Katherina von Siena
Gespräch von
Gottes Vorsehung
Wer Gott unvollkommen liebt, liebt auch
den Nächsten unvollkommen.
Auszug:
Wer Gott unvollkommen liebt, liebt auch den Nächsten unvollkommen. Ich will, daß
du ferner weißt: jede Unvollkommenheit und jede Vollkommenheit erweist und
erwirbt sich in Mir, und ebenso erwirbt und erweist sie sich im Nächsten. Das
wissen die einfachen Seelen am besten, die den Geschöpfen recht oft in einer
geistigen Liebe zugetan sind. Wie sie Meine Liebe vorbehaltlos aufgenommen
haben, trinken sie auch ohne Vorbehalt die Liebe ihres Nächsten, wie ein Gefäß,
das sich am Brunnenstrahl füllt; wird es zum Trinken herausgenommen, so wird es
leer, bleibt es aber beim Trinken in Mir, dann leert es sich nicht, sondern
bleibt stets gefüllt. Also will die geistige und zeitliche Nächstenliebe in Mir
getrunken sein. Ich fordere von euch gleiche Liebe, wie Ich sie euch
entgegenbringe.
Dies ist zwar unmöglich, denn
Ich liebte euch bereits ohne Gegenliebe. Somit ist jede Liebe, die ihr Mir
entgegenbringt, geschuldet und nicht umsonst; sie ist eure Pflicht, während
Meine Liebe zu euch ein Gnadengeschenk ist, das Ich euch nicht schulde. Ihr
könnt Mir die Liebe, die Ich von euch fordere, niemals schenken, deshalb habe
Ich euch neben den Mitmenschen gestellt, damit ihr ihm das gebt, was ihr Mir
nicht geben könnt, die rückhaltlose, ungeschuldete und uneigennützige Liebe, und
Ich will als an Mir getan ansehen, was ihr dem Nächsten tut. Woran läßt sich die
Unvollkommenheit der geistigen Liebe erkennen? Daran, daß der Liebende sich
bekümmert, wenn der Gegenstand seiner Liebe diese nicht zu erwidern oder ihm
doch nicht den gleichen Grad von Liebe entgegenzubringen scheint.
Oder auch daran, daß er sich betrübt, sobald er sich des Umgangs mit dem
geliebten Menschen und des Trostes, der ihm daraus erwuchs, beraubt sieht oder
zusehen muß, wie ein anderer ihm vorgezogen wird. Weil die Liebe zu Mir noch
unvollkommen war, erweist sie sich auch dem gegenüber unvollkommen, dem man in
geistiger Liebe verbunden ist. Das alles hat aber seinen Grund darin, daß die
Wurzel der Selbstliebe noch nicht ganz ausgerottet ist. Oft belasse Ich dem
Menschen diese unvollkommene Liebe, damit er sich und seine Unvollkommenheit
erkenne. Ich entziehe Mich seinem Gefühl, damit er sich in das Haus der
Selbsterkenntnis einschließe, wo er jede Vollkommenheit erlangen kann. Dann
kehre Ich mit größerer Erleuchtung und Wahrheitserkenntnis zur Seele zurück, so
daß sie es jetzt als Gnade ansieht, ihren Eigenwillen für Mich ertöten zu
dürfen.
Gespräch von Gottes Vorsehung
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