Platz.
Judas sagt: «Siehst du das Haus ohne Fenster zur Straße und mit der kleinen Tür,
die so eng ist wie ein Spalt? Es ist das Haus des Goldschmieds Diomedes. Es
sieht armselig aus, nicht wahr? Doch drinnen ist so viel Gold, daß man ganz
Jericho kaufen könnte und ha, ha! ...» Judas lacht schelmisch, «und zwischen
diesem Gold kann man auch viele Schmuck- und Zierstücke finden, und andere Dinge
von einflußreichen Personen Israels. Diomedes... alle tun so, als ob sie nichts
von ihm wüßten... und doch kennen ihn alle, angefangen bei den Herodianern bis
zu... alle, ohne Ausnahme! Auf diese glatte, arme Mauer könnte man schreiben:
"Geheimnis und Verschwiegenheit." Wenn diese Mauern reden könnten! Man könnte
höchstens an der Art, in der ich die Angelegenheit erledigt habe, Anstoß nehmen,
Johannes? Du... du würdest ersticken vor Entsetzen und Skrupeln. Übrigens,
Meister, schicke mich nie mehr mit Johannes in solche Läden. Es hätte wenig
gefehlt, und alles wäre schiefgegangen. Er begreift nicht rasch genug, er kann
nicht lügen; und mit einem Schlaufuchs wie Diomedes muß man rasch und frech
sein.»
Johannes murmelt: «Du hast gewisse
Dinge gesagt! So unmöglich und so... so ... Ja, Meister, schicke mich nicht
mehr! Ich bin nur fähig zu lieben, ich ...»
«Schwerlich werden wir noch einmal
solch einen Handel tätigen», antwortet Jesus, der sehr ernst geworden ist.
«Dort ist die Herberge. Komm,
Meister! Laß mich reden, ich habe alles vorbereitet.»
Sie treten ein, und Judas spricht
mit dem Wirt, der die Schafe in ein
138
Gehege bringen läßt und dann die
Gäste persönlich in einen Raum geleitet, in dem zwei Lager, Stühle und ein Tisch
bereit gestellt sind. Dann geht er.
«Laß uns sofort miteinander reden,
Meister, solange die Hirten ihre Schafe versorgen.»
«Ich höre.»
«Johannes kann sagen, ob ich
aufrichtig bin.»
«Daran zweifle ich nicht. Unter
ehrlichen Menschen braucht es keine Schwüre und Zeugnisse. Rede also!»
«Wir sind zur sechsten Stunde in
Jericho angekommen und waren erhitzt wie Satteltiere. Ich wollte bei Diomedes
nicht den Eindruck erwecken, daß ich in Not sei. Daher bin ich zuerst in die
Herberge gegangen, habe mich erfrischt und umgekleidet und gewollt, daß Johannes
dasselbe tue. Oh, er wollte nichts davon wissen, die Haare zu salben und sich in
Ordnung bringen zu lassen... Doch ich hatte unterwegs meinen Plan festgelegt.
Gegen Abend habe ich gesagt: "Laß uns gehen!" Wir waren beide ausgeruht und
erfrischt wie zwei Reiche auf einer Vergnügungsreise. Als wir bei Diomedes
angekommen sind, habe ich zu Johannes gesagt: "Du mußt mich unterstützen.
Widersprich mir nicht und begreife rasch!" Doch es wäre besser gewesen, wenn ich
ihn draußen gelassen hätte. Er war mir keine Hilfe. Im Gegenteil... Zum Glück
bin ich rasch für zwei und habe seine Fehler wieder gutgemacht.
Aus dem Hause kam gerade der
Zöllner. "Gut", habe ich mir gesagt, .wenn er weggegangen ist, finden wir Geld
und was ich zum Abschluß des Handels brauche." Denn der Zöllner ist ein Wucherer
und ein Dieb wie alle seinesgleichen, hat immer Schmuckstücke, die er mit
Drohung und Erpressung den Unglücklichen abnimmt, die er übermäßig mit Steuern
belegt, um sich genügend ausgesuchte Speisen und Weiber erlauben zu können. Und
er ist ein guter Freund des Diomedes, der Gold und Fleisch kauft und verkauft...
Wir sind eingetreten, nachdem ich mich angekündigt hatte. Ich sage: eingetreten,
denn es ist nicht dasselbe, ob man in seine Werkstatt geführt wird, wo er tut,
als ob er ehrliche Goldschmiedearbeit leiste, oder ob man in den Keller
eingelassen wird, wo er seine wirklichen Geschäfte macht. Man muß schon gut mit
ihm bekannt sein, um in den Keller vordringen zu können. Als er mich sah, hat er
sofort gefragt: "Willst auch du noch Gold verkaufen? Es sind schlechte Zeiten,
und ich habe wenig Geld." Sein übliches Lied. Ich habe ihm geantwortet: "Ich
komme nicht um zu verkaufen, sondern um zu kaufen. Hast du Schmuckstücke für
eine Frau? Aber sehr schöne, kostbare, seltene und schwere aus purem Gold?"
Diomedes hat mich erstaunt angeblickt und gefragt: "Willst du eine Frau?"
"Kümmere dich nicht darum!" habe ich geantwortet. "Es ist nicht für mich,
sondern für diesen Freund, der Bräutigam ist und Goldschmuck für seine Geliebte
kaufen möchte."
139
Da hat Johannes angefangen, sich
wie ein Kind zu benehmen. Diomedes, der ihn beobachtete, hat bemerkt, daß er rot
wie Klatschmohn wurde; da hat er als der alte Lüstling, der er ist, gesagt: "Der
Junge wird schon beim Nennen der Braut vom Fieber der Liebe ergriffen. Ist deine
Frau sehr schön?" hat er noch gefragt. Ich habe Johannes einen Fußtritt gegeben,
um ihn aufzuwecken und ihn daran zu erinnern, nicht den Dummen zu spielen. Er
hat mit einem solch unterdrückten "Ja" geantwortet, daß Diomedes mißtrauisch
geworden ist. Da habe ich mich eingeschaltet: "Ob schön oder nicht schön, das
geht dich Alten gar nichts an. Sie wird nie zu der Zahl jener Weiber gehören,
deretwegen dir die Hölle sicher ist. Es ist eine ehrbare Jungfrau und wird bald
eine ehrbare Frau sein. Gib dein Gold heraus. Ich bin der Brautführer und habe
den Auftrag, dem Jungen zu helfen... Ich bin aus Judäa und Städter."
"Der da ist Galiläer, nicht wahr?
Immer werden eure Haare zum Verräter. Ist er reich?"
"Sehr!"
Dann sind wir nach unten gegangen,
und Diomedes hat Truhen und Schatzkoffer geöffnet. Sag die Wahrheit, Johannes!
Kam es dir nicht wie im Himmel vor bei all dem Gold und den Edelsteinen? Ketten,
Schließen, Armreifen, Ohrgehänge, Goldnetze und edle Perlen ins Haar, Spangen
und Ringe: welch eine Pracht! Mit viel Sorgfalt habe ich eine Kette gewählt...
ähnlich jener der Aglaia, sowie Ringe, Spangen, Schließen, Armreife, alles so
wie ich es in der Tasche hatte und in derselben Anzahl. Diomedes wunderte sich
und fragte: "Noch mehr? Wer ist er denn? Und wer ist die Braut? Eine
Prinzessin?" Als ich dann alles hatte, was ich wollte, fragte ich: "Der Preis?"
Oh, welch eine Litanei von
vorbereitenden Klagen über die schlechte Zeit, die Steuern, das Risiko, die
Diebe! Oh, welch andere Litanei der Versicherung seiner Ehrlichkeit! Dann
endlich seine Antwort: "Nur weil du es bist, sage ich dir die Wahrheit, ohne zu
übertreiben. Ich verlange zwölf Silbertalente, doch keine Drachme weniger."
"Dieb!" habe ich ihn geschimpft,
und zu Johannes gesagt: "Laß uns gehen, Johannes. In Jerusalem werden wir schon
einen finden, der kein so großer Dieb ist wie dieser hier." Und ich habe getan,
als ob ich weggehen wollte. Er ist mir nachgerannt: "Mein verehrter Freund, mein
geliebter Freund, komm, höre deinen armen Diener an! Für weniger kann ich
nicht... ganz unmöglich. Schau, ich gebe mir Mühe, ich will mich für dich
ruinieren. Ich tue es, weil du mir immer deine Freundschaft geschenkt und mir
Geschäfte vermittelt hast. Elf Talente und basta! Das müßte ich zahlen, wenn ich
es von einem kaufen wollte, der Hunger hat. Keinen Heller weniger. Es würde
bedeuten, mir das Blut aus meinen alten Venen zu saugen."
Nicht wahr, Johannes, so hat er
gesagt? Es war zu lächerlich und ekelhaft.
140
Als ich dann sah, daß er auf diesem
Preis beharrte, habe ich losgelegt: "Du alter widerlicher Kerl, du mußt wissen,
ich will nicht kaufen, sondern verkaufen. All dies hier will ich verkaufen.
Schau, sie sind so schön wie deine Sachen. Alles Gold aus Rom, alles neue
Prägung. Du wirst es sofort loswerden. Es soll dein sein für elf Talente, soviel
wie du für deine Sachen verlangt hast. Du hast den Preis selbst festgesetzt, nun
bezahle!"
Und nun ging es los: "Das ist
Verrat! Du hast mich in meinem Vertrauen betrogen. Du bist mein Ruin. Ich kann
nicht soviel geben", hat er geschrien.
"Du hast es so geschätzt. Nun
zahle!"
"Ich kann nicht."
"Dann bringe ich es anderswohin."
"Nein, Freund", und dabei streckte
er seinen Arm nach Aglaias Haufen aus.
"Also bezahle! ... Zwölf Talente
könnte ich verlangen. Doch ich will mich mit deinem letzten Angebot begnügen."
"Ich kann nicht."
"Wucherer, schau, ich habe einen
Zeugen, und ich könnte dich als Dieb verklagen..." Und ich habe ihm auch noch
andere "Tugenden" vorgeworfen, die ich vor diesem Jungen nicht wiederholen
möchte.
Schließlich, da es mich drängte,
rasch zu verkaufen, habe ich ihm etwas gesagt, was ich nicht halten werde...
Welchen Wert hat denn ein Versprechen, das man einem Dieb gemacht hat? Und ich
habe mit zehneinhalb Talenten den Verkauf getätigt. Wir sind dann
auseinandergegangen unter Jammern und Freundschaftsversicherungen und...
Dirnenangebot. Johannes war dem Weinen nahe. Doch was macht es dir schon aus,
wenn man dich als lasterhaft ansieht und du es nicht bist? Weißt du denn nicht,
daß die Welt so beschaffen ist und dich als eine Mißgeburt betrachtet? Ein
Jüngling, der vom Weibe nichts weiß? Wer soll dir das glauben? Oder wenn man dir
glaubt... Was mich betrifft, so möchte ich nicht, daß man von mir denkt, was von
dir vielleicht die meinen, die sich vorstellen, daß du in dieser Richtung keine
Neigungen hast.
Hier, Meister. Zähle selbst nach!
Ich hatte eine Menge Kleingeld. Doch damit bin ich zum Zöllner gegangen und habe
gesagt: "Nimm dieses Kleingeld zurück und gib mir die Talente, die Isaak dir
gegeben hat!" Ich hatte nämlich zum Schluß auch das noch erfahren, als das
Geschäft abgeschlossen war.
Zum Abschied habe ich
Isaak-Diomedes noch gesagt: "Vergiß nicht, daß der Judas des Tempels nicht mehr
existiert! Nun bin ich der Jünger eines Heiligen. Tue so, als ob du mich niemals
gekannt hättest, wenn du an deinem Leben hängst."
Und beinahe hätte ich ihn gepackt,
weil er mir eine ungute Antwort darauf gegeben hat.»
141
«Was hat er denn gesagt?» fragt
Simon wie nebenbei.
«Er hat gesagt: "Du, der Jünger
eines Heiligen? Das werde ich niemals glauben; oder es wird so sein, daß bald
ein Heiliger bei mir um eine Dirne fragt." Er hat auch gesagt: "Diomedes ist ein
alter Schurke, eine Weltplage, doch du bist die neue. Ich könnte mich noch
bessern, denn ich wurde das, was ich bin, als Greis. Doch du änderst dich nicht.
Du bist so geboren." Dieses alte Luder, das deine Macht abstreitet, verstehst
du?»
«Als echter Grieche sagt er viele
Wahrheiten.» «Was willst du damit sagen, Simon? Sagst du das meinetwegen?»
«Nein, im allgemeinen. Er gehört zu
denen, die das Gold und die Herzen in gleicher Weise kennen. Er ist ein Dieb,
ein Erzgauner. Doch es spricht aus ihm die Philosophie der großen Griechen. Er
kennt den Menschen, das Tier mit den sieben Ästen der Sünde, den Polyp, der das
Gute, die Ehrbarkeit, die Liebe und viele andere Dinge in sich selbst und in
anderen abwürgt.»
«Aber er kennt Gott nicht!» «Und du
möchtest ihn belehren?» «Ich. Ja. Warum? Gerade die Sünder haben es nötig, Gott
zu kennen.»«Allerdings, aber der Meister muß ihn kennen, um ihn zu
belehren!»«Kenne ich ihn nicht?»
«Friede, meine Freunde! Die Hirten
kommen. Wir wollen ihre Herzen nicht mit euren Streitereien belasten. Hast du
das Geld gezählt? Das genügt. Bringe all deine Handlungen zu einem guten Ende,
wie diese, und, ich wiederhole es dir noch einmal, vermeide in Zukunft zu lügen,
auch um eines guten Zweckes willen ...»
Die Hirten treten ein.
«Freunde, hier sind zehneinhalb
Talente. Es fehlen nur 10O Denare, die Judas für die Ausgaben für Unterkunft
abgezogen hat. Nehmt das Geld.»
«Du gibst ihnen alles?» fragt
Judas.
«Alles. Ich will nicht einen Heller
von diesem Geld. Wir haben das Almosen von Gott und jenen, die ehrlich Gott
suchen... das Nötigste wird uns nie fehlen. Glaube es mir! Nehmt und seid froh
wie ich des Täufers wegen! Morgen werdet ihr zum Gefängnis gehen. Zwei von euch:
Johannes und Matthias. Simeon wird mit Joseph zu Elias gehen, um ihm alles zu
berichten und sich auf die Zukunft vorzubereiten. Elias weiß Bescheid. Dann soll
Joseph mit Levi zurückkommen. Der Ort des Zusammentreffens soll in zehn Tagen
das Fischtor von Jerusalem sein, um die erste Stunde. Nun wollen wir essen und
ausruhen. Morgen werde ich in der Frühe mit den Meinen aufbrechen. Anderes habe
ich euch jetzt nicht zu sagen. Später werdet ihr von mir hören.»
Die Vision verschwindet, während
Jesus das Brot bricht.
142
119. JESUS WEINT ÜBER JUDAS - SIMON
DER ZELOTE TRÖSTET IHN
Die Landschaft, in der Jesus sich
gerade aufhält, ist sehr fruchtbar. Herrliche Obstgärten, ertragreiche Weinberge
mit schweren Trauben, die gerade anfangen, sich golden und rubinrot zu färben.
Jesus sitzt in einem Obstgarten und ißt Früchte, die ein Landwirt ihm angeboten
hat. Vielleicht haben sie zuvor miteinander gesprochen, denn der Landmann sagt:
«Es freut mich, deinen Durst stillen zu dürfen, Meister. Dein Jünger hat uns von
deiner Weisheit berichtet, doch wir sind erstaunt, dich selbst zu hören. Da wir
nahe bei der heiligen Stadt leben, gehen wir öfters nach Jerusalem, um Obst und
Gemüse zu verkaufen. Bei dieser Gelegenheit steigen wir auch zum Tempel empor,
um die Rabbis zu hören. Doch sie sprechen nicht so wie du. Man geht weg und
fragt sich: "Wenn es so ist, wer kann dann gerettet werden?" Du hingegen! Es ist
mir so leicht ums Herz geworden. Man glaubt, wieder ein Kind zu werden, obwohl
man längst erwachsen ist. Ich bin ungebildet... ich kann mich nicht besser
ausdrücken. Doch du wirst mich ganz bestimmt verstehen.»
«Ja, ich verstehe dich. Du willst
sagen, daß du nach Anhörung des Wortes Gottes mit dem Ernst und der Erfahrung
eines Erwachsenen die Einfachheit, den Glauben und die Reinheit in deinem Herzen
einkehren fühlst und daß du dir wie ein Kind vorkommst, das ohne Schuld und
Bosheit und voller Glauben ist, wie einst, als du an der Hand deiner Mutter das
erste Mal zum Tempel hinaufgestiegen bist oder auf ihren Knien gebetet hast. Das
willst du sagen.»
«Ja, genau das. Glücklich ihr, die
ihr immer bei ihm sein dürft!» sagt er dann zu Johannes, Simon und Judas, die
auf einer niedrigen Mauer sitzen und saftige Feigen essen. Und der Bauer endet:
«Ich bin glücklich, daß du hier für eine Nacht mein Gast sein willst. Nun
fürchte ich kein Unglück mehr, denn dein Segen ist in mein Haus eingekehrt.»
Jesus antwortet: «Der Segen wirkt
und bleibt, wenn die Seelen dem Gesetze Gottes und meiner Lehre treu bleiben.
Andernfalls geht die Gnade verloren. Und es ist recht so. Denn wenn es wahr ist,
daß Gott Sonne und Luft sowohl den Guten als auch den Bösen schenkt, damit die
Guten besser werden und die Schlechten sich bekehren, so ist es auch gerecht,
daß der Schutz des Vaters sich zur Strafe vom Bösen abwendet, und er durch das
Leid zu Gott zurückgerufen werde.»
«So ist der Schmerz nicht immer ein
Nachteil?»
«Nein, Freund. Menschlich gesehen,
ist er etwas Negatives; im Übernatürlichen aber etwas Gutes. Das Leid vermehrt
die Verdienste der Gerechten, die es ohne Verzweiflung und Auflehnung ertragen
und es aufopfern in Ergebenheit, als Opfer der Sühne für die eigenen
Verfehlungen und für die Sünden der Welt; es bedeutet Erlösung für alle, die
nicht gerecht sind.»
143
«Es ist so schwer, zu leiden!» sagt
der Landwirt, dem sich die Familienangehörigen, etwa zehn Kinder und Erwachsene,
zugesellt haben.
«Ich weiß, daß der Mensch es
schwierig findet. Der Vater will seinen Kindern den Schmerz ersparen, da er
weiß, wie schwer er zu ertragen ist. Doch das ist die Folge der Schuld. Wie
lange aber dauert irdisches Leiden in einem Menschenleben? Wahrlich, nur kurze
Zeit. Nur kurze Zeit, selbst wenn es sich um das ganze Leben handelt. Ich aber
sage: ist es nicht besser, eine kurze Zeit zu leiden als ewig leiden zu müssen?
Ist es nicht besser, hier zu leiden als im Fegefeuer? Vergeßt nicht, daß dort
die Zeit tausendmal länger ist. Oh, wahrlich, ich sage euch, verwünscht eure
Schmerzen nicht, sondern preist die Leiden, die man besser "Gnaden" und
"Barmherzigkeit" nennen sollte.»
«Oh, deine Worte, Meister! Wir
trinken sie, wie ein Dürstender im Sommer das Honigwasser aus einem frischen
Krug trinkt. Willst du uns wirklich schon morgen verlassen, Meister?»
«Ja, morgen. Doch ich werde
wiederkommen, um dir zu danken für alles, was du für mich und die Meinigen getan
hast, und um dich nochmals um Brot und ein Lager zu bitten.»
«Immer, Meister, wirst du beides
hier finden.»
Es kommt ein Mann mit einem Esel,
der mit Gemüse beladen ist.
«Höre, wenn dein Freund mitgehen
will... Mein Sohn begibt sich nach Jerusalem zum großen Markt vor Ostern.»
«Geh, Johannes, du weißt, was du zu
tun hast. In vier Tagen werden wir uns wiedersehen. Mein Friede sei mit dir!»
Jesus umarmt Johannes und küßt ihn. Auch Simon tut dasselbe.
«Meister», sagt Judas, «wenn du
erlaubst, gehe ich mit Johannes. Es drängt mich, einen Freund wiederzusehen. Er
ist an jedem Sabbat in Jerusalem. Ich könnte mit Johannes bis Betfage gehen und
dann meinen eigenen Weg nehmen. Er ist ein Freund meiner Familie, weißt du...
und meine Mutter hat gesagt ...»
«Ich habe dich um nichts gebeten,
Freund.»
«Mein Herz weint, dich verlassen zu
müssen. Doch in vier Tagen werde ich wieder bei dir sein. Und ich will dir so
treu sein, daß es dir vielleicht unangenehm wird.»
«Geh nur. In vier Tagen treffen wir
uns bei Sonnenaufgang am Fischtor. Leb wohl, und Gott befohlen!»
Judas küßt den Meister und geht zum
Esel, der auf der staubigen Straße dahintrottet.
Der Abend senkt sich auf die still
gewordene Landschaft. Simon beobachtet die Arbeit der Gärtner, die ihre Schollen
bewässern.
Jesus verweilt noch eine Zeitlang
an seinem Platze. Dann erhebt er sich, geht hinter das Haus und begibt sich in
den Obstgarten. Er zieht sich zurück bis zu einer Stelle, wo Granatapfelbäume
zwischen niedrigen Sträuchern
144
wachsen, die vielleicht
Stachelbeersträucher sind. Doch ich bin mir dessen nicht ganz sicher, da sie
keine Früchte tragen, und ich die Blätter dieser Pflanze nicht genau kenne.
Jesus verbirgt sich hinter den Sträuchern. Er kniet nieder, betet und neigt sein
Antlitz bis zum Boden, verbirgt es im Gras und weint. Seine tiefen und
unterdrückten Seufzer verraten es. Ein lautloses, doch sehr bitteres Weinen.
So vergeht einige Zeit, und die
Dämmerung bricht herein. Doch es ist noch nicht so dunkel, daß man nichts mehr
unterscheiden kann. In dem spärlichen Licht sehe ich nun über einem Zweig das
unschöne, doch ehrliche Gesicht Simons erscheinen. Er schaut, sucht und erkennt
die zusammengekauerte Gestalt des Meisters, die ganz vom dunkelblauen Mantel
zugedeckt ist und sich fast nicht vom dunklen Boden abhebt. Nur das blonde Haupt
und die hellen, zum Gebet gefalteten Hände sind erkennbar.
Simon schaut mit seinen einfältigen
Augen und begreift, daß Jesus sehr traurig sein muß, da er oft seufzt. Er öffnet
seinen Mund mit den unförmigen Lippen, die fast violett sind, und ruft:
«Meister!»
Jesus hebt das Antlitz.
«Du weinst, Meister? Warum? Darf
ich kommen?» Das Gesicht Simons ist verblüfft und zugleich betrübt. Er ist kein
schöner Mann, wohl eher häßlich, mit seiner olivgrünen Hautfarbe und der
Zeichnung der tief eingegrabenen, bläulichen Narben seiner früheren Krankheit.
Doch sein Blick ist so gütig, daß alle Häßlichkeit verschwindet.
«Komm, Simon, Freund!»
Jesus hat sich ins Gras gesetzt.
Simon setzt sich neben ihn.
«Warum bist du traurig, Meister?
Ich bin nicht Johannes und kann nicht für dich tun, was er für dich tut. Aber
ich möchte dich trösten. Nur etwas schmerzt mich: daß ich so unfähig bin. Sage
mir, habe ich dir vielleicht in den vergangenen Tagen Kummer bereitet, so daß es
dir schwerfällt, mit mir zusammen zu sein?»
«Nein, guter Freund! Du hast mir
nie mißfallen vom Augenblick an, da ich dich das erstemal gesehen habe. Und ich
glaube, daß du mir nie Grund zum Klagen geben wirst.»
«Mein Meister! Ich bin deines
Vertrauens nicht würdig! Dem Alter nach könnte ich dein Vater sein, und du
weißt, daß ich mich immer gesehnt habe, Kinder zu erhalten... Laß mich dich
lieben, als ob du mein Sohn wärest, und daß ich dir in dieser mühseligen Stunde
Vater und Mutter ersetze. Du brauchst deine Mutter, um so viele Dinge vergessen
zu können ...»
«O ja, meine Mutter!»
«So laß, bis du dich mit ihr wirst
trösten können, deinem Diener die Freude, dich trösten zu dürfen. Du weinst,
Meister, weil jemand dir mißfiel. Seit Tagen schon ist dein Antlitz wie eine von
Wolken verdunkelte
145
Sonne. Ich beobachte dich. Deine
Güte verhüllt die Wunde, damit wir ihn nicht hassen, der dich verwundet hat.
Doch diese Wunde schmerzt und bereitet dir Ekel. Sage mir, mein Herr, warum
entfernst du die Ursache deines Leidens nicht von dir?»
«Weil es, menschlich gesehen,
unnütz ist und auch gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt.»
«Ja, du hast verstanden, daß ich
Judas meine. Seinetwegen leidest du. Wie kannst du, die Wahrheit, diesen Lügner
ertragen? Er lügt, ohne dabei die Farbe zu wechseln. Er ist falscher als ein
Fuchs und verschlossener als eine Eule. Nun ist er fortgegangen. Wer weiß,
wohin. Wie viele Freunde hat er denn? Es schmerzt mich, dich zu verlassen, aber
ich möchte ihm nachgehen und ihn beobachten... Oh, mein Jesus! Dieser Mensch...
entferne ihn von dir, mein Herr!»
«Es würde nichts nützen. Was sein
muß, wird geschehen.»
«Was willst du damit sagen?»
«Nichts Besonderes.»
«Du hast ihn gerne fortgehen
lassen, denn sein Verhalten in Jericho hat dich abgestoßen.»
«Das ist wahr, Simon. Und ich sage
dir noch einmal: was sein muß, wird geschehen. Und Judas ist ein Teil dieser
Zukunft. Auch er muß sein.»
«Aber Johannes hat zu mir gesagt,
daß Simon Petrus die Aufrichtigkeit in Person und ein Feuerkopf ist... wird er
ihn ertragen?»
«Er muß ihn ertragen. Auch Petrus
ist zu einem Werk bestimmt, und Judas ist der Webstuhl, auf dem er seinen Teil
zu weben hat, oder, wenn dir das besser gefällt, die Schule, in der Petrus mehr
als anderswo lernen wird. Gut mit Johannes sein und die Seele des Johannes
verstehen, das ist eine Tugend, die auch die Stumpfen besitzen. Doch gut mit
einem wie Judas sein und Seelen verstehen wie die seine, Arzt und Priester für
sie sein, das ist schwierig. Judas ist für euch ein lebendiger Unterricht.»
«Für uns?»
«Ja, euch. Der Meister wird nicht
ewig auf der Erde sein. Er wird sie verlassen, nachdem er das härteste Brot
gegessen und den bittersten Wein getrunken hat. Doch ihr bleibt und müßt auf
meinem Wege fortfahren... und ihr müßt wissen. Die Welt endet nicht mit dem
Meister, sondern dauert weiter bis zur endgültigen Wiederkunft Christi und zum
letzten Gericht über die Menschen. Wahrlich, ich sage dir, daß auf einen
Johannes, einen Petrus, einen Simon, einen Jakobus, einen Andreas, einen
Philippus, einen Bartholomäus und einen Thomas mindestens je sieben Judas
treffen; und noch mehr, noch mehr ...»
Simon überlegt und schweigt. Dann
sagt er: «Die Hirten sind gut. Judas verachtet sie. Doch ich liebe sie.»
«Ich liebe und lobe sie.»
146
«Es sind einfache Seelen, wie sie
dir gefallen.»
«Judas ist ein Städter.»
«Seine einzige Entschuldigung. Doch
viele sind in der Stadt aufgewachsen und trotzdem... Wann willst du meinen
Freund aufsuchen?»
«Morgen, Simon; sehr gerne, denn
wir werden allein sein, du und ich. Ich denke, es muß ein gebildeter Mensch
sein, wie du.»
«Er leidet sehr, körperlich und
noch mehr im Herzen. Meister, ich möchte dich um etwas bitten: wenn er nicht
selbst von seinen Betrübnissen sprechen sollte, frage ihn nichts über seine
Familie!»
«Ich werde es nicht tun. Ich bin
für die Leidenden gekommen, aber ich erzwinge keine Vertraulichkeiten. Auch das
Leid hat seine Zurückhaltung ...»
«Und ich habe nicht Rücksicht
darauf genommen... aber ich empfand soviel Schmerz.»
«Du bist mein Freund und hattest
die Ursache meines Schmerzes erkannt. Ich will für deinen Freund der unbekannte
Rabbi sein. Wenn er mich besser kennengelernt hat, dann... Laß uns gehen! Die
Nacht ist schon hereingebrochen. Lassen wir unsere Gastgeber nicht warten, die
müde sind! Morgen früh wollen wir nach Bethanien aufbrechen.»
120. «BEI EUCH STEHEN DIE GUTEN IM
SELBEN
VERHÄLTNIS ZU DEN BÖSEN WIE DIE
APOSTEL ZU JUDAS»
Jesus sagt dann:
«Kleiner Johannes, wie oft habe
ich, das Antlitz zur Erde, für die Menschen geweint. Und ihr möchtet mir im
Leiden nachstehen?
Auch bei euch stehen die Guten im
selben Verhältnis zu den Bösen wie die Apostel zu Judas. Je besser einer ist, um
so mehr leidet er. Doch auch für euch, und das sage ich ganz besonders allen,
denen die Seelsorge anvertraut ist, ist notwendig, Judas zu beobachten und zu
lernen. Ihr alle seid Petrus, ihr Priester! Auch ihr müßt binden und lösen. Doch
wieviel Beobachtungssinn, wieviel Vereinigung mit Gott, wieviel lebendiges
Studium und wieviel Vergleiche mit der Methode eures Meisters ist notwendig, um
so zu sein, wie ihr sein sollt!
Manchen wird es unnütz, menschlich
unmöglich erscheinen, was ich hier lehre. Es sind die Leugner der menschlichen
Aspekte des Lebens Jesu, sie wollen aus mir ein Wesen machen, das so außerhalb
des menschlichen Lebens steht und nur göttlich ist. Wo bleibt da die
allerheiligste Menschheit, wo das Opfer der zweiten Person in der Annahme des
menschlichen Fleisches? Oh! Ich war wirklich der Mensch unter Menschen. Ich war
der MENSCH. Und darum schmerzte mich der Anblick
147
des Verräters und der Undankbaren.
Darum erfreute ich mich auch an allen, die mich liebten oder sich zu mir
bekehrten. Darum erschauderte und weinte ich vor dem seelischen Leichnam des
Judas. Ich erschauderte und weinte vor dem toten Freunde. Aber ich wußte, daß
ich ihn zum Leben zurückrufen werde, und freute mich darüber, ihn im Geiste
schon in den Limben zu sehen. Aber hier... hier hatte ich den Dämon vor mir.
Mehr möchte ich darüber nicht sagen.
Du, Johannes, folge mir nach!
Machen wir den Menschen auch dieses Geschenk. Und dann... selig, die das Wort
Gottes anhören und sich bemühen, alles zu tun, was es verlangt. Selig, die mich
kennenlernen wollen, um mich zu lieben! In ihnen und für sie werde ich ein Segen
sein ...»
121. BEGEGNUNG JESU MIT LAZARUS IN
BETHANIEN
Ein ganz klarer, sommerlicher
Tagesanbruch. Mehr schon als die Morgenröte, der Sonnenaufgang: die Sonne erhebt
sich über den Horizont, steigt höher und lächelt der lächelnden Erde zu. Kein
Halm, der nicht mit seinem glitzernden Tau lacht. Es scheint, als seien die
nächtlichen Sterne Staub geworden, der wie Gold und Edelsteine auf allen Halmen
gleißt; sogar auf den am Boden verstreuten Steinen glaubt man Diamantpuder oder
Goldsplitterchen zu sehen.
Jesus und Simon haben einen Weg
eingeschlagen, der mit der Hauptstraße ein V bildet. Sie nähern sich herrlichen
Obstgärten und Flachsfeldern, deren Pflanzen, bereits mannshoch, bald abgemäht
werden müssen. Andere, weiter entfernte Felder zeigen nur die großen roten
Flecken des Klatschmohns im Gelb der Stoppeln.
«Wir befinden uns schon auf dem
Besitztum meines Freundes. Siehst du, Meister, die Entfernung entspricht der
gesetzlichen Meile. Ich hätte mir nie erlaubt, dich zu täuschen. Hinter diesem
Obstgarten ist der Zaun des Gartens und dahinter das Haus. Ich habe dich auf
dieser Abkürzung hierher geführt, um den Vorschriften zu gehorchen.»
«Dein Freund muß sehr reich sein.»
«Sehr. Doch er ist nicht glücklich.
Seine Familie hat auch anderswo Besitztümer.»
«Ist er Pharisäer?»
«Sein Vater war es nicht. Er... ist
sehr gesetzestreu. Ich habe dir gesagt: ein wahrer Israelit!»
Sie gehen noch ein Stück, bis zu
einer hohen Mauer. Dahinter stehen Bäume und Büsche, zwischen denen das Haus
kaum sichtbar ist. Der Erdboden bildet hier eine kleine Erhebung, doch nicht so
sehr, daß sie dem
148
Auge versagt, in den Garten zu
sehen, der so schön ist, daß wir ihn Park nennen wollen.
Sie gehen um die Ecke. Von der
Mauer hängen duftende Rosen- und Jasminsträucher herunter. Hier das schwere Tor
aus kunstgeschmiedetem Eisen. Simon schlägt mit dem bronzenen Klopfer an.
«Es ist noch zu früh, um
einzutreten, Simon», bemerkt Jesus.
«Oh! mein Freund steht mit der
Sonne auf, da er nur in seinem Garten oder zwischen seinen Büchern Trost findet.
Die Nacht ist für ihn eine Plage. Warte nicht länger, Meister, ihm die Freude
deines Kommens zu machen!»
Ein Diener öffnet das Tor.
«Asäus, ich grüße dich, sag deinem
Herrn, daß Simon der Zelote gekommen ist und seinen Freund mitgebracht hat.»
Der Diener eilt fort, nachdem er
beide hat eintreten lassen und sie mit den Worten begrüßt hat: «Euer Diener.
Kommt herein, denn das Haus des Lazarus steht allen Freunden offen!»
Simon kennt sich hier gut aus; er
schlägt nicht den Mittelweg ein, sondern einen kleineren zwischen Rosenhecken
und geht auf eine mit Jasmin bewachsene Pergola zu.
Tatsächlich zeigt sich dort
Lazarus. Er ist sehr mager und blaß, so wie ich ihn immer gesehen habe... sehr
groß, mit kurzen, schütteren und glatten Haaren und einem spärlichen Bart, der
nur die Unterseite des Kinns bedeckt. Er ist in feinstes Linnen gekleidet und
geht mühsam, wie jemand, den die Beine schmerzen. Da er Simon sieht, grüßt er
mit liebenswürdiger Geste und geht dann, so gut er kann, Jesus entgegen, wirft
sich ihm zu Füßen und küßt den Saum seines Gewandes und sagt: «Ich bin nicht so
viel Ehre wert. Doch da deine Heiligkeit sich bis zu meinem Elend erniedrigt,
komm, mein Herr, tritt ein und sei Herr in meinem bescheidenen Hause!»
«Steh auf, mein Freund, und
empfange meinen Frieden!»
Lazarus erhebt sich, küßt die Hände
Jesu und betrachtet ihn voller Verehrung, nicht ohne Neugier. Sie gehen zusammen
zum Hause.
«Wie sehr habe ich dich erwartet,
Meister! Jeden Morgen sagte ich mir: "Heute wird er kommen", und jeden Abend:
"Auch heute habe ich ihn nicht gesehen".»
«Warum erwartetest du mich so
sehnsüchtig?»
«Warum 9 ... Was erwarten wir in
Israel anderes als dich 7»
«Und du glaubst, das ich der
Erwartete bin?»
«Simon hat noch nie gelogen. Auch
ist er nicht ein Mensch, der übertreibt oder sich für Lügendunst begeistert. Das
Alter und das Leiden haben ihn zu einem Weisen heranreifen lassen. Und dann...
wenn er dich nicht an der Wahrheit deines Wesens erkannt hätte, dann hätten
deine Werke gesprochen und dich heilig erklärt. Wer die Werke Gottes tut, muß
149
ein Mann Gottes sein. Und du tust
sie. Und die Art und Weise, wie du sie vollbringst, bestätigt, daß du der Mann
Gottes bist. Mein Freund ist zu dir gekommen, angezogen durch die Kunde deiner
Wunder; und er hat ein Wunder an sich erlebt. Ich weiß, daß dein Weg durch
weitere Wunder gezeichnet ist. Warum also sollte ich nicht glauben, daß du der
Erwartete bist? Oh, es ist so süß, an das Gute zu glauben. Bei vielen unguten
Dingen müssen wir so tun, als seien sie gut... aus Friedensliebe... weil wir sie
nicht ändern können; bei vielen hinterhältigen Worten, die Verehrung, Lob und
Gutmütigkeit auszudrücken scheinen, jedoch Sarkasmus oder Ironie sind... mit
Honig überzogenes Gift. Wir müssen tun, als ob wir daran glaubten, obwohl wir um
das Gift, den Hohn und den Spott wissen. Wir müssen so tun, weil es nicht anders
möglich ist, da wir schwach sind gegen eine starke Welt und allein gegen eine
ganze Welt, die uns feindlich gesinnt ist. Warum also nicht an das Gute glauben?
Außerdem ist die Zeit erfüllt, und die Zeichen der Zeit sind da. Das, was
unserer Gewißheit noch fehlen könnte, kommt uns von unserem Willen zu glauben,
daß die Wartezeit beendet ist und der Retter, der Messias, da ist... der Israel
und den Kindern Israels den Frieden bringt. Er, der unseren Tod frei von Ängsten
machen wird, da wir wissen, daß wir erlöst sind, daß wir ohne den Schmerz der
Sehnsucht nach unseren Verstorbenen leben können... Oh, die Toten! Warum sie
beweinen, wenn nicht deshalb, weil sie keine Kinder mehr und noch nicht den
Vater und Gott haben?»
«Ist es schon lange her, daß dein
Vater gestorben ist?»
«Drei Jahre, und sieben, daß meine
Mutter gestorben ist... Doch seit einiger Zeit trauere ich nicht mehr um sie.
Auch ich möchte dort sein, wo ich hoffe, daß sie sind... in Erwartung des
Himmels.»
«Dann hättest du aber den Messias
nicht zu Gast.»
«Das ist wahr. Jetzt bin ich in
einer glücklicheren Lage als sie, da ich dich habe... und das Herz diese Freude
genießen darf. Tritt ein, Meister! Erweise mir die Ehre, daß mein Haus dein Haus
sei! Heute ist Sabbat; leider kann ich nicht zu deiner Ehre die Freunde einladen
...»
«Ich wünsche es auch nicht. Heute
bin ich nur für den Freund Simons da, der auch mein Freund ist.»
Sie betreten einen schönen Saal, wo
die Diener schon bereitstehen, sie zu empfangen.
«Ich bitte euch, ihnen zu folgen»,
sagt Lazarus. «So werdet ihr euch vor der morgendlichen Mahlzeit erfrischen
können.» Und während Jesus und Simon in einen anderen Raum gehen, gibt Lazarus
den Dienern Anweisungen. Ich erkenne, daß es ein reiches, vielmehr ein
herrschaftliches Haus ist.
Jesus trinkt Milch, die ihm Lazarus
unbedingt selbst eingießen will, bevor er sich zum Frühstück niedersetzt.
Ich höre, wie Lazarus, sich an
Simon wendend, sagt: «Ich habe den
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Mann gefunden, der bereit ist,
deine Güter zu erwerben zum Preis, den dein Vertrauensmann vorgeschlagen hatte.
Er will keine Drachme abziehen.»
«Ist er auch bereit, meine
Bedingungen zu erfüllen?»
«Er ist dazu bereit. Er nimmt alles
an, nur um zu diesen Ländereien zu kommen; auch ich bin zufrieden, da ich weiß,
wer mein Nachbar sein wird. Doch da du beim Verkauf nicht anwesend sein willst,
möchte auch er für dich unerkannt bleiben. Ich bitte dich, diesen Wunsch zu
berücksichtigen.»
«Ich habe nichts dagegen
einzuwenden. Du, mein Freund, wirst mich vertreten; was immer du tun wirst, wird
gut getan sein. Mir genügt es, wenn mein treuer Diener nicht auf die Straße
gestellt wird... Meister, ich verkaufe und bin sehr glücklich darüber, daß ich
nichts mehr habe, das mich an etwas bindet, was dir nicht dient. Doch ich habe
einen alten, treuen Diener, den einzigen, der mir nach meinem Schicksalsschlag
verblieben ist und der mir, wie ich dir schon gesagt habe, während meiner
Absonderung immer geholfen und meine Güter wie sein Eigentum verwaltet hat. Er
hat sie mit Hilfe des Lazarus als seine eigenen ausgegeben und sie mir somit
erhalten, um ein wenig meiner Not abhelfen zu können. Nun wäre es nicht gerecht,
wenn dieser Diener in seinem Alter auf die Straße gesetzt würde. So habe ich
beschlossen, daß ein kleines Haus am Rande des Besitztums ihm gehören und ein
Teil der Verkaufssumme ihm für seine künftigen Bedürfnisse gegeben werden soll.
Die Alten, weißt du, sind wie der Efeu. Nachdem sie immer an demselben Ort
gelebt haben, leiden sie zu sehr, wenn sie aus der gewohnten Umgebung
herausgerissen werden. Lazarus wollte ihn zu sich nehmen, denn er ist ein guter
Mensch. Doch ich habe es vorgezogen, die Sache so zu regeln. So wird der Alte
weniger leiden.»
«Auch du bist gut, Simon; wenn alle
so gerecht wären wie du, dann wäre meine Aufgabe einfacher», bemerkt Jesus.
«Findest du die Welt tückisch,
Meister?» fragt Lazarus.
«Die Welt? ... Nein. Die Mächte der
Welt: Satan! Wenn er nicht der Herr der Herzen wäre und sie nicht in seiner
Gewalt hätte, würde ich keinem Widerstand begegnen. Doch das Böse ist gegen das
Gute, und ich muß in jedem das Böse besiegen, um das Gute hineinzulegen, was
nicht alle wünschen.»
«Es ist wahr. Nicht alle wollen
dies. Meister, welche Worte findest du für die Schuldigen, um sie zu bekehren,
sie zu beugen? Worte der strengen Zurechtweisung, wie jene, denen wir in der
Geschichte Israels oft begegnen und die als letzter der Vorläufer gebrauchte...
oder Worte der Barmherzigkeit?»
«Liebe übe ich und Barmherzigkeit.
Glaube es, Lazarus, über jemand, der gefallen ist, hat ein Blick der Liebe mehr
Macht als eine Verfluchung.»
151
«Und wenn die Liebe verlacht wird?»
«Weiterhin lieben... bis zum
äußersten. Lazarus, kennst du die Gegenden, in denen der verräterische Erdboden
die Unvorsichtigen verschlingt?»
«Ja, ich habe darüber gelesen, denn
in meinem Zustand lese ich viel, aus Leidenschaft und um die langen, schlaflosen
Nächte zu verkürzen. Ich weiß, daß es solche in Syrien, in Ägypten und auch bei
Chaldäa gibt. Und mir ist bekannt, daß sie nicht mehr hergeben, was sie
verschlungen haben. Ein Römer sagte, daß es Mäuler der Hölle seien, in denen
heidnische Ungeheuer leben. Ist das wahr?»
«Das ist nicht war. Es sind nur
besondere Beschaffenheiten der Erdoberfläche. Der Olymp hat damit nichts zu tun.
Auch wenn man an den Olymp nicht mehr glauben wird, werden sie weiterbestehen,
und der Fortschritt der Menschen wird nur eine genauere Erklärung darüber geben
können, ohne an der Tatsache etwas zu ändern. Nun frage ich dich: wenn du davon
gelesen hast, weißt du bestimmt auch, wie man sich retten kann, wenn man
hineingefallen ist.»
«Ja, mit einem zugeworfenen Seil,
einer Stange oder auch einem Ast. Manchmal genügt ein kleiner Gegenstand, um dem
Versinkenden das Mininum an Halt zu geben, der ihm erlaubt, die Ruhe zu bewahren
und ohne Aufregung weitere Hilfe zu erwarten.»
«Nun gut: der Sünder, der Besessene
wird vom verräterischen Erdboden, der an der Oberfläche Blumen aufweist und
darunter beweglichen Schlamm hat, angesaugt. Glaubst du, daß einer, der weiß,
was es heißt, sich auch nur mit einem eigenen Atom in den Besitz Satans zu
begeben, es doch täte? Aber er weiß es nicht... und dann... entweder lähmt ihn
der Schreck und das Gift des Bösen, oder er wird verrückt; um sich zu retten,
wehrt er sich mit Bewegungen und sinkt dadurch nur tiefer in den Schlamm;
schlägt er weiter um sich, bewirkt er schwere Wogen und beschleunigt damit sein
Versinken. Die Liebe ist das Seil, der Ast, der Zweig, von dem du sprichst. Man
muß darauf bestehen, bis er sie ergreift ... Ein Wort... ein Verzeihen... ein
Verzeihen, das größer ist als die Schuld ... um ein weiteres Abgleiten zu
verhindern und die Hilfe Gottes zu erwarten. Lazarus, weißt du, welche Macht das
Vergeben hat? Es bringt dem Vergebenden Gott zu Hilfe. Du liest viel?»
«Sehr viel. Ich weiß nicht, ob es
gut ist. Doch aufgrund meiner Krankheit und anderer Dinge sind mir viele
menschliche Köstlichkeiten vorenthalten; so bleiben mir nur Liebhabereien:
Blumen und Bücher, Bäume und auch Pferde. Ich weiß, daß man mich deswegen
kritisiert. Doch ich kann in meinem Zustand (er zeigt seine dickgeschwollenen,
eingewickelten Beine) nicht zu Fuß oder auf einem Esel meine Güter besuchen. Ich
muß einen Wagen benützen, und es muß rasch gehen. Deswegen habe ich mir Pferde
angeschafft, und ich liebe sie sehr. Doch wenn du sagst, daß es nicht gut ist,
werde ich sie verkaufen.»
152
«Nein, Lazarus. Diese Dinge schaden
nicht. Es schadet nur, was den Geist beunruhigt und ihn von Gott entfernt.»
«Dies, Meister, wollte ich wissen.
Ich lese viel. Ich habe nur diesen Trost. Ich bin wißbegierig. Ich glaube, daß
es im Grunde besser ist, das Böse zu kennen als es zu tun; daß es besser ist zu
lesen als... andere Dinge zu tun. Doch ich lese nicht nur unsere Bücher. Ich
liebe es, auch die Welt der anderen kennenzulernen, und Rom und Athen ziehen
mich an. Nun weiß ich, wieviel Sittenverderbnis über Israel kam, als es sich mit
den Assyrern und Ägypten verbündete, und wieviel Übel uns die hellenisierende
Regierung gebracht hat. Ich weiß nicht, ob ein Einzelmensch sich selbst so viel
Unheil zufügen kann, wie Judas (Makkabäus) sich selbst und uns, seinen Söhnen,
angetan hat. Doch was denkst du davon? Ich möchte, daß du mich belehrst. Du, der
du nicht nur ein Rabbi bist, sondern das Wort der göttlichen Weisheit.»
Jesus betrachtet ihn einige Minuten
lang mit einem durchdringenden und doch fernen Blick. Man hat das Gefühl, daß
dieser Blick den matten Körper des Lazarus durchbohre, sein Herz ergründe, noch
einmal alles überprüfe und wer weiß was sehe. Endlich sagt Jesus: «Verwirrt dich
deine Lektüre? Entfernt sie dich von Gott und seinem Gesetz?»
«Nein, Meister. Sie zwingt mich zum
Vergleich zwischen unserem wahren Gott und den falschen, heidnischen Göttern.
Ich betrachte die Helden Israels, seine Gerechten, die Patriarchen, die
Propheten und vergleiche sie mit den finsteren Gestalten der Geschichte der
anderen Völker. Ich vergleiche unsere Philosophie - ich meine die Weisheit der
Heiligen Schrift - mit den armen griechischen und römischen Philosophien, in
welchen Feuerflämmchen aufflackern, doch keine richtige Flamme brennt und
leuchtet wie in den Büchern unserer Weisheit. Dann verneige ich mich in noch
tieferer Verehrung im Geiste, um unseren Gott anzubeten, der in Israel durch
Geschehnisse, Personen und unsere Schriften spricht.»
«Dann lies nur weiter, es kann für
dich nützlich sein, die heidnische Welt kennenzulernen. Mach weiter so... du
kannst weiterhin lesen. Die Hefe des Bösen und der Keim der seelischen
Zersetzung stecken nicht in dir. Daher kannst du ohne Sorge lesen. Die wahre
Liebe, die du zu deinem Gott hast, macht die profanen Keime, welche die Lektüre
in dir entwickeln könnte, wirkungslos. In allen Handlungen des Menschen liegt
die Möglichkeit zum Guten und zum Bösen. Lieben ist keine Sünde, wenn man
heiligmäßig liebt. Arbeiten ist keine Sünde, wenn man arbeitet, wann es erlaubt
ist. Verdienen ist keine Sünde, wenn man sich mit dem gerechten Lohn begnügt.
Studieren ist keine Sünde, wenn das Studium nicht die Gedanken an Gott in uns
tötet. Doch Sünde ist es, dem Altare zu dienen, wenn dies aus Eigennutz
geschieht.
Bist du nun überzeugt, Lazarus?»
«Ja, Meister. Ich habe schon andere
darüber befragt, und sie haben
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mich deshalb verachtet. Du hingegen
gibst mir Licht und Frieden. Oh, wenn alle dich hören könnten! Komm, Meister!
Unter der Jasminlaube ist frische Luft und Ruhe. Angenehm ist es, in Erwartung
des Abends im kühlen Schatten auszuruhen.»
Sie gehen hinaus, und die Vision
ist zu Ende.
122. JESUS KEHRT NACH JERUSALEM
ZURÜCK UND HÖRT IM TEMPEL ISKARIOT - IM ÖLGARTEN
Jesus ist mit Simon in Jerusalem.
Sie durchbrechen die Scharen der Händler und Maultiere, die auf der Straße eine
Prozession bilden. Jesus sagt: «Laß uns zuerst zum Tempel hinaufgehen, bevor wir
uns nach Gethsemane begeben. Beten wir zum Vater in seinem Hause!»
«Nur das, Meister?»
«Nur das. Ich kann mich nicht
aufhalten. Morgen früh ist am Fischtor die Zusammenkunft, und wenn die Menge
drängt, wie wird es mir möglich sein, ungehindert dorthin zu gelangen? Ich
möchte die anderen Hirten sehen. Ich werde sie als wahre Hirten in ganz
Palästina verteilen, damit sie die Schafe zusammenrufen und der Herr der Herde
bekannt werde, wenigstens dem Namen nach, damit, wenn ich diesen Namen nenne,
sie alle wissen, daß ich der Herr der Herde bin, und alle zu mir kommen, um
geliebt zu werden.»
«Es ist wunderbar, einen Herrn wie
dich zu haben. Die Schafe werden dich lieben.»
«Die Schafe, aber nicht die Böcke!
Nach dem Besuch bei Jonas, werden wir nach Nazareth und dann nach Kapharnaum
gehen. Simon Petrus und die anderen leiden unter meiner Abwesenheit. Wir suchen
sie auf zu ihrer und unserer Freude. Auch der Sommer rät uns dazu. Die Nacht ist
für die Ruhe da, und es gibt viel zu wenige, die die Ruhe zur Erkenntnis der
Wahrheit vorziehen. Der Mensch, oh, der Mensch! Er vergißt zu leicht, daß er
eine Seele hat; er denkt und sorgt nur für den Leib. Die Sonne ist tagsüber
erbarmunglos. Sie hindert am Reisen und am Lehren auf den Plätzen und auf den
Straßen. Sie schläfert den Geist ein wie den Leib, so sehr ermüdet sie diese.
Laß uns also gehen und meine Jünger unterrichten dort im ruhigen, immergrünen
und wasserreichen Galiläa. Bist du schon einmal dort gewesen?»
«Einmal auf der Durchreise und im
Winter, bei einer meiner mühsamen Fahrten von einem Arzt zum anderen. Es hat mir
dort gefallen.»
«Oh, es ist schön dort, immer! Auch
im Winter und mehr noch in den anderen Jahreszeiten. Jetzt, im Sommer gibt es
dort gleichsam Engelsnächte... Ja, es scheint, als ob sie für die Flüge der
Engel gemacht wären,
154
so rein sind sie. Der See... der
See, im Kreis der näheren oder entfernteren Berge, scheint wirklich dazu
geschaffen, um zu den Seelen, die Gott suchen, von Gott zu sprechen. Er ist ein
Stück Himmel, das mitten in die grüne Landschaft gefallen ist, und das Firmament
spiegelt sich in ihm mit seinen Sternen und vermehrt sie damit, als wolle es die
Sterne auf einer Platte aus Saphir dem Schöpfer anbieten. Die Ölbäume wachsen
bis nahe ans Ufer und sind voller Nachtigallen. Auch sie singen dem Schöpfer ihr
Lob, der sie in dieser schönen, friedvollen Gegend leben läßt.
Und mein Nazareth! Ganz dem Kuß der
Sonne hingebreitet, weiß, grün und lächelnd zwischen den beiden Riesen, dem
großen und dem kleinen Hermon und dem Sockel von Bergen, die den Tabor umgeben.
Ein Sockel mit sanften grünen Hängen, die den Blick hinaufführen zu ihrem Herrn,
zum Hermon, der sein oft verschneites Haupt zur Sonne erhebt; und schön ist es,
wenn die Gipfel in ihr Licht getaucht zu rosenrotem Alabaster werden, während
auf der entgegengesetzten Seite der Karmel zu gewissen Zeiten und bei starker
Sonnenbestrahlung bläulich wie der Lapislazuli sich zeigt, wenn alle
Marmoradern, die Wasserläufe, die Wälder und Wiesen in ihren verschiedenen
Farben leuchten. In den ersten Sonnenstrahlen jedoch sind sie wie zartgefärbte
Amethyste, und am Abend gleichen sie einem violettblauen Beryll; wenn sie der
Mond im Schein seines milchigsilbernen Lichts ganz schwarz erscheinen läßt,
sehen sie aus wie der kompakte Block eines Sardonysteines. Und dann im Süden der
fruchtbare und blütenreiche Teppich der Ebene von Esdrelon.
Und dann... und dann, oh, Simon!
Dort blüht eine Blume! Eine Blume, die einsam leuchtet und duftet in Reinheit
und Liebe für ihren Gott und ihren Sohn! Dort ist meine Mutter, und du wirst sie
kennenlernen, Simon, und mir dann sagen, ob es auf dieser Erde ein anderes
Geschöpf gibt, das ihr, auch in menschlicher Anmut, gleichkommt. Sie ist schön,
doch alles wird von dem übertroffen, was ihr Inneres ausstrahlt. Wenn ein
Rohling sie entkleiden, sie verunstalten und sie zum Umherirren verurteilen
würde, sie wäre immer noch die Königin in königlichem Gewand, weil ihre
Heiligkeit sie mit einem Mantel der Herrlichkeit umkleiden würde. Alles kann mir
die Welt an Bösem antun, aber alles werde ich der Welt verzeihen, denn um auf
die Welt zu kommen und um diese zu erlösen, hatte ich sie: die demütige und
große Königin der Welt, welche die Welt nicht kennt, durch die aber der Welt das
Heil gewährt wurde und in allen Jahrhunderten gewährt werden wird.
Da sind wir am Tempel angelangt.
Beachten wir die jüdische Form des Kultes! Aber in Wahrheit sage ich dir, daß
das wahre Haus Gottes, die heilige Bundeslade, ihr Herz ist, die Hülle ihr
reinstes Fleisch, das die Tugend ziert.»
Sie sind eingetreten und begeben
sich auf die erste Terrasse. Sie durchschreiten eine Säulenhalle und kommen zur
zweiten Terrasse.
155
«Meister, schau dort, Judas
inmitten der Leute! Es sind auch Pharisäer und Synedristen darunter. Ich will
gehen und hören, was er sagt. Darf ich?»
«Geh, ich werde dich am großen Tor
erwarten.»
Simon eilt fort und stellt sich so,
daß er hören kann, ohne gesehen zu werden.
Judas spricht mit großer
Überzeugung: «... und hier sind Personen, die ihr alle kennt und achtet und die
euch sagen können, wer ich war. Nun, ich sage euch, er hat mich umgewandelt. Der
erste Erlöste bin ich. Viele unter euch verehren den Täufer. Auch er verehrt ihn
und nennt ihn "den Heiligen, der dem Elias der Sendung nach ebenbürtig ist, ihn
aber überragt!" Dieser Täufer nun nennt ihn das "Lamm Gottes" und schwört bei
seiner Heiligkeit, daß er gesehen hat, wie er vom Feuer des Geistes gekrönt
wurde, während eine Stimme vom Himmel ihn als den "Geliebten Sohn Gottes, der
angehört werden soll", verkündet hat. So kann er kein anderer sein als der
Messias. Er ist es! Ich schwöre es euch. Ich bin kein ungebildeter Mensch und
kein Dummkopf. Er ist der Messias! Ich habe seine Taten gesehen und seine Worte
gehört. Und ich sage euch: Er ist es, der Messias. Das Wunder gehorcht ihm wie
ein Sklave dem Herrn. Krankheiten und Unglück schwinden wie tote Dinge und
werden Gesundheit und Freude. Die Seelen verwandeln sich noch mehr als die
Körper. Ihr könnt dies an mir sehen. Habt ihr keine Kranken, kein Leid zu
heilen? Wenn ihr sie habt, dann kommt morgen bei Sonnenaufgang zum Fischtor. Er
wird dort sein und euch glücklich machen. Unterdessen gebe ich in seinem Namen
den Armen diese Hilfe.»
Judas verteilt Münzen an zwei
Krüppel und drei Blinde und zwingt schließlich eine Greisin, die letzten
Geldstücke anzunehmen. Dann grüßt er die Menge und bleibt mit Joseph von
Arimathäa, Nikodemus und drei anderen, die ich nicht kenne, zusammen.
«Oh, jetzt geht es mir gut», ruft
Judas aus. «Nun habe ich nichts mehr. Nun bin ich so, wie er es will.»
«Wahrlich, ich erkenne dich nicht
wieder. Ich glaubte an einen Scherz. Doch nun sehe ich, daß es dir ernst ist»,
ruft Joseph aus.
«Und ob es mir Ernst ist! Ich als
erster erkenne mich nicht wieder. Im Vergleich zu ihm bin ich noch ein
schmutziges Raubtier. Doch ich habe mich schon sehr geändert.»
«Und du wirst nun nicht mehr dem
Tempel angehören?» fragt ein mir Unbekannter.
«O nein, ich gehöre Christus. Wer
sich ihm nähert, kann - sofern er keine Natter ist - nicht anders als ihn
lieben. Er wünscht nichts anderes mehr als ihn.»
«Wird er nicht mehr hierher
kommen?» fragt Nikodemus.
«Sicher wird er kommen; doch nicht
jetzt.»
156
«Ich möchte ihn hören.»
«Er hat an diesem Ort schon
gesprochen, Nikodemus.»
«Ich weiß es. Doch ich war damals
mit Gamaliel; ich habe ihn gesehen, bin aber nicht stehengeblieben ...»
«Was sagte Gamaliel, Nikodemus?»
«Er sagte: "Irgendein neuer
Prophet!" Anderes hat er nicht hinzugefügt.»
«Und du hast ihm nichts von dem
erzählt, was ich dir gesagt hatte, Joseph? Du bist doch sein Freund...»
«Ich berichtete ihm darüber; doch
er antwortete mir: "Wir haben schon den Täufer, und nach den Lehren der
Schriftgelehrten müssen mindestens hundert Jahre vergehen, um das Volk auf das
Kommen des Königs vorzubereiten. Ich meine, es braucht weniger", hat er
hinzugefügt, "denn die Zeit ist erfüllt" * Dann hat er geendet: "Ich kann jedoch
nicht annehmen, daß der Messias sich auf diese Weise offenbart. Eines Tages
glaubte ich, daß die messianische Offenbarung nunmehr beginne, denn sein erstes
Auftreten glich einem Blitz vom Himmel (vgl. Band 1, Kap. 68: Diskussion Jesu
mit den Gelehrten im Tempel). Doch dann ist ein großes Schweigen eingetreten,
und ich glaube, daß ich mich geirrt habe."»
«Versuche noch einmal, mit ihm
darüber zu sprechen. Wenn Gamaliel bei uns wäre und ihr bei ihm ...»
«Ich rate euch dies nicht», bemerkt
einer der drei Unbekannten. «Das Synedrium ist mächtig, und Annas leitet es mit
Verschlagenheit und Gier. Wenn dein Messias am Leben bleiben will, dann rate ich
ihm, verborgen zu bleiben oder sich wenigstens mit Macht durchzusetzen. Doch da
ist auch Rom...»
«Wenn das Synedrium ihn hören
würde, dann würde es sich zu Christus bekehren.»
«Ha, ha, ha!» lachen die drei
Unbekannten und entgegnen: «Judas, wir glaubten dich verändert, doch immerhin
noch intelligent. Wenn das, was du von ihm sagst, wahr ist, wie kann man dann
annehmen, daß das Synedrium ihm folgen wird? Komm, komm, Joseph! Es ist besser
für alle: Gott behüte dich, Judas! Du hast es nötig!» Sie entfernen sich, und
Judas bleibt mit Nikodemus zurück.
Simon schleicht davon und geht zu
Jesus. «Meister, ich klage mich an, gesündigt zu haben durch Verleumdung in
Gedanken und Worten. Dieser Mensch bringt mich durcheinander. Ich sah in ihm
schon deinen Feind. Und nun habe ich ihn von dir sprechen hören, wie es nur
wenige von uns tun, besonders hier, wo der Haß den Jünger noch vor dem Meister
zum Schweigen bringen würde. Ich habe gesehen, daß er den Armen Almosen gegeben
und wie er versucht hat, die Synedristen zu überzeugen...»
«Siehst du, Simon? Ich bin froh,
daß du ihn in einem solchen Augenblick gesehen hast; du mußt dies auch den
anderen erzählen, die ihm
157
mißtrauen. Preisen wir den Herrn
für die Freude, die du mir schenkst, da du ehrlich bist, zu bekennen: "Ich habe
gesündigt"; aber auch für die Freude über den Jünger, den du für niederträchtig
hieltest, dessen Tat aber besagt, daß dies nicht stimmt.»
Sie beten lange und verlassen dann
den Tempel.
«Hat er dich nicht gesehen?»
«Nein, dessen bin ich sicher.»
«Sage ihm nichts davon. Er hat eine
sehr kranke Seele. Ein Lob würde ihm sehr schlecht bekommen, wie einem schwer
fiebernden Magenkranken eine Speise. Wenn er wüßte, daß er gesehen worden ist,
würde er damit prahlen, und alles würde schlimmer werden. Denn dort, wo der
Hochmut Zutritt findet...»
«Ich werde schweigen. Wohin gehen
wir?»
«Zu Johannes. Er wird zu dieser
heißen Tageszeit im Hause des Ölgartens sein.»
Sie gehen langsam, immer den
Schatten suchend, da die Sonne jetzt stark brennt. Sie verlassen den staubigen
Vorort, passieren das Tor der Stadtmauer und gelangen durch die im gleißenden
Sonnenlicht blendenden Felder zum Olivenhain und schließlich zum Hause unter den
Ölbäumen.
In der kühlen, durch einen Vorhang
verdunkelten Küche schlummert Johannes. Jesus ruft ihn: «Johannes!»
«Du, Meister? Ich habe dich erst am
Abend erwartet.»
«Ich bin vorher gekommen. Wie ist
es dir ergangen, Johannes?»
«Wie einem Lamm, das den Hirten
verloren hat. Ich erzähle allen von dir; denn wenn ich von dir rede, meine ich,
daß du etwas bei mir bist. Ich habe zu einigen Verwandten, Bekannten und
Freunden von dir gesprochen. Auch zu Annas... Und zu einem Krüppel, der mein
Freund wurde, nachdem ich ihm einige Münzen gegeben hatte. Ich hatte sie
bekommen und habe sie ihm geschenkt. Auch eine arme Frau im Alter meiner Mutter,
die in einer Gruppe von Frauen unter einem Portal stand und weinte, habe ich
angesprochen. Ich habe sie gefragt: "Warum weinst du?" Und sie hat mir
geantwortet: "Der Arzt hat zu mir gesagt: 'Deine Tochter hat die Schwindsucht.
Finde dich damit ab. Bei den ersten Oktobergewittern wird sie sterben.' Ich habe
nur sie: sie ist schön, gut und erst fünfzehn Jahre alt. Sie sollte im Frühjahr
heiraten, und anstelle der Hochzeitstruhe werde ich ihr den Sarg herrichten
müssen." Ich habe zu ihr gesagt: "Ich kenne einen Arzt, der sie heilen kann,
wenn du den Glauben hast." "Niemand kann ihr mehr helfen. Drei Ärzte habe es
schon gesagt. Sie spuckt schon Blut."
"Mein Arzt", habe ich erwidert,
"ist nicht ein Arzt wie die anderen. Er heilt nicht mit Arzneien, sondern mit
seiner Macht. Es ist der Messias." Daraufhin hat eine alte Frau gesagt: "Oh,
dann mußt du glauben, Elisa.
158
Ich kenne einen Blinden, der durch
seine Hilfe sehend geworden ist." Und so ist die Mutter nun voller Hoffnung und
nicht mehr mißtrauisch und wartet auf dich... Ist es recht so? Sonst habe ich
nichts getan.»
«Du hast es gut gemacht. Gegen
Abend gehen wir zu deinen Freunden. Hast du Judas nicht mehr gesehen?»
«Nein, Meister, doch er hat mir
Lebensmittel und Geld geschickt. Ich habe es den Armen gegeben. Er ließ mir
sagen, ich könne es auch für mich verwenden, da es von ihm käme.»
«Das ist wahr, Johannes. Morgen
werden wir nach Galiläa gehen...»
«Ich freue mich darüber, Meister.
Ich denke an Simon Petrus. Wer weiß, wie er auf dich wartet. Werden wir auch
nach Nazareth kommen?»
«Ja, und wir werden dort Petrus,
Andreas und deinen Bruder Jakobus sehen und ein wenig verweilen.»
«Oh, dann werden wir also in
Galiläa bleiben?»
«Für einige Zeit werden wir dort
bleiben.»
Johannes ist darüber sehr
glücklich, und mit seiner Freude endet die Vision.
123. JESUS SPRICHT MIT DEM SOLDATEN
ALEXANDER AM FISCHTOR
Wieder ein Sonnenaufgang. Wieder
das ungeduldige Warten der Esel und der Händler vor dem verschlossenen Tore.
Wieder sehe ich Jesus mit Simon und Johannes. Die Händler erkennen und umringen
sie. Auch ein Wachsoldat kommt herbei, als das Tor geöffnet wird; als er Jesus
sieht, grüßt er: «Sei gegrüßt, Galiläer! Sag diesen Unruhigen, sie sollen
weniger rebellisch sein! Sie beklagen sich über uns. Zudem, sie sind immer
ungehorsam und verwünschen uns. Dazu behaupten sie noch, das gebiete ihnen ihre
Religion. Was ist das für eine Religion, die auf Ungehorsam gegründet ist?»
«Habe Nachsicht mit ihnen, Soldat.
Sie sind wie Menschen, die in ihrem Hause einen ungebetenen Gast haben, der
stärker ist als sie selbst. Die Zunge und der Trotz sind ihre einzigen Waffen.»
«Ja, doch wir haben unsere Pflicht
zu erfüllen, und so müssen wir sie bestrafen. Dadurch werden wir immer mehr zu
unerwünschten Gästen.»
«Du hast recht. Du mußt deine
Pflicht tun. Doch tue sie immer mit Menschlichkeit. Denke immer: "Was würde ich
an ihrer Stelle tun?" Du wirst sehen, dann wirst du Mitleid für die
Unterdrückten empfinden.»
«Ich höre dich gerne reden. Du
kennst weder Verachtung noch Hochmut. Die anderen Palästinenser spucken nach
uns, beleidigen uns und
159
zeigen ihre Abscheu gegen uns;
außer, wenn es darum geht, uns gehörig übers Ohr zu hauen, sei es wegen einer
Frau, sei es bei einem Geschäft. Dann verursacht das römische Geld keinen Ekel.»
«Der Mensch ist Mensch, Soldat!»
«Und er ist falscher als der Affe.
Es ist nicht angenehm, unter Menschen zu leben, die stets wie Schlangen auf der
Lauer liegen. Auch wir haben unsere Familien, unsere Mütter, Frauen und Kinder,
und das Leben ist uns teuer.»
«Siehst du, wenn jeder daran
dächte, gäbe es keinen Haß mehr. Du hast gefragt: "Was haben sie für eine
Religion?" Ich antworte dir: eine heilige Religion, deren erstes Gebot die Liebe
zu Gott und zu dem Nächsten fordert; eine Religion, welche Gehorsam dem Gesetz
gegenüber lehrt, selbst wenn dieses von einem feindlichen Staate gegeben wurde.
Denn hört, meine Brüder in Israel,
nichts geschieht ohne Gottes Zulassung. Auch die Unterdrückungen: ein Unglück
ohnegleichen für ein Volk; doch wenn dieses Volk sich prüfen würde, müßte es
sozusagen immer zugeben, daß es alles so gewollt hat mit seiner gottwidrigen Art
zu leben. Denkt an die Propheten!
Wie oft haben sie darüber
gesprochen! Wie oft haben sie an den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen
Ereignissen nachgewiesen, daß der Beherrscher die Züchtigung bedeutet, die
Zuchtrute auf den Schultern des undankbaren Sohnes. Und wie oft haben sie
gelehrt, wie man die Strafe abwenden kann: durch die Rückkehr zum Herrn. Nicht
Aufstände oder Kriege heilen die Wunden, stillen die Tränen und lösen die
Ketten; nur das Leben in der Gerechtigkeit. Dann kommt Gott zu Hilfe. Und was
können die Waffen und die Heere der Bewaffneten ausrichten gegen die
Herrlichkeit der Engelscharen, die für die Gerechten kämpfen? Werden wir
bestraft? Leben wir in der wahren Gotteskindschaft, so daß der Herr keinen Grund
mehr zum Strafen hat? Beschwert eure Ketten nicht immer mit neuen Sünden!
Handelt nicht so, daß die Heiden euch als religionslos oder als heidnischer als
sie selbst wegen eures Lebens halten. Zeigt euch als das Volk, das von Gott
selbst das Gesetz erhalten hat. Befolgt es! Lebt so, daß die Unterdrücker sich
vor euren Ketten verneigen und sagen: "Sie sind uns unterworfen, doch sie sind
größer als wir, groß nicht der Zahl, dem Geld, den Waffen, der Macht nach: es
ist eine Größe, die ihren Ursprung in Gott hat. Hier erstrahlt die göttliche
Vaterschaft eines vollkommenen, heiligen und mächtigen Gottes. Hier sieht man
das Merkmal einer wahrhaften Gottheit, die in ihren Kindern zum Ausdruck kommt."
Denkt darüber nach, so gelangt ihr zur Wahrheit des wahren Gottes und entfernt
euch vom Irrtum. Jeder, auch der Ärmste, auch der Ungebildetste im Volke Gottes,
kann einem Heiden Lehrer sein: Lehrer durch seine Lebensart; er kann durch die
Werke eines heiligen Lebens den Heiden Gott verkünden. Geht, der Friede sei mit
euch!»
160
«Judas hat sich verspätet, und auch
die Hirten», bemerkt Simon.
«Erwartest du jemand, Galiläer?»
fragt der Soldat, der aufmerksam zugehört hat.
«Freunde.»
«Komm in den kühlen Torgang! Die
Sonne brennt schon in den ersten Tagesstunden. Gehst du in die Stadt?»
«Nein, ich kehre nach Galiläa
zurück.»
«Zu Fuß?»
«Zu Fuß. Ich bin arm.»
«Hast du eine Frau?»
«Ich habe eine Mutter.»
«Auch ich... Komm, wenn du uns
nicht verachtest wie die anderen!»
«Nur die Sünde erregt in mir
Abscheu.»
Der Soldat betrachtet Jesus
nachdenklich und voller Bewunderung. «Mit dir werden wir nie Schwierigkeiten
haben... Über dir wird sich nie das Schwert erheben. Du bist ein guter Mensch.
Aber die anderen... !»
Jesus ist nun im Halbschatten des
Torganges. Johannes schaut in Richtung Stadt. Simon hat sich auf einen
Steinblock gesetzt, der als Bank dient.
«Wie heißt du?»
«Jesus.»
«Ach, dann bist du es, der bei den
Kranken Wunder wirkt?! Ich nahm an, daß du nur ein Magier seiest. Auch wir haben
einen, und zwar einen guten. Denn es gibt da welche... Doch die unseren heilen
keine Krankheiten. Wie machst du das?»
Jesus lächelt und schweigt.
«Wendest du magische Formeln an?
Hast du Salben aus dem Mark der Toten, Pulver aus getrockneten Schlangen,
magische Steine aus den Höhlen der Pythonschlangen?»
«Nichts von alledem. Ich habe nur
meine Macht.»
«Dann bist du ein wahrer Heiliger.
Wir haben die Magier und die Vestalinnen, und einige von diesen vollbringen
wunderbare Dinge; man sagt, daß sie die heiligsten sind. Aber glaubst du das?
Sie sind schlimmer als die anderen.»
«Warum verehrt ihr sie denn?»
«Weil... nun ja, weil es die
Religion von Rom ist. Und wenn ein Untertan die Religion seines Staates nicht
achtet, wie kann er dann Caesar und das Vaterland und alle die anderen Dinge
achten?»
Jesus schaut den Soldaten fest an.
«Wahrlich, du bist auf dem Wege der Gerechtigkeit schon fortgeschritten. Mach so
weiter, Soldat, und es wird dir gelingen, das zu erkennen, was deine Seele ahnt,
ohne daß du ihm einen Namen geben kannst.»
«Die Seele? Was ist das?»
161
«Wenn du stirbst, wohin gehst du
dann?»
«Das weiß ich nicht. Wenn ich als
Held sterbe, komme ich auf den Scheiterhaufen der Helden; wenn ich als armer
Greis, als ein Nichts, sterbe, dann verfaule ich vielleicht in meiner Hütte oder
am Rande einer Straße.»
«Dies gilt für den Leib. Doch die
Seele, wohin geht sie?»
«Ich weiß nicht, ob alle Menschen
eine Seele haben oder nur jene, welche Jupiter nach einem ruhmvollen Leben für
die Gefilde der Seligen bestimmt, wenn er sie nicht zu sich auf den Olymp führt,
wie es bei Romulus der Fall war.»
«Alle Menschen haben eine Seele.
Sie ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Möchtest du sein wie ein
Pferd, wie ein Vogel, wie ein Fisch? ... Ein Fleisch, das nach dem Tode nur noch
Fäulnis ist?»
«O nein! Ich bin ein Mensch und bin
froh, einer zu sein.»
«Also bist du ein Mensch mit einer
Seele. Ohne diese wärest du nur ein sprechendes Tier.»
«Und wo ist sie? Wie ist sie?»
«Sie hat keinen Körper. Doch sie
existiert. Sie ist in dir. Sie kommt von dem, der die Welt erschaffen hat, und
kehrt nach dem Tode des Körpers zu ihm zurück.»
«Zum Gott Israels nach eurer
Religion.»
«Zum einzigen Gott, dem Einen, dem
höchsten Herrn und Schöpfer des Universums!»
«Hat auch ein armer Soldat wie ich
eine Seele, die zu Gott zurückkehrt?»
«Ja, auch ein armer Soldat, und
seine Seele wird Gott zum Freunde haben, wenn sie immer gut war, oder aber Gott
zum Richter, wenn sie böse war.»
«Meister, hier kommt Judas mit den
Hirten und mit Frauen. Wenn ich recht sehe, ist auch das Mädchen von gestern
dabei», sagt Johannes.
«Ich gehe, Soldat. Lebe als guter
Mensch!»
«Werde ich dich nicht mehr sehen?
Ich möchte noch manches wissen...»
«Ich werde bis September in Galiläa
bleiben. Wenn du kannst, komme! In Kapharnaum oder in Nazareth werden dir alle
über mich Auskunft geben können. In Kapharnaum frage nach Simon Petrus. In
Nazareth nach Maria des Joseph. Sie ist meine Mutter. Komm nur, ich werde dir
vom wahren Gott sprechen.»
«Simon Petrus... Maria des
Joseph... Ich werde kommen, sobald ich kann. Und wenn du zurückkommst, dann
erinnere dich des Alexander. Ich gehöre zur Truppenabteilung von Jerusalem.»
Judas und die Hirten sind am
Torgang angekommen.
«Friede euch allen», sagt Jesus. Er
möchte mehr sagen, doch ein zartes,
162
lächelndes Mädchen durchbricht die
Gruppe und wirft sich ihm zu Füßen: «Gib auch mir deinen Segen, Meister und
Erlöser, und ich küsse dich!» und sie küßt ihm die Hände.
«Geh, sei froh und gut! Sei nun
eine brave Tochter, später eine tüchtige Frau und eine gute Mutter! Unterweise
deine künftigen Kinder in meinem Namen und in meiner Lehre! Der Friede sei mit
dir und mit deiner Mutter! Friede und Segen allen jenen, die Freunde Gottes
sind. Friede auch dir, Alexander!»
Jesus entfernt sich.
«Wir haben uns verspätet, aber
diese Frauen haben uns aufgehalten», erklärt Judas. «Sie waren in Gethsemane und
wollten dich sehen. Wir haben uns dorthin begeben, ohne daß der eine vom anderen
wußte, um mit dir zusammen den Weg zu gehen. Doch du warst schon weggegangen,
und diese hier waren dort. Wir wollten wieder aufbrechen, doch sie waren
aufdringlicher als die Fliegen. Sie wollten so vieles wissen... Hast du das
Mädchen geheilt?»
«Ja.»
«Hast du mit dem Römer gesprochen?»
«Ja, er hat ein ehrliches Herz. Er
sucht die Wahrheit.»
Judas seufzt.
«Warum seufzest du, Judas?» fragt
Jesus.
«Ich seufze, weil... ich wünschte,
daß es die Unsrigen wären, die die Wahrheit suchen. Sie aber fliehen sie,
verachten sie oder bleiben ihr gegenüber gleichgültig. Ich bin entmutigt. Ich
möchte diesen Ort nicht mehr betreten und nichts anderes mehr tun als dir
zuzuhören. Als Jünger habe ich doch keinen Erfolg.»
«Und glaubst du, daß mir viel
gelingt? Laß dich nicht entmutigen, Judas! Das sind die Kämpfe des Apostolates;
mehr Niederlagen als Siege. Doch nur auf dieser Erde sind es Niederlagen; dort
oben sind es immer Siege. Der Vater sieht den guten Willen, und wenn dieser auch
nicht zum Erfolg führt, dann segnet er dich dennoch dafür.»
«Oh, du bist so gut!» Judas küßt
Jesus die Hand. «Werde ich jemals ein guter Mensch werden?»
«Ja, wenn du nur willst!»
«Ich glaube, daß ich es in diesen
Tagen gewollt habe. Ich habe darum gerungen, denn viele Versuchungen bedrängen
mich... Doch ich habe mich beherrscht, und immerfort an dich gedacht.»
«Dann harre also im Guten aus. Du
wirst mir viel Freude bereiten. Und ihr, was habt ihr mir zu berichten?» fragt
Jesus die Hirten.
«Elias grüßt dich und schickt dir
Lebensmittel. Er bittet dich, ihn nicht zu vergessen 1»
«Oh, ich trage meine Freunde in
meinem Herzen. Laßt uns bis zum Dorf im Grünen gehen. Gegen Abend werden wir
dann weiterziehen. Ich
163
bin glücklich, mit euch
zusammenzusein, zur Mutter gehen zu können und mit einem Aufrichtigen über die
Wahrheit gesprochen zu haben. Ja , ich bin glücklich. Wenn ihr wüßtet, was es
für mich bedeutet, meine Mission zu erfüllen und zu sehen, daß dadurch die
Seelen zum Vater gelangen, und daß ihr mir im Geiste immer mehr nachfolgt ...»
Ich sehe nichts mehr.
124. JESUS UND ISAAK BEI DOKO -
AUFBRUCH NACH ESDRELON
«Und ich sage dir, Meister, daß die
Demütigen die besseren sind. Jene, an die ich mich wandte, antworteten mit Spott
und Gleichgültigkeit. Oh, die einfachen Menschen von Jutta!» Isaak spricht zu
Jesus. Sie haben sich alle zur Rast auf dem Gras am Flußufer niedergelassen, und
mir scheint, daß Isaak über seine Bemühungen berichtet.
Judas mischt sich ein und ruft, was
selten geschieht, den Hirten beim Namen: «Isaak, ich bin ganz deiner Meinung.
Wir verlieren bei unseren Kontakten mit diesen Leuten nur Zeit und
Selbstvertrauen. Ich gebe es auf!»
«Ich nicht. Ich leide darunter,
aber aufgeben werde ich nur, wenn der Meister mich dazu auffordert. Seit Jahren
bin ich gewohnt, aus Treue zur Wahrheit zu leiden. Ich konnte nicht lügen, um
mir die Mächtigen wohlgesinnt zu stimmen. Und weißt du, wie oft sie kamen in
meine Krankenbehausung, um sich über mich lustig zu machen, und sie versprachen
mir - oh! bestimmt falsche Versprechungen - Hilfe, wenn ich gesagt hätte, daß
du, Jesus, nicht der Neugeborene, der Erlöser seiest. Doch ich konnte nicht
lügen! Lügen hätte bedeutet, meine Freude zu verleugnen, meine einzige Hoffnung
zu töten, dich, meinen Herrn, zu verstoßen. Dich verstoßen! Im Dunkel meines
Elends, in der Not meiner Krankheit hatte ich immer einen Himmel voller Sterne:
das Antlitz meiner Mutter, die einzige Freude in meinem Leben als Waise; das
Antlitz einer Frau, die mir nie gehörte und der ich über den Tod hinaus die
Liebe bewahrte. Diese beiden waren die zwei kleinen Sterne. Dann zwei größere
Sterne gleich zwei reinsten Monden: Joseph und Maria, die einem Neugeborenen und
uns armen Hirten zulächelten, und im Zentrum meines Herzenshimmels leuchtete
dein Antlitz... unschuldig, lieblich, heilig, heilig, heilig. Diesen meinen
Himmel konnte ich nicht von mir weisen! Ich wollte mich seinem Licht nicht
entziehen, da es kein reineres für mich gibt. Eher hätte ich inmitten der Leiden
das Leben abgelehnt, als daß ich dich, meine gebenedeite Erinnerung, meinen
neugeborenen Jesus, verleugnet hätte!»
Jesus legt seine Hand auf Isaaks
Schulter und lächelt.
164
Judas fragt noch einmal: «Also, du
bleibst dabei?»
«Ich bleibe dabei... heute, morgen
und übermorgen. Irgendeiner wird schon kommen.»
«Wie lange wird diese Tätigkeit
dauern?»
«Ich weiß nicht; doch glaube mir:
es genügt nicht, vorwärts und rückwärts zu schauen. Man muß Tag für Tag seine
Pflicht tun. Und wenn es am Abend scheint, daß der Tag erfolgreich war, dann muß
man sagen: "Danke, mein Gott!", und hat er nichts eingebracht: "Ich hoffe auf
deine Hilfe für morgen."»
«Du bist weise.»
«Ich weiß nicht einmal, was das
bedeutet. Aber ich will bei meiner Mission dasselbe tun, was ich während meiner
Krankheit getan habe. Fast dreißig Jahre Gebrechlichkeit sind nicht ein einziger
Tag.»
«Ja, das glaube ich. Ich war noch
nicht einmal geboren, als du schon krank warst.»
«Ich war krank. Doch ich habe diese
Jahre nie gezählt. Ich habe nie gesagt: "Nun kehrt der Nisan wieder, und ich
werde mit den Rosen nicht gesund... Es kehrt der Tischri wieder, und ich leide
immer noch." Ich machte weiter und sprach zu mir und den Guten über ihn. Ich
merkte, daß die Jahre vergingen, weil die Kinder von einst nun ihre
Hochzeitskuchen und die Süßigkeiten bei der Geburt ihrer Kinder brachten. Wenn
ich jetzt zurückblicke, nun, da ich im Alter wieder jung geworden bin, was sehe
ich von der Vergangenheit? Nichts. Alles ist vorbei.»
«Hier bleibt dir nichts. Aber im
Himmel hast du alles, Isaak. Und dieses alles erwartet dich», sagt Jesus, und
dann zu den anderen gewandt: «So muß man es machen. Auch ich mache es so. Ohne
Überdruß vorwärtsschreiten. Der Überdruß ist eine Wurzel menschlichen Stolzes.
Und ebenso die Eile. Warum ärgert man sich wegen der Mißerfolge, warum
beunruhigt man sich über die Langsamkeit? Weil der Stolz sagt: "Man wagt es, mir
nein zu sagen? So lange läßt man mich warten? Das ist Mangel an Achtung dem
Apostel Gottes gegenüber." Nein, Freunde. Betrachtet die Schöpfung und denkt an
ihn, der nie erschaffen hat! Betrachtet den Fortschritt der Menschheit und denkt
an den Anfang. Erwägt, wie viele Jahrhunderte von ihrer Erschaffung an bis zum
heutigen Zeitpunkt verflossen sind! Die Schöpfung ist ein Werk stillen Wirkens.
Der Vater machte dies alles nicht in unordentlicher Weise, sondern ließ es im
Laufe der Zeit entstehen. Der Mensch ist in einem mühseligen Fortschritt zu dem
geworden, was er heute ist, und er wird in seinem Wissen und Können immer mehr
Fortschritte erzielen. Diese werden heilig oder nicht heilig sein, je nach
seinem Willen. Doch der Mensch hat nicht alles von heute auf morgen gewußt. Die
ersten Menschen, die aus dem Garten vertrieben worden waren, mußten langsam und
fortwährend lernen, auch die einfachsten Dinge: daß das Weizenkorn, wenn es
gemahlen, zu Teig verarbeitet und
165
gebacken wird, besser schmeckt; wie
das Korn gemahlen wird, und wie das Mehl dann zubereitet wird; wie das Feuer
angezündet wird; wie man ein Gewand anfertigt, nach dem Muster der Felle der
Tiere; wie man eine Unterkunft errichtet, wobei sie die wilden Tiere
beobachteten, und wie man eine Lagerstätte bereitet, wobei sie die Nester zum
Vorbild nahmen. Sie lernten, sich mit Kräutern und Quellen zu heilen, und taten
es den Tieren gleich, die sich instinktmäßig ihrer bedienen; sie lernten Wüsten
und Meere durchqueren, indem sie sich mit den Sternen befaßten, Pferde zähmten,
und eine schwimmende Nußschale auf den Wellen eines Baches vermittelte ihnen
Kenntnisse über das Gleichgewicht, die sie im Bau von Booten nutzen konnten. Wie
viele Mißerfolge, bis ihnen etwas gelang! Und so wird es weitergehen. Der Mensch
wird deshalb nicht glücklicher werden; denn mehr noch wie im Guten, wird er sich
Kenntnisse im Bösen erwerben. Aber er wird weiterhin Fortschritte machen. Ist
die Erlösung nicht ein Werk der Geduld? Von Ewigkeit her beschlossen und wieder
beschlossen, erfüllt sich jetzt die Zeit, in der die Erlösung vollzogen wird.
Alles ist Geduld. Warum also ungeduldig sein? Hätte Gott nicht alles blitzartig
machen können? Hätte der Mensch als vernunftbegabtes Wesen, als er aus der Hand
Gottes hervorging, nicht alles gleich wissen können? Hätte ich nicht schon am
Anfang der Zeiten kommen können? Alles hätte sein können, nichts aber darf
gewaltsam geschehen. Nichts. Die Gewalt steht immer im Widerspruch zur Ordnung,
und Gott und das, was von Gott kommt, ist Ordnung. Verlangt also nicht mehr zu
sein als Gott selber!»
«Wann aber wirst du erkannt
werden?» «Von wem, Judas?»«Von der Welt!» «Niemals.»«Niemals? Aber bist du denn
nicht der Erlöser?»
«Ich bin es. Doch die Welt will
nicht gerettet werden. Nur im Verhältnis von einem zu tausend will sie mich
erkennen, und nur einer von zehntausend wird mir wirklich nachfolgen. Und ich
will euch noch mehr sagen: Nicht einmal von meinen Vertrautesten werde ich
erkannt werden.»
«Aber wenn sie mit dir vertraut
sind, werden sie dich doch kennen.»«Ja, Judas. Sie werden mich als Jesus, den
Israeliten Jesus, kennen, doch nicht als den, der ich bin. Wahrlich, ich sage
euch, ich werde nicht von allen meinen Vertrauten erkannt werden. Kennen heißt:
treu und tugendhaft lieben... und es wird einen geben, der mich nicht kennen
will.»
Jesus macht die gewohnte Gebärde,
worin seine ganze Resignation und tiefe Betrübnis zum Ausdruck kommt, wenn er
den künftigen Verrat ankündet: er öffnet seine Hände, hält diese nach außen
gekehrt, und mit schmerzbewegtem Antlitz sehen seine Augen weder die Menschen
noch den Himmel - sie schauen nur seine künftige Bestimmung, die eines
Verratenen.
166
«Sag das nicht, Meister», fleht
Johannes.
«Wir werden dir immer folgen und
dich immer mehr erkennen», sagt Simon, und die Hirten pflichten ihm im Chore
bei.
«Wie einer Braut wollen wir dir
folgen, und du wirst uns lieber sein als diese. Mehr als auf eine Frau sind wir
auf dich eifersüchtig. O nein! Wir kennen dich schon so gut, daß wir dich nicht
mehr verkennen können. Er (und Judas zeigt auf Isaak) sagt, die Erinnerung an
dich als Neugeborener zu verleugnen, wäre für ihn schlimmer gewesen als das
Leben zu verlieren. Und du warst damals nur ein Neugeborener. Nun kennen wir
dich als Mann und Lehrer. Wir hören dir zu und sehen deine Werke. Deine
Berührung, dein Atem, dein Kuß sind unsere ständige Weihe und unsere ständige
Reinigung. Nur ein Satan könnte dich verleugnen, nachdem er dein Vertrauter
gewesen ist.»
«Das ist wahr, Judas, doch es wird
geschehen.»
«Wehe ihm... ich werde sein Richter
sein», ruft Johannes des Zebedäus aus.
«Nein, überlaß es dem Vater, als
Richter zu walten! Sei vielmehr sein Miterlöser. Der Erlöser einer Seele, die zu
Satan neigt! Doch verabschieden wir uns von Isaak! Es ist Abend geworden. Ich
segne dich, treuer Diener. Wisse, daß Lazarus in Bethanien unser Freund ist und
meinen Freunden helfen will. Ich gehe, du bleibst! Pflüge das trockene Erdreich
Judäas. Ich werde wiederkommen. Du weißt, wo du mich, wenn nötig, finden kannst!
Mein Friede sei mit dir!» Und Jesus segnet und küßt seinen Jünger.
125. JESUS BEIM HIRTEN JONAS IN DER
EBENE VON ESDRELON
Zwischen ausgetrockneten
Stoppelfeldern voller Grillen führt ein Pfad dahin, auf dem Jesus, mit Levi und
Johannes zu seinen Seiten, und gefolgt von Joseph, Judas und Simon
einherschreitet.
Es ist Nacht. Doch die Luft hat
sich nicht abgekühlt. Die Erde ist ein Feuer, das nach dem Brand des Tages
weiterbrennt. Der Tau vermag nichts mehr gegen diese Trockenheit. Ich glaube, er
trocknet schon, bevor er den Boden berührt; so stark ist die Wärme, die aus den
Ritzen und Fugen des Erdreichs aufsteigt. Alle schweigen erschöpft und erhitzt.
Doch ich sehe Jesus lächeln. Die Nacht ist hell, obgleich der abnehmende Mond
gerade jetzt im äußersten Osten erscheint.
«Glaubst du, daß er da sein wird?»
fragt Jesus den Hirten Levi.
«Ganz bestimmt. Um diese Zeit ist
die Getreideernte beendet; für die Obsternte ist es noch nicht so weit. Die
Bauern sind deshalb damit beschäftigt,
167
ihre Weinberge und Obstgärten vor
den Dieben zu schützen, und sie gehen nicht fort, besonders wenn ihre Herren
geizig sind, wie der des Jonas. Samaria ist nicht weit; wenn diese Abtrünnigen
können... oh, dann schädigen sie uns gerne, uns von Israel. Als ob sie nicht
wüßten, daß die Knechte dafür geprügelt werden! O ja, sie wissen es gut. Doch
sie hassen uns... das ist es...»
«Sei nicht gehässig, Levi!» sagt
Jesus.
«Nein, doch du wirst sehen, wie
sehr Jonas durch ihre Schuld vor fünf Jahren geschlagen wurde. Seither lebt er
in der Nacht auf seinem Wachposten, denn die Geißel ist eine grausame Marter...»
«Ist es noch weit bis dort?»
«Nein, Meister. Siehst du dort, wo
die öde Landschaft aufhört und eine dunkle Stelle ist? Dort sind die Apfelbäume
des Doras, des harten Pharisäers. Wenn du erlaubst, will ich vorausgehen und uns
Jonas melden.»
«Geh!»
«Aber, mein Herr, sind alle
Pharisäer so?» fragt Johannes.
«Oh, ich möchte nicht in ihren
Diensten stehen. Ich ziehe mein Boot vor.»
«Ist die Barke dein Liebstes?»
fragt Jesus halb ernst.
«Nein, du bist es! Sie war es, als
ich noch nicht wußte, daß die Liebe auf die Erde gekommen war», antwortet
Johannes rasch.
Jesus lächelt über seinen Eifer. «Wußtest
du denn nicht, daß die Liebe auf der Erde existierte? Wie wurdest du denn
geboren, wenn dein Vater deine Mutter nicht geliebt hätte?» fragt Jesus wie im
Scherze.
«Diese Liebe ist schön, doch sie
kann mich nicht verführen. Du bist meine Liebe, du bist auf Erden die Liebe für
den armen Johannes.» Jesus drückt ihn an sich und sagt: «Ich sehnte mich danach,
dies von dir zu hören. Die Liebe hungert nach Liebe, und der Mensch wird ihrem
großen Verlangen immer nur dünne Tropfen geben, wie jene, die vom Himmel fallen
und so winzig sind, daß sie bei der Sommerhitze schon in der Luft verdunsten.
Auch die Tropfen der menschlichen Liebe werden gleich von der Hast und Unruhe so
vieler Dinge verschlungen. Das Herz versucht noch, einige aufzufangen, doch die
Interessen, die Liebschaften, die Geschäfte, die Habsucht: viele, viele
menschliche Dinge verbrennen sie. Und was bleibt für Jesus? Oh, viel zu wenig!
Die Überbleibsel, die kläglichen Reste menschlicher Liebe, die mit eigenen
Interessen verbundenen Herzschläge der Menschen, die nur fordern, fordern,
fordern, wenn die Not sie drängt. Nur wenige werden mich aus reiner Liebe
lieben: solche, die wie Johannes sind. Betrachte eine hochgewachsene Ähre. Es
war vielleicht ein Korn, das bei der letzten Ernte auf die Erde gefallen ist. Es
hat gekeimt, hat der Sonne, der Dürre widerstanden, hat sich aufgerichtet,
Wurzel geschlagen und eine Ähre ist entstanden. Schau, sie ist schon gebildet.
168
Allein steht sie noch auf diesem
abgemähten Stoppelfeld. In Kürze werden die reifen Körner die Hülle sprengen,
auf die Erde fallen und zur Liebesgabe für die Vögelchen werden, oder aber sie
keimen wieder und geben hundert Körner für eines; bevor im Winter der Pflug über
die Stoppeln zieht, werden sie wiederum reif sein und viele Vögel sättigen, die
in dieser traurigen Jahreszeit schon vom Hunger gequält werden. Siehst du, mein
Johannes, wieviel ein einziges mutiges Samenkorn leisten kann? So werden die
Wenigen sein, die mich aus Liebe lieben. Ein einziger von ihnen kann den Hunger
vieler stillen. Ein einziger von ihnen wird das Land, wo es zuvor wüst und leer
war, schöner machen. Ein einziger von ihnen wird Leben dorthin bringen, wo Tod
war, und die Hungrigen werden zu ihm kommen. Sie werden ein Korn seiner tätigen
Liebe essen und dann egoistisch und gedankenlos davonfliegen. Doch, ohne daß sie
es merken, wird das Korn in ihrem Blute, in ihrem Geist, Keime des Lebens
sprießen lassen... und dann werden sie zurückkommen. Und heute, morgen und
übermorgen, wie Isaak sagte, wird das Begreifen der Liebe in den Herzen
vertieft. Der leere Stengel hat keine Bedeutung mehr. Er ist nur noch ein
Strohhalm. Doch wieviel Gutes wird aus seinem Opfer hervorgehen. Und welchen
Lohn verdient sein Opfer!»
Jesus ist einen Augenblick vor
einer einsamen Ähre am Wegrand stehengeblieben, die in einer Rille, die zur
Regenzeit vielleicht ein Bächlein ist, wächst. Er geht nun weiter, und Johannes
hört ihm aufmerksam zu in seiner Haltung des Verliebten, der nicht nur die
Worte, sondern auch die Gesten des Geliebten aufnimmt. Die anderen, die
untereinander reden, achten nicht auf das liebliche Zwiegespräch. Nun ist der
Apfelhain erreicht, und sie versammeln sich alle zur Rast. Es ist noch immer so
warm, daß man auch ohne Mantel schweißbedeckt ist. Sie schweigen und warten.
Aus dem dichten Dunkel, in dem der
Mond seinen schwachen Schein verbreitet, taucht nun die helle Gestalt Levis auf
und hinter ihr ein dunkler Schatten.
«Meister, hier ist Jonas.»
«Mein Friede komme über dich!»
grüßt Jesus, noch bevor Jonas ihn erreicht hat.
Doch Jonas antwortet nicht. Er
rennt, wirft sich weinend zu Jesu Füßen nieder und küßt sie. Als er sich gefaßt
hat und sprechen kann, sagt er: «Wie lange schon erwarte ich dich! Wie lange!
Welch eine Trostlosigkeit, wenn das Leben dahinschwindet und der Tod sich
nähert, ohne daß man sagen kann: "Ich habe ihn gesehen." Und doch, nicht alle
Hoffnung hatte ich aufgegeben. Selbst als ich todkrank war, sagte ich mir: Sie
hat mir versichert: "Ihr werdet ihm noch dienen", und sie konnte nichts Unwahres
sagen. Sie ist die Mutter des Emmanuel. Niemand hat somit Gott näher bei sich
als sie, und wer Gott hat, weiß, was Gottes ist.»
169
«Steh auf! Sie läßt dich grüßen. Du
hast sie in deiner Nähe, und sie hat dich in ihrer Nähe. Sie lebt in Nazareth.»
«Du! Sie! In Nazareth? Oh, wenn ich
das gewußt hätte! Bei Nacht, in den eiskalten Monaten, wenn die Felder schlafen
und die Bösewichte den Bauern nicht schaden können, wäre ich zu ihr geeilt, um
ihr die Füße zu küssen, und dann wäre ich zurückgekehrt mit meinem Schatz an
Gewißheit. Warum hast du dich nicht geoffenbart, Herr?»
«Weil die Stunde noch nicht
gekommen war. Nun ist die Stunde gekommen. Man muß warten können. Du hast
gesagt: "In den kalten Monaten, wenn die Felder schlafen", und dabei ist der
Weizen schon gesät, nicht wahr? Auch ich war schon gesät, und du hast mich als
Saatkorn gesehen. Dann bin ich verschwunden, unter einem notwendigen Schweigen
begraben, um zu wachsen und die Zeit der Ernte zu erreichen, um vor den Augen
der Welt und jenen, die mich als Neugeborenen gesehen hatten, zu leuchten. Diese
Zeit ist nun gekommen. Nun ist der Neugeborene bereit, das Brot der Welt zu
sein. Und zuerst besuche ich meine Getreuen und sage zu ihnen: "Kommt, sättigt
euch an mir!"»
Der Mann hört ihm lächelnd zu und
spricht beglückt zu sich selbst: «Oh, du bist es wirklich! Du bist es wirklich!»
«Du warst am Sterben? Wann?»
«Als ich beinahe zu Tode gepeitscht
wurde, weil zwei Weinberge geplündert worden waren. Schau, wie viele Wunden!» Er
zieht sein Gewand herunter und zeigt seine mit unregelmäßigen Narben bedeckten
Schultern. «Mit einer eisernen Rute haben sie mich geschlagen. Er hat die
gestohlenen Weintrauben auf den abgerissenen Fruchtstengeln gezählt, und für
jede von ihnen hat er mir einen Hieb versetzt. Dann hat er mich halbtot liegen
lassen. Maria, die junge Frau eines Gefährten, ist mir zu Hilfe gekommen. Ihr
Vater war mein Vorgänger; und ich habe bei meiner Ankunft hier das kleine
Mädchen sofort liebgewonnen, weil es Maria hieß. Sie hat mich gepflegt; doch
erst nach zwei Monaten war ich geheilt, denn die Wunden hatten sich bei der
Hitze entzündet und hohes Fieber hervorgerufen. Ich habe zum Gott Israels
gesagt: "Meinetwegen! Laß mich nur deinen Messias wiedersehen! Dieses Unglück
ertrage ich dann leicht. Nimm es als Opfer an! Ich kann dir nie im Tempel Opfer
darbringen. Ich bin der Knecht eines Grausamen, du weißt es. Nicht einmal an
Ostern erlaubt er mir, zu deinem Altare zu gehen. Nimm mich als Sühnopfer an.
Doch gib ihn mir, ihn!"»
«Und der Allerhöchste hat dich
erhört. Jonas, willst du mir dienen, wie es deine Gefährten schon tun?»
«Wie werde ich dies können?»
«Wie sie es können. Levi weiß es,
und er wird dir sagen, wie einfach es ist, mir zu dienen. Ich will nur deinen
guten Willen.»
«Den habe ich dir schon gegeben,
als du noch ein kleines Kind warst
170
und weintest. Durch ihn habe ich
alles überstanden, sowohl die Entmutigungen als auch den Haß. Leider können wir
hier nur wenig reden... Der Gutsherr hat mir einmal einen Fußtritt gegeben, weil
ich darauf beharrte, daß du auf Erden bist. Doch jedesmal, wenn er fern war und
ich jemand hatte, dem ich vertrauen konnte, habe ich vom Wunder jener Nacht
erzählt.»
«Und nun erzähle vom Wunder unserer
Begegnung. Ich habe euch fast alle gefunden, und ihr seid mir treu geblieben.
Ist das nicht ein Wunder? Allein, weil ihr mich mit Glauben und Liebe betrachtet
habt, seid ihr gerecht vor Gott und den Menschen geworden.»
«Oh, nun werde ich Mut haben! Nun,
da ich weiß, daß du lebst, und ich sagen kann: "Er ist da! Geht zu ihm!" Doch wo
können wir dich finden, mein Herr?»
«In ganz Israel. Bis September
werde ich in Galiläa sein. Nazareth und Kapharnaum werden mich oft haben, und
dort kann man mich finden. Dann werde ich überall sein. Ich bin gekommen, die
Schafe Israels zu versammeln.»
«Oh, mein Herr! Du wirst viele
Böcke finden. Mißtraue den Großen in Israel!»
«Sie werden mir nichts Böses antun,
solange die Stunde nicht gekommen ist. Du aber sage den Toten, den Schlafenden,
den Lebenden: "Der Messias ist unter uns!"»
«Die Toten, Herr?»
«Die Toten im Geiste. Die anderen,
die gerecht im Herrn verstorben sind, jauchzen schon vor Freude über die
bevorstehende Befreiung aus den Limben. Sage den Toten im Geiste, daß ich das
Leben bin! Sage zu den Schlafenden, daß ich die Sonne bin, die den Schlaf
vertreibt. Sage den Lebenden, daß ich die Wahrheit bin, die sie suchen.»
«Wirst du auch die Kranken heilen?
Levi hat mir von Isaak erzählt. Hast du an ihm ein Wunder gewirkt, weil er dein
Hirte war, oder wirst du es bei allen tun?»
«Den Guten ist das Wunder als
gerechter Lohn zugedacht; den weniger Guten, um sie zur wahren Güte anzuspornen;
den Bösen manchmal, um sie aufzurütteln und zu überzeugen, daß ich da bin, und
Gott mit mir ist. Das Wunder ist ein Geschenk. Das Geschenk ist für die Guten.
Doch er, der die Barmherzigkeit ist und sieht, wie schwerfällig die Menschen
sind und daß nur ein mächtiges Ereignis sie aufrufen kann, benützt dieses, um
sagen zu können: "Alles habe ich für euch getan, und es hat nichts genützt. Sagt
also selbst, was ich noch tun könnte!"»
«Herr, willst du nicht in mein Haus
eintreten? Wenn du mir versicherst, daß keine Diebe in die Güter einbrechen,
will ich dir Gastfreundschaft gewähren und um dich die wenigen versammeln, die
durch meine Worte von dir gehört haben. Der Gutsherr hat uns gebogen und
zerbrochen wie
171
wertlose Halme. Wir haben nichts
als die Hoffnung auf eine ewige Belohnung. Doch wenn du dich den betrübten
Herzen zeigst, werden sie neue Kraft in sich spüren.»
«Ich komme. Habe keine Sorge um die
Bäume und Weinberge. Sei versichert, daß die Engel dir getreue Wächter sein
werden.»
«O Herr, ich habe sie gesehen,
deine himmlischen Diener. Ich glaube! Und mit dir bin ich sicher. Gesegnet seien
die Bäume und die Reben, die sich im Winde bewegen und Lieder von Stimmen und
Flügeln der Engel hören! Gesegnet sei dieser Erdboden, den du mit deinem Fuße
heiligst! Komm, Herr Jesus! Hört, Pflanzen und Reben! Hört, ihr Schollen! Hört
den Namen, den ich euch zu meinem Frieden anvertraut habe und mit dem ich jetzt
ihn nenne: Jesus ist hier! Hört, und durch Zweige und Äste gehe ein Raunen: "Der
Messias ist mit uns!"»
Alles endet mit diesen freudigen
Worten.
Am gleichen Tag, um 2O Uhr.
Wenn nicht Ausgangssperre wäre,
hätte ich Sie rufen lassen; denn so stark wurde ich von der Erscheinung des
Dämons erschreckt. Eines echten Dämons, ohne Verkleidung. Eine hohe, dünne,
rauchige Person mit niedriger Stirne, spitzem Gesichte, tiefliegenden Augen und
einem derart bösen Blick voller Spott, Bosheit und Falschheit, daß nur wenig
gefehlt hat, daß ich nicht schrie. Ich betete im Dunkel meines Zimmers, während
Martha in der Küche war. Ich betete zum Unbefleckten Herzen Mariens, als er an
der geschlossenen Türe erschien. Dunkel im Dunkel, und trotzdem konnte ich alle
Einzelheiten des nackten, häßlichen Körpers erkennen; häßlich nicht wegen einer
Mißgestaltung, sondern wegen der schlangenhaften Bewegungen all seiner Glieder.
Ich habe keine Hörner und keinen Schwanz gesehen, keinen Bocksfuß und auch nicht
Flügel, mit denen er üblicherweise dargestellt wird. Seine ganze Monstrosität
lag im Ausdruck: Falschheit, Spott, Roheit, Haß und Bosheit. Alles dies sprach
aus seinem heimtückischen und bösen Ausdruck. Er verspottete und beleidigte
mich. Doch er wagte sich nicht in meine Nähe. Er stand da wie angenagelt,
ungefähr zehn Minuten lang; dann ging er. Doch ich schwitzte heiß und kalt
zugleich.
Während ich überlegte, was dies zu
bedeuten habe, sagte Jesus:
«Weil du ihn so hart in sein
Element zurückgewiesen hast.» (Während ich zu Maria betete, hörte ich... ich
weiß nicht, wie ich es nennen soll, denn es war keine Stimme, nicht
Einbildung... irgend etwas, das sagte: «Wenn du nicht gewesen wärest, wäre etwas
vorgefallen. Dein Verdienst ist es, daß nichts geschah. Denn Gott liebt dich
sehr.» Ich weiß nicht, ob ich es recht mache oder schlecht... doch mir scheint,
so ist es gut ... wenn ich solches höre, dann sage ich: «Weiche, Satan! Versuche
mich nicht! Wenn es Jesus ist, der spricht, nehme ich es an; doch niemand
anderer darf es wagen, in mir die Selbstgefälligkeit zu wecken.») Jesus sagte
also: «Weil du ihn so scharf zurückgewiesen hast in seinem Hauptlaster: dem
Hochmut. Oh, wenn er dich zum Hochmut verleiten könnte! Hast du ihn gut
angesehen? Hast du nicht bemerkt, daß sein Aussehen, ich möchte sagen, seine
Herrschaft oder Vaterschaft sich zeigt und durchscheint bei allen, die ihm auch
nur vorübergehend dienen? Achte nicht darauf, wenn er dir in einer Person mit
dem abstoßenden Aussehen eines schmutzigen, häßlichen, dreckigen und lüsternen
Tieres erscheint; als ein Monstrum, aufgeblasen vom Hochmut und der Hefe der
Gier. Das geschieht, weil das arme Geschöpf ein Misthaufen vieler Laster und
Sünden ist, in dem die Sünden des Fleisches vorherrschen. Denke an all jene, die
auf andere Art dich erschrecken und kränken. Jene, die vielleicht für eine
Stunde Instrumente Satans waren, um eine treue Seele zu beunruhigen, sie zu
kränken und sie zur Verzweiflung zu treiben. Hatten sie nicht denselben Ausdruck
der rohen Verachtung, den du so
172
genau an ihm gesehen hast? Oh, er
scheint durch in seinen Dienern. Doch habe keine Angst. Er kann dir nichts
antun, wenn du mit mir und Maria vereint bleibst. Er haßt dich. Maßlos! Doch er
ist ohnmächtig und kann dir nicht schaden. Wenn du deine Seele nicht
zurückziehst, um sie selbst zu besitzen, und sie in meinem Herzen läßt, wie kann
er dann deiner Seele Schaden zufügen?
Schreibe dies und schreibe auch die
kleineren Visionen auf, die du gehabt hast. Der Pater (geistlicher Vater der
Schreiberin) soll sie alle kennen, dafür besteht ein Grund. Du mußt wissen, daß
die Zeit meines Frühlings kommt. Des Frühlings, den ich meinen Auserwählten
bereite. Die Veilchen und die Primeln bedecken im Frühjahr die Wiesen. Die
Teilnahme an meinen Schmerzen erfüllt die Tage der Vorbereitung auf die Passion
bei meinen Freunden. Geh im Frieden! Ich segne dich, um die verbliebene Angst
auszulöschen: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.»
126. ABSCHIED VON JONAS UND
RÜCKKEHR NACH NAZARETH
Kaum ein Lichtschein. An der Türe
einer armseligen Hütte - ich nenne sie so, da die Bezeichnung "Haus" zu
ehrenvoll wäre - sehe ich Jesus mit den Seinen, Jonas und andere arme
Landarbeiter.
«Werde ich dich nicht mehr sehen,
mein Herr?» fragt Jonas. «Du hast das Licht in unsere Herzen gebracht. Deine
Güte hat aus diesen Tagen ein Fest gemacht, das unvergeßlich bleiben wird. Doch
du hast auch gesehen, wie man uns behandelt. Die Arbeitstiere werden besser
umsorgt als wir. Auch die Pflanzen werden menschlicher behandelt; denn sie
bedeuten Geld. Wir sind nur Mühlen, die Geld bringen. Wir werden ausgenützt, bis
wir an Überanstrengung sterben. Doch deine Worte waren Liebkosungen. Das Brot
schien uns reichlicher und geschmackvoller, weil du es mit uns gebrochen hast;
dieses Brot, das der Gutsherr nicht einmal seinen Hunden zumutet. Komm wieder,
Herr, mit uns das Brot zu brechen! Nur weil du es bist, wage ich es zu sagen.
Für jeden anderen wäre es eine Beleidigung, wenn ich ihm Unterkunft und Nahrung
anböte, die sogar einen Bettler abschreckt ... Doch du ...»
«Doch ich finde darin einen
himmlischen Duft und Wohlgeschmack, weil in euch Glaube und Liebe sind. Ich
werde wiederkommen, Jonas. Ich werde kommen! Bleibe auf deinem Posten, wenn auch
wie ein angebundenes Tier. Deine Arbeitsstelle sei für dich die Himmelsleiter
Jakobs! Und wahrlich steigen die Engel darauf auf und ab und sind bemüht, alle
deine Verdienste zu Gott zu tragen. Doch ich werde zu dir kommen, um deinen
Geist zu erheben. Bleibt mir alle treu! Oh, ich würde euch gerne auch
menschlichen Frieden schenken. Doch ich kann es nicht. Ich muß euch sagen:
leidet weiterhin! Und das ist traurig für mich, der liebt ...»
«Herr, wenn du uns liebst, dann
gibt es kein Leiden mehr. Vorher hatten
173
wir niemand, der uns liebte... Oh,
wenn ich doch deine Mutter sehen könnte!»
«Sorge dich nicht. Ich werde sie zu
dir führen. Sobald die Jahreszeit milder wird, werde ich mit ihr kommen. Habe
keine Eile, sie zu sehen, und setze dich nicht der Gefahr unmenschlicher Strafen
aus. Warte geduldig auf sie, wie man das Aufgehen des ersten Sternes erwartet.
Sie wird dir unerwartet erscheinen, wie der Abendstern, der eben noch nicht da
war, aber plötzlich am Himmel glitzert. Und denke daran, daß sie auch jetzt ihre
Gaben der Liebe über dich ergießt. Lebt wohl, ihr alle! Mein Friede sei euch ein
Schutz gegen die Härte eures Peinigers! Leb wohl, Jonas! Weine nicht! Du hast so
viele Jahre mit geduldigem Vertrauen gewartet. Ich verspreche dir eine kurze
Wartezeit. Weine nicht! Ich werde dich nicht allein lassen. Deine Güte hat
damals meine kindlichen Tränen getrocknet. Genügt nun meine Liebe nicht, deine
Tränen zu trocknen?»
«Ja... aber du gehst, und ich muß
bleiben...»
«Freund Jonas, laß mich nicht mit
dem drückenden Bewußtsein fortgehen, dir keine Erleichterung gebracht zu haben.»
«Ich weine nicht, Herr... Doch wie
soll ich weiterleben, ohne dich sehen zu dürfen... da ich jetzt weiß, daß du
lebst?»
Jesus liebkost noch einmal den
alten, erschöpften Freund und trennt sich von ihm. Doch am Rande der armseligen
Tenne bleibt er noch einmal stehen, breitet die Arme aus und segnet das Land;
dann geht er.
«Was hast du getan, Meister?» will
Simon wissen, der die ungewohnte Geste bemerkt hat.
«Ich habe ein Siegel auf alle Dinge
gesetzt, damit die Satane an ihnen keinen Schaden anrichten und damit auch diese
Unglücklichen nicht schaden. Mehr konnte ich nicht tun...»
«Meister, gehen wir etwas rascher.
Ich möchte dir etwas mitteilen, ohne von den anderen gehört zu werden.» Sie
entfernen sich ein wenig von der Gruppe, und Simon sagt: «Ich möchte dir
mitteilen, daß Lazarus beauftragt ist, die Summe so zu verwenden, daß er all
jenen hilft, die im Namen Jesu darum bitten. Könnten wir nicht Jonas damit
freikaufen? Dieser Mann ist am Ende seiner Kräfte, und ihm bleibt nur noch die
Freude, dich zu haben. Machen wir ihm diese Freude. Was kann er auf seinem
Arbeitsplatz schon ausrichten? In Freiheit gesetzt könnte er dein Jünger in
dieser so schönen und einsamen Gegend sein. Hier haben die Reichen Israels die
besten Güter und nützen sie mit rohem Wucher aus, da sie von den Arbeitern das
Hundertfache verlangen. Ich weiß dies seit Jahren. Hier kannst du dich nur kurz
aufhalten, denn hier herrscht die Sekte der Pharisäer, und ich glaube nicht, daß
sie dir einmal wohlgesinnt sein werden. Die Unglücklichsten in Israel sind ihre
unterdrückten Arbeiter ohne Hoffnung. Du hast es selbst gehört: nicht einmal an
Ostern können sie beten und Frieden haben, während die harten Herren mit großen
Gesten und
174
theatralischer Haltung sich in die
ersten Reihen der Gläubigen stellen. So hätten die Arbeiter wenigstens die
Freude zu wissen, daß du da bist, und könnten deine Worte aus dem Munde eines
Mannes hören, der kein Iota daran ändert. Wenn du meinst, Herr, gib Anweisungen,
und Lazarus wird es tun.»
«Simon, ich habe sofort verstanden,
warum du dich deines Besitzes entledigt hast. Mir sind die Gedanken der Menschen
nicht unbekannt. Und ich liebe dich auch deswegen. Wenn du Jonas glücklich
machst, ist auch Jesus glücklich. Oh, wie mich das bedrückt, Gute leiden sehen
zu müssen. Nur aus diesem Grunde kann ich darüber betrübt sein, daß ich arm bin
und man mich verachtet. Wenn Judas mich hören würde, würde er jetzt sagen: "Aber
bist du nicht das Wort Gottes? Befiehl, und die Steine werden zu Gold und Brot
für die Armen." Er würde die Versuchung Satans wiederholen. Ich will die
Hungrigen sättigen. Aber nicht so, wie Judas es möchte. Noch seid ihr zu wenig
unterrichtet, um den tieferen Sinn meiner Worte zu begreifen. Doch dir will ich
sagen: Wenn Gott für alles sorgte, würde er seine Freunde stehlen. Er würde sie
hindern, barmherzig zu sein und so dem Gebot der Liebe zu gehorchen. Meine
Freunde müssen dieses Merkmal mit Gott gemeinsam haben: die heilige
Barmherzigkeit in Werken und Worten. Und das Leid der anderen gibt meinen
Freunden die Gelegenheit, sie zu üben. Hast du mich verstanden?»
«Es ist ein tiefer Gedanke. Ich
werde darüber nachdenken. Und ich demütige mich, da ich begreife, wie dumm ich
bin und wie groß Gott ist, der uns mit allen seinen gütigsten Eigenschaften
versehen möchte, um uns seine Kinder nennen zu können. Gott enthüllt sich mir in
seiner vielfältigen Vollkommenheit durch jedes Licht, das du in mein Herz
stellst. Tag für Tag, wie bei jemandem, der auf unbekanntem Wege wandelt, wächst
in mir die Kenntnis dieser großen "Sache", die Vollkommenheit heißt und uns
"Kinder" nennen möchte, und es scheint mir, als stiege ich wie ein Adler in
unbegrenzte Höhen empor oder als tauchte ich wie ein Fisch in grenzenlose
Tiefen, wie der Himmel und das Meer es sind; und wie höher ich steige oder wie
tiefer ich tauche, nie berühre ich eine Grenze. Was ist also Gott?»
«Gott ist die unerreichbare
Vollkommenheit. Gott ist die vollendete Schönheit. Gott ist die unendliche
Macht. Gott ist das unbegreifliche Sein. Gott ist die unübertreffliche Güte.
Gott ist die unzerstörbare Barmherzigkeit. Gott ist die unermeßliche Weisheit.
Gott ist die zu Gott gewordene Liebe. Gott ist die Liebe! Die Liebe! Du sagst,
daß du das Gefühl hast, je mehr du Gott in seiner Vollkommenheit erkennst, immer
mehr in die grenzenlosen Tiefen des Himmels oder des Meeres zu gelangen. Doch
wenn du verstehst, was die Gott gewordene Liebe ist, dann wirst du nicht mehr
aufsteigen oder untertauchen in die Bläue, sondern von einem lodernden
Flammenmeer aufgesogen werden in eine Seligkeit, die dir gleichzeitig
175
Leben und Tod ist. Du wirst Gott
völlig besitzen, wenn du durch deinen Willen und durch seine Hilfe erreicht
hast, ihn zu verstehen und ihn zu verdienen. Dann wirst du an seiner
Vollkommenheit teilhaben.»
«Oh, Herr!» Simon ist erschüttert.
Ein Schweigen tritt ein. Die Straße
ist erreicht. Jesus erwartet die anderen. Als die Gruppe sich wieder vereinigt
hat, kniet Levi nieder: «Ich müßte dich verlassen, Meister. Doch dein Diener hat
eine Bitte an dich. Bring mich zu deiner Mutter. Jener ist Waise wie ich.
Verweigere mir nicht, was du ihm gewährst: das Antlitz einer Mutter zu sehen...
!»
«Komm. Alles, was im Namen meiner
Mutter erbeten wird, gewähre ich im Namen meiner Mutter.»
... Jesus ist allein. Er schreitet
eiligen Schrittes zwischen Ölbäumen voran, die schon voll wohlgeformter Oliven
sind. Die Sonne schwebt, obwohl es schon gegen Abend ist, über den graugrünen
Kuppeln der wertvollen und friedlichen Bäume und macht nur kleine Lichtlöcher
durch die dichten Kronen. Die Hauptstraße, von zwei Fußgängerpfaden gesäumt,
gleicht einem staubigen, flimmernden Band.
Jesus schreitet vorwärts und
lächelt. Nun erreicht er eine Wegbiegung und lächelt noch seliger. Dort liegt
Nazareth... unter einem flimmernden Sonnenlicht. Jesus beschleunigt seine
Schritte. Er erreicht die Straße, ohne nun auf die brennende Sonne zu achten. Es
scheint, als ob er fliege, so rasch geht er mit dem Mantel, den er sich zum
Schutz gegen die Sonne auf das Haupt gezogen hat und der sich aufbläht und an
den Seiten und am Rücken mitschwingt. Die Straße ist still und verlassen bis zu
den ersten Häusern. Dort hört man einige Kinder- und Frauenstimmen aus den
Häusern und den Gärten, deren Bäume ihre Äste bis auf die Straße hängen lassen.
Jesus nützt die schattigen Stellen, um der brütenden Sonne zu entgehen. Er biegt
in eine kleine Seitenstraße ein, die halb im Schatten liegt. Hier sind Frauen um
einen kühlen Brunnen versammelt. Alle grüßen Jesus mit lauten Zurufen und heißen
ihn willkommen.
«Friede euch allen! Bleibt doch
ruhig! Ich möchte meine Mutter überraschen.»
«Ihre Schwägerin ist gerade mit
einem frischen Krug weggegangen. Sie muß jedoch zurückkommen. Sie haben kein
Wasser. Die Quelle ist entweder versiegt, oder sie versickert im heißen Boden,
bevor das Wasser zu deinem Garten gelangt. Wir wissen es nicht. Maria des
Alphäus sprach soeben darüber. Da kommt sie.»
Die Mutter des Judas und Jakobus
kommt mit einem Krug auf dem Kopf daher und hält einen zweiten in der Hand. Sie
sieht Jesus nicht gleich und ruft: «So geht es rascher. Maria ist sehr traurig,
weil ihre Blumen vor Durst sterben. Es sind immer noch die Josephs und Jesu, und
es würde ihr das Herz brechen, wenn sie zusehen müßte, wie sie verwelken...»
176
«Doch nun wird sie mich sehen ...»
sagt Jesus und kommt hinter der Gruppe hervor.
«Oh, mein Jesus! Sei gesegnet! Ich
gehe gleich, es ihr zu sagen ...»
«Nein, ich gehe selbst. Gib mir die
Krüge!»
«Die Türe ist nur angelehnt. Maria
ist im Garten. Oh, wie wird sie glücklich sein! Sie sprach heute morgen von dir.
Bei dieser Sonne bist du gekommen? Du bist ja ganz erhitzt und in Schweiß
gebadet. Bist du allein?»
«Nein, mit Freunden. Doch ich bin
vorausgegangen, um die Mutter zuerst zu sehen. Und Judas?»
«Er ist in Kapharnaum. Er geht
öfters dorthin ...» Maria sagt sonst nichts. Doch sie lächelt, während sie mit
ihrem Schleier den Schweiß von Jesu Antlitz trocknet. Die Krüge sind gefüllt.
Jesus hat sich zwei mit seinem Gürtel über die Schulter gehängt, den anderen
trägt er in der Hand. Er geht rasch, erreicht das Haus, öffnet die Türe, betritt
das kleine Zimmer, das im Vergleich zur Sonnenhelle draußen ganz dunkel
erscheint. Er hebt vorsichtig den Vorhang, welcher die Türe zum Garten ersetzt
und schaut umher. Maria steht mit dem Rücken zum Hause bei einem Rosenstock und
bemitleidet die durstige Pflanze. Jesus stellt den Krug auf den Boden, und das
Metall klingt hell, da es gegen einen Stein stößt.
«Bist du schon zurück, Maria?»
fragt die Mutter, ohne sich umzuwenden. «Komm, komm! Schau diesen Rosenstock an!
Und diese armen Lilien! Sie werden alle sterben, wenn wir ihnen nicht helfen.
Bring auch ein paar Schilfrohre, um diesen Stengel zu stützen, der sonst
umsinkt.»
«Alles werde ich dir bringen,
Mama.»
Maria wendet sich blitzartig um.
Eine Sekunde lang bleibt sie mit weit geöffneten Augen stehen, dann eilt sie mit
einem Schrei und ausgebreiteten Armen auf ihren Sohn zu, der ebenfalls die Arme
ausgebreitet hat und sie mit einem Lächeln, das ganz Liebe ist, umarmt.
«Oh, mein Sohn!»
«Liebe Mama!»
Die Gefühlsäußerung ist lang und
süß, und Maria ist so glücklich, daß sie nicht sofort bemerkt, wie erhitzt Jesus
ist. Doch dann bemerkt sie es:
«Warum zu dieser Stunde, mein Sohn?
Du bist purpurrot und naß wie ein Schwamm. Komm, komm herein, damit deine Mutter
dich abtrocknen und erfrischen kann. Ich bringe dir gleich ein neues Gewand und
saubere Sandalen. Aber Sohn! Sohn! Warum bist du unterwegs bei dieser
Sonnenglut? Es sterben die Pflanzen vor Hitze, und du, mein Sohn, bist
unterwegs!»
«Um schneller bei dir zu sein,
Mama!»
«O liebster Sohn! Hast du Durst?
Natürlich hast du Durst. Nun bereite ich dir...»
«Ja, nach deinem Kuß, Mama, nach
deinen Liebkosungen. Laß mich
177
ein wenig den Kopf an deine
Schulter lehnen, so wie ich es tat, als ich noch klein war... Oh, Mama! Wie du
mir fehlst!»
«Aber rufe mich doch zu dir, Sohn,
und ich werde sofort kommen. Was hat dir gefehlt, als du fern von mir warst?
Eine Lieblingsspeise? Frische Kleider? Ein gut hergerichtetes Lager? Oh, sag es
mir, meine Freude, was hat dir gefehlt? Deine Dienerin, o mein Herr, wird sich
bemühen, dir alles zu beschaffen ...»
«Nichts außer du.»
Jesus ist an der Seite der Mutter
ins Haus getreten und hat sich auf die Truhe an der Wand gesetzt. Er hält seine
Mutter fest in den Armen und legt sein Haupt an ihr Herz... von Zeit zu Zeit
küßt er sie. Nun schaut er sie fest an:
«Laß mich dich ansehen! Möge sich
mein Auge von deinem Anblick erfüllen, meine heilige Mutter!»
«Zuerst ein frisches Gewand! Es ist
nicht gut, in Schweiß gebadet so zu verweilen. Komm!»
Jesus gehorcht. Als er in einem
frischen Gewand zurückkommt, wird das innige Zwiegespräch fortgesetzt.
«Ich bin mit Jüngern und Freunden
gekommen. Aber ich habe sie im Walde von Melka zurückgelassen. Sie werden morgen
bei Sonnenaufgang kommen. Ich konnte nicht länger warten. Meine Mutter!» Und er
küßt mehrmals ihre Hände. «Maria des Alphäus hat sich zurückgezogen, um uns
allein zu lassen. Auch sie hat meinen Durst nach dir erkannt. Morgen... morgen
gehörst du meinen Freunden, und ich den Nazarenern. Doch diesen Abend bist du
meine Freundin, und ich der deine (ein Ausdruck, der im alttestamentarischen
Licht des Hohenliedes und dem patristischen der Lehre über Jesus, den neuen
Adam, und Maria, die neue Eva, verstanden werden muß). Ich habe dir
mitgebracht... oh, Mutter, ich habe die Hirten von Bethlehem gefunden. Zwei von
ihnen sind mit mir; sie sind Waisen; du bist die Mutter. Von allen, besonders
der Waisen. Und ich habe auch einen mitgebracht, der dich nötig hat, um sich
selbst zu besiegen. Und einen anderen, der gerecht ist und viel gelitten hat.
Und dann Johannes... Und ich habe dir die Grüße des Elias, des Isaak, des
Tobias, der nun Matthias heißt, des Johannes und des Simon zu bestellen. Jonas
ist am unglücklichsten. Ich werde dich zu ihm hinführen. Ich habe es ihm
versprochen. Weitere suche ich noch. Samuel und Joseph sind im Frieden Gottes.»
«Warst du in Bethlehem?»
«Ja, Mama, ich habe die Jünger, die
bei mir waren, dorthin geführt. Und ich habe dir diese Blümchen mitgebracht, die
zwischen den Steinen der Grotte wuchsen.»
«Oh!» Maria nimmt die trockenen
Stengel und küßt sie. «Und Anna?»
178
«Sie kam bei dem Morden des Herodes
ums Leben.»
«Oh! Die Arme! Sie hatte dich so
sehr geliebt!»
«Die Bethlehemiten haben viel
leiden müssen. Und sie waren nicht gut zu den Hirten. Sie haben so viel
gelitten...»
«Doch, zu dir waren sie damals
gut!»
«Ja, daher muß man Mitleid mit
ihnen haben. Satan ist eifersüchtig wegen ihrer Güte und stachelt sie zum Bösen
an. Ich war auch in Hebron. Die Hirten, die verfolgt...»
«Oh... soweit ist es gekommen?»
«Ja, sie wurden von Zacharias
unterstützt, und durch ihn bekamen sie Herren und Brot, wenn es auch harte
Herren waren. Sie sind Gerechte, und aus den Verfolgungen und Wunden haben sie
Edelsteine der Heiligkeit gemacht. Ich habe sie zusammengeführt. Ich habe Isaak
geheilt und meinen Namen einem Neugeborenen gegeben... In Jutta, wo Isaak litt
und wo er zu einem neuen Leben auferstand, lebt nun eine kleine, unschuldige
Gruppe mit den Namen Maria, Joseph und Jesus.»
«Oh, dein Name!»
«Und der deine und der des
Gerechten. Und in Kerioth, der Heimat eines Jüngers, starb ein getreuer Israelit
an meinem Herzen aus Freude darüber, mich gesehen zu haben... Und dann... oh!
Wieviel habe ich dir zu erzählen, meiner vollkommenen Freundin, meiner gütigen
Mutter! Doch zuerst möchte ich dich darum bitten: habe Mitleid, viel Mitleid mit
ihnen, die morgen kommen werden. Höre mich an: sie lieben mich, doch sie sind
nicht vollkommen. Du, die Meisterin in der Tugend... oh, Mutter, hilf mir, sie
gut zu machen... Ich möchte sie alle retten...» Jesus ist zu den Füßen Mariens
niedergesunken. Nun zeigt sie sich in ihrer Majestät als Mutter.
«Mein Sohn, wie willst du, daß
deine arme Mutter mehr tut als du?»
«Sie heiligen ... Deine Tugend
heiligt. Ich habe sie eigens darum mitgebracht. Mama ... eines Tages werde ich
zu dir sagen: "Komm" ' denn dann wird es an der Zeit sein, die Seelen zu
heiligen, damit ich in ihnen den Willen für die Erlösung finde. Ich allein
vermag es nicht... Dein Schweigen wird so wirkungsvoll sein wie meine Worte.
Deine Reinheit wird meiner Macht zu Hilfe kommen, deine Gegenwart wird den Satan
zurückstoßen... und dein Sohn, Mama, wird daraus Kraft schöpfen, wenn er dich in
seiner Nähe weiß. Du wirst kommen, nicht wahr, meine liebe Mutter?»
«Jesus! Liebster Sohn! Ich spüre,
du bist nicht glücklich... was drückt dich, du Sohn meines Herzens? War die Welt
hart mit dir? Nein? Dies zu glauben, ist eine Erleichterung für mich... doch...
O ja! Ich werde kommen, wohin du willst. Wie du willst. Wann du willst! Auch
jetzt in der Sonnenhitze, beim Sternenschein, bei Eiseskälte und Regenschauern.
Willst du mich? Hier bin ich!»
«Nein, nicht jetzt. Doch eines
Tages... Wie freundlich ist das Haus.
179
Und deine Liebe! Laß mich so
schlafen, mit dem Haupte auf deinen Knien. Ich bin so müde. Ich bin immer dein
"kleiner Sohn"...» Und Jesus schläft wirklich ein, todmüde und erschöpft, auf
der Fußmatte sitzend, das Haupt im Schoß der Mutter, die glückselig seine Haare
streichelt...
127. AM TAG DARAUF IM HAUS VON
NAZARETH
Ich sehe Maria, die beim ersten
Tageslicht barfuß und flink in ihrem Hause hin und hergeht. In ihrem lichtblauen
Kleide sieht sie wie ein schöner Schmetterling aus, der geräuschlos über Wände
und Gegenstände streicht. Sie bleibt an der Türe, die zur Straße führt, stehen,
öffnet sie leise und läßt sie dann halboffen, nachdem sie einen Blick auf die
noch verlassene Straße geworfen hat. Sie bringt alles in Ordnung, öffnet Türen
und Fenster und betritt dann die Werkstatt, in der sich nun ihre Webstühle
befinden, da der Schreiner nicht mehr hier arbeitet. Sie bedeckt sorgfältig
einen der Webstühle, auf dem eine Webarbeit angefangen ist, und lächelt bei
einem Gedanken, der wohl mit dieser Arbeit verbunden ist. Dann geht sie in den
Garten. Tauben fliegen sogleich auf ihre Schultern. Mit kurzen Flügen, von einer
Schulter zur anderen, suchen sie sich den besten Platz aus und begleiten Maria
eifersüchtig auf Schritt und Tritt bis zu einem Verschlag, wo die Vorräte
aufbewahrt werden. Sie holt Körner von dort und sagt: «Hier, heute hier! Macht
keinen Lärm, denn er ist sehr müde!»Dann nimmt sie Mehl, geht in einen Raum
neben dem Backofen und macht sich daran, einen Teig zu bereiten. Sie knetet ihn
und lächelt dabei. Oh, wie sie heute lächelt, die Mutter! Sie sieht aus, wie die
junge Mutter bei der Geburt ausgesehen hat, so sehr hat die Freude sie verjüngt.
Vom Brotteig nimmt sie einen kleinen Teil, legt ihn zur Seite und bedeckt ihn;
dann knetet sie den Teig weiter, bis sie ganz erhitzt ist. Ihre Haare scheinen
heller durch die leichte Überpuderung mit Mehl.
Maria des Alphäus tritt leise ein:
«Bist du schon bei der Arbeit?»
«Ja, ich backe Brot und hier,
schau, die kleinen Honigkuchen, die er so gerne ißt.»
«Mache du die Kuchen. Den großen
Brotteig will ich dir zubereiten.»
Maria des Alphäus ist robust und
bäurisch und macht sich an den Brotteig, während Maria Honig und Butter in ihren
Kuchenteig mischt, runde Küchlein daraus macht und sie dann auf ein Brett legt.
«Ich weiß nicht, wie ich Judas
verständigen soll... Jakob wagt nicht... und die anderen...» Maria des Alphäus
seufzt.
«Heute wird Simon Petrus kommen. Er
kommt immer zwei Tage nach dem Sabbat und bringt den Fisch. Wir werden ihn zu
Judas schicken.»
«Wenn er dazu bereit ist...»
180
«Oh, Simon Petrus sagt niemals nein
zu mir.»
«Der Friede sei über diesem eurem
Tage», sagt Jesus, der nun auf der Türschwelle erscheint. Die beiden Frauen
fahren freudig auf, als sie seine Stimme hören. «Bist du schon aufgestanden?
Warum? Ich wollte, daß du länger schläfst ...»
«Ich habe gut geschlafen, Mama. Du
hast wohl nicht geschlafen...»
«Ich habe dich betrachtet, während
du geschlafen hast. Als du noch ein kleines Kind warst, machte ich das oft. Im
Schlafe lächeltest du immer... und dieses Lächeln blieb den ganzen Tag über in
meinem Herzen, wie eine Perle... Doch heute nacht hast du nicht gelächelt, Sohn.
Du hast geseufzt, als wärest du sehr betrübt ...»
Maria betrachtet ihn sorgenvoll.
«Ich war müde, Mama. Und die Welt
ist nicht wie dieses Haus, wo alles Ehrsamkeit und Liebe ist. Du... du weißt,
wer ich bin, und kannst verstehen, was für mich die Berührung mit der Welt
bedeutet. Es ist, wie wenn jemand auf einer übelriechenden und schmutzigen
Straße geht. Auch wenn man sehr aufpaßt, bespritzt einen doch immer etwas
Schlamm, und der Gestank ist widerlich, auch wenn man sich bemüht, ihn nicht
einzuatmen... und wenn man das Schöne und Reine liebt, ist es verständlich, daß
man sich ekelt ...»
«Ja, Sohn, ich verstehe. Doch ich
leide, wenn du leidest.»
«Jetzt bin ich bei dir und leide
nicht. Es ist nur die Erinnerung; doch sie dient dazu, die Freude, bei dir zu
sein, zu steigern.»
Jesus beugt sich nieder, um seine
Mutter zu küssen. Er liebkost auch die andere Maria, die in diesem Augenblick
hereinkommt und ganz erhitzt ist, da sie gerade im Backofen Feuer gemacht hat.
«Wir müssen Judas benachrichtigen
lassen», sorgt sich Maria des Alphäus.
«Nicht nötig. Judas wird heute hier
sein.»
«Wie weißt du das?»
Jesus lächelt und schweigt.
«Sohn, jede Woche an diesem Tage
kommt Simon Petrus. Er bringt mir in den ersten Tagesstunden Fische. Er kommt
meistens zur ersten Stunde hier an. Er wird heute glücklich sein. Er ist so gut,
Simon Petrus. In den Stunden, die er hier verbringt, hilft er uns immer. Nicht
wahr, Maria?»
«Simon Petrus ist gerecht und gut»,
sagt Jesus.
«Doch auch der andere Simon, den du
bald kennenlernen wirst, hat ein großes Herz. Ich will ihnen entgegengehen; sie
werden bald hier sein.»
Jesus verläßt den Raum, während die
Frauen, die das Brot in den Ofen gebracht haben, ins Haus zurückkehren, wo Maria
ihre Sandalen anzieht und dann in einem frischen, hellen Leinenkleide erscheint.
Nach einiger Zeit des Wartens sagt
Maria des Alphäus: «Du hast die Arbeit nicht rechtzeitig beenden können.»
181
«Ich werde sie bald beendet haben.
Und mein Jesus wird die Erfrischung des Schattens haben, ohne sein Haupt
belasten zu müssen.»
Die Türe wird von außen geöffnet:
«Mama, hier sind meine Freunde! Tretet ein!»
Die Jünger und die Hirten treten
zusammen ein. Jesus legt seine Hände auf die Schultern der beiden Hirten und
führt sie so zur Mutter.
«Ich begrüße euch... Du?... Levi,
du? ... Ich weiß nicht recht, doch nach dem angegebenen Alter zu schließen bist
du bestimmt Joseph. Dieser Name ist wohlklingend und heilig in diesem Haus.
Kommt, kommt! Mit Freude sage ich euch: mein Haus nimmt euch auf, und eine
Mutter umarmt euch in der Erinnerung an das, was ihr... du in deinem Vater...
meinem Kinde an Liebe erwiesen habt.»
Die Hirten sind wie in Verzückung
vor Begeisterung.
«Ich bin Maria, ja. Du hast die
glückliche Mutter gesehen. Ich bin wie damals. Auch jetzt bin ich glücklich
darüber, meinen Sohn von treuen Seelen umgeben zu sehen.»
«Dieser hier ist Simon, Mama.»
«Du hast die Gnade verdient, denn
du bist gut. Ich weiß es. Die Gnade Gottes sei immer mit dir!»
Simon, der in den Sitten und
Gebräuchen der Welt mehr Erfahrung hat, verneigt sich tief und hält dabei die
Hände über der Brust gekreuzt: «Ich grüße dich, wahre Mutter der Gnade, und ich
erbitte vom Ewigen nichts weiter, nun, da ich das Licht kenne und dich, die
sanfter als der Mondschein ist.»
«Dies ist Judas von Kerioth.»
«Ich habe eine Mutter. Doch meine
Liebe zu ihr ist nichts im Vergleich' zur Verehrung, die ich für dich fühle.»
«Nein, nicht für mich! Für ihn. Ich
bin, weil er ist. Für mich will ich nichts. Nur für ihn verlange ich sie. Ich
weiß, welche Ehre du meinem Sohn in deiner Heimat erwiesen hast. Doch ich sage
dir: dein Herz soll der Ort sein, wo er von dir die höchsten Ehrungen erhält.
Dann will ich dich mit meinem Mutterherz segnen.»
«Mein Herz ist unter der Ferse
deines Sohnes. Glückliche Unterwerfung! Der Tod allein kann meiner Treue zu ihm
ein Ende setzen.»
«Dies ist unser Johannes, Mama.»
«Ich bin beruhigt, seitdem ich dich
bei Jesus weiß. Ich kenne dich, und meine Seele ist ruhig, seit du bei Jesus
bist. Sei gesegnet, meine Ruhe!»Und sie küßt ihn.
Die rauhe Stimme von Petrus wird
draußen hörbar: «Hier bin ich, der arme Simon, der dir seinen Gruß bringt und
...» Er tritt ein und bleibt wie erstarrt stehen.
Dann aber stellt er den Korb, den
er mit einem Strick über der Schulter hängen hatte, auf die Erde und wirft sich
Jesus zu Füßen mit den Worten:
182
«Oh, ewiger Herr! Aber... das
hättest du mir nicht antun dürfen, Meister' Hier sein... und es deinen armen
Simon nicht wissen lassen! Gott segne dich, Meister! Ach, wie glücklich bin ich!
Ich habe es ohne dich nicht mehr ausgehalten!» und er küßt die Hand Jesu, ohne
darauf zu achten, daß dieser immer wieder sagt: «Steh auf, Simon, steh doch
auf!»
«Ich stehe auf. Doch, du Bursche!
(Der Bursche ist Johannes.) Du wenigstens hättest zu mir eilen und es mir
mitteilen können. Aber nun lauf sofort nach Kapharnaum und sage es den
anderen... zuerst aber geh in das Haus des Judas! Auch dein Sohn wird bald
kommen, Frau. Los, lauf schon! Stelle dir dabei vor, du seiest ein Hase auf der
Flucht vor wilden Hunden.»
Johannes eilt lächelnd davon.
Simon Petrus ist endlich
aufgestanden. Er hält immer noch mit seinen kurzen, rauhen Händen, auf denen die
Venen wie Stricke hervortreten, die lange Hand Jesu fest und küßt sie, ohne sie
freizugeben, obwohl er gleichzeitig den Fisch abgeben möchte, der immer noch in
seinem Korb am Boden liegt.
«O nein! Ich will nicht, daß du
noch einmal ohne mich fortgehst. Niemals, niemals mehr so lange Zeit ohne dich
zu sehen. Ich werde dir folgen, wie der Schatten dem Körper und das Seil dem
Anker folgt. Wo bist du gewesen, Meister? Ich stellte mir dauernd die Frage:
"Oh, wo wird er sein? Was wird er tun? Ob dieses Kind Johannes gut für ihn sorgt
und aufpaßt, daß er sich nicht zu sehr ermüdet?" Hast du immer genug zu essen
bekommen? Ich kenne dich doch! ... Du bist so mager geworden! Ja, sehr mager...
Er hat nicht gut für dich gesorgt. Ich werde ihm beibringen, daß... aber, sag,
wo bist du denn gewesen, Meister? Du sagst gar nichts.»
«Ich warte darauf, daß du mich zu
Worte kommen läßt.»
«Du hast recht, aber weißt du, dich
wiedersehen zu dürfen, ist wie neuer Wein, der einem schon mit seinem Duft in
den Kopf steigt. Oh, mein Jesus!» Petrus weint beinahe vor Freude.
«Auch ich hatte Verlangen nach dir,
nach euch allen, obwohl ich mit treuen Freunden zusammen war. Schau, Petrus!
Diese sind zwei von denen, die mich schon liebten, als ich erst einige Stunden
alt war. Mehr noch: sie haben schon damals meinetwegen leiden müssen. Hier ist
ein Sohn, der meinetwegen Vater und Mutter verloren hat. Doch nun hat er an euch
allen viele Brüder, nicht wahr?»
«Du fragst mich, Meister? Selbst
wenn, was unmöglich ist, der Teufel dich lieben sollte, würde ich ihn lieben,
weil er dich liebt. Auch ihr seid arm, wie ich sehe. Also passen wir zusammen.
Kommt, daß ich euch küssen kann. Ich bin zwar ein Fischer, doch habe ich ein
zarteres Herz als ein Täubchen. Und aufrichtig bin ich. Achtet nicht darauf,
wenn ich etwas barsch bin. Es ist nur eine äußerliche Härte. In meinem Innern
bin ich wie Honig und Butter... Mit den Guten... denn mit den Bösewichten...»
183
«Das ist der neue Jünger.»
«Mir scheint, den habe ich schon
gesehen...»
«Ja, es ist Judas von Kerioth, und
dein Jesus hat mit seiner Hilfe gute Aufnahme in seiner Stadt gefunden. Ich
bitte euch, liebt euch, auch wenn ihr aus verschiedenen Gegenden stammt. Ihr
seid alle Brüder im Herrn!»
«Und als solchen werde ich ihn
behandeln, wenn er es wirklich ist... O ja... (Petrus schaut Judas fest an, mit
offenem und warnendem Blick) O ja... es ist besser, ich sage es, so kennt er
mich gleich... und gut. Ich muß es sagen: ich halte nicht viel von den Judäern
im allgemeinen und den Bürgern Jerusalems im besonderen. Doch ich bin ehrlich.
Und auf diese meine Ehrlichkeit versichere ich dir, daß ich alle meine Meinungen
über dich auf die Seite schieben und in dir nur den Bruder Jünger sehen will.
Nun liegt es an dir, daß ich meine Meinung und mein Verhalten nicht widerrufen
muß.»
«Hast du auch meinerseits solche
Bedenken, Simon?» fragt der Zelote lächelnd...
«Oh, dich hatte ich gar nicht
gesehen. Mit dir? Oh, mit dir! Nein. Die Ehrlichkeit ist dir ins Gesicht
geschrieben. Die Güte dringt aus deinem Herzen wie duftendes Öl aus einem
porösen Gefäß. Du bist schon alt. Das ist zwar nicht immer ein Verdienst.
Manchmal wird man mit dem Älterwerden falsch und bösartig. Doch du bist wie ein
edler Wein. Je älter er wird, desto reiner und besser wird er.»
«Du hast gut geurteilt, Petrus»,
sagt Jesus. «Kommt nun! Während die Frauen für uns arbeiten, wollen wir uns in
der kühlen Laube aufhalten. Wie schön ist es, mit Freunden zusammenzusein! Wir
wollen alle gemeinsam durch Galiläa und noch weiter gehen. Das heißt, nicht
alle. Levi, der nun zufriedengestellt ist, kehrt zu Elias zurück, um ihm zu
sagen, daß Maria ihn grüßen läßt. Nicht wahr, Mama?»
«Und daß ich ihn und auch Isaak und
die anderen segne. Mein Sohn hat mir versprochen, daß er mich zu ihnen bringen
wird... und ich werde zu euch kommen... zu den ersten Freunden meines Kindes.»
«Meister, ich möchte, daß Levi
Lazarus das Schreiben bringt... Du weißt schon, was ich meine.»
«Bereite es vor, Simon. Heute wird
gefeiert. Morgen abend wird Levi abreisen. Er hat dann noch genügend Zeit, um
vor dem Sabbat dort zu sein. Kommt, Freunde ...»
Sie gehen alle zusammen in den
grünen Garten, und alles ist zu Ende.
184
128. JESUS UNTERRICHTET DIE JÜNGER
IM OLIVENHAIN
Ich sehe Jesus mit Petrus, Andreas,
Johannes, Jakobus, Philippus, Thomas, Bartholomäus, Judas, Thaddäus, Simon und
Judas Iskariot sowie dem Hirten Joseph aus dem Hause treten und Nazareth
verlassen. Sie gehen nicht weit, nur bis zum Olivenhain.
Jesus sagt: «Gruppiert euch um
mich. In diesen Monaten der Anwesenheit und Abwesenheit habe ich euch gewogen
und geprüft. Ich habe euch kennengelernt und habe auch aus der menschlichen
Erfahrung die Welt kennengelernt. Nun habe ich beschlossen, euch in die Welt zu
senden. Doch zuerst muß ich euch unterrichten, um euch fähig zu machen, der Welt
mit Sanftmut und Klugheit, mit Ruhe und Beständigkeit, mit dem notwendigen
Verantwortungsgefühl und dem Wissen um eure Mission entgegenzutreten. Diese Zeit
der sengenden Sonne, die jede längere Wanderung durch Palästina unmöglich macht,
möchte ich ausnützen, um euch als Jünger zu unterweisen und zu erziehen. Wie ein
Musiker habe ich gemerkt, wo in euch Mißklänge sind, und ich will euch in
Einklang mit der himmlischen Harmonie bringen, die ihr in meinem Namen auf der
Welt vermitteln sollt. Ich behalte diesen Sohn (er zeigt auf Joseph) noch hier,
denn ich will ihn mit der Aufgabe vertraut machen, seinen Gefährten meine Worte
zu übermitteln, damit sich auch dort eine zuverlässige Gruppe bilden kann,
welche mich verkündet und nicht nur auf mein Wesen, sondern auch auf die
wesentlichen Merkmale meiner Lehre hinweist.
Als erstes möchte ich euch sagen,
daß es absolut notwendig ist, unter euch Liebe und Eintracht zu pflegen. Wer
seid ihr? Männer verschiedenen Alters, aus allen sozialen Schichten und aus
verschiedenen Gegenden. Ich habe es vorgezogen, solche zu wählen, die noch
unbelastet von Doktrinen und Kenntnissen sind, weil ich mit meiner Lehre
leichter in sie eindringen kann. Außerdem seid ihr dazu bestimmt, mich denen zu
verkünden, die in der völligen Unkenntnis des wahren Gottes sind; und ich will,
daß ihr euch stets an eure eigene Unfähigkeit, Gott zu erkennen, erinnert und
euch nicht überlegen dünkt. Ihr sollt sie mit Barmherzigkeit unterweisen in
Erinnerung daran, mit wieviel Barmherzigkeit ich euch belehrt habe.
Ich fühle in euch einen Einwand:
"Wir sind doch keine Heiden, auch wenn wir keine Kultur und Bildung haben."
Nein, ihr seid keine Heiden. Doch nicht nur ihr, sondern auch die Gelehrten und
Reichen unter euch, vertreten eine Religion, die aus vielen Gründen entartet ist
und von Religion nur noch den Namen hat. Wahrlich, ich sage euch, viele rühmen
sich als Kinder des Gesetzes; doch acht von zehn sind nur Götzendiener, die im
Nebel der tausend kleinen menschlichen Religionen das wahre, heilige, ewige
Gesetz Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs verloren haben. Wenn ihr euch also
gegenseitig betrachtet - sowohl ihr, demütige und ungebildete Fischer, wie auch
ihr, die ihr Händler oder Söhne von Händlern,
185
Beamte oder Söhne von Beamten und
sogar Reiche oder Söhne von Reichen seid - müßt ihr sagen: "Wir sind alle
gleich. Alle haben wir dieselben Mängel, und alle benötigen wir die gleiche
Unterweisung. Aus Brüdern mit persönlichen und nationalen Fehlern müssen wir
Brüder werden in der Erkenntnis der Wahrheit und in der Bemühung, sie
auszuüben."
Also Brüder: Ich will, daß ihr euch
so nennt und als solche betrachtet. Ihr seid wie eine einzige Familie. Wann
blüht eine Familie und wird von der Welt bewundert? Wenn sie einig und
einträchtig ist. Wenn ein Sohn zum Feind des anderen wird, wenn ein Bruder dem
anderen schadet, kann dann die Familie gedeihen? Nein! Vergeblich bemüht sich
der Familienvater zu arbeiten und die Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen und
sich in der Welt durchzusetzen. Seine Anstrengungen bleiben erfolglos; denn der
Besitz verzettelt sich, die Schwierigkeiten mehren sich, die Welt spottet über
die Familie wegen des ständigen Streites, der ihr Herz und Besitztum zerstört.
Jene, die mit vereinten Kräften mächtig waren gegenüber der Welt, sind nun ein
Häufchen kleiner und kleinster gegensätzlicher Interessen, woraus nur die Feinde
der Familie Nutzen ziehen, so daß der Ruin derselben immer mehr beschleunigt
wird.
Nie sei es so bei euch! Seid einig!
Liebt einander! Liebt einander, um euch gegenseitig zu helfen! Liebt euch, um zu
zeigen, wie geliebt werden soll! Beobachtet! Auch das, was euch umgibt, eignet
euch diese große Kraft an! Betrachtet das Heer von Ameisen, die alle zu einem
Ort eilen. Verfolgen wir ihr Tun! So werden wir den Grund ihres sinnvollen
Hineilens zu einem Punkt begreifen... Seht hier! Eine ihrer kleinen Schwestern
hat mit ihren winzigen, für uns unsichtbaren Organen unter diesem breiten Blatt
einer wilden Rübe einen großen Schatz entdeckt. Es ist eine Brotkrume, die
vielleicht einem Landmann entfallen ist, der hierhergekommen war, seine Ölbäume
zu pflegen oder einem auf der blumigen Wiese spielenden Kind... Wie könnte die
kleine Ameise diesen Schatz, der hundertmal so groß ist wie sie selbst, allein
bis zu ihrer Höhle schleppen? Seht, sie hat eine Schwester herbeigerufen und zu
ihr gesagt: "Schau, lauf schnell und sag den Schwestern, daß sie hier Nahrung
für das ganze Volk und für viele Tage finden. Lauf schnell, bevor dieser Schatz
von einem Vogel entdeckt wird, der seinerseits seine Gefährten ruft, um diesen
Fund mit ihnen zu verzehren!"
Und die kleine Ameise ist gelaufen,
keuchend über die Unebenheit des Erdbodens, auf und ab, durch Kies und Halme,
bis zum Ameisenhaufen und hat dort gemeldet: "Kommt! Eine von uns braucht eure
Hilfe. Sie hat etwas für uns alle gefunden. Doch allein ist sie nicht fähig,
diesen Fund bis hierher zu schleppen. Kommt!" Und alle, auch die schon müde
waren von der Tagesarbeit und sich in den Gängen ihres Baues ausruhten, sind
aufgebrochen; und auch aus den Vorratskammern sind sie gekommen, eine, zehn,
hundert, tausend. Schaut, sie packen mit ihren Vorderbeinchen
186
zu, heben die Last, bilden wie
kleine Wägelchen und ziehen sie mit der Kraft ihrer winzigen Füßchen. Diese hier
fällt, die andere dort verrenkt sich beinahe die Glieder, weil die Spitze der
Krume ihren Hinterleib in die Ritze eines Steines einzwängt; diese andere hier,
ein Fräulein der Sippe, hält ermüdet an; doch wie sie Atem geholt hat, nimmt sie
die Arbeit wieder auf. Oh, wie sind sie einig! Schaut einmal... nun ist das
Brotstück ganz umfangen und rückt langsam vorwärts. Folgen wir ihm. Noch ein
wenig, kleine Schwestern, noch ein klein wenig, und eure Mühe wird belohnt sein.
Sie können nicht mehr. Doch sie geben nicht auf. Sie ruhen ein wenig, dann geht
es weiter... Der Ameisenhaufen ist erreicht. Und nun? Nun beginnt eine weitere
Arbeit: die Brotkrume wird zerkleinert. Schaut, welche Arbeit! Die einen
schneiden, die anderen transportieren. Nun ist es fertig. Alles ist in
Sicherheit gebracht, und sie verschwinden glücklich in den Gängen, hinab in die
Tiefe. Sie sind nur Ameisen. Nichts anderes als Ameisen. Doch sie sind stark,
weil sie einig sind.
Denkt darüber nach. Habt ihr
Fragen?»
«Ich möchte erfahren, ob wir nicht
mehr nach Judäa zurückkehren?» fragt Iskariot.
«Wer sagt das?»
«Du, Meister. Du hast gesagt, du
willst Joseph vorbereiten, damit er die anderen in Judäa unterrichte. Ist es dir
dort so schlecht ergangen, daß du nicht mehr dorthin zurückkehren willst?»
«Was haben sie dir in Judäa getan?»
fragt Thomas neugierig, und Petrus fährt gleichzeitig auf: «Ah, ich hatte also
recht, als ich sagte, du seist müde zurückgekehrt. Was haben dir die
"Vollkommenen" von Israel angetan?»
«Nichts, Freunde. Nichts...
Dasselbe könnte mir auch hier geschehen. Wenn ich die ganze Welt durchziehen
würde, hätte ich überall Freunde und Feinde. Aber Judas, ich hatte dich gebeten,
zu schweigen...»
«Das ist wahr... doch ich kann
nicht schweigen, wenn ich sehen muß, daß du Galiläa meiner Heimat Judäa
vorziehst. Du bist ungerecht. Das ist es! Auch dort hat man dir Ehren
erwiesen...»
«Judas, Judas... oh, Judas! Du bist
so ungerecht mit diesem Vorwurf. Und dich selbst klagst du an, da du dich von
Zorn und der Eifersucht fortreißen läßt. Ich war darum bemüht, daß nur das Gute,
das ich in deinem Judäa empfangen habe, bekannt werde, und ohne zu lügen, habe
ich den Freunden von diesem Guten berichtet, um euch Judäer beliebter zu machen.
Mit Freude, denn für das Wort Gottes gibt es keine Aufteilung in Regionen,
Gegensätzlichkeiten, Feindschaften und Verschiedenheiten. Ich liebe euch alle,
ihr Menschen! Alle... Wie kannst du sagen, daß ich Galiläa vorziehe, da ich doch
die ersten Wunder und Kundgebungen auf dem heiligen Boden des Tempels und der
heiligen Stadt, die jedem Israeliten teuer ist, vollbracht habe? Wie kannst du
sagen, ich sei parteiisch,
187
wenn von euch elf Jüngern -
vielmehr zehn, da mein Vetter zur Familie gehört, was nicht dasselbe wie
Freundschaft ist - vier aus Judäa stammen? Und wenn ich die Hirten, die alle
Judäer sind, hinzurechne, dann siehst du, wie ich Judäa freundlich gesinnt bin.
Wie kannst du sagen, daß ich euch nicht liebe, da ich es so gefügt habe, daß
einem Kinde Israels mein Name gegeben wurde, und ich den Geist eines Gerechten
aus Israel angenommen habe? Wie kannst du sagen, daß ich euch aus Judäa nicht
liebe, wenn ich für die Offenbarung meiner Geburt und die Vorbereitung auf meine
Mission zwei aus Judäa und nur einen aus Galiläa gewählt habe? Du hältst mir
Ungerechtigkeit vor. Doch prüfe dich, Judas, und sieh, ob der Ungerechte nicht
du selbst bist.»
Jesu Worte drücken Erhabenheit und
zugleich Sanftmut aus. Auch wenn er nichts anderes hinzugefügt hätte, hätten die
drei Arten der Betonung des Namens "Judas" schon genügt, um eine große Lehre zu
erteilen. Das erste "Judas" war mit der göttlichen Majestät, die zur Ehrfurcht
mahnt, gesagt worden; das zweite sprach der Lehrer, der in väterlichem Tone
unterweist; das dritte war eine Bitte des über das Verhalten des Freundes
betrübten Freundes. Judas senkte gedemütigt das Haupt, sein Gesicht noch zornig
und entstellt vom Aufwallen niedriger Gefühle.
Petrus kann nicht schweigen. «Bitte
wenigstens um Verzeihung, Jüngling! Wäre ich an Jesu Stelle, so genügten Worte
nicht! Ungerecht? Mangel an Ehrfurcht, schönes Herrchen! Ist das eure
Tempelerziehung? Oder bist du nicht erziehbar? Denn, wenn sie ...»
«Genug, Petrus! Ich habe schon
gesagt, was gesagt werden mußte. Auch darüber werde ich euch morgen eine Lehre
erteilen. Und nun wiederhole ich noch einmal, was ich euch in Judäa gesagt habe:
sagt meiner Mutter nicht, daß ihr Sohn von den Judäern schlecht behandelt worden
ist! Sie ist schon sehr betrübt, da sie fühlt, daß ich leide. Achtet meine
Mutter! Sie lebt im Schatten und im Schweigen. Sie lebt in der Tugend und im
Gebet für mich, für euch und für alle. Haltet düstere Lichter der Welt und
bittere Streitigkeiten von ihrer Klause der Zurückgezogenheit und der Reinheit
fern. Laßt kein Echo des Hasses dort eindringen, wo alles nur Liebe ist. Achtet
sie! Sie ist mutiger als Judith; ihr werdet es noch erfahren. Doch zwingt sie
nicht, vorzeitig die Galle der Gefühle der Unglücklichen der Welt zu kosten.
Jener, die nicht im entferntesten wissen, was Gott und sein Gesetz sind. Jener,
von denen ich zu Beginn gesprochen habe: die Götzendiener, die sich für Weise
Gottes halten und darum Götzendienst und Hochmut miteinander verbinden. Laßt uns
gehen.»
Und Jesus kehrt wieder nach
Nazareth zurück.
188
129. JESUS UNTERWEIST DIE JÜNGER ZU
HAUSE
Wieder belehrt Jesus die Seinen,
die er in den Schatten eines riesigen Nußbaumes geführt hat. Der Baum beschattet
einen großen Teil des Gartens von Maria. Der Tag ist schwül, ein Gewitter hängt
in der Luft; vielleicht entfernt sich Jesus deshalb nicht zu weit vom Hause.
Maria kommt und geht vom Haus zum Garten, und jedesmal schaut sie nach Jesus,
der im Grase sitzt, an einen Baumstamm gelehnt und von den Jüngern umgeben ist.
Jesus sagt: «Ich habe euch gestern
angedeutet, daß ein unkluges Wort von gestern mir heute zu einer Unterweisung
dienen werde. Das will ich lehren:
Ihr denkt gewiß, es sei eine Regel
des Handelns, daß nichts, was verborgen ist, es immer bleibt. Entweder ist es
Gott, der dafür sorgt, daß die Werke eines seiner Söhne durch seine wunderbaren
Zeichen oder durch Worte der Gerechten, die die Verdienste eines Bruders
anerkennen, bekannt werden; oder aber es ist Satan, der durch den Mund eines
Unklugen - ich will nicht mehr sagen - offenbart, was die Guten lieber
verschwiegen hätten, um nicht der Lieblosigkeit Raum zu bieten; oder er verdreht
die Wahrheit derart, daß der Geist verwirrt wird. Somit kommt stets der
Augenblick, in dem das Verborgene bekannt wird. Denkt immer daran! Es soll euch
vom Schlechten zurückhalten, aber euch nicht hindern, das Gute zu vollbringen.
Wie oft tut jemand etwas aus Güte, aus echter Güte, aber menschlicher Güte. Und
da es menschliche Güte, also nicht vollkommene ist, legt er Wert darauf, daß
sein Handeln den Menschen bekannt werde; und er dreht und wendet sich, wenn er
sieht, daß er unbekannt bleiben könnte; und er überlegt, was zu tun sei, um
bekannt zu werden. Nein, Freunde, nicht so sollt ihr handeln! Tut das Gute und
bringt es dem ewigen Herrn dar. Oh, er weiß, ob es für euch gut sei, wenn es
anderen bekannt würde. Wenn dieses euer gerechtes Tun nichtig, durch eine
Anwandlung von Gefallsucht und Stolz wertlos würde, dann hält der Vater es
verborgen, um euch im Himmel vor dem ganzen himmlischen Hofe dafür Ehre zu
erweisen.
Und wer eine Tat sieht, soll diese
nie nach dem äußeren Anschein beurteilen. Beschuldigt nie, denn die Handlungen
der Menschen können schlechte Seiten zeigen, aber vielleicht bessere verbergen.
Es kann zum Beispiel ein Vater einem faulen und verschwendungssüchtigen Sohne
sagen: "Geh fort!", und es sieht nach Härte und väterlicher Pflichtvergessenheit
aus. Doch es ist nicht immer so. Sein "geh fort!" ist mit bitteren Tränen
gemengt - bitter mehr für den Vater als den Sohn - und es ist begleitet vom
Wunsche: "Komm zurück, wenn du deine Fehler bereut hast!" Es ist auch
Gerechtigkeit den anderen Kindern gegenüber, denn es verhindert, daß ein
Taugenichts mit seinen Lastern verschwendet, was
189
auch den anderen gehört. Schlecht
wäre jedoch, wenn dieses "geh fort!" von einem Vater käme, der schuldig ist vor
Gott und vor seinen Kindern, weil er in seinem Egoismus sich über Gott erhebt
und glaubt, auch ein Recht über die Seele des Kindes zu haben. Nein, die Seele
gehört Gott, und selbst Gott beeinträchtigt die Freiheit des Geistes nie, sich
zu entscheiden. Die Welt kennt den Unterschied zwischen den beiden
Handlungsweisen nicht. Doch welch ein Unterschied! Die erste ist Gerechtigkeit
und die zweite sündhaftes Urteilen. Darum verurteilt nie jemand!
Gestern hat Petrus zu Judas gesagt:
"Wer war dein Lehrer?" Sag dies nicht mehr! Keiner soll den anderen darüber
anklagen, was er in ihm sieht. Die Lehrer sagen ein und dasselbe Wort für alle
Schüler. Wie geschieht es nun, daß zehn Schüler gut und andere zehn schlecht
werden? Weil jeder etwas hinzufügt von dem, was er im Herzen hat. Wie kann daher
der Lehrer beschuldigt werden, daß er schlecht unterrichtet habe, wenn das von
ihm übermittelte Gute von einem überwiegend schlechten Herzen zunichte gemacht
wird? Der erste Faktor des Erfolges liegt in euch selbst. Der Lehrer arbeitet
für euer Ich. Wenn ihr jedoch nicht aufnahmefähig für das Gute seid, was kann
der Lehrer dann tun? Wer bin ich? Wahrlich, ich sage euch, es gibt keinen
Lehrer, der weiser, geduldiger und vollkommener ist als ich. Und doch, auch von
einem der Meinen wird man sagen: "Welchen Lehrer hat er gehabt?"
Laßt euch in eurem Urteil nie von
persönlichen Beweggründen beeinflussen! Gestern hat Judas, der seine Heimat über
alle Maßen liebt, mich der Ungerechtigkeit ihr gegenüber beschuldigt. Oft
erliegt der Mensch zu sehr unwägbaren Dingen wie der Vaterlandsliebe oder der
Liebe zu einer Idee und wird dadurch von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt. Das
Ziel ist immer Gott. Alles muß in Gott gesehen, um gut gesehen zu werden.
Niemals darf man sich selbst oder anderes über Gott stellen. Und wenn einer
wirklich irrt... o Petrus, ihr alle! Seid nicht unduldsam! Habt ihr den gleichen
Fehler, der euch am anderen abstößt, nicht selbst schon begangen? Seid ihr
dessen sicher? Angenommen, ihr habt ihn noch nie begangen, was bleibt euch dann
zu tun? Dankt Gott, das ist alles! Und seid wachsam! Sehr wachsam! Fortwährend!
Damit ihr nicht morgen den Fehler begeht, den ihr bisher vermieden habt. Seht
ihr? Heute ist der Himmel trüb, da Hagelwetter naht. Und wir haben bei einem
Blick zum Himmel gesagt: "Wir wollen uns nicht zu weit vom Haus entfernen." Wenn
wir also mehr oder weniger gefährliche Dinge beurteilen können, die nichts sind
gegenüber den Gefahren, die Freundschaft Gottes zu verlieren durch die Sünde:
warum wollen wir nicht erkennen, wenn wirklich Gefahr besteht für die Seele?
Seht, da ist meine Mutter! Könntet
ihr euch vorstellen, daß eine Neigung zum Bösen in ihr vorhanden sein könnte?
Angenommen, daß die Liebe sie drängt, mir zu folgen, wird sie ihr Haus
verlassen, wenn meine
190
Liebe es will. Heute früh hatte sie
mich erneut gebeten, als sie, meine Lehrerin, sagte: "Auch deine Mutter gehört
zu deinen Jüngern, Sohn! Ich will deine Lehre lernen!" Sie, die diese Lehre in
ihrem Schoße besaß und vorher in ihrem Geiste als Gabe Gottes an die künftige
Mutter seines fleischwerdenden Wortes. Und sie hat beigefügt: "Aber du, du
sollst entscheiden, ob ich kommen kann, ohne die Einung mit Gott zu verlieren,
ohne daß alles, was Welt ist, was, wie du sagst, uns durchdringt mit seinen
stinkenden Dünsten, mein Herz verderbe, das nur Gott allein gehört hat, jetzt
gehört und immer gehören wird. Ich prüfe mich und finde, ich sei dazu fähig,
weil... (und hier gibt sie sich selbst, unbewußt, das höchste Lob) weil ich
keine Verschiedenheit finde zwischen meinem ruhigen Frieden, als ich eine Blume
im Tempel war, und dem Frieden, der in mir ist während der mehr als dreißig
Jahre, da ich Hausfrau bin. Aber ich bin eine unwürdige Dienerin und kenne die
Dinge des Geistes schlecht, und noch weniger vermag ich sie beurteilen. Du bist
das Wort, die Weisheit, das Licht! Und du kannst Licht sein für deine arme
Mutter, die eher bereit ist, dich nicht mehr zu sehen als dem Herrn zu mißfallen."
Da mußte ich ihr mit vor Bewunderung bebendem Herzen sagen: "Mutter! Jetzt sage
ich dir: du wirst durch die Welt nicht verdorben. Aber die Welt wird durch dich
mit Wohlgeruch erfüllt!"
Meine Mutter, ihr hört es, hat die
Gefahren des Lebens in der Welt zu sehen verstanden, als Gefahren auch für
sie... auch für sie. Und ihr Männer seht sie nicht? Oh, Satan ist wirklich auf
der Lauer. Und nur die Wachsamen werden Sieger. Die anderen? Ihr fragt nach den
anderen? Für die anderen wird gelten, was geschrieben steht!»
«Was steht geschrieben, Meister?»
«Und Kain fiel über Abel her und
tötete ihn. Und der Herr sprach zu Kain: "Wo ist dein Bruder? Was hast du getan?
Die Stimme des Blutes schreit zu mir. Von nun an soll auf Erden verflucht sein,
wer den Geschmack des menschlichen Blutes kennengelernt hat durch die Hand eines
Bruders, der die Adern seines Bruders geöffnet hat... Und dieser schreckliche
Durst der Erde nach dem menschlichen Blute wird nie aufhören. Und diese von
diesem Blute vergiftete Erde sei unfruchtbarer als eine Frau, die das Alter
ausgetrocknet hat. Und du wirst fliehen müssen und Frieden und Brot suchen. Und
du wirst sie nicht finden. Deine Reue wird dir auf jeder Blume und jedem Gras,
auf dem Wasser und der Nahrung immer nur Blut zeigen, und der Himmel wird dir
wie Blut erscheinen und auch das Meer, und vom Himmel, der Erde und dem Meere
wirst du drei Stimmen hören: die Stimme Gottes, die des Unschuldigen und die der
Dämonen. Und um sie nicht hören zu müssen, wirst du dir den Tod geben."»
«In der Genesis steht es aber nicht
so geschrieben», bemerkt Petrus.
«Nein, nicht die Genesis, ich sage
es. Und ich irre nie. Ich sage es für
191
jeden neuen Kain eines neuen Abel.
Für alle, die, wenn sie nicht über sich selber und über den Feind gewacht haben,
mit ihm eins werden.»
«Doch unter uns werden sie nicht
sein; nicht wahr, Meister?»
«Johannes, wenn der Vorhang des
Tempels zerreißt, wird eine große Wahrheit in leuchtenden Lettern über ganz Sion
stehen.»
«Welche, mein Herr?»
«Daß die Kinder der Finsternis
vergebens mit dem Licht in Berührung gekommen sind. Denk daran, Johannes!»
«Werde ich ein Sohn der Finsternis
sein, Meister?»
«Nein, du niemals. Doch denk daran,
um der Welt das Verbrechen erklären zu können.»
«Welches Verbrechen, Herr? Das des
Kain?»
«Nein... es ist der erste Akkord
der Hymne Satans. Ich spreche vom vollkommenen Verbrechen! Vom unvorstellbaren
Verbrechen! Um es begreifen zu können, muß man es in der Sonne der göttlichen
Liebe und durch den Geist Satans sehen. Denn nur die vollkommene Liebe und der
vollkommene Haß, nur das unendlich Gute und das unendlich Böse können diese
Opfergabe und diese Sünde erklären. Hört ihr? Es scheint, als lausche Satan und
schreie auf vor Verlangen, dieses Verbrechen zu begehen. Laßt uns gehen, bevor
die Wolke sich in Blitz und Hagel zerreißt!»
Sie gehen eilends durch den Garten
Mariens, während das Gewitter losbricht.
130. UNTERWEISUNG DER JÜNGER MIT
DER ALLERHEILIGSTEN JUNGFRAU MARIA IM GARTEN VON NAZARETH
Jesus geht in den Garten, der nach
dem Gewitter des Vorabends wie frisch gewaschen scheint. Er erblickt seine
Mutter über einige Pflänzchen gebeugt. Er begrüßt sie, als er sie erreicht. Wie
lieb ist dieser Kuß! Jesus umgibt mit dem linken Arm ihre Schultern, zieht sie
an sich und küßt sie am Haaransatz auf die Stirne, dann neigt er sich, um von
der Mutter auf die Wange geküßt zu werden. Doch, was diese zarte Geste
vervollständigt, ist der freudvolle Blick, der den Kuß begleitet. Der von Jesus
ist ganz Liebe, obgleich er auch Majestät und Schutz ausdrückt; jener der Mutter
ist ehrerbietige Liebe und liebevolle Anbetung. Wenn sie sich so küssen, scheint
es, als ob Jesus der Erwachsene und sie eine jugendliche Tochter sei, die vom
Vater oder einem älteren Bruder den Morgenkuß erhält.
«Haben der Hagel von gestern abend
und der Wind dieser Nacht deinen Blumen sehr geschadet?» fragt Jesus.
«Kein Schaden, Meister! Nur ein
großes Durcheinander herrscht im
192
Laub», antwortet, bevor Maria dies
tun kann, die etwas rauhe Stimme des Petrus.
Jesus erhebt das Haupt und sieht
Simon Petrus, der nur mit der kurzen Tunika bekleidet, bereits dabei ist, die
vom Winde mißhandelten Äste im Gipfel des Feigenbaumes in Ordnung zu bringen.
«Bist du schon an der Arbeit?»
«Wir Fischer schlafen wie die
Fische: zu jeder Stunde, an jedem Ort, solange man uns in Ruhe läßt. Und das
wird zur Gewohnheit. Diesen Morgen habe ich bei Sonnenaufgang die Türe in den
Angeln knarren gehört und habe mir gesagt: "Simon, sie ist schon aufgestanden.
Schnell! Geh und hilf ihr mit deinen großen Händen!" Ich ahnte, daß sie an ihre
Blumen dachte und an die stürmische Nacht. Und ich habe mich nicht geirrt. Ich
kenne doch die Frauen... Auch meine Frau wälzt sich im Bett wie ein Fisch im
Netz, wenn ein Gewitter kommt, und denkt an ihre Pflanzen... die Arme! Manchmal
sage ich zu ihr: "Ich wette, du regst dich nicht so auf, wenn dein Petrus vom
Sturm gepeitscht auf dem See ist." Doch ich bin ungerecht; denn sie ist eine
gute Frau. Manchmal scheint es mir unmöglich, daß ihre Mutter... Nun gut,
schweige, Petrus! Das hat damit nichts zu tun. Es ist nicht gut zu schimpfen und
es ist unklug, wissen zu lassen, was Güte besser verschweigt. Siehst du,
Meister, auch in einem Dummkopf hat dein Wort Wurzel geschlagen.»
Jesus antwortet lächelnd: «Du sagst
alles selbst. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als deine Fischerweisheit zu
bestätigen und zu bewundern.»
«Er hat schon alle gebogenen Zweige
wieder festgebunden, den überladenen Birnbaum gestützt und die Stricke unter dem
Granatapfelbaum, der so schief gewachsen ist, durchgezogen», sagt Maria.
«Ja, der ist wie ein alter
Pharisäer: er biegt sich so, wie es ihm paßt. Ich habe ihn wie ein Segel
bearbeitet und zu ihm gesagt: "Weißt du nicht, daß das Rechte in der Mitte
liegt? Komm her, sonst wirft dich dein eigenes Gewicht um." Nun bin ich hinter
diesem Pharisäer her. Doch aus reinem Egoismus. Ich denke an den guten Appetit
von uns allen: frische Feigen und warmes Brot! Nicht einmal Antipas hat ein so
herrliches Mahl. Doch man muß vorsichtig sein; denn die Äste des Feigenbaums
sind zart wie das Herz eines Mädchens, wenn es sein erstes Wort der Liebe sagt,
und ich bin schwerfällig; und die besten Feigen sind ganz oben. Sie sind bei
dieser Morgensonne schon trocken und müssen eine Köstlichkeit sein. Hallo, du,
Jüngling! Schau mir nicht nur zu, wach auf, gib mir den Korb!»
Johannes, der gerade aus der
Werkstatt gekommen ist, gehorcht und klettert ebenfalls auf den großen
Feigenbaum. Als die beiden Fischer wieder heruntersteigen, sind auch Simon der
Zelote, Joseph und Judas Iskariot aus der Werkstatt getreten. Die anderen kann
ich nicht sehen.
Maria bringt frisches Brot: kleine,
dunkle, runde Brötchen, und Petrus
193
schneidet sie mit seinem Messer in
zwei Hälften, legt offene Feigen darauf und bietet sie zuerst Jesus, dann Maria
und schließlich allen anderen an. Sie essen mit Appetit im frischen Garten, der
nach den Regengüssen so schön in der Sonne des klaren Morgens ist. Petrus sagt:
«Es ist Freitag, Meister, morgen ist Sabbat.»
«Du machst damit keine Entdeckung»,
bemerkt Iskariot.
«Nein. Doch der Meister versteht
schon, was ich damit sagen will...»
«Ich weiß... Heute abend werden wir
zum See gehen, wo du das Boot angelegt hast, und nach Kapharnaum segeln. Morgen
werde ich dort sprechen.»
Petrus frohlockt.
Nun kommen Thomas, Andreas,
Jakobus, Philippus, Bartholomäus und Judas Thaddäus, die wohl anderswo
geschlafen haben. Sie grüßen.
Jesus sagt: «Laßt uns hier
zusammenbleiben! So werden wir einen neuen Jünger bei uns haben. Mama, komm!»
Einige setzen sich auf einen Stein,
andere auf ein Bänkchen, und so bilden sie einen Kreis um Jesus, der sich auf
die Steinbank gesetzt hat, die sich vor dem Haus befindet. An seiner Seite ist
Maria und zu seinen Füßen Johannes, der es vorgezogen hat, sich auf den Boden zu
setzen, um ganz nahe bei Jesus zu sein. Jesus spricht langsam und würdevoll wie
immer.
«Womit könnte man die Erziehung zum
Apostolat vergleichen? Mit der Natur, die uns umgibt. Ihr wißt: im Winter
scheint die Erde tot. Doch in ihrem Innern arbeiten die Samenkörner, die Keime
nähren sich von den Säften und lagern sie in den Gewächsen unter dem Boden ab,
um einen großen Vorrat für die Pflanzen über dem Erdboden zu haben, wenn die
Zeit der Blüte gekommen ist. Auch euch kann man mit der winterlichen Erde
vergleichen, die unwirtlich, entblößt und rauh ist. Auch über euch ist der
Sämann dahingeschritten und hat seinen Samen gestreut. Zu euch ist der Landmann
gekommen und hat das harte und trockene Erdreich um euren Stamm gelockert, damit
die Nährstoffe durch die Wolken und die Luft bis zu den Wurzeln gelangen und sie
für die künftige Frucht stärken. Ihr habt den Samen angenommen und auch die
Hacke, denn in euch ist der gute Wille, im Dienste Gottes Früchte zu bringen.
Die Erziehung zum Apostolat kann
ich auch mit dem Gewitter vergleichen, das geschüttelt und gebogen hat,
anscheinend mit nutzloser Gewalt. Doch seht, wie gut es gewirkt hat. Heute ist
die Luft viel reiner, ohne Staub und Dunst. Die Sonne ist dieselbe wie gestern.
Doch sie brennt nicht mehr in fieberhafter Weise, denn sie gelangt durch die
gereinigte und frische Luft zu uns. Die Kräuter und Pflanzen haben sich wie die
Menschen erholt, weil die Sauberkeit und die Frische Dinge sind, die erfreuen.
Auch die Auseinandersetzungen helfen, um zu einer Klärung und zu einer genaueren
Kenntnis der Dinge zu gelangen. Sonst wären sie nur
194
Bosheiten. Und was sind die
Auseinandersetzungen anderes als Gewitter, die durch die verschiedenartigsten
Wolken verursacht werden? Und bilden sich diese Wolken nicht langsam in den
Herzen durch unnütze Sorgen, kleinliche Eifersucht und rauchigen Hochmut? Dann
kommt der Wind der Gnade und läßt sie zusammenprallen, damit sie sich aller
schlechten Eigenschaften entladen und der Friede zurückkehrt.
Die apostolische Erziehung kann
auch verglichen werden mit der Arbeit, die Petrus heute morgen zur Freude meiner
Mutter vollbracht hat: aufrichten, binden, stützen oder trennen, je nach Neigung
und Notwendigkeit, um aus euch "Starke" im Dienste Gottes zu machen. Die krummen
Ideen gerade biegen, die fleischlichen Lüste binden, die Schwächen stützen, die
Neigungen je nach Bedarf beschneiden und die Sklaverei und die Furchtsamkeit
lösen. Ihr müßt frei und stark sein. Wie Adler, die nach dem Verlassen des
Horstes, in dem sie geboren worden sind, im Fluge immer höher schweben. Der
Dienst Gottes ist ein Flug. Die menschlichen Zuneigungen sind der Horst.
Einer von euch ist heute traurig,
denn sein Vater liegt im Sterben, und sein Herz ist noch der Wahrheit und dem
Sohne verschlossen, der der Wahrheit folgt. Mehr noch als verschlossen: er lehnt
sie ab. Noch hat er nicht das ungerechte "geh fort" ausgesprochen, von dem ich
gestern sprach, sich nicht über Gott erhoben. Doch sein verschlossenes Herz und
seine versiegelten Lippen sind noch nicht imstande zu sagen: "Folge der Stimme,
die dich ruft!" Weder ich, der ich zu euch spreche, noch sein Sohn verlangen,
von seinen Lippen zu hören: "Komm und bringe den Meister. Gott sei gepriesen,
weil er seinen Diener aus meinem Hause erwählt und damit eine erhabenere
Verwandtschaft als die des Blutes mit dem Wort des Herrn hergestellt hat."
Wenigstens möchte ich zu seinem Wohle und der Sohn aus einem noch
verständlicheren Grunde von ihm Worte hören, die nicht mehr feindlich sind.
Doch der Sohn soll nicht weinen. Er
soll wissen, daß in mir kein Groll, keine Verachtung für seinen Vater ist. Nur
Barmherzigkeit. Ich bin gekommen, habe Aufenthalt genommen, obwohl ich von der
Nutzlosigkeit dieses Unternehmens wußte, damit der Sohn nicht eines Tages zu mir
sagen kann: "Oh, warum bist du nicht gekommen?" Ich bin gekommen, um ihn davon
zu überzeugen, daß alles vergeblich ist, wenn das Herz sich verschließt und
widersetzt. Ich bin gekommen, um eine Gute zu trösten, die wegen der
Zerrissenheit der Familie leidet wie unter einem Messer, das die Sehnen
zerschneidet. Doch sowohl die Frau als auch der Sohn sollen davon überzeugt
sein, daß in mir der Groll nicht mit Groll beantwortet wird. ich respektiere die
Ehrbarkeit des alten Gläubigen, der, auch wenn sein Glaube etwas verbogen ist,
dem treu bleibt, was seine Religion bis zu dieser Stunde war. Es gibt viele
dieser Art in Israel... Daher sage ich euch: Es werden mir mehr Heiden als Söhne
Abrahams nachfolgen. Die Menschheit
195
hat den Gedanken an einen Erlöser
verdorben und das übernatürliche Königtum zur armseligen Idee einer menschlichen
Herrschaft erniedrigt. Ich muß die harte Rinde des Hebräertums durchstoßen,
eindringen und verwunden, um auf den Grund zu gelangen, wo die Seele dieses
Hebräertums die Befruchtung durch das neue Gesetz erhalten kann.
Oh, wie traurig, daß Israel,
aufgewachsen um den lebendigen Kern des Gesetzes vom Sinai, zu einer so
mißgebildeten Frucht geworden ist mit einem verholzten Innern, durch und durch
verhärtet, und außen von einer undurchdringlichen viereckigen Kruste umgeben,
die auch den Kern nicht erreichen läßt. Der Ewige hält es nun für gut, einen
neuen Baum des Glaubens an den einen und dreieinigen Gott zu erschaffen. Um zu
erreichen, daß der Wille Gottes sich erfülle und das Hebräertum zum Christentum
werde, muß ich durchstoßen und eindringen bis zum Kern und ihn mit meiner Liebe
erwärmen, damit er sich weite, keime, wachse und wachse und zum mächtigen Baum
des Christentums werde, der vollkommenen, ewigen, göttlichen Religion. Wahrlich,
ich sage euch, das Hebräertum ist nur eins zu hundert durchdringbar. Daher halte
ich jenen Israeliten nicht für verwerflich, der mich ablehnt und mir seinen Sohn
nicht geben will.
Und daher sage ich zum Sohn: weine
nicht wegen Fleisch und Blut, die vom Fleisch und Blut, die sie gezeugt haben,
verstoßen werden. Weine auch nicht um den Geist. Deine Leiden wirken mehr als
alles andere für deine und seine Seele, die Seele deines Vaters, der weder
versteht noch sieht. Mache dir keine Vorwürfe darüber, daß du mehr Gott als dem
Vater gehörst, das sage ich dir.
Zu allen von euch sage ich: mehr
als der Vater, als die Mutter und als die Geschwister ist Gott. Ich bin
gekommen, um zu vereinigen... nicht gemäß der Welt, dem Fleisch und Blute,
sondern nach dem Geiste und dem Himmel. So muß ich Fleisch vom Fleische und Blut
vom Blute trennen und die Seelen an mich ziehen, die schon auf dieser Erde für
den Himmel tauglich und schon Diener des Himmels sind. Daher bin ich gekommen,
die "Starken" zu rufen, um sie noch stärker zu machen; denn aus "Starken" wird
meine Heerschar der Sanftmütigen gebildet. Sanft zu den Brüdern, stark zum
eigenen Ich und zum Ich des Blutes, der Familie.
Weine nicht, Vetter. Dein Schmerz,
ich versichere dir, arbeitet bei Gott für deinen Vater und deine Brüder mehr als
alle Worte; nicht nur deine, auch meine. Das Wort prallt ab, wo das Vorurteil
eine Barriere bildet, glaube es mir. Doch die Gnade findet den Weg. Und das
Opfer ist der Magnet für die Gnade.
Wahrlich, ich sage euch, wenn ich
jemand für Gott berufe, dann gibt es keinen höheren Gehorsam als in diesem Fall.
Man muß sofort gehorchen, ohne Vorbehalt, ohne zu berechnen, wie und wann die
anderen auf dieses Hingehen zu Gott sich äußern könnten. Man dürfte sich nicht
aufhalten
196
lassen, um vorher den Vater zu
beerdigen. Dieser Heroismus bringt euch einen reichen Lohn, nicht nur euch
selbst, sondern auch denjenigen, von denen ihr euch blutenden Herzens losreißen
müßt und deren Worte euch weher tun als Backenstreiche, weil sie euch vorwerfen,
undankbare Kinder zu sein, und euch verfluchen, Rebellen zu werden. Nein, keine
Rebellen, sondern Heilige seid ihr! Die ersten Feinde der Berufenen sind die
Familienangehörigen. Doch zwischen Liebe und Liebe muß man unterscheiden und auf
übernatürliche Weise zu entscheiden wissen. Daher muß man mehr den Vater des
Übernatürlichen als die Diener dieses Herrn lieben. Man muß die Eltern in Gott,
aber nicht mehr als Gott lieben.»
Jesus schweigt, steht auf und geht
zum Vetter, der mit gesenktem Haupte sich bemüht, die Tränen zu unterdrücken. Er
liebkost ihn: «Judas... ich habe meine Mutter verlassen, um meiner Sendung
nachzugehen. Dies soll in dir jeden Zweifel über die Ehrbarkeit deines Handelns
beseitigen. Wenn es keine gute Tat gewesen wäre, dann hätte ich es meiner Mutter
nicht angetan, die außer mir niemand hat.»
Judas nimmt die Hand Jesu, fährt
sich damit übers Gesicht und nickt zustimmend. Er kann nicht sprechen.
«Laß uns beide miteinander gehen,
allein, wie damals, als wir noch Kinder waren und Alphäus behauptete, daß ich
der verständigste der Knaben von Nazareth sei. Laß uns zusammen zum Greis
hingehen und ihm diese goldenen Weintrauben bringen, damit er nicht glaubt, daß
ich ihn vernachlässige und sein Feind bin. Auch deine Mutter und Jakobus werden
sich freuen. Ich werde ihnen sagen, daß ich mich morgen in Kapharnaum aufhalten
werde und er also seinen Sohn ganz für sich allein haben wird. Weißt du, die
Alten sind wie die Kinder: eifersüchtig und immer mißtrauisch, und außerdem
glauben sie vernachlässigt zu werden. Man muß Mitleid mit ihnen haben...»
Jesus ist verschwunden. Er hat die
Jünger im Garten zurückgelassen, die verstummt sind bei der Enthüllung eines
Schmerzes und einer Unverträglichkeit zwischen Vater und Sohn um Jesu willen.
Maria hat Jesus bis zur Tür begleitet und kehrt nun seufzend zurück.
Alles endet.
131. HEILUNG DER SCHÖNEN VON
CHORAZIM - PREDIGT IN DER SYNAGOGE VON KAPHARNAUM
Jesus kommt aus dem Haus der
Schwiegermutter des Petrus. Es begleiten ihn alle seine Jünger außer Judas
Thaddäus. Als erster sieht ihn ein Knabe, der sofort allen Bescheid sagt, auch
solchen, die nichts davon wissen wollen. Jesus befindet sich am Ufer des Sees
und sitzt auf dem Rand
197
des Bootes, das Petrus gehört. Er
ist bald von den Bewohnern von Kapharnaum umringt, die seine Rückkehr feiern und
ihm tausend Fragen stellen, auf die er mit seiner unüberbietbaren Geduld
antwortet, lächelnd und friedlich, als ob dieses Hin- und Herreden eine
himmlische Harmonie wäre.
Es kommt auch der
Synagogenvorsteher. Jesus erhebt sich, um ihn zu begrüßen. Ihre gegenseitige
Begrüßung ist voll orientalischer Feierlichkeit.
«Meister, darf ich dich zum
Unterricht des Volkes erwarten?»
«Ohne Zweifel, wenn du und das Volk
es wünschen.»
«Wir haben die ganze Zeit danach
verlangt. Sie können es dir bestätigen.»
Das Volk bestätigt es in der Tat,
mit einem erneuten Zuruf.
«Dann werde ich gegen Abend hier
sein. Nun könnt ihr alle gehen. Ich muß jemand besuchen, der auf mich wartet.»
Die Leute entfernen sich schweren
Herzens, während Jesus mit Petrus und Andreas im Boot auf den See hinausfährt.
Die anderen Jünger bleiben an Land. Das Boot legt nur eine kurze Strecke zurück,
dann lenken die beiden Fischer es in eine Bucht, die wie ein kleiner Fjord
aussieht, jedoch keine Tannen wie in Norwegen aufweist, sondern verwitterte
Ölbäume, die auf den steilen Abhängen auf unerklärliche Weise gewachsen sind,
von den Seewinden wild durcheinandergerüttelt werden und sich ineinander
verflochten haben, so daß sie ein Dach bilden, unter dem ein kleiner Wasserfall
sich geräuschvoll bemerkbar macht.
Andreas springt ins Wasser, zieht
das Boot so nah als möglich ans Ufer und bindet es an einem Baumstamm fest,
während Petrus das Segel zusammenrollt und ein Brett befestigt, das Jesus als
Brücke zum Ufer dienen soll. «Ich rate dir jedoch», sagt er, «die Sandalen
auszuziehen und das Obergewand abzulegen wie wir. Dieser Verrückte (er zeigt
dabei auf den kleinen Bach) bringt das Wasser des Sees zum Kochen, und die
Brücke ist bei diesen Wellen nicht sicher genug.»
Jesus gehorcht ohne Widerspruch. An
Land ziehen sie die Sandalen wieder an, und Jesus auch das lange Obergewand. Die
beiden anderen bleiben in den kurzen, dunklen Unterkleidern.
«Wo ist sie?» fragt Jesus.
«Sie wird sich versteckt halten, da
sie die Stimmen gehört hat. Weißt du... nach all dem, was sie hinter sich
hat...»
«Rufe sie!»
Petrus schreit laut: «Ich bin der
Jünger des Rabbi von Kapharnaum, und der Rabbi ist hier. Komm heraus!»
Keinerlei Lebenszeichen.
«Sie wagt nicht», erklärt Andreas.
«Eines Tages kam einer und rief: "Komm, hier ist Nahrung!", und dann hat er sie
mit Steinen beworfen.
198
Wir haben sie damals zum erstenmal
gesehen; ich kann mich nicht an die Zeit erinnern, als sie die Schöne von
Chorazim war.»
«Und was habt ihr dann getan?»
«Wir haben ihr ein Brot und Fische
zugeworfen und ein Stück, ein Stück zerrissenes Segel, das wir benutzten, um uns
abzutrocknen... denn sie war nackt. Dann sind wir geflohen, um nicht angesteckt
zu werden.»
«Wieso seid ihr dann zu ihr
zurückgekehrt?»
«Meister... Du warst weg, und wir
haben alles unternommen, um dich immer mehr bekannt zu machen. Wir haben an alle
gedacht: an alle Kranken, alle Blinden, alle Krüppel, alle Stummen... und auch
an sie. Wir haben gesagt: "Laßt uns versuchen!" Weißt du... viele... oh,
bestimmt durch unsere eigene Schuld, haben uns für verrückt erklärt und wollten
uns nicht anhören. Andere aber haben geglaubt. Mit ihr habe ich selbst
gesprochen. Ich bin allein mit dem Boot hierher gefahren, öfters beim
Mondschein. Ich habe sie gerufen und ihr gesagt: "Auf dem Stein am Fuße des
Olivenbaums ist Brot und Fisch. Komm ruhig!" Dann bin ich gegangen. Sie muß mit
dem Kommen immer gewartet haben, bis ich verschwunden war, denn ich habe sie nie
gesehen. Beim sechsten Male sah ich sie am Ufer stehen, genau da, wo du jetzt
stehst. Sie hatte auf mich gewartet... Wie entsetzlich! Ich bin nur deshalb
nicht geflohen, weil ich an dich dachte. Sie fragte mich: "Wer bist du? Warum
hast du Mitleid?"
Ich habe geantwortet: "Weil ich ein
Jünger der Barmherzigkeit bin." "Wer ist dies?"
"Jesus von Galiläa."
"Und er lehrt euch, Mitleid mit uns
zu haben?"
"Mit allen!"
"Weißt du denn, wer ich bin?"
"Du bist die Schöne von Chorazim
und nun die Aussätzige."
"Und nun gibt es auch für mich
Erbarmen?"
"Er sagt, sein Erbarmen gilt allen,
und wir müssen, wie er, zu allen barmherzig sein."
Hier Meister, hat die Aussätzige,
ohne es zu wollen, gelästert. Sie hat gesagt: "So muß auch er ein großer Sünder
gewesen sein!"
Ich habe zu ihr gesagt: "Nein, er
ist der Messias, der Heilige Gottes." Ich hätte am liebsten gesagt: "Sei
verflucht wegen deiner bösen Zunge!", doch ich habe es dann doch nicht gesagt,
weil ich mir gedacht habe: "Sie kann in ihrem Elend nicht an die göttliche
Barmherzigkeit glauben." Sie hat dann angefangen zu weinen und gesagt: "Oh, wenn
er der Heilige ist, dann kann er nicht Mitleid mit der 'Schönen' haben. Mit der
Aussätzigen könnte er es, doch nicht mit der 'Schönen'. Und ich hatte
gehofft..."
Da habe ich sie gefragt: "Was
hattest du erhofft, Frau?"
"Die Heilung... die Rückkehr in die
Welt... unter die Menschen...
199
bettelnd sterben, aber unter
Menschen... nicht wie ein Wild im Rachen der Raubtiere, für die ich ein
Schrecken bin!"
Ich habe zu ihr gesagt: "Willst du
mir schwören, daß du, wenn du in die Welt zurückkehrst, ein rechtschaffenes
Leben führen wirst?"
Und sie: "Ja. Gott hat mich für
meine Sünden gerechterweise bestraft. Ich fühle Reue in mir. Meine Seele ist zur
Sühne bereit und verabscheut die Sünde für immer!"
Mir schien, daß ich ihr in deinem
Namen das Heil verheißen könne. Sie bat mich: "Komm, komm wieder! Sprich mir von
ihm, damit meine Seele ihn erkenne, bevor mein Auge ihn sieht..." Und so kam ich
wieder, um von dir zu sprechen, so gut ich es vermag ...»
«Und ich komme und bringe der
ersten Bekehrten meines Andreas die Heilung.» (Denn Andreas hat die ganze Zeit
gesprochen, während Petrus etwas flußaufwärts gegangen ist, von einem Stein zum
anderen hüpfend und dabei die Aussätzige rufend.) Endlich erscheint ihr
schreckliches Antlitz zwischen zwei Zweigen eines Ölbaumes. Sie sieht und
schreit auf.
«Komm doch endlich herab!» fordert
Petrus sie auf. «Wir werden dich nicht steinigen. Siehst du ihn dort? Der
Meister Jesus ist da!»
Die Frau läßt sich auf dem Abhang
heruntergleiten; ich drücke mich so aus, denn sie kommt so rasch herunter und
ist schon zu den Füßen Jesu, bevor Petrus wieder beim Meister ist.
«Erbarmen, Herr!»
«Kannst du glauben, daß ich es dir
geben kann?»
«Ja, denn du bist der Heilige und
ich bereue. Ich bin die Sünde, doch du bist die Barmherzigkeit. Dein Jünger war
der erste, der mir Barmherzigkeit erwies, und er ist gekommen, mir Brot und
Vertrauen zu bringen. Reinige, Herr, meine Seele, bevor du mein Fleisch
reinigst, denn ich bin dreifach unrein... und wenn du mir nur eine Reinheit
geben willst, eine einzige, dann bitte ich dich um die Reinheit der
sündenbefleckten Seele. Bevor ich deine Worte gehört habe, die er mir wiederholt
hat, sagte ich: "Geheilt werden, um unter die Menschen zurückkehren zu können."
Nun, da ich weiß, bitte ich darum, Vergebung zu erlangen, um das ewige Leben zu
haben.»
«Die Verzeihung schenke ich dir.
Nichts anderes als diese jedoch ...»
«Sei dafür gepriesen! So werde ich
im Frieden Gottes in meiner Höhle leben... frei... oh, frei von Selbstvorwürfen
und Ängsten. Keine Angst mehr vor dem Tode, nun da ich Verzeihung erlangt habe!
Keine Angst mehr vor Gott, nun, da du mich freigesprochen hast!»
«Geh zum See und wasche dich.
Bleibe dort, bis ich dich rufe.»
Die Frau, ein armseliges Skelett
von einer Frau, mit wilden Haarbüscheln, steht vom Boden auf, steigt in das
Wasser des Sees und taucht mit ihren armseligem Fetzen, die sie nur wenig
bedecken, unter.
200
«Warum hast du ihr gesagt, sie
solle sich waschen? Es ist wahr, ihr Gestank ist unausstehlich; doch ich
verstehe nicht», sagt Petrus.
«Frau, komm heraus und hierher.
Nimm das Tuch, das dort an dem Ast hängt.» (Es ist der Stoff, den Jesus benützt
hat, um sich nach dem kurzen Übergang vom Boot zum Land abzutrocknen.)
Die Frau kommt gehorsam heraus,
nackt, da ihr im Wasser die Fetzen davongeschwommen sind und nimmt das trockene
Tuch. Der erste, der einen Ausruf tut, ist Petrus, da er sie ansieht, während
Andreas ihr etwas scheu den Rücken zuwendet. Aber beim Schrei des Bruders dreht
auch er sich um und schreit ebenfalls. Die Frau hatte ihre Augen so fest auf
Jesus gerichtet, daß sie sich sonst um nichts kümmerte. Auf die Rufe hin
betrachtet sie sich und sieht, daß mit den zerrissenen Fetzen auch ihr Aussatz
im See zurückgeblieben ist. Sie läuft nicht davon, wie man annehmen könnte. Sie
kauert sich am Ufer nieder, beschämt ob ihrer Blöße und so bewegt, daß sie zu
nichts anderem fähig ist, als mit einer langen, sanften Klage zu weinen, was
erschütternder ist als ein lauter Aufschrei.
Jesus tritt näher an sie heran,
erreicht sie, wirft ihr das Tuch über, streicht ihr zart über die Haare und
sagt: «Leb wohl! Sei gut. Du hast mit deiner aufrichtigen Reue die Gnade
verdient. Wachse im Glauben an Christus und gehorche dem Gesetz der Reinigung!»
Die Frau weint noch immer. Erst als
sie das Scheuern der Stange hört, die Petrus ins Boot zurückzieht, hebt sie den
Kopf, breitet die Arme aus und ruft: «Danke, Herr. Danke, Gesegneter,
Gesegneter!»
Jesus winkt zum Abschied, bevor das
Boot den Ausgang des kleinen Fjordes erreicht und verschwindet...
... Jesus betritt mit allen Jüngern
die Synagoge von Kapharnaum, nachdem er den Platz und die Straße überquert hat,
die sich davor befinden. Die Nachricht vom neuen Wunder muß sich schon
verbreitet haben, denn es ist viel Geflüster in der Luft, und Bemerkungen werden
überall laut.
Direkt an der Türschwelle der
Synagoge sehe ich den zukünftigen Apostel Matthäus. Er steht dort, mit einem
Fuße schon drinnen und dem anderen noch draußen. Ich weiß nicht, ob er sich
schämt oder ob er sich ärgert über alle die Blicke und Zurufe, die meisten wenig
freundlich. Zwei aufgeblasene Pharisäer raffen theatralisch ihre weiten Mäntel
zusammen, als hätten sie Angst, von der Pest angesteckt zu werden, wenn sie mit
ihren Gewändern die Kleidung des Matthäus streiften.
Jesus betrachtet ihn beim Betreten
des Tempels einen Augenblick und verweilt einen Moment bei ihm. Doch Matthäus
neigt sein Haupt und sagt nichts. Petrus sagt leise zu Jesus, nachdem sie einige
Schritte weitergegangen sind: «Weißt du, wer dieser Mann mit dem Lockenkopf ist,
der mehr parfümiert ist als eine Frau? Es ist Matthäus, unser Steuereinnehmer...
Was hat er hier zu suchen? Er kommt zum ersten Mal. Vielleicht
201
hat er seine Gefährten nicht
gefunden; besonders jene Gefährten, mit denen er sonst den Sabbat verbringt und
in Orgien verpraßt, was er durch doppelte und dreifache Steuern aus uns
herausquetscht, um für das Finanzamt und seine Laster genug zu haben.»
Jesus betrachtet Petrus sehr
streng, so daß dieser rot wie Klatschmohn wird, das Haupt senkt und
stehenbleibt; er ist nun nicht mehr der erste, sondern der letzte in der
apostolischen Gruppe.
Jesus ist an seinem Platz. Nach den
Gesängen und dem gemeinsamen Gebet mit dem Volke wendet er sich, um zu reden.
Der Synagogenvorsteher fragt ihn, ob er irgendeine Schriftrolle haben möchte,
doch Jesus antwortet: «Ist nicht nötig. Ich habe schon das Thema.»
Und er beginnt: «Der große König
Israels, David von Bethlehem, weinte, nachdem er gesündigt hatte; in der
Betrübnis seines Herzens schrie er zu Gott seine Reue und bat um Verzeihung.
Davids Geist war verdunkelt von der Sinnenlust, und dies hatte ihn daran
gehindert, das Antlitz Gottes zu sehen und seine Worte zu vernehmen.
Das Antlitz Gottes, habe ich
gesagt. Im Herzen des Menschen ist ein Punkt, der sich an das Antlitz Gottes
erinnert, die erhabenste Stelle, unser Heiligtum, von wo die heiligen
Einsprechungen und die heiligen Entschlüsse ausgehen; unser Heiligtum, das wie
ein Altar duftet, wie ein Brand leuchtet und wie der Sitz Seraphin von Hymnen
widerhallt. Doch wenn die Sünde in uns raucht, verdunkelt sich der Punkt, so daß
wir ohne Licht, ohne Wohlgeruch und ohne Musik sind, und nur der Gestank
schweren Rauches und der Geschmack der abgestandenen Asche verbleibt. Doch wenn
das Licht zurückkehrt, weil ein Diener Gottes es dem Verfinsterten bringt, dann
sieht er seine Häßlichkeit, seinen schrecklichen Zustand, und von sich selbst
erschrocken ruft er aus wie König David: "Erbarme dich meiner, Herr, mit deiner
großen Barmherzigkeit und in deiner unendlichen Güte wasche mich rein von der
Sünde!" Er sagt nicht: "Es kann mir nicht verziehen werden, daher will ich
weiter sündigen", sondern: "Ich bin gedemütigt und zerknirscht. Doch ich bitte
dich, der du weißt, daß ich in Sünde geboren bin, besprenge mich und mache mich
rein, damit ich wieder weißer als der Schnee der Berggipfel werde." Weiterhin
sagt er: "Nicht Stiere und Kälber werden mein Opfer sein, sondern eine echte
Reue des Herzens; denn ich weiß, daß du diese von uns willst und sie nicht
verachtest."
Dies sagte David nach der Sünde,
und nachdem Nathan, der Diener des Herrn, ihn zur Reue veranlaßt hatte. Gerade
dies müssen aus vielen Gründen die Sünder sagen, nun, da der Herr ihnen nicht
einen seiner Diener sendet, sondern den Erlöser selbst, sein Wort, welches
gerecht und Beherrscher nicht nur des Menschen, sondern auch der über und unter
der Erde lebenden Geschöpfe ist. Er ist aufgestanden unter seinem Volke wie das
Morgenlicht, das beim Aufgang der Sonne wolkenlos leuchtet.
202
Ihr habt schon gelesen, wie der von
Satan besessene Mensch schwächer ist als ein blutleerer Sterbender, auch wenn er
zuvor der "Starke" war. Ihr wißt, daß Samson nichts mehr war, nachdem er den
Sinnen nachgegeben hatte. Ich möchte, daß ihr das Beispiel des Samson, des
Sohnes Manues, kennt, der dazu bestimmt war, die Philister, die Bedrücker
Israels, zu besiegen. Die erste Bedingung dafür war, daß er von seiner
Empfängnis an von all dem unberührt blieb, was die niedrigen Sinne reizt; also
von Wein und Most und fettem Fleisch, das die Lenden mit einem unreinen Feuer
entzündet. Die zweite Bedingung, um der Befreier sein zu können, war, daß er von
Kindheit an dem Herrn geweiht und ehelos bleiben sollte. Heilig ist, wer sich
nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich heilig bewahrt. Dann ist Gott mit
ihm.
Doch Fleisch ist Fleisch, und Satan
ist Versuchung. Und die Versuchung benützt ein Instrument, um Gott in seinem
Herzen und seinen heiligen Geboten zu bekämpfen, das Fleisch, das den Mann
erregt: die Frau. Und siehe, die Kraft des Starken zittert, und er wird ein
Schwächling, der die Gabe Gottes vergeudet. Hört also: Samson wurde mit sieben
Seilen, mit sieben frischen Sehnen, mit sieben Zöpfen seiner Haare am Boden
festgebunden, und immer hatte er gesiegt. Doch man kann Gott in seiner Güte
nicht unbestraft versuchen. Das ist nicht erlaubt. Er verzeiht, verzeiht,
verzeiht... Doch er verlangt den festen Willen, die Sünde aufzugeben, um
weiterhin verzeihen zu können. Töricht ist, wer sagt: "Herr, verzeih" und dann
die Gelegenheit zur Sünde doch nicht meidet. Samson, der dreimal Siegreiche, hat
Dalila, die Sinne, die Sünde, nicht gemieden und, zu Tode betrübt und schwächer
geworden in der Seelenstärke - sagt das Buch - enthüllt er das Geheimnis: "Meine
Kraft liegt in meinen sieben Zöpfen."
Ist keiner unter euch, der müde,
von der Müdigkeit der Sünde, das Gefühl hat, weniger Mut zu haben und vom Feind
bezwungen zu werden, da nichts so sehr schwächt wie ein schlechtes Gewissen?
Nein, wer du auch sein magst, nein, hüte dich! Samson verriet der Versuchung das
Geheimnis seiner siebenfachen Stärke: der sieben symbolischen Zöpfe, seiner
Tugenden, also seiner Treue zur Enthaltsamkeit, und er schlief müde ein auf dem
Schoße des Weibes und wurde besiegt. Blind, Sklave und ohnmächtig, weil er die
Treue zu seinem Gelübde gebrochen hatte! Er wurde erst wieder der "Starke", der
"Befreier", als er im Schmerz der wahren Reue seine Kraft wiederfand... Reue,
Geduld, Ausdauer, Heroismus: dann, ihr Sünder, verspreche ich euch, daß ihr zu
Befreiern eurer selbst werdet. Wahrlich, ich sage euch, weder die Taufe noch der
Ritus helfen, wenn nicht die Reue und der feste Wille vorhanden sind, der Sünde
zu widersagen. Wahrlich, ich sage euch, es gibt keinen Sünder, der ein so großer
Sünder wäre, daß durch seine Tränen die Tugenden, welche die Sünde aus seinem
Herzen gerissen hat, nicht wiedergeboren werden könnten.
203
Heute hat eine Frau, eine Sünderin
Israels, die Gott für ihre Sünden bestraft hat, durch ihre Reue Barmherzigkeit
erlangt. Barmherzigkeit, sage ich! Weniger werden jene finden, die für sie keine
Barmherzigkeit hatten und die schon so schwer Bestrafte noch mitleidlos quälten.
Steckte in ihnen nicht der Aussatz der Sünde? Jeder soll sich prüfen... und
Mitleid haben, um selbst Barmherzigkeit zu erlangen. Ich strecke meine Hand der
Reumütigen entgegen, die nun nach einer todesähnlichen Trennung zu den Lebenden
zurückkehrt. Simon des Jonas, nicht ich, wird das Almosen für die Büßerin
einsammeln, die, schon an der Schwelle des Lebens, zum wahren Leben zurückkehrt.
Murrt nicht, ihr Großen! Murrt nicht! Ich war noch nicht auf der Erde, als sie
die Schöne war. Doch ihr wart. Mehr sage ich nicht.»
«Klagst du uns an, daß wir ihre
Liebhaber gewesen sind?» fragt einer der beiden Alten voller Groll.
«Ein jeder halte sich sein Herz und
seine Taten vor Augen. Ich klage nicht an. Ich spreche im Namen der
Gerechtigkeit. Laßt uns gehen.»
Jesus geht mit den Seinen.
Doch Judas Iskariot wird von zweien
zurückgehalten, die ihn anscheinend kennen. Ich höre, wie sie sagen: «Auch du
bist mit ihm? Ist er wirklich heilig?»
Iskariot hat eine seiner
überraschenden Antworten: «Ich wünsche euch, daß ihr wenigstens seine Heiligkeit
begreift.»
«Doch er hat am Sabbat geheilt!»
«Nein. Er hat am Sabbat verziehen.
Gibt es einen geeigneteren Tag für die Vergebung als den Sabbat? Gebt ihr mir
nichts für die Erlöste?»
«Wir geben unser Geld nicht den
Dirnen. Unsere Gaben gehen an den heiligen Tempel.»
Judas lacht verächtlich, läßt sie
stehen und erreicht dann den Meister, der ins Haus des Petrus zurückgekehrt ist.
Petrus wendet sich an Jesus: «Hier, der kleine Jakob, hat mir beim Verlassen des
Tempels zwei Geldbörsen statt einer gegeben; immer im Auftrag jenes Unbekannten.
Wer mag es wohl sein, Meister? Du weißt es... Sag es mir.»
Jesus lächelt: «Ich werde es dir
sagen, wenn du gelernt hast, über niemanden mehr zu murren.»
Alles ist zu Ende.
204
132. JAKOBUS DES ALPHÄUS WIRD ALS
JÜNGER ANGENOMMEN - JESUS PREDIGT NEBEN DEM ZAHLTISCH DES MATTHÄUS
Es ist der Morgen eines Markttages
in Kapharnaum. Der Platz ist voller Händler jeglicher Art.
Jesus kommt vom See und sieht, daß
die Vettern Judas und Jakobus ihm entgegenkommen. Er beschleunigt den Schritt,
und nach einer liebevollen Umarmung fragt er besorgt: «Ist etwas mit eurem Vater
geschehen?»
«Nichts Neues, was seine Krankheit
betrifft», antwortet Judas.
«Warum bist du dann gekommen? Ich
hatte dir doch gesagt: bleibe!»
Judas senkt das Haupt und schweigt.
Doch nun explodiert Jakobus: «Es ist meine Schuld, daß er nicht gehorcht hat.
Ja, meine Schuld. Ich habe es nicht mehr ertragen können. Alle gegen uns! Und
warum? Ist es vielleicht schlecht, dich zu lieben? Bis jetzt fürchtete ich,
schlecht zu handeln. Doch nun weiß ich: du hast mir gesagt, daß Gott über dem
Vater und der Mutter steht, so habe ich es nicht mehr ausgehalten. Oh, ich habe
versucht, respektvoll zu sein, die Gründe zu erklären, die Meinungen zu ändern.
Ich habe gesagt: "Warum bekämpft ihr mich? Wenn er der Prophet ist, der Messias,
warum wollt ihr dann, daß die Welt sagt: 'Seine Familie war ihm feindlich
gesinnt. In einer Welt, die ihm folgte, fehlte sie!' Warum, wenn er unglücklich
ist, wie ihr sagt, sollen wir von der Familie nicht bei ihm sein, um zu
verhindern, daß sein Wahn ihm oder uns schadet?" O Jesus, so sagte ich, um mich
ihrer menschlichen Denkweise anzupassen. Doch du weißt, daß ich und Judas nicht
glauben, daß du ein Narr bist. Du weißt, daß wir in dir den Heiligen des Himmels
sehen. Du weißt, daß wir immer zu dir als zu unserem großen Stern aufgeblickt
haben. Doch sie wollen uns nicht verstehen. Nicht einmal anhören wollen sie uns.
So bin ich fortgegangen. Ich hatte die Wahl: Jesus oder die Familie, und ich
habe dich gewählt. Hier bin ich, wenn du mich annehmen willst. Wenn du mich
nicht willst, dann werde ich der unglücklichste unter den Menschen sein; denn
ich werde nichts mehr haben. Weder die Liebe der Familie noch deine
Freundschaft.»
«Soweit sind wir nun? Oh, mein
Jakobus, mein armer Jakobus! Ich möchte dich nicht so leiden sehen, weil ich
dich liebe. Aber wenn der Mensch Jesus mit dir weint, dann frohlockt Jesus, das
Wort. Komm! Ich bin überzeugt, daß die Freude, Bote Gottes unter den Menschen zu
sein, deine Seligkeit von Stunde zu Stunde vermehren wird, bis zur vollen Freude
in der letzten Stunde auf Erden und in der Ewigkeit des Himmels.»
Jesus wendet sich um und ruft seine
Jünger, die sich taktvoll einige Meter entfernt hatten. «Kommt, Freunde! Mein
Vetter Jakobus gehört nun zu meinen Freunden und ist somit auch euer Freund. Wie
sehr habe ich
205
diesen Tag, diese Stunde ersehnt
für meinen besten Freund der Kindheit und guten Bruder der Jugendzeit.»
Die Jünger freuen sich über den
Neuangekommenen und über Judas, den sie seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen
haben.
«Wir haben dich im Hause gesucht,
doch du warst auf dem See.»
«Ja, ich war für zwei Tage mit
Petrus und den anderen auf dem See. Petrus hatte einen guten Fang, nicht wahr?»
«Ja. Und jetzt, das mißfällt mir
sehr, muß ich diesem Dieb dort viele Doppeldrachmen geben ...» und er weist auf
den Steuereinnehmer Matthäus hin, dessen Tisch von Menschen belagert ist, die
für ihren Boden oder die Lebensmittel zahlen.
«Es wird alles im rechten
Verhältnis stehen, sage ich. Mehr Fische, mehr Einnahmen, aber auch mehr
Abgaben.»
«Nein, Meister. Je mehr ich fische,
desto mehr verdiene ich. Doch wenn ich beim Fischen das doppelte Gewicht
erreiche, dann läßt mich der dort nicht das Doppelte zahlen. Er verlangt von mir
das Vierfache, der Schakal!»
«Petrus, gehen wir in seine Nähe.
Ich will reden. Es sind immer Menschen am Tisch des Steuereinnehmers.»
«Das weiß ich», brummt Petrus.
«Menschen und Verwünschungen!»
«Nun, ich werde hingehen und Segen
spenden. Wer weiß, ob dann nicht ein wenig Redlichkeit in den Steuereinnehmer
kommt.»
«Sei beruhigt, deine Worte werden
nur bis an seinen Krokodilpanzer dringen.»
«Wir werden sehen.»
«Was wirst du ihm sagen?»
«Direkt nichts. Doch ich werde so
reden, daß es auch für ihn gilt.»
«Du mußt ihm sagen, daß einer, der
die Armen, die bitter um das tägliche Brot arbeiten müssen, ausquetscht, um
seine Weiber und Gelage zu bezahlen, genauso ein Dieb ist wie einer, der
Straßenraub begeht.»
«Petrus, möchtest du nicht an
meiner Stelle reden?»
«Nein, Meister, ich kann nicht gut
reden.»
«Und mit der Galle, die du in dir
hast, würdest du dir und ihm schaden.»
Sie sind am Kassentisch des
Steuereinnehmers angelangt. Petrus tut, als ob er bezahlen wolle. Jesus hält ihn
zurück und sagt: «Gib mir die Münzen. Ich will heute für dich zahlen.» Petrus
schaut ihn erstaunt an und gibt ihm einen Lederbeutel voller Münzen.
Jesus wartet, bis er an der Reihe
ist, und als er dem Steuereinnehmer gegenüber steht, sagt er: «Ich möchte für
acht Körbe Fische des Simon des Jonas bezahlen. Die Körbe sind dort, zu Füßen
der Diener. Überzeuge dich, wenn du es für nötig hältst. Doch unter Ehrlichen
müßte das Wort genügen. Und ich nehme an, du vertraust mir als einem Ehrlichen.
Wieviel macht die Steuer?»
206
Matthäus, der bis dahin hinter
seinem Tisch saß, steht auf, als Jesus sagt: «Ich nehme an, daß du mir
vertraust.» Er ist klein und schon älter, ungefähr so alt wie Petrus, zeigt
jedoch das müde Gesicht eines Lebemannes und eine offensichtliche Verwirrung.
Zuerst hält er das Haupt geneigt, dann hebt er es und schaut Jesus an. Und Jesus
blickt ihn fest und ernst an; er überragt ihn mit seiner stattlichen Figur.
«Wieviel?» wiederholt Jesus nach
einer Weile.
«Es ist keine Steuer zu zahlen für
den Jünger des Meisters», antwortet Matthäus und leise fügt er hinzu: «Bete für
meine Seele!»
«Die trage ich in mir; denn ich
sammle die Sünder. Doch du, warum pflegst du deine Seele nicht?»
Und Jesus dreht ihm sofort den
Rücken zu und kehrt zu Petrus zurück, der vor Staunen sprachlos ist. Auch die
anderen sind sprachlos. Sie flüstern und murmeln.
Jesus lehnt sich an einen Baum, der
ungefähr zehn Meter von Matthäus entfernt ist, und beginnt zu reden.
«Die Welt kann mit einer großen
Familie verglichen werden, deren Glieder verschiedene Berufe ausüben, die alle
notwendig sind. Da sind die Bauern, die Hirten, die Winzer, die Zimmerleute, die
Fischer, die Schreiner und die Schmiede, und dann die Schreiber, die Soldaten,
die Offiziere, die für eine besondere Aufgabe bestimmt sind, die Ärzte und die
Priester. Vielerlei sind da, die Welt kann nicht nur aus einer Klasse von
Menschen bestehen. Alle sind nötig, alle können heilig sein, wenn sie das, was
sie zu tun haben, mit Gerechtigkeit und Ehrlichkeit tun. Wie kann man das
verwirklichen, wenn Satan von vielen Seiten versucht? Man muß an Gott denken,
der alles sieht, auch die verborgensten Werke, und an sein Gesetz, das sagt:
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und tue ihm nicht an, was du nicht
willst, daß man es dir antue, und stehle in keiner Weise!"
Sagt nun, ihr, die ihr mich anhört:
wenn einer stirbt, nimmt er vielleicht seine Geldbörse mit? Auch wenn er so
töricht wäre und es tun wollte, könnte er sie in einem anderen Leben gebrauchen?
Nein! Die Münzen werden bei der Verwesung eines Körpers rostiges Metall. Doch
seine Seele wäre leer und ärmer als der selige Job und würde nicht einmal mehr
die kleinste Münze ihr eigen nennen können, auch wenn sie hier auf Erden im Grab
Talente über Talente gelassen hätte. Hört, hört! Wahrlich, ich sage euch, mit
Reichtum kann man nur schwer den Himmel erwerben; vielmehr verliert man ihn im
allgemeinen, auch wenn der Reichtum ehrlich erarbeitet oder geerbt worden ist;
denn nur wenige Reiche verstehen es, die Reichtümer gut zu verwenden.
Was muß man also tun, um den
gesegneten Himmel zu erreichen, um die Ruhe im Schoße des Vaters zu verdienen?
Man darf nicht gierig auf Reichtum sein. Gierig in dem Sinne, daß man ihn um
jeden Preis haben will, unter Nichtbeachtung der Ehrlichkeit und der Liebe; daß
man ihn,
207
wenn man ihn hat, mehr als den
Himmel und die Mitmenschen liebt und dem Bruder in der Not die Nächstenliebe
verweigert. Nicht gierig auf das sein, was der Reichtum bieten kann: Frauen,
Vergnügen, Genuß und Prachtgewänder, die eine Beleidigung für alle sind, die
frieren und hungern. Es gibt sie, es gibt sie, die Münze, mit welcher das
ungerechte Geld in eine Währung umgetauscht werden kann, die auch im Himmelreich
gilt. Es ist die heilige Klugheit, aus irdischem Reichtum, der oft in
ungerechter Weise erworben worden ist oder aber Ungerechtigkeiten erzeugt, ewige
Reichtümer zu machen. Also mit Ehrbarkeit verdienen, das zurückgeben, was man
ungerechterweise sich angeeignet hat, die Güter der Welt mit Sparsamkeit und
ohne Anhänglichkeit benützen und auch verstehen, sich von ihnen zu trennen; denn
früher oder später muß man sie doch zurücklassen - oh, denkt daran! - während
man das vollbrachte Gute nie mehr verliert.
Wir alle möchten "Gerechte" genannt
und als solche angesehen und von Gott belohnt werden. Doch wie kann Gott jemand
belohnen, der nur dem Namen nach gerecht ist, aber keine Werke vorzuweisen hat?
Wie kann er sagen: "Ich verzeihe dir", wenn er sehen muß, daß die Reue nur in
Worten besteht, aber nicht einem echten Wandel im Geiste entspricht? Es ist
keine Reue vorhanden, solange der Appetit auf Dinge besteht, die uns zur Sünde
verleiten. Doch wenn einer sich verdemütigt, wenn einer sich des Instrumentes
einer schlechten Leidenschaft entledigt, ob diese sich nun Frau oder Geld nennt,
und sagt: "Für dich, Herr, verzichte ich darauf", seht, dann hat er wahrhaft
bereut. Und Gott nimmt ihn auf und sagt zu ihm: "Komm, du bist mir teuer wie ein
Unschuldiger und ein Held."»
Jesus hat geendet. Er geht, ohne
sich noch einmal nach Matthäus umzusehen, der sich schon bei seinen ersten
Worten dem Kreis der Jünger zugesellt hatte. Beim Hause des Petrus angelangt,
kommt dessen Frau auf ihn zu und sagt ihrem Manne etwas. Petrus gibt Jesus ein
Zeichen, näher zu kommen. «Die Mutter von Judas und Jakobus ist hier. Sie will
mit dir reden, doch will sie nicht gesehen werden. Was sollen wir tun?»
«Ich begebe mich in das Haus, wie
um mich auszuruhen, und ihr alle geht und verteilt Almosen an die Armen. Nimm
auch das Geld der nicht verlangten Steuer. Geht!» Jesus verabschiedet sich von
allen mit einer Geste der rechten Hand, während Petrus sie drängt, mit ihm zu
kommen.
«Wo ist die Mutter, Frau?» fragt
Jesus die Gattin des Petrus.
«Auf der Terrasse, Meister! Dort
ist Schatten und Kühle. Geh hinauf, dort kann man sich auch freier bewegen als
im Haus.»
Jesus geht die Treppe hinauf. In
einer Ecke unter der dichten Weinlaube sitzt auf einer gegen die Brüstung
gerückten Bank Maria des Alphäus ganz in Dunkel gekleidet und den Schleier tief
vor das Gesicht gezogen. Sie weint und weint lautlos. Jesus ruft sie: «Maria,
liebe Tante!» Sie
208
wendet ihm ihr angsterfülltes
Gesicht zu und erhebt die Arme: «Jesus, mein Herz ist schmerzerfüllt.»
Jesus geht zu ihr hin. Er zwingt
sie, sich niederzusetzen. Er selbst bleibt jedoch stehen, immer noch den Mantel
über die Schultern geworfen, legt eine Hand auf die Schulter der Tante und die
andere in ihre Hände und fragt: «Was hast du? Warum weinst du so sehr?» «O
Jesus, ich bin von zu Hause fortgelaufen und habe gesagt: "Ich gehe nach Kana,
um Eier und Wein für den Kranken zu holen." Bei Alphäus ist deine Mutter, die
ihn pflegt, wie nur sie es kann; so bin ich beruhigt. Ich bin aber hierher
gekommen. Zwei Nächte bin ich gelaufen, um so rasch als möglich hier zu sein.
Nun kann ich nicht mehr; es ist aber nicht die Anstrengung. Es ist mein
Herzeleid, das mich krank macht. Mein Alphäus, mein Alphäus... meine Söhne!
Warum ist zwischen ihnen, die dasselbe Blut haben, so ein Unterschied? Es ist,
als ob ein armes Mutterherz zwischen zwei Mühlsteinen zermalmt würde. Sind Judas
und Jakobus bei dir? Ja? Dann weißt du, o Jesus! Warum will mein Alphäus nicht
begreifen? Warum stirbt er? Warum will er so sterben? Und Simon und Joseph?
Warum sind sie nicht mit dir, sondern gegen dich?»
«Weine nicht, Maria! Ich habe
keinen Groll auf sie. Ich habe es auch Judas gesagt. Ich verstehe und bemitleide
sie. Wenn du deswegen weinst, dann weine nicht mehr.»
«Nur deshalb; denn sie beleidigen
dich. Nur darum; und dann... und dann; ich will nicht, daß mein Mann stirbt,
solange er dein Feind ist. Gott wird ihm das nie verzeihen; und ich... oh, ich
werde ihn nicht einmal im anderen Leben für mich haben.» Maria ist voller Angst.
Sie weint, und große Tränen fallen dabei auf die linke Hand Jesu, die sie immer
noch mit ihren beiden Händen festhält und immer wieder küßt, wie sie auch von
Zeit zu Zeit mit ihrem gramerfüllten Gesicht zu ihm aufblickt.
«Nein», sagt Jesus. «Nein, sprich
nicht so! Ich verzeihe. Und wenn ich verzeihe ...»
«Oh, komm, Jesus! Komm, um seine
Seele und seinen Leib zu heilen! Komm... Sie sagen schon, um dich anzuklagen,
daß du einem sterbenden Vater beide Söhne geraubt hast; und sie sagen es in
Nazareth, verstehst du? Sie sagen aber auch: "Überall wirkt er Wunder, und im
eigenen Haus kann er es nicht." Ich verteidige dich und halte ihnen vor: "Wie
soll er denn, wenn ihr ihn mit euren Vorwürfen verjagt, weil ihr nicht glaubt?"
Und dann beschimpfen sie mich.»
«Du hast es gut gesagt: "weil ihr
nicht glaubt". Wie kann ich tun, wo man nicht glaubt?»
«Oh, du kannst alles. Ich glaube
für alle! Komm, wirke ein Wunder... für deine arme Tante...»
«Ich kann nicht!» Jesus ist sehr
traurig, als er dies sagt. Aufrecht stehend, das Haupt der Weinenden an der
Brust, scheint er seine Ohnmacht
209
der gelassenen Natur zu bekennen,
scheint er, sie als Zeugin für seinen Kummer anzurufen, nicht handeln zu können
aufgrund eines ewigen Beschlusses. Die Frau weint noch stärker.
«Höre, Maria! Sei gut! Ich schwöre
dir, daß ich es täte, wenn ich es könnte und wenn es gut wäre. Oh, ich würde dem
Vater im Himmel diese Gnade entreißen für dich, für meine Mutter, für Judas und
Jakobus und auch, ja, auch für Alphäus, Joseph und Simon. Doch ich kann nicht.
Du hast jetzt großes Herzeleid und kannst die Gerechtigkeit dieser meiner
Ohnmacht nicht begreifen. Ich will sie dir erklären, doch du wirst sie nicht
verstehen. Als die Stunde des Überganges meines Vaters gekommen war - du weißt,
wie gerecht er war, und wie meine Mutter ihn liebte - verlängerte ich sein Leben
nicht. Es ist nicht richtig, einer Familie, in der ein Heiliger lebt, die
unvermeidlichen Ereignisse des Lebens zu ersparen. Wenn es so wäre, müßte ich
ewig auf der Erde bleiben; aber ich werde bald sterben; auch Maria, meine
heilige Mutter, kann mich dem Tode nicht entreißen. Ich kann nicht! Was ich
kann, ist dieses, und ich werde es tun!»Jesus hat sich niedergesetzt und das
Haupt der Verwandten an seine Schulter gelegt. «Ich werde es tun! Ich verspreche
dir, um deines Schmerzes willen, den Frieden für deinen Alphäus; ich versichere
dir, daß ihr nie getrennt sein werdet; ich gebe dir mein Wort, daß unsere
Familie im Himmel vereint sein wird, vereint für die Ewigkeit. So lange ich lebe
und darüber hinaus will ich meiner teuren Verwandten tiefen Frieden und große
Kraft einflößen, um aus ihr einen Apostel zu bilden für viele, viele arme
Frauen, zu denen du als Frau leichter Kontakt findest. Du sollst meine liebe
Freundin sein während der Zeit der Verkündigung der Frohbotschaft. Der Tod,
weine nicht, der Tod von Alphäus wird dich der ehelichen Pflichten entbinden und
dich zu den erhabeneren Aufgaben eines mystischen, fraulichen Priestertums
erheben, das überaus nötig ist am Altare des Großen Opfers und bei den vielen
Heiden, die ihren Geist eher vor dem heiligen Heldentum von Jüngerinnen als vor
dem der Jünger beugen. O liebe Tante, dein Name wird wie eine Flamme am
christlichen Himmel leuchten! ... Weine nicht mehr! Geh hin im Frieden! Sei
stark, gottergeben, heilig! Meine Mutter - sie wurde Witwe vor dir - wird dich
trösten, wie nur sie es kann. Komm! Ich will nicht, daß du allein unter dieser
Sonne zurückkehrst! Petrus wird dich in seinem Boot bis zum Jordan fahren und
von dort aus mit einem Reitesel nach Nazareth begleiten! Sei gut!»
«Segne mich, Jesus! Gib mir Kraft!»
«Ja, ich segne und küsse dich,
liebe Tante.» Und er küßt sie zärtlich und drückt sie noch einmal lange an sein
Herz, bis er sieht, daß sie sich beruhigt hat.
210
133. JESUS PREDIGT VOR DER MENGE IN
BETHSAIDA
Jesus ist in Bethsaida. Er spricht
hochaufgerichtet vom Boote aus, das ihn hierher gebracht hat und nun fast an
Land gezogen und mit einem Seil an einer sehr einfachen Mole festgebunden ist.
Viele Menschen haben sich im Halbkreis um ihn herum niedergelassen und hören ihm
aufmerksam zu. Jesus hat gerade zu sprechen begonnen.
«... und nun sehe ich, daß auch ihr
von Kapharnaum mich liebt; denn ihr seid mir gefolgt und habt Handel und
Bequemlichkeit beiseite gelassen, um mein belehrendes Wort zu hören. Ich weiß
auch, daß die Vernachlässigung eurer Tätigkeit nicht nur einen finanziellen
Schaden mit sich bringen wird, sondern daß man euch verlachen und
gesellschaftlich schaden wird. Ich weiß, daß Simon, Eli, Urias und Joachim gegen
mich sind. Heute nur gegen mich, morgen meine Feinde. Und ich sage euch, denn
ich täusche niemand und erst recht nicht euch, meine teuren Freunde, daß die
Mächtigen von Kapharnaum alle Mittel benützen werden, um mir zu schaden, mich zu
quälen und zu isolieren: Verleumdung und Drohung, Lästerung und Spott. Der
gemeinsame Feind benützt alles, um Christus die Seelen zu entreißen und sie zu
seiner Beute zu machen. Ich sage euch: wer ausharrt, wird gerettet werden; doch
ich sage auch: wer das Leben und das Wohlergehen mehr liebt als das ewige Leben,
ist frei, zu gehen, mich zu verlassen und sich um das kleine Leben und das
vergängliche Wohl zu kümmern. Ich halte niemand zurück.
Der Mensch ist ein freies Wesen.
Ich bin gekommen, um den Menschen von der Sünde und dadurch im Geiste frei zu
machen; ihn zu befreien von den Ketten einer entarteten bedrückenden Religion,
die mit Strömen von Klauseln, Worten und Vorschriften das einfache, klare,
einleuchtende, leicht verständliche, heilige und vollkommene Wort Gottes
überschwemmt. Mein Kommen verlangt die Prüfung der Gewissen. Ich sammle mein
Getreide auf der Tenne, dresche es mit der Lehre des Opfers und siebe es mit dem
Sieb des freien Willens. Die Spreu, die Wicke und alles Unkraut fliegen leicht
und unnütz davon oder fallen schwer als Schädlinge zu Boden und dienen den
Vöglein zur Nahrung; denn in meine Scheune kommt nur ausgewähltes, reines, gutes
Getreide: die Körner sind die Heiligen!
Seit Jahrhunderten besteht ein
Kampf zwischen dem Ewigen und Satan, der durch seinen ersten Sieg über den
Menschen hochmütig geworden ist und zu Gott gesagt hat: "Deine Geschöpfe werden
für immer mir gehören. Nichts, weder die Strafe noch das Gesetz, das du ihnen
geben willst, werden sie befähigen, sich den Himmel zu verdienen, und diese
deine Stätte, aus welcher du mich verbannt hast, mich, den einzigen
Intelligenten unter deinen Geschöpfen, wird leer bleiben, unnütz und traurig,
wie alles, was nutzlos ist." Der Ewige aber antwortete dem Verfluchten:
211
"So wird es sein, solange dein Gift
allein den Menschen beherrscht. Doch ich werde mein Wort senden, und dieses Wort
wird dein Gift unschädlich machen und die Herzen von der Torheit heilen, mit dem
du sie verteufelt hast, und sie werden zu mir zurückkehren. Wie verirrte Schafe,
die den Schäfer wieder finden, werden sie in meinen Schafstall zurückkehren, und
der Himmel wird bevölkert werden, denn für sie habe ich ihn erschaffen. Und du
wirst mit deinen schrecklichen Zähnen in ohnmächtiger Wut knirschen, unten in
deinem fürchterlichen Reiche, dem Gefängnis der Verdammten, und die Engel Gottes
werfen den Stein auf dich und versiegeln es, und Finsternis und Haß werden dich
und die Deinen treffen, während den Meinen Licht und Liebe, Musik und Seligkeit,
unendliche, ewige und wunderbare Freiheit geschenkt wird." Und darauf hat Satan
unter schauderhaftem Gelächter geschworen: "Bei meiner Hölle schwöre ich, daß
ich kommen werde, wenn die Stunde da ist. Ich werde mich überall unter die
Bekehrten mengen, und dann werden wir sehen, wer von uns beiden der Sieger sein
wird."
Ja, Satan stellt euch nach, um euch
zu sieben. Und auch ich prüfe euch, um euch zu bewerten. Die Gegner sind zwei:
ich und er. Ihr seid in der Mitte. Der Zweikampf der Liebe mit dem Haß, der
Weisheit mit dem Nichtwissen, des Guten mit dem Bösen wird über euch und um euch
herum ausgetragen. Um die Schläge des Bösen von euch abzuwehren, genüge ich. Ich
werde mich zwischen euer Sein und die satanische Waffe stellen und lasse mich an
eurer Stelle verwunden, weil ich euch liebe. Doch die innerlichen Schläge müßt
ihr selbst mit eurem Willen abwehren, zu mir kommen und auf meinem Wege wandeln,
der die Wahrheit und das Leben ist. Wer den Himmel nicht will, wird ihn nicht
haben. Wer nicht fähig ist, ein Jünger Christi zu sein, ist leichte Spreu, die
der Wind der Welt mit sich fortträgt. Wer ein Feind Christi ist, ist schädlicher
Samen, der im satanischen Reiche keimen wird.
Ich weiß, weshalb ihr gekommen
seid, ihr von Kapharnaum! Und mein Gewissen ist rein von der Sünde, die man mir
auflastet. Aufgrund dieser nicht vorhandenen Sünde beschimpft man mich aber
hinterher und behauptet, daß mich anhören und mir nachfolgen Mitschuld mit dem
Sünder sei; aber ich fürchte mich nicht, denen von Bethsaida den Grund dieses
Geredes zu offenbaren. Unter euch, Bürger von Bethsaida, befinden sich Ältere,
die aus verschiedenen Gründen die Schöne von Chorazim noch nicht vergessen
haben. Es sind Männer, die mit ihr gesündigt und Frauen, die deswegen Tränen
vergossen haben. Sie weinten; ich war noch nicht gekommen, um zu sagen: "Liebt,
die euch Schaden zufügen!" Sie weinten und jubilierten, als sie erfuhren, daß
die Schöne von der Fäulnis befallen sei, die aus ihren Eingeweiden zum Äußeren
ihres herrlichen Körpers vordringe. Sie ist zum Abbild des viel gefährlicheren
Aussatzes der Seele geworden, der Seele der Ehebrecherin, der Mörderin und
Dirne:
212
Ehebrecherin siebzigmal siebenmal,
mit jedem, der den Namen "Mann" und Geld hatte, Mörderin siebenmal siebenmal
ihrer Bastarde, Dirne aus Lasterhaftigkeit, nicht aus Bedürfnis.
Oh! Ich kann euch verstehen, ihr
verratenen Ehefrauen! Ich kann eure Freude verstehen, als man euch sagte: "Das
Fleisch der Schönen ist ekelhafter und stinkender als das einer im Straßengraben
verendenden Kröte, Beute der Raben und Würmer." Doch ich sage euch: lernt
verzeihen! Gott hat euch gerächt und Gott hat dann verziehen. Verzeiht auch ihr.
Ich habe ihr auch in eurem Namen verziehen, denn ich weiß, daß ihr gut seid, ihr
Frauen von Bethsaida, die ihr mich begrüßt mit dem Rufe: "Gepriesen sei das Lamm
Gottes! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!" Wenn ich das Lamm
Gottes bin und ihr mich als solches anerkennt, wenn ich zu euch komme, ich, das
Lamm, dann müßt ihr alle sanfte Schafe werden; auch ihr als betrogene Ehefrauen,
in denen ein ferner Schmerz, jetzt ferner, Instinkte eines Raubvogels geweckt
hat, der sein Nest verteidigt. Ich könnte als Lamm nicht unter euch bleiben,
wenn ihr Tiger oder Hyänen wäret.
Er, der im heiligsten Namen Gottes
kommt, um Gerechte und Sünder zusammenzurufen und sie in den Himmel zu führen,
ist auch zur Reuigen gegangen und hat ihr gesagt: "Sei rein, geh und sühne!" Das
tat ich am Sabbat. Und dafür werde ich angeklagt! Öffentlich angeklagt! Außerdem
wirft man mir vor, mich einer Dirne genähert zu haben. Einer, die eine Dirne
war. Sie aber war nur noch eine über ihre Sünden weinende Seele.
So sage ich euch: ich habe es getan
und ich werde es wieder tun. Bringt mir das Buch, forscht in ihm, studiert und
ergründet es! Findet mir, wenn ihr könnt, eine Stelle, die dem Arzt verbietet,
einen Kranken zu heilen, einem Leviten, sich dem Altardienst zu widmen, einem
Priester, einem Gläubigen beizustehen, nur weil es Sabbat ist... Wenn ihr eine
Stelle findet und sie mir zeigt, werde ich an meine Brust schlagen und sagen:
"Herr, ich habe vor deinem Antlitz und den Menschen gesündigt; ich bin der
Vergebung nicht wert. Doch wenn du deinem Diener Barmherzigkeit erweisen willst,
will ich dich dafür preisen, solange ich lebe."
Jene Seele war krank, und die
Kranken brauchen den Arzt. Es war ein entheiligter Altar und benötigte einen
Leviten, der sie reinigte. Sie war eine Gläubige, die zum wahren Tempel des
wahren Gottes ging und dort weinte und einen Priester brauchte, um unterrichtet
zu werden. Wahrlich, ich sage euch, ich bin der Arzt, der Levit und der
Priester! In Wahrheit sage ich euch, wenn ich meine Aufgabe nicht erfülle und
auch nur eine einzige Seele, die willig ist, nicht rette, dann wird Gott der
Vater mich zur Rechenschaft ziehen und mich für die verlorene Seele bestrafen.
Das ist nach der Auffassung der
Mächtigen von Kapharnaum mein Vergehen: ich hätte den Tag nach dem Sabbat
abwarten sollen, um zu handeln. Ja! Aber warum weitere vierundzwanzig Stunden
warten, um
213
ein reuiges Herz in den Frieden
Gottes zurückzuführen? In diesem Herzen war echte Demut, unverschleierte
Aufrichtigkeit, vollkommener Reueschmerz. Ich habe in diesem Herzen gelesen. Der
Aussatz bedeckte noch den Körper, doch die Seele war schon gereinigt durch den
Balsam jahrelanger Reue, Tränen und Sühne. Diese Seele bedurfte nur der
Erneuerung meiner Weihe, um Gott nahe treten zu können, ohne dadurch den
Glorienschein, der Gott umgibt, zu verunreinigen. Ich habe sie ihr gegeben. Sie
ist aus dem See auch körperlich rein hervorgegangen. Doch noch reiner im Herzen!
Wie viele, oh, wie viele von denen, die in die Wasser des Jordan gestiegen sind,
um dem Gebot des Vorläufers zu gehorchen, sind nicht so rein wie sie daraus
hervorgegangen!
Denn ihre Taufe am Jordan war kein
gewollter Akt eines aufrichtigen Herzens, das sich auf meine Ankunft
vorbereitet, sondern nur eine Förmlichkeit, um vor den Augen der Welt in
vollkommener Heiligkeit zu erscheinen. Es war nur Scheinheiligkeit und Hochmut.
Zwei Fehler, die die schon vorhandene Sündenlast in ihren Herzen noch
vermehrten. Die Taufe durch Johannes ist nur ein Symbol, das sagen will:
"Reinigt euch vom Stolz, indem ihr euch verdemütigt und euch Sünder nennt!
Reinigt euch von der Unreinheit, indem ihr deren Makel entfernt!" Denn die Seele
muß mit eurem Willen getauft werden, um beim göttlichen Gastmahl rein zu sein.
Keine Schuld ist so groß, daß sie nicht zuerst durch die Reue, dann durch die
Gnade und schließlich durch den Erlöser weggewaschen werden könnte. Es gibt
keinen so großen Sünder, daß er nicht sein niedergeschlagenes Antlitz erheben
und einer Hoffnung auf Erlösung zulächeln könnte. Es genügt, daß er fest
entschlossen ist, die Sünde zu meiden, der Versuchung in heldenhafter Weise zu
widerstehen und aufrichtig wiedergeboren zu werden.
Ich sage euch nun eine Wahrheit,
die von meinen Feinden als eine Lästerung angesehen würde. Doch ihr seid meine
Freunde. Ich spreche besonders für euch, meine schon erwählten Jünger, und dann
zu allen, die ihr mir zuhört. Ich sage euch: die Engel, reine und vollkommene
Geister, die im Lichte der Allerheiligsten Dreifaltigkeit frohlocken, sind in
ihrer Vollkommenheit - und sie wissen dies - euch Menschen gegenüber, die ihr
noch fern vom Himmel seid, im Nachteil. Dieser Nachteil besteht darin, daß sie
nicht imstande sind, sich aufzuopfern und zu leiden, um an der Erlösung der
Menschen mitzuwirken.
Und was dünkt euch? Gott nimmt
nicht einen Engel und sagt zu ihm: "Sei Erlöser der Menschheit!" Er nimmt seinen
Sohn. Und er weiß ' daß, obgleich dessen Opfer unermeßlich und seine Macht
unendlich ist, noch etwas fehlt, um die Summe der Verdienste der Summe der
Sünden, die von Stunde zu Stunde zunimmt, entgegenstellen zu können, nimmt er
nicht andere Engel, um das Maß vollzumachen, und sagt zu ihnen: "Leidet, um
Christus nachzuahmen!" sondern er sagt es euch, euch Menschen; und
214
dies ist seine Vatergüte, die
keinen Unterschied machen will zwischen dem Sohn seiner Liebe und den Söhnen
seiner Macht. Er sagt zu euch: "Leidet, bringt Opfer und seid meinem Lamm
ähnlich. Seid Miterlöser!" O ja... ich sehe Engelsscharen, die für einen
Augenblick in ihrer schwebenden, anbetenden Verzückung vor dem Dreieinigen Gott
innehalten, niederknien, das Antlitz zur Erde neigen und sagen: "Ihr Gesegneten,
die ihr leiden dürft mit Christus und für unseren und euren ewigen Gott!"
Viele werden diese Größe noch nicht
begreifen. Sie übersteigt zu sehr das menschliche Maß. Doch wenn das Opfer
dargebracht sein wird, wenn das ewige Getreidekorn neu gekeimt haben wird, um
nie mehr zu sterben, nachdem es geerntet, gedroschen, gereinigt und im Erdreich
begraben worden ist, dann wird der übergeistige Erleuchter kommen und die
Geister erleuchten, auch die späteren, die aber dem Erlöser Christus treu
geblieben sind; und dann werdet ihr verstehen, daß ich nicht gelästert, sondern
euch die höchste Würde des Menschen kundgetan habe: Miterlöser zu sein, auch
wenn man zuvor nur ein Sünder war. Bereitet euch also darauf vor in der Reinheit
des Herzens und der Absicht! Je reiner ihr seid, um so tiefer versteht ihr, daß
die Unreinheit, wie auch immer sie sein mag, nur Rauch ist, den Blick und den
Verstand verdunkelt.
Seid rein! Beginnt damit beim
Körper, um dann im geistigen Bereich weiterzumachen. Beginnt bei den fünf
Sinnen, um dann zu den sieben Leidenschaften überzugehen. Beginnt mit dem Auge,
dem König der Sinne, der den Weg zu den umfassendsten und heißesten Verlangen
öffnet. Das Auge sieht das Fleisch der Frau und begehrt das Fleisch. Das Auge
sieht den Reichtum der Reichen und begehrt das Gold. Das Auge sieht die Macht
der Regierenden und begehrt die Macht. Euer Auge sei ruhig, ehrbar, sittsam und
rein, und ihr werdet ruhige, ehrbare, sittsame und reine Wünsche haben. Je
reiner euer Auge ist, um so reiner wird euer Herz sein. Wacht über euer Auge,
den gierigen Entdecker der verführerischen Äpfel. Seid keusch in euren Blicken,
wenn ihr keusch in eurem Leibe sein wollt. Wenn ihr die Keuschheit des Fleisches
kennt, dann werdet ihr auch die "Keuschheit" der Reichtümer und der Macht
kennen. Ihr werdet in allem keusch und darum Freunde Gottes sein.
Habt keine Angst, verspottet zu
werden, wenn ihr keusch seid. Fürchtet nur, Feinde Gottes zu sein! Eines Tages
hörte ich sagen: "Du wirst von der Welt verlacht werden als Lügner und Eunuch,
wenn du zu erkennen gibst, daß du keinen Hang zur Frau hast." Wahrlich, ich sage
euch, Gott hat die Ehe eingesetzt und euch zu seinen Nachahmern im Erschaffen
und zu seinen Mitarbeitern gemacht, um den Himmel zu bevölkern. Doch es gibt
noch einen höheren Stand, vor dem sich die Engel verneigen und in dem sie eine
Erhabenheit sehen, die sie nicht nachahmen können. Einen Stand, der, wenn man
von der Geburt bis zum Tode durchhält, Eunuchentum ohne natürlichen Mangel oder
gewaltsamen oder freiwilligen
215
Eingriff ist. Er ist jedoch auch
jenen nicht verwehrt, die nicht mehr jungfräulich sind, doch auf ihre männliche
oder weibliche Fruchtbarkeit verzichten, um allein dem Geiste nach fruchtbar zu
sein. Dieser Stand verbietet nicht, sich dem Altare zu nähern; im Gegenteil, in
den folgenden Jahrhunderten werden die Altäre von Menschen dieses Standes
umgeben sein. Es ist der höchste Stand, der die Abkehr des Willens vollzieht von
allem, was nicht Zugehörigkeit zu Gott allein ist, indem er für Ihn die
Keuschheit des Leibes und des Herzens bewahrt, um in Ewigkeit das strahlende
Weiß, das dem Lamme Gottes teuer ist, zu besitzen.
Ich habe für das Volk und für die
Erwählten aus dem Volke gesprochen. Nun, bevor wir in das Haus des Philippus
eintreten, um das Brot zu brechen und das Salz zu teilen, will ich euch alle
segnen: die Guten, um sie zu belohnen, die Sünder, um ihnen Mut einzuflößen,
sich dem nähern, der gekommen ist, um zu verzeihen. Der Friede sei mit euch
allen!»
Jesus verläßt das Boot und geht
durch die Menge, die sich um ihn drängt. An der Ecke eines Hauses steht noch
Matthäus, der von dort aus dem Meister zugehört hat, ohne mehr zu wagen. Als
Jesus bei ihm ankommt, bleibt er stehen und, wie wenn er alle segne, segnet er
ein zweites Mal und blickt dabei Matthäus an. Dann geht er, aufs neue von den
Menschen gefolgt, zur Gruppe der Seinen und verschwindet in einem Haus.
Alles ist zu Ende.
134. BERUFUNG DES MATTHÄUS ZUM
JÜNGER
Immer noch der Marktplatz von
Kapharnaum. Doch zu einer sehr heißen Stunde. Der Markt ist schon beendet, und
auf dem Platz stehen nur Müßige herum, die miteinander reden, und Kinder spielen
und tummeln sich.
Jesus befindet sich inmitten seiner
Gruppe und kommt vom See zum Platz. Er liebkost die Kinder, die ihm
entgegeneilen, und interessiert sich für ihre Vertraulichkeiten. Ein Mädchen
zeigt einen blutenden Riß an der Stirne und beschuldigt dafür das Brüderchen.
«Warum hast du deiner Schwester weh
getan? Das ist nicht recht!»
«Ich habe es nicht absichtlich
getan. Ich wollte Feigen pflücken und habe dazu einen Stock genommen. Er war zu
schwer, ist mir entfallen und hat sie getroffen. Ich habe auch für sie Feigen
heruntergeholt.»
«Ist das wahr, Johanna?»
«Es ist wahr.»
«Du siehst also, daß dein Bruder
dir nicht weh tun wollte. Er wollte dir eine Freude bereiten. Schließt ganz
schnell Frieden und gebt euch einen
216
Kuß. Gute Geschwister und gute
Kinder dürfen nie einen gegenseitigen Groll empfinden. Los ...»
Die beiden weinenden Kinder küssen
sich. Beide weinen: das eine wegen des schmerzenden Kratzers, das andere, weil
es die Schmerzen verursacht hat. Jesus lächelt über den mit Tränen gewürzten Kuß.
«So, jetzt, da ich sehe, daß ihr lieb seid, werde ich euch die Feigen ohne Stock
pflücken.»
Das glaube ich gerne. Groß, wie er
ist, und mit seinen langen Armen kann er dies mühelos tun. Er pflückt Feigen und
verteilt sie.
Eine Frau eilt herbei: «Nimm, nimm,
Meister! Ich werde dir sofort Brot bringen.»
«Nein, nein, das ist nicht für
mich; es ist für Johanna und Tobiolus! Sie hatten Verlangen danach.»
«Und ihr habt den Meister damit
belästigt? Wie aufdringlich seid ihr! Verzeih, Herr!»
«Frau, es mußte Friede gestiftet
werden... und ich habe ihn mit dem Gegenstand der Zwistigkeit erreicht: den
Feigen. Die Kinder sind niemals aufdringlich. Sie lieben die süßen Feigen, und
ich liebe ihre reinen, unschuldigen Seelen. Sie nehmen viel Bitterkeit von mir.»
«Meister, es sind die Herren, die
dich nicht lieben. Doch wir, das Volk, wir haben dich gern. Sie sind wenige,
während wir viele sind.»
«Ich weiß, Frau. Danke für deinen
Trost! Der Friede sei mit dir! Leb wohl, Johanna! Leb wohl, Tobiolus! Seid brav,
tut euch nicht weh und streitet nicht mehr! Versprecht ihr mir?»
«Ja, ja, Jesus», antworten die
beiden Kinder.
Jesus macht sich auf den Weg und
sagt lächelnd: «Oh, nun da die Feigen uns geholfen haben, die Wolken zu
vertreiben, laßt uns gehen; wohin wollt ihr gehen?»
Die Apostel wissen es nicht. Der
eine sagt dahin, der andere dorthin. Doch Jesus schüttelt den Kopf und lacht.
Petrus sagt: «Ich gebe auf. Wenn du es nicht selbst sagst... Ich habe heute
schwarze Gedanken. Du hast es nicht gesehen, doch als wir aus dem Boote stiegen,
war Eli dort, der Pharisäer. Noch grüner im Gesicht als üblich. Und er sah uns
so sonderbar an.»
«Laß ihn doch.»
«Natürlich, es bleibt mir nichts
anderes übrig. Aber ich versichere dir, Meister, wenn man mit dem zu tun
bekommt, dann genügen zwei Feigen nicht!»
«Was habe ich der Mutter des
Tobiolus gesagt? "Ich habe den Frieden mit dem Gegenstand des Zwistes
wiederhergestellt." Und so werde ich immer versuchen, Frieden zu stiften: ich
will den Vornehmen von Kapharnaum, wenn sie glauben, beleidigt worden zu sein,
meine Hochachtung erweisen. So wird auch noch ein anderer zufrieden sein.»
217
«Wer?»
Jesus beantwortet die Frage nicht
und fährt fort: «Es wird mir wahrscheinlich nicht gelingen, weil es ihnen an
gutem Willen fehlt und sie keinen Frieden schließen wollen. Doch hört: wenn bei
allen Meinungsverschiedenheiten der Klügere nachgeben würde, anstatt auf seinem
Recht zu bestehen, wenn er zur Hälfte auf sein Recht verzichtete, wäre es besser
und auch heiliger. Nicht immer ist der Wille vorherrschend, den anderen zu
schädigen. Manchmal tut jemand einem anderen weh, ohne es zu wollen. Denkt immer
daran und verzeiht! Eli und die anderen meinen, daß sie Gott, so wie sie
handeln, auf rechte Weise dienen. Mit Geduld und Ausdauer und viel Demut und
guter Manier werde ich versuchen, sie davon zu überzeugen, daß eine neue Zeit
angebrochen ist und Gott wünscht, daß ihm jetzt auf eine andere Art gedient
werde, daß ihm gedient werde, wie ich es lehre. Die Klugheit des Apostels ist
die feine Art, seine Waffe die Ausdauer, der Erfolg das Beispiel und das Gebet
für die zu Bekehrenden.»
Sie sind auf dem Platz angekommen.
Jesus geht geradewegs zur Zollbank, wo Matthäus rechnet und Münzen zählt, die
wohlgeordnet nach Art und Größe vor ihm liegen und die er dann in Säckchen von
verschiedenen Farben schüttet, und sie allesamt in einer eisernen Kassette
verstaut, die dann von wartenden Dienern abtransportiert wird. Als der lange
Schatten der Gestalt Jesu auf den Tisch fällt, hebt Matthäus den Kopf, um
festzustellen, wer der verspätete Zahler sei. Petrus zieht Jesus am Ärmel und
sagt: «Meister, was tust du hier, da nichts zu bezahlen ist?»
Doch Jesus hört nicht auf ihn. Er
blickt auf Matthäus, der sich erhoben und eine ehrerbietige Haltung angenommen
hat. Ein durchdringender Blick! Doch ist es nicht der Blick des strengen
Richters vom letztenmal. Es ist ein werbender Blick voller Liebe. Er verwirrt
und erfüllt mit Liebe. Matthäus wird rot. Er weiß nicht, was er tun oder sagen
soll...
«Matthäus, Sohn des Alphäus, die
Stunde ist gekommen. Komm, folge mir!» erklärt ihm Jesus, majestätisch.
«Ich, Meister, Herr? Weißt du denn,
wer ich bin? Ich sage es deinetwegen, nicht meinetwegen.»
«Komm, folge mir, Matthäus, Sohn
des Alphäus!», wiederholt Jesus sanft.
«Oh, wie könnte ich bei Gott Gnade
gefunden haben? Ich, ich ...»
«Matthäus, Sohn des Alphäus, ich
habe in deinem Herzen gelesen. Komm, folge mir nach.» Diese dritte Einladung ist
eine Liebkosung.
«Oh, sofort, mein Herr!» und
Matthäus kommt weinend hinter seinem Arbeitstisch hervor, ohne sich um die noch
herumliegenden Münzen zu kümmern oder die Kassette zu schließen. Nichts von
alledem. «Wohin gehen wir, Herr?» fragt er, als er vor Jesus steht. «Wohin
führst du mich?»
«In dein Haus. Willst du den
Menschensohn aufnehmen?»
218
«Oh, aber... was werden dann die
sagen, die dich hassen?»
«Ich höre auf das, was man im
Himmel sagt, und dort sagt man: "Gott sei gepriesen für einen Sünder, der
gerettet wird!" und der Vater sagt: "In Ewigkeit wird die Barmherzigkeit sich
zum Himmel erheben und über der Erde schweben, und da ich dich liebe mit einer
ewigen, vollkommenen Liebe, erweise ich auch dir Barmherzigkeit." Gehen wir! Mit
meinem Kommen heilige ich nicht nur dein Herz, sondern auch das Haus.»
«Ich habe es schon gereinigt in der
Hoffnung, die meine Seele erfüllte... obgleich der Verstand dagegen sprach. Oh,
ich mit deinen Heiligen!»Matthäus betrachtet die Jünger.
«Ja, mit meinen Freunden. Kommt
alle! Ich will euch zusammenführen, damit ihr Brüder werdet!»
Die Jünger sind derart erstaunt,
daß sie noch sprachlos sind. Sie sind Jesus und Matthäus über den sonnigen Platz
gefolgt, der nun ganz menschenleer ist, und zu einer kurzen Gasse gelangt, die
in der glühenden Sonne liegt. Kein Lebewesen ist auf der Straße sichtbar, nur
Sonne und Staub.
Sie betreten ein Haus. Ein schönes
Haus mit einem breiten Portal, das sich zur Gasse hin öffnet. Ein schattiger,
kühler Säulengang, hinter dem ein Hof liegt, der als Garten dient. «Komm, mein
Meister! Bringt Wasser und Getränke!»
Die Diener bringen das Gewünschte
herbei.
Matthäus geht und erteilt
Anweisungen, während Jesus und die Seinen sich erfrischen. Dann kehrt er zurück.
«Komm, Meister, der Saal ist kühler... Es werden Freunde kommen. Ich möchte, daß
ein großes Fest gefeiert wird und meine Bekehrung, meine wahre Beschneidung...
Du hast mit deiner Liebe mein Herz beschnitten... Meister, es wird das letzte
Fest sein; keine Feste mehr für den Zöllner Matthäus. Keine Feste dieser Welt...
nur noch die innerliche Freude darüber, erlöst zu werden und dir dienen zu
dürfen, von dir geliebt zu werden... Wieviel habe ich geweint in diesen Monaten.
Seit beinahe drei Monaten weine ich. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte.
Ich wollte kommen... doch wie kann ich mit meiner schmutzigen Seele zu dir, dem
Heiligen, gelangen?»
«Du hast sie mit Reue und Liebe
gewaschen. Für mich und für den Nächsten. Petrus? Komm hierher!»
Petrus, der noch nicht geredet hat,
so sehr ist er überrascht, kommt nach vorne. Die beiden Männer, Petrus und
Matthäus, die gleichen Alters, klein von Wuchs und grauhaarig sind, stehen sich
gegenüber, Jesus in ihrer Mitte, lächelnd und schön.
«Petrus, du hast mich oft gefragt,
wer der Unbekannte der Geldbörse ist, welche Jakob jede Woche bringt. Nun, hier
steht er vor dir!»
«Was? Dieser Dieb? Oh, Verzeihung,
Matthäus! Doch wer hätte annehmen können, daß du es warst? Gerade du, unsere
Verzweiflung wegen
219
deines Wuchers... daß du fähig sein
könntest, dir jede Woche mit diesem reichen Almosen ein Stück deines Herzens
herauszureißen...»
«Ich weiß es, ich habe euch
ungerecht besteuert. Doch seht, ich knie vor euch nieder und bitte euch, jagt
mich nicht fort! Er hat mich angenommen. Seid nicht strenger mit mir als er!»
Petrus, der neben ihm steht, hebt
Matthäus mit einer etwas barschen, doch herzlichen Geste in die Höhe und sagt:
«Steh auf! Nicht mich und die anderen, nur ihn hast du um Verzeihung zu bitten.
Wir alle sind mehr oder weniger Diebe wie du! Oh... nun habe ich es wieder
gesagt. Du verwünschte böse Zunge! Doch ich bin so gemacht: das, was ich denke,
sage ich; was im Herzen ruht, gleitet mir auf die Zunge. Komm, laß uns einen
Pakt des Friedens und der Liebe schließen!», und er küßt Matthäus auf die Wange.
Auch die anderen tun es mehr oder
weniger liebevoll. Ich muß dies sagen, denn Andreas ist von Natur aus
schüchtern, und Judas Iskariot kalt; es sieht so aus, als ob er ein Bündel
Schlangen umarmen müßte, so kurz und abrupt ist seine Umarmung.
Matthäus geht hinaus, denn er hört
Geräusche.
«Aber Meister», sagt Judas Iskariot,
«mir scheint, daß dies unklug war. Die Pharisäer klagen dich schon an, und du...
nun nimmst du auch noch einen Zöllner unter die Deinen auf! Nach einer Dirne
noch einen Zöllner! ... Hast du denn beschlossen, dich zu ruinieren? Wenn es so
ist, dann sage es, daß...»
«Daß wir unserer Wege gehen, nicht
wahr?» beendet Petrus spöttisch.
«Wer spricht denn mit dir?»
«Ich weiß, daß du nicht mit mir
sprichst. Doch erlaube mir, mit deiner herrschaftlichen Seele zu reden, mit
deiner so reinen Seele, mit deiner klugen Seele. Ich weiß, daß du als Mitglied
des Tempels den Geruch der Sünde in uns wahrnimmst; in uns Armen, die wir nicht
zum Tempel gehören. Ich weiß, daß du, ganzer Judäer, Mischung aus einem
Pharisäer, einem Sadduzäer und einem Herodianer, halber Schriftgelehrter und zu
einem kleinen Teil Essener bist - willst du noch mehr solche vornehme Titel
hören? Du fühlst dich unter uns nicht wohl, wie ein herrlicher Aal, der in ein
Netz voller Krabben geraten ist. Aber was kann man da schon machen? Er hat uns
angenommen, und wir bleiben bei ihm. Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja
jederzeit gehen. So haben wir alle mehr Luft. Auch er, siehst du, ist betrübt
meinet- und deinetwegen. Meinetwegen, weil ich gegen die Geduld und auch... ja,
auch gegen die Liebe gefehlt habe; doch mehr noch deinetwegen, weil du nichts
verstehst mit deinem Vorhang vornehmer Titel und keine Nächstenliebe, Demut und
Achtung kennst. Nichts hast du, Bursche! Nur einen großen Dünkel! ... Gott gebe,
daß es unschädlicher Rauch sei.»
Jesus wartet mit auf der Brust
verschränkten Armen und einem strengen
220
Blick, bis Petrus geendet hat und
sagt dann: «Hast du nun alles gesagt, Petrus? Hast du auch deine Seele von der
Hefe gereinigt, die darin war? Du hast gut daran getan. Heute ist für einen Sohn
Abrahams das Ostern der ungesäuerten Brote, Der Ruf Christi ist für eure Seelen
wie das Blut des Lammes, und wo es hingelangt, kommt die Sünde nicht mehr hin.
Sie wird nicht mehr über den
kommen, der getreu ist. Von mir berufen
zu sein, bedeutet Befreiung und
wird ohne jegliche Hefe gefeiert.»
Zu Judas kein Wort. Petrus schweigt
beschämt.
«Der Gastgeber kehrt zurück», sagt
Jesus. «Mit Freunden. Wir wollen ihnen nichts als Tugenden zeigen. Wer es nicht
fertig bringt, soll hinausgehen. Seid nicht wie die Pharisäer, die durch Gesetze
unterdrücken, die sie
als erste nicht beachten.»
Matthäus kommt mit anderen Männern
zurück, und das Mahl beginnt. Jesus sitzt in der Mitte zwischen Petrus und
Matthäus. Sie sprechen über viele Dinge, und Jesus erklärt mit viel Geduld
diesem und jenem, was sie wissen wollen. Es werden auch Klagen über die
Pharisäer laut, von denen sie verachtet werden.
«Also, kommt zu dem, der euch nicht
verachtet. Und dann benehmt euch so, daß euch wenigstens die Guten nicht
verachten können», antwortet Jesus.
«Du bist gut, doch du bist allein.»
«Nein, sie hier sind wie ich, und
dann... ist auch Gott Vater, der auch alle jene liebt, die wieder seine Freunde
werden wollen. Wenn ein Mensch
nichts mehr als den Vater hätte,
wäre seine Freude nicht schon vollkommen?»
Sie sind schon beim Nachtisch
angelangt, als ein Diener dem Herrn des Hauses ein Zeichen gibt und ihm etwas
mitteilt.
«Meister, Eli, Simon und Joachim
möchten hereinkommen und mit dir sprechen. Willst du sie sehen?»
«Gewiß.»
«Aber meine Freunde sind Zöllner!»
«Sie wollen sehen, was hier
geschieht. Sie sollen es tun. Es würde nichts
nützen, es zu verbergen. Es würde
dem Guten nicht nützen, und das Böse würde den Anlaß noch steigern und sagen,
daß hier auch Dirnen seien.
Laß sie hereinkommen!»
Die drei Pharisäer treten ein. Sie
schauen sich mit einem bösen Lachen
um und reden miteinander. Doch
Jesus ist aufgestanden und geht ihnen entgegen, zusammen mit Matthäus. Er legt
diesem eine Hand auf die Schulter und sagt: «Oh, wahre Kinder Israels, ich grüße
euch und teile euch eine große Neuigkeit mit, die bestimmt eure Herzen als
vollkommene Israeliten, die sich nur um die Beobachtung des Gesetzes durch alle
zur Verherrlichung Gottes bemühen, höher schlagen lassen wird. Matthäus, der
Sohn des Alphäus, ist von heute an nicht mehr der Sünder, der Ärgernis von
221
Kapharnaum. Ein räudiges Schaf
Israels ist geheilt. Freut euch! Ihm folgend, werden andere sündige Schafe
geheilt, und eure Stadt, auf deren Heiligkeit ihr so bedacht seid, wird Gott als
heilige Stadt wohlgefällig sein. Er hat alles aufgegeben, um Gott allein zu
dienen. Gebt dem verirrten Israeliten, der nun in den Schoß Abrahams
zurückkehrt, den Friedenskuß!»
«Und er gibt sich mit Zöllnern ab?
Während eines fröhlichen Gastmahls? Oh, das ist wahrhaft eine erwünschte
Bekehrung! Schau dort, Eli... das ist Josia, der Frauenjäger.»
«Und dort, Simon des Isaak, der
Ehebrecher.»
«Und der andere? Das ist Azarias,
der Wirt, in dessen Spelunke Römer und Juden spielen, betrügen, sich betrinken
und sich mit Frauen vergnügen.»
«Aber Meister, weißt du wenigstens,
wer diese Leute sind? Wußtest du es?»
«Ich wußte es.»
«Und ihr von Kapharnaum, ihr
Jünger, warum habt ihr das erlaubt? Du verblüffst mich, Simon des Jonas!»
«Und du, Philippus, auch du bist
hier und du, Nathanael! Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus! Du, ein
wahrer Israelit! Wie konntest du zulassen, daß dein Meister mit Zöllnern und
öffentlichen Sündern speist? Gibt es denn in Israel kein Ehrgefühl mehr?» Die
drei sind wirklich über alles entsetzt.
Jesus sagt: «Laßt meine Jünger in
Frieden! Ich habe es gewollt. Ich allein!»
«Natürlich, versteht sich. Wenn man
den Heiligen spielen will und es nicht ist, verfällt man leicht unverzeihlichen
Fehlern.»
«Und wenn man die Jünger zu
Respektlosigkeit erzieht, kann man das Gesetz nicht achten. Noch brennt in mir,
dem Pharisäer Eli, der verächtliche Spott von diesem Judäer, der zum Tempel
gehört. Er kann das Gesetz nicht achten. Man lehrt, was man weiß!»
«Du irrst, Eli... Ihr irrt euch
alle. Man lehrt das, was man weiß. Das ist wahr. Und ich, der ich das Gesetz
kenne, lehre es auch jene, die es ]nicht kennen: die Sünder! Ihr... ihr seid
schon Herren eurer Seelen. Die Sünder sind es nicht. Ich suche ihre Seele, ich
will sie ihnen zurückgeben, damit sie ihrerseits sie mir wiedergeben, so wie sie
ist: krank, verwundet, schmutzig... und ich will sie heilen und reinigen. Dazu
bin ich gekommen. Die Sünder brauchen den Erlöser. Und ich komme, sie zu
erlösen. Versteht mich recht! Haßt mich nicht ohne Grund.»
Jesus spricht überzeugend, voller
Demut und Sanftmut. Doch die drei sind wie verdorrte, stachelige Disteln... und
sie gehen mit angewidertem Gesichtsausdruck fort.
«Sie sind weg! Jetzt werden sie uns
überall kritisieren», murrt Judas Iskariot.
222
«Laß sie es tun! Handle selbst so,
daß der Vater im Himmel dich nicht zu kritisieren braucht! Sei nicht gekränkt,
Matthäus, und auch ihr nicht, seine Freunde! Das Gewissen sagt uns: "Tue nichts
Böses", und das genügt.»
Jesus kehrt zu seinem Platz zurück,
und alles ist zu Ende.
135. JESUS AUF DEM SEE VON TIBERIAS
- BELEHRUNG DER JÜNGER VOR DER STADT
Jesus und alle die Seinen - es sind
mit ihm zusammen vierzehn -befinden sich jeweils zu sieben in zwei Booten auf
dem See von Galiläa. Jesus ist mit Petrus, Andreas, Simon, Joseph und den beiden
Vettern im ersten Boot. In anderen sind die beiden Söhne des Zebedäus mit dem
Iskariot, Philippus, Thomas, Nathanael und Matthäus.
Die Boote segeln rasch dahin von
einem frischen Nordwind getrieben, der das Wasser an vielen Stellen kräuselt. Es
bildet sich so ein leichter Schaum, der wie Tüll auf dem türkisblauen, klaren
See ruht. Sie segeln nebeneinander und hinterlassen zwei Kielwasser, die sich in
einiger Entfernung mit ihrem fröhlichen Quirlen vereinigen.
Von Boot zu Boot findet eine
angeregte Unterhaltung statt. Daraus schließe ich, daß die Galiläer den Judäern
die schönsten Stellen des Sees mit ihren Handelsplätzen und den dort wohnenden
Persönlichkeiten anpreisen und die Entfernung zwischen dem Abfahrtsort
Kapharnaum und dem Ziel Tiberias nennen.
In den Booten wird nicht gefischt,
sie werden nur für den Personentransport benützt.
Jesus sitzt auf einem Brett am Bug
und erfreut sich sichtlich an der schönen Landschaft, dem Schweigen ringsum, dem
herrlichen Blau des Himmels und des Sees, der von einem grünen Ufer umsäumt ist,
wo da und dort weiße Dörfer eingebettet sind. Jesus hört nicht auf die Gespräche
der Jünger. Er hat sich jetzt auf ein Bündel Segel gelegt und schaut ab und zu
in den blauen Spiegel des Sees, als wolle er erforschen, was in diesem klaren
Wasser alles lebt. Wer weiß, woran er denkt? Petrus fragt ihn zweimal, ob die
Sonne ihn störe, die nun bereits im Osten voll aufgegangen und schon ziemlich
wärmt. Ein anderes Mal fragt er Jesus, ob er wie die anderen etwas Brot und Käse
haben möchte. Doch Jesus wünscht nichts, weder Sonnenschutz noch Brot. So läßt
Petrus ihn in Ruhe.
Eine Gruppe kleiner Barken, die zu
Unterhaltungsfahrten auf dem See dienen, mit purpurnen Baldachinen und Polstern
ausgestattet, schneidet den Fischerbooten den Weg. Man hört singen, lachen und
riecht Wohlgerüche. Die Luxusboote sind voll schöner Frauen, fröhlicher Römer
und
223
Palästinenser; die Römer sind
sicher in der Mehrzahl; neben den Einheimischen befinden sich auch einige
Griechen. Dies entnehme ich aus den Worten eines mageren, wendigen Jünglings,
dessen Hautfarbe dunkel wie eine reife Olive ist. Er trägt ein kurzes rotes
Gewand, das mit einer reichen griechischen Borte gesäumt ist und in der Taille
von einem Gürtel gehalten wird, einem Meisterwerk der Goldschmiedekunst. Er
sagt: «Hellas ist schön, doch mein olympisches Vaterland hat nicht dieses Blau
und diese Blumen. Daher wundert es mich nicht, daß die Göttinnen meine Heimat
verlassen haben und hierher gekommen sind. Überschütten wir die Göttinnen, nicht
mehr die griechischen, sondern die jüdischen, mit Blumen, Rosen und
Huldigungen...» und er streut über die Frauen seines Bootes herrliche
Rosenblätter und wirft auch in die anderen Boote solche. Ein Römer bemerkt:
«Streue nur, streue nur, Grieche! Doch Venus ist bei mir. Ich entblättere nicht:
ich pflücke mir die Rosen von diesem schönen Munde. Das ist süßer!» und er neigt
sich nieder, um Maria von Magdala auf den zum Lachen geöffneten Mund zu küssen.
Sie liegt auf den Polstern und hat ihr blondes Haupt in den Schoß eines Römers
gelegt.
Nun sind die Boote nahe
beieinander, und, ob aus Unachtsamkeit der Schiffer oder wegen des Spiels des
Windes, es erfolgt beinahe ein Zusammenstoß... «Paßt auf, wenn euch das Leben
lieb ist!» schreit Petrus wütend, während er abdreht und mit einer Stange
abwehrt, um den Zusammenstoß zu vermeiden. Schimpfwörter der Männer und
Schreckensrufe der Frauen fliegen von Boot zu Boot. Die Römer beleidigen die
Galiläer. «Paßt doch auf, ihr hebräischen Hunde!» Petrus und die anderen
Galiläer lassen sich die Beleidigungen nicht gefallen, und besonders Petrus, rot
wie ein Hahnenkamm, steht aufgerichtet am Rand des Bootes, das stark ins
Schwanken gerät, und antwortet, die Hände in die Hüften gestemmt, Schlag auf
Schlag, ohne Römer, Griechen, Hebräer oder Hebräerinnen zu schonen. Er widmet
ihnen eine ganze Reihe wenig ehrenvoller Bezeichnungen, die ich lieber nicht
niederschreibe. Dieses Hin- und Hergeschimpfe dauert solange, bis die Ruder und
Stangen sich entwirrt haben, und jede Barke auf ihrem Weg weiterziehen kann.
Jesus hat seine Stellung nicht
gewechselt. Er ist ruhig liegengeblieben, ohne auf die Worte, die Schiffe oder
deren Insassen zu achten. Auf einen Ellbogen gestützt, hat er ohne Unterbrechung
auf den weiten Wasserspiegel geschaut, als ob um ihn herum nichts geschehe. Es
wird ihm eine Blume zugeworfen. Ich weiß nicht, von wem... bestimmt von einer
Frau, denn ich höre ein weibliches Lachen diesen Wurf begleiten. Doch er rührt
sich nicht. Die Blume trifft ihn beinahe ins Gesicht, fällt auf die Bretter und
beendet ihre Reise zu Füßen des wütenden Petrus.
Als die Boote sich entfernen, sehe
ich, daß Magdalena aufsteht und mit ihrem Blick dem weisenden Finger eines
Gefährten des Lasters folgt, bis
224
ihre herrlichen Augen am
abgeklärten Gesicht des fernen Jesus haften bleiben. Wie weit entfernt von der
Welt ist dieses Antlitz! ...
«Sag, Simon», fragt Iskariot, «du,
der du Judäer bist wie ich, antworte mir: ist diese wunderschöne Blonde auf der
Brust des Römers, die sich erhoben hat, nicht die Schwester des Lazarus von
Bethanien?»
«Keine Ahnung», entgegnet Simon der
Zelote trocken. «Ich bin erst vor kurzem unter die Lebenden zurückgekehrt, und
diese Frau ist jung...»
«Du wirst mir doch nicht weismachen
wollen, daß du Lazarus von Bethanien nicht kennst! Ich weiß genau, daß ihr
befreundet seid und daß du mit dem Meister dort gewesen bist.»
«Und wenn auch?»
«Und weil es so ist, sage ich, mußt
du auch die Sünderin kennen, die Schwester des Lazarus. Alle kennen sie. Schon
seit zehn Jahren macht sie von sich reden. Sie hat schon, kaum reif geworden,
ein leichtes Leben begonnen. Doch nun seit vier Jahren! Der Skandal kann dir
nicht unbekannt sein, auch wenn du im Tal des Todes gewesen bist. Ganz Jerusalem
sprach davon. Und Lazarus hat sich damals nach Bethanien zurückgezogen... Er hat
übrigens gut daran getan. Niemand hätte mehr einen Fuß in den herrlichen Palast
auf Zion gesetzt, wo sie ein- und ausging. Ich meine damit: niemand, der heilig
ist. Auf dem Lande... weiß man... Und übrigens ist sie nun überall, nur nicht in
ihrem Hause... Jetzt wird sie wohl in Magdala sein; mit einem neuen Liebhaber.
Du antwortest nicht? Willst du mich Lügen strafen?»
«Ich leugne nicht, ich schweige.»
«Dann ist sie es also doch! Auch du
hast sie erkannt.»
«Ich sah sie, als sie noch ein
reines Mädchen war. Ich sehe sie nun wieder. Und ich erkenne sie wieder; obwohl
sie schamlos geworden ist, sieht sie ihrer Mutter ähnlich, die eine Heilige
war.»
«Und warum hast du dann beinahe
geleugnet, daß sie die Schwester deines Freundes ist?»
«Unsere Wunden und die Wunden
jener, die wir lieben, suchen wir zu verdecken. Besonders, wenn wir ehrbar
sind.»
Judas lacht wütend.
«Du sagst es gut, Simon. Und du
bist ehrbar», bemerkt Petrus.
«Und auch du hast sie
wiedererkannt? Bestimmt gehst auch du nach Magdala, um dort deine Fische zu
verkaufen, und wer weiß, wie oft du sie gesehen hast!»
«Bursche, merke dir eines: wenn die
Nieren todmüde von einer ehrlichen Arbeit sind, dann sind die Frauen Nebensache.
Man liebt nur das ehrsame Bett der eigenen Ehefrau.»
«Bah, schöne Dinge gefallen allen.
Wenigstens betrachtet man sie.»
«Warum denn? Um dann zu sagen: "Das
ist keine Nahrung für deinen Tisch?" Nein, weißt du ... der See und das Handwerk
haben mich
225
manches gelehrt, und eines davon
ist dieses: der Süßwasserfisch kann im Salzwasser und den Wirbeln der Oberfläche
nicht leben.»
«Was willst du damit sagen?»
«Ich will damit sagen, daß jeder an
seinem Platze bleiben muß, um nicht auf böse Weise umzukommen.»
«Wollte denn Magdalena dich
umbringen?»
«Nein. Ich habe ein dickes Fell.
Aber sag mir: fühlst du dich vielleicht nicht wohl?»
«Oh, ich habe sie nicht einmal
angesehen.»
«Lügner! Ich wette, daß es dich
gewurmt hat, nicht auf dem ersten Boot und so ihr näher zu sein... Du hättest
sogar mich ertragen, um ihr nahe zu sein. Die Wahrheit meiner Worte wird dadurch
bestätigt, daß du ihretwegen mir die Ehre gibst, nach vielen Tagen wieder mit
mir zu sprechen.»
«Ich? Wenn du nicht da gewesen
wärest, hätte niemand sie gesehen! Sie hat fortwährend den Meister angeblickt.»
«Ha, ha, ha... und dann sagst du,
daß du nicht nach ihr geschaut hast! Wie könntest du bemerken, wohin sie schaut,
wenn du deine Augen nicht auf sie gerichtet hieltest?»
Alle lachen bei dieser Bemerkung
des Petrus, außer Judas, Jesus und dem Zeloten.
Jesus setzt der Diskussion, der er,
wie es schien, nicht zugehört hatte, ein Ende; er fragt Petrus: «Ist dies hier
Tiberias ?»
«Ja, Meister, ich werde nun
anlegen.»
«Warte! Kannst du das Boot in die
ruhige Bucht dort steuern? Ich möchte nur mit euch reden.»
«Ich werde den Grund prüfen und
kann es dir dann sagen.» Petrus nimmt eine lange Stange und fährt langsam zum
Ufer. «Es ist möglich, Meister. Soll ich noch näher zum Ufer hin?»
«Soweit als möglich. Da ist
Schatten und Einsamkeit. Das gefällt mir.»
Petrus nähert sich bis auf etwa
fünfzehn Meter dem Ufer. «Bald würde ich den Grund berühren.»
«Dann halte an! Ihr anderen kommt
so nahe als möglich zu uns und hört mir zu!»
Jesus verläßt seinen Platz und
setzt sich in die Mitte des Bootes auf eine Bank, die von einem Bootsrand zum
anderen reicht. Vor ihm ist das andere Boot, und um ihn herum die Insassen
seines Bootes.
«Hört! Ihr denkt wohl, ich schließe
mich zeitweilig von euren Gesprächen aus und bin ein fauler Lehrer, der nicht
auf seine Schüler achtet. Ihr müßt wissen, daß meine Seele euch keinen
Augenblick allein läßt. Habt ihr noch nie einen Arzt gesehen, der einen Kranken
beobachtet, dessen Krankheit noch keinen Namen hat, da die Symptome so
gegensätzlich sind? Er behält ihn im Auge, nachdem er ihn untersucht hat, und
beobachtet ihn,
226
wenn er schläft und wenn er wach
ist, morgens und abends, beim Schweigen und beim Reden; denn alles kann ein
wertvolles Merkmal sein, um den verborgenen Krankheitserreger zu entdecken und
die richtige Behandlung zu finden. Ich mache es mit euch ebenso. Ich halte euch
an unsichtbaren, doch fühlbaren Fäden, die in mir befestigt sind und mir die
leisesten Regungen eures Ichs übertragen. Ich lasse euch im Glauben, von mir
unbeachtet und frei zu sein, damit ihr euch immer mehr als das, was ihr seid,
offenbart; wie ein Schüler oder ein Irrer, die meinen, ohne Aufsicht zu sein.
Ihr seid eine Gruppe von Personen, doch ihr bildet einen Kern, also eine einzige
Sache. Daher seid ihr ein Ganzes, also eine Gemeinschaft, die in all ihren mehr
oder weniger guten Merkmalen studiert werden muß, um geformt, verbunden,
vereinheitlicht und abgerundet und so zu etwas Vollkommenem zu werden. Daher
beobachte ich euch. Und ich beobachte euch auch, während ihr schlaft.
Was seid ihr? Was soll aus euch
werden? Ihr seid das Salz der Erde. Ihr sollt zum Salz der Erde werden. Mit dem
Salz wird das Fleisch, ebenso wie andere Erzeugnisse, vor dem Verderben bewahrt.
Doch kann das Salz salzen, wenn es schal ist? Mit euch will ich die Welt salzen,
um ihr himmlischen Geschmack zu verleihen. Doch wie könnt ihr salzen, wenn euer
Salz seine Kraft verliert?
Was verursacht den Verlust des
himmlischen Geschmackes? Das, was menschlich ist. Das Wasser des Meeres, des
wahren Meeres, ist nicht gut zum Trinken, denn es ist zu salzig, nicht wahr?
Wenn jedoch jemand eine Tasse Meerwasser nimmt und sie in ein Faß Trinkwasser
schüttet, dann kann man es trinken, weil es nun so verdünnt ist, daß es seine
Schärfe verloren hat. Die Menschheit ist wie Süßwasser, das sich mit eurem
himmlischen Salz vermischen soll. Angenommen, daß ein Zufluß von Meerwasser in
diesen See gelangt, wärt ihr dann in der Lage, dieses Salzwasser wieder von dem
süßen zu trennen? Nein, denn es wäre im Süßwasser aufgelöst. So wird es mit euch
sein, wenn ihr eure Mission eingießt. Ihr seid Menschen, ja, das weiß ich. Doch
wer bin ich? Ich bin der, in dem alle Kraft ist. Und was tue ich? Ich teile euch
diese Kraft mit, denn ich habe euch berufen. Doch was nützt es, wenn ich euch
diese Kraft übertrage und ihr sie dann unter den Lawinen der Sinne und der
menschlichen Gefühle begrabt?
Ihr seid, ihr müßt das Licht der
Welt sein! Ich habe euch auserwählt, ich, das Licht Gottes unter den Menschen,
um mein Werk der Erleuchtung der Welt fortzusetzen, wenn ich zum Vater
zurückgekehrt bin. Aber könnt ihr Licht spenden, wenn ihr erloschene oder
rauchende Laternen seid? Nein, im Gegenteil, mit eurem Rauch - der schleichende
Rauch ist schlimmer als das völlige Erlöschen des Dochtes - würdet ihr den
schwachen Lichtschein eines Herzens verdunkeln. Oh, Arme sind es, die sich auf
der Suche nach Gott an Apostel wenden und anstelle des Lichtes
227
Rauch finden. Ärgernis und Tod ist
für sie die Folge. Die unwürdigen Apostel werden Unsegen und Bestrafung
verdienen. Eine großartige Bestimmung ist euch beschieden. Aber damit auch eine
große, furchtbare Verantwortung! Denkt daran, daß von dem, dem viel gegeben
worden ist, auch viel verlangt wird. Und euch ist das Höchstmaß an Belehrung und
an Gnade gegeben worden. Ihr werdet von mir, dem Wort Gottes, unterrichtet und
erhaltet von Gott die Gabe, die "Jünger" zu sein; die also, welche das Werk des
Sohnes Gottes fortsetzen müssen.
Ich möchte, daß ihr immer über
diese eure Erwählung nachdenkt, daß ihr euch überprüft... und wenn einer sich
fähig glaubt, treu zu sein - ich will nicht einmal sagen, wenn einer sich nur
als Sünder und Unbußfertiger fühlt, ich sage nur, wenn einer glaubt, mir treu
sein zu können - doch in sich nicht den Antrieb spürt, Apostel zu sein, dann
soll er sich zurückziehen. Die Welt ist für ihre Liebhaber groß, schön,
vielfältig und abwechslungsreich. Sie bietet alle Blumen und alle Früchte für
Leib und Sinne. Ich biete nur das Eine: die Heiligkeit. Sie ist auf der Erde die
armseligste, dornenreichste, die heftigst verfolgte Angelegenheit. Im Himmel
wandelt sich jedoch ihre Armseligkeit in Herrlichkeit, ihre Armut in Reichtum,
ihre Dornen in einen blumigen Teppich, ihre Schwierigkeiten in einen ebenen,
angenehmen Pfad und ihr Verfolgtsein in Friede und Glückseligkeit. Doch auf
Erden braucht es Heldenmut, um heilig zu sein. Ich kann euch nur dies anbieten.
Wollt ihr also bei mir bleiben,
oder denkt ihr, nicht fähig dazu zu sein? Oh, schaut euch nicht verwundert und
leidvoll an! Ihr werdet mich noch öfters diese Frage an euch richten hören. Und
wenn ihr sie hört, dann denkt daran, daß mein Herz dabei weint; denn es ist
verwundet von eurer Schwerhörigkeit der Berufung gegenüber. Prüft euch also und
urteilt dann ehrlich und aufrichtig und entschließt euch! Um nicht verstoßen zu
werden, entschließt euch! Sagt: "Meister, Freunde, ich erkenne, daß ich für
diese Aufgabe nicht geeignet bin. Ich gebe euch den Abschiedskuß und sage euch:
Betet für mich!" Das ist besser, als Verrat zu üben. Besser ist es so...
Was sagt ihr? Wen verraten? Wen?
Mich! Meine Aufgabe, also die Sache Gottes; denn ich bin eins mit dem Vater und
mit euch. Ja, ihr würdet verraten. Die Seele würdet ihr verraten und sie Satan
überlassen. Wollt ihr Hebräer bleiben? Ich zwinge euch nicht zu wechseln. Aber
seid keine Verräter! Verratet nicht eure Seele, Christus und Gott! Ich schwöre
euch, daß weder ich noch die an mich Glaubenden euch kritisieren noch der
Verachtung der Glaubenden preisgeben werden. Vor kurzem hat einer von euch
Brüdern ein großes Wort gesprochen: "Unsere Wunden und die Wunden derjenigen,
die wir lieben, müssen wir zu verbergen suchen." Und wer sich trennen würde,
wäre eine Wunde, ein Geschwür, das sich in unserem apostolischen Organismus
bilden, sich öffnen und eine schmerzende Narbe hinterlassen würde, die wir unter
allen Umständen verbergen müßten.
228
Nein, weint nicht, ihr Besten!
Weint nicht! Ich trage euch nichts nach und bin auch nicht unduldsam, wenn ich
euch so schwerfällig finde. Ihr seid erst vor kurzem angenommen worden, und ich
kann nicht verlangen, daß ihr schon vollkommen seid. Ich verlange dies nicht
einmal nach Jahren von euch, nachdem ich Hunderte von Malen vergeblich dasselbe
gesagt haben werde. Im Gegenteil, hört: nach einigen Jahren werdet ihr weniger
eifrig sein als jetzt, da ihr noch Neubekehrte seid. Das Leben ist so; die
Menschheit ist so. Sie verliert nach dem ersten Anlauf den Schwung. Aber (Jesus
steht plötzlich auf) ich schwöre euch, daß ich siegen werde. Gereinigt durch
natürliche Auslese, gestärkt durch übernatürliche Arznei, werdet ihr Besten
meine Helden, die Helden Christi, die Helden des Himmels. Die Macht der Caesaren
wird Staub im Vergleich zum Königtum eures Priestertums sein. Ihr, arme Fischer
von Galiläa, ihr unwissenden Juden, Unbekannte in der gegenwärtigen
Menschenmenge, ihr werdet bekannter, mehr bewundert und geehrt werden als
Caesar; ja als alle Herrscher, die die Erde hatte und haben wird. Ihr werdet in
einer nahen Zukunft und in den entferntesten Jahrhunderten bis an das Ende der
Welt bekannt und gesegnet sein.
Zu dieser hohen Bestimmung erwähle
ich euch. Ihr seid ehrlich im Willen. Und daher seid ihr auch befähigt. Ich gebe
euch also die wesentlichen Richtlinien für euer Aposteldasein.
Seid immer wachsam und bereit. Eure
Hüften sollen immer gegürtet und eure Lampen angezündet sein, wie bei jenen, die
von einem Augenblick zum anderen abreisen oder einem Ankommenden entgegeneilen
müssen. Ihr werdet, bis der Tod euch daran hindert, die unermüdlichen Pilger auf
der Suche nach Irrenden sein, und bis der Tod sie auslöscht, müßt ihr eure Lampe
hochhalten, und sie muß brennen, um denen den Weg zu weisen, die zum Schafstalle
Christi kommen.
Ihr müßt dem Herrn treu bleiben,
der euch zu diesem Dienst berufen hat. Der Diener, den der Herr immer bereit
findet und den der Tod im Stand der Gnade überrascht, wird reich belohnt werden.
Ihr könnt und ihr dürft nicht sagen: "Ich bin jung. Ich habe Zeit, dies oder
jenes zu tun, und dann werde ich an den Herrn, an den Tod und an meine Seele
denken." Es sterben die Jungen wie die Alten, die Starken wie die Schwachen. Und
dem Angriff der Versuchung sind Alte und Junge, Starke und Schwache
gleicherweise ausgesetzt. Bedenkt: die Seele kann vor dem Körper sterben, und
ihr könnt, ohne es zu wissen, eine verwesende Seele in euch herumtragen. Das
Sterben einer Seele ist so unauffällig! Wie der Tod einer Blume. Kein Aufschrei,
kein Aufbäumen! Sie neigt nur ihre Flamme wie ein welker Blumenkelch und
erlischt. Viel, viel später erst bemerkt der Körper, daß er einen verwurmten
Kadaver mit sich herumschleppt, und wird wahnsinnig ob des Schreckens und tötet
sich selbst, um dieser Gemeinschaft zu entfliehen. Aber er kann ihr nicht
229
entfliehen; er fällt mit seiner
Seele voller Würmer auf ein Schlangennest in der Hölle!
Seid nicht unehrlich wie Makler
oder Anwälte, die für zwei klagende Klienten Partei ergreifen! Seid nicht falsch
wie die Politiker, die "Freund" zu diesem und zu jenem sagen und dabei
erbitterte Feinde der beiden sind. Versucht nicht, auf zweierlei Art zu handeln!
Man spottet nicht über Gott und täuscht ihn nicht! Geht um mit den Menschen wie
ihr mit Gott umgeht; denn eine Menschen zugefügte Beleidigung ist eine Gott
zugefügte Beleidigung. Macht, daß Gott euch so sieht, wie ihr von den Menschen
gesehen werden wollt.
Seid demütig! Ihr könnt eurem
Meister nicht vorwerfen, daß er nicht demütig sei. Ich gebe euch ein Beispiel.
Handelt so wie ich! Seid demütig, sanft und geduldig! Nur damit gewinnt man die
Welt für sich. Nicht mit Gewalt und Kraft. Seid hart und unerbitterlich mit
euren Fehlern! Reißt sie aus, auch auf Kosten herzzerreißender Leiden. Vor
einigen Tagen sagte ich zu euch, ihr sollt auch über eure Blicke wachen. Doch
ihr wißt nicht, wie man das tut. Ich sage euch: es wäre besser, blind zu werden
und sich die begierigen Augen auszureißen als unkeusch zu werden.
Seid aufrichtig! Ich bin die
Wahrheit. In den himmlischen wie auch in den menschlichen Dingen. Ich will, daß
auch ihr ehrlich seid. Warum mich oder die Freunde oder den Nächsten täuschen?
Warum betrügerisch spielen? Warum? Stolz wie ihr seid, habt ihr doch nicht genug
Stolz, um zu sagen: "Ich will nicht als Lügner ertappt werden."
Seid auch Gott gegenüber ehrlich!
Glaubt ihr, daß ihr ihn hintergehen könnt mit langen, wohlklingenden Gebeten?
Oh, ihr armen Kinder! Gott sieht in das Herz!
Seid zurückhaltend, wenn ihr Gutes
tut! Auch beim Almosengeben kann man schamhaft sein. Ein Zöllner hat es
verstanden, schon vor seiner Bekehrung. Und ihr sollt nicht fähig dazu sein? Ja,
ich lobe dich, Matthäus, für deine wöchentliche verborgene Opfergabe, deren
Herkunft nur ich und der Vater gekannt haben, und ich nenne dich als Beispiel.
Auch dies ist eine Art Schamhaftigkeit, Freunde! Entblößt eure Güte nicht, wie
ihr auch eine jugendliche Tochter vor einer Menschenmenge nicht entblößen
würdet. Seid jungfräulich, wenn ihr Gutes tut. Eine gute Tat ist jungfräulich,
wenn sie frei ist vom Verlangen nach Lob und Achtung und nicht zum Hochmut
führt.
Seid treue Verlobte eurer Berufung
zu Gott! Ihr könnt nicht zwei Herren dienen. Das Brautbett kann nicht zwei
Bräute gleichzeitig aufnehmen. Gott und Satan können sich nicht in eure Umarmung
teilen. Der Mensch kann es nicht, und weder Gott noch Satan können eine
dreifache Umarmung unter drei Wesen aufteilen, die in Gegensatz zu einander
stehen. Seid frei von der Gier nach Gold wie von der Gier des Fleisches und der
Gier nach Macht! Satan bietet euch dies an. Oh, seine lügnerischen Reichtümer!
230
Ehren, Erfolg, Macht, Überfluß:
trügerischer Handel, dessen Geld eure Seele ist. Begnügt euch mit wenig. Gott
gibt euch das Nötige. Das genügt. Das sichert er euch zu, wie er es dem Vogel in
der Luft zusichert, und ihr seid doch viel, viel mehr als ein Vogel. Doch er
verlangt von euch Vertrauen und Genügsamkeit. Wenn ihr Vertrauen habt, dann wird
er euch nicht enttäuschen. Wenn ihr mäßig seid, wird seine tägliche Zuwendung
euch genügen.
Seid keine Heiden, die nur dem
Namen nach Gott gehören! Heiden lieben das Geld und die Macht mehr als Gott, um
als Halbgötter erscheinen zu können. Seid Heilige, und ihr werdet in Ewigkeit
Gott ähnlich sein.
Seid nicht unduldsam! Alle seid ihr
Sünder; seid daher zu den anderen so, wie ihr wünscht, daß sie zu euch seien:
also, voll Mitleid und Vergebung.
Richtet nicht! Oh, richtet nicht!
Seit kurzem erst seid ihr mit mir zusammen, und doch seht ihr, wie oft ich
schon, obgleich unschuldig, falsch beurteilt, wegen nicht begangener Sünden
angeklagt worden bin. Falsches Urteil ist Beleidigung. Nur wer wahrhaft heilig
ist, vergilt nicht Beleidigung mit Beleidigung. Darum vermeidet die Beleidigung,
um nicht beleidigt zu werden. Ihr werdet so weder gegen die Nächstenliebe noch
gegen die heilige, liebe, sanfte Demut fehlen, die zusammen mit der Keuschheit
die Feindin Satans ist. Verzeiht, verzeiht immer! Sagt: "Ich verzeihe, Vater,
damit mir von dir meine zahllosen Sünden vergeben werden."
Bessert euch von Stunde zu Stunde,
mit Geduld, Ausdauer und Heldentum. Wer sagt euch, daß das Gutwerden nicht
mühevoll sei? Ich sage euch: es ist die größte aller Mühen. Doch der Lohn ist
der Himmel, und er ist dieser Mühe wert.
Und liebt! Oh, welche Worte soll
ich gebrauchen, um euch von der Notwendigkeit der Liebe zu überzeugen? Kein Wort
ist gut genug, euch zu ihr zu bekehren, arme Menschen, die Satan aufhetzt. Und
daher sage ich: "Vater, beschleunige die Stunde der Reinigung! Diese Erde und
diese deine Herde sind ausgetrocknet und krank. Doch es gibt einen Tau, der sie
lockern und heilen kann. Öffne, öffne die Quelle! Öffne mich, mich! Hier bin
ich, Vater. Ich brenne darauf, deinen Wunsch, der meiner und der Wunsch der
Ewigen Liebe ist, zu erfüllen. Vater, Vater, Vater! Sieh dein Lamm, und sei du
sein Opferpriester!"»
Jesus ist wirklich vom Geiste
erfüllt. Aufrecht stehend, mit in Kreuzesform ausgebreiteten Armen, das Gesicht
zum Himmel erhoben, im Hintergrund das Blau des Sees... so gleicht er in seinem
hellen Leinenkleid einem betenden Erzengel.
Damit endet meine Schau.
231
136. JESUS SUCHT JONATHAN IM HAUSE
CHUZAS, IN TIBERIAS
Ich sehe die schöne, neue Stadt
Tiberias. Alles gibt mir zu erkennen, daß sie neu und reich ist: der regelmäßige
Aufbau, ordentlicher als bei anderen palästinensischen Städten, und die
harmonische und planmäßige Aufmachung, wie sie selbst Jerusalem nicht hat.
Schöne, gerade Straßen, schon mit Ablaufgräben versehen, damit sich das Wasser
und der Schmutz nicht auf der Straße staue; weite Plätze mit Brunnen, die
schönsten mit breiten Marmorbecken; die Paläste schon in römischem Stil, mit
luftigen Säulengängen. Durch einige in dieser Morgenstunde schon geöffnete
Portale sieht das Auge weite Lauben und marmorne Säulenhöfe, mit wertvollen
Teppichen dekoriert und mit Sesseln und Tischen ausgestattet. Fast alle Lauben
haben einen Marmorboden und einen Springbrunnen in der Mitte und Marmorvasen mit
herrlich blühenden Blumen.
Alles in allem, eine Nachahmung
römischer Architektur, die im großen und ganzen recht gut gelungen ist. Die
schönsten Häuser sind in den Straßen, die dem See am nächsten sind. Die ersten
drei Straßen, die parallel zum See verlaufen, sind wirklich herrschaftlich. Die
erste, die längs der sanften Bucht des Sees verläuft, ist sogar prunkvoll. Ihr
letzter Teil ist eine Folge von Villen, deren Haupteingang sich in der
Parallelstraße befindet und die zum Wasser hin große Gärten haben, die bis ans
Ufer reichen. Fast alle haben einen kleinen Anlegesteg, an dem Vergnügungsboote
mit kostbaren Baldachinen und purpurnen Sitzplätzen befestigt sind.
Es scheint, daß Jesus das Boot des
Petrus nicht im Hafen von Tiberias, sondern an einem anderen Ort, vielleicht
einem Vorort, verlassen hat, denn er kommt auf der Uferstraße daher.
«Bist du noch nie in Tiberias
gewesen, Meister?» fragt Petrus.
«Nie.»
«Nun, Antipas hat seine Sache gut
gemacht, und im großen Stil, um Tiberius zu schmeicheln. Für Geld macht er, was
man verlangt ...»
«Es scheint mehr eine Stadt der
Ruhe und des Vergnügens als eine Handelsstadt zu sein.»
«Der Handel befindet sich auf der
anderen Seite. Es wird hier viel Handel getrieben. Eine reiche Stadt!»
«Und diese Häuser? Wohnen hier
Palästinenser?»
«Ja und nein. Viele gehören Römern,
doch viele, ja leider, auch wenn sie mit Statuetten und anderen Verrücktheiten
angefüllt sind, gehören Hebräern.» Petrus seufzt und murrt: «Wenn sie uns
wenigstens mit der Unabhängigkeit nicht auch den Glauben genommen hätten! ...
Wir sind dabei, zu größeren Heiden zu werden, als sie selbst es sind...»
«Nicht durch ihre Schuld, Petrus.
Sie haben ihre Gebräuche, und sie
232
zwingen uns nicht, sie zu den
unseren zu machen. Wir sind es, die sich selbst verderben wollen. Aus Eigennutz,
aus Mode, aus Dienerei...»
«Du sagst es gut. Doch der erste
ist der Tetrarch...»
«Meister, wir sind angekommen»,
sagt der Hirte Joseph. «Hier ist das Haus des Intendanten des Herodes.»
Sie halten am Ende einer Straße an,
wo sich diese teilt und eine neue Straße bildet, während die Villen zwischen
ersterer und dem See liegen. Das bezeichnete Haus ist das erste, schönste, ganz
in einen blühenden Garten gebettet. Die Düfte und die Sträucher von Jasmin und
Rosen reichen bis zum See hinunter.
«Und hier wohnt Jonathan?»
«So hat man mir gesagt. Er ist der
Verwalter des Verwalters. Er hat es gut getroffen. Chuza ist nicht böse, und er
anerkennt die Verdienste seines Verwalters. Er ist einer der wenigen am Hofe,
die ehrlich sind. Soll ich ihn rufen?»
«Geh!»
Joseph geht zum hohen Portal und
klopft an.
Der Pförtner kommt herbei. Sie
unterhalten sich. Ich sehe, daß Joseph eine ablehnende Haltung einnimmt, und daß
der Pförtner seinen grauen Kopf herausstreckt, Jesus betrachtet und dann Joseph
eine Frage stellt, worauf dieser nickt. Sie sprechen noch eine Weile
miteinander.
Dann nähert sich Joseph Jesus, der
geduldig im Schatten eines Baumes gewartet hat. «Jonathan ist nicht da. Er ist
im hohen Libanon. Er hat Johanna des Chuza dorthin gebracht, die sehr krank ist
und sich in der frischen Höhenluft erholen soll. Der Diener sagt, Jonathan hätte
die Frau deshalb selbst begleitet, weil Chuza am Hofe Dienst hat und nicht
abkommen kann, jetzt nach dem Skandal der Flucht des Johannes des Täufers. Die
Kranke wurde immer kränker, und der Arzt hat erklärt, daß sie hier gestorben
wäre. Der Pförtner hat noch gesagt, du sollst kommen und dich ausruhen. Jonathan
hat vom Messias-Kinde gesprochen, und auch hier bist du mit Namen bekannt und
wirst erwartet.»
«Laßt uns gehen!»
Die Gruppe setzt sich in Bewegung.
Der Pförtner hat aufgepaßt und ruft nun andere Diener herbei, die das bis dahin
verschlossene Tor weit öffnen; er nähert sich Jesus mit großer Achtung und sagt:
«Gieße, o Herr, deinen Segen über uns und dieses traurige Haus. Tritt ein! Oh,
wie wird es Jonathan leid tun, nicht hier gewesen zu sein. Seine große Hoffnung
war: dich sehen zu dürfen. Komm herein, komm herein, und mit dir deine Freunde.»
In der Vorhalle stehen Diener und
Dienerinnen jeglichen Alters. Alle grüßen sehr respektvoll, sind aber auch
sichtlich neugierig. Eine Greisin sitzt weinend in einer Ecke. Jesus tritt ein
und segnet mit seiner Geste und seinem Friedensgruß. Es werden Erfrischungen
angeboten. Jesus setzt
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sich auf einen Stuhl, die anderen
um ihn herum. «Ich sehe, daß ich hier nicht unbekannt bin», bemerkt Jesus.
«Oh, Jonathan hat uns im Andenken
deiner Geschichte erzogen. Jonathan ist sehr gut. Er sagt, er sei nur so, weil
der Kuß, den er dir gegeben hat, ihn so gemacht hat. Doch er ist auch von Natur
aus gut.»
«Ich habe Küsse gegeben und
empfangen... doch, wie du sagst, nur in den Guten vermehren sie die Güte. Nun
ist er abwesend? Ich bin seinetwegen gekommen.»
«Ich habe es gesagt: er ist im
Libanon. Er hat dort Freunde... Es ist die letzte Hoffnung für die junge Herrin,
und wenn es nichts nützt...»
Die Greisin in der Ecke weint
stärker. Jesus sieht fragend nach ihr.
«Es ist Esther, die Amme der
Herrin. Sie weint, weil sie sich nicht damit abfinden kann, sie zu verlieren.»
«Komm, Mutter, weine nicht mehr!»
lädt Jesus sie ein. «Komm hierher zu mir. Es ist nicht gesagt, daß Krankheit
gleich Tod bedeutet.»
«Oh, es ist der Tod, der Tod! Seit
sie diese Fehlgeburt hatte, stirbt sie langsam dahin. Die Ehebrecherinnen haben
geheime Geburten und leben, und sie, die so gut, ehrbar und lieb, so lieb ist,
muß sterben.»
«Woran leidet sie eigentlich?»
«An Fieber, das sie verzehrt... Sie
ist wie eine Lampe, die bei starkem Wind, der jeden Tag stärker wird, brennt,
während sie immer schwächer wird. Oh, ich wollte mit ihr gehen. Doch Jonathan
mußte jüngere Diener haben; denn sie ist kraftlos und muß getragen werden, und
ich bin selbst nichts mehr wert, nicht mehr fähig, das zu tun, nein; doch fähig,
sie zu lieben... Ich habe sie von der Mutterbrust an die meine genommen; ich war
selbst eine junge verheiratete Dienerin und hatte einen Sohn, gerade einen Monat
alt... und ich habe beiden Milch gegeben, denn die Mutter war zu schwach. Ich
vertrat die Mutter, als das Kind Waise wurde, da es kaum erst "Mama" sagen
konnte. Ich wurde grau und runzelig, während ich über ihre Krankheiten wachte...
Ich habe sie als Braut gekleidet und ihrer Mutterhoffnung zugelächelt. Ich habe
über das totgeborene Kind geweint. All mein Lächeln und den Trost meiner Liebe
habe ich ihr geschenkt, und nun stirbt sie, und ich bin fern...» Die Alte
erweckt Mitleid.
Jesus streichelt sie, doch sie
achtet nicht darauf. «Höre, Mutter! Kannst du glauben?»
«An dich? Ja!»
«An Gott, Frau. Kannst du glauben,
daß Gott alles vermag?»
«Ich glaube, und ich glaube, daß du
sein Messias, es kannst. Oh, man spricht schon in der Stadt von deiner Macht.
Dieser Mann dort (sie weist auf Philippus) sprach vor einiger Zeit in der
Synagoge von deinen Wundern. Und Jonathan fragte ihn: "Wo ist der Messias?", und
er antwortete: "Ich weiß es nicht." Jonathan sagte mir dann: "Wenn er hier wäre,
ich
234
schwöre es dir, dann könnte sie
geheilt werden." Doch du warst nicht hier; und nun ist er mit ihr
fortgegangen... und sie wird sterben...»
«Nein, habe Glauben! Sag mir, was
du in deinem Herzen hast: kannst du glauben, daß sie dank deines Glaubens nicht
sterben wird?»
«Dank meines Glaubens? Oh, wenn du
diesen willst, nimm ihn! Auch mein Leben kannst du haben, mein altes Leben...
Laß mich sie nur geheilt sehen!»
«Ich bin das Leben, und ich gebe
das Leben und nicht den Tod. Du hast ihr einst mit deiner Milch das Leben
gerettet; es war nur ein armes Leben, das ein Ende hat. Nun gibst du ihr mit
deinem Glauben ein ewiges Leben. Freue dich, Mutter!»
«Doch sie ist nicht hier!» In der
Alten kämpfen Hoffnung und Angst. «Du bist nun hier, und sie ist nicht hier!»
«Hab Vertrauen! Höre: ich gehe nun
für einige Tage nach Nazareth. Ich habe dort auch einige kranke Freunde...
Darauf begebe ich mich in den Libanon. Wenn Jonathan innerhalb von sechs Tagen
zurückkehrt, dann sende ihn nach Nazareth zu Jesus des Joseph. Wenn er nicht
kommt, suche ich sie auf.»
«Wie wirst du ihn finden?»
«Der Erzengel des Tobias wird mich
führen. Du stärke dich im Glauben! Ich verlange nur dies von dir. Weine nicht
mehr, Mutter!»
Die Alte weint jedoch noch stärker.
Sie ist zu Füßen Jesu, drückt ihren Kopf an die göttlichen Knie und küßt unter
Tränen die gesegnete Hand. Mit der anderen Hand liebkost Jesus die Greisin, und
da die anderen Diener die Alte sanft auffordern, mit dem Weinen aufzuhören, sagt
er: «Laßt sie! Es ist ein erlösendes Weinen! Das tut gut. Wärt ihr alle
glücklich darüber, wenn eure Herrin gesund würde?»
«Oh, sie ist so gut! Wenn jemand so
ist, dann ist er nicht ein Gebieter, sondern ein Freund, den man liebt. Wir
lieben sie. Glaube es uns!»
«Ich lese in euren Herzen. Werdet
immer besser! Ich gehe, ich kann nicht hierbleiben. Das Boot ist da. Ich segne
euch.»
«Komm wieder, Meister! Komm
wieder!»
«Ich werde wiederkommen. Sehr oft!
Lebt wohl! Der Friede sei mit diesem Haus und euch allen!»
Jesus geht mit den Seinen, während
die Diener ihn lobpreisen. «Du bist hier besser bekannt als in Nazareth»,
bemerkt sein Vetter Jakobus etwas traurig.
«Dieses Haus ist von einem erbaut,
der den wahren Glauben an den Messias hat. Für Nazareth bin ich der Schreiner...
nichts weiter.»
«Und wir haben nicht die Kraft,
über dich zu predigen und zu bekennen, wer du bist.»
«Ihr habt sie nicht?»
«Nein, Vetter. Wir sind nicht so
heldenhaft wie deine Hirten.»
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«Glaubst du, Jakobus?» Jesus
lächelt und betrachtet seinen Vetter, der so sehr seinem Nährvater Joseph
gleicht mit dem Braun seiner Augen und der Haare und der bräunlichen
Gesichtsfarbe, während Judas bleich aussieht im Rahmen seines schwarzen Bartes
und der gewellten Haare und in seinen Augen ein Veilchenblau hat, das an die
Augen Jesu erinnert. «Nun, ich sage dir, daß du dich nicht kennst. Du und Judas,
ihr seid beide stark.»
Die Vettern schütteln das Haupt.
«Ihr werdet euch selbst davon
überzeugen, daß ich nicht irre.»
«Gehen wir wirklich nach Nazareth?»
«Ja, ich möchte mit meiner Mutter
sprechen... und auch noch etwas anderes tun. Wer mitkommen will, kann
mitkommen.»
Alle wollen mitkommen. Die
Glücklichsten sind die beiden Vettern: «Es ist wegen des Vaters und der Mutter,
du verstehst uns schon.»
«Ich verstehe. Wir werden über Kana
hingelangen.»
«Über Kana? Oh, dann gehen wir zu
Susanna. Sie wird uns Eier und Obst für den Vater geben, Jakobus!»
«Und bestimmt auch etwas von ihrem
guten Honig. Er liebt ihn sehr!»
«Er ist auch nahrhaft.»
«Armer Vater! Er leidet viel! Wie
einer entwurzelten Pflanze schwindet sein Leben dahin... und er will nicht
sterben!» Jakobus betrachtet Jesus mit schweigender Bitte. Doch Jesus scheint es
nicht zu bemerken. «Auch Joseph ist an Schmerzen gestorben, nicht wahr?»
«Ja», antwortet Jesus, «doch er
litt weniger, weil er ergeben war.»
«Und er hatte dich...»
«Auch Alphäus könnte mich haben...»
Die beiden Vettern seufzen betrübt,
und alles ist zu Ende.
137. JESUS IM HAUSE DES ONKELS
ALPHÄUS UND DANACH IN SEINEM EIGENEN HAUS
Jesus durchquert mit den Jüngern
die schönen Hügel von Galiläa. Obwohl schon der Abend naht, steht die Sonne noch
hoch, und so gehen sie im Schatten der Bäume, meist Olivenbäume.
«Hinter diesem Hügel liegt
Nazareth», sagt Jesus. «Bald werden wir dort sein. Am Stadtrand wollen wir uns
trennen. Judas und Jakobus gehen sofort zu ihrem Vater, wie es ihr Herz
verlangt. Petrus und Johannes werden an die Armen, die wohl beim Brunnen
versammelt sind, Almosen austeilen. Ich gehe mit den anderen nach Hause zum
Nachtmahl, und dann müssen wir an die Ruhe denken.»
«Wir werden auch zum guten Alphäus
gehen, wir haben es ihm das
236
letztemal versprochen. Doch ich
will ihn nur grüßen. Mein Bett überlasse ich Matthäus, der noch nicht an
Unbequemlichkeiten gewöhnt ist», sagt Philippus.
«Nein, du nicht. Du bist schon alt.
Das kann ich nicht erlauben. Bis jetzt hatte ich immer ein bequemes Lager, doch
welch teuflische Träume hatte ich darauf! Glaub mir, nun bin ich so im Frieden,
daß ich das Gefühl habe, auf Federn zu schlafen, auch wenn ich mich auf Steinen
niederlasse. Oh, es ist das Gewissen, das schlafen oder nicht schlafen
läßt!»antwortet Matthäus.
Ein Wettstreit der Liebe entzündet
sich unter den Jüngern Thomas, Philippus, Bartholomäus und Matthäus, die das
letzte Mal im Hause des Alphäus gewesen sind. (Es handelt sich nicht um den
Vater des Jakobus, denn dieser sagt zu Andreas: «Ein Platz für dich wird immer
da sein, wie das letzte Mal, auch wenn der Vater noch kränker geworden ist.»)
Thomas siegt: «Ich bin der Jüngste in der Gruppe. Auf das Bett verzichte ich.
Laß mich nur machen, Matthäus. Du mußt dich langsam daran gewöhnen. Denkst du,
mir mache es etwas aus? Nein! Ich bin wie ein Verliebter, der bei sich denkt:
"Es ist zwar ein hartes Lager, aber ich bin in der Nähe meiner Geliebten."»
Thomas, ungefähr achtunddreißig Jahre alt, lacht heiter, und Matthäus gibt nach.
Die ersten Häuser von Nazareth sind
nur noch wenige Meter entfernt. «Jesus, wir gehen», sagt Judas des Alphäus.
«Geht, geht!»
Die beiden Brüder trennen sich von
der Gruppe.
«Ach, der Vater ist der Vater»,
brummt Petrus. «Auch wenn er mit uns streitet, so hat er doch unser Blut, und
Blut zieht mehr als Stricke. Und dann... deine Vettern gefallen mir. Sie sind
sehr gütig.»
«Ja, sie sind sehr gut. Sie sind
demütig, das ist keine Frage. Sie meinen immer, sie seien voller Fehler, weil
ihr Geist in allem das Gute sieht, außer in ihnen selbst. Sie werden es weit
bringen.»
Sie sind in Nazareth angelangt.
Frauen erkennen Jesus und grüßen ihn; auch Männer und Kinder tun dasselbe. Doch
hier ist nicht der Jubel, mit dem man den Messias an anderen Orten empfängt.
Hier sind Freunde, welche den zurückgekehrten Freund mehr oder weniger herzlich
begrüßen. In vielen Gesichtern lese ich auch eine ironische Neugier beim Anblick
der ungleichartigen Gruppe um Jesus, die wahrhaftig weder aus königlichen
Würdenträgern noch aus salbungsvollen Priestern besteht. Alle sind erhitzt und
verstaubt; sie sind alle sehr einfach gekleidet außer Judas Iskariot, Matthäus,
Simon und Bartholomäus; sie gleichen mehr einem Haufen Männer aus dem einfachen
Volk auf der Reise zu irgendeinem Markt als dem Gefolge eines Königs, eines
Königs, der nur eine stattliche Gestalt und vor allem ein majestätisches
Aussehen hat.
Sie gehen noch einige Schritte,
dann biegen Petrus und Johannes nach
237
rechts ab, während Jesus und die
anderen bis zu einem kleinen Platz weitergehen, der voller jubelnder Kinder ist,
die um einen Brunnen tanzen, aus dem die Mütter schöpfen.
Ein Mann sieht Jesus und macht eine
Geste erstaunter Freude. Er eilt auf ihn zu und begrüßt ihn: «Herzlich
willkommen! Ich habe dich nicht so schnell erwartet. Nimm ihn: küsse meinen
jüngsten Enkel! Es ist der kleine Joseph. Er ist während deiner Abwesenheit auf
die Welt gekommen», und er übergibt Jesus bei diesen Worten das kleine Kind, das
er in den Armen hält.
«Joseph hast du es genannt?»
«Ja, ich kann meinen beinahe
Verwandten nicht vergessen, der mir mehr als ein Verwandter gewesen ist, mein
bester Freund. Nun habe ich alle Namen, die mir am teuersten sind, den Enkeln
gegeben: Anna, meine Freundin, als ich ganz klein war, und Joachim; dann Maria;
oh, als sie geboren wurde, war ein großes Fest! Ich erinnere mich noch, als man
sie mir zum Küssen reichte und sagte: "Siehst du, dieser schöne Regenbogen ist
die Brücke, auf welcher sie vom Himmel gekommen ist. Die Engel benützen diesen
Weg." Und sie glich wirklich einem Engelchen, so schön war sie. Hier ist nun
Joseph. Wenn ich gewußt hätte, daß du so schnell zurückkommst, hätte ich mit der
Beschneidung gewartet.
«Ich danke dir für deine Liebe zu
den Großeltern, zu meinem Vater und zu meiner Mutter. Es ist ein schönes Kind.
Es wird immer gerecht sein, wie der gerechte Joseph!» Jesus wiegt den Kleinen,
der ihn kindlich, unbefangen anlächelt.
«Wenn du auf mich warten willst,
komme ich mit dir. Warte, bis die Krüge gefüllt sind! Ich will nicht, daß meine
Tochter Maria sich zu sehr plagt. Schau, ich werde es so machen. Ich gebe die
Krüge den Deinen, wenn sie mir den Gefallen tun wollen, und kann dann etwas mit
dir allein sprechen.»
«Sicher nehmen wir die Krüge! Wir
sind keine assyrischen Könige», ruft Thomas aus und ergreift als erster einen
Krug.
«Also hört... Maria des Joseph ist
nicht zu Hause. Sie ist bei ihrem Schwager, weißt du? Doch der Schlüssel ist in
meinem Hause. Laßt ihn euch geben, um ins Haus hineinzukommen... in die
Werkstatt, will ich sagen.»
«Ja, ja, geht nur. Auch ins Haus.
Ich werde dann nachkommen.»
Die Apostel machen sich auf den
Weg, und Jesus bleibt bei Alphäus zurück.
«Ich wollte dir sagen: ich bin für
dich ein wahrer Freund, und wenn einer ein wahrer Freund ist, älter und vom
gleichen Orte ist, dann kann er reden. Ich glaube, es ist meine Pflicht zu
reden. Ich... ich will dich nicht beraten, du weißt besser als ich, was zu tun
ist. Ich will dich nur darauf aufmerksam machen; ... oh, nein, ich will nicht
den Spion machen, noch
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will ich die Verwandten in ein
schlechtes Licht setzen. Doch ich glaube an dich, Messias, und es schmerzt mich,
wenn dir andere sagen, daß du der Messias nicht bist; daß du nur ein Kranker
bist und die Familie und die Verwandtschaft ruinierst. Die Stadt... Weißt du,
Alphäus wird sehr geschätzt und deshalb hört man auch auf ihn... Jetzt ist er
krank und bemitleidenswert... auch der Schmerz führt manchmal zu
Ungerechtigkeiten. Schau, ich war an dem Abend dabei, als Judas und Jakobus dich
und ihre Freiheit, dir zu dienen, verteidigten... Oh, welch eine Szene! Ich weiß
nicht, wie deine Mutter das aushält! Und die arme Maria des Alphäus? Die Frauen
sind in gewissen Familiensituationen immer die Opfer.»
«Jetzt sind die Vettern bei ihrem
Vater...»
«Beim Vater? Oh, sie tun mir leid.
Der Alte ist ganz außer sich. Sicher sind auch das Alter und die Krankheit daran
schuld, doch er benimmt sich wie ein Narr. Wenn er nicht von Sinnen wäre, täte
er mir noch mehr leid, denn er würde seiner Seele schaden.»
«Glaubst du, daß er seine Söhne
schlecht aufnehmen wird?»
«Dessen bin ich sicher. Es tut mir
leid für sie und für die Frauen... Wohin gehst du?»
«Zum Haus des Alphäus.»
«Nein, Jesus! Er wird auch dir
gegenüber respektlos sein!»
«Die Vettern lieben mich mehr als
sich selbst, und es ist nur recht und billig, daß ich ihre Liebe vergelte. Dort
leben auch zwei Frauen, die mir lieb sind... Ich gehe. Halte mich nicht zurück!»
Jesus eilt zum Haus des Alphäus,
während der andere nachdenklich mitten auf der Straße verweilt.
Jesus geht rasch. Er ist schon am
Rand des Gartens von Alphäus. Ein Frauenweinen und die Schimpfworte eines Mannes
dringen an sein Ohr. Jesus legt die wenigen Meter, die ihn noch vom Hause
trennen, mit noch rascheren Schritten durch den grünen Garten zurück. Er ist
fast an der Schwelle des Hauses, als die Mutter an der Türe erscheint und ihren
Sohn erblickt.
«Mama!»
«Jesus!»
Zwei Ausrufe voller Liebe.
Jesus schickt sich an einzutreten,
doch Maria sagt: «Nein, Sohn!» Und sie stellt sich auf die Schwelle, breitet die
Arme aus, drückt die Hände an den Türrahmen - eine lebende Barriere der Liebe -
und wiederholt: «Nein, Sohn, tue es nicht!»
«Laß nur, Mama. Es wird nichts
geschehen.» Jesus ist sehr ruhig, obwohl ihn die Blässe seiner erschreckten
Mutter beunruhigt. Er nimmt sie sanft bei einem Handgelenk, löst ihre Hand vom
Türrahmen und tritt in das Haus ein.
In der Küche sieht er am Boden ein
Durcheinander von den aus Kana
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gebrachten Eiern, Weintrauben und
Honig. Aus dem benachbarten Raum erklingt eine zänkische Greisenstimme, die
schimpft, anklagt und jammert mit einem senilen Zorn, der so ungerecht,
ohnmächtig, peinlich anzuhören und schmerzlich zu ertragen ist. «... und nun ist
meine Familie zerstört und zum Gespött von ganz Nazareth geworden. Ich werde
allein gelassen, hilflos und im Herzen getroffen. Was hast du davon, Alphäus,
daß du immer als wahrer Gläubiger gelebt hast? Und warum? Warum? Wegen eines
Verrückten! Eines Narren, der auch meine dummen Söhne verrückt hat werden
lassen. Ach, ach, welch ein Schmerz!»
Die Stimme der Maria des Alphäus
bittet weinend: «Sei gut, Alphäus! Sei gut! Siehst du nicht, daß du dir
schadest? Komm, ich will dir helfen, dich niederzulegen... Du bist immer gut und
gerecht gewesen... Warum bist du auf einmal anders gegen dich, gegen mich, gegen
deine Söhne? ...»
«Nichts, nichts! Rühre mich nicht
an! Ich will nichts! Die Söhne gut? O ja! Wirklich zwei Undankbare! Sie bringen
mir Honig, nachdem sie mich mit Bitterkeit erfüllt haben. Sie bringen mir Eier
und Obst, nachdem sie sich an meinem Herzen vergangen haben! Geh weg, sage ich
dir! Ich will dich nicht! Ich will Maria. Sie kann es am besten. Wo ist sie
jetzt, diese schwache Frau, die sich bei ihrem Sohne keinen Gehorsam verschaffen
kann?»
Die hinausgejagte Maria des Alphäus
betritt die Küche, als Jesus in den Raum des Alphäus eintreten will. Sie
erblickt Jesus und fällt ihm verzweifelt weinend an den Hals, während Maria, die
Jungfrau, demütig und geduldig zum zornigen Alten geht.
«Weine nicht, Tante. Ich gehe zu
ihm.»
«Nein, laß dich nicht beschimpfen.
Er scheint von Sinnen zu sein. Er hat einen Stock. Nein, Jesus, nein! Er hat
sogar die Söhne geschlagen!»
«Er wird mir nichts antun», sagt
Jesus, schiebt entschlossen, doch sanft die Tante zur Seite und geht zu Alphäus
hinein.
«Der Friede sei mit dir, Alphäus!»
Der Alte, der sich gerade zu Bette
begibt und Maria anklagt und tadelt, weil sie unfähig sei (kurz zuvor hatte er
noch behauptet, nur sie könne es), dreht sich plötzlich um. «Was, du bist hier,
um mich zu verspotten? Auch das noch?»
«Nein, um dir den Frieden zu
bringen! Warum bist du so unruhig? Du wirst dadurch nur kränker. Mama, laß sein!
Ich werde ihm helfen. Ich werde dir nicht weh tun, und es wird dich nicht
anstrengen. Mama, hebe die Decken weg!» Und Jesus nimmt das armselige,
schimpfende und jammernde Häuflein Mensch in die Arme und legt es sorgfältig wie
ein Neugeborenes auf das Bett. «So ist es gut. So habe ich es auch bei meinem
Vater gemacht. Dieses Kissen etwas höher, so liegst du besser und kannst besser
atmen. Mama, lege das kleine Kissen hier unter die Nieren. Er wird
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dann weicher liegen. So, nun das
Licht! Es soll die Augen nicht blenden, aber es soll auch etwas frische Luft
eindringen. So! Ich habe einen Absud auf dem Feuer gesehen. Bring ihn, Mama, er
ist süß. Du bist ganz in Schweiß und nun fröstelst du. Der Tee wird dir gut
tun.»
Maria geht gehorsam hinaus.
«Aber ich... aber ich... Warum bist
du so gut zu mir?»
«Weil ich dich gern habe, du weißt
es.»
«Oh, ich mochte dich auch gut; aber
jetzt ...»
«Jetzt liebst du mich nicht mehr,
ich weiß. Doch ich mag dich gern, und das genügt. Du wirst mich auch noch lieben
...»
«Aber wenn... ach, welche
Schmerzen! ... Aber wenn du mich gern hast, warum beleidigst du meine weißen
Haare?»
«Ich beleidige dich nicht, Alphäus,
auf keine Weise. Ich achte dich!»
«Du achtest mich? Ich bin das
Gespött von Nazareth, sonst nichts!»
«Warum sprichst du so, Alphäus?
Inwiefern mache ich dich zum Gespött von Nazareth?»
«Der Kinder wegen. Warum sind sie
Rebellen? Deinetwegen! Warum werde ich verspottet? Deinetwegen!»
«Sag mir: wenn Nazareth dich loben
würde wegen der Würde und Stellung deiner Söhne, würdest du dann auch leiden?»
«Nein, dann nicht! Doch Nazareth
lobt mich nicht. Es würde mich loben, wenn du auf Eroberung ausgehen würdest.
Aber so verlassen mich meine Söhne für einen, der seiner Sinne nicht mächtig,
durch die Welt zieht und Haß und Spott auf sich zieht; ein Armer unter Armen!
Wer sollte da nicht lachen? Mein armes Haus! Armes Geschlecht Davids, wie mußt
du enden! Und ich mußte lange leben, um dieses Elend mitanzusehen. Um dich zu
sehen, den letzten Sproß des herrlichen Geschlechtes, der sich selbst in zu
großer Dienstbarkeit vernichtet. Ach, nur Unglück kam über uns seit dem Tage, da
mein unvernünftiger Bruder sich mit der törichten und eigensinnigen Frau
vermählen ließ, die dann eine solche Macht über ihn bekam. Ich habe damals
gesagt: "Joseph ist für die Heirat nicht geeignet. Er wird unglücklich." Und er
wurde es. Er wußte, wie sie war, und von einer Heirat hat er nie etwas wissen
wollen. Verflucht sei das Gesetz der erbberechtigten Waisen! Verflucht sei das
Schicksal! Verflucht seien solche Vermählungen!»
Die "Erbjungfrau" war mit dem Absud
hereingekommen und hat die Jeremiade des Schwagers mitanhören müssen. Sie ist
jetzt noch blasser. Doch ihre anmutige Geduld ist unerschütterlich. Sie geht zu
Alphäus und hilft ihm mit einem sanften Lächeln beim Trinken.
«Du bist ungerecht, Alphäus. Doch
du bist so krank, daß dir alles vergeben wird», sagt Jesus, der ihm das Haupt
stützt.
«O ja, sehr krank! Du sagst, daß du
der Messias bist. Du wirkst Wunder. So sagen sie. Als Ersatz für meine Söhne,
die du mir genommen hast,
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könntest du mich wenigstens heilen.
Mache mich gesund, und ich verzeihe dir alles!»
«Verzeihe du deinen Söhnen, suche
ihre Seelen zu verstehen, und ich werde dir Erleichterung verschaffen. Wenn du
rachsüchtig bist, kann ich dir nicht helfen.»
«Verzeihen?» Der Alte macht eine
ruckartige Bewegung, die natürlich alle seine Schmerzen aufs neue verstärkt und
ihn wiederum zornig werden läßt. «Verzeihen? Niemals! Geh fort! Weg mit dir,
wenn du mir nur das zu sagen hast. Geh! Ich will sterben, ohne noch mehr gequält
zu werden.»
Jesus macht eine resignierte Geste.
«Leb wohl, Alphäus! Ich werde gehen. Soll ich wirklich gehen? Onkel, muß ich
wirklich gehen?»
«Wenn du mich nicht
zufriedenstellen willst, dann gehe! Sage den beiden Schlangensöhnen, daß der
alte Vater im Zorn über sie stirbt.»
«Nein, das auf keinen Fall! Du
darfst deine Seele nicht verlieren. Du brauchst mich nicht zu lieben, wenn du
nicht willst. Du brauchst nicht zu glauben, daß ich der Messias bin. Doch du
darfst nicht hassen! Nicht hassen, Alphäus! Verspotte mich ruhig. Nenne mich
einen Narren, aber hasse nicht!»
«Warum liebst du mich denn, wenn
ich dich so sehr beleidige?»
«Weil ich der bin, den du nicht
anerkennen willst. Ich bin die Liebe! Mutter, ich gehe nun nach Hause.»
«Ja, mein Sohn. Ich werde bald
nachkommen.»
«Ich lasse dir meinen Frieden,
Alphäus! Wenn du mich brauchst, laß mich jederzeit rufen, und ich werde kommen.»
Jesus verläßt das Zimmer so ruhig,
als wäre nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Er ist nur bleicher geworden.
«O Jesus, Jesus, verzeihe ihm»,
jammert Maria des Alphäus.
«Aber ja, Maria. Es ist nicht
einmal notwendig, es zu tun. Jemandem, der so leidet, muß man alles verzeihen.
Er ist nun schon ruhiger geworden. Die Gnade arbeitet auch, ohne daß das Herz
etwas davon weiß. Und da sind noch deine Tränen, der Schmerz von Judas und
Jakobus und ihre Treue zu ihrer Berufung. Der Friede kehre ein in dein
verwundetes Herz, Tante!» Er küßt sie und geht durch den Garten nach Hause.
Als er den Fuß auf den Weg setzt,
kommen ihm Petrus und Johannes entgegen.
Beide keuchen, wie wenn sie gerannt
wären. «Oh, Meister! Was hat es gegeben? Jakobus hat mir gesagt: "Lauf schnell
zu meinem Haus! Wer weiß, wie Jesus behandelt wird." Aber nein, ich irre.
Alphäus, der vom Brunnen, hat zu Judas gesagt: "Jesus ist in deinem Hause", und
darauf hat Jakobus so zu uns gesprochen... Beide Vettern sind sehr
niedergeschlagen. Ich verstehe nichts mehr. Doch nun sehe ich dich... und bin
beruhigt.»
«Keine Sorge, Petrus. Ein armer
Kranker, den die Schmerzen unduldsam machen... Nun ist alles zu Ende.»
242
«Oh, das freut mich. Was tust du
hier?» fragt Petrus Iskariot, der nun ebenfalls erscheint. Der Ton seiner Stimme
ist nicht gerade sanft.
«Auch du bist da, wie ich sehe!»
«Man hat mich gebeten zu kommen,
und so bin ich gekommen.»
«Auch ich bin gekommen. Wenn der
Meister in Gefahr ist, und dies sogar in seiner Heimat, so kann ich ihn, den ich
in Judäa verteidigt habe, auch hier in Galiläa verteidigen.»
«Dazu genügen wir! Aber in Galiläa
ist das nicht notwendig.»
«Ha, ha, ha, natürlich. Seine
Heimat speit ihn aus wie eine ungenießbare Speise. Gut, ich freue mich für dich,
der du dich so aufgeregt hast wegen eines kleinen Vorfalls in Judäa, wo er
unbekannt ist. Hier hingegen! ...» Und Judas endet mit einem spöttischen
Pfeifen.
«Höre, Junge, ich bin schlecht
gelaunt. Beherrsche dich, wenn du nicht willst, daß... Meister, ist dir etwas
zugestoßen?»
«Aber nein, mein Petrus. Ich
versichere es dir. Laß uns rascher gehen, um die Vettern zu trösten!»
Sie gehen und betreten die große
Werkstatt. Judas und Jakobus sind bei der massiven Hobelbank. Jakobus steht,
während Judas sich auf einen Hocker gesetzt hat, den Ellbogen auf die Hobelbank
gestützt und das Haupt in die Hand gelegt. Jesus geht lächelnd auf sie zu, um
sie sofort zu überzeugen, daß sein Herz sie liebt.
«Alphäus ist nun viel ruhiger. Die
Schmerzen lassen nach und der Friede kehrt zurück. Seid beruhigt!»
«Hast du ihn gesehen? Und die
Mama?»
«Ich habe sie beide gesehen.»
Judas fragt: «Auch die Brüder?»
«Nein, sie waren nicht da.»
«Sie waren da. Doch sie wollten
sich dir nicht zeigen. Nur uns! Oh, wenn wir ein Verbrechen begangen hätten,
hätten sie uns nicht übler behandeln können. Wir kamen eilends von Kana in der
Freude, ihn wiederzusehen und ihm das zu bringen, was er so gerne hat. Wir
lieben ihn... er versteht uns nicht mehr; er glaubt uns nichts mehr.»
Judas streckt seinen Arm auf die
Bank aus, legt das Haupt darauf und weint. Jakobus ist stärker. Doch sein
Gesicht zeugt von einem inneren Martyrium.
«Weine nicht, Judas! Und du,
beherrsche dich.»
«O Jesus, wir sind Söhne... und er
hat uns verflucht! Aber wenn es uns auch das Herz zerreißt, wir kehren nicht
wieder zurück. Wir sind dein, und dein wollen wir bleiben; selbst wenn sie uns,
um uns dir zu entreißen, mit dem Tode drohen sollten!» ruft Jakobus aus.
«Und du hast gesagt, daß du für
Heldentum nicht fähig seist? Ich habe es gewußt; doch du hast es aus dir selbst
gesagt. Wahrlich, du wirst treu bleiben, auch vor dem Tod! Und auch du!» Jesus
streichelt die beiden.
243
Doch sie leiden. Das Weinen des
Judas treibt auch Petrus die Tränen in die Augen. So bekomme ich mehr Einblick
in die Seelen der Apostel.
Petrus, das ehrliche Gesicht vom
Leid gezeichnet, ruft aus: «O ja, welch ein Schmerz! ... Welch eine traurige
Sache! Aber, meine Knaben (er schüttelt sie liebevoll), nicht allen ist es
gegeben, diese Worte zu verdienen... Ich entsinne mich, daß ich bei meiner
Berufung Glück hatte. Meine brave Frau sagt immer zu mir: "Ich komme mir wie
verschmäht vor, weil du mir nicht mehr gehörst. Doch ich sage mir: O glückliche
Verschmähung!" Auch ihr müßt so sagen. Ihr verliert einen Vater und bekommt Gott
dafür.»
Der Hirte Joseph, erstaunt in
seiner Unwissenheit als Waise, daß auch ein Vater Ursache von Tränen sein kann,
sagt: «Ich dachte, ich sei der Unglücklichste, da ich keinen Vater habe. Nun
stelle ich fest, daß es besser ist, ihn als Toten denn als Feind beweinen zu
müssen.» Johannes begnügt sich damit, die Gefährten zu küssen und zu umarmen.
Andreas seufzt und schweigt. Er bemüht sich, etwas zu sagen; doch seine
Schüchternheit hindert ihn daran. Thomas, Philippus, Matthäus und Nathanael
sprechen leise in einer Ecke, voll Ehrfurcht nahe einem echten Leiden. Jakobus
des Zebedäus betet kaum verständlich, damit Gott Frieden schenke! Simon der
Zelote, oh, wie gefällt mir sein Verhalten! Er verläßt seine Ecke und geht zu
den beiden Betrübten, legt eine Hand auf das Haupt des Judas, die andere um die
Taille des Jakobus und sagt: «Weine nicht, Sohn! Er hat es uns gesagt, mir und
dir: "Ich vereinige euch: dich, der du meinetwegen einen Vater verlierst, und
dich, der du ein Vaterherz, aber keine Söhne hast." Wir haben damals den
prophetischen Sinn dieser Worte nicht verstanden. Aber er hat es gewußt. Nun
bitte ich euch: ich bin alt und habe immer davon geträumt "Vater" genannt zu
werden. Nehmt mich als solchen an, und ich werde euch wie ein Vater am Morgen
und am Abend segnen. Bitte, nehmt mich an!»
Die beiden bejahen, unter stärkerem
Schluchzen.
Da kommt Maria herein und eilt zu
den beiden betrübten Brüdern. Sie streichelt den dunklen Kopf des Judas und die
Wangen des Jakobus. Sie ist bleich wie eine Lilie. Judas nimmt ihre Hand, küßt
sie und fragt: «Was macht er?»
«Er schläft, Sohn. Die Mama schickt
euch einen Kuß», und sie küßt die beiden.
Die rauhe Stimme des Petrus
explodiert: «Höre, komm einen Augenblick zu mir, ich möchte dir etwas sagen!»
Ich sehe, wie Petrus mit seiner kräftigen Hand Iskariot am Arm packt und ihn
nach draußen auf die Straße schleppt. Dann kommt er allein zurück.
«Wohin hast du ihn geschickt?»
fragt Jesus.
«Zum Luftschnappen. Sonst wäre es
soweit gekommen, daß ich ihm die Luft auf eine andere Art verpaßt hätte. Ich
habe es nur deinetwegen nicht
244
getan. Oh, nun geht es mir besser.
Wer vor einem Schmerz keine Ehrfurcht hat und darüber lacht, der ist eine
Natter, und ich vertreibe die Schlangen... Du bist hier... und ich habe ihn in
den Mondschein geschickt. Er wird... ich werde eher ein Schriftgelehrter, etwas,
das nur Gott aus mir machen kann, wo ich kaum weiß, daß ich auf der Welt bin;
... aber er, nicht einmal mit der Hilfe Gottes wird er gut. Das versichere ich
dir, ich, Simon des Jonas, und ich täusche mich nicht. Nein, mach dir nichts
daraus! Er war sich gar nicht bewußt, daß uns Traurigkeit erfüllte. Er ist
trockener als ein Kieselstein in der Augustsonne. Los, ihr Knaben! Hier ist eine
Mutter, wie es im Himmel keine süßere gibt. Hier ist ein Meister, der besser ist
als alles im Paradiese. Hier sind viele ehrbare Herzen, die euch aufrichtig
lieben. Unwetter sind manchmal gut: sie nehmen den Staub fort. Morgen seid ihr
frischer als Blumen, flinker als Vögel, um unserem Jesus zu folgen.»
Und mit diesen guten und einfachen
Worten des Petrus endet alles.
Darauf sagt Jesus:
«Dieser Vision fügst du jene an,
die ich dich im Frühjahr 1944 schauen ließ; ich bat damals meine Mutter, mir
ihre Eindrücke über die Apostel mitzuteilen. Jetzt sind uns ihre seelischen
Wesenszüge hinreichend bekannt, um diese Vision wiederzugeben ohne befürchten zu
müssen, dadurch Ärgernis zu erregen. Ich hatte keinerlei Belehrung nötig. Wir
waren allein, weil die Jünger bei befreundeten Familien und in benachbarten
Dörfern während meines Aufenthaltes in Nazareth untergebracht waren; so war es
für mich tröstlich, mit meiner liebsten Freundin, meiner Mutter, zu sprechen und
aus ihrem gnaden- und weisheitsvollen Mund die Bestätigung zu erhalten für
etwas, das ich schon wußte. Ihr gegenüber war ich nie ein anderer als "ihr Sohn"
gewesen; und unter den von Frauen geborenen gab es keine Mutter, die mehr
"Mutter" war als sie in allen Vollkommenheiten menschlicher, geistlicher und
mütterlicher Tugenden; und nie war ein Sohn "mehr Sohn" in Ehrfurcht, Vertrauen
und Liebe seiner Mutter gegenüber als ich.
Und jetzt, da auch ihr die Zwölf in
ihren Charaktereigenschaften, ihren Tugenden, Fehlern und inneren Kämpfen etwas
kennt: kann es da noch jemand geben, der zu behaupten wagt, es sei für mich
leicht gewesen, aus ihnen eine Einheit zu formen, sie zu bilden und höher zu
führen? Kann jemand noch der Ansicht sein, das Leben des Apostels sei leicht,
und leicht sei es, Apostel zu werden? Kann einer sich noch als Apostel
betrachten, wenn er meint, ein Recht auf ein ungetrübtes Leben ohne Leiden,
Widerstände und Enttäuschungen zu haben? Kann jemand, weil er mir dient,
annehmen, daß ich sein Diener sei und unablässig zu seiner Zufriedenheit Wunder
wirke, aus seinem Leben einen Blumenteppich mache, es geruhsam gestalte und ihn
vor den Menschen verherrliche? Mein Leben, meine Arbeit, mein Dienst ist das
Kreuz, das Leiden, der Verzicht, das Opfer. So lebe ich es. Und so sollen alle
leben, die sich zu den "Meinen" zählen.
Das richte ich nicht an die
Johannes-Seelen, sondern an die nörgelnden, unzufriedenen Gelehrten. Und den
gelehrten Grüblern sage ich, daß ich die Wörter "Onkel" und "Tante" gebrauche,
obwohl sie in den palästinensischen Sprachen nicht üblich sind, um eine
ehrfurchtslose Frage klarzustellen und zu definieren, die meine Stellung als
Einziggeborener Marias und die Jungfräulichkeit meiner Mutter vor und nach
meiner Geburt betrifft, die eine Folge geistlicher und göttlicher Vereinigung
war. Ich wiederhole noch einmal: sie kannte keine anderen Vereinigungen und
darum auch keine anderen Geburten. Unverletztes Fleisch, das auch ich nicht
zerriß, geborgen im Geheimnis eines Tabernakel-Schoßes, dem Thron der
Dreifaltigkeit und des fleischgewordenen Wortes.»
245
138. JESUS BEFRAGT SEINE MUTTER
OBER DIE APOSTEL
Nun sehe ich - ungefähr zwei
Stunden später - das Haus von Nazareth. Ich erkenne das Zimmer des Abschieds,
zum Garten hin geöffnet, wo die Pflanzen in voller Reife stehen.
Jesus und Maria sitzen beisammen.
Sie sitzen nebeneinander auf der Steinbank vor dem Hause. Es scheint, daß sie
das Abendbrot bereits eingenommen haben und die anderen (ich sehe niemand) sich
schon zurückgezogen haben. Mutter und Sohn erfreuen sich gegenseitig an einem
innigen Gespräch. Die innere Stimme sagt mir, daß dies wohl das erste Mal ist,
daß Jesus nach der Taufe, nach dem Fasten in der Wüste und besonders nach der
Bildung des Apostelkollegiums in Nazareth weilt. Er erzählt der Mutter von den
ersten Tagen der Verkündigung des Evangeliums, von den ersten Siegen über die
Herzen. Maria hängt an den Lippen ihres Jesus.
Sie ist magerer, viel bleicher, als
habe sie in der letzten Zeit gelitten. Unter ihren Augen sind tiefe Schatten
eingegraben, wie bei jemand, der viel nachgedacht und geweint hat. Doch nun ist
sie glücklich und freut sich. Sie lächelt und streichelt die Hand ihres Jesus.
Sie ist glücklich, ihn bei sich zu haben: von Herz zu Herz mit ihm im Schweigen
des hereinbrechenden Abends.
Es muß Sommer sein, denn Jesus hat
die ersten reifen Früchte des Feigenbaums gepflückt; er braucht dazu nur
aufzustehen, so tief hängen sie herab. Er gibt die schönsten seiner Mutter,
nachdem er sie zuvor sorgfältig geschält hat, so daß sie wie rotgestreifte
Knospen aussehen in einer Blütenkrone von weißen Blütenblättern innen und
violetten außen. Er bietet der Mutter die Frucht auf seiner Handfläche an und
freut sich darüber, daß sie ihr schmeckt.
Dann fragt er sie plötzlich: «Mama,
du hast die Jünger gesehen. Was denkst du über sie?»
Maria, die soeben eine dritte Feige
zum Mund führen wollte, schaut auf, hält in der Bewegung inne und blickt Jesus
an.
«Was hältst du von ihnen, nun, da
ich sie dir alle vorgeführt habe?»fragt Jesus noch einmal.
«Ich glaube, daß sie dich lieben
und daß du viel von ihnen erwarten kannst. Johannes... liebe Johannes, wie nur
du lieben kannst. Er ist ein Engel. Ich bin beruhigt, wenn ich weiß, daß er bei
dir ist. Auch Petrus ist gut; etwas rauh, denn er ist schon älter, aber
aufrichtig und überzeugt. Auch sein Bruder. Sie lieben dich jetzt, so gut sie
können. Aber sie werden dich immer mehr lieben. Auch unsere Vettern. Jetzt, da
sie sich durchgerungen haben, werden sie dir treu bleiben. Doch der Mann von
Kerioth... er gefällt mir nicht. Mein Sohn, sein Auge ist nicht klar und sein
Herz noch weniger. Ich habe Angst vor ihm!»
246
«Dir gegenüber ist er voller
Achtung.»
«Zuviel Respekt. Auch dir gegenüber
ist er respektvoll. Doch du bist für ihn nicht der Meister, sondern der
zukünftige König, von dem er sich Nutzen und Ehre verspricht. Er war ein Nichts,
ein klein wenig mehr als die anderen von Kerioth. Nun hofft er, an deiner Seite
eine wichtige Rolle spielen zu können; o Jesus, ich will nicht gegen die Liebe
fehlen, doch ich denke, auch wenn es mir schwerfällt, daß er im Falle einer
Enttäuschung versuchen würde, an deine Stelle zu treten. Er ist ehrgeizig,
habsüchtig, voller Sinnlichkeit und eher dazu geneigt, Höfling eines irdischen
Herrschers zu sein als dein Apostel, mein Sohn! Ich fürchte ihn.» Und die Mutter
betrachtet ihren Jesus mit angstvollen Augen in ihrem blassen Antlitz.
Jesus seufzt. Er denkt nach. Er
betrachtet seine Mutter. Er lächelt ihr zu, um sie zu ermutigen. «Auch er ist
notwendig, Mama. Wenn er es nicht wäre, wäre ein anderer an seiner Stelle. Meine
Jüngerschaft muß die Welt darstellen, und in der Welt sind nicht alle Engel, und
nicht alle sind vom Schlag des Petrus und des Andreas. Wenn ich nur
Vollkommenheiten wählte, wie könnten die armen, kranken Seelen hoffen, meine
Jünger zu werden? Ich bin gekommen, um das Verlorene zu retten, Mama. Johannes
ist von sich aus gerettet. Doch wie viele sind es nicht!»
«Für Levi habe ich keine Angst. Er
wurde gerettet, weil er sich erlösen lassen wollte. Er hat seine Sünde mit
seiner Zollbank verlassen und hat seine Seele erneuert, um zu dir zu kommen.
Doch Judas von Kerioth ist anders. Der Hochmut nimmt seine alte, häßliche Seele
immer mehr in Besitz. Doch du weißt diese Dinge, Sohn! Warum fragst du mich? Ich
kann für dich nur beten und weinen. Du bist der Meister! Auch deiner armen
Mutter.»
Die Vision endet hiermit.
139. «WIEVIEL MENSCHLICHES BEI DEN
APOSTELN!»
Jesus sagt:
«Mein Blick hatte im Herzen des
Judas Iskariot gelesen. Niemand darf denken, daß die Weisheit nicht imstande
gewesen sei, dieses Herz zu verstehen. Aber, wie ich es meiner Mutter gesagt
habe; er wollte mit uns sein. Wehe ihm, daß er zum Verräter wurde! Es mußte aber
einen Verräter geben. Doppelzüngig, schlau, habsüchtig, lasterhaft, diebisch und
dabei gescheiter und gebildeter als der Durchschnitt der Menschen, wußte er sich
überall durchzusetzen. Kühn ebnete er mir den Weg, auch wenn es schwierig war.
Es gefiel ihm vor allem, unter den anderen hervorzuragen und auf seinen
Vertrauensposten bei mir hinzuweisen. Er war nicht aus
247
dem natürlichen Instinkt der
Nächstenliebe hilfsbereit, sondern einzig und allein, weil er zu denen gehörte,
die ihr "Wichtigtuer" nennt. Das befähigte ihn auch, das Geld zu verwalten und
sich Frauen zu nähern. Zwei Dinge, die er zusammen mit dem Umgang mit Menschen
närrisch liebte.
Die Reine, die Demütige, die von
allen Reichtümern der Welt Losgelöste, konnte nicht anders, sie mußte Abscheu
vor dieser Schlange empfinden. Auch ich empfand Abscheu. Und nur ich, der Vater
und der Heilige Geist wissen, welche Überwindung es mich gekostet hat, ihn in
meiner Nähe zu dulden. Ich werde dir alles zu gegebener Zeit erklären.
Ebenso war mir die feindliche
Gesinnung der Priester, Pharisäer, Schriftgelehrten und Sadduzäer bekannt. Sie
waren listige Wölfe und versuchten, mich in ihre Höhle zu treiben, um mich dort
zu zerreißen. Es dürstete sie nach meinem Blut. Und sie versuchten, mir überall
Fallen zu stellen, um mich einzufangen, um einen Grund zur Anklage zu haben und
mich aus der Welt zu schaffen. Drei volle Jahre haben sie mich gejagt, und sie
haben nicht davon abgelassen, bis sie mich tot wußten. Erst an jenem Abend haben
sie ruhig geschlafen. Die Stimme ihres Anklägers war für immer verstummt. Sie
glaubten es. Aber nein! Sie war aber noch nicht erloschen. Sie wird nie
erlöschen und immer wieder erschallen und die ihnen Ähnlichen von heute
verfluchen. Wieviel Leid mußte meine Mutter durch deren Schuld erdulden! Ich
werde diesen Schmerz nie vergessen.
Der Wankelmut der Menge war keine
Neuigkeit. Sie ist das wilde Tier, das dem Dompteur die Hand leckt, wenn er mit
der Peitsche bewaffnet ist oder Hungrigen ein Stück Fleisch reicht. Doch es
genügt schon, daß der Bändiger fällt, die Peitsche nicht mehr handhaben kann
oder der hungrigen Bestie kein Futter mehr anbietet, und das wilde Tier fällt
ihn an und zerreißt ihn. Es genügt, die Wahrheit zu sagen und zu den Guten zu
gehören, um von der Masse gehaßt zu werden, wenn die Begeisterung verflogen ist.
Die Wahrheit ist Vorwurf und Warnung. Die Güte braucht keine Peitsche, und darum
haben die Bösen keine Angst mehr. Daher das "Kreuzige ihn!" nach den
Hosannarufen. Mein Leben als Meister ist gesättigt von diesen beiden Zurufen.
Zuletzt hörte ich: "Kreuzige ihn!" Das Hosanna ist wie das Atemholen, das der
Sänger braucht, um genügend Luft für den Höhepunkt seines Liedes zu haben. Maria
hat am Abend des Karfreitags alle Echos der verlogenen Hosanna in sich wieder
gehört, die für ihren Sohn zu den Schreien: "Kreuzige ihn!" geworden sind, und
ihr Herz ist davon durchbohrt worden. Auch das vergesse ich nicht.
Das Menschliche der Apostel!
Wieviel Menschliches! Ich trug schwere Blöcke, die zur Erde strebten, auf den
Armen, um sie zum Himmel zu erheben. Selbst sie, die sich nicht als Diener eines
irdischen Königs sahen, wie Judas Iskariot, auch sie, die nicht wie er daran
dachten, bei nächster Gelegenheit an meiner Stelle den Thron zu besteigen,
träumten von irdischem Ruhm. Es kam der Tag, da auch mein Johannes und sein
Bruder
248
sich nach diesem Ruhm sehnten, der
auch in himmlischen Dingen wie ein Blendwerk verwirrte. Kein heiliger Eifer für
das Paradies, wie ich wollte, ist vorhanden, sondern der menschliche Wunsch, daß
eure Heiligkeit anerkannt werde. Und dazu zeigt sich etwas von der Neigung des
Wechslers, des Wucherers; man möchte für ein wenig Liebe zu dem, der euch gesagt
hat, daß ihr euch ihm voll und ganz schenken müßt, einen Platz zu seiner Rechten
im Himmel einnehmen.
Nein, meine Söhne, nein! Vorerst
muß man lernen, den vollen Kelch zu trinken, wie ich ihn getrunken habe. Ganz:
mit seiner Liebe als Ausgleich für den Haß, mit seiner Reinheit gegen die Stimme
der Sinne, mit seinem Heldentum in den Prüfungen, mit seiner Selbsthingabe aus
Liebe zu Gott und den Brüdern. Dann, wenn alles erfüllt ist, was zur eigenen
Pflicht gehört, muß man noch sagen: "Wir sind unnütze Knechte" und darauf
warten, daß mein und euer Vater in seiner Güte euch einen Platz in seinem Reiche
gewährt. Man muß sich aller menschlichen Dinge entäußern wie du mich im
Prätorium entblößt gesehen hast von allem Menschlichen, und nur das
Unentbehrliche behalten, wie es die Achtung für die Gabe Gottes verlangt: für
das Leben, und die Achtung für die Brüder, denen wir vom Himmel aus nützlicher
sein können als auf Erden. Dann überlaßt es Gott, euch mit dem Gewande der
Unsterblichkeit zu bekleiden, das leuchtend rein geworden ist im Blute des
Lammes.»
140. HEILUNG JOHANNAS DES CHUZA,
BEI KANA
Die Jünger sind in der großen
Werkstatt Josephs zum Nachtmahl versammelt. Die Hobelbank dient als Tisch, auf
dem sich schon alles Nötige befindet. Ich sehe, daß die Werkstatt auch als
Schlafsaal dient. Auf den anderen beiden Werktischen sind Matten ausgebreitet,
die sie zu Bettlagern machen, und niedrige Schlafplätze sind längs den Wänden
aneinandergereiht. Die Apostel unterhalten sich miteinander und mit dem Meister.
«Dann willst du also wirklich in
den Libanon gehen?» fragt Iskariot.
«Ich verspreche nie etwas, ohne es
dann zu halten. Und das habe ich zweimal versprochen: den Hirten und der Amme
Johannas des Chuza. Ich habe die fünf Tage abgewartet, wie ich gesagt hatte, und
aus Klugheit noch den heutigen Tag zugegeben. Doch jetzt gehe ich. Sobald der
Mond aufgegangen ist, reisen wir ab. Es ist ein weiter Weg, auch wenn wir bis
Bethsaida das Boot nehmen. Doch ich möchte die Freude erleben, Benjamin und
Daniel zu sehen. Du weißt, welch wunderbare Seelen die Hirten haben. Ja, sie
verdienen es, daß wir hingehen und sie ehren; denn auch Gott erniedrigt sich
nicht, wenn er einen Diener ehrt; vielmehr erhöht er dadurch seine
Gerechtigkeit.»
249
«Bei dieser Hitze! Überlege es dir
gut. Ich denke nur an dich!»
«Die Nächte sind nicht mehr so
dunstig. Nur noch kurze Zeit steht die Sonne im Zeichen des Löwen, und die
Gewitter kühlen die Luft. Außerdem möchte ich noch einmal wiederholen: ich
verpflichte niemand mitzukommen. Mir gegenüber und um mich soll alles freiwillig
geschehen. Wenn ihr Geschäfte habt oder müde seid, dann bleibt hier. Wir werden
uns später wieder treffen.
«So ist es, du sagst es. Ich müßte
an meine Familie denken. Es kommt die Zeit der Weinlese, und meine Mutter hatte
mich gebeten, Freunde aufzusuchen... Weißt du, ich bin, im Grunde, das Haupt der
Familie; ich will damit sagen: ich bin der Mann in der Familie.»
Petrus brummt: «Er denkt wenigstens
daran, daß die Mutter immer noch die erste nach dem Vater ist.»
Sei es, daß er es nicht gehört hat,
sei es, daß er nicht hören will, Judas tut so, als ob er das Murren nicht
verstehe, das Jesus mit einem strengen Blick bereits gebremst hat, während
Zebedäus den neben ihm sitzenden Petrus an der Tunika zupft, um ihn zum
Schweigen zu ermahnen.
«Geh nur, Judas! Du mußt sogar
gehen. Du sollst es nicht am Gehorsam deiner Mutter gegenüber fehlen lassen.»
«Dann gehe ich sofort, wenn du
erlaubst. Ich werde noch rechtzeitig in Naim ankommen, um dort Unterkunft zu
finden. Leb wohl, Meister! Lebt wohl, Freunde!»
«Sei ein Freund des Friedens und
handle so, daß Gott immer mit dir ist! Leb wohl!» sagt Jesus, während die
anderen ihn mit einem gemeinsamen Gruß verabschieden.
Es scheint keiner zu bedauern, ihn
weggehen zu sehen, im Gegenteil. Petrus, der vielleicht befürchtet, daß Judas
sich noch anders besinnen könnte, hilft ihm, den Sack mit den Schnüren
zuzuziehen und über die Schulter zu hängen. Er begleitet ihn zur Türe der
Werkstatt, die ebenso wie die Gartentür offensteht, gewiß, um nach einem so
schwülen Tag den Raum zu lüften. Petrus bleibt am Ausgang stehen und überzeugt
sich, daß Judas auch wirklich fortgeht, macht dann eine freudige, von einem
ironischen Lebewohl begleitete Bewegung, und kehrt zu den Jüngern, die Hände
reibend, zurück. Er braucht nichts mehr hinzuzufügen; er hat schon alles ohne
Worte gesagt.
Mehrere, die ihn beobachtet haben,
schmunzeln. Doch Jesus nimmt keine Notiz davon, denn er betrachtet den Vetter
Jakobus, der rot geworden und verlegen ist und seine Oliven zu essen vergißt. Er
fragt ihn: «Was hast du?»
«Du hast gesagt: "Man soll es nicht
am Gehorsam der Mutter gegenüber fehlen lassen." Und wir, was sollen wir tun?»
«Mach dir keine Skrupeln. Auf der
menschlichen Ebene gilt dieses Verhalten, bei Menschen und Kindern dem Fleische
nach. Doch wenn man
250
unter einem anderen Gesetz und
einer geistigen Vaterschaft steht, dann nicht. Hier geht es um eine höhere
Vaterschaft, deren Wünsche und Befehle befolgt werden müssen. Judas ist vor dir
und Matthäus angenommen worden, doch er ist noch zurück. Er muß sich noch weiter
bilden, dazu wird er viel Zeit brauchen. Liebt ihn! Liebe ihn, Petrus! Ich
verstehe... doch ich sage dir: liebe! Lästige Personen zu ertragen, ist eine
nicht unbedeutende Tugend. Übe sie!»
«Ja, Meister... Aber wenn ich ihn
so sehe... so... Gut, sei still, Petrus! Er versteht schon... Ich komme mir wie
ein vom Wind zu sehr gestrafftes Segel vor. Ich drohe unter dem Druck zu
bersten, und es zerreißt mir immer etwas dabei... Aber du weißt, nein, du kannst
es nicht wissen, denn als Bootsmann bist du völlig ohne Kenntnis. Ich erkläre es
dir also. Wenn bei einem Segel durch zu starke Anspannung die Verbindungsseile
reißen, so schwöre ich dir, daß der dumme Bootsmann eine so schöne Ohrfeige
abkriegt, daß er vor Schreck zusammenfährt... Nun, ich spüre, Gefahr zu laufen,
daß alle Verbindungsseile in mir zerreißen... und dann... dann ist es besser,
wenn er ab und zu für eine Weile verschwindet. So beruhigt sich das Segel dank
der Windstille, und ich habe Zeit, die Bindungen zu verstärken.»
Jesus lächelt und schüttelt den
Kopf; er hat Verständnis für den gerechten, aufbrausenden Petrus.
Ein Lärm von eisenbeschlagenen
Hufen und lautes Bubengeschrei dringen von der Straße herein. «Hier ist es, hier
ist es! Halt an, Mann!»Und bevor Jesus und die Jünger sich dessen bewußt werden,
zeigt sich unter der Tür der dunkle Umriß eines dampfenden Pferdes, von dem ein
Reiter absteigt, der wie ein Geschoß durch die Tür auf Jesus zueilt und ihn
ehrerbietig küßt.
Alle sind verblüfft.
«Wer bist du? Was willst du?»
«Ich bin Jonathan.»
Joseph, der hinter der hohen
Hobelbank sitzt, schreit freudig auf; er hatte bei der blitzartigen Ankunft den
Freund nicht sofort erkannt.
Der Hirte eilt rasch zum Knienden
hin und ruft aus: «Du, wirklich du!»
«Ja, ich bete meinen
anbetungswürdigen Herrn an! Dreißig Jahre der Hoffnung, oh, welch lange
Wartezeit! Nun sind sie erblüht wie die Blüte der einsamen Agave - und noch mehr
aufgeblüht mit einem Schlag in einer seligen Ekstase, die noch seliger ist als
jene vor vielen Jahren. Oh, mein Erlöser!»
Frauen, Kinder und einige Männer,
unter ihnen der gute Alphäus der Sara mit einem Stück Brot und Käse in der Hand,
drängen sich um den Eingang der Werkstatt und sogar bis in den Raum hinein.
«Steh auf, Jonathan! Ich war im
Begriffe aufzubrechen, um dich aufzusuchen und Benjamin und Daniel.»
251
«Ich weiß es.»
«Steh auf, daß ich dir den Kuß
gebe, den ich auch deinen Gefährten gegeben habe.» Er zwingt ihn, aufzustehen
und küßt ihn.
«Ich weiß es», wiederholt der
gesunde, kräftige Alte, der gut gekleidet ist. «Ich weiß es. Sie hatte recht. Es
war nicht das Delirium einer Sterbenden! O Herr, mein Gott! Wie die Seele doch
sieht und dich hört, wenn du sie rufst.» Jonathan ist bewegt.
Doch er faßt sich. Er verliert
keine Zeit. Ehrerbietig, doch ohne zu zögern kommt er zur Sache: «Jesus, Erlöser
und Messias, ich bin gekommen, dich zu bitten, mit mir zu gehen. Ich habe mit
Esther gesprochen, und sie hat gesagt... Aber vorher hatte Johanna mit dir
gesprochen und hat mir gesagt... oh! verlacht nicht einen glücklichen Mann, ihr,
die ihr mich hört... glücklich und angstvoll zugleich, bis ich deine Antwort
"Ich komme" gehört habe. Du weißt, daß ich mit der sterbenden Herrin auf der
Reise war. Welch eine Fahrt! Von Tiberias nach Bethsaida ging es gut. Doch,
nachdem wir das Boot verlassen und einen Wagen bestiegen hatten, den wir so gut
als möglich auspolsterten, begann die Qual. Wir kamen nur langsam voran, weil es
Nacht war; und sie litt. Bei Caesarea Philippi gab sie unter Bluterbrechen fast
den Geist auf. Wir mußten Halt machen. Am dritten Morgen - vor sieben Tagen -
ließ sie mich rufen. Sie schien schon tot, so weiß und erschöpft war sie. Doch
als ich sie ansprach, öffnete sie ihre sanften, sterbenden Gazellenaugen und
lächelte mir zu. Sie deutete mir mit ihrer kleinen, kalten Hand an, mich
niederzubeugen, denn sie hatte nur mehr eine fadendünne Stimme, und sagte mir:
"Jonathan, bring mich nach Hause zurück! Sofort!" Die Anstrengung, mir einen
Befehl zu erteilen, war zu groß für sie, die immer noch sanfter als ein
zärtliches Mädchen war, daß ihre Wangen sich röteten und ihre Augen für einen
Augenblick aufleuchteten. Dann fuhr sie fort: "Ich habe von meinem Haus in
Tiberias geträumt. Drinnen war ein Mann mit einem sternenklaren Antlitz,
hochgewachsen, blond, mit Augen wie der Himmel und einer Stimme, die süßer war
als Harfenklang. Er sagte: 'Ich bin das Leben! Kehre zurück! Ich erwarte dich,
um es dir zu geben.' Ich will sofort aufbrechen."
"Aber Herrin", entgegnete ich, "du
kannst nicht. Du bist sehr krank. Sobald es dir besser geht, wollen wir sehen."
Ich dachte, es handle sich um das Delirium einer Sterbenden. Doch sie weinte und
dann... oh, es war das erstemal, daß sie in diesen sechs Jahren, seit sie meine
Herrin ist, so zu mir gesprochen hat, und sie richtete sich, durch etwas Zorn
dazu fähig, sogar ein wenig auf und sagte: "Diener, ich will es. Ich bin deine
Herrin. Gehorche!" Darauf ist sie zurückgefallen, den Mund voller Blut. Ich
glaubte, sie werde sterben... und habe mir gesagt: "Stellen wir sie zufrieden.
Sterben muß sie so oder so... Ich werde mir keine Vorwürfe machen müssen, daß
ich sie an ihrem Ende noch verärgert habe, nachdem ich
252
doch immer bemüht war, sie in allem
zufriedenzustellen." Welch eine Reise! Sie wollte nie rasten, außer den Stunden
zwischen der Terz und der Sext. Ich habe die Pferde geschunden, um rascher
voranzukommen. Wir sind heute morgen um die neunte Stunde in Tiberias
angekommen... Und Esther hat mir berichtet... da habe ich begriffen, daß du es
gewesen bist, der sie gerufen hat. Denn es war um dieselbe Zeit und am selben
Tage, an dem du Esther ein Wunder versprochen hattest und im Geiste meiner
Herrin erschienen warst. Sie hat zur neunten Stunde sofort wieder aufbrechen
wollen und hat mich vorausgeschickt... Oh, komm, mein Erlöser!»
«Ich werde sofort kommen. Dieser
Glaube verdient Belohnung. Wer nach mir verlangt, besitzt mich. Gehen wir!»
«Warte! Ich habe einem Jungen eine
Börse zugeworfen und gesagt: "Drei, fünf, so viele Esel als möglich, wenn es
hier keine Pferde gibt, und so schnell wie möglich zum Hause des Jesus!" Sie
müssen nun kommen. So geht es rascher. Ich hoffe, sie in Kana anzutreffen. Wenn
sie wenigstens...»
«Was, Jonathan?»
«Wenn sie wenigstens noch lebt!»
«Sie lebt. Doch, auch wenn sie tot
wäre: ich bin das Leben. Hier ist meine Mutter.»
Die Jungfrau, die bestimmt von
irgend jemand benachrichtigt worden ist, kommt eilends herein, gefolgt von Maria
des Alphäus. «Sohn, du gehst fort?»
«Ja, Mutter. Ich gehe mit Jonathan.
Er ist hier. Ich wußte, daß ich ihn dir vorstellen könne. Daher habe ich einen
Tag länger gewartet.»
Jonathan hat sich sofort mit auf
der Brust gekreuzten Armen tief verbeugt. Nun kniet er nieder, ergreift zart das
Kleid Mariens, küßt dessen Saum und sagt: «Ich grüße die Mutter meines
Erlösers.»
Alphäus der Sara sagt zu den
Neugierigen: «Nun, was sagt ihr jetzt? Ist es nicht beschämend, daß nur wir ohne
Glauben sind?»
Man hört ein vielfaches
Hufgeklapper auf der Straße. Es sind die Esel. Ich glaube, es sind alle, die es
in Nazareth gibt, und sie würden für eine Schwadron ausreichen. Während Jonathan
die besten aussucht, und ohne lange zu feilschen kauft und noch zwei weitere
Nazarener mit Eseln anwirbt für den Fall, daß ein Tier unterwegs ausfällt, und
sie die ganze Eselkaravane wieder zurückbringen können, helfen Maria und die
andere Maria beim Zubinden der Säcke und Taschen.
Maria des Alphäus sagt zu den
Söhnen: «Ich werde eure Betten unverändert lassen und sie liebkosen. Mir wird
dann sein, als ob ich euch liebkoste. Seid gut und seid eures Jesu würdig, meine
Söhne... und ich... ich werde glücklich sein ...» und dabei weint sie dicke
Tränen.
Maria hilft ihrem Jesus und
liebkost ihn liebevoll und gibt ihm tausend Empfehlungen und Ratschläge für die
beiden Hirten im Libanon mit;
253
denn Jesus hat ihr gesagt, daß er
nicht zurückkommen werde, bevor er die beiden Hirten gefunden habe. Sie machen
sich auf den Weg. Der Abend ist hereingebrochen, und das erste Mondviertel wird
am Himmel sichtbar. Jesus ist mit Jonathan an der Spitze des Zuges, die anderen
folgen. Solange sie in der Stadt sind, reisen sie im Schritt, weil Menschen sich
um sie ansammeln. Doch kaum sind sie außerhalb der Stadt, reiten sie Galopp in
einer Karavane, die von Hufen und Eisen dröhnt.
«Sie ist im Wagen mit Esther»,
erklärt Jonathan. «Oh, meine Herrin! Welch eine Freude, dich glücklich zu
machen! Dir Jesus zu bringen! Oh, mein Herr, dich hier zu haben, an meiner
Seite! Dich zu haben! Du hast wirklich das Antlitz eines Sternes, so wie sie
dich gesehen hat, und du bist blond, mit den Augen von der Farbe des Himmels,
und deine Stimme ist wie Harfenklang... Oh, aber auch deine Mutter! Wirst du sie
eines Tages der Herrin vorstellen?»
«Deine Herrin wird zu meiner Mutter
kommen; sie werden Freundinnen werden.»
«Ja? Oh! ... Ja, das soll sein.
Johanna ist Frau und war Mutter. Doch sie hat eine Seele, die rein ist wie die
einer Jungfrau. Sie darf sich in der Nähe der gesegneten Maria aufhalten.»
Jesus wendet sich um, weil Johannes
so frisch und fröhlich gelacht hat und nun von den anderen nachgeahmt wird.
«Ich bin es, Meister, der alle
anderen zum Lachen bringt. Auf dem Boot bin ich sicherer als ein Kater, doch
hier oben, auf diesem Esel... Ich komme mir vor wie ein vergessenes Faß auf der
Brücke eines schwankenden Bootes», sagt Petrus.
Jesus lächelt und ermutigt ihn; er
versichert ihm, daß der Ritt bald zu Ende sei.
«Oh, das macht nichts, wenn mich
die Jungen auslachen. Das ist nichts Schlechtes. Nur voran und machen wir die
Gute glücklich.»
Jesus wendet sich nochmals um wegen
eines anderen Lachanfalls. Petrus ruft aus: «Nein, das kann ich dir nicht sagen,
Meister. Oder doch? Warum auch nicht? Ja, ich will es dir sagen. Ich habe
behauptet: "Unser hoher Minister wird die Hände ringen, wenn er erfährt, daß er
gerade dann nicht dabei war, als er einer Dame den Pfau hätte machen können."
Und sie lachen alle. Aber es ist so. Ich bin überzeugt, wenn Judas dies geahnt
hätte, dann wären ihm die Weinberge seines Vaters Nebensache gewesen.»
Jesus erwidert nichts.
Der Weg ist rasch zurückgelegt auf
den wohlgenährten und ausgeruhten Eseln. Beim Mondschein erreichen sie Kana.
«Wenn du erlaubst, will ich
vorangehen. Ich werde den Wagen anhalten. Die Stöße quälen sie so sehr.»
«Geh nur.»
254
Jonathan treibt das Pferd zum
Galopp an.
Es geht weiter im Mondschein.
Endlich erscheinen am Straßenrand die Umrisse eines großen gedeckten
Reisewagens. Jesus treibt seinen Esel an, der nun in leichten Galopp fällt. Er
erreicht den Wagen und steigt ab.
«Der Messias!», verkündet Jonathan.
Die alte Amme wirft sich vom Wagen
auf den Weg, auf dem Weg in den Staub. «Oh, rette sie! Sie stirbt!»
«Hier bin ich», sagt Jesus und
steigt in den Wagen, wo auf einem Haufen Kissen ein zarter Körper ruht. In einer
Ecke stehen eine brennende Lampe, Pokale und Krüge. Eine junge Dienerin trocknet
weinend den kalten Schweiß auf der Stirn der Sterbenden. Jonathan eilt mit einer
Laterne herbei.
Jesus beugt sich über die wirklich
sterbende Frau. Es ist kein Unterschied zwischen dem Hell des Kleides und der
leicht blauen Blässe der Hände und des leblosen Gesichtes. Nur die dichten
Brauen und die langen schwarzen Wimpern bringen etwas Farbe in dieses
schneeweiße Antlitz. Auch die roten Flecken der Schwindsüchtigen fehlen auf den
Wangen. Die Lippen sind kaum noch ein violetter Schatten; sie sind halbgeöffnet
beim schweren Atmen.
Jesus kniet bei ihr nieder und
betrachtet sie. Die Amme nimmt eine Hand der Kranken und ruft sie beim Namen.
Doch ihre Seele ist bereits an der Schwelle der Ewigkeit, sie hört nichts mehr.
Die Jünger sind angekommen, wie
auch die beiden Jungen von Nazareth, und alle drängen sich um den Wagen.
Jesus legt eine Hand auf die Stirn
der Sterbenden, die für einen Augenblick die verschleierten Augen öffnet und sie
dann wieder zufallen läßt.
«Sie hört nichts mehr», jammert die
Amme und weint noch stärker.
Jesus macht eine Geste: «Mutter,
sie wird hören. Hab Vertrauen!»Dann ruft er: «Johanna, Johanna! Ich bin es! Ich
rufe dich! Ich bin das Leben! Schau mich an, Johanna!»
Die Sterbende öffnet ihre großen
schwarzen Augen und betrachtet mit einem lebhaften Blick das über sie gebeugte
Antlitz. Sie ist freudig bewegt und lächelt. Sie bewegt leicht die Lippen,
bringt jedoch keinen Laut zustande.
«Ja, ich bin es. Du bist gekommen,
und ich bin gekommen, um dich zu retten. Kannst du an mich glauben?»
Die Sterbende bejaht mit einem
Nicken des Hauptes. All ihre Lebenskraft und alle unausgesprochenen Worte sind
in ihrem Blick konzentriert.
«Gut.» (Jesus, obgleich in kniender
Stellung bleibend und seine linke Hand auf ihrer Stirn, richtet sich auf und
nimmt den Ausdruck des Wunderwirkens an.) «Gut. Ich will es. Sei geheilt! Steh
auf!» Er nimmt die Hand von der Stirn und steht auf.
Nur ein Bruchteil einer Minute,
dann setzt sich Johanna des Chuza
255
ohne irgendeine Hilfe auf, stößt
einen Schrei aus, wirft sich Jesus zu Füßen und ruft dabei mit lauter Stimme
glücklich aus: «Oh, dich lieben zu dürfen, oh, du mein Leben! Für immer! Ich bin
dein! Für immer dein! Amme, Jonathan! Ich bin geheilt. Oh, schnell, eilt und
sagt es Chuza! Er soll kommen und den Herrn anbeten. Oh, segne mich noch einmal,
noch einmal! Oh, mein Erlöser!» Sie weint und lacht und küßt die Kleider und die
Hände Jesu.
«Ich segne dich, ja. Was willst du
sonst noch von mir?»
«Nichts, Herr! Nur, daß du mich
liebst und daß ich dich lieben darf!»
«Möchtest du keinen Sohn haben?»
«Oh, einen Sohn! ... Entscheide du,
Herr. Ich will alles dir überlassen, meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine
Zukunft. Alles habe ich von dir, alles gebe ich dir! Gib du deiner Dienerin, was
du für gut hältst!»
«Das ewige Leben also. Sei
glücklich. Gott liebt dich. Ich gehe nun. Ich segne dich und ich segne euch.»
«Nein, Herr! Komm in mein Haus,
verweile darin! Denn nun ist es wahrlich ein blühender Rosenstrauch. Erlaube
mir, mit dir dorthin zurückzukehren. Oh, ich Glückliche!»
«Ich komme; aber ich habe meine
Jünger.»
«Meine Brüder, Herr! Johanna wird
für sie wie für dich Speise und Trank und jede Stärkung haben. Mache mich
glücklich!»
«Laßt uns aufbrechen! Schickt die
Esel zurück und folgt zu Fuß! Der Weg ist nicht sehr lang. Wir werden langsam
fahren, damit ihr folgen könnt. Lebt wohl, Ismael und Aser! Grüßt mir nochmals
meine Mutter und alle meine Freunde in Nazareth!»
Die beiden Nazarener gehen mit
ihren schreienden Eseln erstaunt davon, während der Wagen mit seiner freudvollen
Last den Rückweg einschlägt. Es folgt die Gruppe der Jünger, die sich über das
eben Vorgefallene unterhalten.
Alles ist zu Ende.
141. JESUS IM LIBANON BEI DEN
HIRTEN BENJAMIN UND DANIEL
Jesus geht an der Seite Jonathans
auf einem grünen beschatteten Pfad. Es folgen die Apostel, die miteinander
reden. Doch Petrus trennt sich von ihnen, kommt nach vorne und fragt Jonathan in
seiner üblichen offenen Art: «Wäre denn der Weg über Caesarea Philippi nicht
kürzer gewesen? Auf diesem hier... wie lang werden wir da brauchen? Bist du denn
mit deiner Herrin auf diesem Weg gekommen?»
«Mit einer Kranken habe ich alles
versucht. Doch du mußt bedenken,
256
daß ich zum Personal des Antipas
gehöre, und Philippus nach dieser Blutschande nicht gerne Höflinge des Herodes
sieht... Es ist nicht meinetwegen, weißt du, daß ich Angst habe. Aber ich möchte
euch und besonders dir, Meister, keine Unannehmlichkeiten verursachen und keine
Feinde schaffen. In der Tetrarchie des Philippus wie in der des Antipas muß das
Wort verkündet werden... und wenn sie euch hassen, wie könnt ihr das dann tun?
Bei der Rückkehr nehmt ihr den Weg, den ihr für besser haltet.»
«Ich lobe deine Klugheit, Jonathan.
Doch auf dem Rückweg möchte ich in Richtung des Landes der Phönizier gehen»,
sagt Jesus.
«Sie sind in die Nebel des Irrtums
eingehüllt.»
«Ich werde mich an den Grenzen
zeigen, um sie daran zu erinnern, daß es ein Licht gibt.»
«Glaubst du, daß Philippus sich an
einem Diener wegen des Unrechts, das ihm von seinem Bruder zugefügt worden ist,
rächen könnte?»
«Ja, Petrus. Der eine ist wie der
andere. Alle niedrigen Instinkte beherrschen sie, und sie können nicht
unterscheiden. Sie gleichen Tieren, nicht Menschen, glaube es mir!»
«Und doch, uns, oder vielmehr ihn,
der ein Verwandter des Johannes ist, müßte er lieben. Im Grunde hat Johannes
auch in seinem Namen und zu seinen Gunsten gesprochen, als er im Namen Gottes
sprach.»
«Er würde euch nicht einmal fragen,
wer ihr seid oder woher ihr kommt, wenn er euch mit mir sähe. Wenn er mich
erkennen würde oder wenn ihn ein Feind des Hauses des Antipas auf mich, den
Diener seines Prokurators, aufmerksam machte, würdet ihr sofort eingesperrt
werden. Wenn ihr wüßtet, wieviel Schmutz sich unter den Purpurkleidern
versteckt! Racheakte, Verrate, Verleumdungen, Unzucht und Raub bilden die
Substanz ihrer Seele. Seele? Nun... na, sagen wir so. Ich glaube, sie haben
keine Seele mehr. Ihr werdet es erfahren. Warum wurde Johannes freigelassen? Aus
Rache! Ein Offizier, der einen anderen aus dem Weg räumen wollte, einen
Favoriten des Antipas, und mit Hilfe einer Geldsumme bei Nacht Einlaß in den
Kerker gefunden hatte, befreite Johannes... Ich vermute, er wird den Rivalen mit
einem Drogen-Wein betäubt haben, und am Morgen danach mußte der Arme seinen Kopf
anstelle des ausgebrochenen Täufers hinhalten. Ein Ekel, sage ich!»
«Und dein Herr, wie verhält er
sich? Mir scheint, er ist ein guter Mensch.»
«Er ist es. Doch er kann nicht
anders. Sein Vater und sein Großvater gehörten zum Hofe des großen Herodes, und
der Sohn hatte keine andere Wahl. Er ist unglücklich; aber er muß sich darauf
beschränken, seine Frau von diesem Hofe des Lasters fernzuhalten.»
«Könnte er nicht sagen: "Es ekelt
mich an" und denn gehen?»
«Er könnte. Aber, obwohl er sehr
gut ist, ist er noch nicht dazu fähig.
257
Es würde für ihn sicher den Tod
bedeuten. Und wer möchte sterben aus einer bis zum höchsten Grade verwirklichten
spirituellen Treue? Ein Heiliger wie der Täufer. Vielleicht. Aber wir
Armseligen!»
Jesus, der sie ungestört hat
sprechen lassen, schaltet sich nun ein: «In Bälde werden in allen Teilen der
bekannten Welt in so großer Zahl wie die Blumen auf einer Frühlingswiese die
Heiligen sich glücklich preisen, sterben zu dürfen aus Treue zur Gnade und aus
Liebe zu Gott!»
«Wirklich? Oh, wie gerne würde ich
diese Heiligen grüßen und ihnen sagen: "Betet für den armen Simon des Jonas!"
sagt Petrus.
Jesus schaut ihm lächelnd ins
Gesicht.
«Warum schaust du mich so an?»
«Weil du sie sehen wirst, wenn du
ihnen beistehen wirst und weil sie dich sehen werden, wenn sie dir beistehen
werden!»
«Wobei denn, Herr?»
«Sie werden dir helfen, der durch
das Opfer geweihte Fels zu werden, auf dem mein Zeugnis gefeiert und auferbaut
wird.»
«Ich verstehe dich nicht.»
«Du wirst es einmal verstehen.»
Die anderen Jünger, die sich
genähert und zugehört haben, reden miteinander.
Jesus wendet sich um: «Wahrlich,
ich sage euch, durch die eine oder andere Marter werdet ihr alle geprüft werden.
Zur Zeit ist es der Verzicht auf Annehmlichkeiten, Neigungen und Vorteile.
Nachher wird es etwas stets Höheres sein bis zum erhabenen Opfer, das euch mit
einem unvergänglichen Diadem krönen wird. Seid treu! Doch ihr alle werdet es
sein. Und ihr werdet es erhalten.»
«Werden uns die Juden, das
Synedrium vielleicht, töten wegen unserer Liebe zu dir?»
«Jerusalem wäscht die Schwellen
seines Tempels mit dem Blute seiner Propheten und seiner Heiligen. Aber auch die
Welt wartet darauf, gewaschen zu werden... Tempel über Tempel der
schrecklichsten Götter gibt es. Sie werden in Zukunft Tempel des wahren Gottes
sein, und der Aussatz des Heidentums wird geheilt werden mit dem reinigenden
Wasser aus dem Blute der Märtyrer.»
«O allmächtiger Gott! Herr!
Meister! Ich bin nicht würdig zu so Großem! Ich bin schwach. Ich habe Angst vor
dem Bösen. O Herr! Schicke deinen unnützen Knecht weg oder gib du mir die Kraft!
Ich möchte dich nicht boßstellen, Meister, mit meiner Feigheit!» Petrus hat sich
zu Füßen des Meisters niedergeworfen und fleht ihn aus ganzem Herzen mit
bebender Stimme an.
«Steh auf, mein Petrus! Habe keine
Angst! Du hast noch einen weiten Weg vor dir, und die Stunde wird kommen, in der
du auch noch die letzte Aufgabe erfüllen willst. Dann wirst du alle Kraft haben,
vom Himmel
258
und aus dir selbst. Ich werde bei
dir sein und dich mit Bewunderung betrachten.»
«Du sagst es... und ich glaube es.
Doch ich bin ein so armseliger Mensch!»
Sie schicken sich an
weiterzugehen...
... und nach einer geraumen
Unterbrechung beginnt die Vision wieder, und ich sehe, daß sie schon die Ebene
hinter sich haben und sich an die Besteigung eines Berges machen, der immer
waldreicher und höher wird. Es ist aber nicht derselbe Tag... denn während beim
letztenmal der Morgen schon heiß war, sehe ich nun einen schönen Sonnenaufgang,
der auf allen Halmen flüssige Diamanten entzündet. Immer neue Nadelwälder werden
überstiegen; andere grüßen höher oben. Sie nehmen die unermüdlichen Pilger wie
grüne Dome zwischen ihren Säulen auf.
Der Libanon ist wirklich eine
wunderbare Gebirgskette. Ich weiß nicht, ob alles zum Libanon gehört oder nur
dieser Berg. Ich sehe, daß sich wilde Bergmassive in die Höhe erheben, und sehe
Täler und Flüsse, die silberblauen Bändern gleichen. Vögel jeder Art erfüllen
mit ihrem Gesang und Flügelschlag die Nadelwälder, die in dieser Morgenstunde
alles in einen herrlichen Harzduft hüllen. Zum Tale hingewandt, besser in
westlicher Richtung, sieht man in der Ferne das weite, ruhige und feierliche
Meer glänzen, und die ganze Küste, die sich von Norden nach Süden erstreckt mit
ihren Städten, ihren Häfen und den wenigen Zuflüssen ins Meer, die auf der
trockenen Erde silberne Kommas zu sein scheinen und deren spärliche Wasser die
Sommerhitze noch aufsaugt...
«Schön ist dieser Ort», bemerkt
Petrus.
«Es ist nicht einmal so heiß», sagt
Simon.
«Dank all den Bäumen ist die Sonne
wenig lästig», fügt Matthäus hinzu.
«Hat man das Zedernholz für den
Tempelbau von hier geholt?» fragt Johannes.
«Ja. Das sind die Wälder, die das
schönste Holz liefern. Der Herr von Benjamin und Daniel hat viele Wälder und
Herden. Das Holz wird am Ort gesägt und dann auf Kanälen oder auf den Achseln zu
Tal gebracht. Eine schwierige Arbeit, wenn die Stämme in ihrer ganzen Länge
benötigt werden, wie dies beim Tempel der Fall war. Doch der Herr zahlt gut, und
viele arbeiten bei ihm. Er ist auch recht verständig. Nicht wie der wütende
Doras. Armer Jonas!» antwortet Jonathan.
«Warum hält er seine Knechte fast
wie Sklaven? Jonas hat es mir gesagt, nachdem ich ihm geraten hatte: "Verlasse
ihn einfach und komm mit uns! Simon des Jonas wird immer Brot für dich haben."
Er entgegnete: "Ich kann nicht, wenn ich mich nicht loskaufe." Was ist das für
eine Geschichte?»
«Doras, und nicht nur er allein,
macht es so in Israel: Wenn er einen
259
guten Diener sieht, dann dreht er
es mit Schläue so, daß er zu seinem Sklaven wird. Er belastet ihn mit fingierten
Schulden, die der Arme niemals bezahlen kann. Und wenn die Summe groß genug ist,
dann sagt er: "Du hast dich bei mir zum Sklaven verschuldet."»
«Welche Schande! Und das ist ein
Pharisäer!»
«Ja. Jonas konnte, solange er etwas
Erspartes hatte, bezahlen; dann aber... In einem Jahr fiel Hagel, in einem
anderen herrschte Dürre. Das Korn und die Reben gaben wenig, und Doras
vervielfachte in seinen Berechnungen den Schaden; Jonas wurde wegen der
Überbelastung an Arbeit krank. Doras lieh ihm das Geld für den Arzt, doch dann
verlangte er dafür das zwölffache zurück, und da Jonas es nicht hatte, schlug er
es zu den anderen Schulden. Um es kurz zu machen: nach einigen Jahren war die
Schuld so groß, daß er zum Sklaven wurde. Er wird ihn nie freilassen. Er wird
immer Gründe und neue Schulden finden.» Die Erinnerung an den Freund läßt
Jonathan traurig werden.
«Und dein Herr könnte ihn nicht?
...»
«Was, ihn veranlassen, Jonas
menschenwürdiger zu behandeln? Wer kann sich denn gegen die Pharisäer stellen?
Doras ist einer der Mächtigen. Ich nehme an, daß er sogar mit dem Hohenpriester
verwandt ist. Zumindest sagt man es. Einmal, als Jonas fast zu Tode geprügelt
worden war, und ich es erfuhr, weinte ich so sehr, daß Chuza mir sagte: "Ich
werde ihn freikaufen, um dich zufriedenzustellen." Doch Doras lachte ihm nur ins
Gesicht und ging auf den Vorschlag nicht ein. Oh, dieser Mensch... Er hat die
reichsten Felder Israels; doch ich schwöre es: sie sind mit dem Blut und den
Tränen seiner Sklaven getränkt.»
Jesus betrachtet den Zeloten, und
der Zelote betrachtet Jesus. Beide sind betrübt.
«Und Daniels Herr, ist er gut?»
«Er ist immerhin menschlich. Er ist
herrisch, doch er unterdrückt nicht. Und da die Hirten ehrlich sind, behandelt
er sie gut. Sie sind verantwortlich für die Weideplätze. Er kennt mich und
achtet mich, weil ich der Diener Chuzas bin und ihm vielleicht nützlich sein
kann. Warum, Herr, ist der Mensch so egoistisch?»
«Weil die Liebe im irdischen
Paradies erwürgt wurde. Doch ich bin gekommen, die Schlinge zu lösen und die
Liebe wieder zum Leben zu erwecken.»
«Hier sind wir auf den Gütern des
Elisäus. Die Weiden sind noch weit entfernt. Doch zu dieser Stunde sind die
Schafe wegen der Sonne fast immer in den Ställen. Ich will nachsehen, ob sie da
sind.» Jonathan eilt davon.
Nach einiger Zeit kommt er zusammen
mit zwei ergrauten, doch robusten Hirten zurück, die über den Abhang zu Jesus
hineilen.
«Der Friede sei mit euch!»
260
«Oh! Unser Kind von Bethlehem!»
sagt der eine, und der andere: «Der Friede Gottes ist zu uns gekommen, sei dafür
gepriesen!» Die Männer haben sich ins Gras geworfen.
«Steht auf! Ich gebe euch den
Segen, und ich bin froh darüber, denn er steigt nieder mit Freude auf jene, die
dessen würdig sind.»
«Oh, wir würdig?»
«Ja, ihr, weil ihr immer treu
gewesen seid.»
«Wer hätte an unserer Stelle untreu
sein können? Wer könnte die Erinnerung an jene Stunde auslöschen? Wer könnte
sagen: "Es ist nicht wahr, was wir gesehen haben?" Wie könnten wir vergessen,
daß du uns über Monate hindurch zugelächelt hast, wenn wir gegen Abend mit den
Schafen zurückkehrten und dir zuriefen; daß du in deine kleine Händchen
geklatscht hast beim Klang unserer Weidenpfeifen? Erinnerst du dich noch daran,
Daniel? Fast immer weiß gekleidet in den Armen der Mutter zeigtest du dich uns
im Sonnenschein auf Annas Wiese oder am Fenster: eine Blume auf dem Weiß des
mütterlichen Gewandes.»
«Und als du uns damals mit deinen
ersten Schrittchen entgegengetrippelt bist, um ein Lämmlein zu streicheln, das
aber nicht so lockig war wie du? Wie warst du da glücklich! Und wir wußten in
unserer Plumpheit nichts anzufangen. Wie gerne wären wir Engel gewesen, um dir
nicht zu klobig zu erscheinen ...»
«Oh, meine Freunde! Ich konnte euch
ins Herz sehen, und auch heute sehe ich hinein.»
«Du lächelst uns zu wie damals.»
«Und du bist bis hierher zu uns
armen Hirten gekommen!»
«Zu meinen Freunden. Jetzt bin ich
zufrieden. Ich habe euch alle wiedergefunden und werde euch nicht mehr
verlieren. Könnt ihr dem Menschensohn und seinen Freunden Gastfreundschaft
gewähren?»
«O Herr! Und du fragst uns? Es wird
nicht an Milch und Brot fehlen. Auch wenn wir nur einen einzigen Bissen hätten,
würden wir ihn dir geben, nur um dich bei uns zu haben. Nicht wahr, Benjamin?»
«Unser Herz würden wir dir als
Nahrung geben, dir, unserem langersehnten Herrn!»
«So wollen wir also gehen und von
Gott reden.»
«Und von deinen Eltern, Herr!
Joseph, so gut! Maria, oh, die Mutter! Seht die taufrische Narzisse. Sie ist
rein und schön und gleicht einem diamantenen Stern. Doch sie... oh, das hier ist
nichts im Vergleich zur Mutter! Ein Lächeln von ihr war Reinigung... Ihr
begegnen zu dürfen, ein Fest... Sie zu hören, bedeutete sich heiligen! Erinnerst
auch du dich noch an ihre Worte, Benjamin?»
«Ja, ich kann sie wiederholen,
Herr. Denn als sie in den Monaten, in denen wir sie hören durften, zu uns
sprach, haben sich ihre Worte hier eingegraben (und er schlägt sich an die
Brust). Das ist Wissenschaft, die wir
261
verstehen können; denn es sind die
Worte der Liebe... und die Liebe verstehen alle. Komm, Herr, tritt ein und segne
diese glückliche Hütte.»
Sie betreten einen Raum neben dem
großen Schafstall, und alles ist zu Ende.
142. JESUS ERHÄLT IN DER STADT AM
MEER BRIEFE ÜBER JONAS
Jesus befindet sich in der
wunderschönen Stadt am Meer, die an einem natürlichen Golf liegt, der so weit
und wohlgeschützt ist, daß er viele Schiffe aufnehmen kann, und außerdem über
einen mächtigen Hafendamm verfügt, der die Anlage noch sicherer macht. Auch vom
Militär muß dieser Hafen sehr viel benützt werden, denn ich sehe Dreiruderer
römischer Herkunft mit Soldaten an Bord. Sie landen gerade; aber ich weiß nicht,
ob neue Truppen ankommen oder ob die Besatzung nur eine Verstärkung erhält. Der
Hafen, besser noch die Hafenstadt, die von vesuvartigen Bergen beherrscht wird,
erinnert mich etwas an Neapel.
Jesus sitzt in einem armen Haus am
Hafen. Es muß das Haus eines Fischers sein; vielleicht ein Freund des Petrus
oder des Johannes, denn ich sehe, daß die beiden sich im Hause auskennen und mit
den Bewohnern gut bekannt sind. Ich vermisse den Hirten Joseph. Natürlich sehe
ich auch Iskariot nicht, der noch nicht zu den Jüngern zurückgekehrt ist. Jesus
spricht mit sehr einfachen Worten zu den Familienangehörigen und einigen
anderen, die gekommen sind, ihn zu hören. Es ist jedoch keine eigentliche
Predigt. Es sind Worte des Rates und des Trostes, wie nur er sie geben kann.
Andreas kommt wahrscheinlich von
einer Besorgung zurück, denn er hat einige Pakete in der Hand. Er ist ganz rot
geworden; denn in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu geraten, bedeutet für
ihn offenbar ein wahres Martyrium. Er nähert sich Jesus und flüstert: «Meister,
könntest du mit mir kommen? Es wäre da etwas Gutes zu tun. Du allein kannst es.»
Jesus steht auf, ohne zu fragen,
worum es sich handelt. Doch Petrus fragt: «Wo führst du ihn hin? Er ist so müde!
Jetzt ist es Zeit für das Abendbrot. Sie können bis morgen auf ihn warten.»
«Nein, es muß sofort sein. Es ist
...»
«Na, rede schon, du ängstliche
Gazelle! Schaut nur, wie ein so großer und starker Mann so schüchtern sein kann!
Er gleicht einem im Netz verfangenen Fischlein.»
Andreas wird noch röter im Gesicht.
Jesus verteidigt ihn und zieht ihn an sich: «Mir gefällt er wie er ist! Laß ihn
in Frieden. Dein Bruder ist wie
262
heilendes Wasser. Es arbeitet
lautlos in der Tiefe, kommt wie ein Faden aus der Erde, doch wer davon trinkt,
wird geheilt. Gehen wir, Andreas!»
«Auch ich werde mitkommen. Ich
möchte wissen, wohin er dich führt», erklärt Petrus.
Andreas bittet flehentlich: «Nein,
Meister. Nur du und ich allein! Wenn andere dabei sind, dann kann man nichts
machen... Es ist eine Herzensangelegenheit ...»
«Was soll das sein? Spielst du den
Brautführer?»
Andreas antwortet dem Bruder nicht.
Er wendet sich an Jesus: «Ein Mann will seine Frau verstoßen; ich habe mit ihm
gesprochen. Doch ich tauge nicht zum Reden... Doch wenn du mit ihm sprächest...
oh, dir würde es sicher gelingen; denn der Mann ist nicht böse. Er ist... er
ist... er soll es dir selbst sagen ...»
Jesus verläßt mit Andreas das Haus,
ohne etwas zu sagen. Petrus scheint zuerst etwas unentschlossen, sagt aber dann:
«Und ich gehe doch. Ich will wenigstens sehen, wohin sie gehen.»
Er geht, obwohl die anderen ihn
ermahnen, es nicht zu tun.
Andreas biegt in eine kleine
Seitengasse ein. Petrus folgt. Er überquert einen kleinen Platz, der voller
schwatzender Frauen ist. Und Petrus folgt noch. Er durchschreitet eine
Toreinfahrt und gelangt in einen großen Hof, der von ärmlichen Behausungen
umgeben ist. Ich sage Toreinfahrt, weil da ein Torbogen ist. Doch eine Türe
fehlt. Und Petrus folgt immer noch. Jesus betritt mit Andreas eines der kleinen
Häuser. Petrus bleibt vor der Türe. Eine Frau bemerkt es und fragt ihn: «Bist du
ein Verwandter von Aava? Auch die beiden anderen? Seid ihr gekommen, um sie
abzuholen?»
«Sei still, du Henne! Man darf mich
nicht sehen!»
Einer Frau das Reden verbieten ist
eine schwierige Angelegenheit. Doch da Petrus sie mit seinen blitzenden Augen
vertreibt, geht sie zu den anderen Frauen, um mit ihnen zu schwatzen. Der arme
Petrus ist im Nu von einer Schar von Frauen umringt; auch Burschen und Männer
kommen dazu. Alle ermahnen sich gegenseitig, zu schweigen, verstärken aber
dadurch nur den Lärm. Petrus kocht innerlich, doch er beherrscht sich.
Aus dem Innern des Hauses dringt
die schöne, volle, ruhige Stimme Jesu zusammen mit der gebrochenen Stimme einer
Frau und der rauhen eines Mannes.
«Wenn sie immer eine gute Frau
gewesen ist, warum willst du sie verstoßen? Hat sie jemals gegen dich gefehlt?»
«Nein, Meister, ich schwöre es dir!
Ich habe ihn wie meinen Augapfel geliebt», jammert die Frau.
Und der Mann darauf, kurz und hart:
«Nein, sie hat sich mir gegenüber nichts anderes zuschulden kommen lassen, als
daß sie unfruchtbar ist. Aber ich will Kinder haben. Ich will nicht den Fluch
Gottes auf meinem Namen.»
263
«Es ist nicht die Schuld deiner
Frau, wenn sie unfruchtbar ist.»
«Er beschuldigt mich und die Meinen
deswegen wie wegen eines Verrates.»
«Frau, sei ehrlich: wußtest du
darum?»
«Nein. Ich war und bin in allem wie
alle anderen. Auch der Arzt hat mir gesagt, daß ich normal bin. Aber ich kann
keine Kinder bekommen.»
«Du siehst also, daß sie dich nicht
betrogen hat. Auch sie leidet darunter. Sei auch du ehrlich: wenn sie Mutter
wäre, würdest du sie verstoßen?»
«Nein, ich schwöre es dir! Dann
hätte ich keinen Grund dazu. Doch der Rabbi und auch der Schriftgelehrte haben
gesagt: "Die Unfruchtbare ist ein Fluch Gottes für dein Haus, und du hast das
Recht und die Pflicht, dich von ihr zu trennen. Betrübe deine Männlichkeit nicht
mit Kinderlosigkeit." Ich tue also nur, was das Gesetz vorschreibt.»
«Nein, höre! Das Gesetz sagt: "Du
sollst nicht ehebrechen", und du bist gerade dabei, dies zu tun. Das
ursprüngliche Gebot lautet so und nicht anders. Wenn Moses, durch die Härte
eurer Herzen gezwungen, die Ehescheidung erlaubt hat, dann hat er es nur getan,
um von Gott gehaßte Dinge zu unterbinden. Doch eure Laster haben die Vorschrift
Moses immer mehr abgeschwächt und so die Kette von Bosheit und Steinigungen
bewirkt, die nun das Los der Frau geworden sind, die immer das Opfer eurer
Ansprüche, Launen, eurer Taubheit und Blindheit in der Liebe ist. Ich sage dir:
es ist dir nicht erlaubt, das zu tun, was du dir vorgenommen hast. Dein Vorsatz
ist eine Beleidigung Gottes. Hat Abraham Sarai verstoßen? Oder Jakob die Rachel?
Oder Elkana die Anna? Und Manue seine Frau? Kennst du den Täufer? Ja? War seine
Mutter nicht bis ins hohe Alter unfruchtbar, und hat sie nicht den Heiligen
Gottes geboren, so wie auch die Frau des Manue den Samson, Anna des Elkana den
Samuel, Rachel den Joseph und Sarai den Isaak geboren haben? Der Enthaltsamkeit
des Gatten, seinem Mitleid mit der Unfruchtbaren, seiner Treue zur Ehe schenkt
Gott einen seit Jahrhunderten gewährten Lohn, so wie er auch das Weinen der
Unfruchtbaren in Lachen verwandelt, da sie nun nicht mehr unfruchtbar und
betrübt ist, sondern voller Freude in ihrer späten Mutterwürde. Es ist dir nicht
erlaubt, die Liebe deiner Frau zu kränken. Sei gerecht und ehrbar! Gott wird
dich über deinen Verdienst hinaus belohnen.»
«Meister, du allein sprichst so.
Ich wußte dies nicht. Ich habe die Schriftgelehrten gefragt, und sie haben mir
geantwortet: "Tue es." Doch kein Wort darüber, daß Gott ein gutes Verhalten mit
seinen Gaben belohnt. Wir sind ihnen ausgeliefert, und sie schließen uns die
Augen und das Herz mit einer eisernen Hand. Ich bin nicht böse, Meister...
Verachte mich nicht!»
«Nein, ich verachte dich nicht. Ich
habe mehr Mitleid mit dir als mit
264
der Frau, die dort weint. Ihre
Tränen versiegen am Ende ihres Lebens. Dein Schmerz hingegen beginnt dann und
dauert ewig an. Denke daran!»
«Nein, es wird nicht so sein. Ich
will es nicht. Schwöre mir beim Gott Abrahams, daß das, was du sagst, Wahrheit
ist!»
«Ich bin die Wahrheit und die
Weisheit. Wer an mich glaubt, wird in sich Gerechtigkeit, Weisheit, Liebe und
Frieden haben.»
«Ich will dir glauben. Ja, ich will
dir glauben. Ich fühle in dir etwas, was den anderen fehlt. Daher gehe ich nun
zum Priester und sage ihm: "Ich werde sie nicht verstoßen. Ich behalte sie bei
mir und bitte Gott nur darum, daß er mir hilft, den Schmerz der Kinderlosigkeit
besser ertragen zu können." Aava, weine nicht... Wir wollen den Meister bitten,
wieder zu kommen, damit ich gut bleibe, und du... liebe mich auch in Zukunft!»
Die Frau weint noch stärker wegen
des Gegensatzes des eben noch empfundenen Schmerzes zur jetzigen Freude. Jesus
lächelt. «Weine nicht! Schau mich an, Frau!»
Sie hebt den Kopf. Mit ihrem
tränennassen Gesicht betrachtet sie das leuchtende Antlitz.
«Komm her, Mann! Knie vor deiner
Frau nieder! Ich werde euch nun segnen und eure Ehe heiligen. Hört: "Herr, Gott
unserer Väter, der du aus dem Schlamm den Adam geschaffen und ihm Eva zur
Gefährtin gegeben hast, damit sie die Erde mit Menschen bevölkere und sie in
heiliger Gottesfurcht erziehe: komm hernieder mit deinem Segen und deiner
Barmherzigkeit, öffne und befruchte den Schoß, den der Feind geschlossen hält,
um zur zweifachen Sünde des Ehebruchs und der Verzweiflung zu führen! Habe
Erbarmen mit diesen beiden, heiliger Vater, höchster Schöpfer! Mache sie
glücklich und heilig! Mache sie fruchtbar wie einen Weinberg; er soll sie
beschützen wie eine Ulme, die nicht wankt. Steige herab, göttliches Leben, um
Leben zu geben! Komm herab, Feuer, um zu wärmen! Komm, o Mächtiger, und wirke!
Komm herab und mache, daß sie dir zum Dankfest für die Ernte des kommenden
Jahres ihre lebendige Gabe opfern können, ihren Erstgeborenen, den dir, o
Ewiger, heiligen Sohn; der du alle segnest, die auf dich hoffen."» Jesus hat mit
Donnerstimme gebetet, während seine heiligen Hände auf den geneigten Häuptern
der beiden lagen.
Die Leute beherrschen sich nicht
länger und beginnen zu drängen. In der ersten Reihe steht Petrus. «Steht auf!
Habt Vertrauen und seid heilig!»
«Oh, bleibe, Meister!», bitten die
beiden Versöhnten.
«Ich kann nicht. Ich werde
wiederkommen, mehrmals!»
«Bleibe, bleibe! Sprich zu uns!»,
ruft die Menge.
Doch Jesus gibt den Segen, ohne
sich länger aufzuhalten. Er verspricht aber, bald wiederzukommen. Eine kleine
Menge folgt ihm, als er zu dem Haus, das ihm Gastfreundschaft gewährt,
zurückkehrt.
265
«Du neugieriger Mensch! Was soll
ich mit dir machen?» fragt Jesus den Petrus auf dem Weg.
«Was du willst; ... aber inzwischen
bin ich dabeigewesen.»
Sie treten in das Haus ein,
verabschieden die Leute, die sich noch über das Ereignis unterhalten, und
begeben sich zum Abendessen.
Petrus ist immer noch neugierig.
«Meister, wird sie wirklich ein Kind bekommen?»
«Hast du schon einmal gesehen, daß
ich etwas verspreche, das sich nicht verwirklicht? Glaubst du, daß ich es mir
erlauben würde, das Vertrauen in den Vater auszunützen, um zu lügen und zu
enttäuschen?»
«Nein... aber... Du könntest es bei
allen Eheleuten so machen?»
«Ich könnte es. Ich tue es jedoch
nur, wo ich sehe, daß ein Kind die Eltern zur Heiligkeit führt. Wo es hingegen
ein Hindernis darstellen würde, greife ich nicht ein.»
Petrus wühlt nachdenklich in seinen
grauen Haaren und schweigt.
Der Hirte Joseph kommt herein. Er
ist ganz mit Staub bedeckt, als ob er einen weiten Weg hinter sich hätte.
«Du? Was ist vorgefallen?» fragt
Jesus nach dem Begrüßungskuß.
«Ich habe Briefe für dich. Deine
Mutter hat sie mir gegeben; ein Brief ist von ihr selbst. Hier sind sie.»
Joseph übergibt ihm drei kleine
Rollen aus feinem Pergament, die mit einem Band zusammengebunden sind. Die
größte von ihnen ist sogar versiegelt. Eine Rolle ist nur zugebunden, die dritte
hat ein gebrochenes Siegel.
«Dieser hier ist von deiner
Mutter», sagt Joseph und weist auf die Rolle mit dem Bändchen. Jesus öffnet sie
und liest. Zuerst nur leise, dann mit lauter Stimme: «"An meinen geliebten Sohn,
der Friede und Gottes Segen seien mit dir! Zur ersten Stunde der Kalenden des
Mondes von Elul kam ein Bote von Bethanien zu mir. Es war Isaak, der Hirte, dem
ich in deinem Namen den Friedenskuß gegeben und meinen Dank ausgesprochen habe.
Er brachte mir die beiden Briefe, die ich dir sende, und berichtete mündlich,
daß der Freund Lazarus von Bethanien dich ersucht, ihm seine Bitte zu erfüllen.
Geliebter Jesus, mein gepriesener Sohn und Herr, auch ich möchte dich um zwei
Dinge bitten: erstens möchte ich dich daran erinnern, daß du mir versprochen
hast, deine arme Mama im Worte zu unterweisen. Und zweitens möchte ich dich
bitten, nicht nach Nazareth zu kommen, ohne vorher mit mir gesprochen zu
haben."»
Jesus hält inne, steht auf, geht zu
Jakobus und Judas und stellt sich zwischen beide. Er umarmt sie beide fest und
sagt dann: «"Alphäus ist zur Zeit des letzten Vollmondes in Abrahams Schoß
zurückgekehrt, und die Trauer der Stadt war sehr groß."» Die beiden Söhne weinen
an der Brust Jesu, der den Brief zu Ende liest: «"In der letzten Stunde hat er
nach dir verlangt, doch du warst weit fort. Dies ist jedoch ein Trost für
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Maria, die darin die Vergebung
Gottes sieht; das wird auch den Neffen den Frieden geben."
Hört ihr, sie sagt es, und sie
weiß, was sie sagt.»
«Gib mir den Brief!» bittet
Jakobus.
«Nein, du würdest noch mehr
leiden.»
«Warum? Gibt es denn einen größeren
Schmerz als den Tod des Vaters ?»
«Hat er uns verflucht?» seufzt
Judas.
«Nein, nein, das nicht», sagt
Jesus.
«Du sagst so, um uns nicht zu
betrüben. Aber es ist doch so!»
«Lies!»
Und Judas liest: «"Jesus, ich bitte
dich, und auch Maria bittet dich darum: Komm nicht nach Nazareth, bis die
Trauerzeit vorbei ist! Die Liebe zu Alphäus macht die Nazarener gegen dich
ungerecht, und deine Mutter weint deswegen. Der gute Freund Alphäus (der Sara)
tröstet mich und beruhigt die Stadt. Viel Lärm hat die Erzählung Asers und
Ismaels über die Heilung der Frau Chuzas verursacht. Doch Nazareth ist jetzt ein
durch die Winde aus verschiedenen Richtungen aufgewühltes Meer. Ich segne dich,
mein Sohn, und erbitte von dir den Frieden und den Segen für meine Seele. Friede
den Neffen! Deine Mutter."»
Die Apostel trösten die weinenden
Brüder und reden mit ihnen. Doch Petrus fragt: «Und die anderen Briefe liest du
nicht?»
Jesus bejaht und öffnet die Rolle
des Lazarus. Er ruft Simon den Zeloten. Sie lesen miteinander in einer Ecke.
Dann öffnen sie die andere Rolle, lesen auch diese und sprechen miteinander. Ich
sehe, daß der Zelote Jesus von etwas überzeugen will, was ihm jedoch nicht
gelingt.
Jesus geht mit den Rollen in der
Hand in die Mitte des Zimmers und sagt: «Hört, Freunde! Wir alle sind eine
Familie, und es gibt keine Geheimnisse unter uns. Und wenn Mitleid das Übel
verbergen möchte, dann muß die Gerechtigkeit das Gute kundgeben. Hört also, was
Lazarus von Bethanien schreibt:
"An den Herrn Jesus, Frieden und
Segen! Frieden und Gruß meinem Freund Simon! Ich habe deinen Brief erhalten, und
als dein Diener habe ich mein Herz, mein Sein und alles, was ich habe, in deinen
Dienst gestellt, um dich zufriedenzustellen und die Ehre zu haben, dir kein
unnützer Knecht zu sein. Ich bin zu Doras gegangen, in sein Schloß in Judäa, und
habe ihn gebeten, mir seinen Diener Jonas zu verkaufen, wie es dein Wunsch ist.
Ich muß bekennen: wenn es nicht wegen der inständigen Bitte Simons, deines
Freundes, gewesen wäre, hätte ich diesen unberechenbaren, groben und gemeinen
Schakal niemals aufgesucht. Aber für dich, mein Meister und Freund, fühle ich
mich fähig, auch dem Teufel entgegenzutreten; denn ich meine, daß, wer für dich
arbeitet, dich in seiner Nähe hat und somit beschützt wird. Und beschützt war
ich in der Tat;
267
denn aller Voraussicht zum Trotz
habe ich gesiegt. Hart war der Wortwechsel und betrübend die ersten Reaktionen.
Dreimal mußte ich mich diesem heimtückischen Mächtigen beugen. Dann ließ er mich
einige Tage warten. Endlich kam die Antwort. Einer Natter würdig! Ich wage es
kaum zu sagen: 'Gib nach, um des Zweckes willen.' Denn er ist nicht wert, dich
zu haben. Doch es gibt keinen anderen Weg. In deinem Namen habe ich angenommen
und unterschrieben. Wenn ich es falsch gemacht habe, dann tadle mich. Doch
glaube mir: ich habe versucht, dir so gut als möglich zu dienen. Gestern kam
einer deiner Jünger aus Judäa, der sagte, er käme in deinem Namen, um zu
erfahren, ob Nachrichten für dich zu überbringen seien. Er nannte sich Judas von
Kerioth. Doch ich zog es vor, Isaak abzuwarten, um ihm den Brief zu geben. Und
ich wunderte mich, daß du jemand anderen geschickt hast, da du doch wissen mußt,
daß Isaak jeden Sabbat hierher kommt, um sich auszuruhen. Anderes habe ich dir
nicht mitzuteilen. Ich küsse deine heiligen Füße und bitte dich, sie zu deinem
Diener und Freund zu lenken, wie du es versprochen hast. Grüße an Simon. Dir,
Meister und Freund, einen Friedenskuß und die Bitte um deinen Segen! Lazarus."
Und jetzt der andere Brief: "Sei
gegrüßt, Lazarus. Ich habe mich entschlossen. Für die doppelte Summe kannst du
Jonas haben. Doch stelle ich diese Bedingung, von der ich auf keinen Fall
abgehen werde: ich will, daß Jonas zuvor noch die Ernte einbringen hilft. Er
kann dann beim Mond des Tischri im Morgengrauen abgeholt werden. Ich verlange
aber, daß Jesus von Nazareth ihn persönlich abholt. Ich bitte ihn, unter mein
Dach zu kommen, damit auch ich ihn kennenlerne. Ich verlange eine sofortige
Zahlung nach ordnungsgemäßem Vertrag. Doras."»
«Welche Pest!» schreit Petrus.
«Doch wer soll denn zahlen? Wer weiß, wieviel er verlangt, und wir... wir sind
immer ohne einen Heller!»
«Simon zahlt, um damit mich und den
armen Jonas glücklich zu machen. Er bekommt nur ein Wrack von einem Menschen,
der ihm nicht mehr nützlich sein kann. Doch er erwirbt sich ein großes Verdienst
für den Himmel.»
«Du? Oh!» Alle sind erstaunt. Auch
die Söhne des Alphäus vergessen vor Staunen einen Augenblick ihre Trauer.
«Er ist es! Es ist recht und
billig, daß man es erfährt.»
«Es wäre auch recht zu erfahren,
warum Judas von Kerioth zu Lazarus gegangen ist. Wer hat ihn denn dorthin
geschickt? Du etwa?»
Doch Jesus gibt Petrus keine
Antwort. Er ist sehr ernst und nachdenklich geworden. Er sagt nur: «Laßt Joseph
sich erquicken, und dann wollen wir uns alle zur Ruhe begeben. Ich werde die
Antwort für Lazarus vorbereiten... Ist Isaak immer noch in Nazareth?»
«Er wartet dort auf mich.»
«Dann werden wir alle nach Nazareth
gehen.»
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«Nein! Deine Mutter sagt...» Alle
sind erregt.
«Schweigt! Ich will es so. Die
Mutter spricht mit ihrem Herzen voller Liebe, ich urteile mit meinem Verstand.
Ich möchte es so, weil Judas nicht dabei ist. Ich möchte den Vettern Simon und
Joseph die Freundeshand reichen und mit ihnen weinen, bevor die Trauerzeit zu
Ende ist. Dann kehren wir nach Kapharnaum, nach Genesareth, an den See zurück,
um dort das Ende des Mondes des Tischri abzuwarten. Wir werden die beiden Marien
mit uns nehmen. Eure Mutter hat nun viel Liebe nötig. Wir werden sie ihr geben.
Meine Mutter hat Frieden nötig. Ich bin ihr Friede!»
«Glaubst du, daß in Nazareth ...»
fragt Petrus.
«Ich glaube gar nichts!»
«Ah, gut so; denn wenn sie sie
belästigen oder ihr Schmerzen bereiten, dann bekommen sie es mit mir zu tun!»
sagt Petrus erbost.
Jesus liebkost ihn, doch er ist
nachdenklich. Ich möchte sagen, er ist traurig. Dann geht er zu Judas und
Jakobus und setzt sich zu ihnen, um sie zu trösten.
Die anderen reden leise, um sie in
ihrem Schmerz nicht zu stören.
143. JESUS SCHLIESST IM HAUSE
MARIAS DES ALPHÄUS MIT DEM VETTER SIMON FRIEDEN
Der Abend senkt sich in einem
herrlichen Abendrot nieder, das zuerst wie erlöschendes Feuer wirkt, dann
dunkler wird, bis es die Farbe eines rötlichen Violetts annimmt. Eine einmalige,
herrliche Farbe, die den Himmel gegen Westen zeichnet, während der Osten langsam
erlischt, um im dunklen Kobaltblau des Himmels zu verschwinden, wo sich bereits
die ersten Sterne entzünden und der wachsende Mond sich in seiner zweiten Phase
zeigt. Die Landleute beeilen sich heimzugehen, und schon sieht man an den
Rauchwölkchen über den niedrigen Häusern von Nazareth, daß auf den Kochstellen
bereits das Feuer brennt.
Jesus kehrt in die Stadt zurück,
und im Gegensatz zum Wunsch der anderen will er nicht, daß jemand seine Mutter
verständige.
«Es wird nichts geschehen. Warum
sie vorher aufregen?» sagt er. Nun sind sie bei den ersten Häusern angelangt.
Einige Leute grüßen, andere flüstern hinter ihrem Rücken, weitere drehen sich um
oder schlagen die Türen zu, wenn die Gruppe der Apostel vorübergeht.
Das Minenspiel des Petrus ist ein
wahres Gedicht! Aber auch die anderen sind beunruhigt. Die Söhne des Alphäus
wirken wie zwei Verurteilte. Sie gehen mit Jesus voraus, gesenkten Hauptes. Doch
sie beobachten alles, und ab und zu schauen sie sich gegenseitig an; dann
blicken sie zu Jesus, wie um Verständnis bittend. Er antwortet, als ob nichts
Besonderes
269
wäre, mit der gewohnten
Liebenswürdigkeit auf die Begrüßungen und neigt sich liebevoll den Kindern zu,
die in ihrer Einfalt nicht für diesen oder jenen Partei nehmen, sondern immer
die kleinen Freunde ihres Jesus sind, der so gut zu ihnen ist.
Besonders eines der Kinder, ein
kugelrundes Dickerchen von ungefähr vier Jahren, löst sich von der Hand der
Mutter, springt Jesus mit ausgestreckten Ärmchen entgegen und bittet: «Nimm
mich, nimm mich!» Und Jesus stellt ihn zufrieden, nimmt ihn auf die Arme und
küßt ihn auf den kleinen Mund, der ganz verschmiert ist von einer süßen,
saftigen Feige, an der das Kind noch saugt. Der Kleine faßt alle seine kindliche
Liebe zusammen, bietet Jesus ein Stückchen seiner Feige an und fordert ihn auf:
«Nimm nur, sie ist gut!» Jesus lacht, als ihm das kleine Männchen den Bissen in
den Mund steckt. Isaak kommt vom Brunnen mit Krügen beladen. Er sieht Jesus,
stellt die Krüge auf den Boden und ruft aus: «Oh, mein Herr!» und eilt Jesus
entgegen. «Soeben ist deine Mutter nach Hause gegangen. Sie war bei der
Schwägerin. Aber... hast du den Brief nicht bekommen?» fragt er.
«Gerade deswegen bin ich hier. Sag
der Mama noch nichts. Zuerst will ich in das Haus des Alphäus gehen.» Isaak sagt
klugerweise nichts anderes als: «Ich gehorche dir», nimmt seine Krüge und geht
nach Hause.
«Nun wollen wir hingehen. Ihr,
meine Freunde, erwartet uns hier. Wir werden uns nicht lange aufhalten.»
«Nein, wirklich. Wir wollen nicht
das Haus der Trauer betreten, sondern ziehen es vor, hier draußen zu bleiben.
Nicht wahr?» sagt Petrus.
«Petrus hat recht! Wir bleiben auf
der Straße, doch in deiner Nähe.»
Jesus gibt dem Willen aller nach.
Er lächelt jedoch und sagt: «Sie werden mir nichts antun. Glaubt mir! Sie sind
nicht böse. Sie sind nur von menschlichen Gefühlen erfüllt. Laßt uns gehen!»
Nun sind sie auf der Straße zum
Hause; sie betreten den Garten. Jesus geht voran, hinter ihm kommen Judas und
Jakobus. Jesus betritt die Schwelle der Küche. Maria des Alphäus ist am Herd mit
Kochen beschäftigt. Sie weint. In einer Ecke sitzen Simon und Joseph mit anderen
Männern. Unter ihnen befindet sich auch Alphäus der Sara. Sie sehen wie stumme
Statuen aus. Ob es so Brauch ist? Ich weiß es nicht.
«Der Friede sei mit diesem Haus und
der Seele, die es verlassen hat.»
Die Witwe stößt einen Schrei aus
und stellt sich mit einer instinktiven, abwehrenden Geste zwischen Jesus und die
anderen. Simon und Joseph erheben sich mit finsteren, ungläubigen Gesichtern.
Doch Jesus tut, als ob er ihre feindliche Haltung nicht bemerke. Er geht zu den
beiden Männern (Simon ist schon ungefähr fünfzig Jahre alt, wenn nicht älter)
und streckt ihnen die Hände entgegen. Die beiden sind fassungslos, wagen jedoch
nicht, etwas Ungehöriges zu tun. Alphäus der Sara zittert und leidet sichtlich.
270
«Simon, du bist nun das
Familienhaupt. Warum empfängst du mich nicht? Ich komme, um mit dir zu klagen.
Wie gerne wäre ich in der Stunde des Schmerzes bei euch gewesen! Es war nicht
meine Schuld, daß ich nicht hier war. Sei gerecht, Simon! Du mußt es zugeben!»
Der Mann verharrt immer noch in
seiner abwehrenden Haltung.
«Und du, Joseph, mit dem mir so
teuren Namen? Warum nimmst du meinen Kuß nicht an? Wollt ihr mir nicht erlauben,
mit euch zu weinen? Der Tod ist ein Band der echten Liebe. Und wir liebten uns!
Warum soll
jetzt Zwietracht herrschen?»
«Deinetwegen hatte unser Vater
einen so kummervollen Tod», sagt Joseph hart. Und Simon: «Du hättest hierbleiben
sollen. Du hast gewußt, daß er im Sterben lag. Warum bist du nicht
hiergeblieben? Er hat nach dir verlangt.»
«Ich hätte nicht mehr für ihn tun
können, als ich schon getan hatte; ihr wißt es...»
Simon sagt nun einsichtsvoller: «Es
ist wahr! Ich weiß, daß du gekommen bist und daß er dich weggejagt hat. Aber er
war krank und gekränkt.»
«Ich weiß es, und ich habe deiner
Mutter und deinen Brüdern gesagt: "Ich trage es ihm nicht nach, denn ich
verstehe sein Herz." Aber über allem steht Gott. Und Gott hat von allen dieses
Leiden verlangt: von mir,
der ich gelitten habe, glaubt es
mir, als ob mein Fleisch in Stücke zerrissen worden wäre; von eurem Vater, der
in diesem großen Leid eine große Wahrheit verstanden hat, die ihm Zeit seines
Lebens verborgen geblieben
war; von euch, die ihr durch dieses
Leid Gelegenheit habt, ein Opfer darzubringen, das heilsamer ist als das eines
geschlachteten Jungtieres; und von Jakobus und Judas, die nun nicht weniger
erwachsen sind als du,
mein Simon; auf ihnen lag das
größte Gewicht an Schmerz, der sie bedrückte wie ein Mühlstein, und sie sind
reif geworden in den Augen Gottes.»
«Welche Wahrheit hat unser Vater
erkannt? Eine einzige: daß in seiner
letzten Stunde sein eigenes Blut
ihm zum Feind geworden ist», sagt Joseph hart.
«Nein, denn über dem Blute steht
der Geist. Er hat den Schmerz Abrahams verstanden, und deshalb ist Abraham ihm
zu Hilfe gekommen»,
antwortet Jesus.
«Möge dies wahr sein! Doch wer gibt
uns die Gewähr dafür?»
«Ich, Simon. Und mehr noch als ich,
der Tod deines Vaters. Hat er mich nicht gesucht? Du selbst hast es gesagt.»
«Ich habe es gesagt, das ist wahr.
Er wollte Jesus. Er hat gesagt: "Wenigstens meine Seele soll nicht sterben! Er
kann es machen. Ich habe ihn abgewiesen, und nun wird er nicht mehr kommen. O
Tod ohne Jesus! Welch ein Schrecken! Warum habe ich ihn weggejagt?" Ja, so hat
er
271
gesagt. Und er hat hinzugefügt: "Er
hat mich oft gefragt: 'Soll ich gehen?" und ich habe ihn weggeschickt... Nun
kommt er nicht wieder." Er hat dich gewollt... nach dir verlangt. Deine Mutter
hat dich suchen lassen, doch sie konnten dich nicht finden in Kapharnaum, und er
hat deswegen sehr geweint. Und mit seiner letzten Kraft hat er die Hände deiner
Mutter ergriffen und hat sie nicht mehr fortgehen lassen. Er konnte nur noch
stammeln. Aber er hat gesagt: "Die Mutter ist ein wenig vom Sohn. Ich halte die
Mutter fest, um etwas von ihm zu haben; denn ich habe Angst vor dem Tod." Mein
armer Vater!»
Hier beginnt eine orientalische
Szene mit lauten Klagerufen und Schmerzgejammer, an der alle teilnehmen; selbst
Jakobus und Judas, die es gewagt haben, einzutreten. Am ruhigsten ist Jesus. Er
weint nur lautlos.
«Du weinst? Du hast ihn also
geliebt?» fragt Simon.
«Oh, Simon! Du fragst mich das?
Wenn ich gekonnt hätte, glaubst du, ich hätte diesen Schmerz zugelassen? Doch
ich bin mit dem Vater, aber nicht über dem Vater.»
«Du heilst Sterbende, aber ihn hast
du nicht geheilt», sagt Joseph verbittert.
«Er hat nicht an mich geglaubt.»
«Das ist wahr, Joseph,» bemerkt der
Bruder Simon.
«Er glaubte nicht, und er konnte
seinen Groll nicht überwinden. Ich vermag nichts, wo Unglaube und Haß herrschen.
Daher sage ich euch: haßt eure Brüder nicht! Hier sind sie. Ihr Kummer darf
nicht von eurem Groll vermehrt werden. Eure Mutter leidet unter diesem
weiterbestehenden Haß mehr als unter dem Tod, der von selbst ein Ende nimmt, und
mit dem euer Vater den Frieden gefunden hat; denn sein Verlangen nach mir
erwirkte ihm die Vergebung Gottes. Ich spreche mit euch nicht von mir und
verlange von euch nichts für mich. Ich bin in der Welt, doch ich bin nicht von
dieser Welt. Er, der in meinem Innern lebt, entschädigt mich für das, was die
Welt mir vorenthält. Ich leide in meiner Menschheit, doch mein Geist erhebt sich
über die Erde und jubelt in himmlischen Dingen. Doch sie! ... Fehlt nicht gegen
das Gebot der Liebe und des Blutes. Liebt euch! Es ist keine Geringschätzung des
Blutes in Jakobus und Judas. Und selbst wenn es der Fall wäre... verzeiht!
Betrachtet die Dinge gerechterweise, und ihr werdet sehen, daß sie am stärksten
vom Schmerz betroffen sind, weil die Bedürfnisse ihrer gottgeweihten Seelen
nicht verstanden werden. Dennoch ist in ihnen kein Haß! Nur das Verlangen nach
Liebe. Nicht wahr, meine Vettern?»
Jakobus und Judas, welche die
Mutter an ihr Herz drückt, bejahen unter Tränen.
«Simon, du bist der Älteste. Gib
ein Beispiel...»
«Ich... meinetwegen... doch die
Welt... und du...»
272
«Oh, die Welt! Sie vergißt und
wechselt mit jedem neuen Tag... Und ich? Komm, gib mir deinen Bruderkuß! Ich
liebe dich! Du weißt es. Wirf deine Krusten ab, die dich so hart machen und gar
nicht zu dir passen, sondern dir aufgedrückt wurden von einem, der dir fremd ist
und nicht so gerecht ist wie du. Urteile immer mit deinem guten Herzen!»
Simon, immer noch etwas
widerstrebend, öffnet die Arme. Jesus küßt ihn und führt ihn zu seinen Brüdern.
Sie küssen sich unter Tränen und Wehklagen.
«Nun du, Joseph...»
«Nein, bestehe nicht darauf! Ich
denke an den Schmerz des Vaters.»
«Wahrlich, du verewigst ihn mit
deiner Verbitterung.»
«Was tuts! Ich bin treu!»
Jesus drängt nicht weiter. Er
wendet sich an Simon: «Es ist spät geworden, aber wenn du erlaubst... unser Herz
brennt darauf, seinen Leichnam zu ehren. Wo ist Alphäus? Wo habt ihr ihn
beigesetzt?»
«Hinter dem Hause. Wo der Ölgarten
an den Felsen grenzt. Eine würdige Grabstätte!»
«Ich bitte dich, führe mich
dorthin! Maria, fasse Mut! Dein Gemahl jubelt, weil er deine Söhne um dich
sieht. Bleibt hier! Ich will mit Simon gehen. Seid im Frieden! Joseph, dir sage
ich, was ich auch deinem Vater gesagt habe: "Ich zürne dir nicht. Ich liebe
dich. Wenn du mich brauchst, rufe mich! Ich werde kommen, um mit dir zu weinen.
Leb wohl!"» Und Jesus geht mit Simon hinaus.
Die Apostel sind erstaunt. Doch sie
sehen die beiden in gutem Einvernehmen und freuen sich darüber.
«Kommt auch ihr!» sagt Jesus. «Sie
sind meine Jünger, Simon. Auch sie möchten deinem Vater Ehre erweisen. Laßt uns
gehen!»
Sie gehen zum Ölgarten, und alles
ist zu Ende.
144. «DIE GNADE WIRKT IMMER, WO DER
GUTE WILLE ZUR GERECHTIGKEIT VORHANDEN IST»
Jesus sagt:
«Wie du siehst, hat sich Simon, der
nicht so verstockt ist, wenigstens teilweise der Gerechtigkeit mit heiliger
Bereitschaft unterworfen. Er ist nicht sofort mein Jünger oder gar Apostel
geworden, wie du ihn in deiner Unkenntnis vor einem Jahr bezeichnet hast; doch
er ist nach dieser Begegnung bei Anlaß des Todes des Alphäus wenigstens kein
feindlich gesinnter Zuschauer mehr. Er ist der Beschützer seiner wie auch meiner
Mutter; ein Mann, der sie, wenn es nötig ist, vor dem Spott der Leute schützt
und verteidigt. Nicht stark genug, sich denen entgegenzustellen,
273
die mich als verrückt erklärten;
noch viel zu sehr Mensch, um sich nicht meinetwegen etwas zu schämen und besorgt
zu sein, daß ich seiner Familie schaden könnte, besonders wegen meines
Apostolates, das den Sekten so entgegengesetzt ist. Doch er ist schon auf dem
guten Weg. Auf diesem wird er nach meinem Opfer fortfahren, immer sicherer
werdend, bis er mit seinem Blute für mich Zeugnis ablegen wird. Die Gnade wirkt
manchmal wie ein Blitz, manchmal aber auch sehr langsam. Doch dort, wo der gute
Wille vorhanden ist, wirkt sie immer.
Geh in Frieden. Bewahre den Frieden
inmitten deiner Leiden! Die Vorbereitungszeit auf Ostern hat begonnen, und du
trägst für mich das Kreuz. Ich segne dich, Maria vom Kreuze Jesu.»
Später sagt er:
«Nichts von alledem. Mit
grenzenloser Liebe und zarter Klugheit mußt du alle annehmen und darfst niemand
abweisen. Sich abkapseln würde nur die Neugier vieler noch mehr reizen.
Ablehnung wäre Lieblosigkeit. Ich habe es dir gesagt: du wirst die Stadt sein,
die man sucht. Nicht alle kommen mit aufrichtigem Herzen? Was tun? Du mußt klug
sein, das genügt. Befürchtest du, Zeit zu verlieren? Wer ist der Herr der Zeit?
Ich! Also? Auf, auf, ohne Angst, ohne Aufregung, ohne Ungeduld! Du siehst, wie
oft ich mein Programm ändern mußte? Und ich war es... Friede, Friede und Liebe
für alle, das genügt!»
Mündlich werde ich Ihnen sagen,
weshalb diese kleine Lektion.
145. JESUS WIRD IN NAZARETH
SCHLECHT EMPFANGEN
Ich sehe einen großen quadratischen
Raum. Ich sage Raum, obgleich ich weiß, daß es sich um die Synagoge von Nazareth
handelt (wie mein innerer Mahner zu mir sagt), denn außer den nackten Wänden,
die gelblich getüncht sind, sehe ich nur auf einer Seite eine Kanzel und ein
hohes Lesepult mit Pergamentrollen. Lesepult oder Regal, wie ihr wollt. Es ist
eine Art geneigter Tisch, der nur einen Fuß hat und auf dem die Rollen
nebeneinanderliegen.
Es sind auch Menschen da, die
beten... nicht, wie wir es tun, sondern nach einer Seite gebeugt und die Hände
nicht gefaltet, sondern erhoben; ungefähr so wie der Priester sie am Altare
hält. Auf der Kanzel und über dem Pult hängen sieben Lampen.
Ich verstehe den Sinn dieser Vision
nicht, die für einige Zeit unverändert in mir bleibt. Doch Jesus trägt mir auf,
sie niederzuschreiben, und ich tue es.
Ich bin wieder in der Synagoge von
Nazareth.
Der Rabbi liest etwas vor. Ich höre
die Kantilene seiner näselnden Stimme, aber ich kann die Worte in einer mir
unbekannten Sprache nicht verstehen. Unter den Menschen sehe ich Jesus mit den
Vettern und anderen, die bestimmt auch mit ihm verwandt sind, die ich jedoch
nicht kenne.
274
Nach der Lesung wendet der Rabbi
der Menge einen fragenden Blick zu. Jesus geht nach vorne und bittet darum,
heute die Versammlung leiten zu dürfen.
Ich höre seine schöne Stimme, die
den Vers des Isaias liest, der im Evangelium enthalten ist: «Der Geist des Herrn
ist über mir...» und ich höre seine Erklärung, in der er sich den Überbringer
der Frohen Botschaft nennt, des Gesetzes der Liebe, das die frühere Härte durch
die Barmherzigkeit ersetzt; damit alle das Heil erlangen, die durch Adams Schuld
in der Seele krank geworden sind und folglich auch im Fleische, da die Sünde
immer Laster und das Laster auch körperliche Krankheiten hervorruft. Und damit
alle, die Gefangene des Geistes des Bösen sind, Befreiung finden. «Ich bin
gekommen, diese Ketten zu zerbrechen, den Weg zum Himmel zu öffnen, den
verblendeten Seelen das Licht zu bringen und den tauben Seelen das Gehör zu
schenken. Die Zeit der Gnade des Herrn ist da. Sie ist unter euch. Sie ist es,
die zu euch spricht. Die Patriarchen haben diesen Tag ersehnt, den die Stimme
des Allerhöchsten angekündigt und dessen Stunde die Propheten vorausgesagt
haben. Und durch übernatürliche Einwirkung ist ihnen schon kundgetan worden, daß
der Morgen dieses Tages angebrochen ist und daß ihr Einzug ins Paradies nicht
mehr fern ist. Sie frohlocken darüber im Geiste, sie, die schon heilig sind und
denen nur noch mein Segen fehlt, um Bürger des Himmels zu werden. Ihr seht es!
Kommt zum Licht, das aufgegangen ist! Legt eure Leidenschaften ab, um gefügig zu
werden und Christus nachzufolgen. Habt den guten Willen zu glauben, euch zu
bessern und das Heil zu wollen, und das Heil wird euch gegeben werden. Es liegt
in meinen Händen. Aber ich schenke es nur denen, die guten Willens sind, es
anzunehmen. Denn es wäre Beleidigung der Gnade gegenüber, es denen zu geben, die
weiterhin dem bösen Geiste dienen wollen.»
Ein Gemurmel geht durch die
Synagoge. Jesus schaut umher. Er liest auf den Gesichtern und in den Herzen und
fährt fort: «Ich verstehe, was ihr denkt. Da ich Nazarener bin, glaubt ihr ein
Anrecht auf Privilegien zu haben. Doch das ist nur euer Egoismus, nicht die
Kraft eures Glaubens. Ich sage euch: wahrlich, kein Prophet wird in seiner
'Vaterstadt gut aufgenommen. Andere Orte haben mich aufgenommen, und viele
andere, deren Name für euch ein Ärgernis bedeutet, werden mich mit noch größerem
Glauben aufnehmen. Dort werde ich meine Nachfolger finden, während ich hier, in
meiner Heimat, nichts tun kann, denn sie ist mir verschlossen und feindlich.
Aber ich erinnere euch an Elias und Elisäus. Der erste fand Glauben bei einer
Frau in Phönizien, der andere bei einem Syrer. Und bei beiden konnte das Wunder
gewirkt werden. Die Leute, die in Israel am Verhungern waren, bekamen kein Brot,
und die Aussätzigen fanden keine Reinigung, weil ihr Herz den guten Willen nicht
hatte, den der Prophet wie eine Perle suchte. Das wird auch euch
275
geschehen, da ihr feindlich und
ungläubig dem Worte Gottes gegenüber seid.»
Die Menge beginnt zu schreien und
versucht handgreiflich zu werden. Doch die Apostel, die Vettern, Judas, Jakobus
und Simon verteidigen Jesus; da jagen die wütenden Nazarener ihn aus der Stadt.
Sie verfolgen ihn bis zur Spitze des Berges und drohen ihm nicht nur mit Worten.
Doch Jesus wendet sich um und bannt sie mit seinem magnetischen Blick, so daß
sie sich nicht bewegen können. Dann schreitet er unbehelligt durch ihre Mitte
und verschwindet auf einem Bergpfad.
Ich sehe ein sehr kleines Dorf, das
nur aus einer Handvoll Häuser besteht. Wir würden es heute einen Weiler nennen.
Es liegt höher als Nazareth, das man tiefer im Tale sieht, ist aber nur einige
Kilometer davon entfernt. Eine sehr armselige Ortschaft.
Jesus spricht mit Maria, die auf
einem Mäuerlein bei einem Häuschen sitzt. Vielleicht ist es das Haus von
Freunden oder zumindest gastfreundlich gesinnter Leute entsprechend den
Gebräuchen orientalischer Gastfreundschaft. Jesus hat sich hierher
zurückgezogen, nachdem er von Nazareth vertrieben worden war, und er erwartet
die Apostel, die in der Nachbarschaft verstreut waren, während er selbst bei
Maria weilte.
Mit ihm sind nur die drei Vettern,
die sich im Augenblick in der Küche befinden und sich mit einer älteren Frau
unterhalten, die Thaddäus "Mutter" nennt. Somit verstehe ich, daß es Maria des
Kleophas ist. Es ist eine ältere Frau, und ich erkenne sie wieder; sie war mit
der seligen Jungfrau an der Hochzeit von Kana. Sicher hat sich Maria des
Kleophas mit ihren Söhnen dorthin zurückgezogen, damit Jesus ungestört mit
seiner Mutter sprechen könne.
Maria ist betrübt. Sie hat vom
Vorfall in der Synagoge gehört und ist traurig darüber. Jesus tröstet sie. Maria
bittet den Sohn, sich von Nazareth fernzuhalten, wo alle gegen ihn sind, selbst
die Verwandten, die ihn als einen Narren bezeichnen, der nur Streit und
Zwietracht verursache.
Doch Jesus macht eine lächelnde
Miene. Es scheint, als ob er sagen wolle: «Es war zu erwarten, Schwamm darüber.»
Maria aber ist sehr besorgt. So antwortet Jesus: «Mama, wenn der Menschensohn
nur dorthin gehen wollte, wo er geliebt wird, dann müßte er seine Schritte von
dieser Erde wenden und zum Himmel zurückkehren. Ich habe überall Feinde. Denn
man haßt die Wahrheit, und ich bin die Wahrheit! Doch ich bin nicht gekommen, um
bequem Liebe zu finden. Ich bin gekommen, um den Willen des Vaters zu erfüllen
und die Menschen zu erlösen. Du bist die Liebe, Mama, meine Liebe, die mich für
alles entschädigt. Du, und diese kleine Herde, die sich jeden Tag um einige
Schäflein vergrößert, die ich den Wölfen der Leidenschaften entreiße und in den
Schafstall Gottes führe. Das ist meine Pflicht. Ich bin gekommen, um diese
Aufgabe zu erfüllen, und ich muß sie erfüllen selbst bis zum Zerschellen an den
Steinen
276
ihrer Herzen, die sich dem Guten
verschließen. Erst wenn ich hingeopfert bin und diese Herzen in meinem Blute
bade, werde ich sie erweichen können und ihnen mein Zeichen aufdrücken, das
jenes des Feindes auslöscht. Mutter, deswegen bin ich vom Himmel herabgestiegen.
Ich kann nichts anderes wünschen als dies zu erfüllen.»
«O Sohn! Mein Sohn!» sagt Maria mit
klagender Stimme. Jesus liebkost sie. Ich bemerke, daß Maria außer dem üblichen
Schleier auch den Mantel über das Haupt gezogen hat. Sie ist ganz verhüllt wie
eine Priesterin.
«Ich werde einige Zeit abwesend
sein, um dich zufriedenzustellen. Wenn ich in die Nähe komme, werde ich dich
benachrichtigen lassen.»
«Sende Johannes! Mir scheint, daß
ich in ihm ein Stück von dir sehe. Auch seine Mutter ist voller Sorge um mich
und um dich. Sie erhofft, das ist wahr, einen Vorzugsplatz für ihre Söhne. Aber
sie ist Frau und Mutter, Jesus! Man muß sie entschuldigen. Sie will auch mit dir
darüber sprechen. Doch sie ist dir aufrichtig ergeben. Wenn sie aber vom
Menschlichen befreit sein wird, das noch in ihr, in ihren Söhnen wie in den
anderen und in allen steckt, dann, mein Sohn, wird sie stark im Glauben sein. Es
ist schmerzlich, daß alle von dir ein irdisches Wohl erwarten; ein Wohl, das,
wenn nicht menschlich, egoistisch ist. Aber die Sünde mit ihrer Begehrlichkeit
beherrscht sie. Noch ist die gesegnete Stunde nicht gekommen - die ich so sehr
fürchte, obwohl die Liebe zu Gott und zu den Menschen sie mich ersehnen läßt -
in der du die Sünde tilgen wirst. Oh, diese Stunde! Wie zittert das Herz deiner
Mutter vor dieser Stunde! Was werden sie dir antun, Sohn? Sohn, Erlöser, dem die
Propheten ein so großes Martyrium vorhergesagt haben!»
«Denk nicht daran, Mutter! Gott
wird dir in jener Stunde beistehen. Mir und dir wird Gott helfen. Und danach
wird Friede sein. Ich sage es dir noch einmal. Nun gehe, denn der Abend wird
sich über das Land senken und der Weg ist weit. Ich segne dich!»
146. JESUS MIT DER MUTTER IM HAUSE
DER JOHANNA DES CHUZA
Ich sehe Jesus zum Hause Johannas
des Chuza gehen. Als der Pförtner ihn von weitem erkennt, stößt er einen
Freudenruf aus, in den das ganze Haus einstimmt. Jesus tritt lächelnd und
segnend ein.
Johanna eilt aus dem ganz in Blüten
stehenden Garten herbei, um die Füße des Meisters zu küssen. Auch Chuza kommt.
Er verneigt sich zuerst sehr tief und küßt dann den Saum des Gewandes Jesu.
Chuza ist ein schöner Mann, ungefähr vierzig Jahre alt und nicht sehr groß, doch
gut
277
proportioniert. Er hat schwarze
Haare, die an den Schläfen schon einige Silberfäden aufweisen, lebhafte, dunkle
Augen, eine bleiche Gesichtsfarbe und dazu einen schwarzen, wohlgepflegten Bart.
Johanna ist größer als ihr Gatte.
Von der überstandenen Krankheit ist nur eine Magerkeit übriggeblieben, die
jedoch nicht mehr skelettartig wirkt. Sie gleicht jetzt einer geschmeidigen
Palme, die als Krone ein schönes Haupt mit sanften, schwarzen Augen hat, und
eine Fülle rabenschwarzer Haare, die sehr hübsch frisiert sind. Die glatte, hohe
Stirn erscheint noch weißer in der schwarzen Umrahmung, und der kleine,
feingezeichnete Mund sticht mit seinem gesunden Rot von den zarten, bleichen
Wangen ab, die die Farbe von Kamelienblüten haben. Sie ist eine wunderschöne
Frau... und sie ist es, die Longinus auf Kalvaria den Beutel reicht. Dort ist
sie erschüttert, ganz verschleiert und weint. Heute hingegen ist sie glücklich,
ihr Haupt ist unbedeckt. Doch da ist sie.
«Wem verdanke ich die Freude, dich
als Gast zu haben?» fragt Chuza.
«Der Notwendigkeit einer Rast in
Erwartung meiner Mutter. Ich komme von Nazareth; und meine Mutter muß für einige
Zeit mit mir sein. Ich werde mit ihr nach Kapharnaum gehen.»
«Warum bleibt ihr nicht hier? Ich
bin nicht würdig, aber ...» sagt Johanna.
«Du bist wohl würdig. Doch meine
Mutter ist nicht allein. Ihre seit einigen Tagen verwitwete Schwägerin ist mit
ihr.»
«Das Haus ist groß genug und kann
mehr als eine Person beherbergen. Du hast mir soviel Freude geschenkt, daß dir
mein ganzes Haus offensteht. Befiehl, mein Herr! Du hast den Tod von diesem
Hause ferngehalten und hast meine Rose zum Erblühen gebracht», sagt Chuza, um
seine Frau zu unterstützen, die er sehr zu lieben scheint. Ich erkenne es daran,
wie er sie anschaut.
«Ich befehle nicht. Doch nehme ich
gern an. Meine Mutter ist abgespannt und hat in der letzten Zeit sehr gelitten.
Sie hat Angst um mich; und ich möchte ihr zeigen, daß es Menschen gibt, die mich
lieben.»
«Oh, bring sie hierher! Ich werde
sie wie eine Tochter und als ihre Dienerin lieben», ruft Johanna aus.
Jesus ist einverstanden. Chuza geht
hinaus, um sofort Anweisungen zu geben, und die Vision teilt sich: ich sehe
Jesus im herrlichen Garten Chuzas, wie er mit Chuza und seiner Gemahlin spricht,
und sehe in Nazareth die Ankunft des bequemen und schnellen Wagens, mit welchem
Jonathan Maria in Nazareth abholt.
Natürlich gerät die Stadt über
dieses Ereignis in Bewegung. Als Maria und ihre Schwägerin, von Jonathan wie
zwei Königinnen betreut, den Wagen besteigen, nachdem sie Alphäus der Sara die
Schlüssel des Hauses anvertraut haben, wächst das Stimmengewirr an. Der Wagen
fährt ab, während Alphäus sich für die schlechte Behandlung Jesu in der Synagoge
278
mit den Worten rächt: «Die
Samariter sind besser als wir. Seht, wie einer, der zu Herodes gehört, die
Mutter Jesu ehrt! Und wir? ... Ich schäme mich, Nazarener zu sein!»
Es entsteht ein wahrer Tumult
zwischen den beiden Parteien. Es werden unzählige Fragen an Alphäus gestellt.
«Aber sicher!» antwortet er. «Gäste
im Hause des Prokurators. Habt ihr gehört, was sein Verwalter gesagt hat: "Mein
Herr bittet dich, sein Haus zu beehren." Beehren, versteht ihr? Und es ist der
reiche, mächtige Chuza; seine Frau ist eine königliche Prinzessin. Beehren! Und
wir, oder besser, ihr habt mit Steinen nach ihm geworfen. Welch eine Schande!»
Die Nazarener widersprechen nicht,
und Alphäus faßt noch mehr Mut. «Ja, wenn man ihn hat, dann hat man alles. Dann
braucht man den Rückhalt der Menschen nicht. Doch glaubt ihr, es sei unnütz,
Chuza zum Freunde zu haben? Glaubt ihr, es sei ein Vorteil, wenn er euch
verachtet? Er ist der Prokurator des Tetrarchen, wißt ihr? Ihr sagt nichts?
Handelt wie Samariter gegenüber Christus! Ihr werdet euch den Zorn der Großen
zuziehen. Und dann... dann möchte ich euch sehen! Ohne Hilfe des Himmels und
ohne Hilfe der Erde! Ihr Törichten! Ihr Bösewichte! Ihr Mißtrauischen!» Der
Hagel der Vorwürfe und Warnungen hält an, während die Nazarener sich wie
geschlagene Pudel davonschleichen. Alphäus bleibt allein wie ein rächender
Erzengel an der Türe des Hauses von Maria stehen...
Es ist schon spät am Abend, als der
Wagen Jonathans im Trab der schweren Pferde längs des Sees daherkommt. Die
Diener Chuzas, die schon am Portal warten, geben das Signal, kommen mit Lampen
herbei und verstärken somit die Helligkeit, für die der Mond gesorgt hat.
Johanna und Chuza eilen herbei. Auch Jesus erscheint lächelnd, und hinter ihm
folgt die Gruppe der Apostel. Als Maria aussteigt, verneigt sich Johanna bis zur
Erde und grüßt demütig: «Lob der Blume aus königlichem Geschlecht! Lob und Segen
der Mutter des Erlösers, des Wortes!»
Auch Chuza macht eine Verbeugung,
so tief, wie er sie nicht einmal vor Herodes macht, und sagt: «Gepriesen sei
diese Stunde, die dich zu mir bringt! Gepriesen seist du, Mutter Jesu!»
Maria antwortet sanft und demütig:
«Gepriesen sei unser Erlöser, und gesegnet seien die Guten, die meinen Sohn
lieben!»
Sie gehen alle zusammen ins Haus,
von lebhaften Ehrenbezeugungen begleitet. Johanna hält Maria an der Hand,
lächelt und sagt: «Du wirst mir erlauben, daß ich dir diene, nicht wahr?»
«Nicht mir! Diene ihm und liebe ihn
immer! Dann hast du mir alles gegeben. Die Welt liebt ihn nicht. Das ist mein
Leiden.»
«Ich weiß. Warum wohl diese
Lieblosigkeit in einem Teil der Welt, während andere für ihn ihr Leben geben
würden?»
«Weil er für viele das Zeichen des
Widerspruchs ist. Weil er das Feuer
279
ist, das das Metall reinigt. Das
Gold wird rein. Die Schlacken fallen auf den Boden und werden weggeworfen. Das
ist mir schon in meiner frühesten Kindheit geoffenbart worden. Und Tag für Tag
erfüllt sich die Prophezeiung.»
«Weine nicht, Maria! Wir werden ihn
lieben und verteidigen», tröstet sie Johanna. Doch Maria fährt fort, lautlos zu
weinen, was nur Johanna bemerkt, die sich mit ihr in einer halbdunklen Ecke
niedergelassen hat.
So endet alles.
147. JESUS BEI DER WEINLESE IM
HAUSE ANNAS - DAS WUNDER AM GELÄHMTEN KINDE
Alle Dörfer in Galiläa sind bei der
fröhlichen Arbeit der Weinlese. Die Männer erklettern hohe Leitern und pflücken
die Trauben von den Weinlauben und den Rebstöcken; die Frauen tragen goldene
oder rubinrote Trauben in Körben auf dem Kopf zu den Bütten. Lieder, Gelächter
und Scherze sind von Hügel zu Hügel, von Garten zu Garten zu hören, und die Luft
ist erfüllt von dem Duft des Mostes und dem Gesumme der Bienen, die wie
betrunken um die Ranken herumschwirren, an denen noch Trauben hängen, und um die
Körbe und die Bütten, in welche die Beeren hineingeschüttet werden, wo sie in
der trüben Brühe des Mostes verschwinden. Die Kinder sind saftverschmiert und
sehen wie Faune aus; sie zwitschern wie Schwalben über den Wiesen, auf den
Hügeln und auf den Straßen.
Jesus ist auf dem Weg zu einem
Dorfe unweit des Sees. Ein Dorf in einer Ebene, die wie ein großes Flußbett
aussieht, eingebettet zwischen zwei Hügelketten, die nach Norden ziehen. Die
Ebene ist gut bewässert, denn ein Fluß (ich nehme an, der Jordan) durchzieht
sie.
Jesus kommt auf der Hauptstraße
daher und wird von vielen mit dem Ruf: «Rabbi! Rabbi!» begrüßt.
Er segnet und geht weiter.
Vor dem Dorf befindet sich ein
reiches Gut, an dessen Eingang zwei alte Eheleute den Meister erwarten. «Tritt
ein! Wenn die Arbeit beendet ist, werden alle hierherkommen, um dich zu hören.
Wieviel Freude bringst du uns! Sie breitet sich aus wie der Pflanzensaft in den
Ranken, und wird zum Wein der Freude für die Herzen. Ist das deine Mutter?»
fragt der Herr des Hauses.
«Sie ist es. Ich habe sie
mitgebracht, denn sie gehört nun ebenfalls zu meinen Jüngern. Sie ist die letzte
in der Reihenfolge der Aufnahme, doch die erste, was die Treue betrifft. Sie ist
der Apostel schlechthin! Sie hat mir gepredigt, schon bevor ich geboren wurde...
Mutter, komm! Schau,
280
zu Beginn meiner Verkündigung war
diese Frau so gut zu mir, deinem müden Sohn, daß ich dich nicht vermißte!»
«Der Herr möge dir Gnade schenken,
gute Frau!»
«Ich habe Gnade, denn ich besitze
den Messias und dich. Komm! Das Haus ist kühl und nicht zu hell. Du kannst
ausruhen, denn du wirst müde sein.»
«Mich ermüdet nur der Haß in dieser
Welt. Aber ihm nachzufolgen und ihn zu hören, das war mein Wunsch seit meiner
frühesten Kindheit.»
«Wußtest du, daß du die zukünftige
Mutter des Erlösers sein werdest?»
«O nein. Doch ich hoffte, so lange
leben zu dürfen, um ihm dienen zu können; als letzte unter seinen Bekehrten,
doch treu! Oh, treu!»
«Du hörst ihn und du dienst ihm.
Und du bist die erste. Auch ich bin Mutter und habe Söhne, die sehr gelehrt
sind. Wenn ich sie sprechen höre, dann hüpft mein Herz vor Stolz. Und was
empfindest du, wenn du ihn hörst ?»
«Ein sanftes Entzücken. Ich
versenke mich in mein Nichts, und die Güte, die er selbst ist, erhebt mich. Ich
sehe dann mit einfältigem Blick die Ewige Wahrheit, und sie wird in meinem Geist
zu Fleisch und Blut.»
«Gepriesen sei dein Herz! Es ist
rein, und daher versteht es auch das Wort. Wir sind härter, weil wir voller
Schuld sind.»
«Ich möchte darum allen mein Herz
schenken, damit die Liebe euch zum Lichte des Verstehens werde. Denn, glaube
mir, er ist die Liebe, und ich bin die Mutter, und so ist natürlicherweise auch
in mir die Liebe, die alles leicht macht.»
Die beiden Frauen sprechen noch
miteinander, während Jesus mit dem Herrn bei den Bütten plaudert, in welche die
Traubenleser Körbe über Körbe von Trauben schütten. Die Apostel sitzen im
Schatten einer Jasminlaube und essen Weintrauben mit Brot; man sieht, daß es
ihnen gut mundet.
Der Tag geht zur Neige und somit
auch die Arbeit. Die Tagelöhner haben sich nun alle im weiten ländlichen
Innenhof versammelt, wo die Luft voll scharfen Duftes gekelterter Trauben ist.
Andere Bauern kommen von den nahen Höfen.
Jesus geht eine kleine Treppe
hinauf, die zu einem erhöhten Bogengang führt, unter dem die Vorratssäcke und
die Arbeitsgeräte ihren Platz haben. Wie lächelt Jesus, als er die kleine Treppe
emporsteigt! Ich sehe dieses Lächeln unter dem Wogen seiner weichen Haare, die
eine abendliche Brise bewegt. Ich möchte wissen, warum er so strahlend lächelt.
Die Freude dieses Lächelns erfüllt mein Herz, das heute so traurig ist, und
erfreut es wie der Wein, von dem der Hausherr gesprochen hat.
Es ist nicht das erstemal, daß er
mich heute erfreut. Schon am Morgen. Sie haben mich wegen eines dauernden
Seelenkummers weinen sehen - da ist er mir bei der heiligen Kommunion wie üblich
bei den Worten "Ecce Agnus Dei" erschienen. Aber er hat sich nicht
281
damit begnügt, Sie mit Liebe zu
betrachten, Pater, und mir zuzulächeln. Er hat seinen Platz links des Bettes
verlassen und ist auf die rechte Seite gekommen, wo er mich mit seinen schmalen
Händen fühlbar liebkost und mir gesagt hat: «Nicht weinen!»
Doch nun erfüllt mich sein Lächeln
mit Frieden.
Er wendet sich um und setzt sich
auf die oberste Stufe der Treppe, die nun zur Tribüne für die glücklichsten
Zuhörer wird: die Herren des Hauses, die Apostel und auch Maria, die in ihrer
Demut nicht selbst versucht hat, auf einen Ehrenplatz zu gehen, sondern von der
Herrin dorthin geführt worden ist. Maria sitzt auf der Stufe unter Jesus, so daß
ihr blonder Kopf in der Höhe der Knie des Sohnes ist. Da sie seitlich von ihm
sitzt, kann sie Jesus mit ihrem sanften, liebevollen Taubenblick ins Antlitz
schauen. Das zarte Profil Mariens hebt sich klar wie Marmor von dem dunklen
Hintergrund der Mauer ab.
Weiter unten sitzen die Apostel und
die Hausherren. Im Hof sind alle Dorfbewohner versammelt; die einen bleiben
stehen, die anderen haben sich bereits auf den Boden und wieder andere auf die
Fässer gesetzt. Einige sind sogar auf die Feigenbäume in den vier Ecken des
Hofes geklettert.
Jesus spricht langsam. Er läßt
dabei eine Hand in einen großen Getreidesack gleiten, der hinter Maria steht. Es
scheint, als ob er mit den Körnern spiele oder sie streichle, während er mit der
Rechten würdevolle Gesten ausführt.
«Es ist mir gesagt worden: "Komm, o
Jesus, um die Arbeit des Menschen zu segnen!" Und so bin ich gekommen. Im Namen
Gottes segne ich sie; denn jede redliche Arbeit verdient den Segen des Ewigen
Herrn. Doch wie ich schon gesagt habe: die erste Bedingung, um des Segens Gottes
würdig zu sein, ist die Redlichkeit in all seinem Tun.
Nun wollen wir miteinander sehen,
wann und unter welchen Voraussetzungen die Werke ehrbar sind. Sie sind es, wenn
man während der Arbeit im Geiste den Ewigen Gott gegenwärtig hat.
Kann jemand sündigen, der sagt:
"Gott sieht mich. Gott hat seine Augen über mir, und es entgeht ihm keine
Kleinigkeit meiner Handlungen?" Nein. Denn der Gedanke an Gott ist ein heilsamer
Gedanke und hält mehr als alles andere von der Sünde ab. Aber soll man Gott nur
fürchten?
Nein! Hört! Es ist euch gesagt
worden: "Fürchte den Herrn deinen Gott!" Und die Patriarchen haben gezittert,
wie auch die Propheten gezittert haben, wenn das Antlitz Gottes oder ein Engel
des Herrn vor ihrem gerechten Geiste erschien. Wahrlich, in Zeiten des
göttlichen Zornes mußte die Erscheinung des Übernatürlichen das Herz erzittern
lassen. Wer, selbst wenn er rein ist wie ein kleines Kind, zittert nicht vor dem
Mächtigen, vor dessen ewiger Herrlichkeit die Engel in Anbetung das
paradiesische Alleluja singen? Den unerträglichen Glanz eines Engels mildert
Gott mit einem barmherzigen Schleier, um dem menschlichen Auge zu ermöglichen,
den
282
Engel zu bewundern, ohne daß die
Pupillen und der Geist geblendet werden. Was wird also die Anschauung Gottes
sein?
Doch das ist so, solange der Zorn
dauert. Sobald aber auf den Zorn der Friede folgt und der Gott Israels sagt:
"Ich habe es geschworen. Ich stehe zu meinem Bündnis. Hier ist er, den ich
sende, und ich bin es selbst, obwohl ich es nicht bin; doch mein Wort nimmt
Fleisch an, um Erlösung zu werden", dann muß der Furcht die Liebe folgen. Und
nur die Liebe zum Ewigen Gott wird in Freude gewandelt werden, denn die Zeit des
Friedens zwischen Gott und dem Menschen ist für die Erde gekommen. Wenn die
ersten Frühlingswinde den Blütenstaub des Weinberges verwehen, muß der Landwirt
immer noch fürchten, daß Unwetter und Ungeziefer der Frucht schädlich werden
können. Doch wenn die frohe Stunde der Weinlese gekommen ist, dann hat alle
Furcht ein Ende, und das Herz jubelt, da die Ernte nun sicher ist.
Vorhergesagt durch die Worte der
Propheten, ist das Reis aus dem Geschlechte Jesse entsprossen. Nun ist er unter
euch. Herrliche Traube, die euch den Saft der Ewigen Weisheit bringt und nichts
anderes verlangt, als geerntet und gekeltert und Wein für die Menschen zu
werden! Wein endloser Freude für jene, die sich mit ihm nähren. Jedoch wehe dem,
dem dieser Wein angeboten worden, und von ihm zurückgewiesen wird, und dreimal
wehe dem, der ihn, nachdem er ihn genossen, ausgespieen oder in seinem Innern
mit den Speisen Satans vermischt hat!
Und nun kehre ich zum Ausgangspunkt
zurück. Die erste Bedingung, um den Segen Gottes zu bekommen, sei es für
geistige oder für leibliche Werke, ist die Redlichkeit der Absicht.
Redlich ist, wer sagt: "Ich befolge
das Gesetz, nicht um von den Menschen gelobt zu werden, sondern aus Treue zu
Gott." Redlich ist, wer sagt: "Ich folge Christus nach, nicht der Wunder wegen,
die er wirkt, sondern der guten Ratschläge wegen, die er uns für das ewige Leben
gibt." Redlich ist, wer sagt: "Ich arbeite nicht aus Gier nach Gewinn, sondern
weil Gott uns die Arbeit als Mittel der Heiligung aufgrund ihres bildenden,
abtötenden, vorbeugenden und erhöhenden Wertes gegeben hat. Ich arbeite, um
meinem Nächsten helfen zu können. Ich arbeite, um die Wunder Gottes ins Licht zu
setzen, des Gottes, der aus einem winzigen Korn eine reiche Ähre bildet, aus
einem Samen der Weintraube einen großen Rebstock, aus einer Nuß einen Nußbaum
und aus mir, einem armen Menschen, einem Nichts, das nach seinem Willen aus dem
Nichts erschaffen wurde, seinen Gehilfen in der unermüdlichen Arbeit, um die
Kornfelder, Weinberge und Obstgärten fortzubestehen, sowie die Erde zu
bevölkern."
Es gibt Menschen, die wie Lasttiere
arbeiten. Jedoch ohne eine andere Religion als diese: ihren Reichtum zu
vermehren. Stirbt an ihrer Seite der weniger begünstigte Nachbar vor Hunger und
Entbehrung? Verhungern die Söhne dieses Unglücklichen? Was kümmert das den
gierigen Häufer
283
des Reichtums? Da gibt es andere,
die noch härter sind, die nicht arbeiten, sondern arbeiten lassen und Reichtümer
anhäufen mit dem Schweiß der anderen. Da gibt es weiterhin solche, die
vergeuden, was sie aus den Mühen der anderen herausgequetscht haben. Für sie ist
die Arbeit eine Schande. Sagt nur nicht: "Und Gott schützt sie." Nein! Er
schützt sie nicht. Heute können sie eine Stunde des Sieges feiern. Doch bald
werden sie die Strenge Gottes zu spüren bekommen, die ihnen noch in diesem
irdischen Leben oder aber in der Ewigkeit das Gebot in Erinnerung rufen wird:
"Ich bin der Herr dein Gott. Liebe mich über alles und deinen Nächsten wie dich
selbst!"
Oh, wenn diese Worte in der
Ewigkeit ertönen, dann werden sie furchtbarer sein als die Blitze auf dem Sinai!
Viele, zu viele Worte sagt man
euch. Ich sage euch nur dies: Liebt Gott! Liebt den Nächsten! Sie sind wie die
Arbeit, die die Furche, die zur Frühjahrszeit um den Weinstock herum gegraben
wird, fruchtbar werden läßt. Die Gottes- und Nächstenliebe sind wie die Egge,
die die Scholle vom Unkraut der Eigensucht und der bösen Leidenschaften reinigt;
wie die Hacke, die einen Graben um die Pflanze gräbt, damit sie nicht von den
Schmarotzergewächsen befallen wird und mit frischem Wasser genährt werden kann.
Sie ist wie das Messer, das die überschüssigen Ranken beschneidet, um die
Lebenskraft der Pflanze zu stärken und sie derart zu leiten, daß sie Früchte
bringt; wie das Band, das die Pflanze an den Pfahl bindet; und es ist endlich
wie die Sonne, die die Früchte des guten Willens zum Reifen bringt und aus ihnen
Früchte des ewigen Lebens macht.
Nun freut ihr euch, denn das Jahr
war gut, die Ernte reich und die Weinlese ausgiebig. Doch in Wahrheit sage ich
euch, diese eure Freude ist geringer als ein winziges Sandkorn im Vergleich zur
maßlosen Freude, die euch erwartet, wenn der ewige Vater zu euch sagen wird:
"Kommt, ihr fruchtbaren Ranken, die ihr mit dem wahren Weinstock verbunden seid!
Ihr seid zu jedem Werk bereit gewesen, auch zu schmerzhaften, um reiche Frucht
zu bringen, und ihr kommt zu mir voll süßer Säfte der Gottes- und Nächstenliebe!
Blüht in meinen Gärten für die ganze Ewigkeit."
Erstrebt diese ewige Freude! Strebt
mit Treue diesem Gut zu und preist mit Dankbarkeit den Ewigen, der euch hilft,
es zu erreichen! Preist ihn für die Gnade seines Wortes und lobt ihn für die
Gnade der reichen Ernte! Liebt mit Dankbarkeit den Herrn und fürchtet euch
nicht! Gott vergilt die Werke aller, die ihn lieben, mit einem hundertfachen
Lohn.»
Jesus hat geendet. Aber alle rufen:
«Segne uns, segne uns! Gib uns deinen Segen!»
Jesus erhebt sich, breitet die Arme
aus und ruft mit sehr lauter Stimme aus: «Der Herr segne euch und behüte euch!
Er zeige euch sein Angesicht und habe Erbarmen mit euch! Der Herr zeige euch
sein Antlitz und gebe
284
euch seinen Segen! Der Name des
Herrn sei in eurem Herzen, über euren Häusern und über euren Feldern!»
Die kleine versammelte Schar jubelt
dem Messias zu. Doch dann verstummt sie, teilt sich und läßt eine Mutter
durchgehen, die auf den Armen einen etwa zehn Jahre alten gelähmten Jungen
trägt. Am Fuße der Treppe angelangt, hält sie das Kind in die Höhe, als wolle
sie es Jesus darbieten.
«Sie ist eine meiner Mägde. Der
Knabe fiel im vergangenen Jahr von der hohen Terrasse und brach sich das Kreuz.
Er wird nun das ganze Leben auf dem Rücken liegen müssen», erklärt der Herr.
«Sie hat all die letzten Monate auf
dich gehofft,» sagt die Herrin.
«Sag ihr, sie möge zu mir kommen.»
Doch die arme Frau ist so erregt,
daß es aussieht, als wäre sie gelähmt. Sie zittert am ganzen Leibe und stolpert
über ihr eigenes langes Kleid, als sie mit dem Kind in den Armen die hohen
Stufen hinaufsteigt.
Maria steht mitleidig auf und geht
der Frau mit dem Kind entgegen. «Komm, habe keine Angst! Mein Sohn liebt dich.
Gib mir dein Kind! Dann kannst du besser hinaufsteigen. Komm, meine Tochter!
Auch ich bin eine Mutter!» Und sie nimmt ihr den Knaben ab, dem sie sanft
zulächelt, und geht nun mit der Mitleid erregenden Last auf ihren Armen die
Treppe hinauf. Die Mutter des Jungen folgt ihr weinend.
Maria steht nun vor Jesus. Sie
kniet nieder und sagt: «Sohn! Um dieser Mutter willen!» Sonst nichts.
Jesus fragt nicht einmal wie
gewöhnlich: «Was willst du, daß ich für dich tue? Glaubst du, daß ich es tun
kann?» Nein, heute lächelt er nur und sagt: «Frau, komm hierher!»
Die Frau geht an die Seite Marias.
Jesus legt eine Hand auf ihr Haupt und sagt nur: «Freue dich!» und er hat noch
nicht zu Ende gesprochen, als der Knabe, der bis dahin schwer auf den Armen
Marias gelegen hatte mit regungslosen Beinen, sich mit einem Ruck aufsetzt, um
mit dem Freudenschrei: «Mama!» an die mütterliche Brust zu flüchten.
Die Hosanna-Rufe scheinen bis zum
Himmel zu steigen, der in der Abendröte glüht. Die Frau hat ihren Knaben ans
Herz gedrückt und fragt: «Was muß ich tun, um dir zu bezeugen, wie glücklich ich
bin?»
Jesus liebkost sie noch einmal:
«Gut sein, Gott und deinen Nächsten lieben und in dieser Liebe auch deinen Sohn
erziehen.»
Doch die Frau ist noch nicht
zufrieden. Sie möchte... sie möchte... und endlich bittet sie: «Deinen Kuß und
den Kuß deiner Mutter für mein Kind!»
Jesus beugt sich und küßt den
Jungen. Maria tut dasselbe. Und während die Frau strahlend davoneilt, von
beifallklatschenden Freunden gefolgt, erklärt Jesus der Hausherrin: «Es bedurfte
nicht mehr. Das Kind befand sich in den Armen meiner Mutter. Auch ohne bittende
Worte
285
hätte ich es geheilt; denn sie ist
glücklich, wenn sie eine Not lindern kann und ich will sie glücklich machen.»
Und Jesus und Maria wechseln einen
der Blicke, die nur jemand, der sie gesehen hat, verstehen kann, so tief und
bedeutungsvoll sind sie!
148. JESUS BEI DORAS - DER TOD DES
JONAS
Ich sehe wieder die Ebene von
Esdrelon bei Tage, an einem leichtbewölkten Tag, gegen Ende des Herbstes. Es
scheint, daß es während der Nacht geregnet hat; einer der ersten Regenfälle der
traurigen Wintermonate; die Erde ist feucht, aber nicht schlammig. Es bläst auch
ein Wind, ein feuchter Wind, der die gelben Blätter von den Bäumen reißt und mit
seinem feuchten Atem in die Knochen dringt.
Auf den Feldern sehe ich
vereinzelte Paare von Pflugtieren. Sie wenden mühsam die fette Erde dieser
fruchtbaren Ebene, um sie für den Samen vorzubereiten. Es schmerzt mich ganz
besonders, mitanzusehen, daß an verschiedenen Stellen Menschen diese Arbeit der
Ochsen verrichten müssen. Sie ziehen die Pflugschar mit der vollen Kraft ihrer
Arme und Schultern und müssen sich bei dieser harten Arbeit, die selbst jungen
Ochsen beschwerlich ist, wie Sklaven abmühen.
Auch Jesus schaut zu und sieht. Und
sein Antlitz wird traurig; er ist dem Weinen nahe.
Die Jünger, elf an der Zahl, denn
Judas ist noch abwesend und die Hirten sind nicht mehr da, reden miteinander,
und Petrus sagt: «Klein, arm und beschwerlich ist auch das Boot... doch
hundertmal besser als diese Plage!» Und dann fragt er: «Meister, sind dies wohl
schon die Knechte des Doras?»
Simon der Zelote antwortet: «Ich
glaube nicht. Die Felder des Doras beginnen hinter dem Obstgarten, wenn ich
nicht irre. Wir können sie noch nicht sehen.»
Doch Petrus, wie immer neugierig,
verläßt die Straße und schlägt einen Feldweg ein, der zwei Äcker trennt. Auf dem
spärlichen Gras sitzen vier magere, schwitzende Landarbeiter. Sie keuchen wegen
der Mühe. Petrus fragt sie: «Gehört ihr zu Doras ?»
«Nein, wir gehören zu einem
Verwandten von ihm, zu Jochanan. Wer bist du?»
«Ich bin Petrus des Jonas, Fischer
in Galiläa bis zum Mond der Ziv. Jetzt gehöre ich zu Jesus von Nazareth, dem
Messias der Frohen Botschaft.» Petrus sagt dies mit Ehrfurcht und Stolz, wie
wenn einer sagen würde: «Ich gehöre dem hohen und göttlichen Caesar von Rom.»
Sein ehrliches Gesicht strahlt in der Freude, sich zu Jesus bekennen zu können.
286
«Oh, der Messias! Wo ist er?»
fragen die vier Unglücklichen.
«Dort ist er. Der große blonde Herr
mit dem dunkelroten Gewand. Derjenige, der gerade hierher blickt und mich
lächelnd erwartet.»
«Oh... wenn wir zu ihm hingehen,
wird der uns wohl wegjagen?»
«Euch wegjagen? Warum? Er ist der
Freund der Unglücklichen, der Armen, der Unterdrückten, und mir scheint, daß ihr
zu diesen gehört...»
«Oh, und ob! Nicht so, wie die des
Doras. Wir haben wenigstens genug Brot und werden nur gepeitscht, wenn wir die
Arbeit unterbrechen; aber...»
«Wenn das schöne Herrchen Jochanan
euch hier so redend antreffen würde, würde es euch...»
«Ja, er würde uns peitschen, wie er
nicht einmal seine Hunde peitscht ...»
Petrus pfeift bedeutungsvoll. Dann
sagt er: «Da ist es wohl besser, zu handeln...» und er legt seine Hände wie
einen Trichter an den Mund und ruft laut: «Meister, komm hierher! Hier sind
Seelen, die leiden und nach dir verlangen.»
«Was tust du? Ihn! Zu uns! Wir sind
doch nur elende Knechte.» Die vier Männer sind außer sich vor Erregung.
«Die Hiebe sind nicht angenehm, und
wenn der schöne Pharisäer zufällig daherkommt, dann möchte ich nicht eine Tracht
von ihm bekommen...» lacht Petrus und schüttelt den, der die erschrockenste
Miene hat.
Jesus eilt mit langen Schritten auf
sie zu. Die vier wissen sich nicht zu helfen. Sie möchten ihm entgegengehen,
doch die Angst lähmt sie. Arme, menschliche Wesen, welche die menschliche
Bosheit derart eingeschüchtert hat! Sie werfen sich zu Boden und beten in dieser
Stellung den Meister an, der zu ihnen kommt.
«Der Friede sei mit allen, die mich
ersehnen! Wer nach mir verlangt, will das Gute, und ich liebe ihn wie einen
Freund. Steht auf! Wer seid ihr?»
Doch die vier wagen kaum, zu Jesus
aufzuschauen, und bleiben stumm auf den Knien.
Petrus sagt: «Es sind vier Knechte
des Pharisäers Jochanan, eines Verwandten des Doras. Sie möchten mit dir
sprechen... doch wenn er hier vorbeikommt, werden sie ausgepeitscht, und daher
habe ich dich gebeten zu kommen. Erhebt euch! Er wird euch nicht verschlingen.
Habt Vertrauen! Bedenkt, daß er euer Freund ist.»
«Wir... wir wissen von dir... Jonas
hat uns erzählt...»
«Ich komme seinetwegen. Ich weiß,
daß er mich verkündet hat. Was wißt ihr von mir?»
«... daß du der Messias bist; daß
Jonas dich gesehen hat, als du noch ganz klein warst; daß Engel den guten
Menschen bei deiner Ankunft den Frieden verkündet haben; daß du verfolgt worden
bist, jedoch verschont bliebst und nun deine Hirten besucht hast... und daß du
sie liebst. Diese
287
letzteren Dinge hat er erst jetzt
gesagt. Und wir dachten, wenn er so gut ist und die Hirten liebt und sie
aufsucht, so hat er uns gewiß auch ein bißchen lieb... Wir brauchen so sehr
einen Menschen, der uns liebt.»
«Ich liebe euch! Habt ihr viel zu
leiden?»
«O ja... doch die Knechte des Doras
noch viel mehr. Wenn Jochanan uns hier beim Reden erwischte... Doch heute ist er
in Gergesa. Er ist noch nicht vom Laubhüttenfest zurückgekehrt. Doch sein
Verwalter wird uns heute abend das Essen verteilen, nachdem er unsere Arbeit
überprüft hat. Aber das macht nichts. Wir werden die Zeit wieder einholen, wenn
wir auf die Essenrast zur sechsten Stunde verzichten.»
«Sag, Lieber, wäre ich nicht
imstande, dieses Gerät dort zu handhaben? Ist die Arbeit schwierig?» fragt
Petrus.
«Schwierig nicht, aber mühsam. Man
braucht Kraft dazu.»
«Die habe ich. Zeige es mir! Wenn
ich es fertigbringe, dann kannst du reden und ich mache den Ochsen. Los,
Johannes, Andreas und Jakobus, kommt zum Unterricht! Wir wechseln jetzt von den
Fischen zu den Bodenwürmern. Los!»
Petrus legt die Hand an den
Querbalken. An jedem Pflug sind zwei Männer, einer auf der einen und einer auf
der anderen Seite der langen Stange. Petrus beobachtet und macht alle Bewegungen
des Landarbeiters nach. Stark wie er ist und noch dazu gut ausgeruht, arbeitet
er gut, und der Mann lobt ihn.
«Nun bin ich ein Meister im
Pflügen», ruft der gute Petrus zufrieden aus. «Los, Johannes, komm hierher. Ein
Stier und ein Jungtier am Pflug. An den anderen Pflug Jakobus und du, stummes
Kalb von einem Bruder! Los... hüh-hott!» Und die beiden Pflüge ackern
nebeneinander die Erde und ziehen Furchen übers ganze Feld; am Ende desselben
wenden sie und machen neue Furchen. Es scheint, als ob die vier Jünger nie
andere Arbeit getan hätten.
«Wie gut sind deine Freunde!» sagt
der mutigste der Knechte des Jochanan. «Sind sie durch dich so gut geworden?»
«Ich habe eine Richtschnur für ihre
Güte aufgestellt. Wie du beim Beschneiden der Obstbäume. Doch die Güte war in
ihnen. Nun ist sie zum Erblühen gekommen, denn es ist jemand da, der dafür
sorgt.»
«Sie sind auch demütig, deine
Freunde, wenn sie uns armen Knechten einen solchen Dienst erweisen.»
«Mit mir kann nur sein, wer die
Demut, die Sanftmut, die Enthaltsamkeit, die Ehrlichkeit und die Liebe liebt;
vor allem die Nächstenliebe! Denn wer Gott und den Nächsten liebt, hat folglich
alle anderen Tugenden und erreicht den Himmel.»
«Könnten auch wir ihn verdienen,
wir, denen keine Zeit bleibt, zum Tempel zu gehen oder zu beten, und die nicht
einmal den Blick von der Scholle erheben dürfen?»
288
«Antwortet mir: tragt ihr in euch
Haß gegen den, der euch so hart behandelt? Hegt ihr Auflehnung und Vorwürfe
gegen Gott, weil er euch unter die Niedrigsten der Erde gereiht hat?»
«O nein, Herr! Das ist eben unser
Los. Doch wenn wir auf unser Lager sinken, sagen wir: "Nun, der Gott Abrahams
weiß, daß wir erschöpft sind und nichts anderes mehr sagen können, als: 'Gott
sei gepriesen!"' und: "Auch heute haben wir leben können, ohne eine Sünde zu
begehen ...... Weißt du, wir könnten schon ein wenig betrügen... zum Beispiel zu
unserem Brot eine Frucht essen oder unser gesottenes Gemüse mit Öl würzen. Doch
der Herr hat gesagt: "Für die Knechte genügt Brot und gesottenes Gemüse und zur
Zeit der Ernte etwas Essig im Trinkwasser, um den Durst zu stillen und Kraft zu
geben." Und so tun wir es. Außerdem... es könnte uns auch schlechter gehen.»
«Und ich sage euch, der Gott
Abrahams hat wahrlich Freude an euren Herzen, während er dagegen sein erzürntes
Antlitz jenen zuwendet, die ihn im Tempel mit lügnerischen Gebeten beleidigen,
während sie den Nächsten verachten.»
«Doch untereinander lieben sie
sich! Wenigstens scheint es so; denn sie ehren sich gegenseitig mit Geschenken
und Verneigungen. Nur uns lieben sie nicht. Doch das ist gerecht; wir sind ja
nicht ihresgleichen.»
«Nein. Im Reiche meines Vaters ist
es nicht gerecht. Dort wird anders geurteilt. Nicht die Reichen und die
Mächtigen als solche werden geehrt werden, sondern nur jene, die immer Gott
geliebt und ihn über sich selbst und über alle anderen Dinge wie Geld, Macht,
Frauen und reiche Tafeln gestellt haben; und wenn sie auch alle Menschen, ob arm
oder reich, berühmt oder unbekannt, gelehrt oder unwissend, gut oder böse,
geliebt haben. Ja, auch die Bösen muß man lieben. Nicht ihrer Bosheit wegen,
sondern aus Mitleid mit ihrer Seele, ihren tödlichen Wunden. Man muß sie lieben
mit einer Liebe, die den himmlischen Vater bestürmt, sie zu heilen und zu
erlösen. Im Himmelreich werden jene selig sein, die dem Herrn in Wahrheit und
Gerechtigkeit gedient und die Eltern und Verwandten mit Ehrfurcht geliebt haben;
die auf keinerlei Weise gestohlen haben, das heißt, die gerecht im Geben und in
ihren Forderungen waren; die nicht getötet, weder den Ruf noch das Leben, und
auch nie den Vorsatz gehabt haben, zu töten - selbst wenn das Verhalten der
anderen so grausam war, daß es einem das Herz zerrissen hat; die nicht falsch
geschworen und damit dem Nächsten und der Wahrheit geschadet haben; die keinen
Ehebruch oder Sünden des Fleisches begangen haben; die immer sanft und ergeben
ihr Los ertragen haben, ohne die anderen zu beneiden. Ihrer ist das Himmelreich,
und der ärmste Bettler kann dort oben ein seliger König sein, während der
Herrscher mit seiner Macht weniger als ein Nichts sein kann; er wird zur Beute
Satans, wenn er gegen die ewigen zehn Gebote gesündigt hat.»
289
Die Männer hören mit offenen Munde
zu. Bei Jesus sind Bartholomäus, Matthäus, Simon, Philippus, Thomas, Jakobus und
Judas des Alphäus. Die anderen vier machen weiter mit ihrer Arbeit; sie sind rot
und in Schweiß gebadet, doch recht fröhlich. Petrus vermag alle fröhlich zu
stimmen.
«Oh, wie hatte Jonas recht, dich
"heilig" zu nennen. Alles in dir ist heilig: die Worte, der Blick, das Lächeln.
Wir haben noch nie die Seele so gespürt.»
«Habt ihr Jonas schon lange nicht
mehr gesehen?»
«Seit er krank ist.»
«Krank?»
«Ja, Meister. Er kann einfach nicht
mehr. Er schleppte sich schon zuvor nur noch dahin. Doch seit der Arbeit dieses
Sommers und der Ernte kann er nicht mehr aufrecht stehen. Und doch... man zwingt
ihn zur Arbeit! Oh, du sagst, man muß alle lieben. Aber es ist sehr schwer,
Hyänen zu lieben! Und Doras ist schlimmer als eine Hyäne.»
«Jonas liebt ihn ...»
«Ja, Meister. Und ich sage, er ist
heilig wie alle, die aus Treue zu Gott dem Herrn als Märtyrer gestorben sind.»
«Das hast du gut gesagt! Wie heißt
du?»
«Michäas, und dies ist Saul, dies
Joel und dies Isaias.»
«Ich werde mich eurer Namen beim
Vater erinnern. Ihr sagt, Jonas ist schwer krank?»
«Ja. Gleich nach der Arbeit wirft
er sich auf die Streu, und wir sehen ihn nicht mehr. Die anderen Knechte des
Doras berichteten uns dies.»
«Ist er jetzt bei der Arbeit?»
«Wenn er sich aufrecht halten kann,
ja. Er müßte hinter dem Apfelgarten dort sein.»
«Hatte Doras eine gute Ernte?»
«O ja, eine großartige Ernte. Die
Pflanzen mußten gestützt werden wegen der wunderbaren Größe der Früchte, und
Doras mußte neue Bütten anfertigen lassen, denn die Weintrauben hatten in den
alten nicht Platz, so reich war die Ernte.»
«Dann wird Doras seinen Diener wohl
besonders belohnt haben!»
«Belohnt? Oh, Herr, wie schlecht
kennst du ihn.»
«Jonas berichtete mir, daß Doras
ihn vor einigen Jahren wegen des Verlustes einiger Weintrauben halbtot geprügelt
und ihn wegen der Schulden zum Sklaven gemacht hat. Dieses Jahr, da er
wunderbaren Überfluß hat, müßte er ihm doch eine Belohnung geben.»
«Nein! Er hat ihn furchtbar
geprügelt und beschuldigt, er hätte in den vorhergehenden Jahren den Boden nicht
genügend bearbeitet und daher keine so reiche Ernte wie heuer ermöglicht.»
«Dieser Mensch ist ein Raubtier»,
ruft Matthäus aus.
290
«Nein, er ist ein seelenloser
Mensch», sagt Jesus. «Ich muß euch verlassen, meine Söhne, mit meinem Segen.
Habt ihr Brot und Speise für heute?»
«Wir haben dieses Brot», und sie
zeigen einen dunklen Laib, den sie aus einem am Boden liegenden Säckchen
genommen haben.
«Nehmt meinen Anteil. Ich kann euch
nichts anderes geben. Doch ich werde heute bei Doras sein, und ...»
«Du bei Doras?»
«Ja, um Jonas abzuholen! Wußtet ihr
es nicht?»
«Niemand weiß hier etwas. Aber...
sei mißtrauisch, Meister! Du wirst wie ein Lamm in der Höhle des Wolfes sein.»
«Er kann mir nichts antun. Nehmt
meine Speise! Jakobus, gib ihnen, was wir haben. Auch unseren Wein. Freut auch
ihr euch ein wenig, ihr armen Freunde! Das ist gut für Leib und Seele. Petrus!
Gehen wir!»
«Ich komme, Meister. Wir wollen nur
noch diese Furche fertigpflügen», und er rennt zu Jesus, vor Anstrengung ganz
erschöpft. Er trocknet sich mit dem Mantel, den er abgelegt hatte, den Schweiß
und hängt ihn sich wieder um. Er lächelt glücklich. Die vier Knechte können ihm
nicht genug danken. «Wirst du nochmals hierher zurückkommen, Meister?»
«Ja, erwartet mich. Grüßt Jonas!
Wollt ihr?»
«O ja! Das Feld muß bis zum Abend
gepflügt sein. Mehr als zwei Drittel sind schon getan. Gut und schnell! Deine
Freunde sind stark. Gott möge euch segnen! Heute ist für uns ein größeres Fest
als das der ungesäuerten Brote. Oh, Gott möge euch alle segnen! Alle, alle!»
Jesus geht zum Apfelgarten. Sie
durchschreiten ihn und kommen zu den Feldern des Doras. Andere Landarbeiter
gehen hinter dem Pflug oder stehen gebeugt, um die Schollen vom Unkraut zu
befreien. Doch Jonas ist nicht unter ihnen. Jesus wird erkannt, und die Männer
grüßen ihn, ohne von der Arbeit abzulassen.
«Wo ist Jonas?»
«Vor zwei Stunden ist er auf den
Schollen zusammengesunken und mußte nach Hause getragen werden. Armer Jonas! Er
wird nur mehr wenig zu leiden haben, denn er ist am Ende. Wir werden nie mehr
einen so guten Freund haben.»
«Ihr habt mich auf Erden und Jonas
in Abrahams Schoß. Die Toten lieben die Lebenden mit doppelter Liebe: mit ihrer
eigenen und mit jener, die sie in der Vereinigung mit Gott, der vollkommenen
Liebe, empfangen.»
«Oh, geh rasch zu ihm, damit er
dich in seinen Leiden sieht!»
Jesus segnet sie und geht.
«Und was tust du nun? Was wirst du
Doras sagen?» fragen die Apostel.
«Ich werde hingehen, als ob ich
nichts von allem wüßte. Wenn er sich
291
ertappt sieht, dann ist er fähig,
es Jonas und seinen anderen Knechten zu spüren zu geben.»
«Dein Freund hat recht, er ist ein
Schakal», sagt Petrus zu Simon.
«Lazarus sagt immer nur die
Wahrheit und nie etwas Böses. Du wirst ihn kennen und lieben lernen», antwortet
Simon.
Man sieht nun das Haus des
Pharisäers. Breit und niedrig, doch gut gebaut, liegt es inmitten eines bereits
abgeernteten Obstgartens. Ein reiches, bequemes Landhaus. Petrus und Simon gehen
voraus, um sie anzumelden.
Doras kommt heraus. Ein alter Mann
mit einem harten, raubgierigen Gesicht, spöttischen Augen, einem Schlangenmund,
der mit einem falschen Lächeln grinst, umrahmt von einem schon fast weißen Bart.
«Heil dir, Jesus!» grüßt er
familiär und mit offenkundiger Herablassung.
Jesus sagt nicht: «Friede»,
sondern: «Dir ebenfalls!»
«Tritt ein! Das Haus steht dir
offen. Du bist pünktlich wie ein König.»
«Wie ein ehrbarer Mann», entgegnet
Jesus.
Doras lacht wie über einen Witz.
Jesus wendet sich um und sagt zu
seinen Jüngern, die nicht zum Eintreten aufgefordert worden sind: «Kommt herein!
Dies sind meine Freunde.»
«Sie sollen hereinkommen... aber...
ist einer nicht der Zöllner, der Sohn des Alphäus?»
«Es ist Matthäus, der Jünger
Christi», erwidert Jesus mit einem Ton in der Stimme, den der andere versteht,
worauf er noch spöttischer lacht.
Doras möchte den "armen" Meister
aus Galiläa mit dem Glanz seines großen Hauses verblüffen. Es ist prunkvoll,
aber kalt. Die Diener scheinen Sklaven zu sein. Sie gehen gebückt, schleichen
schnell davon, in ständiger Angst vor Bestrafung. Man spürt, daß in diesem Haus
Kälte und Haß herrschen.
Doch Jesus läßt sich weder von der
Zurschaustellung der Reichtümer noch durch die Hinweise auf Stellung und
Beziehungen beeindrucken. Und Doras, der die Gleichgültigkeit des Meisters
bemerkt, nimmt ihn mit sich in den Obstgarten, zeigt ihm seltene Gewächse und
bietet ihm von den Früchten an, welche Diener auf goldenen Platten und Schüsseln
herbeitragen. Jesus kostet und lobt den Wohlgeschmack der Früchte, die in
Fruchtsäften eingekocht sind, wie die schönsten Pfirsiche, teils in natürlichem
Zustand aufbewahrt werden; dazu Birnen von außergewöhnlicher Größe.
«Solche Früchte habe nur ich allein
in ganz Palästina, und ich glaube, daß es auf der ganzen Sinai-Halbinsel keine
gleichwertigen gibt. Ich habe sie von Persien und noch von viel weiter her
kommen lassen. Der Transport allein hat mich ein Talent gekostet. Nicht einmal
die Statthalter
292
haben solches Obst. Vielleicht
nicht einmal der Kaiser. Ich zähle die Früchte und will alle ihre Kerne davon
haben. Und die Birnen dürfen nur an meinem Tische gegessen werden, da ich nicht
will, daß auch nur ein Kern davon verschwindet. Annas sende ich welche, aber nur
gekocht, damit sie bestimmt unfruchtbar sind.»
«Es sind aber Pflanzen Gottes. Und
die Menschen sind alle gleich!»
«Gleich? ... Nein! Ich... und diese
deine Galiläer?»
«Die Seele kommt von Gott, und er
erschafft sie für alle gleich.»
«Aber ich bin Doras, der getreue
Pharisäer! ...» Er plustert sich auf wie ein Truthahn, als er das sagt.
Jesus schaut ihn an mit seinen
Augen, die wie Saphire blitzen und bald Mitleid, bald Strenge widerspiegeln.
Jesus ist viel größer als Doras; er überragt in seinem purpurnen Gewand den
kleinen, etwas buckligen Pharisäer, der wie vermummt in seinem überweiten, mit
großartigen Fransen ausgestatteten Kleid aussieht.
Doras ruft aus, nachdem er sich
eine Weile selbstgefällig bewundert hat: «Aber Jesus, wie konntest du Lazarus,
den Bruder einer Dirne, in das Haus des Doras, des reinen Pharisäers, schicken?
Deinen Freund Lazarus? Das hättest du nicht tun sollen! Weißt du nicht, daß er
mit dem Bann belegt ist, weil seine Schwester eine Dirne ist?»
«Ich weiß nur, daß Lazarus und
seine Werke untadelig sind.»
«Doch die Welt vergißt die Sünde
seines Hauses nicht, und nach ihrer Überzeugung breitet sich die Schande auch
auf die Freunde aus. Geh nicht dorthin! Warum bist du kein Pharisäer? Willst du
einer werden? ... Ich bin einflußreich... ich kann dich aufnehmen lassen, obwohl
du Galiläer bist. Im Synedrium erreiche ich alles. Annas ist in meiner Hand wie
dieser Zipfel meines Mantels. Man würde dich mehr fürchten!»
«Ich will nur geliebt werden.»
«Ich werde dich lieben. Siehst du,
daß ich dich liebe, da ich dir wunschgemäß Jonas überlasse?»
«Ich habe für ihn gezahlt.»
«Das ist wahr; und ich habe mich
sehr darüber gewundert, daß du eine solche Summe aufbringen konntest.»
«Nicht ich, sondern ein Freund für
mich.»
«Gut, gut, ich will nicht
nachforschen. Ich sage nur: du siehst, daß ich dich liebe und dich
zufriedenstellen möchte! Nach dem Mahle werde ich dir Jonas übergeben. Nur für
dich bringe ich ein solches Opfer...» und er lacht sein grausames Lachen.
Jesus blickt ihn immer strenger an
und kreuzt seine Hände auf der Brust. Sie sind immer noch im Obstgarten und
warten auf die Mahlzeit.
«Du mußt mich aber auch
zufriedenstellen. Freude für Freude! Ich gebe dir meinen besten Knecht. Ich
verzichte somit auf einen künftigen Nutzen. Dieses Jahr hat mir dein Segen - ich
weiß, daß du vor der großen
293
Hitze gekommen bist - eine reiche
Ernte beschert, die meine Besitzungen berühmt gemacht hat. Nun mußt du meine
Herden und meine Felder segnen. Dann werde ich im kommenden Jahr Jonas nicht
vermissen, und außerdem werde ich Ersatz für ihn finden. Komm, segne! Gib mir
die Genugtuung, daß ich in ganz Palästina bekannt werde, daß meine Herden und
Scheunen überreich sind. Komm!» und er packt Jesus am Arm und versucht ihn, von
Habgier erfaßt, wegzuführen.
Doch Jesus bewegt sich nicht von
der Stelle. «Wo ist Jonas ?» fragt er streng.
«Beim Pflügen. Er wollte dies noch
für seinen guten Herrn erledigen. Doch bevor das Mahl beendet sein wird, wird er
kommen. Komm schon und segne meine Herden, die Felder, die Obstgärten, die
Weinberge und die Scheunen! Alles, alles... Oh, wie wird die Ernte im kommenden
Jahr ertragreich sein!»
«Wo ist Jonas?» wiederholt Jesus
streng.
«Aber ich habe dir doch gesagt, daß
er das Pflügen beaufsichtigt. Er ist der erste Knecht und muß nicht arbeiten: er
beaufsichtigt!»
«Lügner!»
«Ich? ... Ich schwöre es bei
Jahwe!»
«Gotteslästerer!»
«Ich ein Gotteslästerer? Ich, der
getreueste der Treuen! Hüte dich!»
«Mörder!» Jesus hat seine Stimme
immer mehr erhoben, und das letzte Wort tönt wie ein Donnerschlag.
Die Jünger kommen näher. Die Diener
erscheinen ängstlich an den Türen. Das Antlitz Jesu wird unerträglich in seiner
Strenge. Die Augen scheinen phosphoreszierende Strahlen auszusenden.
Doras wird für einen Augenblick von
Angst überfallen. Er wird kleiner und gleicht einem kleinen Knäuel neben der
hohen Gestalt Jesu, die in schweren, roten Wollstoff gekleidet ist. Dann aber
überkommt Doras wieder der Hochmut; er bellt mit kreischender Stimme wie ein
heulender Wolf: «In meinem Hause befehle ich allein. Hinaus, elender Galiläer!»
«Ich werde dein Haus verlassen, und
dich, deine Felder, deine Gerätschaften und deine Weinberge verfluchen... für
dieses und die kommenden Jahre!»
«Nein, das nicht! Ja, es ist
wahr... Jonas ist krank. Doch er wird gut gepflegt. Nimm deinen Fluch zurück!»
«Wo ist Jonas? Ein Diener soll mich
zu ihm führen, sofort! Ich habe für ihn bezahlt; da er für dich nur eine Ware
ist, eine Maschine, und ich ihn erworben habe, will ich ihn haben.»
Doras zieht eine goldene Pfeife aus
der Brusttasche und pfeift dreimal. Aus allen Teilen des Hauses und des Gutes
eilt eine Schar Diener herbei. Sie kriechen beinahe in die Nähe des gefürchteten
Gebieters. «Bringt diesem hier Jonas und übergebt ihn ihm... Wohin gehst du?»
294
Jesus antwortet nicht. Er geht
hinter den Dienern her durch den Garten bis zu den Hütten der Landarbeiter. Sie
betreten die Hütte des Jonas. Er ist nur mehr ein Skelett, er keucht vor Fieber,
halbnackt auf der Rohrmatte, auf der als Matratze ein geflicktes Gewand und als
Decke ein noch zerrissenerer Mantel liegen. Die junge Magd von damals pflegt ihn
auch jetzt, so gut es möglich ist.
«Jonas, mein Freund! Ich bin
gekommen, dich abzuholen.»
«Du, mein Herr? Ich sterbe... oh,
ich bin glücklich, daß du bei mir bist!»
«Treuer Freund, du bist jetzt frei.
Du wirst nicht hier sterben. Ich werde dich in mein Haus bringen.»
«Frei? Warum? In dein Haus? Ach ja,
du hast mir versprochen, daß ich deine Mutter noch einmal sehen dürfe.»
Jesus ist ganz Liebe; er beugt sich
über das Lager des Unglücklichen. Und Jonas scheint sich vor Freude zu beleben.
«Petrus, du bist stark! Hebe Jonas
auf, und ihr gebt ihm eure Mäntel. Dieses Bett ist zu hart für seinen Zustand.»
Die Jünger legen sofort ihre Mäntel
ab, falten sie und breiten sie auf dem Lager aus. Aus einigen machen sie auch
ein Kissen. Petrus legt seine Last, die nur aus Knochen besteht, vorsichtig
nieder, und Jesus bedeckt Jonas mit seinem eigenen Mantel.
«Petrus, hast du Geld?»
«Ja, Meister. Ich habe vierzig
Denare.»
«Gut, dann laßt uns gehen! Mut,
Jonas! Noch eine kleine Mühe, dann wirst du in meinem Hause bei Maria den
Frieden finden ...»
«Maria! Ja. Oh! Dein Haus!» In
seiner Erschöpfung weint der arme Jonas. Er kann nur noch weinen. «Leb wohl,
Frau! Der Herr möge dich um deiner Güte willen segnen!»
«Leb wohl, Herr! Leb wohl, Jonas!
Bete, betet für mich!» das Mädchen weint.
Als sie die Schwelle erreichen,
steht dort Doras. Jonas überfällt die Angst, und er hält eine Hand schützend
vors Gesicht. Doch Jesus legt ihm eine Hand auf das Haupt und geht an seiner
Seite hinaus, strenger als ein Richter. Der armselige Zug bewegt sich durch das
Hoftor und schlägt den Feldweg ein.
«Das Bett gehört mir. Ich habe dir
den Knecht verkauft, aber nicht das Bett!»
Jesus wirft ihm wortlos die
Geldbörse vor die Füße. Doras nimmt und entleert sie. «Vierzig Denare und fünf
Drachmen, das ist wenig!» Jesus blickt den habgierigen, widerlichen Quäler nur
an; es ist unmöglich zu beschreiben, was seine Miene ausdrückt. Er antwortet
nicht.
«Sag wenigstens, daß du den Fluch
aufhebst.»
Jesus blitzt ihn wiederum an und
wirft ihm die Worte zu: «Ich überlasse
295
dich unserem Gott vom Sinai!» Dann
geht er hochaufgerichtet neben der einfachen Tragbahre her, die von Petrus und
Andreas vorsichtig getragen wird.
Doras sieht nun, daß alles nutzlos
ist und daß der Fluch bestehen bleibt; er schreit wütend: «Wir werden uns
wiedersehen, Jesus! Ich werde dir noch meine Krallen zeigen! Krieg bis zum Tode
werde ich mit dir führen! Nimm ruhig diesen Schatten von einem Menschen mit! Er
taugt zu nichts mehr. Ich spare somit die Begräbniskosten. Geh, geh, verdammter
Satan! Das ganze Synedrium werde ich gegen dich aufhetzen. Satan! Satan!»
Jesus tut, als ob er nicht höre.
Die Jünger sind bestürzt. Jesus kümmert sich nur um Jonas. Er sucht die besten
und am wenigsten holprigen Wege, bis sie zu einer Kreuzung bei den Feldern
Jochanans gelangen. Die vier Landarbeiter eilen herbei, den scheidenden Freund
und Meister, der sie segnet, zu grüßen.
Doch der Weg von Esdrelon nach
Nazareth ist lang, und es geht mit dieser schonungsbedürftigen Last nur langsam
voran. Auf der Hauptstraße ist kein einziger Wagen oder Karren zu sehen. Nichts
weit und breit. Sie gehen schweigend weiter. Jonas scheint zu schlafen. Doch er
läßt die Hand Jesu nicht los.
Gegen Abend werden sie endlich von
einem römischen Militärwagen eingeholt.
«Im Namen Gottes, haltet an!» sagt
Jesus und hält den Arm hoch. Die beiden Soldaten halten an. Aus dem Verdeck, das
übergezogen worden ist, weil es zu regnen beginnt, schaut ein pompös dekorierter
Soldat heraus.
«Was willst du?» fragt er Jesus.
«Ich habe hier einen sterbenden
Freund. Ich bitte für ihn um einen Platz auf dem Wagen.»
«Ich dürfte eigentlich nicht...
aber steig ein! Wir sind schließlich keine Hunde.»
Die Bahre wird hineingehoben.
«Ist dies dein Freund? Wer bist
du?»
«Der Rabbi Jesus von Nazareth.»
«Du? ... Oh!» Der Soldat schaut ihn
neugierig an. «Wenn du es wirklich bist ... dann kommt alle herein, so viel
Platz haben wir. Doch laßt euch nicht sehen. Die Verordnung lautet so; doch über
der Weisung steht die Menschlichkeit. Nicht wahr? Und du bist gut! Ich weiß es.
Wir Soldaten wissen alles... Wie ich es erfahren habe? Auch die Steine reden
über das Gute und das Schlechte, und wir haben Ohren, um Caesar zu dienen. Du
bist kein falscher Christus wie die anderen, die schon vor dir gekommen sind und
aufrührerisch und rebellisch waren. Du bist gut. Rom weiß es. Dieser Mensch...
ist sehr krank.»
«Ich bringe ihn deswegen zu meiner
Mutter.»
296
«Oh, sie wird ihn nur kurze Zeit zu
pflegen haben. Gib ihm etwas Wein! Hier im Beutel ist welcher. Du, Aquila, gib
den Pferden die Sporen, und du, Quintus, gib mir den Honig und die Butter, meine
Ration. Sie wird ihm gut tun. Er hustet stark, und der Honig ist Arznei.»
«Du bist gut.»
«O nein, ich bin nur nicht ganz so
böse wie viele andere. Ich freue mich, dich bei mir zu haben. Denke an Publius
Quintillianus von der Italika. Ich bin in Caesarea stationiert. Doch nun gehe
ich nach Ptolomais zur angeordneten Inspektion.»
«Bist du mir nicht feindlich
gesinnt?»
«Ich? Ich bin der Feind der Bösen,
niemals der Guten. Ich möchte auch gut sein. Sag mir, welche Lehre gibst du uns
Männern des Schwertes?»
«Die Lehre ist für alle dieselbe:
Gerechtigkeit, Redlichkeit, Mäßigkeit und Mitleid. Pflichterfüllung, ohne
Mißbrauch der Macht. Auch in der harten Notwendigkeit der Waffen die
Menschlichkeit üben. Sich bemühen, die Wahrheit zu suchen, also Gott, den Einen
und Ewigen. Ohne diese Kenntnis bleibt jede Tat ohne Segen und somit ohne ewige
Belohnung.»
«Doch was nützt mir nach dem Tode
das Gute, das ich getan habe?»
«Wer zum Wahren Gott kommt, findet
das Gute im anderen Leben wieder.»
«Werde ich wiedergeboren werden?
Kann ich dann Tribun oder sogar Caesar werden?»
«Nein. Du wirst Gott ähnlich
werden, mit dem du dich im Himmel in seiner ewigen Seligkeit vereinigst.»
«Wie? Ich im Olymp? Unter den
Göttern?»
«Es gibt keine Götter! Es gibt nur
den wahren Gott! Den, den ich predige. Den, der dich hört, der deine Güte sieht
und dein Verlangen, das Gute kennenzulernen.»
«Das gefällt mir. Ich wußte nicht,
daß Gott sich um einen armen heidnischen Soldaten kümmert.»
«Er hat dich erschaffen, Publius,
er liebt dich also und möchte dich bei sich haben.»
«Oh, warum nicht? ... Aber...
niemand sagt uns etwas über Gott... nie! ...»
«Ich werde nach Caesarea kommen,
und du wirst mich hören.»
«O ja! Ich werde kommen, dich zu
hören. Hier ist Nazareth. Ich wäre dir gerne noch weiter behilflich; doch wenn
man mich sieht ...»
«Wir steigen hier aus, und ich
segne dich für deine Barmherzigkeit!»
«Mein Gruß dir, Meister.»
«Der Herr möge sich euch kundtun,
Soldaten! Lebt wohl!»
Sie steigen aus und setzen ihren
Weg zu Fuß fort.
«Bald wirst du dich ausruhen
können, Jonas», ermuntert Jesus.
297
Jonas lächelt. Er wird immer
ruhiger, je mehr, der Abend sich herniedersenkt und je sicherer er ist, weit von
Doras entfernt zu sein.
Johannes geht mit seinem Bruder
voraus, um Maria zu benachrichtigen. Als die kleine Gruppe in dem zu dieser
Abendstunde wie verlassenen Nazareth ankommt, steht Maria schon an der Schwelle
und wartet auf den Sohn.
«Mutter, hier ist Jonas. Er
vertraut sich deiner Güte an, um einen Vorgeschmack seines Paradieses zu haben.
Bist du nun glücklich, Jonas?»
«Glücklich, glücklich!» murmelt der
Erschöpfte wie in Ekstase.
Er wird in den Raum getragen, in
dem Joseph gestorben ist. «Du liegst auf dem Bett meines Vaters. Hier ist die
Mutter. Und hier bin ich. Siehst du? Nazareth wird zu Bethlehem, und du bist nun
der kleine Jesus zwischen zweien, die dich lieben... und alle hier verehren in
dir den getreuen Knecht. Die Engel kannst du nicht sehen. Doch sie fliegen über
dir mit ihren leuchtenden Flügeln und singen die Worte des Psalms der Geburt.»
Jesus ergießt seine Zärtlichkeit
über den armen Jonas, der von Augenblick zu Augenblick immer mehr
dahinschwindet. Es scheint, als habe er bis jetzt durchgehalten, nur um hier
sterben zu können. Aber er ist selig. Er lächelt und versucht die Hand Jesu und
die Marias zu küssen und zu sprechen... zu sprechen; doch die Atemnot hindert
ihn daran. Maria tröstet ihn wie eine Mutter. Und er wiederholt: «Ja, ja», mit
einem glücklichen Lächeln im ausgemergelten Gesicht.
Die Jünger beobachten schweigend
und voll tiefer Rührung die Szene von der Gartentür aus.
«Gott hat deinen lang gehegten
Wunsch erfüllt. Der Stern deiner langen Nacht wird nun zum Stern deines Ewigen
Morgens. Du kennst seinen Namen», sagt Jesus.
«Jesus, dein Name! Oh, Jesus! Die
Engel... Wer singt mir den himmlischen Hymnus? Die Seele hört ihn... aber auch
das Ohr möchte ihn hören... Wer läßt mich glücklich einschlafen? ... Ich bin so
müde... Viel Mühe und Arbeit habe ich immer ertragen. Viele Tränen habe ich
vergossen... viele Beleidigungen erduldet... Doras... ich verzeihe ihm... doch
ich will seine Stimme nicht mehr hören, die immer noch in meinen Ohren
nachhallt... Sie tönt wie die Stimme Satans bei meinem Sterben. Wer übertönt
diese Stimme mit den Worten des Paradieses?»
Es ist Maria, die nach der Melodie
ihres Wiegenliedes leise singt: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den
Menschen auf Erden», und sie wiederholt es zwei- oder dreimal; denn sie sieht,
wie Jonas dabei immer ruhiger wird.
«Doras spricht nicht mehr», sagt er
nach einiger Zeit. «Nur noch die Engel. Es lag ein Kind... in einer Krippe...
zwischen einem Ochsen und einem Esel, und das Kind war der Messias... und ich
habe es angebetet...
298
und mit ihm waren Joseph und Maria
...» Die Stimme erlischt in einem kurzen Seufzer, und schließlich hüllt ein
tiefes Schweigen alles ein.
«Friede im Himmel dem Menschen
guten Willens! Er ist tot. Wir werden ihn in unserer armen Begräbnisstätte
beisetzen. Er verdient es, die Auferstehung der Toten an der Seite des
Gerechten, meines Nährvaters, erwarten zu dürfen», sagt Jesus.
Und während Maria des Alphäus, die
durch irgend jemanden benachrichtigt worden ist, eintritt, endet alles.
149. JESUS IM HAUSE DES JAKOBUS AM
SEE MERON
Ich möchte sagen, daß Palästina
außer dem See Genesareth und dem Toten Meer noch einen kleinen See oder Teich
besitzt, dessen Name mir unbekannt ist.
Was Schätzungen anbetrifft,
verstehe ich nichts; doch nach Augenmaß müßte dieses Becken drei Kilometer auf
zwei Kilometer betragen. Also nicht besonders groß, wie man sieht. Dieser See
ist sehr hübsch in seinen grünen Kranz eingebettet, und seine Oberfläche ist so
himmelblau und friedlich, daß er aussieht wie eine blaue Emailplatte, die von
verschiedenen blaugrünen Schattierungen durchzogen ist; vielleicht wegen des
Flusses, der im Norden einströmt, um dann im Süden wieder den See zu verlassen.
Da dieser nicht sehr tief ist, erscheint der Flußlauf wie eine lebendige Ader in
diesem stillen Wasser.
Man sieht hier keine Segelboote;
nur einige kleine Ruderboote, auf denen der einsame Fischer seine Angelschnur
handhabt oder für den einen oder anderen Wanderer, der den Weg abkürzen möchte,
den Fährmann spielt. Und Herden, Herden und wieder Herden, die von den
Weideplätzen auf den Bergen kommen, da bereits der Herbst begonnen hat, und nun
an diesen grünen, fetten Uferwiesen weiden können.
Am südlichen Ende des Sees, der
eine ovale Form hat, führt eine Hauptstraße vorbei, die sich von Ost nach West
hinzieht; richtiger von Nordost nach Südwest. Die Straße ist in gutem Zustand
und stark begangen von Passanten, die sich in die umliegenden Ortschaften
begeben.
Auf dieser Straße sehe ich Jesus
mit den Seinen daherkommen. Der Tag ist schon weit fortgeschritten, und Petrus
bemerkt: «Es wäre besser, nicht erst zu dieser Frau zu gehen. Die Tage werden
immer kürzer und unfreundlicher, und Jerusalem ist noch sehr weit entfernt.»
«Wir werden rechtzeitig ankommen.
Glaube mir, Petrus, man gehorcht Gott mit einem guten Werk besser als mit der
Teilnahme an einer äußeren Zeremonie. Diese Frau preist nun Gott mit allen ihren
Kindern, die um das Familienhaupt versammelt sind. Der Vater ist jetzt so
geheilt, daß er
299
zum Laubhüttenfest in Jerusalem
sein kann, während sein Leib zu diesem Zeitpunkt schon mit seinen Bandagen und
Balsamdüften im Grabe ruhen müßte. Man darf den Glauben nie zerstören durch die
Äußerlichkeit der Handlungen! Nie kritisieren! Wie kannst du dich über die
Pharisäer wundern, wenn es dir selbst an Barmherzigkeit fehlt, wenn du dem
Nächsten dein Herz verschließest und sagst: "Ich diene Gott, und das genügt?"»
«Du hast recht, Meister. ich bin
dümmer als ein Esel.»
«Ich behalte dich bei mir, um dich
weise zu machen. Habe keine Angst! Chuza hat mir den Wagen bis fast nach Jabbok
zur Verfügung gestellt. Von dort zur Fähre ist der Weg kurz. Er hat so sehr
darauf bestanden und vernünftige Gründe angeführt, daß ich nachgegeben habe,
obgleich ich behaupte, daß der König der Armen sich mit den Mitteln der Armen
bedienen muß. Doch der Tod des Jonas hat eine Verzögerung verursacht, und ich
muß nun meine Pläne diesen unvorhergesehenen Umständen anpassen.»
Die Jünger reden über Jonas,
beklagen sein armseliges Leben und beneiden ihn wegen seines seligen Todes.
Simon der Zelote murmelt: «Ich habe
ihn nicht glücklich machen und dem Meister keinen echten Jünger schenken können,
der im langen Martyrium und im unerschütterlichen Glauben herangereift ist...
Das tut mir leid. Die Welt braucht viele treue Geschöpfe, die von Jesus
überzeugt sind, um die vielen anderen auszugleichen, die ihm nicht glauben und
ihn verneinen werden.»
«Lassen wir das, Simon», antwortet
Jesus. «Jonas ist nun viel glücklicher und kann tiefer wirken. Du hast für ihn
und für mich mehr getan, als irgendein anderer hätte tun können. Auch
seinetwegen danke ich dir. Nun weiß er, wer sein Befreier war. Und er segnet
dich dafür.»
«Dann muß er aber Doras
verfluchen», sagt Petrus.
Jesus schaut Petrus an und fragt:
«Glaubst du? Dann bist du im Irrtum. Jonas war ein Gerechter. Nun ist er ein
Heiliger. In seinem Leben hat er nie gehaßt und nie verflucht. Und jetzt haßt
und verflucht er erst recht nicht! Er blickt aus dem Warteraum zum Paradiese auf
und jubiliert, da er bereits weiß, daß der Limbus die Wartenden bald entlassen
wird. Er segnet dich.»
«Und Doras... wird dein Fluch
wirken?»
«Wie meinst du das, Petrus?»
«Nun, daß er nachdenkt und sich
ändert oder daß ihn deine Strafe trifft.»
«Ich habe ihn Gottes Gerechtigkeit
anheimgestellt. Ich, die Liebe, habe ihn verlassen.»
«Barmherzigkeit! Ich möchte nicht
an seiner Stelle sein.»
«Ich auch nicht.»
300
«Und ich auch nicht.»
«Niemand möchte es. Wie wird die
Gerechtigkeit des Vollkommenen wohl aussehen?» fragen die Jünger.
«Sie ist Verzückung für die Guten
und Feuer für die Satane, meine Freunde. Wahrlich, ich sage euch, das ganze
Leben lang Sklave, Aussätziger oder Bettler sein ist königliche Glückseligkeit
im Vergleich zu einer einzigen Stunde göttlichen Strafgerichtes.»
«Es regnet, Meister. Was sollen wir
tun? Wohin gehen wir?»
Tatsächlich ist der See, in dem
sich die bleiernen Wolken des Himmels widerspiegeln, dunkel geworden, und die
ersten schweren Regentropfen klatschen auf das Wasser und künden einen
Platzregen an.
«Wir müssen in irgendein Haus gehen
und im Namen Gottes um Zuflucht bitten.»
«Hoffentlich finden wir jemand, der
so gut ist wie der Römer. Ich konnte es kaum glauben... Ich bin ihnen immer aus
dem Weg gegangen, als ob sie unrein wären, und nun sehe ich, daß sie... nun,
alles in allem... sie sind besser als viele von uns», sagt Petrus.
«Gefallen dir die Römer?» fragt
Jesus.
«Eh... ich finde sie nicht
schlimmer als wir es sind. Sie sind eben Ausländer.»
Jesus lächelt und sagt nichts. Sie
werden von einer jungen Frau eingeholt, die acht Schafe vor sich hertreibt.
«Frau, kannst du uns sagen, wo wir
Unterkunft finden können?» fragt Petrus.
«Ich bin die Magd eines armen,
alleinstehenden Mannes. Wenn ihr mitkommen wollt... Ich nehme an, mein Herr wird
euch in seiner Güte aufnehmen.»
«Gehen wir mit ihr!»
Inmitten der Schafe, die mit ihren
fetten Leibern dahintrotten, eilen sie weiter, um dem Regen zu entfliehen. Nun
verlassen sie die Hauptstraße, um in einen Weg einzubiegen, der zu einem
niederen Haus führt. Ich erkenne das Haus des Bauern Jakobus wieder, dieses
Jakobus des Matthias und der Maria, den beiden Waisen aus der Vision im August,
wenn ich nicht irre.
«Hier ist es! Geht rasch voran,
während ich die Schafe in den Stall bringe! Hinter dem Mäuerchen ist ein Hof und
durch diesen gelangt man ins Haus. Er wird in der Küche sein. Achtet nicht
darauf, wenn er nicht viel redet... Er hat viel Verdruß.» Die Frau eilt zu einer
elenden Hütte zu meiner Rechten. Jesus biegt mit den Seinen nach links ab.
Hier ist die Tenne mit dem Brunnen,
dem Backofen im Hintergrund und dem Apfelbaum auf der einen Seite. Und hier ist
die weit geöffnete Türe zur Küche, in der ein Feuer brennt und ein Mann ein
Ackergerät zu reparieren scheint.
301
«Der Friede sei mit diesem Hause!
Ich bitte dich für heute Nacht um Unterkunft für mich und meine Freunde», sagt
Jesus auf der Türschwelle.
Der Mann hebt den Kopf. «Komm
herein!» sagt er, «und Gott möge dir denselben Frieden geben, den du mir
wünschest! Aber Friede? Hier? Der Friede ist seit einiger Zeit dem Jakobus nicht
wohlgesinnt. Komm herein, komm herein! Kommt alle herein! Das Feuer ist das
einzige, was ich euch in Fülle anbieten kann... weil... Oh! ... Aber... aber du,
der du nun die Kapuze abnimmst (Jesus hatte sein Haupt mit einem Zipfel des
Mantels bedeckt) und den ich nun gut sehen kann... du bist doch... ja, du bist
der Rabbi von Galiläa, von dem sie sagen, daß es der Messias sei, der Wunder
wirkt. Bist du es? Sag es mir, im Namen Gottes!»
«Ich bin Jesus von Nazareth, der
Messias. Kennst du mich?»
«Ich habe dich am vergangenen
Vollmond im Hause des Judas und der Anna gehört. Ich war bei den Weinlesern,
weil ich arm bin. Eine Kette von Unglücksfällen: Hagel, Ungeziefer, Krankheiten
der Gewächse und der Schafe... Für mich, der ich allein mit einer Magd lebe,
genügte mein Besitz. Aber nun habe ich Schulden machen müssen, denn ein Unglück
kommt nach dem anderen. Um nicht alle meine Schafe verkaufen zu müssen, habe ich
bei anderen gearbeitet. Und meine eigenen Felder! Es schien, als ob der Krieg
darüber gebraust wäre, so verbrannt waren sie, und die Reben und Ölbäume trugen
keine Früchte. Seit meine Frau gestorben ist, es ist nun sechs Jahre her,
scheint es, als ob Satan sich hier vergnüge. Siehst du? Ich arbeite mit diesem
Pflug. Doch das Holz ist ganz morsch. Was soll ich tun? Ich bin kein Schreiner
und nagle und nagle fest, doch es hilft nichts. Und ich muß nun auf jeden
Pfennig schauen... Ich werde ein weiteres Schaf verkaufen müssen, um die
Ackergeräte reparieren lassen zu können. Das Dach ist undicht; doch die Felder
machen mir mehr Sorgen als das Haus. Schade! Die Schafe sind alle trächtig...
ich hoffte, wieder eine Herde zusammenzubekommen. Aber ...»
«Ich sehe, daß ich eine Last bin,
wo schon eine schwere Last zu tragen ist.»
«Du eine Last? Nein! Ich habe dich
reden gehört und... und in meinem Herzen ist zurückgeblieben, was du gesagt
hast. Es ist wahr, ich habe ehrlich gearbeitet, und doch... vielleicht war ich
doch nicht gut genug. Ich glaube, daß meine Frau besser war; denn sie hatte
Mitleid mit allen, die arme Lia, die viel zu früh sterben mußte. Es war zuviel
für mich! Ich glaube, der damalige Wohlstand wurde uns vom Himmel ihrer Güte
wegen geschenkt. Ich möchte auch gut werden, schon weil du es forderst, und
auch, um meine Frau nachzuahmen. Ich verlange nicht viel... nur, daß ich in
diesem Haus bleiben kann, in dem sie gestorben ist und ich geboren wurde; daß
ich Brot habe für mich und die Magd, die für den Haushalt sorgt und die Schafe
hütet, so gut sie kann. Ich habe keine Knechte mehr.
302
Ich hatte zwei, das war genug; denn
auch ich arbeitete auf den Feldern und für die Oliven. Doch nun habe ich nur
mehr für mich allein Brot, und das ist sogar recht knapp!»
«Du sollst dich unsretwegen nicht
einschränken!»
«Nein, Meister. Wenn ich auch nur
einen Bissen hätte, so würde ich ihn dir geben. Es ist eine Ehre für mich, dich
hier zu haben... Ich hätte dies nie erwartet. Doch ich klage dir mein Leid, denn
du bist gut und kannst es verstehen.»
«Ja, ich verstehe. Gib mir diesen
Hammer! Man macht es nicht so. So zerbricht das Holz. Gib mir auch den Pfriem!
Aber erst mußt du ihn glühend werden lassen. So können wir ein Loch in das Holz
brennen und den Bolzen ohne Mühe durchstecken. Laß mich nur machen! Ich war
Schreiner!»
«Du willst für mich arbeiten? Das
niemals!»
«Laß mich nur machen! Du
beherbergst mich, und ich helfe dir. Man muß sich gegenseitig lieben und
einander nach Möglichkeit helfen.»
«Du schenkst Frieden, gibst
Weisheit und wirkst Wunder. Du gibst schon viel, so viel.»
«Ich gebe auch die Arbeit. Auf,
gehorche!» Und Jesus, der seine Tunika abgelegt hat, arbeitet schnell und gut an
der zerbrochenen Deichsel, bohrt, nagelt, dübelt und prüft, ob alles nun hält.
«Das hält noch eine Zeitlang, bis zum nächsten Jahr. Dann könntest du dir einen
neuen Pflug anschaffen!»
«Ja, ich glaube es. Der Pflug ist
in deinen Händen gewesen und wird zum Segen für meine Erde werden.»
«Nicht deshalb, Jakobus! Du selbst
wirst der Segen deiner Erde sein.»
«Warum, mein Herr?»
«Weil du barmherzig bist. Du
verschließt dich nicht im Groll des Egoismus und des Neides, sondern nimmst
meine Lehre an und setzest sie in die Tat um. Selig die Barmherzigen, denn sie
werden Barmherzigkeit erlangen.»
«Womit kann ich dir dienen, Herr?
Ich habe beinahe keinen Platz und keine Nahrung für deine Bedürfnisse. Ich habe
nur den guten Willen; doch noch nie hat mich meine Armut so sehr bedrückt wie
jetzt, da ich dir und deinen Freunden Ehre erweisen möchte.»
«Mir genügt dein guter Wille.
Wahrlich, ich sage dir, selbst ein einziges Glas Wasser, das in meinem Namen
gereicht wird, hat eine große Bedeutung in den Augen Gottes. Ich war ein müder
Wanderer unter dem Regen, und du hast mich aufgenommen. Nun kommt die Stunde der
Mahlzeit und du sagst: "Ich biete dir an, was ich habe." Die Nacht bricht
herein, und du bietest mir dein Dach an wie einem Freund. Was willst du denn
noch mehr tun? Glaube mir, Jakobus: der Menschensohn legt keinen Wert auf eine
pompöse Einladung und auserlesene Speisen; er achtet nur
303
auf die Gefühle des Herzens. Der
Sohn Gottes sagt zum Vater: "Vater, segne meine Wohltäter und alle, die in
meinem Namen den Brüdern Barmherzigkeit erweisen!" Das sage ich für dich.»
Die Magd, die mit dem Herrn
gesprochen hatte, während Jesus am Pflug arbeitete, kommt nun mit Brot,
frischgemolkener Milch, einigen armseligen Äpfeln und einem Teller voller
Oliven.
«Ich habe nicht mehr», entschuldigt
sich der Mann.
«Oh, ich sehe unter deinen Speisen
eine Nahrung, die du nicht sehen kannst. Und damit nähre ich mich; denn sie hat
einen himmlischen Geschmack.»
«Du, der Sohn Gottes, nährst dich
vielleicht mit einer Speise, die Engel dir bringen. Vielleicht lebst du von
einem geistigen Brot.»
«Ja. Die Seele ist wertvoller als
der Leib, und dies nicht in mir allein. Doch ich nähre mich nicht mit
Engelsbrot, sondern von der Liebe des Vaters und der Menschen. Sie finde ich
auch auf deinem Tisch, und ich preise dafür den Vater, der mich liebevoll zu dir
geführt hat, und ich segne dich, der du mich mit Liebe aufnimmst und mir Liebe
schenkst. Das ist meine Speise: die Erfüllung des Willens meines Vaters.»
«Segne also du und biete an meiner
Stelle Gott die Nahrung an! Heute bist du das Haupt meiner Familie, und immer
wirst du mein Meister und Freund sein!»
Jesus nimmt die Speise und opfert
sie auf; er hält sie auf den Handflächen in die Höhe, und betet dabei einen
Psalm, wie ich annehme. Dann setzt er sich, und teilt sie aus.
Damit ist alles zu Ende.
150. RÜCKKEHR ZUR FURT DES JORDANS
BEI JERICHO
«Ich wundere mich, daß der Täufer
nicht da ist», sagt Johannes zum Meister. Alle sind am Ostufer des Jordans, beim
bekannten Übergang, wo einst Johannes taufte.
«Er ist auch nicht am anderen
Ufer», bemerkt Jakobus.
«Sie werden ihn wieder eingesperrt
haben, um nochmals Lösegeld zu bekommen», meint Petrus. «Sie haben einen
schlechten Ruf, gewisse Leute des Herodes!»
«Wir werden den Fluß überqueren und
uns erkundigen», sagt Jesus. Sie setzen über und fragen am anderen Ufer einen
Fährmann: «Tauft Johannes nicht mehr hier?»
«Nein. Er lebt an der Grenze von
Samaria. Soweit ist es gekommen! Ein Heiliger muß sich bei den Samaritern vor
den Bürgern Israels schützen! Und dann wundert man sich, wenn sich Gott von euch
abwendet?
304
Ich wundere mich nur über eines:
daß er nicht ganz Palästina wie Sodom und Gomorrha behandelt!»
«Er tut es nicht um der Guten
willen, die es immer noch gibt, und wegen jener, die zwar nicht in allem gerecht
sind, doch nach der Gerechtigkeit dürsten und die Lehren jener befolgen, die
Heiligkeit predigen», antwortet Jesus.
«Zwei also: der Täufer und der
Messias. Den ersten kenne ich, denn ich habe ihm hier am Jordan gedient, als ich
mit meiner Fähre Gläubige zu ihm ruderte, ohne dafür ein Entgelt zu verlangen;
denn er sagt, man solle mit dem gerechten Lohn zufrieden sein. So schien es mir
gerecht, mich mit dem Verdienst zufriedenzugeben, den ich durch meine andere
Arbeit bekam, und es erschien mir ungerecht, Geld anzunehmen, wenn ich eine
Seele zur Reinigung bringen konnte. Die Freunde nannten mich deswegen verrückt.
Doch schließlich... Wen geht es etwas an, wenn ich mich mit wenig zufrieden
gebe? Außerdem sehe ich, daß ich noch nicht Hungers gestorben bin, und ich
hoffe, daß mir bei meinem Tod Vater Abraham zulächeln wird.»
«Du bist auf dem rechten Wege,
Mann! Wer bist du?» fragt Jesus.
«Oh, ich habe einen großen Namen
und muß selbst darüber lachen, denn andere Weisheit als für das Ruder habe ich
nicht. Ich heiße Salomon.»
«Du bist weise genug, um beurteilen
zu können, daß man eine Reinigung, an der man mitwirkt, nicht mit Geld
beeinträchtigen darf. Ich sage dir, nicht Abraham allein, sondern der Gott
Abrahams wird dir bei deinem Tode wie einem treuen Sohn zulächeln.»
«Oh, Gott! Sagst du das im Ernst?
Wer bist du?»
«Ich bin ein Gerechter.»
«Dann höre! Ich habe zu dir gesagt,
daß es in Israel zwei gibt: einer ist der Täufer, der andere der Messias. Bist
du der Messias?»
«Ich bin es.»
«Oh, ewige Barmherzigkeit! Aber ich
hörte eines Tages die Pharisäer sagen... Nein, lassen wir das! Ich will meinen
Mund nicht beschmutzen. Du bist nicht so, wie sie dich darstellen, diese
gespaltenen Zungen!»
«Wohin gehst du, Herr?» Der von der
Offenbarung überraschte Mann hat nun eine ganz andere Weise zu reden. Erst war
seine Redeweise biedermännisch, nun ist er ein Glaubender, der ganz Anbetung
ist.
«Nach Jerusalem über Jericho. Zum
Laubhüttenfest gehe ich.»
«Nach Jerusalem? Auch du?»
«Ich bin ein Sohn des Gesetzes. Ich
schaffe das Gesetz nicht ab. Ich gebe euch Licht und Kraft, um es vollkommen zu
befolgen.»
«Aber in Jerusalem haßt man dich
bereits. Ich meine, die Großen, die Pharisäer von Jerusalem. Ich habe dir schon
gesagt, daß ich gehört habe ...»
305
«Laß sie machen! Sie tun ihre
Pflicht; oder das, was sie für ihre Pflicht halten. Und ich tue meine. Wahrlich,
ich sage dir, bevor die Stunde kommt, können sie mir nichts antun.»
«Welche Stunde, Herr?» fragen die
Jünger und der Bootsmann zugleich.
«Die Stunde des Sieges über die
Finsternis.»
«Wirst du bis ans Ende der Welt
leben?»
«Nein, es wird eine Finsternis
kommen, die schlimmer sein wird als das Erlöschen der Gestirne und der Tod aller
Menschen auf unserem Planeten. Und dies wird sein, wenn die Menschen das Licht,
das ich bin, auslöschen. Bei vielen ist das Verbrechen schon beschlossen. Leb
wohl, Salomon!»
«Ich folge dir, Meister.»
«Nein. Komm in drei Tagen nach Bel
Nidrash! Der Friede sei mit dir!»
Jesus geht mit den nachdenklichen
Jüngern fort.
«Worüber denkt ihr nach? Habt keine
Angst, weder meinet- noch euretwegen! Wir sind durch die Dekapolis und Peräa
gekommen, und überall haben wir Landleute bei der Feldarbeit gesehen. Wo die
Erde noch mit Stoppeln und Unkraut bedeckt, trocken und hart war, voll von
Parasitengewächsen, die der Sommerwind herangetragen und gesät hat mit Samen der
Gewächse der trostlosen Wüsteneien: das waren die Felder der Arbeitsscheuen und
der Genießer. Anderswo war die Erde vom Pflug schon geöffnet und gereinigt durch
das Feuer und durch Hände von Steinen, Wurzeln und Quecken. Was also vorher
ungut war infolge unnützen Gewächses, wurde durch die Reinigung des Feuers und
der Hacke verändert in Gutes: in Dünger und Salze, die die Fruchtbarkeit
fördern. Die Erde muß geklagt haben unter der Schneide des Pfluges, der sie
öffnet und durchrüttelt, und unter dem Biß des Feuers, das über ihre Wunden
hinfegt. Aber sie wird frohlocken im Frühling und sagen: "Der Mensch hat mich
gemartert, um mir eine reiche Ernte zu ermöglichen, die mir Schönheit bringt!"
Das sind die Felder der Arbeitswilligen. Und wiederum anderswo waren die Felder
schon sauber bestellt, sogar gereinigt von der Asche: ein wahres Brautbett für
die Vermählung der Scholle mit dem Samen zu einer fruchtbaren Vereinigung für
die Herrlichkeit der Ähren. Das waren die Felder der Hochherzigen in der
Vollkommenheit ihres Tuns.
Genauso ist es mit dem Herzen. Ich
bin die Pflugschar und mein Wort ist das Feuer zur Vorbereitung des ewigen
Sieges.
Es gibt Träge oder Genießer, die
noch nicht nach mir verlangen, mich ablehnen, sich in ihren Lastern gefallen und
den schlechten Leidenschaften frönen, die ihnen wie blumige Festkleider
vorkommen, jedoch nur Leiden und Dornen sind, die die Seele zu Tode verwunden,
sie binden und daraus Holz für das Feuer der Hölle machen. So sind Dekapolis und
Peräa jetzt... und nicht nur sie! Man bittet mich nicht um Wunder, weil man
306
die Schärfe des Wortes und das
Brennen des Feuers fürchtet. Doch ihre Stunde wird kommen. Anderswo erträgt man
die Schärfe und die Hitze und denkt dabei: "Es tut weh, aber es reinigt mich und
macht mich aufnahmefähig für das Gute." Sie sind es, die den Heroismus nicht
aufbringen, es selbst zu tun, aber warten wollen, bis ich es an ihnen
vollbringe. Das ist der erste Schritt auf meinem Wege. Schließlich gibt es
weitere, die durch ihre tagtägliche Mitarbeit meine Arbeit unterstützen und
nicht nur gehen, sondern dahinfliegen auf der Straße Gottes. Diese sind die
getreuen Jünger; ihr und sie, die da und dort in Israel verstreut leben.»
«Aber wir sind nur wenige, gegen so
viele. Wir sind demütige Menschen gegen die Mächtigen. Wie können wir dich
verteidigen, wenn sie dir schaden wollen?»
«Freunde, denkt an den Traum
Jakobs! Er sah eine unzählbare Engelschar die Leiter, die vom Himmel zum
Patriarchen führte, auf- und absteigen. Eine riesige Zahl, und doch war es nur
ein Teil der Engelscharen... Nun, selbst wenn all die Engelschöre, die Gott das
Alleluja singen, herniedersteigen würden, um mich zu verteidigen, wenn die
Stunde da ist, vermöchten sie es nicht. Die Gerechtigkeit muß vollzogen werden.»
«Du meinst wohl, die
Ungerechtigkeit! Denn du bist heilig, und wenn sie dir Böses zufügen, dich
hassen, dann sind sie ungerecht.»
«Deswegen sage ich, daß einige das
Verbrechen schon begangen haben. Wer in Gedanken tötet, ist schon ein Mörder;
wer in Gedanken stiehlt, ist schon ein Dieb; wer in Gedanken die Ehe bricht, ist
schon ein Ehebrecher; wer in Gedanken Verrat übt, ist schon ein Verräter. Der
Vater weiß es, und ich weiß es. Doch er läßt mich gehen. Und ich gehe. Deswegen
bin ich gekommen! Doch noch muß das Korn reifen, und es wird noch ein erstes und
ein zweites Mal gesät werden, bevor Brot und Wein den Menschen zur Speise
gegeben werden.»
«Wird dann ein Freuden- und
Friedenfest gefeiert werden?»
«Des Friedens? Ja. Der Freude?
Auch. Aber... O Petrus! O meine Freunde! Wie viele Tränen wird es geben zwischen
dem ersten und dem zweiten Kelch! Und erst, wenn der letzte Tropfen des dritten
Kelches getrunken sein wird, werden die Freude unter den Gerechten und der
Friede für die Menschen guten Willens gesichert sein.»
«Und du wirst dabeisein, nicht
wahr?»
«Ich? Wann fehlt je bei einer
rituellen Feier das Haupt der Familie? Bin ich nicht das Haupt der großen
Familie des Christus?»
Simon der Zelote, der noch nicht
gesprochen hat, sagt wie zu sich selbst: «Wer ist es, der da mit blutroten
Kleidern kommt? Er ist schön in seinem Gewande und schreitet in der Größe seiner
Stärke einher. "Ich bin es, der gerecht spricht und beschützt, um zu retten."
Warum also sind deine Kleider rot gefärbt und deine Gewänder wie die dessen, der
die Kelter
307
tritt? "Ich habe allein die Kelter
getreten. Das Jahr meiner Erlösung ist gekommen."» (Is 63,1-4)
«Simon, du hast verstanden»,
bemerkt Jesus.
«Ja, ich habe verstanden, mein
Herr.»
Die beiden sehen sich an, die
anderen betrachten sie staunend und fragen sich gegenseitig: «Aber spricht er
denn von den roten Kleidern, die Jesus auch jetzt trägt, oder vom königlichen
Purpur, in den er sich hüllen wird, wenn die Stunde da ist?»
Jesus zieht sich innerlich zurück,
und es scheint, als ob er nichts mehr höre. Petrus nimmt Simon zur Seite und
fragt ihn: «Du bist weise und demütig; erkläre meiner Unwissenheit deine Worte!»
«Ja, Bruder. Sein Name ist Erlöser.
Die Kelche des Freuden- und Friedensmahles zwischen Mensch und Gott, Erde und
Himmel, wird er selbst mit seinem Weine füllen, indem er sich selbst keltert im
Leiden und aus Liebe zu uns allen. Daher wird er gegenwärtig sein, wenn auch die
Mächte der Finsternis dann dem Scheine nach das Licht ausgelöscht haben, das er
selbst ist. Oh, man muß diesen unseren Christus sehr lieben, denn viele werden
ihm ihre Liebe verweigern. Sorgen wir dafür, daß uns in der Stunde seiner
Verlassenheit nicht die davidischen Klagen und Vorwürfe treffen: "Eine
Hundemeute (und wir wären darunter) umringt mich."» (Ps 21,17)
«Was sagst du? ... Aber wir werden
ihn verteidigen, auf die Gefahr hin, mit ihm zu sterben.»
«Wir werden ihn verteidigen... Doch
wir sind Menschen, Petrus. Und unser Mut wird dahingeschwunden sein, bevor seine
Gebeine gebrochen werden (Ps 21,15). Ja, uns wird es ergehen wie dem eisigen
Wasser des Himmels, das ein Blitz zu Regen schmelzen und der Wind am Boden
wieder zu Eis werden läßt. So sind wir! Genau so! Unser augenblicklicher Mut als
seine Jünger, den seine Nähe und seine Liebe zu männlichem Eifer entflammen läßt,
wird unter dem Blitze Satans und seines Gefolges dahinschwinden. Und was wird
von uns übrigbleiben? Nach der harten und notwendigen Prüfung werden uns der
Glaube und die Liebe wieder stark machen, und wir werden wie ein Kristall, der
den Schliff und den Bruch nicht mehr fürchtet. Doch dies werden wir erst
verstehen und können, wenn wir ihn lieben, solange er bei uns ist. Dann, ja,
dann hoffe ich, daß wir seinem Wort weder Feinde noch Verräter sein werden.»
«Du bist weise, Simon. Ich bin
nicht gelehrt, und ich schäme mich oft, ihm so viele Fragen zu stellen. Und es
schmerzt mich sehr, wenn es Dinge zum Weinen sind... Betrachte sein Antlitz! Es
scheint, als ob es von einem inneren Weinen gewaschen werde. Betrachte seine
Augen. Sie blicken nicht zum Himmel und nicht zur Erde; sie sind auf eine
unbeschreibliche Weise offen. Und sein Gang, wie müde und gebeugt ist er! Er
scheint durch seine Sorgen gealtert. Ich kann ihn so nicht sehen! Meister,
Meister,
308
lächle doch! Ich kann dich nicht so
traurig sehen. Du bist mir so lieb wie ein Sohn, und ich würde dir meine Brust
als Kissen geben, damit du darauf schläfst und von anderen Welten träumst... Oh,
verzeih, wenn ich dich "Sohn" nenne. So sehr liebe ich dich, Jesus!»
«Ich bin der Sohn... Das ist mein
Name. Aber ich bin nicht mehr traurig. Siehst du? Ich lächle, weil ihr mir
Freunde seid. Dort ist auch schon Jericho, ganz rot im Sonnenuntergang. Zwei von
euch sollen voraus gehen und eine Unterkunft suchen. Ich werde euch mit den
anderen bei der Synagoge erwarten. Geht nun!»
Alles endet, während Johannes und
Judas Thaddäus auf die Suche nach einem gastlichen Hause gehen.
151. JESUS IM HAUSE DES LAZARUS -
MARTHA SPRICHT ÜBER MAGDALENA
Der Marktplatz von Jericho mit
seinen Bäumen und seinen schreienden Händlern. In einer Ecke der Zöllner Zachäus,
beschäftigt mit legalen und illegalen Geschäften. Er muß auch Käufer und
Verkäufer von Schmucksachen sein, denn ich sehe, daß er etwas wägt und schätzt:
Schmucksachen und Gegenstände aus Edelmetall, die ihm - ich weiß es nicht und
vermute es nur - vielleicht an Stelle von Geld für Steuerabgaben gegeben oder
aus anderem Zwang verkauft wurden.
Nun kommt eine schlanke, in einen
großen Mantel eingehüllte Frau. Auch vor dem Gesicht hat sie ein dichtes,
gelblich-weißes Damasttuch, das nicht erlaubt, ihr Antlitz zu sehen. Man erkennt
nur die Schlankheit des Körpers, die trotz des gräulichen Überwurfs sichtbar
ist. Sie muß noch jung sein, nach dem wenigen zu schließen, das man von ihr
sieht, und zwar der Hand, die nun zum Vorschein kommt und ein goldenes Armband
übergibt. Man sieht auch die mit Sandalen bekleideten Füße, d.h. nur die glatten
und jugendlichen Zehen und ein wenig die schmale und schneeweiße Ferse.
Sie reicht ihr Armband wortlos hin,
empfängt ohne Handeln und ohne Widerrede das Geld und dreht sich rasch um, um
wegzukommen. Ich bemerke nun, daß hinter ihrem Rücken der Iskariot sie
aufmerksam beobachtet und ihr beim Weggehen etwas sagt, das ich jedoch nicht
verstehen kann. Doch sie antwortet nicht, als wäre sie stumm und geht etwas
schwerfällig in ihrem hemmenden Gewand davon.
Judas fragt Zachäus: «Wer ist sie?»
Zachäus antwortet: «Ich frage meine
Kunden nie nach dem Namen, besonders nicht, wenn sie so sympathisch sind wie
diese Frau.»
«Sie ist noch jung, nicht wahr?»
309
«Anscheinend.»
«Aber ist sie aus Judäa?»
«Wer kann das wissen; das Gold ist
in allen Ländern gelb.»
«Laß mich das Armband sehen.»
«Willst du es kaufen?»
«Nein.»
«Dann nicht! Was meinst du? Ich
gebe keine Auskünfte. Du könntest mich über sie ausfragen?»
«Ich wollte nur sehen, ob ich etwas
über sie erfahren könnte aufgrund des Schmuckstückes.»
«So sehr beschäftigt sie dich? Bist
du ein Hellseher, der raten kann, oder ein Spürhund, der den Geruch erkennt? Geh
weiter, beruhige dich! Eine Frau wie sie ist entweder ehrenwert und unglücklich
oder aussätzig. Deshalb... nichts zu machen!»
«Ich habe kein Verlangen nach
Frauen», antwortet Judas verächtlich.
«Mag sein... doch deinem Gesicht
traue ich wenig. Wenn du also sonst nichts willst, dann geh! Ich muß andere
bedienen.»
Judas entfernt sich verärgert; er
fragt einen Bäcker und einen Obsthändler, ob sie die Frau kennen, die eben zuvor
bei ihnen Brot und Äpfel gekauft hat, und ob sie ihm sagen können, wo sie wohnt.
Sie wissen es nicht. Sie antworten: «Sie kommt seit einiger Zeit jeden zweiten
oder dritten Tag. Doch wer sie ist und wo sie wohnt, das wissen wir nicht.»
«Wie spricht sie denn?»
«Na, mit dem Munde!»
Judas schimpft und geht von dannen,
um direkt mit der Gruppe Jesu und den Jüngern zusammenzutreffen, die ihr Brot
und das Nötige für den Tag einkaufen. Beide Seiten sind überrascht, aber nicht
gerade begeistert. Jesus sagt nur: «Hier bist du?», und während Judas etwas
stammelt, lacht Petrus laut auf und sagt: «Nun ja, ich bin blind und ungläubig.
Ich kann hier keine Weinstöcke sehen. Und an ein Wunder glaube ich nicht.»
«Aber was sagst du da?» fragen zwei
oder drei Jünger.
«Ich sage die Wahrheit. Hier sind
keine Weinberge. Und ich kann nicht glauben, daß Judas in diesem Staube Weinlese
halten kann, nur weil er ein Jünger des Meisters ist.»
«Die Weinlese ist schon zu Ende»,
antwortet Judas trocken.
«Und Kerioth liegt viele Meilen
weit entfernt», erwidert Petrus.
«Du forderst mich immer heraus. Du
bist mir feindlich gesinnt.»
«Nein. Ich bin nur nicht so dumm,
wie du mich haben möchtest.»
«Genug jetzt!» gebietet Jesus. Er
ist sehr ernst. Er wendet sich an Judas: «Ich habe dich hier nicht erwartet. Ich
hätte dich eher in Jerusalem am Laubhüttenfest vermutet.»
«Morgen will ich hingehen. Ich habe
hier nur auf einen Freund der Familie gewartet, der ...»
310
«Bitte, genug!»
«Du glaubst mir nicht, Meister? Ich
schwöre es dir.»
«Ich habe dich nichts gefragt, und
ich bitte dich, nichts zu sagen. Du bist hier, das genügt. Gedenkst du mit uns
zu kommen, oder hast du noch etwas zu erledigen? Antworte ohne Umschweife!»
«Nein, ich habe alles erledigt.
Nun, da der Erwartete nicht kommt, gehe ich zum Feste nach Jerusalem. Und wohin
gehst du?»
«Nach Jerusalem!»
«Noch heute?»
«Heute abend will ich in Bethanien
sein.»
«Bei Lazarus?»
«Bei Lazarus.»
«Dann werde auch ich kommen.»
«Ja, du kommst mit, bis nach
Bethanien. Von dort werden Andreas, Jakobus des Zebedäus und Thomas nach
Gethsemane gehen, um für uns alles vorzubereiten und auf uns zu warten, und du
wirst mit ihnen gehen.» Jesus betont so stark, was er sagt, daß Judas es nicht
wagt, etwas zu erwidern.
«Und wir?» fragt Petrus.
«Du wirst mit meinen Vettern und
Matthäus dahin gehen, wohin ich euch sende, um am Abend wieder zurückzukommen.
Johannes, Bartholomäus, Simon und Philippus bleiben bei mir: das heißt, sie
gehen nach Bethanien und melden dort, daß der Meister ankommt und um die neunte
Stunde zu ihnen sprechen wird.»
Sie gehen eilends durch die
abgeernteten Felder. Es ist Gewitterstimmung; nicht am Himmel, sondern in den
Herzen. Alle spüren es und ziehen schweigend dahin.
Sie erreichen Bethanien, und da sie
von Jericho kommen, stoßen sie schon am Ortseingang auf das Haus des Lazarus.
Jesus entläßt eine Gruppe nach Jerusalem, eine andere schickt er nach Bethlehem
und sagt: «Geht beruhigt! Auf halbem Wege werdet ihr Isaak, Elias und die
anderen treffen. Sagt ihnen, daß ich für längere Zeit in Jerusalem bleibe und
sie dort erwarte, um sie zu segnen!»
Inzwischen hat Simon am Gittertor
geklopft und Einlaß erhalten. Die Diener melden Lazarus die Ankunft Jesu, der
sofort herbeikommt. Judas Iskariot, der sich schon einige Meter entfernt hatte,
kommt zurück mit der Entschuldigung: «Meister, ich habe dir mißfallen. Ich habe
nachgedacht. Verzeih mir!» er späht dabei durch das offene Tor in den Garten und
zum Hause.
«Es ist gut, geh nur! Geh, laß die
anderen nicht warten.»
Judas muß schließlich gehen. Petrus
brummt: «Er hat sich eingebildet, du würdest deine Anweisungen ändern.»
«Das niemals, Petrus. Ich weiß, was
ich tue. Doch du mußt diesen Mann bemitleiden ...»
311
«Ich will es versuchen. Aber ich
kann es nicht versprechen... Leb wohl, Meister! Komm, Matthäus, und auch ihr
beiden! Laßt uns rasch gehen!»
«Mein Friede sei immer mit euch!»
Jesus geht mit den vier übrigen
Jüngern in den Hof, und nachdem er Lazarus geküßt hat, stellt er Johannes,
Philippus und Bartholomäus vor, die er dann entläßt, um mit Lazarus allein zu
sein.
Sie gehen zum Haus. Dieses Mal
steht unter dem schönen Portal eine Frau. Es ist Martha. Sie ist nicht so
hochgewachsen wie ihre Schwester, doch immer noch groß; außerdem ist sie braun,
während die andere blond und rosig ist. Martha ist jedoch eine schöne, junge
Frau mit einem wohlproportionierten, rundlichen Körper, einem dunklen Köpfchen
mit gebräunter, glatter Stirn, zwei sanften, friedlichen und schwarzen Augen,
die von langen dunklen Wimpern beschattet sind, einer leicht nach unten
gebogenen Nase und einem sehr roten, kleinen Mund zwischen den gebräunten
Wangen. Sie lächelt und zeigt dabei starke, strahlende Zähne.
Sie trägt ein dunkelblaues Kleid
mit roten und grünen Borten am Hals und an den bis zu den Ellbogen reichenden
Ärmeln, aus denen andere Ärmel, hervorschauen, die aus feinstem Leinen und an
den Handgelenken mit einem Kordeldurchzug gerafft sind. Auch am Hals sieht man
die feingefältelte Krause mit der Kordel. Als Gürtel dient eine blau-rot-grüne
Schärpe aus feinstem Stoffe, die um die Hüfte gelegt ist und auf der linken
Seite mit Fransen herabhängt. Ein vornehmes, keusches Gewand.
«Ich habe eine Schwester, Meister;
es ist Martha. Sie ist gut und fromm. Sie ist der Trost und die Ehre der Familie
und die Freude des armen Lazarus. Früher war sie meine erste und einzige Freude.
Nun ist sie die zweite, weil nun du die erste Stelle eingenommen hast.»
Martha verbeugt sich bis zur Erde
und küßt den Saum des Gewandes Jesu.
«Friede der guten Schwester und der
keuschen Frau! Steh auf!»
Martha steht auf und geht zusammen
mit Jesus und Lazarus in das Haus. Dann bittet sie um die Erlaubnis, sich
entfernen zu dürfen, um sich um das Haus zu kümmern.
«Die ist mein Friede ...» murmelt
Lazarus und betrachtet Jesus. Ein forschender Blick. Doch Jesus tut so, als ob
er es nicht bemerke.
Lazarus fragt: «Und Jonas?»
«Er ist tot.»
«Tot? Dann ...»
«Ich habe ihn sterbend übernommen.
Er durfte frei und glücklich in meinem Hause in Nazareth zwischen mir und meiner
Mutter sterben.»
«Doras hat ihn also zu Tode
gequält, bevor er ihn dir überlassen hat.»
«Durch Überanstrengung, ja... aber
auch mit Schlägen!»
«Er ist ein Dämon und haßt dich. Er
haßt die ganze Welt, diese Hyäne... Hat er es dir nicht selbst gesagt, daß er
dich haßt?»
312
«Er hat es gesagt.»
«Mißtraue ihm, Jesus! Er ist zu
allem fähig. Herr, was hat dir Doras gesagt? Hat er nicht gesagt, daß du mich
meiden sollst? Hat er dir den armen Lazarus nicht in ein schlechtes Licht
gerückt?»
«Ich glaube, daß du mich zur Genüge
kennst, um zu verstehen, daß ich aus mir und mit Gerechtigkeit urteile. Wen ich
liebe, den liebe ich ohne abzuwägen, ob die Liebe mir in den Augen der Welt
nütze oder schade.»
«Aber dieser Mensch ist gefährlich
und nur darauf bedacht zu verletzen und zu schaden. Mich hat er vor einigen
Tagen auch gequält. Er ist zu mir gekommen und hat gesagt... Oh, ich habe doch
schon so viel Leid! Warum will man auch dich mir entreißen?»
«Ich bin der Trost der
Unglücklichen und der Freund der Verlassenen. Ich bin auch deshalb zu dir
gekommen.»
«Ah... dann weißt du es also schon?
... Oh, meine Schande!»
«Nein, warum deine Schande? Ich
weiß... Sollte ich dich ächten, dich, der du leidest? Ich bin die
Barmherzigkeit, der Friede, die Vergebung und die Liebe für alle. Und was werde
ich für die Unschuldigen sein? Nicht du hast die Sünde begangen, deretwegen du
leidest. Sollte ich dich anklagen, während ich auch für sie Mitleid empfinde?»
«Hast du sie gesehen?»
«Ich habe sie gesehen. Weine
nicht!»
Doch Lazarus läßt das Haupt auf die
am Tische aufgestützten Arme sinken und weint mit schmerzlichem Schluchzen.
Martha kommt an die Türe und ist erstaunt. Jesus deutet ihr an, ruhig zu sein.
Und Martha geht wieder hinaus mit großen Tränen in den Augen, die lautlos über
die Wangen rollen. Lazarus beruhigt sich langsam und entschuldigt sich wegen
seiner Schwäche. Jesus tröstet ihn, und da der Freund wünscht, sich etwas
zurückziehen zu dürfen, geht Jesus in den Garten und wandelt zwischen den Beeten
auf und ab, dort, wo noch die eine oder andere Rose blüht.
Martha erreicht ihn kurz danach.
«Meister, hat Lazarus gesprochen?»
«Ja, Martha!»
«Lazarus findet keine Ruhe mehr,
seit er weiß, daß du es weißt und daß du sie gesehen hast.»
«Woher weiß er es?»
«Zuerst sagte es ihm der Mann, der
mit dir war und erklärte, daß er dein Jünger sei; ein junger, hochgewachsener,
dunkler, bartloser; dann Doras. Dieser hat ihn mit seiner Verachtung beleidigt.
Der erstere hat nur gesagt, daß ihr sie auf dem See gesehen... mit ihren
Liebhabern.»
«Aber weint deswegen nicht! Glaubt
ihr, daß ich eure Wunde nicht kannte? Ich kannte sie schon, als ich noch beim
Vater war. Laß dich nicht niederdrücken, Martha! Erhebe dein Herz und deine
Stirne!»
«Bete für sie, Meister! Ich bete...
doch ich kann ihr nicht ganz verzeihen, und so lehnt der Ewige vielleicht mein
Gebet ab!»
313
«Das hast du gut gesagt. Man muß
verzeihen, um Verzeihung zu erlangen und erhört zu werden. Ich bete auch für
sie. Doch gib mir deine Vergebung und die des Lazarus! Du gute Schwester, du
kannst sprechen und kannst noch mehr als ich erhalten. Seine Wunde ist zu offen
und entzündet, als daß meine Hand sie so bald berühren dürfte. Du kannst es tun.
Schenkt mir eure volle, heilige Vergebung, und ich werde das weitere tun ...»
«Verzeihen? ... Das können wir
nicht. Unsere Mutter ist vor Schmerz über ihr übles Benehmen gestorben... und
damals war es noch wenig im Vergleich zu heute. Ich sehe immer noch die Qualen
der Mutter; ich habe sie stets vor Augen. Und ich sehe, was Lazarus leidet.»
«Sie ist krank, Martha. Eine
Kranke, eine Irre! Verzeiht ihr!»
«Sie ist besessen, Meister!»
«Was ist die satanische
Besessenheit anderes als eine Krankheit der Seele, die, von Satan angesteckt, in
einen teuflischen Geist ausartet. Wie könnte man sonst gewisse Entartungen in
den Menschen verstehen? Entartungen, die den Menschen schlimmer als ein wildes
Tier werden lassen, schamloser als ein Affe und so weiter und in einem
Bastardzustand enden, bei dem Mensch, Tier und Satan vermengt sind. Das ist die
Erklärung für das, was uns bei vielen Geschöpfen als eine unbegreifliche
Ungeheuerlichkeit verblüfft. Weine nicht. Verzeih! Ich sehe! Denn ich habe eine
Schau, die über das Sehen der Augen und des Herzens hinausgeht. Ich habe die
Schau Gottes. Ich sehe! Ich sage dir, verzeihe, denn sie ist krank.»
«Wirst du sie heilen?»
«Ich werde sie heilen. Habe
Vertrauen! Ich werde dich glücklich machen; doch du mußt verzeihen und Lazarus
sagen, daß auch er es muß. Verzeihe ihr! Liebe sie aufs neue! Versuche, dich ihr
zu nähern. Sprich mit ihr, wie wenn sie wie du wäre. Sprich mit ihr von mir!»
«Wie soll sie dich, den Heiligen,
verstehen?»
«Es wird so scheinen, daß sie nicht
versteht. Aber schon allein mein Name ist Rettung. Mache, daß sie an mich denkt
und mich beim Namen nennt! Oh, Satan flieht, wenn mein Name in einem Herzen
gedacht wird. Lächle, Martha, in dieser Hoffnung. Schau diese Rose an! Der Regen
der letzten Tage hatte sie entkräftet, doch die heutige Sonne hat sie neu
geöffnet. Und sie ist nun noch viel schöner, denn Regentropfen sind zwischen den
Blütenblättern geblieben und haben sie mit Edelsteinen besetzt. So wird es mit
eurem Hause sein: heute noch Tränen und Schmerz, aber dann... Freude und
Herrlichkeit! Geh! Sprich davon mit Lazarus, während ich im Frieden deines
Gartens zum Vater bete für Maria und für euch...»
Alles endet damit.
314
152. WIEDER IM HAUSE DES LAZARUS
NACH DEM LAUBHÜTTENFEST - EINLADUNG VON JOSEPH AUS ARIMATHÄA
Jesus ist wiederum bei Lazarus. Aus
dem, was ich hören kann, schließe ich, daß die Feste schon vorüber sind und daß
Jesus auf das Drängen des Freundes, der nie von Jesus getrennt sein möchte,
zurückgekehrt ist. Ich verstehe, daß Jesus nur mit Simon und Johannes bei
Lazarus ist, während die anderen in der ganzen Umgebung verstreut sind. Endlich
begreife ich noch, daß eine Zusammenkunft stattgefunden hat von Freunden, die
Lazarus treu geblieben sind und die er eingeladen hat, um sie mit Jesus
zusammenzuführen.
Alles dies verstehe ich, weil
Lazarus noch besser den Charakter eines jeden beleuchtet. Er spricht von Joseph
von Arimathäa und bezeichnet ihn als einen gerechten Mann, einen wahren
Israeliten. Er sagt: «Er wagt nicht zu sprechen, weil er das Synedrium fürchtet,
dem er angehört, und das dich schon haßt. Doch er erhofft in dir den von den
Propheten Verheißenen. Von sich aus hat er mich gebeten, kommen zu dürfen, um
dich kennenlernen und selbst beurteilen zu können, da ihm unrichtig erscheint,
was deine Feinde von dir sagten. Sogar aus Galiläa sind Pharisäer gekommen, um
dich der Sünde zu beschuldigen. Doch Joseph hat so über dich geurteilt: "Wer
Wunder wirken kann, der hat Gott. Wer Gott hat, kann nicht in der Sünde leben,
sondern nur jemand sein, den Gott liebt." Er möchte dich in seinem Hause haben.
Er hat mich gebeten, es dir zu sagen. Und ich möchte dich bitten: erhöre seine
und meine Bitte!»
«Ich bin mehr für die Armen
gekommen und für die seelisch und körperlich Leidenden als für die Mächtigen,
die in mir nur einen Gegenstand für eigene Interessen sehen. Aber ich werde zu
Joseph gehen. Ich bin nicht voreingenommen den Mächtigen gegenüber. Einer meiner
Jünger (der aus Neugierde und Wichtigtuerei ohne meinen Auftrag zu dir gegangen
ist - er ist noch jung und bedarf der Nachsicht) kann meine Achtung mächtigen
Kasten gegenüber bezeugen, die sich selbst als "die Beschützer des Gesetzes"
bezeichnen und zu verstehen geben, daß sie "Stützen" des Allerhöchsten sind. Oh!
Der Ewige braucht keine Stützen! Keiner der Schriftgelehrten hatte je soviel
Achtung vor den Priestern des Tempels wie ich.»
«Ich weiß es, und noch viele andere
wissen es... Doch nur die Besten geben dieser Tatsache den rechten Namen. Die
anderen sagen: Scheinheiligkeit.»
«Jeder kann nur geben, was er in
sich hat, Lazarus.»
«Das ist wahr. Doch gehe zu Joseph!
Er möchte dich am nächsten Sabbat begrüßen.»
«Ich werde hingehen. Du kannst es
ihn wissen lassen.»
315
«Auch Nikodemus ist gut. Er aber
... hat zu mir gesagt... Darf ich dir eine Kritik über einen deiner Jünger
vortragen?»
«Sage sie! Wenn sie gerecht ist,
hat er recht; wenn sie ungerecht ist, dann kritisiert er eine Konversion; denn
der Geist gibt dem Geist des Menschen Licht, wenn es ein guter Mensch ist, und
der Geist des Menschen, der vom Geiste Gottes geleitet wird, hat übermenschliche
Weisheit und liest die Wahrheit in den Herzen.»
«Er hat zu mir gesagt: "Ich
kritisiere nicht, daß sich unter den Jüngern Jesu Unwissende und ein Zöllner
befinden. Doch einen halte ich nicht für würdig, zu den Seinen zu gehören, da er
selbst nicht weiß, ob er für oder gegen ihn ist, und einem Chamäleon gleicht,
das die Farbe und das Aussehen dessen annimmt, der gerade in seiner Nähe ist."»
«Es ist Iskariot. Ich weiß es! Doch
glaubt es alle: Jugend ist Wein, der gärt und sich dann klärt. Während der
Gärung schwillt und schäumt er nach allen Seiten, aus Überschuß an Kraft. Der
Frühjahrswind biegt die Zweige nach allen Richtungen und zerzaust die Blätter
wie ein Narr. Doch müssen wir ihm dankbar sein, denn dadurch werden die Blüten
befruchtet. Judas ist Wein und Wind. Doch bösartig ist er nicht. Seine Art
verwirrt und stört, stößt sogar ab und verletzt. Doch ist er nicht von Grund auf
schlecht... Er ist ein Füllen mit feurigem Blute.»
«Du sagst es; ich bin nicht in der
Lage, es zu beurteilen. Von ihm ist mir eine bittere Erinnerung geblieben, weil
er mir gesagt hat, daß du sie gesehen hast.»
«Doch diese Bitterkeit wird nun
gemildert zu Honig durch mein Versprechen.»
«Ja. Doch ich erinnere mich an
jenen Augenblick. Den Schmerz vergißt man nicht, auch wenn er aufgehört hat.»
«Lazarus, Lazarus, du betrübst dich
wegen zu vieler Dinge... und so nichtiger! Laß die Tage vergehen. Es sind nur
Luftblasen, die dahinschwinden und nicht mehr zurückkommen mit ihren lustigen
oder traurigen Farben. Blicke zum Himmel auf! Er enttäuscht nicht. Er ist den
Gerechten vorbehalten.»
«Ja, Meister und Freund. Ich will
nicht darüber urteilen, daß Judas mit dir ist, und du ihn bei dir behältst. Ich
kann nur beten, daß er dir nicht schadet.»
Jesus lächelt, und alles ist zu
Ende.
316
153. JESUS BEGEGNET GAMALIEL BEIM
MAHLE JOSEPHS VON ARIMATHÄA
Arimathäa liegt in einer gebirgigen
Gegend. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte es in einer Ebene vermutet. Es
liegt jedoch in den Bergen; obgleich diese schon zur Ebene abfallen, die an
bestimmten Straßenwindungen im Westen sehr fruchtbar ist. An diesem
Novembermorgen liegt sie unter einem niedrigen Nebelschleier, der den Anschein
einer endlosen Wasserfläche erweckt.
Jesus hat Simon und Thomas bei
sich. Andere Apostel sehe ich nicht. Ich habe das Gefühl, daß er sehr weise
abwägt, wen er zu gewissen Menschen und an bestimmte Orte mitnehmen kann, ohne
den Gastgeber zu beunruhigen. Diese Judäer müssen noch empfindlicher sein als
romantische Dämchen...
Ich höre, daß sie über Joseph von
Arimathäa sprechen, und Thomas, der ihn anscheinend sehr gut kennt, beschreibt
die weiten und schönen Besitztümer, die sich über den Berg ausdehnen, besonders
in Richtung Jerusalem, längs der Straße, die von der Hauptstadt nach Arimathäa
und von da nach Joppe führt. Thomas lobt auch die Felder, die in der Ebene längs
der Straße liegen und ebenfalls Eigentum Josephs von Arimathäa sind.
«Wenigstens werden hier die
Menschen nicht wie Tiere behandelt. Oh, dieser Doras!» sagt Simon. Tatsächlich
sind die Landarbeiter hier wohlgenährt und ordentlich gekleidet, und sie sehen
auch zufrieden aus. Sie grüßen ehrerbietig, denn sie wissen bestimmt schon, wer
der große, schöne Mann ist, der durch die Felder von Arimathäa zum Hause ihres
Herrn geht; und sie beobachten ihn unter gegenseitigem Flüstern.
Als bereits das Haus Josephs in
Sicht ist, erscheint ein Diener, der nach einer tiefen Verbeugung fragt: «Bist
du der erwartete Rabbi ?»
«Ich bin es», antwortet Jesus.
Der Mann grüßt ergebenst und eilt
fort, seinen Herrn zu benachrichtigen.
Das Haus ist von einer immergrünen
Hecke umzäunt, die hier die hohe Mauer des Hauses von Lazarus ersetzt und die
Gebäude gegen die Straße hin isoliert, ohne jedoch anderes zu sein als die
Fortsetzung des baumreichen Gartens.
Joseph von Arimathäa kommt in
seinem weiten Gewand, das mit Fransen besetzt ist, Jesus entgegen und verneigt
sich tief vor ihm mit auf der Brust gekreuzten Armen. Es ist nicht der demütige
Gruß eines Menschen, der in Jesus den fleischgewordenen Gott erkennt und sich
bis zur Kniebeuge verdemütigt, um kniend den Fuß oder den Saum des Gewandes zu
küssen; doch es ist immer noch eine sehr respektvolle Begrüßung. Auch Jesus
verneigt sich ebenso und gibt dann seinen Friedensgruß.
317
«Komm herein, Meister! Du machst
mich glücklich mit der Annahme meiner Einladung. Ich habe nicht so viel
Entgegenkommen zu erhoffen gewagt.»
«Warum? Ich gehe doch auch zu
Lazarus und...»
«Lazarus ist dein Freund; ich bin
dir unbekannt.»
«Du bist eine wahrheitssuchende
Seele. Daher wirst du von der Wahrheit nicht zurückgewiesen.»
«Bist du die Wahrheit?»
«Ich bin der Weg, das Leben und die
Wahrheit. Wer mich liebt und mir nachfolgt, wird in sich den sicheren Weg und
das selige Leben haben, und er wird Gott erkennen dürfen, denn Gott ist außer
der Liebe und der Gerechtigkeit auch die Wahrheit.»
«Du bist ein großer Gelehrter. Aus
jedem deiner Worte strömt Weisheit.» Dann wendet er sich an Simon: «Es freut
mich, daß du nach einer so langen Abwesenheit in mein Haus zurückkehrst.»
«Nicht aus eigenem Willen bin ich
dir ferngeblieben. Du weißt, welches Schicksal ich zu tragen hatte und wieviel
Tränen es im Leben des kleinen Simon gab, der von deinem Vater sehr geliebt
wurde.»
«Ich weiß es, und ich nehme an, daß
dir bekannt ist, daß von meiner Seite kein Wort zu deiner Ungunst kam.»
«Ich weiß alles. Mein treuer Diener
hat mir gesagt, daß ich es dir zu verdanken habe, wenn meine Habe geachtet
wurde. Gott möge es dir vergelten!»
«Ich hatte einen Posten im
Synedrium und habe dies ausgenützt, damit einem Freund meines Hauses
Gerechtigkeit geschehe.»
«Viele waren Freunde meines Hauses,
und viele waren einflußreich im Synedrium, aber nicht so gerecht wie du.»
«Wer ist dieser Mann? Er scheint
mir nicht fremd, doch weiß ich nicht, wo...»
«Ich bin Thomas, genannt Didimus!»
«Ach! Schau da! Lebt der alte Vater
noch?»
«Er lebt. Er hat noch seinen
Handel, und meine Brüder sind bei ihm. Ich habe ihn verlassen, um dem Meister zu
folgen; doch mein Vater ist glücklich darüber.»
«Er ist ein wahrer Israelit, und da
er glaubt, daß Jesus von Nazareth der Messias ist, kann er nur glücklich darüber
sein, daß sein Sohn zu den Erwählten gehört.»
Sie sind nun bereits im Hausgarten
angelangt.
«Ich habe Lazarus hier behalten. Er
sitzt in der Bibliothek und liest einen Bericht über die letzten Sitzungen des
Synedriums. Er wollte nicht bleiben, weil... Ich weiß, daß es dir bekannt ist...
Daher wollte er nicht bleiben. Doch ich habe gesagt: "Nein, es ist nicht recht,
daß du dich schämst. In meinem Hause beleidigt dich niemand. Bleibe! Wer sich
318
zurückzieht, ist allein gegen die
ganze Welt. Und da die Welt mehr böse als gut ist, wird der Einzelgänger
niedergeworfen und zertreten." Habe ich nicht recht?»
«Gut hast du gesprochen und recht
hast du getan,» antwortet Jesus.
«Meister, heute werden Nikodemus
und Gamaliel hier sein. Hast du etwas dagegen?»
«Warum sollte es mir nicht
gefallen? Ich kenne seine Weisheit.»
«Ja, er wollte dich sehen und
dennoch auf seiner Ansicht beharren. Du weißt schon... Ideen! Er sagt, er habe
den Messias schon gesehen; er wartet nur noch auf das Zeichen, das er ihm für
sein Auftreten versprochen hat. Aber er sagt auch, du seist "ein Mann Gottes".
Er sagt nicht "der Mann", er sagt "ein Mann"... Rabbinische Spitzfindigkeiten,
nicht wahr? Du bist deswegen nicht beleidigt?»
Jesus antwortet:
«Spitzfindigkeiten! Gut hast du es gesagt. Man muß ihn seinen Weg gehen lassen.
Die Besten gehen ihn allein und legen selbst alle unnützen Wildlinge ab, die nur
ins Kraut schießen und keine Früchte tragen; sie kommen dann zu mir.»
«Ich wollte dir seine Worte sagen,
denn ganz bestimmt wiederholt er sie auch dir. Er ist sehr aufrichtig», bemerkt
Joseph.
«Eine seltene Tugend, die ich sehr
zu schätzen weiß», antwortet Jesus.
«Ja. Ich habe ihm auch gesagt:
"Aber mit dem Meister ist auch Lazarus von Bethanien." Ich mußte dies sagen,
weil... nun ja... wegen seiner Schwester. Doch Gamaliel hat geantwortet: "Ist
sie denn anwesend? Nein? Na also. Der Schlamm fällt vom Kleide, wenn es nicht
mehr im Schlamm ist. Und dann meine ich, wenn in sein Haus ein Mann Gottes geht,
kann ich, ein Gesetzesgelehrter, mich ihm doch nähern."»
«Gamaliel urteilt gut. Pharisäer
und Gelehrter bis ins Mark, doch auch redlich und gerecht.»
«Es freut mich, dies von dir zu
hören. Meister, hier ist Lazarus.»
Lazarus beugt sich nieder, um das
Gewand Jesu zu küssen. Er ist glücklich, bei ihm zu sein; aber man erkennt auch
seine offensichtliche Erregung wegen der zu erwartenden Miteingeladenen. Ich bin
sicher, daß der arme Lazarus außer den Leiden, die den Menschen durch die
Überlieferung der Geschichte bekannt sind, noch ein Leiden hatte, das von vielen
nicht erkannt und bedacht wird: das seelische Leiden des schrecklichen Stachels
beim Gedanken: «Was werden sie von mir sagen? Was werden sie von mir denken? Wie
werden sie mich einschätzen? Werden sie mich mit Worten oder Blicken der
Verachtung treffen?» Der Stachel, unter dem alle leiden, in deren Familie ein
Makel ist!
Inzwischen sind sie in den
prächtigen Saal getreten, in dem die Tische bereit stehen, und sie warten nur
noch auf Gamaliel und Nikodemus, denn die anderen vier Gäste sind schon
angekommen. Ich höre, wie sie mit ihren Namen vorgestellt werden: Felix, Simon,
Johannes und Cornelius.
319
Es kommt viel Bewegung unter die
Diener, als Nikodemus und Gamaliel eintreten; der immer beeindruckende Gamaliel
in seinem schneeweißen Gewande, das er mit der Würde eines Königs trägt. Joseph
beeilt sich, ihm entgegenzugehen; die gegenseitige Begrüßung ist sehr feierlich.
Auch Jesus hat sich verneigt und wird vom großen Rabbi mit den Worten begrüßt:
«Der Herr sei mit dir!» worauf er antwortet: «Und sein Friede sei stets dein
Begleiter!» Auch Lazarus verneigt sich, und ebenso die anderen.
Gamaliel nimmt in der Mitte der
Tafel zwischen Jesus und Joseph Platz. Neben Jesus ist Lazarus, neben Joseph von
Arimathäa Nikodemus.
Nach den rituellen Gebeten, die
Gamaliel nach einem typisch orientalischen Höflichkeitsaustausch zwischen den
drei Hauptpersonen, Jesus, Gamaliel und Joseph, gesprochen hat, beginnt das
Mahl.
Gamaliel ist sehr würdevoll, aber
nicht hochmütig. Er hört mehr zu, als daß er selbst spricht. Aber man sieht, daß
er über jedes Wort, das Jesus sagt, nachdenkt; und oft betrachtet, er ihn mit
seinen dunklen, ernsten Augen. Wenn Jesus schweigt, weil ein Thema erschöpft
ist, belebt er mit einer geeigneten Frage wieder die Unterhaltung.
Lazarus ist zunächst etwas
verwirrt. Doch dann faßt er Mut und spricht ebenfalls.
Direkte Fragen über die
Persönlichkeit Jesu werden bis zum Ende der Mahlzeit nicht gestellt.
Dann jedoch entsteht zwischen dem
Mann, der Felix genannt wird, und Lazarus, dem sich dann Nikodemus und
schließlich Johannes anschließen, ein Gespräch über den Beweis zugunsten oder
gegen einen Wunder Wirkenden. Jesus schweigt. Er lächelt manchmal geheimnisvoll,
aber er schweigt. Auch Gamaliel schweigt. Mit einem Ellbogen aufs Polster
gestützt, betrachtet er Jesus eingehend. Es scheint, als wolle er übernatürliche
Worte entziffern, die in die bleiche, glatte Haut des mageren Antlitzes Jesu
eingegraben sind. Es sieht so aus, als wolle er jede Faser analysieren.
Felix besteht darauf, daß die
Heiligkeit des Täufers unantastbar ist, und aus dieser unbestrittenen und
unbestreitbaren Heiligkeit zieht er eine für Jesus, den Urheber zahlreicher
bekannter Wunder, keine günstige Folgerung. Er sagt: «Die Wunder sind kein
Beweis der Heiligkeit; denn im Leben des Täufers fehlen sie. Niemand in Israel
führt ein Leben wie er. Er nimmt an keinem Festmahl teil, hat keine Freundschaft
und keinerlei Bequemlichkeit. Er hat nur Leiden und Gefangenschaft zur Ehre des
Gesetzes. Er hat nur Einsamkeit; denn obgleich er Jünger hat, lebt er nicht mit
ihnen und findet in allen, auch in den besten, Fehler, und er tadelt alle.
Während... ja, während der anwesende Meister von Nazareth zwar Wunder gewirkt
hat, doch, wie ich feststellen muß, auch liebt, was das Leben bietet. Er hält
Freundschaften nicht unter seiner Würde. Verzeihe, wenn einer der Alten des
Synedriums es dir sagt. Doch
320
ist es allzu leicht, bekannten und
mit dem Fluch belegten Sündern im Namen Gottes Vergebung und Liebe zu gewähren.
Du solltest das nicht tun, Jesus!»
Jesus lächelt und schweigt. Lazarus
antwortet an seiner Statt: «Unser mächtiger Herr ist frei, seine Diener wie und
wohin er will zu leiten. Moses hat er die Macht gegeben, Wunder zu wirken;
Aaron, seinem ersten Hohenpriester, nicht. (Lazarus ist in diesem Punkte nicht
sehr genau in der Auslegung der Bibel.) Und nun? Was schließt du daraus? Ist der
eine heiliger als der andere?»
«Ganz bestimmt», antwortet Felix.
«Dann ist Jesus der heiligste, denn
er wirkt Wunder.»
Felix ist verwirrt. Aber er hält an
einem Punkt fest: «Aaron hatte schon das höchste Priesteramt erhalten. Das
genügte vollkommen.»
«Nein, Freund», antwortet
Nikodemus. «Das Hohepriesteramt war ein Auftrag; ja, eine heilige Mission, doch
nicht mehr als eine Mission. Nicht alle Hohenpriester Israels waren Heilige. Und
doch waren sie Hohepriester, auch wenn sie keine Heiligen waren.»
«Du willst doch nicht sagen, daß
der Hohepriester ein Mensch ohne Gnade ist?» ruft Felix aus.
«Felix, wir wollen nicht mit
brennendem Feuer spielen. Ich, du, Gamaliel, Joseph, Nikodemus, alle wissen wir
viele Dinge ...» sagt der mit dem Namen Johannes.
«Aber wie, aber wie? Gamaliel,
sprich du ...» Felix ist verärgert.
«Wenn er gerecht ist, wird er die
Wahrheit sagen, die du nicht hören willst», sagen die drei, die gegen Felix
aufgebracht sind.
Joseph versucht, Frieden zu
stiften. Jesus, wie auch Simon der Zelote und der andere Simon, der Freund
Josephs, schweigen. Gamaliel scheint mit den Fransen seines Gewandes zu spielen
und blickt von unten her auf Jesus.
«So sprich doch, Gamaliel!» ruft
Felix.
«Ja, sprich!», wiederholen die
drei.
«Ich sage: die Schwächen der
Familie müssen verborgen bleiben», sagt Gamaliel.
«Das ist keine Antwort!» schreit
Felix. «Es scheint, als wolltest du damit bekennen, daß im Hause des
Hohenpriesters Sünden begangen werden!»
«Der Mund der Wahrheit», sagen die
drei.
Gamaliel richtet sich auf und
wendet sich Jesus zu: «Hier ist der Meister, der den Gelehrtesten nicht
nachsteht. Er soll reden!»
«Du willst es! Ich gehorche. Ich
sage: der Mensch ist Mensch. Die Sendung überragt den Menschen. Doch der Mensch,
der mit einer Sendung betraut wurde, wird fähig, sie als Übermensch zu meistern,
wenn er dank eines heiligen Lebens Gott zum Freunde hat. Er hat gesagt: "Du
321
bist Priester nach der von mir
gegebenen Ordnung." Was steht auf dem Brustschild geschrieben? "Lehre und
Wahrheit." Dies müßten die Hohenpriester besitzen. Zur Lehre kommt man durch
ausdauernde Betrachtung, die darauf abzielt, den Allerweisesten zu verstehen.
Zur Wahrheit kommt man durch die absolute Treue zum Guten. Wer mit dem Bösen
spielt, fällt in die Lüge und verliert die Wahrheit.»
«Gut, du hast als großer Lehrer
geantwortet. Ich, Gamaliel, sage es dir. Du übertriffst mich.»
«Dann soll er auch erklären, warum
Aaron keine Wunder wirkte, dagegen Moses», drängt Felix.
Jesus antwortet sofort: «Weil Moses
sich über die Menge der Israeliten, die blind und schwer von Begriff und auch
widerspenstig waren, durchsetzen und erreichen mußte, Einfluß auf sie zu
gewinnen und sie nach dem Willen Gottes zu beugen. Der Mensch ist der ewig
Widerspenstige, das ewige Kind. Er wird nur von dem ergriffen, was aus der Regel
fällt. Das Wunder ist so. Es ist ein Licht, das man vor den verdunkelten
Pupillen bewegt, und ein lauter Ton an den tauben Ohren, aufweckend und
aufmunternd. Er verkündet: "Hier ist Gott."»
«Du sagst dies zu deinem eigenen
Vorteil», entgegnet Felix.
«Zu meinem Vorteil? Was füge ich
mir hinzu, wenn ich Wunder wirke? Kann ich größer erscheinen, wenn ich einen
Grashalm unter die Füße lege? So verhält sich das Wunder zur Heiligkeit. Es gibt
Heilige, die nie Wunder gewirkt haben. Es gibt Magier und Geisterbeschwörer, die
mit dunklen Kräften Wunder wirken, also übermenschliche Dinge tun, die aber
nicht heilig sind.... denn Dämonen sind mit ihnen am Werk. Ich werde immer ich
selbst sein, auch wenn ich keine Wunder mehr wirke.»
«Sehr gut! Du bist groß, Jesus!»
bestätigt Gamaliel.
«Und wer ist nach deiner Ansicht
dieser "Große" ?» fragt Felix, sich an Gamaliel wendend.
«Der größte Prophet, den ich kenne,
sowohl in seinen Werken, als auch in seinen Worten», antwortet dieser.
«Er ist der Messias, ich sage es
dir, Gamaliel. Glaube an ihn, du Weiser und Gerechter!» sagt Joseph.
«Wie? Auch du, Führer der Judäer,
du vom Hohen Rat, unser Ruhm, verfällst der Vergötterung eines Menschen? Was
beweist dir, daß er der Christus ist? Ich werde es nicht glauben, selbst wenn
ich ihn Wunder wirken sähe. Warum tut er keines vor uns? Sag es ihm, der du ihn
lobst; sage es ihm, der du ihn verteidigst», sagt Felix zu Gamaliel und Joseph.
«Nein, ich habe ihn nicht
eingeladen als Spielball der Freunde, und ich möchte dich daran erinnern, daß er
mein Gast ist», antwortet Joseph ernst.
Felix steht auf und geht verärgert
und unhöflich fort.
Es herrscht Schweigen. Jesus wendet
sich an Gamaliel: «Und du, verlangst du keine Wunder, um zu glauben?»
322
«Es sind nicht die Wunder eines
Mannes Gottes, die mir den Stachel der drei Fragen aus dem Herzen reißen, die
immer noch ohne Antwort sind.»
«Welche Fragen?»
«Lebt der Messias? War es jener?
Ist es dieser?»
«Er ist es, sage ich dir, Gamaliel!»
ruft Joseph. «Spürst du nicht, daß er heilig, verschieden, mächtig ist? Ja? Was
erwartest du noch, um zu glauben?»
Gamaliel gibt Joseph keine Antwort.
Er wendet sich an Jesus: «Zum ersten, laß dich nicht verdrießen, o Jesus, wenn
ich in meinen Ansichten verharre. Einmal, als noch der große und weise Hillel
lebte, glaubte ich, und er mit mir, der Messias sei in Israel. Welch ein großes
Aufblitzen der göttlichen Sonne an jenem kalten späten Wintertag! Es war an
Ostern... Die Leute bangten um die Ernten, die der Frost getroffen hatte. Ich
sagte, nachdem ich die Worte gehört hatte: "Israel ist gerettet! Von heute an
doppelten Ertrag auf den Feldern und Segen in den Herzen! Der Ersehnte hat sich
zum erstenmal in seinem Glanz gezeigt!" Ich hatte mich nicht geirrt. Alle
konnten feststellen, welcher Art die Ernte war im verlängerten Jahr von dreizehn
Monaten, das sich jetzt wiederholt...» (Das hebräische Jahr zählte zwölf Monate
von 29 oder 3O Tagen mit einem zusätzlichen Monat alle zwei oder drei Jahre.)
«Welche Worte hast du gehört? Wer
sagte sie?»
«Ein Knabe... etwas älter als ein
Kind... auf dessen unschuldig sanftem Gesicht sich Gott widerspiegelte! Es war
vor neunzehn Jahren, wenn ich mich recht erinnere... und ich suche, diese Stimme
'wieder zu hören... die Worte der Weisheit sprach... In welchem Teil der Erde
lebt er? Ich meine... er war Gott. In Gestalt eines Knaben, um die Menschen
nicht zu erschrecken. Und wie ein Blitz, der am Himmel aufleuchtet und das
Firmament von Osten nach Westen und von Norden nach Süden durchzuckt. Er, der
Göttliche, zieht in seinem Gewande barmherziger Schönheit, mit der Stimme und
dem Antlitz eines Knaben und mit göttlichen Gedanken über die Erde, um den
Menschen zu sagen: "Ich bin es!" Ich frage mich: wann wird er wohl wieder in
Israel sein? ... Wann? Und ich sage mir: dann, wenn Israel der Altar für den Fuß
Gottes sein wird. Und mein Herz seufzt, wenn es die Niederträchtigkeit Israels
sieht: "Niemals!" Oh! ... harte Antwort! Aber wahr. Kann die Heiligkeit in ihrem
Messias herniedersteigen, solange in uns der Greuel herrscht?»
«Sie kann und tut es; denn sie ist
Barmherzigkeit», antwortet Jesus.
Gamaliel schaut Jesus nachdenklich
an und fragt: «Wie lautet dein wahrer Name?»
Jesus erhebt sich würdevoll und
sagt: «Ich bin, der ich bin. Der Gedanke und das Wort des Vaters. Ich bin der
Messias des Herrn!»
«Du? ... Ich kann es nicht glauben.
Deine Heiligkeit ist groß. Doch der
323
Knabe, an den ich glaube, hat
damals gesagt: "Ich werde ein Zeichen geben: die Steine werden beben, wenn meine
Stunde gekommen ist!" Ich erwarte dieses Zeichen, um zu glauben. Kannst du es
mir geben, um mich zu überzeugen, daß du der Erwartete bist?»
Die beiden, die sich nun feierlich
und hochgewachsen gegenüberstehen, der eine im weiten fallenden Leinenkleide,
der andere im einfachen dunkelroten Gewand; der eine alt, der andere jung,
betrachten sich fest, beide mit gebieterischem und tiefem Blick.
Dann läßt Jesus den rechten Arm
sinken, den er an die Brust gehalten hatte, und ruft aus, als wolle er schwören:
«Dieses Zeichen willst du? Du wirst es haben. Ich wiederhole die Worte von
einst: "Die Steine des Tempels des Herrn werden erzittern bei meinen letzten
Worten." Erwarte dieses Zeichen, du Gelehrter Israels, du gerechter Mann, und
dann glaube, wenn du Vergebung und Rettung finden willst! Selig schon jetzt,
wenn du vorher schon glauben könntest! Doch du kannst es nicht. Jahrhunderte von
falschen Erwartungen nach einer richtigen Verheißung und angehäufter Stolz
machen dich blind für die Wahrheit und den Glauben.»
«Du sagst es gut. Ich werde auf das
Zeichen warten. Leb wohl! Der Herr sei mit dir!»
«Leb wohl, Gamaliel! Der Geist des
Ewigen möge dich erleuchten und führen!»
Alle grüßen Gamaliel, der mit
Nikodemus, Johannes und Simon (dem Synedristen) geht. Jesus, Joseph, Lazarus,
Thomas, Simon der Zelote und Cornelius bleiben zurück.
«Er kann sich nicht beugen. Ich
möchte ihn unter deinen Jüngern haben. Ein entscheidendes Gewicht zu deinen
Gunsten... aber es gelingt mir nicht», sagt Joseph von Arimathäa.
«Sei nicht traurig deswegen! Keinem
Gewicht wird es gelingen, mich vor dem Sturm zu bewahren, der sich schon
vorbereitet. Aber Gamaliel... wenn er sich nicht beugt und für Christus
ausspricht, wird er sich ebenso nicht gegen Christus stellen. Er ist einer, der
wartet...»
Alles ist zu Ende.
154. HEILUNG DES STERBENDEN KINDES
- DER SOLDAT ALEXANDER - MISSTRAUEN GEGEN JESUS
Das Innere des Tempels. Jesus ist
mit den Seinen ganz nahe beim eigentlichen Tempel, dem Allerheiligsten, in das
nur Priester eintreten dürfen. Es ist ein wunderschöner Hof, zu dem man durch
eine Vorhalle gelangt; von da aus geht es über einen noch schöneren zur oberen
Terrasse, auf der der Würfel des Heiligtums steht. Es ist unnütz, mich zu
bemühen!
324
Selbst wenn ich den Tempel
tausendmal sähe, selbst wenn ich ihn zweitausendmal beschriebe: sei es wegen der
Fülle des Ortes, sei es wegen meiner Unfähigkeit, Namen zu behalten und eine
Zeichnung anzufertigen -meine Darstellung dieses herrlichen Ortes, der ein
Labyrinth ist, wäre immer unvollständig.
Sie scheinen alle im Gebet
versunken. Auch viele andere Israeliten, alles Männer, sind hier, und jeder
betet für sich. Der Abend sinkt am Ende dieses drückenden Novembertages ganz
plötzlich nieder.
Ein Stimmengewirr wird hörbar. Eine
laute, aufgeregte Männerstimme, die lateinisch flucht, vermischt sich mit
hebräischen Rufen und Geschrei. Es hört sich an wie Gezänk, und eine weibliche
Stimme schreit: «Oh, laßt ihn doch durchgehen. Er sagt, daß er ihn heilen kann.»
Die Andacht im prächtigen Hof ist
gestört. Viele Köpfe drehen sich in die Richtung, aus der die Stimmen kommen.
Auch Judas Iskariot wendet sich um. Groß wie er ist, kann er sehen und
berichtet: «Ein römischer Soldat kämpft, um hereinzukommen. Er schändet den
heiligen Ort. Schrecklich!» Viele unterstützen ihn.
«Laßt mich durch, ihr jüdischen
Hunde! Jesus ist hier. Ich weiß es. Ich will zu ihm. Mit euren dummen Steinen
kann ich nichts anfangen. Das Kind stirbt; er kann es retten. Weg, ihr
scheinheiligen Hyänen!»
Als Jesus verstanden hat, daß man
zu ihm will, geht er sofort zur Vorhalle, in der die Bewegung und der Lärm
entstanden sind. Er ruft: «Ruhe und Ehrfurcht an diesem Orte und zur Stunde des
Opfers!»
«Oh, Jesus! Sei gegrüßt! Ich bin
Alexander. Macht Platz, ihr Hunde!»
Jesus sagt ruhig und langsam: «Ja,
macht Platz! Ich werde den Heiden anderswohin führen; er weiß nicht, was dieser
Ort für uns bedeutet.»
Der Kreis löst sich auf; Jesus geht
zum Soldaten hin, dessen Panzerhemd blutbefleckt ist. «Bist du verwundet? Komm,
hier können wir nicht bleiben», und er führt ihn durch verschiedene Höfe hinaus.
«Ich bin nicht verwundet, aber ein
Kind... Mein Pferd ist mir bei der Burg Antonia wild geworden und hat es mit den
Hufen am Kopf getroffen. Prokulus hat gesagt: "Nichts mehr zu machen!" Ich habe
keine Schuld, doch durch mich ist es geschehen, und die Mutter ist verzweifelt.
Ich habe gesehen, wie du vorbeigekommen bist und habe mir gesagt: "Prokulus
nicht, er aber schon." Und ich habe gesagt: "Frau, komm! Jesus wird es heilen."
Sie haben mich aufgehalten, diese Wahnsinnigen, und nun ist das Kind vielleicht
schon tot», antwortet der Soldat, den ich schon am Fischtor gesehen habe.
«Laß uns gehen!»
Jesus macht sich auf den Weg,
gefolgt von den Seinen und einem ganzen Schwarm von Leuten.
Auf den Stufen, die den Säulengang
abgrenzen, lehnt an einer Säule eine untröstliche Frau, die ihr sterbendes Kind
beweint. Der Junge ist
325
schon ganz steif, mit violetten,
halbgeöffneten Lippen und dem charakteristischen Röcheln eines Hirnverletzten.
Eine Binde ist um den Kopf gewickelt; sie ist an der Stirn und im Nacken mit
Blut getränkt.
«Sein Schädel ist vorne und hinten
offen. Man kann die Hirnmasse sehen. Die Knochen sind in diesem Alter noch
weich, und das Pferd war groß und frisch beschlagen ...» erklärt Alexander.
Jesus ist bei der Frau angelangt,
die nicht mehr sprechen kann vor Schmerz. Jesus legt ihr die Hand aufs Haupt.
«Weine nicht, Frau!» sagt er mit der ganzen Zartheit, deren er fähig ist, mit
unendlicher Güte. «Habe Vertrauen! Gib mir dein Kind!»
Die Frau betrachtet ihn betroffen.
Die Leute beschuldigen die Römer und klagen über das sterbende Kind und seine
Mutter. Alexander ist voll des Zornes über die ungerechte Anklage, aber auch des
Mitleids und der Hoffnung.
Jesus setzt sich zu der Frau, da er
sieht, daß sie regungslos ist. Er nimmt das Köpfchen des Kindes in seine langen
Hände, beugt sich über das Gesichtlein und haucht auf den kleinen, röchelnden
Mund... Nur ein Augenblick, dann erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht, das
durch die nach vorn gefallenen Haare etwas verdeckt ist. Es richtet sich auf,
öffnet die Äuglein und versucht, sich aufzusetzen. Die Mutter fürchtet, daß es
sich um das letzte Aufbäumen vor dem Tode handle, und drückt es aufschreiend ans
Herz.
«Laß es los, Frau! Kind, komm zu
mir!» sagt Jesus, der immer noch an der Seite der Frau sitzt, und streckt dem
Kinde lächelnd die Arme entgegen. Das Kind wirft sich sicher in seine Arme und
weint, nicht aus Schmerz, sondern aus Angst, in der Erinnerung an das Pferd.
«Das Pferd ist nicht mehr da»,
beruhigt es Jesus. «Alles ist vorbei. Tut es dir nicht mehr weh?»
«Nein. Aber ich habe Angst, ich
habe Angst!»
«Du siehst, Frau. Es ist nur die
Angst. Das geht vorbei. Bringt mir Wasser. Das Blut und die Binde erschrecken
ihn. Gib mir einen von deinen Äpfeln, Johannes! Nimm ihn, Kleiner! Iß, er ist
gut!»
Sie bringen Wasser. Es ist
Alexander, der es in seinem Helm trägt. Jesus will die Binde abnehmen. Alexander
und die Mutter sagen: «Nein! Es wird wieder bluten, denn der Kopf hat Wunden
...»
Jesus lächelt und löst die Binde.
Eins, zwei, drei... acht Runden. Er nimmt die blutigen Teile ab. Von der Mitte
der Stirn bis zum Nacken ist eine noch weiche Blutkruste in den Härchen des
Kindes. Jesus netzt ein Tuch und wäscht ab.
«Aber darunter ist die Wunde! Wenn
du das geronnene Blut wegnimmst, beginnt die Blutung wieder!»
Die Mutter hält die Hände vor die
Augen, um nichts sehen zu müssen. Jesus wäscht und wäscht. Die Blutkruste löst
sich. Man sieht die gereinigten
326
Härchen. Sie sind feucht, doch
darunter ist keine Wunde mehr. Auch die Stirne ist heil. Es ist nur ein kleines
rotes Mal dort, wo sich die Narbe gebildet hat.
Die Leute schreien vor Verblüffung.
Die Frau wagt es, aufzublicken; als sie sieht und versteht, kann sie sich nicht
mehr zurückhalten. Sie hängt sich an Jesus, umarmt ihn zusammen mit dem Kinde
und weint. Jesus erträgt diesen Dankeserguß und Tränenstrom.
«Ich danke dir, Jesus», sagt
Alexander. «Ich hätte gelitten, wenn dieses unschuldige Kind gestorben wäre.»
«Du warst gut und hattest
Vertrauen. Leb wohl, Alexander! Geh zu deinem Dienst!» Alexander geht bereits,
als die Beamten des Tempels und die Priester in Scharen herankommen. «Der
Hohepriester fordert dich und den heidnischen Schänder durch uns auf, den Tempel
zu verlassen! Und zwar sofort! Ihr habt die Zeremonie des Rauchopfers gestört.
Dieser hier ist in den Ort eingedrungen, der Israel vorbehalten ist. Es ist
nicht das erstemal, daß durch deine Schuld der Tempel in Aufruhr ist. Der
Hohepriester und mit ihm die Ältesten vom Dienst verbieten dir, den Fuß hierher
zu setzen. Geh und bleib bei deinen Heiden!»
«Wir sind doch keine Hunde. Er
sagt: "Es gibt nur einen Gott, den Schöpfer der Juden und der Römer!" Wenn
dieses das Haus Gottes ist und ich eines seiner Geschöpfe bin, dann kann auch
ich eintreten», entgegnet Alexander auf die verächtliche Bemerkung des
Priesters, er sei ein Heide.
«Schweige, Alexander! Ich rede»,
unterbricht ihn Jesus, der, nachdem er das Kind geküßt und es seiner Mutter
zurückgegeben hat, aufsteht. Er sagt zur Gruppe, die ihn wegjagen will: «Niemand
kann einem Gläubigen, einem wahren Israeliten, den man nicht als Sünder anklagen
kann, verbieten, im Heiligtum zu beten.»
«Aber im Tempel das Gesetz zu
erklären, das schon! Du hast dir das Recht dazu herausgenommen, ohne es zu haben
oder zu erbitten. Wer bist du? Wer kennt dich? Wieso eignest du dir einen Namen
und eine Stellung an, die dir nicht gehören?»
Jesus blickt sie eindringlich an
und ruft dann: «Judas von Kerioth, komm hierher!»
Judas scheint von dieser Einladung
nicht gerade begeistert zu sein. Er hatte versucht zu verschwinden, als die
Priester und Beamten des Tempels erschienen. Doch muß er gehorchen, denn Petrus
und Judas des Alphäus drängen ihn nach vorne.
«Judas, antworte! Und ihr, schaut
ihn an! Ihr kennt ihn. Er gehört zum Tempel. Ihr kennt ihn?» Sie müssen
gezwungenermaßen mit Ja antworten.
«Judas, was habe ich dich zu tun
geheißen, als ich zum erstenmal hier gesprochen habe? Vorüber hast du dich
gewundert? Und was habe ich dir auf dein Erstaunen geantwortet? Sprich und sei
aufrichtig!»
327
«Er sagte mir: "Rufe den
diensttuenden Beamten, damit ich ihn um die Erlaubnis bitten kann, hier zu
lehren!" Und er nannte seinen Namen, wies sich aus und gab an, zu welchem Stamme
er gehört. Ich wunderte mich darüber, hielt das für eine unnütze Formalität, da
er sagte, er sei der Messias! Er aber sagte mir: "Es ist notwendig, denn wenn
die Stunde kommt, dann erinnere dich, daß ich nie gegen die Würde des Tempels
und seiner Beamten gefehlt habe." Ja, das hat er gesagt! Der Wahrheit zu Ehren
muß ich es bestätigen.» Judas hat anfänglich etwas unsicher, fast widerwillig
gesprochen. Doch dann, mit einer der plötzlichen Schwenkungen, die ihm eigen
sind, ist er sehr sicher und beinahe arrogant geworden.
«Ich wundere mich, daß du ihn
verteidigst. Du hast unser Vertrauen in dich verraten», rügt ein Priester Judas.
«Ich habe niemand verraten. Wie
viele unter euch halten zum Täufer! Sind sie deswegen Verräter? Ich gehöre zu
Christus! Das ist es.»
«Gut. Aber hier darf er nicht
reden. Er kann als Gläubiger kommen; aber nicht als Freund der Heiden, Dirnen,
Zöllner und...»
«Nun antwortet mir», unterbricht
ihn Jesus streng, doch ruhig. «Wer sind die Ältesten vom Dienst?»
«Doras und Felix, Judäer, Joachim
von Kapharnaum und Joseph der Ituräer.»
«Ich habe verstanden. Laßt uns
gehen! Sagt den drei Anklägern, der Ituräer kann mich nicht angeklagt haben, daß
der Tempel nicht ganz Israel und Israel nicht die ganze Welt ist, und daß der
Geifer der Schlangen, so giftig er auch sein mag, die Stimme Gottes nicht
ersticken, noch meine Schritte bei meinem Wandeln unter den Menschen lähmen
kann, solange meine Stunde nicht gekommen ist. Und danach... oh, sagt ihnen, daß
dann die Menschen die Henker richten werden, das Sühnopfer aber erhöhen und es
zu ihrer einzigen Liebe machen werden. Geht! Auch wir wollen gehen!» Und Jesus
hüllt sich in den weiten, schweren, dunklen Mantel ein und geht inmitten der
Seinen von dannen.
Als letzter folgt Alexander, der
während der Auseinandersetzung geblieben war. Außerhalb der Mauer, beim Turm
Antonia, sagt er: «Ich grüße dich, Meister! Ich bitte dich um Verzeihung, daß
ich die Ursache dieses Angriffes auf dich gewesen bin.»
«Oh, das muß dir nicht leid tun.
Sie haben nur einen Vorwand gesucht. Sie haben ihn gefunden. Wenn es nicht du
gewesen wärest, dann hätten sie einen anderen gefunden. Ihr in Rom macht im
Zirkus Spiele mit wilden Tieren und Schlangen, nicht wahr? Ich aber sage dir,
kein wildes Tier ist grausamer und heimtückischer als der Mensch, der einen
anderen Menschen töten will.»
«Und ich sage dir, daß ich im
Dienste des Caesar alle Regionen Roms kennengelernt habe. Doch habe ich unter
den Tausenden von Untertanen, denen ich begegnet bin, keinen getroffen, der
göttlicher war, als du es bist.
328
Nein, unsere Götter sind nicht so
göttlich wie du! Sie sind rachsüchtig, grausam, streitsüchtig und verlogen. Du
bist gut. Du bist wahrlich nur ein Mensch, der nicht Mensch ist. Leb wohl,
Meister!»
«Leb wohl, Alexander! Schreite
voran auf dem Wege des Lichtes!»
Alles ist zu Ende.
155. JESUS SPRICHT BEI NACHT MIT
NIKODEMUS IM GETHSEMANE
Jesus befindet sich in der Küche
des kleinen Hauses im Ölgarten beim Nachtmahl mit seinen Jüngern. Sie sprechen
von den Tagesereignissen, jedoch nicht von denen des zuvor beschriebenen Tages;
denn ich höre von anderen Begebenheiten, unter anderem von der Heilung eines
Aussätzigen bei den Gräbern längs der Straße nach Bethphage.
«Auch ein römischer Centurio war
unter der Menge», sagt Bartholomäus und fügt hinzu: «Er hat mich von seinem
Pferd herunter gefragt: "Macht der Mann, dem du nachfolgst, öfters ähnliche
Dinge?" Und nach meiner bejahenden Antwort hat er ausgerufen: "Dann ist er also
größer als Äskulap und wird reicher werden als Krösus!" Darauf habe ich
geantwortet: "Er wird in den Augen der Welt immer arm sein, denn er nimmt nichts
und gibt nur, und er will nur die Seelen zum wahren Gott führen." Der Centurio
hat mich verwundert angesehen und dann das Pferd angespornt, um im Galopp
davonzureiten.»
«Auch eine römische Dame in ihrer
Sänfte war da. Es muß nur eine Frau gewesen sein. Sie hatte die Vorhänge
zugezogen, doch hat sie neugierig herausgeschaut. Ich habe es gesehen», sagt
Thomas.
«Ja, es war an der oberen Kurve der
Straße. Sie hat anhalten lassen, als der Aussätzige ausgerufen hat: "Sohn
Davids, hab Erbarmen mit mir!" Dann hat sie den Vorhang bewegt, und ich konnte
sehen, wie sie dich mit einer wertvollen Lupe beobachtet und dann ironisch
gelacht hat. Doch als sie bemerkte, daß du ihn nur durch dein Wort geheilt hast,
da hat sie mich gerufen und gefragt: "Ist er das, den sie den Messias nennen?"
Ich habe mit "Ja" geantwortet, und sie hat mich gefragt: "Und du bist bei ihm?
Ist er wirklich gut?"» Johannes hatte gesprochen.
«So hast du sie gesehen? Wie war
sie?» fragen Judas und Petrus.
«Na ja... eben eine Frau.»
«Welch eine Entdeckung!» lacht
Petrus. Und Iskariot bohrt weiter: «War sie schön, jung, reich?»
«Ja, mir scheint, sie war jung und
auch schön. Doch ich habe mehr zu Jesus hingeschaut als zu ihr. Ich wollte
sehen, ob Jesus bereits weitergegangen war ...»
329
«Du Dummkopf», murmelt Iskariot
zwischen den Zähnen.
«Warum?» verteidigt ihn Jakobus des
Zebedäus. «Mein Bruder ist kein Geck auf der Suche nach Abenteuern. Er hat aus
Anstand geantwortet. Aber er ist seiner ersten Eigenschaft nicht untreu
geworden.»
«Welcher?» will Iskariot wissen.
«Jünger zu sein, dessen einzige
Liebe der Meister ist.»
Judas senkt verärgert das Haupt.
«Und dann... es ist nicht gut, im
Gespräch mit Römern gesehen zu werden», sagt Philippus. «Sie klagen uns schon
als Galiläer an und sagen, wir seien weniger "rein" als die Judäer. Und dies
auch der Geburt wegen. Dann klagen sie uns an, daß wir oft in Tiberias sind, dem
Treffpunkt der Heiden, Römer, Phönizier und Syrer. Und... oh, wegen wie vieler
Dinge klagen sie uns an!»
«Du bist gut, Philippus, und ziehst
einen Schleier über die Härte der Wahrheit, die du sagst. Doch ohne den Schleier
ist sie dies: man klagt mich vieler, vieler Dinge an!», sagt Jesus, der bis
dahin geschwiegen hat.
«Im Grunde haben sie nicht völlig
unrecht. Zuviel Berührung mit den Heiden!» sagt Iskariot.
«Glaubst du, daß es nur die Heiden
sind, die das Gesetz des Moses nicht haben?» fragt Jesus.
«Wer sonst?»
«Judas! ... Kannst du bei unserem
Gott schwören, kein Heidentum im Herzen zu haben? Kannst du schwören, daß die
Israeliten in hervorragender Stellung davon frei sind?»
«Aber Meister! ... Von anderen weiß
ich es nicht... aber ich... von mir kann ich schwören ...»
«Was ist denn deiner Meinung nach
das Heidentum?» fragt Jesus weiter.
«Die Befolgung einer falschen
Religion, und das Anbeten vieler Götter», antwortet Judas ungestüm.
«Welche sind das?»
«Die Götter der Griechen und der
Römer, der Ägypter... nun ja, die Götter mit den tausend Namen, die nach Ansicht
der Heiden den Olymp bevölkern.»
«Gibt es keine anderen Götter? Nur
diese olympischen?»
«Welche anderen? Sind es nicht
schon genug?»
«Zu viele, ja, zu viele. Doch es
gibt noch andere, auf deren Altären von allen Menschen Weihrauch geopfert wird,
sogar von den Priestern, den Schriftgelehrten, den Rabbis, den Pharisäern, den
Sadduzäern und den Herodianern, das sind alles Israeliten, nicht wahr? Und nicht
nur von ihnen, sondern auch von meinen Jüngern.»
«Aber dies ganz bestimmt nicht»,
sagen alle einstimmig.
«Nein? Freunde... wer von euch
frönt nicht einem oder mehreren geheimen Kulten? Für den einen ist es die
Schönheit und die Eleganz. Für
330
einen anderen der Stolz auf sein
Wissen. Ein anderer beweihräuchert die Hoffnung, einmal groß zu werden, im
menschlichen Sinn. Wieder ein anderer betet die Frau an. Ein anderer das Geld.
Wieder ein anderer verbeugt sich vor seinem Wissen, und so weiter. In Wahrheit
sage ich euch: es gibt keinen Menschen, der ganz frei vom Götzendienst ist.
Warum also die Heiden verachten, die es von Geburt her sind, wenn man, obwohl
dem wahren Gott angehörig, dem Willen nach Heide bleibt?»
«Aber wir sind Menschen, Meister!»
rufen mehrere aus.
«Das ist wahr. Dann aber... liebt
alle, denn ich bin für alle gekommen, und ihr seid nicht mehr als ich.»
«Doch sie klagen uns an, und du
wirst in deiner Sendung behindert.»
«Sie wird trotzdem vorangehen.»
«Übrigens, da wir von Frauen
sprechen», sagt Petrus, der neben Jesus sitzt und darüber ganz glücklich ist,
«seit einigen Tagen, vielmehr seitdem du nach der Rückkehr aus Judäa das
erstemal in Bethanien gesprochen hast, folgt uns ständig eine ganz verschleierte
Frau. Ich weiß nicht, wie sie von unseren Plänen erfährt. Ich weiß nur, daß sie
dir aus den hintersten Reihen zuhört, wenn du sprichst, oder sich den Menschen
anschließt, die dir auf dem Wege folgen, oder auch hinter uns hergeht, wenn wir
durch die Felder ziehen, um dich anzukündigen. Fast immer ist sie da. In
Bethanien hat sie mir hinter dem Schleier zugeflüstert: "Der Mann, von dem du
sagst, daß er reden wird, ist es wirklich Jesus von Nazareth?" Ich habe mit "Ja"
geantwortet, und am Abend war sie hinter einem Baum, um dir zuzuhören. Dann habe
ich sie aus den Augen verloren. Aber nun habe ich sie schon zwei- oder dreimal
in Jerusalem gesehen. Heute habe ich sie gefragt: "Brauchst du ihn? Bist du
krank? Willst du Almosen?" Sie hat nur den Kopf geschüttelt, denn sie spricht
mit niemand.»
«Mich hat sie eines Tages gefragt:
"Wo wohnt Jesus?", und ich habe ihr geantwortet: "Im Gethsemane"», sagt
Johannes.
«Oh, du guter Dummkopf. Das hättest
du nicht tun dürfen. Du hättest sagen sollen: "Nimm den Schleier ab! Gib dich zu
erkennen, dann werde ich es dir sagen"», fährt ihn der Iskariot an.
«Aber seit wann sollen wir das
verlangen?» ruft Johannes schlicht und unschuldig aus.
«Die anderen kann man sehen, sie
aber ist ganz verhüllt. Entweder ist sie eine Spionin oder eine Aussätzige. Sie
soll uns nicht folgen und nichts erfahren. Wenn sie eine Spionin ist, dann
geschieht es, um uns zu schaden. Vielleicht wird sie vom Synedrium dafür bezahlt
...»
«Ach, benützt das Synedrium solche
Mittel?» fragt Petrus. «Bist du dir dessen sicher?»
«Ganz sicher. Ich war im Tempel und
weiß es.»
«Schöne Sache! Hierzu paßt
wunderbar das, was der Meister zuvor gesagt hat», bemerkt Petrus.
331
«Was?» will Judas, rot vor Neugier
wissen.
«Daß es auch unter den Priestern
Heiden gibt.»
«Was hat das mit der Bezahlung
einer Spionin zu tun?»
«Manches, manches! Warum zahlen
sie? Um den Messias zu besiegen und triumphieren zu können. Also gehen sie mit
ihren unsauberen Seelen unter den reinen Kleidern zum Altare», antwortet Petrus
mit seinem gesunden Menschenverstand.
«Gut also», schließt Judas kurz ab,
«diese Frau ist eine Gefahr für uns und für das Volk. Für das Volk, wenn sie
aussätzig ist... für uns, wenn sie eine Spionin ist.»
«Also für ihn...» entgegnet Petrus.
«Nun, wenn er fällt, fallen wir mit
ihm ...»
«Ach so», lacht Petrus und
beschließt: «Und wenn man fällt, geht das Idol in Stücke, und man hat seine
Zeit, sein Geld und vielleicht sogar das Leben auf das Spiel gesetzt, und
deshalb... ja, ja... und deshalb ist es besser, darauf zu sehen, daß man nicht
fällt oder sich wenigstens rechtzeitig davonmacht, nicht wahr? Ich jedoch, ich
umarme ihn noch fester. Wenn er, von den Verrätern Gottes getroffen, fällt, will
ich mit ihm fallen.» Und Petrus umarmt Jesus fest mit seinen kurzen Armen.
«Ich ahnte nicht, so ungeschickt
gehandelt zu haben, Meister», sagt Johannes ganz traurig. Er sitzt Jesus
gegenüber. «Schlage mich, mißhandle mich, aber rette dich! Wehe mir, wenn ich
durch meine Schuld deinen Tod verursachte! Oh, ich könnte nie mehr Frieden
finden! Mein Antlitz würde vom Weinen zerfurcht, und mein Augenlicht verbrannt.
Was habe ich angestellt! Judas hat recht, ich bin ein Dummkopf.»
«Nein, Johannes, du bist kein
Dummkopf und du hast recht gehandelt. Laßt sie nur kommen! Immer! Achtet ihren
Schleier! Es kann sein, daß er zum Schutz im Kampfe zwischen der Sünde und dem
Wunsche nach Erlösung getragen wird. Wißt ihr, welche Wunden in einem Menschen
aufbrechen, in dem dieser Kampf beginnt? Wißt ihr, welche Reue und wieviel
Scham? Du hast gesagt, Johannes, mein geliebter Sohn mit dem Herzen eines guten
Kindes, daß dein Antlitz gefurcht würde vom ständigen Weinen, wenn du zur
Ursache meines Unglücks würdest. Doch wisse: wenn ein erwecktes Gewissen
beginnt, das Fleisch, das die Ursache der Sünde war, zu zähmen und es abzutöten,
um mit dem Geiste zu triumphieren, dann muß alles mutig verzehrt werden, was
anziehend für das Fleisch war, und das Geschöpf altert und verwelkt unter dem
Rauch dieses alles durchdringenden Feuers. Erst danach, nach erfolgter Erlösung,
wird eine neue heilige und vollkommenere Schönheit geschaffen; denn es ist die
Schönheit der Seele, welche zutage tritt im Blick, im Lächeln, in der Stimme, in
der ehrbar erhobenen Stirne, auf die Gottes Vergebung sich senkte, die leuchtet
wie ein Diadem.»
«Dann habe ich also nichts
Schlechtes getan?»
332
«Nein! Und auch Petrus hat nichts
Böses getan. Laßt sie gewähren! Jetzt soll jeder zur Ruhe gehen. Ich bleibe mit
Johannes und Simon hier, ich habe mit ihnen zu reden. Geht also!»
Die Jünger ziehen sich zurück.
Vielleicht schlafen sie in der Scheune. Ich weiß es nicht. Sie gehen weg, doch
bestimmt nicht nach Jerusalem, denn dort sind die Tore schon seit mehreren
Stunden geschlossen.
«Simon, du hast gesagt, daß Lazarus
heute den Isaak mit Maximinus zu dir geschickt hat, während ich beim Turme
Davids war. Was wollte er?»
«Er wollte dir sagen, daß Nikodemus
bei ihm ist und mit dir im geheimen reden möchte. Ich habe mir erlaubt zu sagen:
"Er soll kommen. Der Meister wird ihn heute nacht erwarten." Du hast ja nur die
Nacht, um allein sein zu können. Daher habe ich zu dir gesagt: "Entlasse alle
bis auf Johannes und mich!" Johannes wird bis zur Brücke des Kedron gehen und
dort Nikodemus erwarten, der in einem der Häuser des Lazarus vor der Mauer ist.
Habe ich es falsch gemacht?»
«Du hast es recht gemacht. Mach
dich auf den Weg, Johannes!»
Nur Simon und Jesus bleiben zurück.
Jesus ist nachdenklich. Simon achtet sein Schweigen. Doch Jesus unterbricht es
plötzlich, und als ob er ein inneres Selbstgespräch fortführen wollte, sagt er
mit lauter Stimme: «Ja, es ist gut, so zu handeln. Isaak, Elias und die anderen
genügen, um die Idee lebendig zu erhalten, die schon in den Guten und Demütigen
Wurzeln geschlagen hat. Für die Mächtigen braucht es andere Mittel. Da sind
Lazarus, Chuza, Joseph und noch weitere... Doch die Mächtigen wollen nichts von
mir wissen. Sie fürchten und zittern um ihre Macht. Ich werde das judäische Herz
verlassen, das Christus immer feindlicher gesinnt ist.»
«Werden wir nach Galiläa
zurückkehren?»
«Nein! Aber weg von Jerusalem!
Judäa muß die Frohe Botschaft hören. Das ist auch Israel. Aber hier... du siehst
es... hier dient alles nur dazu, mich anzuklagen. Ich werde mich zurückziehen,
nun zum zweitenmal ...»
«Meister, hier ist Nikodemus», sagt
Johannes, der zuerst hereinkommt.
Sie grüßen sich. Dann verlassen
Simon und Johannes die Küche, um die beiden allein zu lassen.
«Meister, verzeihe, daß ich dich im
geheimen sprechen wollte. Ich mißtraue deinet- und meinetwegen vielen. Es ist
nicht nur Feigheit meinerseits. Auch Klugheit und der Wunsch, dir mehr zu
nützen, als wenn ich dir offen angehören würde. Du hast viele Feinde. Ich bin
einer der wenigen, die dich bewundern. Ich habe mich mit Lazarus beraten.
Lazarus ist mächtig durch seine Geburt, gefürchtet, weil er in Rom in Gunst
steht, gerecht in den Augen Gottes, weise durch sein langes Studium und seine
333
Kultur, dein wahrer Freund und mein
wahrer Freund! Aus all diesen Gründen habe ich mit ihm reden wollen. Und ich bin
glücklich, daß er genauso urteilt wie ich. Ich habe ihm von den letzten
Diskussionen des Synedriums über dich gesprochen.»
«Die letzten Anschuldigungen. Sage
die Wahrheit nur ungeschminkt, wie sie ist.»
«Die letzten Beschuldigungen. Ja,
Meister. Ich war daran zu sagen: "Nun, auch ich bin einer der Seinigen", damit
wenigstens einer in dieser Versammlung auf deiner Seite stehe. Doch Joseph ist
zu mir gekommen und hat mir zugeflüstert: "Schweige! Wir wollen unsere Gedanken
verborgen halten. Ich werde dir den Grund nachher sagen." Nachdem wir
hinausgegangen waren, hat er gesagt... ja, er hat gesagt: "Du wirst so mehr
nützen. Wenn sie uns als Jünger wissen, dann halten sie vor uns verborgen, was
sie denken und beschließen, und können ihm und uns schaden. Wenn sie uns für
einfache Zuhörer halten, werden sie uns nichts verbergen." Ich verstand, daß er
recht hatte. Sie sind derart böse. Auch ich habe meine Interessen und
Pflichten... und Joseph ebenso. Verstehst du, Meister?»
«Ich mache euch keine Vorwürfe.
Bevor du kamst, habe ich dies Simon gesagt. Ich habe auch beschlossen, mich von
Jerusalem fernzuhalten.»
«Du haßt uns, weil wir dich nicht
lieben?»
«Nein, ich hasse nicht einmal meine
Feinde.»
«Du sagst es. Es ist so. Doch welch
ein Schmerz für mich und Joseph! Und Lazarus! Was wird Lazarus sagen, der gerade
heute beschlossen hat, dir sagen zu lassen, daß du diesen Ort verlassen sollst,
um in eines seiner Landhäuser von Sion zu ziehen. Weißt du, Lazarus ist sehr
reich und mächtig. Große Teile dieser Stadt gehören ihm und auch viele
Ländereien in Palästina. Der Vater hatte zu seinem Besitz und dem der Eucheria,
die aus deinem Stamm und deiner Familie herkommt, noch die Belohnung der Römer
für ihren treuen Diener hinzugefügt und so seinen Söhnen eine bedeutende
Erbschaft hinterlassen. Doch hat er, was noch mehr zählt, eine geheime, aber
starke Freundschaft mit Rom. Ohne diese... was hätte sein Haus vor der Schande
schützen können nach dem anstößigen Benehmen Marias, nach ihrer Scheidung, die
sie nur erhielt, weil "sie" es war? Zügellos hat sie gelebt in dieser Stadt, in
der sein Grundbesitz sich befindet, und in Tiberias mit dem vornehmen Bordell;
Rom und Athen haben dort ein Zentrum der Prostitution errichtet, auch für viele
des auserwählten Volkes. Wahrlich, wenn Theophilus der Syrer ein überzeugter
Proselyt gewesen wäre, dann hätte er seinen Kindern nicht diese hellenisierende
Erziehung gegeben, die soviel Tugend tötet und soviel Laster sät; eine
Erziehung, die zwar von Lazarus und besonders von Martha getrunken und ohne
Folgen wieder ausgeschieden wurde, die jedoch die unbändige Maria angesteckt und
verdorben und aus ihr den Abscheu der Familie und
334
Palästinas gemacht hat. Nein, ohne
den mächtigen Schatten der Gunst von Rom wären sie mehr als die Aussätzigen mit
Acht belegt worden. Nütze also die Freundschaft mit Lazarus.»
«Nein. Ich ziehe mich zurück. Wer
mich will, soll zu mir kommen.»
«Ich hätte nicht reden sollen!»
Nikodemus ist niedergeschlagen.
«Nein. Warte und überzeuge dich!»,
und Jesus öffnet eine Türe und ruft: «Simon, Johannes, kommt zu mir!»
Die beiden eilen herbei.
«Simon, wiederhole Nikodemus, was
ich dir vor seinem Eintreten gesagt habe.»
«Daß für die Demütigen Hirten
genügen, für die Mächtigen Lazarus, Nikodemus, Joseph und Chuza, und daß du dich
zurückziehen willst, fern von Jerusalem, jedoch ohne Judäa aufzugeben. Das hast
du gesagt. Warum läßt du es mich wiederholen? Was ist vorgefallen?»
«Nichts. Nikodemus befürchtete, ich
wolle seiner Worte wegen gehen.»
«Ich habe dem Meister gesagt, daß
ihm das Synedrium immer feindlicher gesinnt ist und daß es gut wäre, wenn er
sich unter den Schutz des Lazarus stellen würde. Er hat deine Güter geschützt,
denn Rom steht hinter ihm. Er würde auch Jesus beschützen.»
«Das ist wahr. Es ist ein guter
Rat. Obwohl meine Sippe auch in Rom nicht geachtet war, hat ein Wort Theophilus
meinen Besitz während der Verbannung und als ich aussätzig war, bewahrt. Lazarus
ist dein guter Freund, Meister.»
«Ich weiß es, doch ich habe
gesprochen. Und was ich gesagt habe, das tue ich.»
«Werden wir dich also verlieren?»
«Nein, Nikodemus. Zum Täufer gehen
Menschen aller Sekten. Zu mir dürfen Menschen aller Sekten und aus allen Ständen
kommen.»
«Wir kamen zu dir, da wir wissen,
daß du mehr bist als Johannes!»
«Ihr könnt auch weiterhin kommen.
Auch ich werde ein einsamer Lehrer wie Johannes sein und zu Scharen sprechen,
die die Stimme Gottes hören wollen und fähig sind zu glauben, daß ich diese
Stimme bin. Die anderen werden mich vergessen, sofern sie dazu imstande sind.»
«Meister, du bist traurig und
enttäuscht. Du hast Grund dazu. Alle hören dich an und erwarten von dir Wunder.
Sogar ein Höfling des Herodes, einer, der das natürliche Gutsein an diesem
unzüchtigen Hofe verloren haben müßte; sogar römische Soldaten glauben an dich.
Nur wir hier von Sion sind so hart... Doch nicht alle. Du siehst es. Wir wissen,
Meister, daß du von Gott kommst und sein Lehrer, der größte von allen, bist.
Sogar Gamaliel sagt es! Keiner kann deine Wunder wirken, wenn Gott nicht mit ihm
ist. Das glauben sogar Gelehrte wie Gamaliel. Woran liegt es, daß wir nicht den
Glauben haben wie die Kleinen in Israel? Oh, sage es mir genau! Bist du der
Messias des Herrn? Der Erwartete? Das Wort des Vaters? Bist
335
du Mensch geworden, um Israel dem
Bunde gemäß zu belehren und zu erlösen?»
«Fragst du das aus dir selbst oder
haben andere dir aufgetragen, mich danach zu fragen?»
«Aus mir, aus mir selbst, Herr! Ich
bin beunruhigt. Ein Sturm ist in mir! Gegenwinde und Gegenstimmen. Warum ist in
mir, dem reifen Manne, nicht die friedliche Sicherheit, die einer hat, der
unbelesen und kindlich ist, die ihm das Lächeln ins Antlitz, das Licht in die
Augen und die Sonne ins Herz legt? Wie glaubst du, Johannes, um so ruhig zu
sein? Lehre mich, o Sohn, dein Geheimnis; das Geheimnis, dank dessen du in
Jesus, dem Nazarener, den Messias sehen und verstehen kannst.»
Johannes wird rot wie eine
Erdbeere, neigt das Haupt, wie um sich zu entschuldigen, etwas so Großes zu
sagen, und antwortet einfach: «Weil ich ihn liebe!»
«Weil du liebst! Und du, Simon,
rechtschaffener Mann an der Schwelle des Alters, du, der du gelehrt und so
schwer geprüft worden bist, daß du versucht bist, überall Täuschung zu
befürchten?»
«Weil ich nachdenke.»
«Lieben! Nachdenken! Auch ich liebe
und denke nach, und doch bin ich immer noch nicht sicher.»
Nun greift Jesus ein: «Ich sage dir
das wahre Geheimnis. Diese haben es verstanden, aufs neue geboren zu werden, mit
einem neuen Geist, der von jeder Kette frei und von jeder anderen Idee unberührt
ist. Deshalb konnten sie Gott verstehen. Wenn jemand nicht wiedergeboren wird,
kann er das Reich Gottes nicht sehen und nicht an seinen König glauben.»
«Wie kann ein schon erwachsener
Mensch wiedergeboren werden? Aus dem Mutterschoß ausgestoßen, kann der Mensch
niemals mehr dahin zurückkehren. Meinst du etwa eine Wiedergeburt, wie sie von
vielen Heiden angenommen wird? Aber nein, das ist bei dir nicht möglich, und
dann wäre es nicht ein Wiedereingehen in den Schoß, sondern eine Wiedergeburt
außerhalb der Zeit. Also nicht in diesem Leben. Wie? Wie?»
«Es gibt nur ein Dasein des
Fleisches auf der Erde und ein ewiges Leben im Jenseits. Jetzt spreche ich nicht
von Fleisch und Blut, sondern vom unsterblichen Geist, der durch zwei Dinge zum
wahren Leben wiedergeboren wird: durch das Wasser und durch den Heiligen Geist.
Doch das wichtigere ist der Heilige Geist, ohne den das Wasser nichts als ein
Symbol ist. Wer mit Wasser gereinigt ist, muß sich dann mit dem Heiligen Geist
reinigen und durch ihn sich entzünden und leuchten, wenn er hier und im Ewigen
Reiche im Schoße Gottes leben will. Denn was vom Fleische gezeugt wird, ist und
bleibt Fleisch und stirbt, nachdem es ihm in seinen Begierden und Sünden gedient
hat. Doch was vom Geiste gezeugt wird, ist Geist und kehrt zum Schöpfer-Geist
zurück, nachdem es bis zum vollkommenen Alter den eigenen Geist empor geführt
hat. Das Himmelreich wird nur von
336
solchen bewohnt sein, die das
vollkommene geistige Alter erreicht haben. Wundere dich daher nicht, wenn ich
sage: "Ihr müßt aufs neue geboren werden." Diese hier haben es verstanden,
wiedergeboren zu werden. Dieser junge Mann hat sein Fleisch abgetötet und den
Geist wiedergeboren werden lassen; er hat sein Ich auf den Scheiterhaufen der
Liebe gelegt. Alles, was Materie war, wurde verbrannt. Aus der Asche geht seine
neue geistige Blume hervor, eine wunderbare Sonnenblume, die sich unablässig der
ewigen Sonne zuwendet. Der Ältere hat die Axt der Meditation an die Wurzeln
seines alten Denkens angelegt, hat den Baum entwurzelt und nur den Kern des
guten Willens zurückbehalten, aus dem sein neues Denken geboren wurde. Nun liebt
er Gott mit neuem Geiste und kann ihn sehen. Jeder hat seine Methode, um den
Hafen zu erreichen. Jeder Wind ist gut, wenn man das Segel zu handhaben
versteht. Ihr spürt den Wind wehen und müßt das Boot manövrieren und darauf
achten, in welche Richtung er bläst. Doch könnt ihr nicht sagen, woher er kommt,
noch herbeirufen, den ihr nötig habt. Auch der Heilige Geist ruft, kommt rufend
und geht vorüber. Doch nur, wer aufmerksam ist, kann ihm folgen. Der Sohn kennt
die Stimme des Vaters; der Geist kennt die Stimme des Geistes, von dem er
erschaffen wurde.»
«Wie kann dies alles geschehen?»
«Du, Lehrer in Israel, fragst mich
danach? Du kennst diese Dinge nicht? Man spricht von dem und bezeugt das, was
man weiß und gesehen hat. So spreche ich von dem und bezeuge das, was ich weiß.
Wie wirst du je Dinge annehmen können, die du nicht gesehen hast, wenn du nicht
das Zeugnis annimmst, das ich dir bringe? Wie wirst du an den Geist glauben
können, wenn du nicht an das fleischgewordene Wort glaubst? Ich bin auf die Welt
gekommen, um wieder zum Himmel aufzufahren und jene mitzunehmen, die hier unten
sind. Einer allein ist vom Himmel herabgestiegen: der Menschensohn. Und einer
allein wird zum Himmel aufsteigen mit der Macht, den Himmel zu öffnen: Ich, der
Menschensohn. Denke an Moses! Er hat in der Wüste eine Schlange erhöht, um die
Kranken Israels zu heilen (Ex 21,4-9). Wenn ich erhöht sein werde, dann werden
diejenigen, die jetzt das Fieber der Sünde blind, taub, stumm, irr, aussätzig
und krank macht, geheilt werden, und jeder, der an mich glaubt, wird ewiges
Leben erlangen. Auch sie, die an mich geglaubt haben, werden dieses selige Leben
haben.
Senke nicht deine Stirn, Nikodemus.
Ich bin gekommen, um zu retten, nicht, um zugrunde zu richten. Gott hat seinen
eingeborenen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit die Menschen dieser Welt
verdammt werden, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde. Auf der Welt
habe ich alle möglichen Sünden angetroffen, alle Irrlehren, alle
Götzendienereien. Aber kann eine Schwalbe, die schnell über dem Staube fliegt,
ihr Gefieder beschmutzen? Nein! Sie zieht nur über die traurigen Straßen der
Erde ein
337
blaues Komma, bringt einen Duft aus
dem Himmel, stößt einen Ruf aus, um die Menschen aufzurütteln und sie zu
bewegen, den Blick vom Schlamm zu erheben und ihrem Flug zu folgen, der zum
Himmel zurückführt. So ist es mit mir. Ich komme, um euch mit mir zu nehmen.
Kommt! Wer an den Eingeborenen Sohn glaubt, wird nicht gerichtet. Er ist schon
gerettet, denn der Sohn bittet den Vater und sagt: "Dieser liebt mich." Doch wer
nicht glaubt, dem nützen heilige Werke nicht. Er ist schon gerichtet, denn er
hat nicht an den Namen des Einen Sohnes Gottes geglaubt. Kennst du meinen Namen,
Nikodemus?»
«Jesus.»
«Nein, Erlöser. Ich bin die
Erlösung. Wer nicht an mich glaubt, lehnt sein Heil ab und ist von der Ewigen
Gerechtigkeit gerichtet. Und das Urteil wird lauten: "Das Licht war dir gesandt
worden, dir und der Welt, um für euch Rettung zu sein. Du und die anderen
Menschen, ihr habt dem Licht die Finsternis vorgezogen, denn ihr habt die
schlechten Werke, die euch zur Gewohnheit geworden sind, den guten Werken
vorgezogen. Er hat euch diese gezeigt, damit ihr heilig werdet." Ihr habt das
Licht gehaßt, denn die Übeltäter lieben die Finsternis für ihre Verbrechen, und
ihr seid dem Lichte entflohen, damit es eure verborgenen Wunden nicht beleuchte.
Das gilt nicht für dich, Nikodemus. Das ist die Wahrheit. Und die Strafe wird
dem Urteil entsprechen, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft.
Was nun sie betrifft, die mich
lieben und die die Wahrheiten, die ich lehre, in die Tat umsetzen und so zum
zweitenmal im Geist geboren werden - das ist die echtere Geburt - sage ich dir,
daß sie das Licht nicht scheuen, sondern sich ihm nähern, damit ihr Licht das
Licht vermehre, von dem sie erleuchtet worden sind, in einer gegenseitigen
Verherrlichung, die Gott in seinen Kindern und die Kinder im Vater beglückt.
Nein, die Kinder des Lichtes
fürchten nicht, erleuchtet zu werden. Sie sagen vielmehr in ihrem Herzen und
durch ihre Werke: "Nicht ich, sondern Er, der Vater, Er, der Sohn, und Er, der
Heilige Geist haben in mir das Gute vollbracht! Ihnen sei Ehre in Ewigkeit."
Und vom Himmel antwortet der ewige
Hymnus der Drei Personen, die sich in vollkommener Einheit lieben: "Du seist
gesegnet in Ewigkeit, wahrer Sohn unseres Willens." Johannes, denke an diese
Worte, wenn es an der Zeit sein wird, sie niederzuschreiben...
Nikodemus, bist du nun überzeugt?»
«Ja, Meister. Wann kann ich dich
wieder sprechen?»
«Lazarus wird wissen, wohin er dich
führen kann. Ich werde zu ihm gehen, bevor ich mich von hier entferne.»
«Ich gehe, Meister. Segne deinen
Diener!»
«Mein Friede sei mit dir!»
Nikodemus geht mit Johannes hinaus.
338
Jesus wendet sich an Simon: «Siehst
du das Werk der Macht der Finsternis? Wie eine Spinne legt sie ihren Hinterhalt
und umwickelt und fesselt den, der nicht zu sterben vermag, um als Schmetterling
wiedergeboren zu werden, stark genug, das dunkle Gewebe zu zerreißen und es zu
verlassen, während er zur Erinnerung an seinen Sieg Fetzen des leichten Netzes
auf den goldenen Flügeln davonträgt, wie Standarten und Oriflammen, die dem
Feind entrissen worden sind. Sterben, um zu leben. Sterben, um die Kraft zum
Sterben zu haben. Komm, Simon, geh zur Ruhe! Gott sei mit dir!»
Alles ist zu Ende.
156. JESUS BEI LAZARUS, BEVOR ER
ZUM "TRÜGERISCHEN GEWÄSSER" GEHT
Jesus steigt den Bergpfad hinan,
der zu der Hochebene führt, auf welcher Bethanien erbaut worden ist. Er schlägt
diesmal nicht die Hauptstraße ein, sondern diesen steiler ansteigenden Weg, der
von Nordwest nach Osten führt und sehr wenig begangen ist, eben weil er so steil
ist. Nur die eiligen Reisenden benützen ihn, solche, die Herden haben und sie
nicht dem Verkehr der Hauptstraße aussetzen wollen, und solche, die, wie Jesus
heute, nicht von zu vielen gesehen werden möchten. Jesus geht voraus und spricht
mit dem Zeloten. Dahinter bilden die Vettern mit Johannes und Andreas eine
Gruppe, eine weitere Gruppe besteht aus Jakobus des Zebedäus, Matthäus, Johannes
und Philippus, und schließlich kommen Bartholomäus, Petrus und Iskariot.
Doch als die Hochebene erreicht
ist, auf der Bethanien an diesem schönen Novembertag in der Sonne liegt und von
wo aus man im Osten den Jordan und die Straße sieht, die nach Jericho führt,
gibt Jesus Johannes Anweisung, Lazarus von seinem Kommen zu unterrichten.
Während Johannes davoneilt, geht Jesus mit den Seinen langsam weiter. Er wird
immer wieder von Bewohnern der Ortschaft gegrüßt.
Die erste, die aus dem Hause des
Lazarus kommt, ist eine Frau, die sich bis auf die Erde verneigt und sagt:
«Glücklich dieser Tag für das Haus meiner Herrin! Komm, Meister, hier ist
Maximinus und am Tore auch schon Lazarus!»
Auch Maximinus kommt eilends
herbei. Ich weiß nicht genau, wer er ist. Ich habe den Eindruck, er sei ein
wenig begüterter Verwandter, der von den Kindern des Theophilus aufgenommen
worden ist, oder aber ein Verwalter ihrer großen Besitztümer, der jedoch wie ein
Freund behandelt wird aufgrund seines jahrelangen Dienstes für die Familie.
Vielleicht ist es auch der Sohn eines Verwalters des Vaters, der dann an dessen
Stelle bei
339
den Kindern des Theophilus im
Dienste geblieben ist. Er ist etwas älter als Lazarus, ungefähr fünfunddreißig
Jahre alt oder etwas darüber.
«Wir haben nicht gehofft, dich
sobald wiederzusehen», sagt er.
«Ich bitte um Herberge für eine
Nacht.»
«Wäre es für immer, so würdest du
uns glücklich machen.»
Nun sind sie an der Schwelle, und
Lazarus küßt und umarmt Jesus und begrüßt die Jünger. Dann legt er einen Arm um
die Hüfte Jesu, betritt mit ihm den Garten, sondert sich von den anderen ab und
fragt sofort: «Wem verdanke ich die Freude, dich hier zu haben?»
«Dem Haß der Synedristen.»
«Haben sie dir wieder Böses
angetan?»
«Nein! Aber sie wollen es tun. Die
Stunde ist noch nicht gekommen. Solange ich nicht ganz Palästina gepflügt und
den Samen ausgestreut habe, darf ich nicht niedergeschlagen werden.»
«Du mußt auch deine Ernte
einbringen, guter Meister. Das ist nur recht und billig!»
«Meine Ernte werden meine Freunde
einbringen. Sie werden die Sense anlegen, dort wo ich gesät habe. Lazarus, ich
habe beschlossen, mich von Jerusalem zu entfernen. Ich weiß, daß es unnütz ist;
ich weiß es im voraus. Aber es wird mir wenigstens die Möglichkeit geben, das
Evangelium zu verkünden. In Sion ist es mir verwehrt.»
«Ich habe dir durch Nikodemus sagen
lassen, du könntest auf eines meiner Besitztümer gehen. Niemand kann dir dort
Gewalt antun. Du könntest ohne Belästigungen deine Aufgabe erfüllen. Oh, mein
Haus! Es ist das glücklichste aller meiner Häuser, das geheiligt wird von deiner
Lehre und deinem Atem. Mach mir die Freude, dir nützlich zu sein, Meister!»
«Du siehst, daß ich schon dabei
bin. Denn in Jerusalem kann ich nicht bleiben. Ich selbst würde nicht belästigt,
aber man würde jene belästigen, die zu mir kommen. Ich werde in Richtung Efraim
gehen. Zwischen diesem Ort und dem Jordan will ich das Evangelium verkünden und
taufen wie Johannes.»
«In den Ländereien um diesen Ort
habe ich ein Häuschen. Aber es ist nur eine Hütte für die landwirtschaftlichen
Geräte der Arbeiter. Manchmal schlafen sie auch dort, wenn sie zur Zeit der
Heuernte oder der Weinlese dort sind. Es ist armselig. Nur ein einfaches Dach
auf vier Mauern. Doch es liegt immerhin auf meinem Land, das wissen alle. Dies
zu wissen, wird eine Abschreckung für die Schakale sein. Nimm es an, Herr. Ich
werde Diener hinsenden, um es herzurichten.»
«Das ist nicht notwendig. Wenn dort
deine Landarbeiter schlafen können, dann genügt es auch für uns.»
«Ich will es nicht mit Luxus
ausstatten, nur einige Betten mehr aufstellen lassen, arm, wie du es gern hast,
und auch für Decken, Stühle, Krüge
340
und Becher sorgen. Ihr müßt auch
essen und euch zudecken, besonders in diesen Wintermonaten. Laß mich nur machen!
Ich brauche es ja nicht selbst zu tun. Hier kommt Martha. Sie hat einen
praktischen Sinn und kümmert sich um alle häuslichen Angelegenheiten. Sie ist
für das Haus geschaffen und für die Sorge um Leib und Seele aller Hausbewohner.
Komm, meine gute, reine Herbergsmutter! Siehst du? Auch ich habe mich unter ihre
mütterliche Fürsorge gestellt und lebe in ihrem Erbschaftsanteil. So brauche ich
meine Mutter nicht zu sehr zu beweinen.
Martha, Jesus will sich in die
Ebene des "Trügerischen Gewässers" zurückziehen. Gut ist nur der fruchtbare
Boden; das Haus ist eher ein Stall zu nennen. Aber Jesus wünscht ein Haus der
Armut. Es muß mit dem Nötigsten ausgestattet werden. Gib Anweisungen, du bist so
tüchtig!» Lazarus küßt die wunderschöne Hand der Schwester, die ihn dann mit
mütterlicher Geste liebkost.
Martha sagt: «Ich werde sofort
hingehen und Maximinus und Marcella mitnehmen. Die Fuhrleute können beim
Einrichten helfen. Segne mich, Meister, so werde ich etwas von dir mitnehmen.»
«Ja, meine gute Herbergsmutter. Ich
nenne dich so wie Lazarus. Ich gebe dir mein Herz, damit du es in deinem Herzen
tragen kannst.»
«Ist dir bekannt, Meister, daß
heute auf diesen Weiden Isaak, Elias und die anderen sind? Sie haben mich um
Erlaubnis gebeten, auf den Wiesen der Ebene die Tiere weiden zu dürfen, damit
sie etwas beisammen sein können; ich habe zugestimmt. Heute werden sie hier
eintreffen; ich erwarte sie für die Mahlzeit.»
«Das freut mich sehr. Ich werde
ihnen Anweisungen geben.»
«Ja... um miteinander in Verbindung
zu bleiben. Machmal mußt du aber selbst kommen.»
«Ich werde kommen; ich habe darüber
schon mit Simon gesprochen. Und da es nicht recht ist, daß ich dein Haus mit den
Jüngern überfalle, werde ich in das Haus Simons gehen...»
«Nein, Meister! Warum willst du mir
diesen Schmerz bereiten?»
«Bestehe nicht darauf, Lazarus...
Ich weiß schon, was richtig ist.»
«Aber dann ...»
«Dann werde ich auf deinen
Besitzungen bleiben. Was Simon nicht weiß, weiß ich. Er, der erwerben wollte,
ohne sich zu zeigen und ohne zu verhandeln, nur um in der Nähe des Lazarus von
Bethanien zu sein, war der Sohn des Theophilus, der treue Freund Simons des
Zeloten und der große Freund Jesu von Nazareth. Er, der die Summe für Jonas
verdoppelt hat und das Guthaben Simons damit nicht belasten wollte, um ihm die
Möglichkeit zu geben, viel für den armen Meister und die Armen des Meisters zu
tun: er trägt den Namen Lazarus. Er, der verborgen und aufmerksam wirkt, leitet
und alle guten Kräfte einsetzt, um mir Hilfe, Trost und Schutz zu gewähren, ist
Lazarus von Bethanien. Ich weiß es.»
341
«Oh, sag es nicht! Ich hatte so
geglaubt, im Verborgenen recht zu handeln.»
«Für die Menschen ist es ein
Geheimnis, aber nicht für mich. Ich lese in den Herzen. Willst du, daß ich dir
sage, warum deine natürliche Güte sich mit übernatürlicher Vollkommenheit
verbindet? Weil du ein übernatürliches Geschenk erbittest: die Rettung einer
Seele, sowie deine und Marthas Heiligung. Und du fühlst, daß es nicht genügt,
gut nach der Meinung der Welt zu sein, sondern daß es notwendig ist, gut nach
den Gesetzen des Geistes zu sein, um die Gnade Gottes zu besitzen. Du hast meine
Worte nicht gehört. Aber ich habe gesagt: "Wenn ihr Gutes tut, tut es im
Verborgenen, und euer Vater wird es euch reichlich vergelten!" Du hast aus dem
natürlichen Antrieb zur Demut gehandelt. Und in Wahrheit sage ich dir, daß der
Vater dir eine Vergeltung vorbereitet, die du dir nicht vorstellen kannst.»
«Die Rettung Marias?»
«Ja, und noch viel mehr!»
«Was gibt es, Meister, das
unmöglicher wäre?»
Jesus schaut ihn an und lächelt.
Dann sagt er mit dem Ton des Psalmisten:
«Der Herr herrscht, und mit ihm
seine Heiligen.
Aus seinen Strahlen bereitet er
Kronen und legt sie auf das Haupt der Heiligen, wo sie in Ewigkeit erstrahlen in
den Augen Gottes und des Universums. Aus welchem Metall bestehen sie? Mit
welchen Edelsteinen sind sie geschmückt? Gold, reinstes Gold ist der Ring,
entstanden im doppelten Feuer der göttlichen Liebe und der menschlichen Liebe,
bearbeitet mit dem Meißel des Willens, der hämmert, feilt, schneidet und
verfeinert.
Perlen von großer Schönheit und
Smaragde, grüner als das Gras im April, Türkise von der Farbe des Himmels, Opale
bleich wie der Mond, Amethyste, verschämten Veilchen gleich, Jaspisse, Saphyre,
Hyazinthen und Topase. Sie sind eingefügt für das ganze Leben. Und, um das Werk
zu vollenden, ein Ring von Rubinen, ein großer Reif um die glorreiche Stirn.
Denn der Gesegnete besaß Glauben
und Hoffnung, Sanftmut und Keuschheit, Mäßigkeit und Stärke, Gerechtigkeit,
Klugheit und grenzenlose Barmherzigkeit; und in seinem Grunde ist mit Blut mein
Name und der Glaube an mich, die Liebe zu mir und sein Name im Himmel
eingetragen.
Freut euch, ihr Gerechten im Herrn!
Der Mensch weiß es nicht, Gott aber sieht!
Er schreibt meine Versprechen in
die ewigen Bücher ein und mit ihnen eure Werke und eure Namen, ihr Fürsten der
künftigen Zeiten, ihr ewigen Sieger mit Christus, dem Herrn.»
Lazarus betrachtet ihn verwundert.
Dann murmelt er: «Oh, ich werde nicht fähig sein.»
342
«Glaubst du?» und Jesus bricht
einen biegsamen Weidenzweig ab, der über den Weg hängt, und sagt: «Schau! Wie
meine Hand diesen Zweig mit Leichtigkeit biegen kann, so wird die Liebe deine
Seele biegen und ihr eine ewige Krone bereiten. Die Liebe ist der individuelle
Erlöser. Wer liebt, beginnt seine Erlösung. Der Menschensohn wird sie dann zur
Vollendung bringen.»
157. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": VORBEREITUNG DER JÜNGER AUF DAS GEMEINSCHAFTSLEBEN
Wenn man dieses niedrige und
einfache Haus mit dem Haus in Bethanien vergleicht, dann ist es wirklich nur
eine Hütte, wie Lazarus sagt. Aber wenn man es mit den Häusern des Doras für
seine Landarbeiter vergleicht, so ist es recht schön.
Sehr niedrig und sehr breit, solide
gebaut, hat es eine Küche, besser gesagt einen Kamin in einem ganz verräucherten
Raum, in dem ein Tisch, Stühle, Krüge und ein einfaches Gestell stehen; auf
letzterem befinden sich Teller und Becher. Eine breite Tür aus rohem Holz gibt
Licht. An derselben Hauswand sind noch drei weitere Türen, die in drei lange,
enge Kammern führen mit gekalkten Wänden und gestampften Fußböden, wie in der
Küche. In zwei dieser Kammern stehen nun Betten. Es scheinen kleine Schlafsäle
zu sein. Die vielen Haken in den Wänden zeugen davon, daß hier viele Werkzeuge
und vielleicht auch landwirtschaftliche Erzeugnisse aufgehängt wurden. Nun
dienen sie als Kleiderhaken, und tragen Mäntel und Taschen. Die dritte Kammer
(mehr ein breiter Gang als eine Kammer, denn die Breite ist zu der Länge
unproportioniert) ist leer. Sie scheint auch zur Aufnahme von Tieren zu dienen,
denn eine Futterkrippe und Ringe hängen an einer Wand, und der Boden weist
Spuren von beschlagenen Tieren auf.
Nahe bei letzterem Raum befindet
sich freistehend ein breiter, einfacher Schuppen, der aus einem
schindelbedeckten Dach und kaum entrindeten Baumstämmen besteht. Es ist mehr ein
Wetterdach als ein Schuppen, denn er ist nach drei Seiten hin offen; davon sind
zwei mindestens zehn Meter lang, die dritte nicht mehr als fünf. Im Sommer muß
an der Südseite ein Weinstock seine Reben von einem Stamm zum anderen
ausbreiten. Nun ist er entlaubt und zeigt seine skelettartigen Ranken, wie auch
ein riesiger Feigenbaum, der kahl ist und im Sommer das Brunnenbecken in der
Mitte des Vorplatzes überschattet. Der Brunnen ist wohl als Tiertränke gedacht,
denn er besteht nur aus einem Loch in Bodenhöhe mit einer primitiven Einfassung
von flachen Steinen.
343
Das ist das Haus, das Jesus und
seine Jünger an dem als "Trügerischen Gewässer" bezeichneten Ort beherbergt.
Felder, Wiesen und Weingärten umgeben es, und in einer Entfernung von ungefähr
dreihundert Metern (nehmt meine Schätzungen nicht als Glaubenssatz) sieht man
ein anderes Haus inmitten der Felder, das bedeutend schöner ist, weil es eine
Terrasse auf dem Dach hat, die dem kleinen Haus hier fehlt. Jenseits dieses
Gebäudes verhindern Olivenbäume und andere Bäume, teils kahl, teils nur spärlich
belaubt, die Aussicht.
Petrus, sein Bruder und Johannes
arbeiten mit Eifer daran, den Vorplatz und die Kammern zu fegen, die Betten
herzurichten und Wasser zu schöpfen. Petrus macht um den Brunnen herum ein
Geländer, um daran Stricke anzubringen und das Wasserholen zu vereinfachen. Die
beiden Vettern Jesu arbeiten mit dem Hammer und der Feile an Schlössern und
Fensterläden, und Jakobus des Zebedäus hilft mit der Säge und dem Beil wie ein
Werftarbeiter.
Thomas ist in der Küche
beschäftigt, und er scheint ein erprobter Koch zu sein, so gut versteht er es,
Feuer und Flamme zu handhaben und flink das Gemüse zu säubern, das der schöne
Iskariot aus dem nahen Dorf zu holen geruht. Ich nehme an, daß es ein mehr oder
weniger kleines Dorf ist, denn Iskariot murmelt etwas und erklärt, daß nur
zweimal in der Woche Brot gebacken wird und daß es somit an diesem Tage keines
gibt. Petrus hört zu und sagt: «Dann backen wir eben Pfannkuchen auf der Flamme.
Dort ist Mehl. Schnell, zieh den Kittel aus und mach einen Teig! Ich werde dann
für das Backen sorgen. Ich kann es.»
Und ich kann nicht umhin zu lachen,
als ich sehe, wie Iskariot sich verdemütigt, im Unterkleid das Mehl zu sieben,
und sich dabei einpudert.
Jesus ist nicht da, und mit ihm
fehlen Simon, Bartholomäus, Matthäus und Philippus.
«Am schlimmsten ist es heute»,
antwortet Petrus auf eine mürrische Frage Iskariots. «Doch morgen wird es schon
besser gehen und im Frühjahr wird es ganz gut gehen.»
«Im Frühjahr? Werden wir denn bis
dahin hierbleiben?» fragt Judas erschrocken.
«Warum? Ist es denn kein richtiges
Haus? Wenn es regnet, werden wir nicht naß, Trinkwasser gibt es, und auch der
Herd fehlt nicht. Was willst du mehr? Mir gefällt es hier gut, denn es riecht
nicht nach Pharisäern und Genossen.»
«Petrus, laß uns die Netze
einziehen!» sagt Andreas und zieht den Bruder mit sich fort, bevor der Streit
zwischen ihm und Iskariot ausbricht.
«Dieser Mensch kann mich nicht
leiden!» ruft Judas aus.
«Nein, das darfst du nicht sagen.
Er ist mit allen so. Doch er ist gut. Nur du bist immer unzufrieden», antwortet
Thomas, der stets guter Laune ist.
344
«Ich hatte mir etwas anderes
vorgestellt ...»
«Mein Vetter verbietet dir nicht,
etwas anderes zu suchen», sagt Jakobus des Alphäus trocken. «Ich glaube, daß wir
alle, weil wir eben dumm sind, geglaubt haben, daß es etwas anderes wäre, ihm
nachzufolgen. Aber nur, weil wir einen harten Schädel und einen großen Hochmut
haben! Er hat uns nie die Gefahr und die Mühen verheimlicht, die mit seiner
Nachfolge verbunden sind.»
Judas murmelt etwas zwischen den
Zähnen. Es antwortet ihm der andere Judas, der Thaddäus, der an einem Gestell in
der Küche arbeitet, um daraus einen kleinen Schrank zu machen. «Du hast unrecht!
Auch nach den Bräuchen hast du unrecht. Jeder Israelit ist zur Arbeit
verpflichtet und wir arbeiten. Ist dir die Arbeit eine solche Last? Ich spüre
sie nicht, denn bei ihm wird mir jede Arbeit leicht.»
«Auch ich beklage mich nicht. Und
ich bin zufrieden, wie wenn ich in einer Familie lebte», sagt Jakobus des
Zebedäus.
«Hier werden wir viel tun können
...» bemerkt Judas Iskariot spöttisch.
«Aber was willst du denn
eigentlich? Was erwartest du denn? Einen Satrapenhof? Ich erlaube dir nicht, zu
kritisieren, was mein Vetter macht! Hast du verstanden?» explodiert Thaddäus.
«Schweig, Bruder! Jesus will diese
Streitereien nicht! Sprechen wir so wenig wie möglich und arbeiten wir so viel
wie möglich. Es ist wohl besser für alle. Andererseits, wenn es Jesus nicht
gelingt, die Herzen zu wandeln, willst du es mit deinen Worten besser können?»
fragt Jakobus des Alphäus.
«Das Herz, das sich nicht ändert,
ist wohl meines, nicht wahr?» fragt Iskariot angriffslustig. Doch Jakobus
antwortet ihm nicht. Er steckt einen Nagel zwischen die Zähne, nagelt sehr
eifrig die Bretter zusammen und macht dabei einen Lärm, in dem sich das Murren
Iskariots verliert.
Es vergeht einige Zeit, dann kommt
Isaak mit Eiern und einem Korb frischer, knuspriger Brote, und Andreas bringt
gleichzeitig einen Eimer mit Fischen.
«Hier», sagt Isaak. «Der Verwalter
schickt dies und läßt fragen, ob sonst nichts fehlt. Er habe den Auftrag, euch
zu helfen.»
«Siehst du, daß wir nicht Hungers
sterben?» sagt Thomas zu Iskariot. Dann wendet er sich an Andreas: «Gib mir die
Fische, Andreas. Wie schön! Doch wie bereitet man sie zu? ... Ich weiß nicht,
wie man das macht.»
«Ich mache das schon, ich bin
Fischer», sagt Andreas, und er geht in die Ecke, um die noch lebenden Fische zu
töten und auszunehmen.
«Der Meister kommt. Er ist durchs
Dorf und die Felder gegangen. Ihr werdet sehen, wie schnell die Leute kommen. Er
hat schon einen Augenkranken geheilt. Als ich durch die Felder kam, wußten sie
es schon alle ...»
345
«Nun ja... ich, ich... es gelten
nur die Hirten... Wir haben - ich wenigstens - ein sicheres Leben aufgegeben,
und dies und das getan; aber das alles zählt nicht... !»
Isaak betrachtet Iskariot
verwundert, antwortet jedoch klugerweise nicht. Die anderen tun es ihm gleich,
doch innerlich sind sie alle erregt.
«Friede euch allen!» Jesus steht
lächelnd und gütig an der Schwelle. Es scheint, als ob bei seiner Ankunft die
Sonne heller strahlte. «Wie tüchtig ihr seid! Alle bei der Arbeit. Kann ich dir
helfen, Vetter?»
«Nein, ruhe dich aus! Ich bin
fertig.»
«Wir sind reichlich mit
Lebensmitteln versorgt. Alle wollten geben. Wenn nur alle die Herzen der
Demütigen hätten», sagt Jesus etwas traurig.
«Oh, mein Meister! Gott möge dich
segnen!» Es ist Petrus, der mit einem Bündel Holz auf den Schultern hereinkommt
und unter seiner Last hervor Jesus grüßt.
«Auch dich, Petrus, möge der Herr
segnen. Ihr habt viel gearbeitet.»
«Und noch mehr wollen wir in den
freien Stunden tun. Wir haben ein Landhaus. Wir werden ein Eden daraus machen.
Ich habe schon den Brunnen hergerichtet, damit man in der Nacht sehen kann, wo
er ist, und beim Einfüllen die Krüge nicht verliert. Und dann schau, wie tüchtig
deine Vettern sind! Alles notwendige Dinge für jemanden, der länger an einem Ort
leben muß; ich, ein Fischer, hätte es nicht fertiggebracht. Wirklich tüchtig,
auch Thomas! Er könnte sich in der Küche des Herodes anstellen lassen. Auch
Judas ist tüchtig; er hat prächtige Pfannkuchen gebacken...»
«Und umsonst, denn es gibt Brot»,
antwortet Judas verstimmt. Petrus schaut ihn an, und ich bin auf eine
gepfefferte Antwort gefaßt; doch er schüttelt nur den Kopf, bringt die Asche in
Ordnung und legt seine Pfannkuchen darauf.
«Es ist gleich alles fertig», sagt
Thomas und lacht.
«Wird er heute sprechen?» fragt
Jakobus des Zebedäus.
«Ja, zwischen der sechsten und der
neunten Stunde. Eure Gefährten haben es gesagt. So werden wir also pünktlich
essen.»
Nach einer Weile legt Johannes das
Brot auf den Tisch, stellt die Stühle zurecht, bringt die Becher und die Krüge,
und Thomas trägt gesottenes Gemüse und gebratenen Fisch herbei.
Jesus sitzt in der Mitte, opfert
auf, segnet, teilt aus, und alle essen mit Appetit.
Sie essen noch, als sich auf dem
Vorplatz schon die ersten Leute zeigen. Petrus steht auf und geht an die Tür.
«Was wollt ihr?»
«Den Meister. Wird er nicht hier
sprechen?»
«Er wird sprechen, doch jetzt ißt
er, denn er ist auch ein Mensch. Setzt euch dorthin und wartet!» Die Leute gehen
unter das einfache Dach.
346
«Es wird kalt werden und oft
regnen. Ich meine, es wäre besser, den leeren Stall zu benützen. Ich habe ihn so
gut als möglich gereinigt. Die Krippe wird die Kanzel sein.»
«Spotte nicht! Der Rabbi ist
Rabbi», sagt Judas.
«Warum Spöttereien? Wenn er in
einem Stall geboren wurde, kann er auch von einer Krippe aus predigen.»
«Petrus hat recht. Doch ich bitte
euch, liebt einander!» Jesus scheint etwas müde bei diesen Worten.
Sie beenden die Mahlzeit; Jesus
geht sofort hinaus und begibt sich zu der kleinen Gruppe.
«Warte, Meister!» ruft Petrus
hinter ihm her. «Dein Vetter hat dir einen Hocker gemacht, denn der Boden ist
dort drüben feucht.»
«Nicht nötig. Du weißt doch, daß
ich stehend spreche. Die Leute wollen mich sehen, und auch ich will sie sehen.
Es wäre besser, ihr würdet Bänke und Liegen machen. Vielleicht kommen Kranke...»
«Du denkst immer nur an die
anderen, guter Meister», sagt Johannes und küßt Jesus die Hand. Jesus geht mit
einem etwas traurigen Lächeln zu der kleinen Gruppe. Mit ihm sind alle Jünger.
Petrus, der an der Seite Jesu
steht, zieht ihn zu sich und sagt leise: «Hinter der Mauer ist die verschleierte
Frau. Ich habe sie schon frühmorgens gesehen. Sie ist uns von Bethanien aus
gefolgt. Soll ich sie wegjagen oder dalassen?»
«Lasse sie; ich habe es schon
gesagt.»
«Aber wenn sie eine Spionin ist,
wie Iskariot sagt?»
«Sie ist es nicht. Vertraue dem,
was ich sage! Laß sie in Frieden und sag den anderen nichts! Achte ihr
Geheimnis!»
«Ich habe niemand etwas gesagt,
denn ich dachte, es sei besser, zu schweigen.»
«Friede mit euch, die ihr das Wort
sucht!» beginnt Jesus. Er geht ans Ende des Schuppens und hat die Mauer des
Hauses im Rücken. Er spricht langsam zu den etwa zwanzig Personen, die auf der
Erde sitzen oder sich an die Säulen lehnen in der lauen Wärme dieses sonnigen
Novembertages.
«Der Mensch irrt in seiner
Auffassung über Leben und Tod und im Gebrauch dieser beiden Benennungen. Er
nennt "Leben" die Zeit, in der er, von der Mutter geboren, anfängt zu atmen,
sich zu ernähren, zu bewegen, zu denken und zu handeln; und er nennt "Tod" den
Augenblick, in welchem Atmung, Ernährung, Bewegung, Denken und die Tätigkeiten
aufhören und der Körper zu einer kalten, gefühllosen Hülle wird, bereit, in
einen Schoß einzugehen: in das Grab. Doch es ist nicht so. Ich will euch das
"Leben" verständlich machen und euch die für das Leben notwendigen Werke zeigen.
Das Leben beginnt nicht mit der
Existenz und endet nicht mit dem Ende des Leibes. Das Leben beginnt vor der
Geburt und hat dann kein
347
Ende mehr, denn die Seele kann
nicht sterben: das heißt, sie vergeht nicht. Sie stirbt für ihre himmlische
Bestimmung, aber sie überlebt ihre Strafe (wenn sie diese verdient hat). Für
diese Bestimmung stirbt selig, wer in der Gnade stirbt. Wenn dieses Leben von
einem Geschwür befallen wird, das den Tod für seine Bestimmung bedeutet, dauert
es in Ewigkeit in der Verdammnis und der Qual fort. Wenn es jedoch unbefleckt
bleibt, erreicht es die Vollkommenheit des Lebens, in der es ewig vollkommen und
glückselig ist wie sein Schöpfer.
Haben wir Pflichten gegen das
Leben? Ja! Es ist ein Geschenk Gottes. Jede Gabe Gottes muß sorgfältig benützt
und erhalten werden; denn es ist eine so heilige Sache wie der Geber. Würdet ihr
das Geschenk eines Königs verschleudern? Nein! Es wird den Erben weitergegeben,
und von den Erben den nächsten Erben, als Ruhm der Familie. Warum also das
Geschenk Gottes mißbrauchen? Wie benützt und bewahrt man aber dieses königliche
Geschenk? Auf welche Weise erhält man die paradiesische Blume der Seele am
Leben, um sie für den Himmel zu bewahren? Wie kann man erreichen, höher und über
die Existenz hinaus zu "leben"?
Israel hat diesbezüglich klare
Gesetze und braucht sie nur zu befolgen. Israel hat Propheten und Gerechte, die
in Wort und Tat Beispiel geben, wie die Gesetze befolgt werden sollen. Israel
hat auch seine Heiligen. Israel kann und dürfte daher nicht irren. Aber ich sehe
Flecken in den Herzen und tote Seelen überall. Daher sage ich euch: tut Buße,
öffnet eure Seelen dem Wort! Setzt das unveränderliche Gesetz in die Tat um!
Erneuert das Blut des erschöpften "Lebens", das in euch dahinsiecht, wenn es
nicht schon tot ist. Kommt zum wahren Leben, kommt zu Gott! Beweint eure Sünden.
Ruft: "Erbarmen!" Aber erhebt euch! Seid keine lebenden Toten, damit ihr morgen
keine ewig Büßenden sein müßt. Ich rede von nichts anderem als von der Art und
Weise, das Leben zu erlangen und zu bewahren. Ein anderer (der Täufer) hat zu
euch gesagt: "Tut Buße! Reinigt euch vom unreinen Feuer der Unzucht, dem Schlamm
eurer Sünden!"
Ich sage euch: Arme Freunde, laßt
uns miteinander das Gesetz betrachten. Laßt uns in ihm wieder die väterliche
Stimme des wahren Gottes hören und dann miteinander den Ewigen bitten: "Deine
Barmherzigkeit komme über unsere Herzen!"
Es ist jetzt düsterer Winter. Doch
bald kommt der Frühling. Eine tote Seele ist trauriger als ein in der Kälte
erstarrter Hain. Aber wenn Demut, Wille, Buße und Glaube euch erfüllen, so wie
der Frühling den Hain erfüllt, dann wird das Leben in euch zurückkehren, und ihr
werdet für Gott erblühen, um morgen, dem Morgen der Ewigkeit der Ewigkeiten, die
ewige Frucht des wahren Lebens zu finden.
Kommt zum Leben! Hört auf, nur zu
existieren, und fangt an zu "leben"! Der Tod wird dann nicht das "Ende", sondern
der Anfang sein. Der
348
Beginn eines Tages ohne
Sonnenuntergang, einer Freude ohne Ermüdung und Maß. Der Tod wird der Sieg
dessen sein, was vor dem Fleische war. Er wird auch der Sieg des Fleisches sein,
das zur ewigen Auferstehung berufen ist, um an diesem Leben teilzunehmen, das
ich im Namen des wahren Gottes all jenen verspreche, die das "Leben" für ihre
Seele gewollt und die Sinne und die Leidenschaften bekämpft haben, um die
Freiheit der Kinder Gottes zu genießen.
Geht! Alle Tage zu dieser Stunde
werde ich zu euch über die ewige Wahrheit sprechen. Der Herr sei mit euch!»
Die Menge zerstreut sich langsam.
Jesus geht zum einsamen Häuschen, und alles ist zu Ende.
158. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «ICH BIN DER HERR, DEIN GOTT!»
Es sind heute doppelt so viele
Leute da wie gestern, auch einige vornehme Personen unter ihnen. Manche sind auf
Eseln gekommen und nehmen ihre Mahlzeit unter dem Vordach ein, an dessen Pfähle
sie die Tiere angebunden haben. Alle erwarten den Meister.
Der Tag ist kalt, aber klar. Die
Leute reden miteinander. Die Vorlauteren erklären, wer der Meister ist und warum
er an diesem Orte spricht. Einer fragt: «Aber ist er denn größer als Johannes?»
«Nein, er ist nur anders. Johannes
- ich war beim Täufer - ist der Vorläufer und die Stimme der Gerechtigkeit.
Dieser ist der Messias und die Stimme der Weisheit und der Barmherzigkeit.»
«Wie kannst du das wissen?» fragen
viele.
«Drei ständige Jünger des Johannes
des Täufers haben es mir gesagt! Wenn ihr wüßtet! Sie haben gesehen, wie er
geboren wurde. Denkt einmal: er wurde aus dem Licht geboren. Es war ein so
starkes Licht, daß sie - sie waren Hirten - aus dem Schafstall flüchteten mit
den Tieren, die vor Schrecken verrückt geworden waren. Und sie haben gesehen,
wie ganz Bethlehem brannte. Dann sind die Engel vom Himmel herabgekommen und
haben das Feuer mit ihren Flügeln gelöscht. Er war auf die Erde gekommen als
Kind aus dem Licht geboren... Das ganze Feuer ist zu einem großen Stern
geworden.»
«Aber nein! So war es nicht!»
«So war es! Mir hat es einer
gesagt, ein Stallbursche aus Bethlehem, als ich noch ein Kind war. Jetzt, da der
Messias ein Mann geworden ist, rühmt sich der ehemalige Stallbursche damit.»
«Es war nicht so. Der Stern ist
nachher erschienen. Er ist mit den Magiern aus dem Morgenlande gekommen; von
ihnen war einer ein Verwandter
349
Salomons und daher des Messias,
denn er ist aus dem Geschlechte Davids, und David ist der Vater Salomons. Und
Salomon liebte die Königin von Saba, weil sie schön war und der Geschenke wegen,
die sie ihm brachte, und sie schenkte ihm einen Sohn, der aus Juda war, obwohl
er aus der Gegend jenseits des Nils kam.»
«Was erzählst du da? Bist du
verrückt?»
«Nein. Willst du sagen, daß es
nicht wahr ist, daß ihm der Verwandte den Weihrauch brachte, wie es unter
Königen und in seinem Stamme Brauch ist?»
«Ich weiß, wie es sich zutrug»,
sagt ein anderer. «Ich weiß es, denn Isaak ist einer der Hirten, und er ist mein
Freund. Also, das Kind wurde in einem Stall geboren und war aus dem Hause
Davids. So war es vorhergesagt.»
«Aber ist er nicht aus Nazareth?»
«Laßt mich doch reden! ... Er wurde
in Bethlehem geboren, weil er aus dem Geschlechte Davids war und es um die Zeit
des Erlasses geschah. Die Hirten haben ein Licht gesehen, wie es kein schöneres
gibt, und der kleinste von ihnen - der unschuldigste - hat als erster den Engel
des Herrn gesehen, der zu ihm mit Harfenklang in der Stimme sagte: "Der Erlöser
ist geboren. Geht und betet ihn an!" Dann haben die Engelscharen gesungen: "Ehre
sei Gott und Friede den guten Menschen." Und die Hirten haben sich auf den Weg
gemacht und ein Kind gefunden, in einer Futterkrippe zwischen einem Ochsen und
einem Esel, und die Mutter und den Vater. Sie haben es angebetet und dann alle
drei in das Haus einer guten Frau gebracht. Das Kind wuchs heran wie alle,
schön, gut und ganz Liebe. Dann kamen die Magier von jenseits des Euphrats und
des Nils, denn sie hatten einen Stern gesehen und in ihm den Stern Balaams
erkannt (Num 24,15-19). Doch das Kind konnte schon gehen. Der König Herodes
befahl es zu ermorden, weil er um sein Reich fürchtete. Doch der Engel des Herrn
hatte die Gefahr verkündet, und die Kinder von Bethlehem mußten sterben, während
er fliehen konnte, weiter als Matarea. Dann ist er nach Nazareth zurückgekehrt,
um Schreiner zu werden. Als seine Zeit gekommen war, nachdem der Täufer, sein
Vetter, ihn angekündigt hatte, begann er seine Mission und hat zuerst die Hirten
aufgesucht. Isaak hat er nach dreißigjähriger Krankheit von seiner Lähmung
geheilt... Jetzt verkündet ihn Isaak unermüdlich. So ist es!»
«Aber die drei Jünger des Täufers
haben mir genau diese Worte gesagt», verteidigt sich der erste ganz verwirrt.
«Sie sind schon wahr. Was nicht
stimmt, ist die Schilderung des Stallburschen. Warum rühmt er sich? Es wäre
besser, er würde zu den Bethlehemiten sagen, daß sie gut sein sollen. Weder in
Bethlehem noch in Jerusalem konnte er predigen.»
«Ja. Meinst du vielleicht, die
Schriftgelehrten und Pharisäer könnten
350
seine Worte lieben? Das sind doch
Schlangen und Hyänen, wie sie der Täufer nennt.»
«Ich möchte geheilt werden. Siehst
du, ich habe ein schwärendes Bein. Ich habe schrecklich gelitten, als ich auf
dem Maultier hierherkam. Doch ich hatte ihn schon in Sion gesucht; er war nicht
mehr dort ...» sagt einer.
«Sie haben ihm mit dem Tode
gedroht», sagt ein anderer.
«Diese Hunde!»
«Ja. Woher kommst du denn?»
«Von Lydda.»
«Das ist ein weiter Weg!»
«Ich, ich möchte ihm meinen Irrtum
bekennen. Ich habe es dem Täufer gesagt. Doch er hat mich so beschimpft, daß ich
davongelaufen bin. Nun fürchte ich, keine Verzeihung mehr zu erhalten...» sagt
ein anderer.
«Was hast du denn getan?»
«Etwas sehr Böses! Ihm werde ich es
bekennen. Was meint ihr, wird er mich verfluchen?»
«Nein. Ich habe ihn in Bethsaida
reden hören. Ich war zufällig dort. Welche Worte! Er hat von einer Sünderin
gesprochen. Beinahe wollte ich sie gewesen sein, um solcher Worte würdig zu
sein», sagt ein vornehmer Greis.
«Da kommt er!» rufen mehrere
Stimmen zugleich.
«Barmherzigkeit! Ich schäme mich!»
schreit der Schuldvolle und will fliehen.
«Wohin fliehst du, mein Sohn? Ist
dein Herz so schwarz, daß du das Licht hassen und vor ihm flüchten mußt? Hast du
so schwer gesündigt, daß du vor mir Angst hast? Vor mir, der Vergebung? Welche
Sünde hast du denn begangen? Nicht einmal wenn du Gott getötet hättest, müßtest
du fürchten, wenn du nur wahre Reue im Herzen hast. Weine nicht! Oder komme
vielmehr hierher und laß uns miteinander weinen!»
Jesus hatte die Hand erhoben, um
den Fliehenden aufzuhalten, ergreift ihn nun fest, wendet sich den Wartenden zu
und sagt: «Nur einen Augenblick, um dieses Herz zu erleichtern! Dann komme ich
zu euch.» Er entfernt sich längs des Hauses und stößt an der Ecke auf die
verschleierte Frau an ihrem Horchposten. Jesus schaut sie einen Augenblick fest
an, geht dann noch zehn Schritte weiter und bleibt stehen: «Was hast du getan,
mein Sohn?»
Der Mann fällt auf die Knie. Er ist
ungefähr fünfzig Jahre alt. Ein von vielen Lastern zerstörtes und von einer
geheimen Qual verwüstetes Gesicht. Er breitet die Arme aus und ruft: «Um mit
Weibern das ganze väterliche Erbe verprassen zu können, habe ich meine Mutter
und meinen Bruder getötet. Seitdem habe ich keine Ruhe mehr... Meine Speise...
Blut! Mein Schlaf... ein Alptraum! Meine Lust... ach, in den Armen der Dirnen,
in ihrem Schrei der Unzucht spürte ich den kalten Leichnam
351
meiner Mutter und das Röcheln
meines vergifteten Bruders. Verflucht seien die Dirnen, diese Schlangen, Medusen
und unersättlichen Muränen... mein Verderben, mein Ruin!»
«Verfluche nicht! Ich verfluche
dich nicht.»
«Du verdammst mich nicht?»
«Nein! Ich beweine deine Schuld und
nehme sie auf mich! Schwer ist sie! Sie zerreißt mir die Glieder. Aber ich nehme
sie fest in meine Arme, um sie dir abzunehmen und auf mich zu laden... Und ich
verzeihe dir! Ja, ich vergebe dir deine große Schuld.» Jesus legt die Hände auf
das Haupt des schluchzenden Mannes und betet: «Vater, auch für ihn werde mein
Blut vergossen. Jetzt fließen die Tränen, und mein Gebet dringt zu dir, Vater.
Verzeihe ihm, denn er bereut. Dein Sohn, dem das Urteil über alles anvertraut
ist, will es so.» Er verbleibt noch einige Augenblicke in dieser Haltung; dann
beugt er sich, zieht den Mann an sich und sagt zu ihm: «Deine Schuld ist
verziehen! Es liegt nun an dir, was von deinen Verbrechen überbleibt, mit einem
Leben der Buße zu sühnen.»
«Gott hat mir verziehen? Und die
Mutter? Und der Bruder?»
«Wenn Gott verziehen hat, dann ist
dir von allen verziehen worden. Gehe und sündige nicht mehr!»
Der Mann weint noch stärker und
küßt ihm die Hand. Jesus überläßt ihn seinen Tränen. Er geht zum Haus. Die
verschleierte Frau macht eine Bewegung, als wolle sie ihm entgegengehen; doch
dann senkt sie das Haupt und bewegt sich nicht. Jesus geht an ihr vorbei, ohne
sie anzusehen.
Er ist nun an seinem Platz und
spricht: «Eine Seele ist zum Herrn zurückgekehrt. Seine Allmacht sei gepriesen!
Sie entreißt die von ihm erschaffenen Seelen den satanischen Schlingen, und
führt sie auf den Weg des Himmels zurück. Warum hatte sich diese Seele verirrt?
Weil sie die Gebote aus den Augen verloren hatte.
Es steht geschrieben (Ex 19; 20),
daß der Herr sich auf Sinai kundgetan hat in seiner ganzen schrecklichen Macht,
um mit dieser zu sagen: "Ich bin Gott. Dies ist mein Wille! Und dies sind die
Blitze, die ich bereithalte für alle, die gegen den Willen Gottes aufbegehren."
Bevor er so sprach, verlangte er, daß niemand aus dem Volk emporsteige, um den,
der ist, anzuschauen, und daß auch die Priester sich reinigten, bevor sie sich
in die Nähe Gottes begaben, um nicht erschlagen zu werden. Und dies, weil es die
Zeit der Gerechtigkeit und der Prüfungen war. Die Himmel waren verschlossen wie
von einem Stein über dem Geheimnis des Himmels und dem Zorn Gottes, und nur die
Blitze der Gerechtigkeit fielen auf die schuldigen Söhne nieder. Aber jetzt ist
es nicht mehr so! Jetzt ist der Gerechte gekommen, um die Gerechtigkeit zu
erfüllen, und die Zeit ist da, in der das göttliche Wort ohne Blitze und ohne
Schranken direkt zu den Menschen spricht, um ihnen die Gnade und das Leben zu
geben.
352
Das erste Wort des Vaters und Herrn
ist: "Ich bin der Herr, dein Gott!" Es gibt keinen Augenblick des Tages, an dem
dieses Wort nicht ertönt und nicht kundgetan wird durch die Stimme und den
Finger Gottes. Wo? Überall! Alles spricht unaufhörlich davon. Vom Gras bis zu
den Sternen, vom Wasser bis zum Feuer, von der Wolle bis zur Nahrung, vom Licht
bis zur Finsternis, von der Gesundheit bis zur Krankheit, vom Reichtum bis zur
Armut, alles bekundet: "Ich bin der Herr! Durch mich erhaltet ihr alles! Ein
Gedanke von mir gibt es dir, ein anderer Gedanke von mir nimmt es dir; es gibt
keine Heeresmacht noch Verteidigung, die dich von meinem Willen abschirmen
könnten!" Er ruft in der Stimme des Windes, er singt im Plätschern des Wassers,
er duftet im Wohlgeruch der Blumen und er spaltet die Rücken der Berge; er
flüstert, spricht, ruft und schreit in den Gewissen: "Ich bin der Herr, dein
Gott!"
Vergeßt es nie! Verschließt eure
Augen, eure Ohren nicht, und unterdrückt nicht das Gewissen, um dieses Wort
nicht zur hören! Es ist da, und es kommt der Augenblick, da es vom Feuerfinger
Gottes an die Wand des Gastsaales, auf die stürmische Welle, auf die Lippen des
lächelnden Kindes oder die Todesblässe des sterbenden Greises, auf die duftende
Rose oder das übelriechende Grab geschrieben wird. Es kommt auch der Augenblick,
wo es im Rausche des Weines und der Lust, aus den Rädern der Geschäftigkeit und
der Ruhe der Nacht, bei einem einsamen Spaziergang, seine Stimme erhebt und
sagt: "Ich bin der Herr, dein Gott!" Und weder das Fleisch, das gierig küßt,
noch das Mahl, das du unmäßig verzehrst, noch das Gold, das du zusammenraffst,
noch das Bett der Trägheit: kein Stillesein und kein Schlaf vermag, es zum
Schweigen zu bringen.
"Ich bin der Herr, dein Gott", der
Begleiter, der dich nicht verläßt, der Gast, den du nicht abweisen kannst! Bist
du gut? Dann ist auch der Gast und Begleiter dein guter Freund. Bist du
verdorben und schuldbeladen, dann wird der Gast und Begleiter zum erzürnten
König und gibt keinen Frieden. Er verläßt dich nicht, er läßt dich nicht los.
Nur den Verdammten ist es möglich, sich von Gott zu trennen. Aber diese Trennung
ist eine unaufhörliche Qual, die ewig dauert. "Ich bin der Herr, dein Gott", und
er fügt hinzu: "der dich hinausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus dem Hause
deiner Knechtschaft." Oh, wie wahr sind diese Worte gerade jetzt! Aus welch
einem Ägypten führt er dich heraus, hin zum verheißenen Land, mit dem nicht
dieser Erdenort, sondern der Himmel gemeint ist! Das ewige Reich des Herrn, wo
es weder Hunger noch Durst, weder Tod
noch Kälte gibt, sondern alles nur
Seligkeit und Friede ist, und jeder Geist von Freude und Frieden gesättigt sein
wird.
Vom wahren Sklaventum befreit er
dich jetzt. Er ist der Befreier! Ich bin es! Ich komme, eure Ketten zu
zerbrechen. Jeder menschliche Machthaber wird den Tod kennenlernen, und durch
seinen Tod werden die versklavten Völker befreit. Doch Satan stirbt nicht. Er
ist ewig. Er ist der
353
Bezwinger, der euch in Ketten
gelegt hat, um euch hinzuschleppen, wohin er will. Die Sünde ist in euch. Und
die Sünde ist die Kette, an welcher Satan euch hält. Ich komme, die Kette zu
zerbrechen. Im Namen des Vaters komme ich, und weil ich es wünsche. Dadurch
erfüllt sich die Verheißung, die nicht verstanden wird: "Ich führte dich aus
Ägypten heraus und entriß dich dem Sklaventum."
Das findet jetzt seine spirituelle
Erfüllung. Der Herr, euer Gott, entreißt euch dem Lande des Götzen, der die
Stammeltern verführt hat. Er entreißt euch der Sklaverei der Schuld, bekleidet
euch wieder mit der Gnade und läßt euch in sein Reich ein.
Wahrlich, ich sage euch: wer zu mir
kommen will, wird die Stimme des Allerhöchsten voll väterlicher Zärtlichkeit im
glücklichen Herzen hören können. "Ich bin der Herr, dein Gott, und ich ziehe
dich, befreit und glücklich, an mich."
Kommt! Wendet euer Herz, euer
Antlitz, euer Gebet, euren Willen zum Herrn! Die Stunde der Gnade ist gekommen.»
Jesus hat geendet. Er geht segnend
an der Menge vorüber, streichelt eine Greisin und ein dunkelhaariges, kleines,
fröhlich lachendes Mädchen.
«Mache mich gesund, Meister! Ich
bin schwer krank», sagt der Mann mit dem schwärenden Bein.
«Zuerst die Seele, zuerst die
Seele! Tue Buße!»
«Gib mir die Taufe wie Johannes!
Ich kann nicht zu ihm gehen, denn ich bin krank.»
«Komm!» Jesus geht zum Fluß, der
jenseits zweier großer Wiesen fließt und von einem Gebüsch verdeckt ist. Er legt
die Sandalen ab, und der Mann, der sich mit seinen Krücken an die Stelle
geschleppt hat, tut es ihm nach. Sie gehen zum Ufer; Jesus formt seine beiden
Hände zur Schale, schöpft Wasser und gießt es auf das Haupt des Mannes, der im
Wasser steht.
«Nimm nun die Binde ab!» ordnet
Jesus an, während er hinauf und zurück zum Pfad geht.
Der Mann folgt ihm. Das Bein ist
geheilt. Die Menge schreit ihr Erstaunen.
«Ich auch!»
«Ich auch!»
«Auch wir wollen deine Taufe!»
rufen sie.
Jesus ist schon auf halbem Weg. Er
wendet sich um und sagt: «Morgen! Nun geht und seid gut! Der Friede sei mit
euch!»
Alles ist zu Ende; Jesus kehrt ins
Haus zurück, in die Küche, in der es schon dunkel ist, obwohl es die ersten
Stunden am Nachmittag sind.
Die Jünger umringen ihn. Petrus
fragt: «Der Mann, den du mit dir hinter das Haus genommen hast, was hatte er?»
354
«Der Reinigung bedurfte er.»
«Er ist nicht zurückgekommen. Er
hat nicht um die Taufe gebeten.»
«Er ist dahin gegangen, wohin ich
ihn gewiesen habe.»
«Wohin?»
«Zum Sühnen, Petrus.»
«In den Kerker?»
«Nein, zum Sühnen für den Rest
seines Lebens.»
«Er reinigt sich also nicht mit dem
Wasser?»
«Auch die Tränen sind Wasser.»
«Das ist wahr. Nun, da du dieses
Wunder gewirkt hast, wer weiß, wie viele noch kommen werden... Heute waren es
schon doppelt so viele...»
«Ja, wenn ich alles tun sollte, ich
könnte es nicht. Ihr werdet taufen. Zuerst einer, dann zu zweit, zu dritt, zu
vielen. Ich werde predigen und die Kranken und Schuldbeladenen heilen.»
«Wir sollen taufen? Oh! Ich bin
dessen nicht würdig. Nimm diese Aufgabe von mir, Herr! Vielmehr habe ich es
nötig, getauft zu werden!»Petrus kniet nieder und fleht ihn an.
Jesus neigt sich zu ihm und sagt:
«Gerade du wirst als erster taufen. Von morgen an.»
«Nein, Herr! Wie soll ich es tun,
da ich schwärzer bin als der Kamin dort?»
Jesus lächelt über die demütige
Aufrichtigkeit des Apostels, der noch immer kniet und dabei seine großen
gefalteten Fischerhände auf die Knie Jesu gelegt hat. Er küßt ihn auf die Stirn,
am graumelierten Ansatz des wilden, krausen Haares. «Hier, ich taufe dich mit
einem Kuß. Bist du nun zufrieden?»
«Ich werde sofort eine weitere
Sünde begehen, um noch einen Kuß zu bekommen.»
«Nein, so nicht! Man spottet Gottes
nicht und mißbraucht seine Gnaden nicht.»
«Gibst du mir keinen Kuß?
Irgendeine Sünde habe ich doch sicher auch», sagt Iskariot.
Jesus schaut ihn eindringlich an.
Sein Auge wechselt vom Licht der Freude, das es klar machte, solange er mit
Petrus sprach, zu einer strengen Dunkelheit, ich möchte sagen Müdigkeit. Dann
sagt er: «Ja, auch dir. Komm! Ich will gegen niemand ungerecht sein. Sei gut,
Judas! Wenn du nur den Willen dazu hättest! ... Du bist jung. Ein ganzes Leben
liegt vor dir, um immer höher zu steigen bis zur Vollkommenheit der Heiligkeit»,
und er küßt ihn.
«Nun bist du an der Reihe, Simon,
mein Freund. Und du, Matthäus, mein Sieg. Und du, weiser Bartholomäus. Und du,
getreuer Philippus. Und du, Thomas, mit deinem heiteren Sinn. Komm, Andreas, mit
deinem tätigen Schweigen. Und du, Jakobus, meine erste Begegnung. Und du,
355
Freude deines Meisters. Und du,
Judas, Gefährte der Kindheit und der Jugendzeit. Und du, Jakobus, der mich an
den Gerechten erinnert in deinem Aussehen und deinem Herzen. Alle, alle... doch
denkt daran: meine Liebe umfaßt vieles; aber ich brauche euren guten Willen. Von
morgen an werdet ihr, in eurem Leben als meine Jünger, einen Schritt voran
machen. Doch denkt daran, jeder Schritt nach vorne ist eine Ehre und eine
Verpflichtung.»
«Meister, eines Tages hast du zu
mir, Johannes, Jakobus und Andreas gesagt, daß du uns lehren werdest, zu beten.
Ich meine, wenn wir beten könnten, so wie du betest, wären wir sicher fähiger
und würdiger für unsere Aufgabe» sagt Petrus.
«Ich habe dir damals geantwortet:
"Wenn ihr genügend unterwiesen seid, werde ich euch das erhabenste Gebet lehren,
euch 'mein' Gebet geben."
Aber auch es wirkt nicht, wenn es
nur mit dem Munde gebetet wird. Erhebet euch darum mit der Seele und dem Willen
zu Gott. Das Gebet ist eine Gabe Gottes, die Gott dem Menschen schenkt, und die
der Mensch Gott wieder darbietet.»
«Wie? Sind wir noch nicht würdig zu
beten? Ganz Israel betet...» sagt Iskariot.
«Ja, Judas; doch du siehst an
seinen Werken, wie Israel betet. Ich will aus euch keine Verräter machen. Wer
nur äußerlich betet und sich innerlich gegen das Gute widersetzt, ist ein
Verräter!»
«Und wann läßt du uns Wunder
wirken?» fragt wieder Iskariot.
«Wir? Wir und Wunder wirken? Ewige
Barmherzigkeit! Wir trinken immerhin reines Wasser. Wir und Wunder? Aber Knabe,
du phantasierst wohl?» Petrus ist entsetzt, erregt, ganz außer sich.
«Er hat es uns in Judäa gesagt. Ist
es vielleicht nicht wahr?»
«Ja, es ist wahr. Ich habe es
gesagt. Und ihr werdet es tun. Aber solange in euch zuviel Fleisch ist, werdet
ihr keine Wunder wirken.»
«Wir werden fasten», sagt Iskariot.
«Das nützt nichts. Unter Fleisch
verstehe ich die schlechten Leidenschaften, den dreifachen Hunger, und hinter
dieser heimtückischen Dreiheit den Schweif ihrer Laster... Gleich Kindern einer
entwürdigten Bigamie gebiert die Hoffart des Geistes mit der Gier des Fleisches
und der Herrschsucht alles Böse, das im Menschen und in der Welt vorhanden ist.»
«Deinetwegen haben wir alles
verlassen», entgegnet Judas.
«Aber nicht euch selbst.»
«Müssen wir denn sterben? Wir
werden es tun, nur um mit dir zusammensein zu können. Ich wenigstens...»
«Nein, ich verlange nicht euren
körperlichen Tod. Ich verlange, daß die animalischen und satanischen Neigungen
in euch absterben, und sie sterben
356
nicht, solange das Fleisch
befriedigt sein will und Lüge, Stolz, Zorn, Hochmut, Gaumenlust, Geiz und
Habgier in euch sind.»
«Wir sind zu menschlich, trotz
deiner göttlichen Nähe», murmelt Bartholomäus.
«Und er ist immer so heilig
gewesen, wir können es bestätigen», versichert der Vetter Jakobus.
«Er weiß, wie wir sind... Wir
dürfen uns dadurch nicht niederdrücken lassen. Wir müssen aber sagen: "Gib uns
Tag für Tag die Kraft, dir zu dienen! " Wenn wir sagen würden: "Wir sind ohne
Sünde", sind wir Betrogene und Betrüger. Wessen wohl? Unsere eigenen; denn wir
wissen, was wir sind, auch wenn wir es nicht sagen wollen. Kann man Gott
betrügen? Aber wenn wir sagen: "Wir sind schwach und Sünder, hilf uns mit deiner
Kraft und deiner Vergebung!", dann wird Gott uns nicht enttäuschen und uns in
seiner Güte und Gerechtigkeit vergeben und unsere armen Herzen von der Bosheit
reinigen.»
«Selig bist du, Johannes; denn die
Wahrheit spricht auf deinen Lippen, die den Duft der Unschuld haben und nur die
anbetungswürdige Liebe küssen», sagt Jesus; dabei erhebt er sich und zieht den
Lieblingsjünger an sich, der von seiner dunklen Ecke her gesprochen hat.
159. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST KEINE GÖTTER NEBEN MIR HABEN»
«Es steht geschrieben: "Du sollst
keine Götter neben mir haben. Du sollst dir keinerlei Statue oder Bildnis machen
von dem, was im Himmel oder auf der Erde oder in den Wassern unter der Erde ist.
Du sollst solche Dinge nicht anbeten noch ihnen Ehre erweisen. Ich bin der Herr,
dein Gott, mächtig und eifersüchtig. Ich bestrafe die Bosheit der Väter an den
Söhnen bis ins dritte und vierte Geschlecht, wenn sie mich hassen, und schenke
tausendfaches Erbarmen denen, die mich lieben und meine Gebote befolgen..."» Die
Stimme Jesu dröhnt im überfüllten Raum, denn es regnet, und alle haben sich
unter das Dach geflüchtet. In der ersten Reihe befinden sich vier Kranke: ein
Blinder, der von einer Frau geführt wird, ein ganz mit Schorf bedecktes Kind,
eine gelb aussehende, an Gelbsucht oder Malaria leidende Frau, und der vierte
ist auf einer Bahre gebracht worden.
Jesus spricht und lehnt sich dabei
an die leere Futterkrippe. Johannes, die beiden Vettern, sowie Matthäus und
Philippus sind bei ihm, während Judas und Petrus, Bartholomäus, Jakobus und
Andreas am Eingang stehen und dafür sorgen, daß alle, die noch ankommen,
eintreten können. Thomas und Simon gehen unter den Leuten umher, gebieten den
Kindern zu schweigen, sammeln Almosen ein und hören Fragen an.
357
«"Du sollst keine Götter neben mir
haben!" Ihr habt gehört, daß Gott mit seinem Blick und seiner Stimme
allgegenwärtig ist. Wir sind immer unter seinen Augen. Eingeschlossen in einer
Kammer oder in der Menschenmenge des Tempels, immer sind wir unter seinen Augen:
verborgene Wohltäter, die auch dem Beschenkten das Antlitz nicht zeigen, und
Mörder, die den Wanderer an einer einsamen Kurve überfallen und töten, alle sind
wir gleicherweise unter seinen Augen.
Unter seinen Augen ist der König
inmitten seines Hofstaates; der Soldat auf dem Schlachtfeld; der Levit im Innern
des Tempels; der über seine Bücher gebeugte Gelehrte; der Landmann auf seiner
Scholle; der Händler an seiner Theke; die Mutter, die sich über die Wiege neigt;
die Braut im Brautgemach; die Jungfrau in der Stille der väterlichen Wohnung;
das Kind in der Schule; der Greis in seiner Sterbekammer... alle sind sie unter
seinen Augen und ebenfalls alle Werke des Menschen.
Alle menschlichen Handlungen!
Schreckliches Wort! Und tröstliches Wort! Schrecklich, wenn die Werke sündhaft
sind; tröstlich, wenn sie heilig sind! Das Wissen um Gottes Gegenwart ist Zügel
bei der bösen Tat, Hilfe bei der guten Tat. Gott sieht, wenn ich gut handle. Ich
weiß, daß er nicht vergißt, was er gesehen hat. Ich glaube, daß er die guten
Taten belohnt. Daher bin ich sicher, diesen Lohn zu erhalten, und auf diese
Sicherheit verlasse ich mich. Sie wird mir ein ruhiges Leben und einen
friedlichen Tod geben, denn im Leben und im Sterben wird meine Seele vom
Sternenschein der Freundschaft Gottes getröstet. So denkt, wer Gutes tut. Doch
warum denkt, wer Böses tut, nicht daran, daß unter den verbotenen Handlungen die
Götzendienste sind? Warum sagt er nicht: "Gott sieht, daß ich heiligen Dienst
vortäusche und einen lügnerischen Götzen oder falsche Götter anbete, denen ich
einen den Menschen verborgenen Altar errichtet habe, der aber Gott bekannt ist?"
Welche Götter, werdet ihr fragen,
wenn nicht einmal im Tempel ein Bildnis Gottes ist? Was für ein Gesicht haben
diese Götter, wenn es unmöglich ist, ein Bild des wahren Gottes anzufertigen?
Ja, es ist unmöglich, sein Bild zu machen; denn er ist der Vollkommene, der
Reinste und kann von den Menschen nicht in würdiger Weise dargestellt werden.
Nur der Geist ahnt seine unkörperliche und unerreichbare Schönheit, hört seine
Stimme und erfreut sich der Liebkosung, wenn er sich in einen seiner Heiligen
ergießt, den er göttlicher Berührung für würdig erachtet. Doch das Auge, das
Gehör und die Hand des Menschen können nicht sehen, hören und berühren und daher
auch nicht mit dem Klang der Zither oder mit Hammer und Meißel in Marmor
darstellen, was der Herr ist.
O Glückseligkeit ohne Ende, wenn
die Geister der Gerechten Gott sehen werden. Der erste Blick wird die Morgenröte
der Glückseligkeit sein, die für alle Ewigkeit eure Begleiterin sein wird. Was
er aber nicht für den wahren Gott tun kann, macht der Mensch für die verlogenen
Götter.
358
Einer errichtet der Frau einen
Altar, der andere dem Gold, der dritte der Macht, noch ein anderer der
Wissenschaft und wieder einer militärischem Triumph. Der eine betet den
Mächtigen an, der seiner Natur ähnlich, doch im Willen oder Glück überlegen ist;
der andere betet sich selbst an und sagt: "Niemand ist mir gleich." Das sind
Götter von Personen, die zum Volke Gottes gehören.
Wundert euch nicht über die Heiden,
die Tiere, Reptilien oder Sterne anbeten! Wie viele Reptilien, wie viele Tiere
und erloschene Sterne werden in euren Herzen angebetet! Die Lippen sagen
verlogene Worte, um zu schmeicheln, zu besitzen, zu verderben. Sind es nicht
Gebete verborgenen Götzendienstes? Die Herzen brüten Rachegedanken, Gedanken des
Betrügens und der Unzucht. Ist es nicht Götzendienst, wenn man den Genuß, das
Geld, die Gier und das Böse anbetet?
Es steht geschrieben: "Du sollst
deinen Gott allein anbeten, den wahren, den einzigen, den ewigen Gott." Es steht
geschrieben: "Ich bin der starke und eifersüchtige Gott!"
Stark: keine andere Kraft ist
gewaltiger als die seine. Der Mensch ist frei in seinem Tun. Satan ist frei zu
versuchen. Aber wenn Gott sagt: "Genug!" dann kann der Mensch nicht mehr
schlecht handeln, und Satan kann nicht mehr versuchen. Er wird in seine Hölle
geworfen, niedergeschlagen infolge seines Übermaßes seiner bösen Taten; denn es
gibt Grenzen, die zu überschreiten Gott nicht erlaubt.
Eifersüchtig: Worauf? Welche Art
von Eifersucht ist das? Die armselige Eifersucht der kleinen Menschen? Nein!
Vielmehr die heilige Eifersucht Gottes auf seine Kinder. Die gerechte
Eifersucht, die liebende Eifersucht. Er hat euch erschaffen. Er liebt euch. Er
will euch. Er weiß, was euch schadet. Er kennt, was dazu treibt, euch von ihm zu
trennen. Und er ist eifersüchtig auf den, der sich zwischen den Vater und seine
Söhne schiebt und sie ablenkt von der einzigen Liebe, die Heil und Friede ist:
Gott! Ihr müßt diese erhabene Eifersucht zu verstehen suchen, die nicht
kleinlich und grausam und keine Kerkermeisterin ist. Die vielmehr unendliche
Liebe, unendliche Güte und Freiheit ohne Grenzen ist; die sich auf das Geschöpf
bezieht, um es an sich zu ziehen, um es in der Ewigkeit an sich und an seiner
Unendlichkeit teilhaben zu lassen. Ein guter Vater will sich an seinem Reichtum
nicht allein erfreuen, sondern möchte, daß sich seine Söhne mit ihm daran
erfreuen. Im Grunde hat er ihn mehr für seine Kinder als für sich selbst
angehäuft. Ebenso Gott. Aber er legt in diese Liebe und diesen Wunsch die
Vollkommenheit, die allen seinen Werken eigen ist.
Enttäuscht den Herrn nicht! Er
verheißt Strafe für die Schuldigen und die Kinder der schuldigen Kinder. Gott
lügt nie in seinen Verheißungen. Doch verliert nicht euren Mut, o Menschenkinder
und Kinder Gottes! Hört und freut euch der anderen Verheißung: "Und ich werde
Barmherzigkeit
359
walten lassen bis zu tausendmal für
alle, die mich lieben und meine Gebote beobachten."
Bis zur tausendsten Generation der
Guten und bis zur tausendsten Schwäche der armen Menschenkinder, welche nicht
aus Bosheit fallen, sondern infolge der Bosheit und der Schlingen Satans. Mehr
noch. Ich sage euch, daß er euch die Arme öffnet, wenn ihr mit reuigem Herzen
und einem in Tränen gereinigten Antlitz sagt: "Vater, ich habe gesündigt. Ich
weiß es. Ich verdemütige mich und bekenne es vor dir. Verzeihe mir! Deine
Vergebung wird meine Kraft sein, um zurückkehren zu können und das wahre Leben
zu leben. "
Fürchtet euch nicht! Bevor ihr aus
Schwäche sündigt, weiß der Vater, daß ihr sündigen werdet. Aber sein Herz
verschließt sich nur, wenn ihr im Sündigen verharrt und sündigen wollt und so
aus einer bestimmten Sünde oder aus vielen Sünden eure abscheulichen Götter
macht. Zerschlagt jedes Götzenbild, schafft Platz dem wahren Gott! So wird er
mit seiner Herrlichkeit niedersteigen und euer Herz heiligen, wenn er sich
allein in ihm sieht.
Gebt Gott seine Wohnstatt wieder.
Sie ist nicht in den steinernen Tempeln, sie ist im Herzen der Menschen. Reinigt
seine Schwelle, befreit das Innere von allem unnützen und schuldvollen Kram! Für
Gott allein! Das Herz eines Menschen, in welchem Gott wohnt, ist vergleichbar
mit dem Paradiese; es ist das Herz eines Menschen, dessen Liebe seinen
göttlichen Gast lobpreist.
Macht aus allen euren Herzen einen
Himmel! Beginnt das Zusammenwohnen mit dem Allerhöchsten! In eurem ewigen Morgen
wird es vollkommen werden in Macht und Freude. Aber schon wird es die verzückte
Verwunderung Abrahams, Jakobs und Moses' finden. Denn es wird nicht mehr die von
Blitzen umzuckte, schreckensvolle Begegnung mit dem Allmächtigen sein, sondern
das Verbleiben mit dem Vater und Freund, der herniedersteigt, um zu sagen:
"Meine Freude ist es, unter den Menschen zu weilen. Du machst mich glücklich!
Ich danke dir, mein Kind!"»
Die Menge, nun mehr als hundert,
erwacht langsam aus ihrer Verzückung. Die einen beginnen zu weinen, andere zu
lächeln, in derselben Hoffnung auf die Freude. Ein mächtiger Seufzer geht durch
die Reihen, und dann eine Art erlösender Schrei: «Sei gepriesen! Du öffnest uns
den Weg des Friedens!»
Jesus lächelt und antwortet: «Der
Friede ist in euch, wenn ihr von heute an dem Guten folgt.»
Dann geht er zu den Kranken und
legt dem Kind, dem Blinden und der gelbsüchtigen Frau die Hand auf; und er neigt
sich über den Gelähmten und sagt: «Ich will!» Der Mann schaut ihn an und ruft
dann: «Die Hitze im Körper ist erloschen!» und er springt auf die Füße, so wie
er ist, bis sie ihm die Decken des Bettes überwerfen, während die Mutter das
Kind, das
360
nun ohne Ausschlag ist, aufnimmt
und der Blinde die Augen öffnet und schließt, infolge der ungewohnten Berührung
mit dem Licht. Die Frauen schreien: «Dina ist nicht mehr gelb wie der wilde
Hahnenfuß!»
Die Erregung hat den Höhepunkt
erreicht. Die einen schreien, die anderen segnen, wieder andere drängen, um zu
sehen, und noch andere möchten hinausgehen, um so schnell als möglich alles im
Dorf zu erzählen. Jesus wird von allen Seiten aufgehalten. Petrus sieht, daß sie
ihn beinahe erdrücken, und ruft: «Meine Freunde! Man erdrückt den Meister! Los,
schaffen wir Platz!» und mit einer wahren Ellbogengymnastik und einigen
Fußtritten in die Waden gelingt es den Zwölfen, Platz zu schaffen und Jesus zu
befreien und ihn hinauszuführen. «Morgen werde ich vorsorgen», sagt er. «Du an
der Türe und die anderen im Hintergrund. Haben sie dir weh getan?»
«Nein.»
«Sie schienen alle verrückt zu
sein. Welch ein Benehmen!»
«Laß sie gewähren! Sie waren
glücklich, und ich mit ihnen. Geht und tauft diejenigen, welche die Taufe
wünschen! Ich gehe ins Haus. Du, Judas, gibst mit Simon den Armen das Almosen.
Alles! Wir haben viel mehr als es recht ist für Apostel des Herrn. Geh, Petrus,
geh! Fürchte nicht, zuviel zu geben. Ich werde dich beim Vater rechtfertigen,
denn ich befehle es dir. Lebt wohl, Freunde!»
Jesus zieht sich müde und in
Schweiß ins Haus zurück, während jeder Jünger seiner ihm zugeteilten Aufgabe
unter den Pilgern nachgeht.
160. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST MEINEN NAMEN NICHT UNNÜTZ AUSSPRECHEN»
Die Jünger sind alle aufgeregt. Sie
gleichen einem aufgescheuchten Bienenschwarm, so erregt sind sie. Sie reden,
blicken hinaus nach allen Richtungen. Jesus ist nicht da. Schließlich beraten
sie über das, was sie bewegt, und beschließen, was Petrus nun Johannes befiehlt:
«Geh und suche den Meister! Er ist im Wald am Fluß. Sag ihm, er möge gleich
kommen oder sagen, was zu tun ist.»
Johannes läuft im Galopp davon.
Iskariot sagt: «Ich verstehe nicht, warum so eine Aufregung und soviel
Unhöflichkeit! Ich wäre hingegangen und hätte ihn mit allen Ehren willkommen
geheißen. Sein Besuch ist eine Ehre für uns. Also...»
«Ich weiß nichts. Er wird
verschieden von seinem Blutsverwandten sein; ... Aber, wer mit Hyänen zusammen
ist, nimmt ihren Geruch und ihren Instinkt an. Übrigens, du wolltest die Frau
wegjagen... Paß auf! Der
361
Meister will es nicht, und ich bin
zu ihrem Schutz aufgestellt. Wehe, wenn du sie anrührst! Ich bin nicht der
Meister. Nur damit du es weißt!»
«Wer ist sie denn? Die schöne
Herodias vielleicht?»
«Sei nicht albern!»
«Du bist es, der mich so tun läßt.
Du hast um sie eine königliche Wache aufgezogen, als wäre sie eine Fürstin...»
«Der Meister hat mir gesagt: "Sorge
dafür, daß sie nicht gestört wird, und achte sie!" Ich tue es.»
«Aber wer ist sie? Weißt du es?»
fragt Thomas.
«Ich nicht.»
«Los, sag schon! Du weißt es»,
drängen mehrere.
«Ich schwöre euch, daß ich es nicht
weiß. Der Meister weiß es bestimmt. Doch ich weiß es nicht.»
«Man muß ihn durch Johannes fragen
lassen. Ihm sagt er alles.»
«Warum? Was ist an Johannes
Besonderes? Ist dein Bruder ein Gott?»
«Nein, Judas! Er ist unser Bester.»
«Ihr könnt euch die Mühe sparen»,
sagt Jakobus des Alphäus. «Gestern hat mein Bruder sie gesehen, als er mit dem
Fisch, den ihm Andreas gegeben hatte, vom Fluß zurückkam. Er war es, der Jesus
gefragt hat, und Jesus hat geantwortet: "Sie hat kein Gesicht. Es ist eine
Seele, die Gott sucht. Für mich ist sie nichts anderes, und ich will, daß dies
auch für euch gelte!" Er hat dieses "will" auf eine Art ausgesprochen, daß ich
euch rate, nicht darauf zu bestehen, weiter zu fragen.»
«So werde ich zu ihr hingehen,»
sagt Judas von Kerioth.
«Versuche es, wenn du dazu fähig
bist», sagt Petrus rot wie ein Hahnenkamm.
«Verrätst du mich bei Jesus?»
«Ich überlasse dieses Handwerk
denen vom Tempel. Wir vom See verdienen unser Brot mit Arbeit und nicht mit
Anzeigerei. Ihr braucht nie Angst zu haben, von Simon des Jonas ausspioniert zu
werden. Aber du sollst mich nicht reizen und dir nicht erlauben, dem Meister
gegenüber ungehorsam zu sein; denn ich bin da ...»
«Und wer bist du? Ein armer Mann
wie ich.»
«Ja, mein Herr. Sogar noch ärmer,
noch dümmer und noch geringer als du. Ich weiß das und schäme mich nicht. Ich
würde mich schämen, wenn mein Herz wie das deine wäre. Doch der Meister hat mir
diese Aufgabe übertragen und ich erfülle sie.»
«Wie, mein Herz? Und was ist mit
meinem Herzen, daß es dich so ekelt? Sprich, klage an, beleidige mich ...»
«Jetzt aber Schluß!» fährt der
Zelote auf, und mit ihm Bartholomäus. «Mach Schluß, Judas! Hab Achtung vor den
grauen Haaren des Petrus!»
«Ich respektiere alle, aber ich
will wissen, was in mir ist...»
«Darauf antworte ich dir
sogleich... Laßt mich reden! ... Es ist
362
Hochmut in dir, soviel, um diese
Küche damit zu füllen, und Falschheit und Sinnenlust.»
«Ich falsch?»
Alle mischen sich ein und Judas muß
schweigen. Simon sagt ruhig zu Petrus: «Entschuldige, Freund, wenn ich dir etwas
sage. Er hat Fehler, aber auch du hast einige. Ein großer Fehler von dir ist,
daß du die Jugend nicht verstehst; denn du nimmst keine Rücksicht auf Alter,
Geburt... und viele andere Dinge. Schau, du handelst so aus Liebe zu Jesus. Aber
du wirst nicht gewahr, daß diese Streitereien ihn verdrießen. Ihm sage ich es
nicht (und er weist auf Judas). An dich aber, der du reif und redlich bist,
richte ich die Bitte. Er hat soviel Ärger mit seinen Feinden. Sollen wir ihm
auch im eigenen Nest Sorgen bereiten?»
«Es stimmt, Jesus ist sehr traurig
und sogar abgemagert», sagt Judas Thaddäus. «Des Nachts höre ich, wie er sich
dreht und wendet auf seinem Lager und seufzt. Vor einigen Tagen bin ich
aufgestanden und habe gesehen, daß er beim Beten weinte. Ich habe ihn gefragt:
"Was hast du?", und er hat mich umarmt und gesagt: "Habe mich gern! Wie mühsam
ist es, der Erlöser zu sein!"»
«Auch ich habe ihn weinend
angetroffen... Es war im Wald, beim Flusse», sagt Philippus. «Auf meinen
fragenden Blick hat er geantwortet: "Weißt du, was den Himmel von der Erde
unterscheidet, außer der sichtbaren Gegenwart Gottes? Es ist der Mangel an Liebe
unter den Menschen. Das würgt mich wie ein Strick. Ich bin gekommen, den Vögeln
Körner zu streuen, um von ihnen, die sich lieben, geliebt zu werden!"»
Judas Iskariot (er hat die
Selbstkontrolle verloren) wirft sich auf den Boden und weint wie ein kleiner
Junge.
Gerade in diesem Augenblick kommen
Jesus und Johannes zur Türe herein.
«Was ist hier los? Warum diese
Tränen?»
«Meine Schuld, Meister. Ich habe
gefehlt. Ich habe Judas zu hart getadelt», sagt Petrus offen.
«Nein, ich... ich... der Schuldige
bin ich. Ich bin... ich bereite dir Schmerzen, ich bin nicht gut... Ich störe,
bringe Unruhe in die Gruppe, gehorche nicht! Petrus hat recht. Aber helft mir
doch, gut zu sein! Ich habe hier etwas, hier im Herzen, das mich Dinge tun läßt,
die ich nicht tun will. Es ist stärker als ich... und ich verursache dir Leiden,
dir, Meister, dem ich nur Freude bereiten möchte. Glaube es, es ist nicht
Falschheit!»
«Aber ja, Judas. Ich zweifle nicht
daran. Du bist zu mir gekommen mit der ganzen Aufrichtigkeit deines Herzens, mit
wahrem Eifer. Doch du bist jung... Niemand, nicht einmal du selbst kennst dich,
wie ich dich kenne. Auf, erhebe dich und komm hierher! Nachher werden wir beide
allein miteinander reden. Zuerst wollen wir aber das besprechen, weshalb ihr
mich gerufen habt. Was ist denn schon dabei, daß auch Manaen gekommen ist?
363
Kann nicht auch ein Milchbruder des
Herodes durstig sein nach dem wahren Gott? Habt ihr wirklich Angst um mich? Aber
nein! Habt Vertrauen zu meinem Wort! Dieser Mensch kommt in ehrlicher Absicht.»
«Warum aber hat er sich nicht zu
erkennen gegeben?» fragen die Jünger.
«Weil er eben als "Seele" kommt,
nicht als der Verwandte von Herodes! Er hat sich in Schweigen gehüllt, weil er
glaubt, daß vor dem Wort Gottes die Verwandtschaft mit einem König nichts
gilt... Wir wollen sein Schweigen achten.»
«Aber wenn er doch von ihm
geschickt worden ist? ...»
«Von wem? Von Herodes? Habt keine
Angst!»
«Wer schickt ihn sonst? Wie weiß er
etwas von dir?»
«Durch den Täufer, meinen Vetter.
Glaubt ihr, daß er im Kerker über mich geschwiegen hat? Oder durch Chuza... oder
durch die Stimme des Volkes... oder auch durch den Haß der Pharisäer. Auch die
Wellen und die Luft reden bereits von mir. Der Stein ist in das ruhige Wasser
geworfen worden, und die Wellen ziehen immer weitere Kreise und tragen die
Offenbarung ans ferne Ufer. Der Stab hat das Metall angeschlagen, und der Hall
wird von der Luft weitergetragen. Die Erde hat gelernt zu sagen: "Jesus" und
wird niemals mehr schweigen. Geht und seid freundlich mit ihm wie mit jedem
anderen! Geht! Ich bleibe mit Judas.»
Die Jünger gehorchen.
Jesus betrachtet Judas, der noch
weint, und fragt ihn: «Nun, hast du mir nichts zu sagen? Ich weiß zwar alles
über dich, doch möchte ich es von dir selbst hören. Warum diese Tränen? Und
vorerst, warum diese Unruhe, die dich immer so unzufrieden macht?»
«O ja, Meister, du hast es gesagt.
Ich bin von Natur aus eifersüchtig. Du weißt es sicher. Und ich leide, wenn ich
so vieles sehe. Das macht mich unruhig und ungerecht. Ich werde böse, obwohl ich
es nicht möchte, nein...»
«Weine nicht wieder. Auf wen bist
du eifersüchtig? Gewöhne dir an, mit deiner wahren Seele zu sprechen. Du
sprichst viel, manchmal zuviel. Doch womit? Mit dem Instinkt und dem Verstand.
Du vollbringst eine mühsame und beständige Arbeit, um zu sagen, was du sagen
willst: ich spreche von dir, von deinem Ich... Bei dem, was du zu den anderen
und über die anderen sagst, kennst du keine Zügel und keine Grenzen. Genauso
zügellos ist dein gieriges Fleisch. Es ist dein tolles Roß; du bist wie ein
Wagenlenker, dem der Veranstalter des Rennens zwei verrückte Rennpferde
überlassen hat. Das eine ist die Sinnlichkeit, das andere... willst du hören,
was das andere ist? Ja? Es ist der Irrtum, den du nicht bezähmen willst. Du bist
ein fähiger Wagenlenker; doch bist du unklug, denn du verläßt dich auf deine
Fähigkeiten und glaubst, daß sie genügen. Du willst als erster das Ziel
erreichen und verlierst keine Zeit, um ein Pferd auszuwechseln.
364
Du treibst sie vielmehr mit der
Peitsche an. Du willst "Sieger" sein. Du willst Beifall haben... Weißt du nicht,
daß jeder Sieg sicher ist, wenn er mit beständiger, geduldiger und kluger Arbeit
errungen wird? Ich spreche mit deiner Seele. Und aus ihr erwarte ich dein
Bekenntnis. Oder muß ich dir sagen, was ich in ihr sehe?»
«Ich finde, daß auch du ungerecht
und unbeständig bist, und das schmerzt mich.»
«Warum beschuldigst du mich? Worin
habe ich in deinen Augen gefehlt?»
«Als ich dich zu meinen Freunden
mitnehmen wollte, hast du nicht gewollt und gesagt: "Ich ziehe es vor, bei den
Demütigen zu bleiben"; dann haben Simon und Lazarus gesagt, es wäre gut, sich
unter den Schutz eines Mächtigen zu stellen, und du hast dies angenommen. Du
bevorzugst Petrus, Simon und Johannes... Du...»
«Was sonst noch?»
«Nichts anderes, Jesus.»
«Nichts als Wolken und Blasen im
Schaum der Wellen. Du tust mir leid, denn du bist ein armer Mensch, der sich
selbst quält, obwohl er sich freuen könnte. Kannst du sagen, daß dieser Ort
vornehm ist? Kannst du verstehen, daß ich einen guten Grund hatte, der mich
veranlaßte, das Angebot anzunehmen? Wenn Sion weniger stiefmütterlich mit seinen
Propheten wäre, müßte ich nicht hier verborgen sein, wie einer, der die
menschliche Gerechtigkeit fürchtet und ein Asyl braucht.»
«Nein.»
«Also? Willst du sagen, daß ich dir
keine Aufträge wie den anderen gegeben habe? Kannst du sagen, daß ich hart gegen
dich gewesen bin, wenn du gefehlt hast? Du bist nicht aufrichtig gewesen... die
Weinberge... Oh, die Weinberge! Wie hießen denn diese Weinberge? Du hattest kein
Mitleid mit Leidenden und Büßenden. Du warst auch nicht ehrerbietig mir
gegenüber, und die anderen haben es bemerkt... Und nur eine Stimme hat sich
jeweils zu deiner Verteidigung erhoben, immer... die meine! Die anderen hätten
allen Grund, eifersüchtig zu sein; denn wenn ich einen in Schutz genommen habe,
dann warst es du.»
Judas weint beschämt und erregt.
«Ich gehe. Es ist die Stunde, in
der ich allen gehöre. Du bleibe hier und denke nach!»
«Verzeih mir, Meister... Ich kann
keinen Frieden finden ohne deine Verzeihung. Sei meinetwegen nicht traurig. Ich
bin ein schlimmer Junge. Ich liebe und peinige... So bin ich mit meiner
Mutter... so mit dir... so würde ich auch mit meiner Frau sein, wenn ich einmal
heiraten sollte. Es wäre besser, ich könnte sterben...»
«Es wäre richtiger, du würdest dich
bessern. Doch ich will dir verzeihen. Leb wohl!»
365
Jesus geht zur Tür. Petrus steht
draußen: «Komm, Meister, es ist schon spät. Es sind viele Menschen da. In Bälde
bricht der Abend herein, und du hast noch nicht gegessen. Dieser Bursche ist an
allem schuld.»
«Dieser "Bursche" braucht euch
alle, um nicht mehr an all dem schuld zu sein! Schau zu, daß du es nicht vergißt,
Petrus! Wenn er dein Sohn wäre, würdest du ihn dann bemitleiden?»
«Hm... ja und nein. Ich hätte
Mitleid, aber ich würde ihm auch etwas beibringen; auch wenn er schon ein Mann
wäre... wie einem ungezogenen Bengel. Aber wenn er mein Sohn wäre, wäre es nicht
so!»
«Genug jetzt!»
«Ja, genug, mein Herr! Schau, dort
ist Manaen. Der dort mit dem fast schwarzen Mantel, so dunkelrot ist er. Er hat
mir dies für die Armen gegeben und mich gefragt, ob er zum Schlafen bleiben
kann.»
«Was hast du geantwortet?»
«Die Wahrheit. "Wir haben nur für
uns Betten, geh ins Dorf!"»
Jesus schweigt. Er läßt Petrus im
Zweifel und begibt sich zu Johannes, dem er etwas sagt. Dann geht er an seinen
Platz und beginnt zu reden.
«Der Friede sei mit euch allen, und
mit dem Frieden mögen auch Licht und Heiligkeit über euch kommen! Es steht
geschrieben: "Du sollst meinen Namen nicht mißbrauchen!" Wann mißbraucht man
ihn? Nur wenn man flucht? Nein! Auch wenn man ihn nennt, ohne daß man sich
Gottes würdig erweist. Kann ein Sohn sagen: "Ich liebe meinen Vater und ehre
ihn", wenn er dann alles überhört, was der Vater ihm gebietet? Nicht wenn man
"Vater, Vater" sagt, liebt man den Vater. Nicht wenn man nur "Gott, Gott" sagt,
liebt man den Herrn.
In Israel gibt es, wie ich schon
vorgestern dargelegt habe, viele Götzen, die in den Herzen verborgen sind, aber
es gibt auch heuchlerisches Lob Gottes. Ein Lob, dem die Werke derer, die Gott
loben, nicht entsprechen. In Israel herrscht die Neigung, viele Sünden in
äußerlichen Dingen zu suchen, und sie nicht dort finden zu wollen, wo sie
wirklich sind, im Innern. In Israel gibt es einen dummen Hochmut, eine
menschenwidrige und antispirituelle Gewohnheit: als Fluch zu betrachten, wenn
von heidnischen Lippen der Name unseres Gottes genannt wird. Das geht soweit,
daß man den Heiden verbietet, sich dem wahren Gott zu nähern, da man dies als
Sakrileg verurteilt. So war es bis jetzt. Nun aber soll es anders werden.
Der Gott Israels ist derselbe Gott,
der alle Menschen erschaffen hat. Warum also verhindern, daß die Geschöpfe die
Anziehung ihres Schöpfers verspüren? Glaubt ihr nicht, daß die Heiden etwas
Unbefriedigtes in sich spüren, das ruft, sich regt, sucht? Wen? Was? Den
unbekannten Gott! Und glaubt ihr nicht, daß, wenn ein Heide aus sich selbst zum
Altare des unbekannten Gottes strebt, zu diesem geistlichen Altare im Innern,
der die Seele ist, in welcher stets eine Erinnerung an den Schöpfer lebt; glaubt
ihr nicht, daß es die Seele ist, die darauf wartet, von der Herrlichkeit Gottes
366
in Besitz genommen zu werden? Wie
es der Fall war bei der nach erhaltenen Weisungen von Moses errichteten
Bundeslade? Die Seele trauert, solange sie nicht in diesem Besitz ist. Glaubt
ihr, daß Gott ihr Anerbieten zurückweist als eine Schändung? Glaubt ihr, daß ein
solcher Akt der Seele, der erweckt worden ist durch ein eigenes, ehrliches
Verlangen und durch himmlische Anrufe, nicht bedeutet: "Ich komme!" für Gott,
der erwidert: "Komme!"? Glaubt ihr, daß der Gottesdienst eines Israeliten heilig
sei, der nur das opfert, was ihm nach seinen Vergnügen noch bleibt, und der vor
Gottes Gegenwart hintritt und ihn, den Reinsten, beim Namen nennt mit einer
Seele und einem Leib, die beide nur ein Gewürm von Sünden sind?
Nein! In Wahrheit sage ich euch,
daß das vollendete Sakrileg vom Israeliten begangen wird, der unreinen Herzens
den Namen Gottes mißbräuchlich ausspricht. Er mißbraucht den Namen Gottes, weil
er aufgrund seiner seelischen Verfassung weiß, denn dumm ist er nicht, daß er
ihn vergeblich ausspricht. Oh, ich sehe das betrübte Antlitz des Herrn, das sich
mit Abscheu anderswohin abwendet, wenn ein Heuchler ihn anruft, ein
Unbußfertiger ihn nennt! Und es erfüllt mich mit Schrecken, mich, der ich doch
diesen göttlichen Zorn nicht verdiene.
In mehr als einem Herzen lese ich
den Gedanken: "Also, dann kann niemand den Namen Gottes nennen, außer den
Kindern, denn in jedem Menschen ist Unreinheit und Sünde." Nein, sagt das nicht!
Gerade von den Sündern soll dieser Name angerufen werden, und von allen, die
sich von Satan umklammert fühlen und sich von der Sünde und dem Verführer
befreien wollen. Wollen! Das ist es, was das Sakrileg in Gottesdienst umwandelt.
Geheilt werden wollen! Den Mächtigen anrufen, um Verzeihung und Heilung zu
erlangen. Ihn anrufen, um den Verführer in die Flucht zu schlagen.
In der Genesis (13,1-8) steht
geschrieben, daß die Schlange Eva in der Stunde verführte, da der Herr nicht in
Eden wandelte. Wäre Gott im Garten Eden gewesen, hätte Satan nicht dort sein
können. Hätte Eva Gott angerufen, wäre Satan geflohen. Habt diesen Gedanken
stets in euren Herzen! Und ruft den Herrn mit Aufrichtigkeit an! Sein Name
bedeutet Rettung. Viele von euch möchten zum Fluß hinabsteigen und sich
reinigen. Doch reinigt euer Herz unaufhörlich, indem ihr mit der Liebe das Wort
"Gott" hineinschreibt! Keine lügnerischen Gebete! Keine gewohnheitsmäßigen
Übungen! Sagt vielmehr mit eurem Herzen, mit eurem Denken, mit euren Werken, mit
eurem ganzen Sein den Namen: Gott! Sagt ihn, um nicht allein zu sein! Sagt ihn,
um unterstützt zu werden! Sagt ihn, um Verzeihung zu erhalten!
Begreift die Bedeutung des Wortes
Gottes vom Sinai: Mißbrauch ist, wenn man "Gott" ohne Bekehrung zum Guten
ausspricht. Das ist Sünde! Mißbrauch ist es nicht, wenn sich euch, wie der
Pulsschlag des Herzens,
367
in jeder Minute des Tages, in jedem
eurer Werke, in euren Nöten, Versuchungen und Schmerzen das kindhafte Wort der
Liebe auf die Lippen drängt: "Komm, mein Gott!" Dann sündigt ihr wahrlich nicht,
wenn ihr den heiligen Namen Gottes anruft.
Geht nun! Der Friede sei mit euch!»
Es ist kein Kranker anwesend. Jesus
bleibt mit gefalteten Händen an der Wand stehen, während es unter dem Vordach
schon dunkel wird. Er betrachtet diejenigen, die auf den Maultieren fortreiten,
die sich zum Fluß begeben mit dem Verlangen, sich zu reinigen, und die über die
Felder in Richtung des Dorfes gehen. Der Mann im dunkelroten Gewande scheint
unschlüssig zu sein, was er tun soll. Jesus beobachtet ihn. Schließlich bewegt
er sich und geht zu seinem Pferd; er hat ein herrliches weißes Pferd mit einer
roten Schabracke, die unter dem reichverzierten Sattel hervorschaut.
«Mann, warte auf mich!» sagt Jesus
und begibt sich zu ihm. «Der Abend bricht herein. Hast du einen Platz zum
Schlafen? Kommst du von weit her? Bist du allein?»
Der Mann antwortet: «Von sehr
weither... und ich gehe... ich weiß nicht wohin. Ins Dorf, wenn ich dort etwas
finde; wenn nicht, nach Jericho, wo ich meine Begleitung zurückgelassen habe, da
ich ihr nicht vertraue.»
«Nein, ich biete dir mein Lager an.
Es ist schon bereit. Hast du etwas zum Essen mit?»
«Nichts habe ich. Ich habe
angenommen, ein gastfreundliches Dorf zu finden.»
«Du wirst haben, was du brauchst.
Nichts wird dir fehlen.»
«Nichts. Nicht einmal der Haß gegen
Herodes! Weißt du, wer ich bin?»
«Es gibt nur einen Namen für alle,
die mich suchen: Brüder im Namen Gottes! Komm, wir wollen zusammen das Brot
brechen. Du kannst dein Pferd in diesem Schuppen unterbringen. Ich werde hier
schlafen und es für dich bewachen ...»
«Nein, auf keinen Fall! Ich werde
hier schlafen. Das Brot nehme ich dankbar an, sonst nichts. Ich werde meinen
schmutzigen Körper nicht dahinlegen, wo du dich mit deinem heiligen Leib
niederlegst.»
«Du glaubst also, daß ich heilig
bin?»
«Ich weiß, daß du heilig bist!
Johannes, Chuza... deine Werke... deine Worte... Die ganze Gegend klingt davon
wie die Muschel, die das Rauschen des Meeres in sich bewahrt. Ich bin immer beim
Täufer abgestiegen; dann habe ich ihn verloren. Aber er hat mir gesagt: "Einer,
der mehr ist als ich, wird dich aufnehmen und erheben." Es kann kein anderer
sein als du. Sobald ich deinen Aufenthalt erfahren habe, bin ich aufgebrochen.»
Sie sind allein unter dem Dach. Die
Jünger reden neben der Küche miteinander und beobachten.
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Der Zelote kommt vom Fluß, denn er
war heute als Täufer bestimmt; er hat die letzten Getauften bei sich. Jesus
segnet sie und sagt zu Simon: «Dieser Mann ist ein Pilger, der im Namen Gottes
Herberge sucht. Und im Namen Gottes heißen wir ihn als Freund willkommen.»
Simon verneigt sich; der Mann
ebenfalls. Sie betreten den Schuppen, und Manaen bindet sein Pferd an die
Krippe. Johannes kommt auf ein Zeichen Jesu herbei und bringt Heu und einen
Eimer mit Wasser. Auch Petrus kommt mit einem Öllämpchen, denn es ist schon
dunkel.
«Ich werde mich hier wohl fühlen.
Gott möge es euch lohnen!» sagt der Reiter und begibt sich nun mit Jesus und
Simon in die Küche, wo ein Bündel Kienspäne für Beleuchtung sorgt.
Alles ist zu Ende.
369
J
Gepriesen sei Gott unser
Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus
Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,
Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.
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