Hildgard von Bingen
(2)
Welt und Mensch
(DE OPERATIONE DEI)
Nach jahrhundertelangem Schweigen ist
die Stimme Hildegards von Bingen, der Seherin vom Rupertsberg, wieder laut und
in ihrem Fragen vernehmlich geworden. Mit zunehmendem Ernst haben sich in den
letzten Jahrzehnten Philosophen und Naturwissenschaftler, Historiker und
Theologen, Ärzte und Künstler mit diesem unvergleichlichen Weltbild und dieser
einzigartigen Menschenkunde des hohen Mittelalters auseinandergesetzt. Über
diese rein fachwissenschaftliche Anerkennung hinaus konnten die deutschen
Übersetzungen einer Hildegard-Gesamtausgabe die theologischen und
naturkundlichen Schriften der heiligen Hildegard auch weiteren Kreisen
zugänglich machen. Neben der Heilkunde (Causae et curae) und der Naturkunde (Physica)
hat vor allem ihre Glaubenskunde (Scivias) Beachtung gefunden. An diese
Übersetzung reiht sich nunmehr ihre Weltenkunde (Liber divinorum operum) an,
Hildegards Kosmosschrift, die als ihr monumentalstes und reifstes Werk gilt.
Auszug:
Diese Seele ist in der Tat eine schöpferische Kraft,
die den ganzen Menschen in ihre Bewegtheit versetzt und lebendig macht. Und wie
der Mensch von einem aus Fäden gewirkten Leinen angezogen und bekleidet wird, so
zieht sich die Seele alles Tun, das sie mit dem Menschen schafft, wie ein Gewand
an, um sich mit ihm im Guten wie im Bösen gleichwie mit dem Körper, in dem sie
wohnt, zu bedecken. Ist sie dann von ihrem Körper abgeschieden, dann erscheinen
die guten Werke wie ein Gewand an ihr, das mit allem Schmuck im Blitzstrahl
reinsten Goldes leuchtet; die schlechten Taten aber stinken an ihr wie ein
Kleid, das durch den Schmutz gezerrt ward. Sie selber wirkt mit dem Menschen
nach Art des Luftreiches, das seine Kräfte der Erde spendet, durch die diese
trächtig wird und ihre Frucht bringt, die aber auch in der Winterkälte die ganze
Erde dörren läßt. Dennoch bewahrt sie die Wärme der Erde für den Reifungsprozeß
in sich auf. So bewirken auch durch die Seelenkräfte Kindheit, Wachstumsalter,
Jugend und Greisenalter die Früchte guter Werke und führen sie aus. Und läßt das
gebrechliche Alter in seiner Hinfälligkeit diese auch gleichsam vertrocknen, so
werden sie doch im wahren Glauben zum Lohn der ewigen Glückseligkeit nach dem
Ende des Menschen aufbewahrt.
Hildegard von Bingen - Welt und Mensch
|