Kirche Weitental

†  Gott ist die Liebe - Er liebt dich  †

 Gott ist der beste und liebste Vater, immer bereit zu verzeihen, Er sehnt sich nach dir, wende dich an Ihn
nähere dich deinem Vater, der nichts als Liebe ist. Bei Ihm findest du wahren und echten Frieden, der alles Irdische überstrahlt

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Maria Valtorta - Der Gottmensch

Band 7

 

Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte. Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.

Das Werk kann man hier in Buchform erwerben:

Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch

Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
 



Nur zu Testzwecken!

Inhalt
 

Band VII:
Drittes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)

419. Während des Rüsttags (Erster Teil: Am Morgen). S. 9
420. Während des Rüsttags (Zweiter Teil: Im Tempel). S. 14
421. Während des Rüsttags (Dritter Teil: Auf den Strassen Jerusalems). S. 19
422. Während des Rüsttags (Vierter Teil: Das Passahmahl mit Lazarus). S. 26
423. Der Sabbat der Ungesäuerten Bote. S. 35
424. «Martha, Martha, du machst dir Sorgen und Unruhe um vieles». S. 44
425. Jesus spricht in Bethanien. S. 49
426. Auf dem Weg zum Berg Adummim. S. 58
427. Nach der Einkehr auf dem Kerith. S. 60
428. Essener und Pharisäer; Das Gleichnis vom untreuen Verwalter. S. 63
429. Im Haus der Nike. S. 75
430. An der Furt zwischen Jericho und Bethabara. S. 81
431. Im Haus des Salomon. S. 88
432. Predigt an der Wegkreuzung beim Dorf des Salomon. S. 94
433. Zum Westufer des Jordan. S. 100
434. Zu Gilgal. S. 101
435. Nach Engedi; Trennung und Abschied von Judas und Simon. S. 109
436. Ankunft in Engedi. S. 115
437. Predigt und Wunder in Engedi. S. 117
438. Elisäus von Engedi, der geheilte Aussätzige. S. 125
439. In Masada. S. 130
440. Im Landhaus, der Mutter des Judas. S. 135
441. Der Abschied von Kerioth. S. 139
442. Anna und Maria von Kerioth; Abschied von der Mutter des Judas. S. 144
443. Abschied von Jutta. S. 150
444. Abschied von Hebron. S. 155
445. Abschied von Bethsur. S. 160
446. In Bether. S. 165
447. Jesus mit Petrus und Bartholomäus in Bether. S. 171
448. Abschied von Bether. S. 175
449. Simon des Jonas in einem geistigen, siegreichen Kampf. S. 181
450. Auf dem Weg nach Emmaus in der Ebene. S. 183
451. Die Predigt bei Emmaus in der Ebene. S. 188
452. Jesus spricht in Joppe zu Judas Iskariot und zu den Heiden. S. 200
453. Auf dem Landgut des Nikodemus. S. 210
454. Bei Joseph von Arimathäa. S. 217
455. Sabbat im Haus des Joseph von Arimathäa, Der Synedrist Johannes. S. 223
456. Die Apostel sprechen miteinander. S. 229
457. Das Wunder der Ährenlese in der Ebene. S. 234
458. Die Apostel unter sich und mit Jesus; Jesus und Petrus. S. 242
459. Am Pfingstfest Jerusalem. S. 246
460. Jesus als Gast des Synedristen und Pharisäers. S. 253
461. In Bethanien. S. 264
462. Jesus und der Bettler auf dem Weg nach Jericho. S. 268
463. Die Bekehrung des Zachäus. S. 273
464. «Zachäus ist ein Zöllner und Sünder, aber nicht aus bösem Willen». S. 278
465. Selig die Armen im Geiste. S. 281
466. Im Dorf Salomons. S. 284
467. Jesus in einem Dörfchen der Dekapolis. S. 289
468. Der Besessene. S. 295
469. Der Sauerteig der Pharisäer. S. 304
470. Ihr sollt sagen: ''Wir sind unnütze Knechte''». S. 312
471. «Wenn jemand siebenmal bereut sollt ihr ihm siebenmal verzeihen. S. 317
472. «Es ist ein Martyrium zu leben, um andere zu belehren wenn man sich nach dem Himmel sehnt». S. 324
473. In Caesarea am Meer. S. 327
474. «Die Weisheit, als eine Art der Heiligkeit, verleiht Klarheit im Urteil». S. 336
475. Religion ist Liebe und lebendiges Verlangen zu dem zu gehen, an den wir glauben. S. 349
476. Das Gleichnis vom Weinberg und vom freien Willen. S. 358
477. Unterwegs in der Ebene von Esdrelon. S. 364
478. Jesus und das herabgefallene Nest. S. 367
479. «Selig jene, die in allen Dingen Gott zu erkennen vermögen». S. 370
480. Weiterhin unterwegs in der Ebene von Esdrelon. S. 371
481. Mit den Bauern des Jochanan. S. 373

 

 

419. WÄHREND DES RÜSTTAGES (Erster Teil: Am Morgen)

Im Palast des Lazarus, dessen Räume für diese Nacht als Schlafsäle eingerichtet worden sind, sieht man überall schlafende Männer. Frauen sind nicht zu sehen. Vielleicht verweilen sie in höher gelegenen Räumen. Ein klares Morgengrauen erhellt allmählich die Stadt, dringt in die Höfe des Palastes ein, und schon hört man das erste zaghafte Gezwitscher im Laub der Bäume und das erste Gurren der Tauben, die in den Nischen der Gesimse schlafen. Nur die Menschen erwachen nicht, denn müde vom Essen und von den aufregenden Erlebnissen, schlafen sie und träumen...

Jesus geht ganz still in die Vorhalle und von dort in den Ehrenhof. Er wäscht sich an einem klaren Brunnen in der Mitte des Hofes, in einem Viereck aus Myrten, an deren Fuß kleine Lilien wachsen, die den sogenannten französischen Maiglöckchen ähnlich sind. Er bringt sein Haar und sein Gewand in Ordnung und kehrt ganz leise zur Treppe zurück, die zu den oberen Stockwerken und auf die Terrasse des Hauses führt, um zu beten und sich in Betrachtung zu vertiefen.

Langsam geht er auf und ab, und nur die Tauben sehen ihn, recken den Hals und gurren, als fragten sie sich gegenseitig: "Wer ist dieser?" Dann lehnt sich Jesus an die Mauer und bleibt in sich versunken unbeweglich stehen. Schließlich erhebt er sein Haupt, vielleicht getroffen von den ersten Strahlen der Sonne, die hinter den Hügeln, die Bethanien und das Jordantal verbergen, aufgeht, und betrachtet das Panorama.

Der Palast des Lazarus, fast im Zentrum der Stadt, doch etwas mehr nach Südwesten gelegen, steht wohl auf einer der zahlreichen Anhöhen, durch die die Straßen Jerusalems, und besonders die weniger gepflegten, ein ständiges Auf und Ab sind.

An einer schönen Straße gelegen, die in den Xystos mündet und mit diesem ein "T" bildet, beherrscht der Palast den unteren Teil der Stadt, wobei vor ihm Bezetha, Moria und Ophel und jenseits davon der Kamm des Ölberges liegen; hinter ihm erhebt sich der Berg Sion, während man gegen Süden Hügel sieht. Im Norden verdeckt Bezetha einen großen Teil des Panoramas, doch jenseits des Gihontals erhebt sich die kahle Höhe von Golgotha gelblich in der rosigen Morgenröte, doch selbst in diesem heiteren Licht traurig.

Jesus schaut dorthin... Obwohl sein Blick jetzt fester und gedankenvoller ist, erinnert er mich an den der weit zurückliegenden Vision vom

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zwölfjährigen Jesus beim Streitgespräch mit den Schriftgelehrten. Aber heute wie damals ist es kein angstvoller Blick, nein, es ist der würdevolle Blick des Helden, der sein letztes Schlachtfeld betrachtet.

Dann wendet er seine Augen den Hügeln im Süden der Stadt zu und sagt: «Das Haus des Kaiphas!» Von jenem Punkt wandert sein Blick nach Gethsemane, dann zum Tempel und schließlich, jenseits der Stadtmauer, bis zum Kalvarienberg... Die Sonne ist unterdessen vollends aufgegangen, und die Stadt erstrahlt in ihrem Schein.

Am Tor des Palastes wird stark und ohne Unterbrechung geklopft. Jesus neigt sich vornüber, um zu sehen; aber das Gesims springt weit vor, während das Tor in massiven Mauern verborgen liegt, so daß man nicht sieht, wer anklopft. Dagegen hört er sofort das Stimmengewirr der Schläfer, die nun erwachen, während das von Levi geöffnete Tor wieder lärmend ins Schloß zurückfällt. Viele Männer- und Frauenstimmen rufen seinen Namen ... Jesus beeilt sich, hinabzusteigen und ruft: «Hier bin ich. Was wollt ihr?»

Jene, die ihn gerufen haben, stürmen schreiend auf die Treppe zu, als sie ihn hören. Es sind die ältesten Apostel und Jünger, und mitten unter ihnen ist Jonas, der Verwalter von Gethsemane. Sie alle sprechen gleichzeitig, und man versteht kein Wort.

Jesus muß ihnen gebieten, stehenzubleiben, wo sie sind, und zu schweigen, damit sie sich beruhigen. Dann nähert er sich ihnen und fragt: «Was ist geschehen?»

Ein neues, unnützes, unverständliches Stimmengewirr folgt. Hinter den Schreienden erscheinen traurige oder erstaunte Gesichter von Frauen und Jüngern...

«Einer nach dem anderen soll sprechen! Zuerst du, Petrus!»

«Jonas ist gekommen... Er hat gesagt, daß es viele waren und daß sie dich überall gesucht haben. Er hat die ganze Nacht gelitten, und als die Tore geöffnet wurden, ist er zu Johanna gegangen und hat erfahren, daß du hier bist. Aber was machen wir nun? Wir müssen doch Passah feiern!»

Jonas von Gethsemane bekräftigt diese Worte und sagt: «Ja, sie haben mich auch mißhandelt. Ich habe erklärt, daß ich nicht wüßte, wo du seist, und daß du vielleicht nicht zurückkehren würdest. Aber sie haben eure Gewänder entdeckt und daraus geschlossen, daß ihr nach Gethsemane zurückkehren werdet. Füge mir keinen Schaden zu, Meister! Ich habe dich immer mit Liebe beherbergt, und diese Nacht habe ich deinetwegen gelitten. Aber ... aber ...»

«Hab keine Angst! Ich werde dich von jetzt an nicht mehr in Gefahr bringen und mich nicht mehr in deinem Hause aufhalten. Ich werde mich darauf beschränken, in der Nacht vorbeizukommen, um zu beten ... Das kannst du mir nicht verbieten...» Jesus spricht sehr sanft zu dem erschrockenen Jonas von Gethsemane.

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Doch Maria Magdalena unterbricht ihn mit ihrer hellen Stimme: «Seit wann vergißt du, o Mann, daß du ein Diener bist, und weshalb verleitet dich unser Entgegenkommen dazu, so ein herrschaftliches Auftreten anzunehmen? Wem gehört das Haus und der Olivengarten? Nur wir wären berechtigt, dem Rabbi zu sagen: "Geh nicht hin, um unser Eigentum nicht zu gefährden" ' aber wir sagen es nicht, denn es wäre immer noch ein großes Glück, selbst wenn seine Feinde auf der Suche nach ihm Bäume und Mauern beschädigen würden und selbst die Hänge zum Abrutschen brächten. Alles würde nur deshalb zerstört werden, weil wir die Liebe beherbergt hätten; und die Liebe würde uns Liebe geben, uns, seinen treuen Freunden. Sie sollen nur kommen! Sie sollen nur zerstören! Sie sollen nur zertrampeln! Was macht das schon aus? Es genügt, daß er uns liebt und unversehrt bleibt.»

Jonas fühlt sich gleichzeitig von der Angst vor den Feinden und der Furcht vor der feurigen Herrin bedrängt und flüstert: «Und wenn sie meinem Sohn Böses zufügen? ...»

Jesus tröstet ihn: «Fürchte dich nicht. Ich werde mich nicht mehr bei dir aufhalten. Du kannst allen sagen, die dich fragen, daß der Meister nicht mehr in Gethsemane wohnt... Nein, Maria! Es ist schon gut so. Laß mich nur machen! Ich bin dir für deine Hochherzigkeit dankbar... Aber es ist nicht meine Stunde. Meine Stunde ist noch nicht gekommen! Ich nehme an, daß es Pharisäer gewesen sind ...»

«Und Synedristen, Herodianer und Sadduzäer... und Soldaten des Herodes... und... alle... alle... Ich zittere immer noch vor Angst... Aber du siehst, Herr, ich bin sofort gelaufen, dich zu benachrichtigen... erst zu Johanna... dann hierher...»

Der Mann will zeigen, daß er auf Kosten seines Friedens dem Meister gegenüber seine Pflicht getan hat.

Jesus lächelt mitleidig und gütig und sagt: «Ich sehe es! Ich sehe es! Gott möge es dir vergelten. Jetzt geh in Frieden nach Hause. Ich werde dir mitteilen lassen, wohin du die Taschen bringen lassen kannst, oder ich werde jemanden schicken, um sie abzuholen.»

Der Mann geht, und niemand, abgesehen von der allerheiligsten Jungfrau Maria und Jesus, verschont ihn mit Vorwürfen oder Spott. Gesalzen ist der Vorwurf des Petrus, am gesalzensten der des Iskariot, ironisch jener des Bartholomäus. Judas Thaddäus spricht nicht, schaut ihn jedoch vielsagend an. Flüstern und vorwurfsvolle Blicke begleiten ihn auch durch die Reihen der Frauen, und zum Schluß kommt wie ein Knall der Ruf von Maria von Magdala, die auf die Verneigung des Knechtes erwidert: «Ich werde Lazarus sagen, daß er für das Festmahl... die gut gemästeten Hühner vom Gethsemane herbeischaffen lassen soll.»

«Ich habe keine Hühner, Herrin.»

«Du, Markus und Maria; drei herrliche Kapaune!»

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Alle lachen wegen des erregten und ... bezeichnenden Ausbruchs der Maria des Lazarus, die zornig ist, weil sie die Furcht ihrer Angestellten und das Unbehagen des Meisters, der seines friedlichen Nestes in Gethsemane beraubt wird, bemerken muß.

«Beunruhige dich nicht, Maria! Friede! Friede! Nicht alle haben ein Herz wie du!»

«O nein, leider nicht! Hätten doch alle mein Herz, Rabbomi! Nicht einmal auf mich gerichtete Lanzen und Pfeile könnten mich von dir trennen!»

Ein Geflüster erhebt sich unter den Männern... Maria vernimmt es und antwortet sofort: «Ja, wir werden sehen, und hoffentlich recht bald, wenn das dazu dienen kann, euch Mut zu lehren! Nichts kann mich erschrecken, wenn es darum geht, meinem Rabbi zu dienen! Dienen! Ja, dienen! Und man dient in den gefahrvollen Stunden, Brüder! In den anderen... Oh, in den anderen ist es kein Dienen! Da ist es Genießen! ... Und dem Messias folgt man nicht, um zu genießen!»

Die Männer lassen, betroffen von dieser Wahrheit, ihre Köpfe hängen. Maria geht durch die Reihen und bleibt vor Jesus stehen.

«Was hast du vor, Meister? Es ist Rüsttag. Wo wirst du dein Passahfest feiern? Befiehl... und wenn ich Gnade bei dir gefunden habe, dann gewähre mir, dir einen meiner Speisesäle anzubieten und an alles zu denken...»

«Du hast Gnade gefunden beim Vater im Himmel, Gnade daher auch beim Sohn des Vaters, dem jede Regung des Vaters heilig ist. Aber wenn ich auch den Speisesaal annehme, so laß mich erst als guter Israelit zum Tempel gehen, um das Lamm zu opfern ...»

«Und wenn sie dich gefangennehmen?» sagen viele.

«Sie werden mich nicht gefangennehmen. In der Nacht, in der Dunkelheit könnten sie es wagen wie die Räuber, aber umgeben von Menschen, die mich verehren, nicht. Werdet nicht feige! ...»

«Oh, jetzt ist ja auch Claudia mit uns!» ruft Iskariot. «Der König und das Reich sind nicht mehr in Gefahr! ...»

«Judas, ich bitte dich! Laß es nicht in dir zusammenbrechen! Bereite ihm in dir keine Hinterhalte. Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Ich bin kein König wie jene, die auf Thronen sitzen. Mein Reich ist ein Reich des Geistes. Wenn du es zur Armseligkeit eines menschlichen Reiches erniedrigst, bereitest du ihm in dir selbst Hinterhalte und läßt es zusammenbrechen.»

«Aber Claudia? ...»

«Claudia ist eine Heidin. Sie kann daher den Wert des Geistes nicht kennen. Viel ist es schon, wenn sie fühlt und bereit ist, den zu unterstützen, der für sie ein Weiser ist... Viele in Israel halten mich nicht einmal für einen Weisen! Doch du bist kein Heide, mein Freund! Deine von der Vorsehung

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gewollte Begegnung mit Claudia möge dir nicht zum Schaden gereichen; und hüte dich, damit nicht die Geschenke Gottes, die Glauben und Willen, dem Herrn zu dienen, stärken sollen, zu einem geistigen Unglück für dich werden.»

«Wie könnte das geschehen, mein Herr?»

«Ganz einfach. Und nicht nur für dich. Wenn eine Gabe Gottes, die gegeben wird, um dem schwachen Menschen zu helfen, ihn zu stärken und sein Verlangen nach übernatürlichem oder auch nur sittlichem Gut zu vermehren, dazu dient, ihn mit menschlichen Begierden zu beschweren, ihn vom rechten Weg abzubringen und auf abschüssige Wege zu geleiten: dann wird diese Gabe zum Schaden. Es genügt der Hochmut, damit man durch eine Gabe Schaden erleidet. Es genügt die Verwirrung, die durch die Begeisterung über die Gabe hervorgerufen wird und derentwegen man das gute und höchste Ziel aus den Augen verliert, und man wird durch die Gabe zu Schaden kommen. Bist du davon überzeugt? Das Kommen Claudias darf dir nur zu einer Erwägung Anlaß geben, und zwar zu dieser: Wenn schon eine Heidin die Erhabenheit meiner Lehre und die Notwendigkeit, daß sie triumphiere, empfunden hat, mußt du, und mit dir alle Jünger, all das noch viel stärker empfinden und dich dafür einsetzen. Ich spreche aber immer nur vom Geist. Immer... Und nun wollen wir beschließen, wo wir das Passahmahl einnehmen werden. Ich möchte, daß euer Geist bei diesem rituellen Mahl im Frieden sei, denn ein unruhiger Geist spürt Gott nicht. Wir sind viele. Aber es wäre mir lieb, wenn wir alle beisammen sein könnten, damit ihr einst sagen könnt: "Wir haben ein Passahmahl mit ihm gefeiert." Wählt daher einen Ort, an dem wir uns gemäß dem Ritual verteilen und genügend Gruppen bilden können, von denen jede das eigene Lamm verzehrt, so daß man überdies sagen kann: "Wir waren vereint, und jeder hörte die Stimme des anderen Bruders."»

Die einen nennen diesen, die anderen jenen Ort, doch die Schwestern des Lazarus siegen. «O Herr! Hier! Wir werden jemanden aussenden, um unseren Bruder zu holen. Hier! Hier gibt es viele Säle und Räume, und wir werden so zusammensein, wie es dem Ritus entspricht. Nimm es an, Herr! Der Palast mit seinen Räumen faßt mindestens zweihundert Personen, die in Gruppen von je zwanzig aufgeteilt sind, und so viele sind wir nicht. Bereite uns diese Freude, Herr! Tue es für unseren Lazarus, der so traurig... so krank ist... daß man nicht hoffen kann, daß er beim nächsten Passahfest noch dabei sein wird ...» schließen weinend die beiden Schwestern.

«Was sagt ihr, sollen wir den guten Schwestern nachgeben?» fragt Jesus und wendet sich damit an alle.

«Ich würde sagen, ja», erwidert Petrus.

«Ich auch», sagen Iskariot und viele andere. Wer nicht spricht, gibt schweigend seine Zustimmung.

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«Dann bereitet alles vor. Wir werden zum Tempel gehen, um allen zu zeigen, daß der, der sicher ist, dem Allerhöchsten zu gehorchen, keine Angst hat und nicht feige ist. Laßt uns gehen. Den Zurückbleibenden meinen Frieden.»

Jesus steigt die letzten Stufen der Treppe hinab, durchschreitet die Vorhalle und geht mit den Jüngern hinaus auf die von Menschen überfüllte Straße.

420. WÄHREND DES RÜSTTAGES (Zweiter Teil: Im Tempel)

Jesus betritt den Tempel. Von den ersten Schritten an, die er dort macht, ist die Einstellung der Gemüter dem Nazarener gegenüber leicht zu erkennen. Scheele Blicke, Befehle an die Tempelwache, den "Aufwiegler" zu überwachen, und diese werden ganz offen gegeben, damit alle es sehen und hören können. Worte der Verachtung für alle, die ihn begleiten, auch Puffe werden den Jüngern absichtlich versetzt... Kurz, der Haß ist so groß, daß die festlich gekleideten Pharisäer, Schriftgelehrten und Lehrer sich ein Benehmen und Gemeinheiten erlauben, die einem Lastträger zuzutrauen wären, und noch Schlimmeres. In ihrer gehässigen Verblendung merken sie nicht, daß sie sich durch ihr Betragen selbst auch als Menschen entwürdigen.

Jesus geht ruhig vorüber, als würde er dieses Benehmen überhaupt nicht bemerken! Er ist der erste, der grüßt, sobald er einer Persönlichkeit begegnet, die durch ihre Stellung im Tempel oder in der hebräischen Welt zu den "Höhergestellten" zählt, und wenn dieser auch nicht auf den ehrfürchtigen Gruß antwortet, ändert Jesus seine Haltung doch nicht. Natürlich leuchtet auf seinem Antlitz ein liebliches Lächeln, wenn er seinen Blick von einem dieser Hochmütigen zu einem oder mehreren der vielen Demütigen wendet. Er begegnet vielen Bettlern und armen Kranken, die er gestern um sich versammelt hatte, und die nun, nach dem unerwarteten Glück, das ihnen widerfahren ist, ein Passahfest feiern können, wie sie es vielleicht seit Jahren nicht mehr erlebt haben. Sie gehen in Gruppen, in kleinen Gemeinschaften, die sich spontan gebildet haben, hin, um Opferlämmer zu kaufen, glücklich, daß sie, die Verstoßenen, den anderen in Kleidung und Möglichkeiten nicht nachstehen. Jesus bleibt auch gütig stehen, um sie mit ihren Vorsätzen, ihren erstaunlichen Berichten, ihren Seligpreisungen anzuhören... Greise, Kinder und Witwen, die gestern noch krank waren und jetzt gesund sind, die gestern elend, zerlumpt, hungrig und verlassen waren und heute bekleidet sind und sich freuen, an den Tagen des großen Festes der Ungesäuerten Brote Menschen wie alle anderen zu sein.

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Ganz verschiedene Stimmen, angefangen von den Silberstimmen der Kleinen bis zu den zitternden Worten der Greise, und zwischen diesen beiden Extremen die zaghaften Stimmen der Frauen, die grüßen und Jesus folgen. Küsse regnen auf seine Kleider und seine Hände. Jesus lächelt und segnet, während seine Feinde, grün vor Ärger, sich in ihrem ohnmächtigen Zorn verzehren. Jesus hingegen strahlt Frieden aus.

Ich greife Teile von Gesprächen auf...

«Du hast recht! Aber wenn wir etwas unternähmen (und ein Pharisäer weist auf das Volk, das sich um Jesus drängt), würden sie uns in Stücke reißen.»

... «Denkt nur! Er hat uns alle um sich versammelt, uns gespeist, gekleidet und geheilt. Viele haben Arbeit und Hilfe gefunden bei den reicheren Jüngern, in Wirklichkeit aber durch seine Vermittlung. Gott möge ihn uns immer erhalten!» sagt ein Mann, der vielleicht gestern krank und ein Bettler war.

... «Da seht ihr es! So kauft er sich den Pöbel, der Aufwiegler, um alle gegen uns aufzuhetzen!» knirscht ein Schriftgelehrter verbissen im Gespräch mit einem Kollegen.

«Eine seiner Jüngerinnen hat meinen Namen aufgeschrieben und mir gesagt, ich solle nach dem Passahfest zu ihr kommen; sie werde mich dann auf ihre Ländereien von Bether führen. Hast du verstanden, Frau? Mich und die Kinder. Ich werde Arbeit haben! Weißt du, was es heißt, in Schutz und Sicherheit zu arbeiten? Eine Freude ist es! Mein Levi wird sich nicht mit der Arbeit auf den Kornfeldern zugrunde richten, denn die Jüngerin, die uns nehmen wird, will ihn als Gärtner in ihre Rosengärten schicken... Ein Kinderspiel, sage ich dir! Ah! Der Ewige möge seinem Messias Ehre und Wohlergehen schenken!» sagt die Witwe aus der Ebene Saron zu einer wohlhabenden Israelitin, die sich mit ihr unterhält.

«Oh! Und ich, könnte ich das nicht auch tun? ... Seid ihr, die er gestern um sich versammelt hatte, schon alle untergebracht?» fragt die reiche Jüdin.

«Nein, Frau! Es gibt da noch andere Witwen mit Kindern und andere Männer.»

«Ich möchte ihn fragen, ob er mir die Gunst erweist, daß ich ihm helfen darf.»

«Rufe ihn!»

«Ich wage es nicht.»

«Geh du, mein Levi, und sage ihm, daß eine Frau mit ihm reden möchte ...»

Der Knabe geht eilig zu Jesus und berichtet es ihm.

Inzwischen mißhandelt ein Sadduzäer einen Alten, der sich mitten in einer Gruppe aus Transjordanien befindet und den Meister von Galiläa lobpreist.

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Der Alte verteidigt sich und sagt: «Was tue ich denn Böses? Möchtest du vielleicht gepriesen werden? Dann solltest du das tun, was er tut. Aber du, möge Gott dir verzeihen, hast für Alter und Elend nur Verachtung und keine Liebe übrig, du falscher Israelit, der du das Deuteronomium nicht beachtest, das den Armen gegenüber Barmherzigkeit verlangt.»

«Hört ihr? Das ist die Frucht der Lehre des Unruhestifters! Er lehrt das Volk, die Heiligen Israels zu beleidigen.»

Ein Priester des Tempels antwortet ihm: «Aber es ist unsere eigene Schuld, wenn solche Dinge geschehen. Wir stoßen nur Drohungen aus, ohne sie in die Tat umzusetzen!»

... Jesus sagt indessen zu der Frau aus Israel: «Wenn du wirklich beabsichtigst, den Waisenkindern Mutter und den Witwen Schwester zu sein, dann geh zum Palast Chuzas am Xystos. Sage Johanna, daß ich dich geschickt habe. Geh, und dein Boden wird dank deines Mitleids fruchtbar werden wie der des Eden, und noch fruchtbarer soll dein Herz werden durch die immer größer werdende Liebe zu deinem Nächsten.» Inzwischen sieht er, wie die Wachen den Alten abführen, der vorhin gesprochen hat. Jesus ruft laut: «Was tut ihr dem Alten an? Was hat er getan?»

«Er hat die Vorsteher beschimpft, die ihn getadelt haben.»

«Das ist nicht wahr. Ein Sadduzäer hat mich mißhandelt, weil ich zu diesen Pilgern von dir gesprochen habe. Da er die Hand gegen mich erhoben hat, weil ich alt und arm bin, habe ich zu ihm gesagt, daß er ein falscher Israelit ist, der die Worte des Deuteronomiums mit Füßen tritt.»

«Laßt diesen Alten in Ruhe. Er gehört zu mir. Die Wahrheit war auf seinen Lippen, nicht die Aufrichtigkeit: die Wahrheit. Gott, der durch den Mund der Kinder spricht, spricht auch durch den Mund der Alten. Es steht geschrieben: "Verachtet nicht den Menschen in seinem Alter, denn es sind die unsrigen, die da alt werden." Und ferner: "Verschmähe nicht die Worte der weisen Alten, sondern mach dir ihre Grundsätze zu eigen; denn von ihnen kannst du Weisheit und Einsicht lernen." Und weiter: "Wo Alte sind, sprich nicht viel." Das soll sich Israel merken, jener Teil Israels, der sich vollkommen nennt, denn sonst hat der Allerhöchste Mittel, ihn Lügen zu strafen. Vater, komm an meine Seite!»

Der Alte geht zu Jesus, während die Sadduzäer, die sich von dem Tadel betroffen fühlen, zornig davongehen.

«Ich bin eine jüdische Frau aus der Diaspora, o ersehnter König! Könnte ich dir dienen wie die Frau, die du zu Johanna geschickt hast?»fragt sie. Es scheint mir, daß sie Nike heißt und das Antlitz Jesu auf Golgotha getrocknet und so sein Bild auf dem Schweißtuch abgedruckt erraten hat. Aber die Hebräerinnen gleichen einander oft sehr; ich könnte mich aufgrund der zwischen den beiden Visionen liegenden Monate auch täuschen.

Jesus schaut sie an. Es ist eine Frau von etwa vierzig Jahren, die gut

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gekleidet ist und ein aufrichtiges Gesicht hat. Er fragt sie: «Du bist Witwe, nicht wahr?»

«Ja, und ohne Kinder. Ich bin erst vor kurzem zurückgekehrt und habe in Jericho Land gekauft, um in der Nähe der Heiligen Stadt zu wohnen. Aber nun sehe ich, daß du größer bist als alle, und ich folge dir. Ich bitte dich, nimm mich als Dienerin an. Ich habe durch Jünger von dir gehört, aber du übertriffst ihre Berichte.»

«Gut. Aber was willst du denn genau?»

«Ich möchte dir in den Armen dienen und so gut ich kann die Menschen dazu führen, dich zu kennen und zu lieben. Ich kenne viele aus den Kolonien der Diaspora, da ich meinen Mann immer bei seinen Handelsgeschäften begleitet habe. Ich habe Mittel, doch brauche ich selbst nicht viel. Daher kann ich viel Gutes tun, und möchte es auch tun aus Liebe zu dir und um der Seele dessen zu helfen, der mich vor zwanzig Jahren als Jungfrau zu sich genommen hat und mir bis zu seinem letzten Atemzug ein liebenswürdiger Gefährte war. Er sagte im Sterben zu mir, und es war wie eine Prophezeiung: "Wenn ich gestorben bin, dann übergib das Fleisch, das dich geliebt hat, dem Grab und kehre in unser Vaterland zurück, dort wirst du den Verheißenen finden! Oh, du wirst ihn sehen! Suche ihn. Folge ihm. Er ist der Erlöser und der Erwecker, und er wird mir die Tore des Lebens öffnen. Sei so gut und hilf mir, bereit zu sein, wenn er denen die Himmel öffnen wird, die der Gerechtigkeit nichts mehr schuldig geblieben sind. Sei gut, auf daß du es verdienst, ihm bald zu begegnen. Schwöre, daß du dies tun und die unfruchtbaren Tränen der Witwenschaft in Tatkraft umwandeln wirst. Nimm Judith als Beispiel, o Gemahlin, und alle Nationen werden deinen Namen kennenlernen." Mein armer Gemahl! Ich bitte dich nur, mich kennenzulernen ...»

«Ich werde dich als eine gute Jüngerin kennenlernen. Geh auch du zu Johanna, und Gott sei mit dir!»

... Lästig wie Fliegen gehen die Feinde Jesu wieder zum Angriff über, während er zur Umfassungsmauer des Tempels zurückkehrt, nachdem er sein Lamm geopfert und gewartet hat, bis die Lämmer, die die Jünger für die zahlreiche Gruppe gekauft haben, geopfert worden sind.

«Wann gedenkst du mit deinen königlichen Posen Schluß zu machen? Du bist kein König! Du bist kein Prophet! Wie lange mißbrauchst du noch unsere Güte, du Sünder, du aufsässiger Mensch, der du Israel nur schadest? Wie oft müssen wir dir noch sagen, daß du kein Recht hast, hier drinnen den Rabbi zu spielen?»

«Ich bin gekommen, um das Lamm zu opfern, und daran könnt ihr mich nicht hindern. Im übrigen erinnere ich euch an Adonia und Salomon.»

«Was haben die damit zu tun? Was willst du damit sagen? Bist du Adonia?»

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«Nein. Adonia machte sich durch Betrug zum König, aber die Weisheit wachte und schenkte Rat, und König wurde nur Salomon. Ich bin nicht Adonia. Salomon bin ich.»

«Und wer ist Adonia?»

«Ihr alle.»

«Wir? Wie redest du!»

«In Wahrheit und Gerechtigkeit.»

«Wir beachten das Gesetz in allen Punkten, wir glauben an die Propheten und...»

«Nein, ihr glaubt nicht an die Propheten. Sie haben von mir gesprochen, und ihr glaubt nicht an mich. Nein, ihr beachtet das Gesetz nicht. Es rät zu gerechten Handlungen, und solche vollbringt ihr nicht. Selbst die Opfer, die ihr darbringt, sind nicht echt.

Es steht geschrieben: "Eine Opfergabe von ungerechtem Gut ist ein beflecktes Opfer." Ferner: "Der Allerhöchste nimmt die Gaben der Ungerechten nicht an, er richtet sein Auge nicht auf ihre Opfer." Ferner: "Wer das Hab und Gut der Armen als Opfer darbringt, handelt wie einer, der einen Sohn unter den Augen des Vaters erdrosselt." Dies steht geschrieben, o Jochanan!

Es steht geschrieben: "Nur kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen und wer es ihnen vorenthält, ist ein Blutmensch." Dies steht geschrieben, o Ismael!

Es steht geschrieben: "Den Nächsten mordet, wer den Unterhalt ihm wegnimmt." Dies steht geschrieben, o Doras, Sohn des Doras.

Es steht geschrieben: "Die Blut vergießen und den Arbeitern den gerechten Lohn vorenthalten, sind Brüder." Dies steht geschrieben, o Jochanan, Ismael, Chananias, Doras und Jonathan, und vergeßt auch nicht, daß geschrieben steht: "Jeder, der seine Ohren dem Schrei des Armen verschließt, wird auch einmal schreien, und niemand wird ihn erhören."

Und du Eleazar, Sohn des Annas, erinnere dich und erinnere deinen Vater daran, daß geschrieben steht: "Meine Priester sollen heilig sein und sich aus keinem Grunde beflecken."

Und du, Cornelius, wisse, daß geschrieben steht: "Wer Vater und Mutter verflucht, wird mit dem Tode bestraft." Und der Tod ist nicht nur der durch den Henker. Ein viel schlimmerer erwartet jene, die gegen ihre Eltern sündigen, ein ewiger, schrecklicher Tod!

Und du, Ptolemäus, erinnere dich, daß geschrieben steht: "Wer Zauberei betreibt, wird von mir vernichtet werden." Und du, Sadok, du edler Schriftgelehrter, vergiß nicht, daß zwischen dem Ehebrecher und dem Zuhälter in den Augen Gottes kein Unterschied besteht, und es steht geschrieben, daß, wer falsch schwört, Beute der Flammen ohne Ende sein wird.

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Sage dem, der es vergessen hat, daß wer eine Jungfrau nimmt und sie mit einer erfundenen Anklage entläßt, nachdem er ihrer überdrüssig geworden ist, verdammt werden wird. Oh, nicht hier! Im anderen Leben; und zwar wegen der Lüge, wegen des falschen Schwures, wegen des Schadens, den er der Frau zugefügt hat, und wegen des Ehebruchs.

Wie? Ihr flieht? Vor dem Waffenlosen, der Worte sagt, die nicht die seinen sind, sondern von denen stammen, die ihr als die Heiligen Israels zitiert? Somit könnt ihr nicht sagen, daß der Waffenlose ein Gotteslästerer ist, denn wenn ihr dies sagen würdet, müßtet ihr die Bücher der Weisheit und des Moses, die von Gott diktiert wurden, als Gotteslästerung bezeichnen. Vor dem Waffenlosen flieht ihr? Sind meine Worte denn Steine? Oder rütteln sie euch auf, weil sie an die harte Bronze eures verhärteten Herzens, eures Gewissens schlagen, und dieses das Bedürfnis hat, sich an diesem Rüsttag zu reinigen, ja, nicht nur die Glieder, um das heilige Lamm ohne die Sünde der Unreinheit verzehren zu können? Oh, wenn dem so ist, dann Lob dem Herrn! Denn wahre Weisheit ist, o ihr, die ihr als Weise gelobt zu werden verlangt, die Selbsterkenntnis, die eigenen Fehler anzuerkennen, Reue zu empfinden und mit wahrer Andacht zu den Riten zu gehen. Das heißt: mit dem Kult und dem Ritus der Seele, nicht nur mit einem äußerlichen Ritus!

Sie sind gegangen! Auch wir wollen gehen, um denen, die auf uns warten, Frieden zu schenken...»

421. WÄHREND DES RÜSTTAGES (Dritter Teil: Auf den Straßen Jerusalems)

Sie verlassen den Tempel, der von Menschen wimmelt, und tauchen in das Menschengewühl auf den Straßen, wo sich alle beeilen, weil sie mit den letzten Vorbereitungen für das Passahmahl beschäftigt sind, und die Verspäteten atemlos nach einem Raum, einer Vorhalle oder irgend etwas anderem suchen, was sich in einen Abendmahlsaal umgestalten läßt.

Es ist ein leichtes, sich zu begegnen; aber es ist auch leicht, sich nicht wiederzuerkennen in dem Gedränge, in dem Gesichter aller Altersstufen vorbeiziehen, aus allen Gegenden, wo es Israeliten gibt und wo das reine israelitische Blut durch Vermischung mit anderem Blut oder einfach durch Anpassung Ähnlichkeit mit anderen Rassen angenommen hat. So sieht man Juden, die Ägypter zu sein scheinen, und andere, die mit ihren dicken Lippen, stumpfen Nasen und Gesichtsformen eine Mischung mit Nubiern sein könnten. Einige verraten mit ihren scharfgeschnittenen Gesichtern, kleinen Gestalten, schlanken Gliedmaßen und scharfen Blicken, daß sie aus griechischen Kolonien stammen oder sich mit Griechen

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vermischt haben, während robuste und hochgewachsene Männer mit ziemlich eckigen Gesichtern klar erkennen lassen, daß sie den Römern durchaus nahestehen. Es gibt auch viele, die wir modernen Menschen Tscherkessen oder Perser nennen würden und deren Augen bei den ersteren mit ihren weißen Gesichtern an Mongolen und bei den zweiten mit ihren olivfarbenen Gesichtern an Inder erinnern. Ein schönes Kaleidoskop von Gesichtern und Gewändern! Das Auge sieht sich müde daran, und es endet damit, daß es schaut ohne zu sehen. Aber was dem Meister entgeht, der immer in sich gekehrt ist, wenn sie ihn in Ruhe lassen und nicht mit Fragen belästigen, wird von diesem oder jenem bemerkt, der um ihn her ist. Die Apostel, die Jesus am nächsten sind, machen sich gegenseitig aufmerksam auf das, was sie sehen, und tauschen Bemerkungen aus... sehr menschliche, bezüglich der bezeichneten Personen.

Eine dieser gesalzenen Bemerkungen über einen ehemaligen Jünger, der würdevoll vorübergeht und so tut, als ob er sie nicht sähe, wird von Jesus aufgegriffen. «Wem gelten diese Worte?» fragt er.

«Diesem Dummkopf dort», sagt Jakobus des Zebedäus, in dem er auf ihn zeigt. «Er tut so, als würde er uns nicht sehen. Er ist nicht der einzige, der sich so benimmt. Aber als du ihn heilen solltest und er dich damals suchte, da hatte er Augen! Mögen die bösartigen Pusteln wieder über ihn kommen!»

«Jakobus! Mit so einer Gesinnung bist du an meiner Seite und bereitest dich vor, das Lamm zu verzehren? Wahrlich, du bist widerspruchsvoller als jener. Er hat sich offen von mir getrennt, als er fühlte, daß er nicht imstande war, zu tun, was ich sagte. Du bleibst, aber du tust nicht, was ich dir sage. Bist du also nicht ein größerer Sünder als er?»

Jakobus errötet und zieht sich gedemütigt hinter seine Gefährten zurück.

«Es tut uns weh, dich so behandelt zu sehen!» sagt Johannes, um dem Bruder zu helfen, der getadelt worden ist. «Unsere Liebe lehnt sich dagegen auf, ihre Lieblosigkeit zu sehen ...»

«Schon. Aber glaubt ihr, sie zur Liebe zu bewegen, wenn ihr so handelt? Unhöflichkeit, böse Worte und Beleidigungen haben noch keinen dorthin gebracht, wohin wir einen Rivalen oder Andersdenkenden führen wollten. Sanftmut, Geduld und Liebe, in denen man trotz aller Rückschläge ausharrt, gelangen zum Ziel. Ich verstehe und bemitleide euer Herz, das leidet, weil es mich nicht geliebt sieht. Aber ich möchte euch übernatürlicher eingestellt sehen auf eine Art und Weise, die Liebe zu mir erweckt. Auf, Jakobus, komm her! Nicht um dich zu demütigen, habe ich das gesagt. Verstehen wir uns, lieben wir uns wenigstens unter uns, meine Freunde! ... Es gibt schon so viel Unverständnis und Schmerz für den Menschensohn!»

Jakobus beruhigt sich und kehrt wieder an die Seite Jesu zurück.

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Sie gehen eine Zeitlang schweigend weiter, dann platzt Thomas laut heraus: «Aber das ist doch eine Unverschämtheit!»

«Was denn?» fragt Jesus.

«Die Feigheit der Vielen, Meister. Siehst du denn nicht, wie viele so tun, als würden sie dich nicht kennen?»

«Was macht das aus? Wird das ein Jota an dem ändern, was über mich geschrieben steht? Nein! Nur für sie ändert sich das, was geschrieben stehen könnte, denn in den Ewigen Büchern könnte von ihnen gesagt sein: "Die guten Jünger", während man schreiben wird: "Jene, die nicht gut waren; jene, für die das Kommen des Messias nichts bedeutet hat." Schreckliche Worte, wißt ihr das? Schlimmer als diese: "Adam sündigte mit Eva." Denn diese Sünde kann ich ausmerzen. Die Verleugnung des Wortes, des Erlösers, aber nicht... Biegen wir hier ab. Ich möchte mit den Brüdern Simon Petrus und Jakobus im Vorort Ophel haltmachen. Auch Judas des Simon wird bei uns bleiben. Simon der Zelote, Johannes und Thomas hingegen werden sich nach Gethsemane begeben, um unsere Taschen zu holen...»

«Ja, so wird Jonas sein Lamm beruhigt verschlucken», sagt der immer noch aufgeregte Petrus. Die anderen lachen...

«Sei gut und wundere dich nicht, daß er Angst hat. Morgen könntest du sie haben.»

«Ich, Meister? Es wäre eher möglich daß sich das Meer von Galiläa in Wein verwandelt als daß ich Angst habe», versichert Petrus.

«Aber, gestern abend... Simon! schienst du nicht mehr mutig auf den Stufen des Palastes des Chuza», sagt Judas von Kerioth ohne Spott, aber... mit genügend Sarkasmus, um Petrus zu reizen.

«Und warum? ... Ich war in Sorge um den Herrn, deswegen war ich so aufgeregt. Aus keinem anderen Grund.»

«Gut, gut! Hoffen wir, daß wir nie... Angst haben werden, um uns nicht bloßzustellen, Herr!» entgegnet Judas von Kerioth, indem er ihm mit einer Hand auf die Schulter klopft, beschützend und boshaft... Zu einer anderen Zeit hätte dies wohl eine lebhafte Entgegnung ausgelöst. Aber Petrus ist seit dem Abend zuvor in einem Zustand der... Bewunderung für Judas, und so erträgt er alles von ihm.

Jesus sagt: «Philippus, Nathanael, Andreas und Matthäus gehen zum Palast des Lazarus und benachrichtigen ihn, daß wir bald kommen.»

Letztere trennen sich von der Gruppe, und die anderen gehen mit Jesus weiter. Die Jünger, mit Ausnahme von Stephanus und Isaak, folgen den zum Palast entsandten Aposteln. Im Vorort Ophel wieder eine Trennung. Die nach Gethsemane Geschickten machen sich rasch mit Isaak auf den Weg; Stephanus bleibt bei Jesus. Die Söhne des Alphäus, Petrus, Jakobus und Iskariot, um nicht an der Kreuzung warten zu müssen, gehen auch langsam in Richtung Gethsemane. Sie benützen denselben Weg, den Jesus

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in der Nacht vom Gründonnerstag mit seinen Henkern gehen wird und der jetzt, um die Mittagszeit, menschenleer ist. Nach wenigen Schritten kommen sie zu einem kleinen Platz mit einem Brunnen, der von einem Feigenbaum beschattet wird, welcher seine zarten Blätter über dem Spiegel des klaren Wassers breitet.

«Sieh, dort ist Samuel der Annalia», sagt Jakobus des Alphäus, der ihn gut kennen muß. Der Jüngling betritt gerade mit seinem Lamm ein Haus... Er ist noch mit anderen Lebensmitteln beladen.

«Er sorgt auch für das Passahmahl seiner Verwandten», bemerkt Judas des Alphäus.

«Aber hat er sich denn jetzt hier niedergelassen? Ist er nicht fortgewesen?» fragt Petrus.

«Ja, er hat sich hier niedergelassen. Man sagt, er unterhalte ein Liebesverhältnis mit der Tochter des Kleophas, des Sandalenschusters. Sie ist reich ...»

«Aha! Und warum sagt er dann, daß Annalia ihn verlassen hat?» fragt Iskariot. «Das ist doch eine Lüge!»

«Der Mensch bedient sich der Lüge mit großer Leichtigkeit und merkt nicht, daß er sich auf diese Weise auf den Weg des Bösen begibt. Es genügt der erste Schritt, ein Schritt, um sich nicht mehr davon befreien zu können... Es ist eine Schlinge... ein Irrweg... eine Falle. Eine Falle, die sich schließt...» sagt Jesus zu Judas von Kerioth.

«Schade! Der Mann schien mir letztes Jahr so gut!» sagt Jakobus des Zebedäus.

«Ja, ich dachte wirklich, er würde es wie seine Braut machen und sich ganz dir schenken, um mit ihr ein Paar engelgleicher Brautleute und Diener Jesu zu bilden. Ich hätte darauf geschworen! ...» sagt Petrus.

«Mein Simon! Schwöre nie auf die Zukunft eines Menschen. Das ist die unsicherste Sache, die es gibt. Keine Eigenschaft, die im Augenblick des Schwures vorhanden ist, kann eine Bürgschaft für einen sicheren Eid sein. Es gibt Verbrecher, die Heilige werden, und Gerechte oder scheinbar Gerechte, die zu Verbrechern werden», antwortet ihm Jesus.

Samuel ist indessen, nachdem er ins Haus hineingegangen war, wieder herausgekommen, um an der Quelle frisches Wasser zu schöpfen... Er sieht Jesus, schaut ihn mit offensichtlicher Verachtung an und stößt ein Schimpfwort aus, das ich aber nicht verstehen kann, da es hebräisch gesagt wird.

Iskariot springt mit einem Satz nach vorn, packt ihn an einem Arm und rüttelt ihn wie einen Baum, von dem man reife Früchte schütteln will.

«So sprichst du zum Meister, du Sünder? Nieder, auf die Knie! Sofort! Bitte ihn um Verzeihung, du schmutzige, mit Schweinedreck bedeckte Zunge! Nieder! Oder ich breche dir das Rückgrat.» Furchtbar ist er in seiner plötzlichen Gewalttätigkeit, der schöne Judas! Sein Gesicht verändert

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sich in furchterregender Weise, und vergebens sucht Jesus ihn zu beschwichtigen. Solange er nicht den Gotteslästerer auf dem schlammigen Boden beim Brunnen auf den Knien sieht, gibt er nicht nach.

«Verzeih», sagt der Unglückliche verbissen, dem offenbar die Finger des Judas Schmerz bereiten, und der es nur sagt, weil er dazu gezwungen wird.

Jesus antwortet: «Ich hege keinen Groll. Du schon, trotz deiner Worte. Das Wort ist wertlos, wenn es nicht vom Herzen kommt. Du beschimpfst mich immer noch in deinem Herzen. Das ist doppelte Sünde. Denn du klagst mich an und haßt mich, und dabei sagt dir dein Gewissen in deinem Inneren, daß deine Anklage und dein Haß unbegründet sind. Du allein hast gefehlt, nicht Annalia, und auch ich nicht. Aber ich verzeihe dir alles. Geh und werde wieder ein redlicher, gottgefälliger Mensch. Laß ihn los, Judas.»

«Ich gehe. Aber ich hasse dich! Annalia ist durch dich auf Abwege geraten, und ich hasse dich...»

«Du tröstest dich indessen mit Rebekka, der Tochter des Sandalenschusters, und du hast dich schon damals getröstet, als Annalia noch mit dir verlobt und krank war und nur an dich dachte...»

«Ich war Witwer... ich glaubte schon, es zu sein... und ich suchte mir eine Frau... Jetzt bin ich zu Rebekka zurückgekehrt, weil... weil... Annalia mich nicht haben will, entschuldigt sich Samuel, der sein unrechtes Handeln aufgedeckt sieht.»

Judas Iskariot fügt hinzu: «... und weil Rebekka sehr reich ist. Häßlich wie eine ausgediente Sandale ... und alt wie eine auf dem Weg verlorene Schuhsohle... aber reich! Oh, reich! ...» und er lacht sarkastisch, während der andere entflieht.

«Woher weißt du das?» fragt Petrus.

«Oh, es ist leicht zu erfahren, wo es Jungfrauen und Geld gibt!»

«Gut! Nehmen wir den kleinen Weg dort, Meister? Dieser Platz ist heiß wie ein Backofen, dort ist Schatten und es weht ein Lüftchen», fleht Petrus, der stark schwitzt.

Sie gehen langsam, in Erwartung der Rückkehr der anderen, auf der kleinen verlassenen Straße.

Eine Frau kommt aus einer Tür und wirft sich Jesus weinend zu Füßen.

«Was hast du?»

«Meister! ... Hast du dich schon gereinigt?»

«Ja. Warum fragst du mich das?»

«Weil ich dir sagen wollte... Aber du kannst dich ihm nicht nähern. Er ist ganz vereitert... Der Arzt sagt, es sei ansteckend. Nach dem Passahfest werde ich den Priester rufen... und Hinnom wird ihn aufnehmen. Nenne mich nicht schuldig. Ich habe es nicht gewußt... Er hat viele Monate in Joppe gearbeitet und kam so zu mir zurück und sagte, daß er sich verletzt

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habe. Ich habe Balsam angewendet und ihn mit Aromen gewaschen... aber alles war umsonst. Ich habe einen Naturheilkundigen gefragt, und er hat mir Pulver für das Blut gegeben... Ich habe die Kinder fortgetan... Ich habe das Bett entfernt ... denn ich fing an zu begreifen. Es wurde schlimmer. Ich habe den Arzt gerufen. Er hat zu mir gesagt: "Frau, du kennst deine Pflicht, und ich die meinige. Die Wunde ist eine Folge seiner Begierden. Trenne dich von ihm. Ich werde ihn vom Volk trennen. Der Priester von Israel. Er hätte daran denken sollen, als er Gott, dich und sich selbst beleidigte. Nun muß er sühnen." Er hat mir versprochen zu schweigen bis nach dem Fest der Ungesäuerten Brote. Aber wenn du Mitleid mit dem Sünder und mit mir hättest, die ich ihn immer noch liebe, und mit den fünf unschuldigen Kindern...»

«Was soll ich tun? Glaubst du nicht, daß der, der sündigt, auch büßen soll?»

«Ja, Herr! Aber du bist die lebendige Barmherzigkeit!» Der ganze Glaube, dessen eine Frau fähig ist, liegt in der Stimme, im Blick, in der Haltung der knienden Frau, die dem Erlöser ihre Arme entgegenstreckt.

«Und er, was hat er im Herzen?»

«Niedergeschlagenheit... Was willst du, was er haben soll, o Herr?»

«Eine übernatürliche Regung der Reue, der Gerechtigkeit würde genügen, um Barmherzigkeit zu erlangen! ...»

«Gerechtigkeit ?»

«Ja. Es würde genügen, daß er sagt: "Ich habe gesündigt. Meine Sünde verdient dies und noch viel mehr, und von denen, die ich beleidigt habe, erbitte ich Erbarmen."»

«Mein Erbarmen hat er schon. Du, Gott, gib ihm auch das deine. Ich kann nicht zu dir sagen: "Tritt ein"... Du siehst, daß nicht einmal ich dich berühre... Aber wenn du willst, will ich ihn rufen und von der Terrasse aus sprechen lassen.»

«Ja.»

Die Frau steckt den Kopf ins Haus und ruft laut: «Jakob, steige aufs Dach. Zeige dich. Fürchte dich nicht.»

Kurz darauf zeigt sich der Mann an der Brüstung der Terrasse. Er hat ein gelbliches, aufgedunsenes Gesicht, der Hals und eine Hand sind verbunden... Das Wrack eines verkommenen Menschen... Er schaut mit den wäßrigen Augen eines Kranken, der von einer beschämenden Krankheit befallen ist, herab und fragt: «Wer fragt nach mir?»

«Jakob, der Erlöser ist hier! ...» Die Frau sagt nicht mehr, aber es scheint, als wolle sie den Kranken hypnotisieren, ihm ihre Gedanken übertragen...

Der Mann, sei es, daß er diese Gedanken wahrnimmt, sei es, daß er eine spontane Regung verspürt, streckt seine Arme aus und sagt: «Oh, befreie mich! Ich glaube an dich! Es ist schrecklich, so sterben zu müssen.»

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«Es ist schrecklich, wenn man sich seiner Pflicht entzieht. Daran und an deine Kinder hast du wohl nicht gedacht?»

«Erbarmen, Herr... Ihretwegen... meinetwegen... Verzeihung! Verzeihung!» Er bricht weinend über der Brüstung zusammen, die mit Binden umwickelten Hände ausgestreckt und die ganzen Arme, die unbedeckt bleiben, weil die Ärmel hinaufgerutscht sind, mit schon aufgeschwollenen , abstoßenden Pusteln bedeckt... So, wie er daliegt, scheint dieser Mensch ein gräßlicher Hampelmann, eine hingeworfene Leiche mit Anzeichen beginnender Zersetzung, zu sein. Er erweckt Mitleid und Abscheu zugleich.

Die Frau weint, immer noch im Staub kniend. Jesus scheint noch auf ein Wort zu warten...

Endlich kommt es unter Schluchzen von der Terrasse: «Ich seufze zu dir in der Betrübnis des Herzens! Gib mir wenigstens das Versprechen, daß sie nicht Hunger leiden werden... dann... dann werde ich mich ergeben der Sühne unterziehen, und du, gesegneter Erlöser, rette meine Seele! Wenigstens diese! Wenigstens diese!»

«Ja, ich heile dich, um der Unschuldigen willen, um dir Gelegenheit zu geben, rechtschaffen zu werden. Verstehst du? Sei eingedenk, daß der Erlöser dich geheilt hat. Gott wird dich in dem Maße, in dem du dieser Gnade entsprichst, von deinen Sünden befreien. Leb wohl! Der Friede sei mit dir, Frau.» Er entfernt sich fast im Laufschritt und geht denen entgegen, die von Gethsemane kommen. Nicht einmal das Geschrei des Mannes, der sich geheilt fühlt und sieht, noch das der Frau können ihn zurückhalten...

«Wir wollen in diese Gasse einbiegen, um nicht noch einmal dort vorbeizukommen», sagt Jesus, nachdem er mit den anderen zusammengetroffen ist.

Sie nehmen einen sehr schlecht zu gehenden Weg, der so schmal ist, daß kaum zwei nebeneinander gehen können. Wenn ihnen ein mit einer Last beladener Esel entgegenkommt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich ganz flach an die Mauer zu drücken. Wegen der Dächer, die sich beinahe berühren, herrscht Halbdunkel nebst Verlassenheit, Stille und schlechtem Geruch. Sie gehen hintereinander wie Mönche durch diese elende Gasse. Danach erst bilden sie eine Gruppe auf einem Platz, der voll von Knaben ist.

«Warum hast du dem Mann solche Worte gesagt? Du gebrauchst sie sonst nie...» fragt Petrus neugierig.

«Weil dieser Mann einer meiner Feinde sein wird, und die zukünftige Schuld wird die, die bereits auf ihm lastet, noch erschweren.»

«Und du hast ihn geheilt?» fragen alle überrascht.

«Ja! Der kleinen Unschuldigen wegen!»

«Hm! Er wird wieder krank werden...»

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«Nein. Nach diesen Leiden und Schrecken wird er für seine leibliche Gesundheit Sorge tragen und nicht mehr krank werden.»

«Aber er wird gegen dich sündigen, sagst du. Ich würde ihn sterben lassen.»

«Du bist ein sündiger Mensch, Simon des Jonas.»

«Und du bist zu gut, Jesus von Nazareth», entgegnet Petrus. Sie kommen auf eine Hauptstraße, und dann sehe ich nichts mehr.

Eine Anmerkung der Seherin:

Sowohl den geheilten Mann als auch Samuel erkenne ich wieder. Ersterer wird Jesus während der Passion mit einem Stein am Kopf treffen. Noch besser erkenne ich seine Frau, die schmerzlich weint wie damals, und das Haus, das eine charakteristische hohe Tür mit drei Stufen hat. Ebenso erkenne ich unter der Maske des Hasses, die ihn verändert, Samuel, den Jüngling, der seine Mutter mit einem Fußtritt tötet, um hingehen zu können und den Meister mit einem Prügel zu schlagen. Was mich angeht, so will ich diese Anmerkung später als Fußnote auf der entsprechenden Seite der Passion wiederholen.

422. WÄHREND DES RÜSTTAGES (Vierter Teil: Das Passahmahl mit Lazarus)

Als Jesus den Palast betritt, wimmelt dieser von einer Schar von Dienern, die von Bethanien gekommen und mit Vorbereitungen beschäftigt sind.

Lazarus liegt sehr leidend auf einem Tragbett ausgestreckt und grüßt mit einem matten Lächeln den Meister, der auf ihn zueilt, sich liebevoll über seine Lagerstätte beugt und fragt: «Du hast sehr unter den Stößen des Wagens gelitten, nicht wahr, mein Freund?»

«Sehr, Meister», antwortet Lazarus, der so erschöpft ist, daß ihm schon der Gedanke daran Tränen in die Augen treibt.

«Um meinetwillen! Verzeih mir!»

Lazarus nimmt eine Hand Jesu, führt sie ans Gesicht, streichelt damit seine ausgemergelte Wange und flüstert: «Oh, nicht durch deine Schuld, Herr! Ich bin so glücklich, daß du das Passahfest mit mir feierst... mein letztes Passahfest! ...»

«Wenn Gott will, wirst du trotz allem noch viele feiern, Lazarus, und dein Herz wird stets bei mir sein.»

«Oh, ich bin am Ende. Du tröstest mich... aber es ist zu Ende, und das tut mir weh ...» Er weint.

«Siehst du, Herr? Lazarus weint ununterbrochen», klagt Martha voller Mitleid. «Sage ihm, daß er es nicht tun soll, er richtet sich so zugrunde.»

«Der Körper beansprucht noch seine Rechte. Das Leiden ist qualvoll, Martha, und der Körper weint. Er bedarf dieser Erleichterung. Doch deine

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Seele ist ergeben, nicht wahr, mein Freund? Die Seele des Gerechten erfüllt gerne den Willen des Herrn...»

«Ja... Aber ich weine, weil du so verfolgt wirst, daß du mir in der Sterbestunde nicht beistehen kannst... Mich schaudert, ich habe Angst vor dem Sterben... Wenn du bei mir wärest, hätte ich dies alles nicht. Ich würde mich in deine Arme flüchten und dort sanft einschlafen... Wie werde ich es machen? Wie werde ich ohne Auflehnung gegen diesen furchtbaren Willen sterben können?»

«Habe Mut! Denk nicht an diese Dinge. Siehst du? So bringst du die Schwestern zum Weinen... Der Herr wird dir auf so väterliche Weise helfen, daß du keine Furcht haben mußt. Fürchten müssen sich nur Sünder ...»

«Aber wenn du kommen kannst, wirst du mir dann in der Sterbestunde beistehen? Versprich es mir!»

«Ich verspreche es dir, dies und noch viel mehr.»

«Während man die Vorbereitungen trifft, erzähle mir, was du heute morgen getan hast...»

Jesus setzt sich nun auf den Rand des Bettes, und die magere Hand des Lazarus in den seinen, erzählt er der Reihe nach, was vorgefallen ist, bis Lazarus erschöpft einschläft. Doch Jesus zieht seine Hand nicht zurück. Er bleibt unbeweglich sitzen, um diesen erquickenden Schlaf nicht zu stören, und gibt ein Zeichen, daß man möglichst wenig Lärm machen soll. Martha, die soeben Jesus eine Erquickung bringt, zieht sich auf Zehenspitzen zurück, indem sie den schweren Vorhang herabläßt und die wuchtige Türe schließt. Der Lärm im ganzen Hause wird auf diese Weise gedämpft und auf ein kaum hörbares Geräusch vermindert. Lazarus schläft. Jesus betet und betrachtet. So gehen die Stunden vorüber, bis Maria Magdalena mit einer kleinen Lampe erscheint, da sich der Abend niedersenkt und die Fenster geschlossen werden.

«Schläft er noch?» flüstert sie.

«Ja. Er ist sehr ruhig. Das wird ihm gut tun.»

«Seit Monaten hat er nicht mehr so geschlafen... Ich glaube, der Gedanke an den Tod hat ihn sehr beunruhigt. In deiner Nähe hat man keine Furcht... vor nichts... Der Glückliche!»

«Warum, Maria?»

«Weil er dich in der Stunde seines Todes in seiner Nähe haben kann. Ich aber ...»

«Warum du nicht?»

«Weil du sterben willst... und bald, und ich, wer weiß, wann ich sterben werde. Laß mich vor dir sterben, Meister!»

«Nein, du wirst mir noch lange dienen müssen.»

«Dann habe ich doch recht, wenn ich sage, daß Lazarus glücklich ist!»

«Die Vielgeliebten werden alle glücklich sein wie er, und noch glücklicher als er.»

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«Wer sind diese? Die Reinen, nicht wahr?»

«Jene, die vollkommen zu lieben verstehen. Du, zum Beispiel, Maria.»

«Oh, mein Meister!» Maria gleitet auf den bunten Teppich, der den Fußboden des Raumes bedeckt, und verweilt in dieser Haltung, in Anbetung ihres Jesus.

Martha, auf der Suche nach Maria, steckt den Kopf herein.

«Nun komm doch! Wir müssen den roten Saal für das Mahl des Herrn vorbereiten.»

«Nein, Martha. Den gebt ihr den Ärmsten, den Landarbeitern Jochanans zum Beispiel.»

«Aber warum, Meister?»

«Weil die Armen ebenso sind wie Jesus, und ich in ihnen bin. Ehrt immer die Armen, die niemand liebt, wenn ihr vollkommen sein wollt. Für mich könnt ihr die Vorhalle vorbereiten, und wenn ihr die Türen der zahlreichen Räume rings um die Vorhalle offenlaßt, dann können mich alle gleicherweise sehen, und auch ich sehe alle.»

Martha ist nicht sehr zufrieden und entgegnet: «Aber du, in einer Vorhalle! ... Das ist deiner nicht würdig!»

«Geh! Geh und tue, was ich dir sage. Es ist wohl würdig, das zu tun, was der Meister rät.»

Maria und Martha gehen geräuschlos hinaus, und Jesus bleibt geduldig zurück, um bei dem ruhenden Freund zu wachen.

Die Abendmahlzeit ist in vollem Gang. Die Sitzordnung ist nach menschlichen Gesichtspunkten schlecht gewählt. Sie entspricht jedoch einem höheren Maßstab, der denen Ehre und Liebe erweist, die die Welt für gewöhnlich vernachlässigt.

So sitzen in dem herrlichen, königlichen roten Saal, dessen Gewölbe auf zwei roten Porphyrsäulen ruht, zwischen denen ein langer Tisch aufgestellt ist, die Landarbeiter des Jochanan zusammen mit Margziam, Isaak und so vielen anderen Jüngern als Platz gefunden haben. In dem Saal, in dem gestern abend das Mahl stattgefunden hat, sitzen noch weitere von den einfachsten Jüngern. Im weißen Saal, einem Traum von reinem Glanz, befinden sich die jungfräulichen Jüngerinnen, vier an der Zahl, und mit ihnen die Schwestern von Lazarus, Anastasica und andere Mädchen. Aber die Königin des Festes ist Maria, die Jungfrau der Jungfrauen. Im benachbarten Raum, der wohl eine Bibliothek ist, da seine Wände mit hohen Schreinen ausgestattet sind, die vielleicht Buchrollen enthalten oder enthielten, sitzen die Witwen und die Ehefrauen, mit Elisa von Bethsur und Maria des Alphäus an der Spitze, und so weiter.

Aber besonders eindrucksvoll ist Jesus im marmornen Atrium. tatsächlich hat der herrschaftliche Geschmack der beiden Schwestern des Lazarus das viereckige Atrium in einen lichtvollen, blumengeschmückten Saal verwandelt, aber es bleibt dennoch eine Vorhalle. Jesus sitzt mit den

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Zwölfen zusammen, doch an seiner Seite sitzt Lazarus und neben Lazarus Maximinus.

Die Abendmahlzeit verläuft dem Ritus entsprechend, und Jesus strahlt vor Freude, mitten unter all seinen getreuen Jüngern zu sein.

Nach Beendigung der Mahlzeit, nach dem letzten Kelch, nach dem Gesang des letzten Psalms, strömen alle, die in den verschiedenen Sälen waren, im Atrium zusammen. Aber der Raum faßt nicht alle, zumal die Tische viel Platz einnehmen.

«Begeben wir uns in den roten Saal, Meister. Wir werden den Tisch an die Wand rücken, und so werden alle um dich versammelt sein», schlägt Lazarus vor und gibt den Dienern ein Zeichen.

Nun sitzt Jesus zwischen den beiden kostbaren Säulen unter dem strahlenden Leuchter auf einem Podium, das aus zwei Liegebetten besteht, die für das Mahl benützt worden sind, und so gleicht der Meister einem König, der inmitten seiner Höflinge auf einem Thron sitzt. Sein Linnengewand, das er vor dem Mahl angelegt hat, leuchtet, als bestünde es aus den kostbarsten Fäden, und es erscheint noch weißer, wenn man es mit dem matten Rot der Wände und dem glänzenden Rot der Säulen vergleicht. Sein Antlitz ist wahrhaft göttlich und königlich, während er spricht oder den Umstehenden Gehör schenkt. Auch die Einfachsten, die Geringsten, die er bei sich haben wollte und die sich von allen anderen brüderlich geliebt fühlen, sprechen mit sicherer Stimme und berichten ihre Hoffnungen und Sorgen mit Schlichtheit und voll Vertrauen.

Aber der Glücklichste unter allen Glücklichen ist der Großvater Margziams. Er trennt sich keinen Augenblick von seinem Enkel und weidet sich an dessen Anblick und Reden... Ab und zu neigt er das greise Haupt auf die Brust des Enkels, der ihn liebkost.

Jesus bemerkt diese Geste mehrmals und wendet sich daraufhin dem Alten zu: «Vater, ist dein Herz glücklich?»

«Oh, sehr glücklich, mein Herr! Es scheint mir fast nicht wahr zu sein. Ich habe nur noch einen Wunsch...»

«Welchen?»

«Den, den ich meinem Sohn gesagt habe, aber er ist nicht damit einverstanden.»

«Worin besteht er?»

«Ich möchte in diesem Frieden sterben, wenn es möglich ist. In Bälde wenigstens! Denn nunmehr habe ich das höchste Gut empfangen. Mehr kann ein Geschöpf auf Erden nicht erreichen. Von dannen gehen ... nicht mehr leiden... Gehen... Wie hast du es so schön im Tempel gesagt, o Herr: "Wer Opfer darbringt mit dem Eigentum der Armen, ist wie einer, der den Sohn vor den Augen des Vaters mordet!" Nur die Furcht vor dir hält Jochanan davon ab, es Doras nachzutun. In ihm ist die Erinnerung wach geblieben an das, was dem andern geschah. Seine Felder gedeihen, und er

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düngt sie mit unserem Schweiß. Ist nicht der Schweiß der Besitz des Armen, sein Eigentum, das ihm ausgepreßt wird durch Mühen, die seine Kräfte übersteigen? Er schlägt uns nicht, er gibt uns so viel zu essen, daß wir stark bleiben für die Arbeit. Aber nützt er uns nicht noch mehr aus als den Ochsen? Bestätigt es, meine Kameraden...»

Die alten und jungen Landarbeiter Jochanans nicken beifällig.

«Hm! Ich glaube... daß deine Worte aus ihm einen noch schlimmeren Blutsauger machen werden. Warum hast du sie ausgesprochen, Meister?»fragt Petrus.

«Weil er sie verdient. Nicht wahr, ihr Feldarbeiter?»

«O ja! Während der ersten Monate ging es gut. Aber jetzt... ist es schlimmer als zuvor», versichert Michäas.

«Der Eimer des Brunnens sinkt durch sein eigenes Gewicht», bemerkt der Priester Johannes gemäß einem alten Spruch.

«Ja, und der Wolf ist es bald müde, das Lamm zu spielen», fügt Hermas hinzu. Die Frauen flüstern voller Mitleid miteinander.

Jesus schaut mit vor Mitleid weit geöffneten Augen auf die armen Landarbeiter, betrübt darüber, daß er keine Möglichkeit hat, ihnen zu helfen.

Lazarus sagt: «Ich hatte unglaubliche Summen geboten, um die Felder zu kaufen und ihnen Frieden zu verschaffen. Aber es ist mir nicht gelungen, sie zu erwerben. Doras, der in allem seinem Vater ähnlich ist, haßt mich.»

«Nun gut... so werden wir eben sterben. Es ist unser Los. Aber es wird auch für uns einmal die selige Ruhe in Abrahams Schoß kommen 1» ruft Saul, ein anderer Knecht Jochanans, aus.

«Im Schoß Gottes, mein Sohn! Im Schoß Gottes. Die Erlösung wird vollbracht und ihr werdet in den Himmel eingehen und...» Am großen Tor wird heftig angeklopft, so daß das Klopfen stark widerhallt. Unruhe kommt in die Versammlung.

«Wer ist es?»

«Wer ist am Abend des Passahfestes unterwegs?»

«Soldaten?»

«Pharisäer?»

«Soldaten des Herodes?»

Aber während die Aufregung sich ausbreitet, erscheint Levi, der Wächter des Palastes. «Verzeih, o Rabbi», sagt er, «da ist ein Mann, der dich zu sprechen wünscht. Er wartet am Eingang und scheint sehr betrübt zu sein. Er ist alt und mir scheint, daß es einer aus dem niederen Volk ist. Er verlangt nach dir, und zwar schnell.»

«Oho! Das ist kein Abend für Wunder! Er soll morgen wiederkommen...» sagt Petrus.

«Nein! Jeder Abend ist für Wunder und Barmherzigkeit da», sagt

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Jesus, erhebt sich und steigt von seinem Sitz, um sich in die Vorhalle zu begeben.

«Gehst du allein? Ich komme mit», sagt Petrus.

«Nein, du bleibst, wo du bist.»

Er geht an der Seite Levis hinaus.

Im Hintergrund, am schweren Tor der Vorhalle, in der, da die Lampen gelöscht worden sind, nun fast Dunkelheit herrscht, steht ein aufgeregter Greis. Jesus nähert sich ihm.

«Bleib stehen, Meister. Vielleicht habe ich einen Toten berührt, ich will dich nicht verunreinigen. Ich bin der Verwandte Samuels, des Bräutigams der Annalia. Wir haben Abendmahl gehalten, und Samuel trank und trank... mehr als recht war. Aber mir scheint, daß der Jüngling seit einiger Zeit den Verstand verloren hat. Das sind die Gewissensbisse, Herr! Halb betrunken sagte er, während er wieder zu trinken anfing: "Ich erinnere mich wenigstens nicht mehr daran, ihm gesagt zu haben, daß ich ihn hasse. Denn ich habe, das sollt ihr wissen, den Rabbi verflucht." Er schien mir Kain zu sein, als er wiederholte: "Meine Bosheit ist allzu groß. Ich verdiene keine Verzeihung! Trinken muß ich! Trinken, um zu vergessen. Denn es steht geschrieben, wer seinen Gott verflucht, trägt seine Sünde mit sich und ist des Todes schuldig." Er war schon ganz außer sich, als ein Verwandter der Mutter Annalias das Haus betrat und nach dem Grund der Verstoßung fragte. Samuel, der bereits halb betrunken war, reagierte mit harten Worten, und der Mann drohte ihm, ihn wegen der Schändung der Familie vor den Richter zu schleppen. Samuel ohrfeigte ihn als erster, und sie gerieten aneinander... Ich bin alt, und meine Schwester ist auch alt; alt sind der Diener und die Dienerin. Was konnten wir tun, wir vier und die beiden Mädchen, die Schwestern Samuels? Schreien konnten wir! Wir konnten versuchen, sie zu trennen! Sonst nichts... Samuel ergriff das Beil, mit dem wir die Holzstücke für das Lamm gespalten hatten, und schlug damit auf den Kopf des anderen... Er spaltete ihm nicht den Kopf, denn er schlug mit der Rückseite und nicht mit der Schneide zu. Aber der andere wankte, röchelte und fiel zu Boden... Wir haben nicht mehr geschrien, um... nicht das Volk darauf aufmerksam zu machen... Wir haben uns im Hause verbarrikadiert... niedergeschmettert... Wir hofften, daß der Mann wieder zu sich kommen würde, als wir ihm Wasser auf den Kopf schütteten. Aber er röchelte und röchelte. Sicher wird er sterben. Manchmal schien er schon tot zu sein. Ich bin in einem dieser Augenblicke weggelaufen, um dich zu holen. Morgen... vielleicht schon vorher, werden die Verwandten den Mann bei uns suchen, denn sie wissen sicherlich, daß er zu uns gekommen ist. Sie werden ihn tot finden ... Dann wird Samuel dem Gesetz gemäß getötet werden... Herr! Herr! ... Die Schande ist schon über uns... Aber dies, nein! Um meiner Schwester willen, hab Erbarmen, Herr! Er hat dich verflucht... Aber die Mutter liebt dich ... Was sollen wir tun?»

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«Erwarte mich hier. Ich komme gleich.» Jesus kehrt in den Saal zurück und ruft von der Türe aus: «Judas von Kerioth, komm mit mir.»

«Wohin, Herr?» fragt Judas, der sofort gehorcht.

«Du wirst es gleich erfahren. Ihr alle bleibt in Frieden und in Liebe beisammen. Wir werden bald zurück sein.»

Sie verlassen den Saal, die Vorhalle, das Haus. Der einsame, finstere Weg ist rasch zurückgelegt. Sie kommen zum Haus des Unglückes.

«Das Haus Samuels?! Warum?»

«Schweig, Judas. Ich habe dich mitgenommen, weil ich auf deinen praktischen Sinn vertraue.»

Der Alte hat sich zu erkennen gegeben. Sie treten ein und steigen hinauf zum Speisesaal, in den man den Verletzten getragen hat.

«Ein Toter?! Aber Meister! Wir machen uns unrein!»

«Er ist nicht tot. Siehst du nicht, daß er atmet, und hörst du nicht, daß er röchelt? Ich werde ihn jetzt heilen.»

«Aber er ist am Kopf verletzt! Hier wurde ein Verbrechen begangen! Wer ist das gewesen? ... und noch dazu am Tag des Lammes!» Judas ist entsetzt.

«Er ist es gewesen», sagt Jesus und deutet auf Samuel, der sich in einem Winkel zusammengekauert hat und dem Tode näher scheint als der Sterbende selbst. Er keucht vor Angst, wie der andere im Todeskampf, und hat einen Zipfel seines Mantels über den Kopf gezogen, um nicht zu sehen und nicht gesehen zu werden. Alle starren ihn voller Entsetzen an, mit Ausnahme seiner Mutter, in der sich der Schrecken über den Mord mit dem Schmerz über den schuldigen Sohn mischt, der im voraus durch das eherne Gesetz Israels verurteilt ist.

«Siehst du, wohin die erste Sünde führt? Dazu, o Judas! Erst ein Meineid der Frau gegenüber, dann ein anderer Gott gegenüber; daraufhin wurde er zum Verleumdet, Lügner, Flucher und Gotteslästerer, dann hat er sich dem Wein hingegeben, und nun ist er zum Mörder geworden. So liefert man sich Satan aus, o Judas. Denk immer daran ...» Jesus ist furchtbar, als er mit ausgestrecktem Arm auf Samuel weist.

Dann aber schaut er auf die Mutter, die sich an einen Fensterflügel geklammert hat. Von starkem Zittern geschüttelt, kann sie kaum aufrecht stehen und scheint dem Tode nahe. Jesus sagt mit trauriger Miene: «Und so, Judas, werden die armen Mütter getötet, ohne andere Waffe, als die des Verbrechens eines Sohnes. Die armen Mütter! ... Ich habe Mitleid mit ihnen. Ich, der Sohn, für dessen Mutter man kein Mitleid empfinden wird...»

Jesus weint. Judas blickt ihn erstaunt an...

Jesus neigt sich über den Sterbenden und legt ihm die Hand aufs Haupt. Er betet. Der Mann öffnet die Augen. Er scheint ein wenig betrunken, erstaunt zu sein... Doch dann kommt er zu sich. Er setzt sich auf,

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indem er die Fäuste auf den Boden stemmt, und schaut Jesus an. Er fragt: «Wer bist du?»

«Jesus von Nazareth.»

«Der Heilige! Warum bist du bei mir? Wo bin ich? Wo sind meine Schwester und ihre Tochter? Was ist vorgefallen?» Er versucht, sich zu erinnern.

«Mann, du nennst mich den Heiligen. Du hältst mich also dafür?»

«Ja, Herr! Du bist der Gesandte der Herrn!»

«Dann ist mein Wort dir also heilig?»

«Ja, o Herr!»

«Dann...» Jesus steht auf, hoheitsvoll in seiner Gestalt: «So befehle ich dir als Meister und Messias, zu verzeihen. Du bist hierher gekommen und wurdest beleidigt ...»

«Ach! Samuel! Ja! ... Das Beil! Ich werde ihn anzeigen! ...» sagt er beim Aufstehen.

«Nein, verzeihe im Namen Gottes, dafür habe ich dich geheilt. Dir liegt die Mutter Annalias am Herzen, weil sie gelitten hat. Die Mutter des Samuel würde noch mehr leiden. Verzeihe!»

Der Mann kann sich nicht entschließen. Er betrachtet den Verbrecher mit offensichtlichem Groll. Er schaut auf die verängstigte Mutter und dann auf Jesus, der ihn beherrscht... Aber er kann sich nicht entschließen.

Jesus öffnet die Arme, zieht ihn an seine Brust und sagt:

«Aus Liebe zu mir!»

Der Mann beginnt zu weinen... So in den Armen des Messias zu sein, seinen Atem im Haar zu spüren, und einen Kuß, der auf die Wunde gedrückt wird! ... Er weint und weint...

Jesus sagt: «Ja, nicht wahr? Du verzeihst aus Liebe zu mir? Oh, selig die Barmherzigen! Weine, weine an meinem Herzen! Möge mit den Tränen jeder Groll entweichen! Alles neu! Alles rein! Ja, so! Sanft! Sanft, wie ein Kind Gottes sein soll ...»

Der Mann erhebt sein Gesicht und sagt unter Tränen: «Ja, ja, deine Liebe ist so süß! Annalia hat recht! Nun verstehe ich sie... Frau! Weine nicht mehr! Die Vergangenheit ist vergessen. Niemand wird etwas aus meinem Mund erfahren. Erfreue dich deines Sohnes, wenn er dir Freude bereiten kann. Leb wohl, Frau. Ich kehre in mein Haus zurück», und er will fortgehen.

Jesus sagt zu ihm: «Ich komme mit dir, Mann. Leb wohl, Mutter! Leb wohl, Abraham. Lebt wohl, ihr Mädchen!» Kein Wort für Samuel, der seinerseits auch keine Worte findet.

Die Mutter reißt ihm den Mantel vom Kopf, und wirft sich in einer Reaktion auf das Vorgefallene auf den Sohn: «Danke deinem Erlöser, du harte Seele! Danke ihm, du unwürdiger Mensch! ...»

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«Laß ihn, Frau. Sein Wort hätte keinen Wert. Der Wein macht ihn töricht, und seine Seele ist verschlossen. Bete für ihn ... Leb wohl.»

Er geht die Treppe hinunter, holt auf dem Wege Judas und den anderen ein, befreit sich vom alten Abraham, der ihm die Hände küssen will, und schreitet im ersten Mondschein mit raschen Schritten dahin.

«Wohnst du weit weg», fragt er den Mann.

«Am Fuß des Berges Moria.»

«So müssen wir uns trennen.»

«Herr, du hast mich den Kindern, der Frau, dem Leben bewahrt. Was kann ich für dich tun?»

«Gut sein, verzeihen und schweigen. Niemals und aus keinem Grunde sollst du ein Wort von dem sagen, was vorgefallen ist. Versprichst du mir das?»

«Ich schwöre es beim heiligen Tempel! Obwohl es mir schwerfällt, nicht zu sagen, daß du mich gerettet hast ...»

«Sei ein Gerechter, und ich werde deine Seele retten. Das kannst du allen sagen. Leb wohl, Mann. Der Friede sei mit dir!»

Der Mann kniet nieder und verabschiedet sich. Dann trennen sie sich.

«Unglaublich! Unglaublich, was für Dinge geschehen!» sagt Judas, jetzt, da sie allein sind.

«Ja, schreckliche Dinge! Judas, auch du wirst nicht darüber sprechen!»

«Nein, Herr! Aber warum wolltest du mich bei dir haben?»

«Freust du dich nicht über mein Vertrauen?»

«Oh, sehr! Aber...»

«Nun, ich wollte, daß du darüber nachdenkst, wohin Lüge, Geldgier, Völlerei und nutzloses Praktizieren einer Religion, die nicht mehr geistig geübt wird, führen können. Und was ist das symbolische Bankett für Samuel gewesen? Nichts! Eine Völlerei, eine Gotteslästerung, und dabei ist er zum Mörder geworden. Viele werden in Zukunft sein wie er und mit dem Geschmack des Lammes auf der Zunge – nicht des Lammes, das vom Schaf geboren wird, sondern des göttlichen Lammes – zum Verbrechen übergehen. Warum das? Wie kann das geschehen? Fragst du dich nicht? So sage ich es dir selbst: weil sie sich auf jene Stunde durch viele vorausgegangene Verbrechen vorbereitet haben, durch Gleichgültigkeit am Anfang, durch Hartherzigkeit später. Erinnere dich daran, Judas!»

«Ja, Meister, und was werden wir den anderen sagen?»

«Daß jemand schwer krank war. Das ist die Wahrheit.»

Sie biegen rasch in eine Straße ein, und ich verliere sie aus den Augen.

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423. DER SABBAT DER UNGESÄUERTEN BROTE

Viele Jünger und Jüngerinnen haben Abschied genommen und sind zu den gastlichen Häusern zurückgekehrt. Andere gehen auf den Wegen zurück, auf denen sie gekommen sind.

An dem strahlenden Nachmittag dieses schon fortgeschrittenen Aprils sind im Hause des Lazarus nur noch die eigentlichen Jünger anwesend, besonders jene, die für die Verkündigung der Frohen Botschaft bestimmt sind, also die Hirten, Hermas und Stephanus, der Priester Johannes, Timoneus, Ermastheus, Joseph von Emmaus, Salomon, Abel von Bethlehem in Galiläa, Samuel und Abel von Chorazim, Agapus, Aser und Ismael von Nazareth, Elias von Chorazim, Philippus von Arbela, Joseph, der Fährmann von Tiberias, Johannes von Ephesus und Nikolaus von Antiochia. Von den Frauen sind außer den bekannten Jüngerinnen Annalia, Dorkas, die Mutter des Judas, Myrtha, Anastasica und die Töchter des Philippus geblieben. Weder Miriam des Jairus, noch Jairus selbst sehe ich. Vielleicht sind sie schon in das Haus zurückgekehrt, in dem sie zu Gast sind.

Die Männer spazieren langsam in den Höfen oder auf der Terrasse des Hauses hin und her, während fast alle Frauen und Jüngerinnen um Jesus versammelt sind, der am Bett des Lazarus sitzt. Sie hören ihm zu, während er mit Lazarus spricht und die Gegenden beschreibt, die sie in den letzten Wochen vor der Reise nach Jerusalern durchquert haben.

«Du bist gerade rechtzeitig gekommen, um den Kleinen zu retten», bemerkt Lazarus nach dem Bericht über die Burg in Caesarea Philippi, indem er auf den Säugling weist, der selig in den Armen seiner Mutter schläft, und fügt hinzu: «Es ist ein schöner Knabe! Frau, läßt du mich ihn aus der Nähe sehen?»

Dorkas erhebt sich und überläßt ihren Neugeborenen schweigend, aber triumphierend der Bewunderung des Kranken.

«Ein schöner Knabe! Wirklich schön! Der Herr möge ihn dir beschützen und gesund und heilig heranwachsen lassen.»

«Und dem Heiland treu. Wenn er das nicht sein sollte, würde ich ihn lieber sterben sehen, auch sofort. Alles, nur nicht, daß der Gerettete dem Herrn gegenüber undankbar sei», sagt Dorkas entschieden und kehrt an ihren Platz zurück.

«Oh, der Herr kommt immer zur rechten Zeit, um zu retten», sagt Myrtha, die Mutter Abels aus Bethlehem. «Der meinige war dem Tode nicht so nahe wie der Kleine der Dorkas. Und welch einem Tod! Aber Jesus ist gekommen... und hat ihn gerettet. Welch schreckliche Stunde! ...» Myrtha wird schon allein bei der Erinnerung daran bleich...

«Dann wirst du auch zur rechten Zeit zu mir kommen, nicht wahr? Um mir Frieden zu schenken...» sagt Lazarus und streichelt die Hand Jesu.

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«Aber geht es dir denn nicht etwas besser, mein Bruder?» fragt Martha. «Seit gestern scheinst du erleichtert zu sein...»

«Ja, und darüber wundere ich mich selbst. Vielleicht hat Jesus ...»

«Nein, Freund. Es ist, weil ich dir meinen Frieden einflöße. Deine Seele ist davon durchdrungen, und so spürst du auch die Schmerzen in den Gliedern weniger. Es ist Gottes Beschluß, daß du leiden mußt.»

«Und sterben. Sag es nur. Nun gut... es geschehe sein Wille, wie du lehrst. Von jetzt an werde ich nicht mehr um Heilung, noch um Erleichterung bitten. Ich habe so viel von Gott erhalten (und er schaut unwillkürlich auf Maria, seine Schwester), daß es nur recht ist, ihm als Entgelt dafür meine Ergebung anzubieten ...»

«Tue noch mehr, mein Freund. Es ist schon viel, ergeben zu sein und den Schmerz zu ertragen. Aber du sollst ihm einen noch höheren Wert verleihen.»

«Welchen, mein Herr?»

«Opfere ihn für die Erlösung der Menschen auf.»

«Ich bin nur ein armer Mensch, Meister. Ich kann mir nicht anmaßen, ein Erlöser zu sein.»

«Das sagst du. Aber du bist im Irrtum. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen zu helfen. Aber auch die Menschen können Gott helfen. Die Werke der Gerechten, der vor Jahrhunderten verstorbenen, der heutigen und der zukünftigen, werden in der Stunde der Erlösung mit den meinigen vereint. Du, vereine die deinen schon von jetzt an mit den meinen. Es ist so schön, sich der unendlichen Güte hinzugeben, ihr hinzuzufügen, was wir mit unserer begrenzten Güte geben können, und zu sagen: "Auch ich wirke mit, o Vater, am Wohl der Brüder." Es gibt keine größere Liebe zum Herrn und zum Nächsten, als das Wissen darum, daß man für die Herrlichkeit Gottes und für das ewige Heil der Brüder leidet und stirbt. Sich selbst retten? Das ist wenig. Das ist das Mindeste an Heiligkeit. Schön ist es, zu retten. Sich hinzugeben, um zu retten. So sehr lieben, daß man zur lodernden Flamme wird, um zu retten. Dann ist die Liebe vollkommen, und die Heiligkeit des Hochherzigen wird großartig sein.»

«Wie schön ist dies alles, nicht wahr, meine Schwestern?» sagt Lazarus mit einem verträumten Lächeln auf dem schmalen Antlitz.

Martha nickt gerührt.

Maria, die zu Füßen Jesu auf einem Kissen sitzt, in ihrer gewohnten Haltung einer demütigen, glühenden Anbeterin, sagt: «Vielleicht ist das Leiden meines Bruders der Preis für meine Seele? Sag es mir, Herr, damit mein Seelenschmerz vollkommen sei! ...»

Lazarus ruft aus: «Nein, Maria. Nein ... Ich würde... so oder so sterben müssen. Durchbohre dein Herz nicht mit Dornen.»

Aber Jesus, aufrichtig bis zum letzten, sagt: «Gewiß, so ist es. Ich habe den guten Bruder mit seinen Gebeten und seinem Flehen gehört. Aber das

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soll dir keinen Kummer machen, der dich beschwert, sondern es soll dich anspornen, um jeden Preis vollkommen zu werden; und freue dich, freue dich, weil Lazarus dich dem Dämon entrissen hat ...»

«Nicht ich, du, Meister!»

«... weil er dich dem Dämon entrissen hat, hat er einen künftigen Lohn Gottes verdient, von dem Völker und Engel sprechen werden. Und wie von Lazarus, so werden sie auch von anderen reden; besonders von den Frauen, die durch ihren Heldenmut Satan die Beute entrissen haben ...»

«Wer sind sie? Wer sind sie?» fragen die Frauen neugierig, und vielleicht hofft jede von ihnen, daß sie gemeint ist.

Maria des Judas sagt nichts. Aber sie schaut, schaut auf den Meister... Jesus schaut sie ebenfalls an. Er könnte sie täuschen. Er tut es nicht. Er demütigt sie nicht, aber er täuscht sie auch nicht. Er antwortet allen: «Ihr werdet es im Himmel erfahren.»

Die immer verängstigte Mutter des Judas fragt: «Und wenn es einer von ihnen nicht gelingen sollte, obwohl sie möchte? Was wäre dann ihr Los?»

«Das, das ihre gute Seele verdient.»

«Der Himmel? O Herr, aber eine Frau, eine Schwester oder eine Mutter, die... nicht imstande gewesen ist, die zu retten, die sie liebt, und sie verdammt sehen muß, könnte sie sich des Paradieses erfreuen, obwohl sie nicht im Paradiese sind? Glaubst du nicht, daß es für sie keine Freude mehr geben kann, weil... das Fleisch von ihrem Fleisch und das Blut von ihrem Blut die ewige Verdammnis verdient hat? Ich denke, daß sie sich nicht freuen kann, wenn sie geliebte Menschen in schrecklicher Pein weiß ...»

«Du bist im Irrtum, Maria. Die Anschauung Gottes, der Besitz Gottes sind Quellen einer so unendlichen Glückseligkeit, daß es keinen Schmerz mehr für die Seligen geben kann. Wirkend und aufmerksam, um jenen zu helfen, die noch gerettet werden können, leiden sie nicht mehr wegen denen, die von Gott getrennt sind, und daher auch von ihnen selbst, die sie in Gott sind. Die Gemeinschaft der Heiligen ist für die Heiligen.»

«Aber wenn sie denen helfen, die noch gerettet werden können, so ist das ein Zeichen, daß die Unterstützten noch nicht heilig sind», entgegnet Petrus.

«Aber sie haben den Willen, wenigstens den passiven, es zu werden. Die Heiligen in Gott helfen auch in materiellen Bedürfnissen, um sie von einem passiven zu einem aktiven Willen zu führen. Verstehst du mich?»

«Ja und nein! Schau, wenn ich zum Beispiel im Himmel wäre und eine flüchtige Regung der Güte in ... Eli, dem Pharisäer, sagen wir, sähe, was würde ich dann tun?»

«Du würdest mit allen Mitteln versuchen, seine guten Regungen zu vermehren.»

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«Und wenn es nichts nützen würde? Was würde ich danach tun?»

«Danach, wenn er verdammt wäre, hättest du kein Interesse mehr an ihm.»

«Und wenn er, wie jetzt, der Verdammung würdig wäre, und ich ihn aber lieben würde – etwas, was nie der Fall sein wird – was müßte ich dann tun?»

«Vor allen Dingen sollst du wissen, daß du Gefahr läufst, selbst verdammt zu werden, wenn du sagst, daß du ihn nie lieben wirst. Im Himmel aber, wo man ganz eins mit der Liebe ist, würdest du für ihn und seine Rettung beten, bis zum Augenblick seines Gerichtes. Es gibt Seelen, die im letzten Augenblick gerettet werden, weil das ganze Leben lang für sie gebetet worden ist.»

Ein Diener tritt ein und sagt: «Manaen ist gekommen. Er möchte den Meister sehen.»

«Er soll kommen! Gewiß will er über ernste Dinge reden.»

Die Frauen ziehen sich diskret zurück, und die Jünger folgen ihnen. Aber Jesus ruft Isaak, den Priester Johannes, Stephanus, Hermas, Matthias und Joseph, die Hirtenjünger, zu sich und sagt: «Es ist gut, wenn auch ihr ihn hört, die ihr Jünger seid.»

Manaen kommt herein und verneigt sich.

«Der Friede sei mit dir», grüßt Jesus.

«Der Friede sei mit dir, Meister. Die Sonne geht unter, und die ersten Schritte nach dem Sabbat führen mich zu dir, mein Herr.»

«Hast du das Passahfest gut verbracht?»

«Gut?! Nichts Gutes kann dort sein, wo sich Herodes und Herodias befinden. Ich versichere dir, daß ich das letzte Mal das Lamm mit ihnen gegessen habe! Selbst wenn es mich das Leben kosten sollte, werde ich nicht länger bei ihnen bleiben!»

«Ich glaube, du machst einen Fehler. Du könntest dem Meister dienen, wenn du dort bleibst ...» erwidert Iskariot.

«Das ist wahr, und das war es auch, was mich bisher zurückgehalten hat. Aber welch ein Ekel! Chuza könnte mich ersetzen...»

Bartholomäus hält ihm entgegen: «Chuza ist nicht Manaen. Chuza ist ... Ja... Er weicht Schwierigkeiten aus und würde seinen Herrn nie verraten. Du bist aufrichtiger.»

«Nun, das ist wahr, und es stimmt auch, daß Chuza Höfling ist und dem Zauber des Königtums unterliegt. Königtum! Was sage ich? Dem königlichen Schlamm! Aber er glaubt, König zu sein, weil er beim König ist... und zittert vor der königlichen Ungnade. Vor einigen Tagen glich er einem geprügelten Hund, als er abends fast kriechend vor Herodes erschien. Der König hatte ihn rufen lassen, nachdem er sich die Klagen Salomes, die von dir verjagt worden war, angehört hatte. Chuza war in einer schlimmen Klemme. Der Wunsch, sich unter allen Umständen

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herauszuwinden, selbst indem er dich anklagte und dir unrecht gab, war ihm ins Gesicht geschrieben. Aber Herodes! ... Er wollte nur hinter dem Rücken des Mädchens lachen, denn er ist ihrer überdrüssig, wie er auch ihrer Mutter überdrüssig ist. Er lachte wie ein Verrückter, als ihm Chuza deine Worte wiederholte, und sagte immer wieder: "Zu sanft, zu sanft noch für dieses Mädchen ... (er gebrauchte ein so anstößiges Wort, daß ich es dir nicht wiedergeben kann). Er hätte sie in ihren erregten Leib treten sollen ... Aber damit hätte er sich verunreinigt!" und er lachte. Danach sagte er aber ernst: "Allerdings ... die Beleidigung, die das Frauenzimmer durchaus verdient hat, darf er sich der Krone gegenüber nicht erlauben. Ich bin großzügig (das ist eine seiner fixen Ideen, und da es ihm niemand sagt, wiederholt er es sich selbst immer wieder) und verzeihe dem Rabbi, auch weil er Salome die Wahrheit gesagt hat. Jedoch will ich, daß er an den Hof kommt, damit ich ihm gänzlich verzeihen kann. Ich will ihn sehen, hören und ihn Wunder wirken lassen. Er soll kommen, und ich werde sein Beschützer sein. Dies sagte er vor einigen Tagen am Abend. Chuza wußte nicht, was er antworten sollte, und "nein", wollte er dem Monarchen nicht sagen, "ja" konnte er nicht sagen, weil du den Wünschen des Herodes selbstverständlich nicht entsprechen könntest. Heute hat er zu mir gesagt: "Du gehst ganz gewiß zu ihm... Teile ihm meinen Willen mit." Ich sage es dir, doch kenne ich schon die Antwort. Aber sage sie mir, damit ich sie ihm überbringen kann.»

«Nein!» Ein Nein wie ein Blitz.

«Machst du ihn dir damit nicht zum gefährlichen Feind?» fragt Thomas.

«Auch zum Henker. Aber ich kann nur mit einem "Nein" antworten.»

«Er wird uns verfolgen...»

«Oh, in drei Tagen wird er schon wieder alles vergessen haben», sagt Manaen und zuckt die Schultern. Dann fügt er hinzu: «Sie haben ihm Schauspielerinnen versprochen... Sie sollen morgen eintreffen... und er wird alles vergessen! ...»

Der Diener kehrt zurück: «Herr, Nikodemus, Joseph, Eleazar und andere Pharisäer und Älteste des Hohen Rates sind da und möchten dich begrüßen.»

Lazarus schaut Jesus fragend an. Jesus versteht ihn: «Sie sollen kommen, ich werde sie gerne begrüßen.»

Kurz danach treten Joseph, Nikodemus, Eleazar (der Gerechte beim Festmahl Ismaels), Johannes (der einst beim Festmahl in Arimathäa war), ein anderer, den ich Josua nennen höre, ein Philippus, ein Judas und zuletzt Joachim ein. Die Begrüßungen nehmen kein Ende. Zum Glück ist der Raum sehr groß, sonst wüßte ich nicht, wie so viele Verneigungen und Umarmungen darin Platz gehabt hätten. Aber so groß der Raum auch ist, er ist nun so überfüllt, daß die Jünger ihn verlassen. Es

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bleiben nur Lazarus und Jesus. Vielleicht scheint es den Jüngern nicht ganz geheuer, unter dem Feuer so vieler Augen des Hohen Rates zu stehen!

«Wir haben erfahren, daß du in Jerusalern bist, o Lazarus. Daher sind wir gekommen», sagt der Mann namens Joachim.

«Das verwundert und freut mich zugleich. Im ersten Augenblick habe ich mich gar nicht mehr an dein Gesicht erinnert ...» sagt Lazarus etwas ironisch.

«Aber weißt du ... Ich wollte immer schon kommen. Doch ... du warst verschwunden...»

«Und es schien auch nicht wahr zu sein, daß ich hier bin! Es bedarf nämlich einer großen Überwindung, zu einem Unglücklichen zu gehen!»

«Nein, sag das nicht! Wir... haben deinen Wunsch geachtet. Aber jetzt... jetzt, da... Nicht wahr, Nikodemus?»

«Ja, Lazarus! Die alten Freunde kehren zurück, auch weil sie das Bedürfnis haben, von dir Neues zu erfahren und den Rabbi zu ehren.»

«Welche Neuigkeiten bringt ihr mir?»

«Hm... Nun ja... Das Übliche... Die Welt ... Ja...» sie schielen zu Jesus hinüber, der steif und etwas in sich versunken auf seinem Stuhl sitzt.

«Wie kommt es, daß ihr heute alle hier vereint seid, da der Sabbat kaum zu Ende ist?»

«Es hat eine außerordentliche Sitzung stattgefunden.»

«Heute? Das muß wohl eine sehr dringende Angelegenheit gewesen sein? ...»

Die Besucher blicken in bezeichnender Weise auf Jesus. Aber er ist ganz in Gedanken vertieft ... «Es gab viele Gründe dafür ...» antworten sie schließlich.

«Und betreffen sie nicht den Rabbi?»

«Ja, Lazarus, auch ihn. Aber auch ein schlimmes Ereignis wurde besprochen, da die Festtage uns alle in der Stadt vereint haben ...» erklärt Joseph von Arimathäa.

«Ein schlimmes Ereignis? Um was handelt es sich?»

«Ein ... ein Jugendfehler... Hm! Nun ja! Eine schlimme Streitfrage, denn ... Rabbi, höre uns zu. Du bist unter aufrichtigen Menschen. Wenn wir auch nicht deine Jünger sind, so sind wir doch nicht deine Feinde. Im Haus Ismaels hast du mir gesagt, daß ich nicht fern von der Gerechtigkeit bin», sagt Eleazar.

«Das ist wahr, und ich bestätige es.»

«Ich habe dich während des Festmahls bei Joseph gegen Felix verteidigt», sagt Johannes.

«Auch das ist wahr.»

«Und diese hier denken wie wir. Heute wurden wir zusammengerufen, um eine Entscheidung zu treffen ... Aber was beschlossen wurde, befriedigt

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uns nicht, denn die Mehrheit stimmte gegen uns. Du, der du weiser bist als Salomon, höre uns an und urteile!»

Jesus durchbohrt sie mit seinem ernsten Blick. Dann sagt er: «So redet.»

«Sind wir sicher, daß uns niemand hört? Denn es ist... eine schreckliche Sache...» sagt einer, der Judas heißt.

«Schließe die Tür und ziehe den Vorhang vor, dann werden wir wie in einem Grab sein», antwortet ihm Lazarus.

«Meister, gestern morgen hast du zu Eleazar des Annas gesagt, daß er sich durch nichts beflecken lassen soll. Warum hast du das gesagt?» fragt Philippus.

«Weil es gesagt werden mußte. Er befleckt sich. Aber nicht ich sage es, sondern die heiligen Bücher.»

«Das ist wahr. Aber woher weißt du, daß er sich befleckt? Hat das Mädchen vor seinem Tod mit dir gesprochen?» fragt Eleazar.

«Welches Mädchen?»

«Es ist nach der Vergewaltigung gestorben. Auch seine Mutter ist gestorben, und man weiß nicht, ob der Schmerz sie getötet hat, ob sie sich selbst umgebracht haben oder ob sie vergiftet worden sind, damit sie nichts mehr sagen können.»

«Ich weiß nichts vor alledem. Ich sah die verdorbene Seele des Sohnes des Annas. Ich roch den Gestank und habe gesprochen, sonst wußte und sah ich nichts.»

«Aber was ist denn geschehen?» fragt Lazarus interessiert.

«Eleazar des Annas ist einem Mädchen, der einzigen Tochter einer Witwe, begegnet und ... hat sie unter dem Vorwand, ihr einen Arbeitsauftrag zu erteilen, angelockt, denn sie arbeitete als Schneiderin, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen ... Er hat sie vergewaltigt, und das Mädchen ist ... drei Tage danach gestorben, und mit ihm die Mutter. Aber bevor sie gestorben sind, haben sie trotz aller Drohungen alles ihrem einzigen Verwandten erzählt ... und dieser ist zu Annas gegangen, um Klage einzureichen, und nicht zufrieden damit, hat er es Joseph, mir und anderen berichtet ... Annas hat ihn festnehmen und ins Gefängnis werfen lassen. Von dort wird er dem Henker überliefert oder nie mehr freigelassen werden. Heute wollte Annas wissen, was wir darüber denken», sagt Nikodemus.

«Er hätte es nicht getan, wenn er nicht gewußt hätte, daß wir bereits informiert waren ...» brummt Joseph zwischen den Zähnen.

«Ja... Nun, mit einer Scheinabstimmung, mit einem Scheinurteil ist über die Ehre und das Leben der drei Unglücklichen und über die Strafe für den Schuldigen entschieden worden», schließt Nikodemus.

«Und?»

«Selbstverständlich hat man uns, die wir uns für die Freiheit des Mannes und für die Bestrafung Eleazars entschieden hatten, gedroht und uns wie Ungerechte davongejagt. Was sagst du dazu?»

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«Ich sage, daß Jerusalern mich anekelt und daß in Jerusalern der Tempel das ekelhafteste Geschwür ist», sagt Jesus bedächtig und in anklagen dem Ton, und schließt: «Berichtet das nur denen vom Tempel.»

«Und Gamaliel, was hat er getan?» fragt Lazarus.

«Sobald er von dem Geschehnis erfahren hatte, verhüllte er sein Gesicht, ging hinaus und sagte: "Möge doch bald der neue Samson kommen und die verdorbenen Philister vernichten."»

«Das hat er gut gesagt! Bald wird er kommen!» Es herrscht Schweigen.

«Und von ihm wurde nicht gesprochen?» fragt Lazarus und deutet auf Jesus.

«O doch! Vor allen anderen Dingen. Jemand berichtete, du hättest das Reich Israel "armselig" genannt. Darum hat man dich einen Gotteslästerer genannt; denn das Reich Israel stammt von Gott.»

«Ach, wirklich? Und wie wurde der Schänder einer Jungfrau vom Hohenpriester genannt? Der Beschmutzer seines Amtes? Antwortet!» fragt Jesus.

«Er ist der Sohn des Hohenpriesters. Annas ist immer noch der wahre König dort», sagt, eingeschüchtert von der hoheitsvollen Erscheinung Jesu, Joachim. Jesus steht hochaufgerichtet und mit ausgebreiteten Armen vor ihm ...

«Ja, der König der Verderbtheit, und ich soll ein Land nicht "armselig" nennen, in dem wir einen schmutzigen und mörderischen Tetrarchen und einen Hohenpriester haben, der Komplize eines Schänders und Mörders ist? ...» fragt Jesus.

«Vielleicht hat das Mädchen Selbstmord begangen oder ist vor Gram gestorben?» flüstert Eleazar.

«Trotzdem hat sie ihr Schänder ermordet ... Wird jetzt nicht auch der eingekerkerte Verwandte umgebracht werden, damit er nicht spricht? Und wird der Altar nicht entweiht, wenn sich ihm ein mit so vielen Verbrechen Beladener nähert? Wird die Gerechtigkeit nicht erstickt durch die Schweigepflicht, die den allzu wenigen Gerechten des Hohen Rates auferlegt wird? Ja, möge nur bald der neue Samson kommen und diesen entweihten Ort niederreißen, vernichten, um Neues zu schaffen... Bis zum Erbrechen angewidert durch den Ekel, den ich empfinde, nenne ich diesen unglücklichen Ort nicht nur armselig, sondern entferne mich von seinem verkommenen Herzen voller namenloser Verbrechen, von dieser Höhle Satans... Ich gehe. Nicht aus Furcht vor dem Tod. Ich werde euch zeigen, daß ich keine Furcht habe. Aber ich gehe, weil meine Stunde noch nicht gekommen ist und ich den Schweinen Israels keine Perlen vorwerfen will; ich werde sie den Demütigen bringen, die in elenden Hütten auf den Bergen und in den Tälern der ärmlichen Ortschaften verstreut sind. Dort, wo man noch zu glauben und zu lieben imstande ist, wenn jemand da ist, der sie es lehrt. Dort, wo unter rauhen Gewändern Seelen sind, während hier

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die Tuniken und die heiligen Mäntel, ja sogar der Ephod und das Brustschild dazu dienen, unreines Aas zu bedecken und mörderische Waffen zu verbergen.

Sagt ihnen, daß ich sie im Namen des wahren Gottes der Verdammnis übergebe und sie als neuer Michael aus dem Paradies verjage, und zwar für immer! Jene, die Götter sein wollen, aber Dämonen sind. Sie brauchen nicht zu sterben, um gerichtet zu werden, sie sind es schon, und ohne Gnade.»

Die mächtigen Synedristen und Pharisäer scheinen ganz klein zu werden, so sehr sinken sie vor dem schrecklichen Zorn des Christus in sich zusammen. Jesus scheint ihnen gegenüber ein Riese zu werden, so flammend sind seine Blicke und so gewaltig seine Gesten.

Lazarus seufzt: «Jesus! Jesus! Jesus!»

Jesus hört ihn, und indem er Ton und Gesichtsausdruck ändert, fragt er: «Was hast du, mein Freund?»

«Oh, sei nicht so furchtbar! Du bist nicht mehr du selbst! Wie kann man auf deine Barmherzigkeit hoffen, wenn du dich so furchtbar zeigst?»

«Und doch werde ich so und noch gewaltiger sein, wenn ich die zwölf Stämme Israels richten werde. Aber habe Mut, Lazarus! Wer an Christus glaubt, hat das Gericht schon überstanden...» Jesus setzt sich wieder. Es folgt ein Schweigen.

Endlich fragt Johannes: «Und wir, die wir es vorgezogen haben, Schmähungen auf uns zu nehmen, anstatt der Gerechtigkeit zu spotten, wie werden wir gerichtet werden?»

«Mit Gerechtigkeit. Harrt aus, und ihr werdet dorthin gelangen, wo Lazarus bereits ist: zur Freundschaft mit Gott.»

Sie stehen auf.

«Meister, wir ziehen uns zurück. Der Friede sei mit dir und auch mit dir, Lazarus!»

«Der Friede sei mit euch!»

«Was hier gesagt worden ist, möge unter uns bleiben», bitten einige.

«Fürchtet euch nicht! Geht nur, und Gott möge euch bei jeder weiteren Handlung leiten.»

Sie gehen hinaus.

Jesus und Lazarus bleiben allein zurück. Nach einer Weile sagt Lazarus: «Wie schrecklich!»

«Ja, wie schrecklich! ... Lazarus, ich gehe, um die Abreise von Jerusalern vorzubereiten. Ich werde in Bethanien bis zum Ende der Ungesäuerten Brote dein Gast sein.»

Und Jesus geht hinaus.

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424. «MARTHA, MARTHA, DU MACHST DIR SORGE UND UNRUHE UM VIELES»

Ich begreife sofort, daß es wieder um die Person der Magdalena geht, denn ich sehe sie als erste, in einem einfachen Gewand von einem Rosalila, das mich an eine Malvenblüte erinnert. Sie trägt keinen kostbaren Schmuck, ihr Haar ist in einfachen Zöpfen im Nacken zusammengesteckt. Sie scheint viel jünger als früher, da sie noch ein Meisterwerk der Schönheitspflege war. Sie hat nicht mehr den herrischen Blick aus jener Zeit, als sie die "Sünderin" war, und auch nicht den niedergeschlagenen Blick von damals, als sie das Gleichnis vom verlorenen Schäflein hörte. Sie hat nicht mehr den beschämten, tränenfeuchten Blick, wie dazumal im Saal des Pharisäers... Jetzt ist ihr Auge ruhig und wieder klar wie das eines Kindes, und ein friedliches Lächeln strahlt von ihm aus.

Sie hat sich an der Grenze des Besitztums von Bethanien an einen Baum gelehnt und schaut zur Straße hin. Sie wartet. Dann stößt sie einen Freudenschrei aus. Sie wendet sich zum Hause und ruft laut, um gehört zu werden; sie ruft mit ihrer herrlichen, samtenen, leidenschaftlichen, unverwechselbaren Stimme: «Er kommt! ... Martha, sie haben recht gehabt. Der Rabbi ist hier!» und sie beeilt sich, das schwere quietschende Tor zu öffnen. Sie läßt den Dienern keine Zeit, es zu tun, und wie ein Kind zur Mutter eilt, läuft sie mit ausgestreckten Armen auf die Straße hinaus. In liebevoller Freude ruft sie: «O mein Rabbomi!» und wirft sich zu Jesu Füßen nieder, die sie trotz des Staubs des Weges küßt.

«Der Friede sei mit dir, Maria. Ich komme, um mich unter deinem Dache auszuruhen.»

«O mein Meister!» wiederholt Maria, indem sie ihr von Ehrfurcht und Liebe erfülltes Antlitz erhebt, in dem so vieles geschrieben steht: Segenswünsche, Freude, die Einladung, einzutreten, und der Jubel, weil er einkehrt...

Jesus hat ihr die Hand aufs Haupt gelegt und es ist, als ob er ihr noch einmal die Absolution erteilen würde. Maria erhebt sich und kehrt an der Seite Jesu auf ihren Besitz zurück. Inzwischen sind einige Diener und Martha herbeigeeilt. Die Diener mit Krügen und Schüsseln, Martha nur mit ihrer Liebe, aber diese ist groß.

Die erhitzten Apostel trinken kühle Getränke, die ihnen von den Dienern eingeschenkt werden. Sie möchten sie zuerst Jesus reichen, aber Martha ist ihnen schon zuvorgekommen. Sie hat einen Becher voll Milch genommen und ihn Jesus angeboten. Sie muß wohl wissen, daß Jesus Milch sehr gern hat.

Nachdem die Jünger sich erfrischt haben, sagt Jesus zu ihnen: «Geht und benachrichtigt die Gläubigen. Ich werde heute abend zu ihnen sprechen.»

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Kaum haben sie den Garten verlassen, zerstreuen sich die Apostel in verschiedene Richtungen.

Jesus geht mit Martha und Maria weiter.

«Komm, Meister!» sagt Martha. «Bis Lazarus kommt, kannst du dich ausruhen und stärken.»

Während sie einen kühlen Raum hinter der schattigen Vorhalle betreten, kommt Maria zurück, die sich eiligen Schrittes entfernt hatte. Sie kommt mit einem Krug Wasser, gefolgt von einem Diener, der ein Waschbecken trägt. Aber Maria will Jesus die Füße waschen. Sie löst ihm die staubigen Sandalen und gibt sie dem Diener, damit er sie reinige, zusammen mit dem Mantel, der ebenfalls vom Staub befreit werden soll. Dann taucht sie seine Füße ins Wasser, das durch eine aromatische Zugabe leicht rosa gefärbt ist, trocknet sie ab und küßt sie. Daraufhin wechselt sie das Wasser und bietet Jesus reines für seine Hände an. Während sie auf den Diener mit den Sandalen wartet, kauert sie sich zu den Füßen Jesu auf den Teppich nieder, streichelt sie, und bevor sie die Sandalen anlegt, küßt sie die Füße noch einmal und sagt: «Heilige Füße, die ihr so viel gewandert seid, um mich zu suchen!»

Martha, die praktischer veranlagt ist, geht zum menschlich Nützlichen über und fragt: «Meister, wer wird außer deinen Jüngern noch kommen?»

Jesus sagt: «Ich weiß es noch nicht genau. Aber du könntest noch für fünf weitere Vorbereitungen treffen.»

Jesus geht in den kühlen, schattigen Garten. Er trägt nur sein dunkelblaues Gewand. Der Mantel, sorgfältig von Maria zusammengefaltet, bleibt auf einer Truhe im Zimmer liegen. Maria begleitet Jesus. Sie gehen auf gepflegten Wegen zwischen blühenden Beeten bis zum Fischteich, der einem ins Grüne gefallenen Spiegel gleicht.

Die klare Reglosigkeit des Wassers wird nur hie und da durch das silberne Aufschnellen eines Fisches und durch den Regen des feinen, hohen Wasserstrahls in der Mitte unterbrochen. Bei dem großen Becken, das einem kleinen See gleicht, von dem kleine Bewässerungskanäle ausgehen, stehen Sitzbänke. Ich glaube, daß einer der Kanäle den Fischteich speist und die anderen, kleineren, die von ihm abzweigen, zur Bewässerung dienen.

Jesus setzt sich auf eine Bank neben dem Becken, und Maria setzt sich zu seinen Füßen auf den grünen, wohlgepflegten Rasen. Anfangs sprechen sie nicht. Jesus genießt sichtlich die Stille und Ruhe in der Kühle des Gartens. Maria erfreut sich an seinem Anblick.

Jesus spielt mit dem klaren Wasser des Beckens. Er taucht seine Finger hinein, kämmt es, so daß sich viele kleine Kielwasser bilden, und taucht dann die ganze Hand in die reine Frische.

«Wie schön ist dieses klare Wasser!» sagt er.

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Und Maria: «Gefällt es dir so sehr, Meister?»

«Ja, Maria. Weil es so klar ist. Schau, es ist keine Spur von Schlamm zu sehen. Es ist Wasser, aber es ist so rein, daß es fast scheint, als wäre es nicht ein Element, sondern nur Geist, auf dessen Grund man die Worte lesen kann, die sich die Fischlein sagen...»

«Wie man in der Tiefe der reinen Seelen lesen kann. Nicht wahr, Meister?» und Maria seufzt mit einem geheimen Bedauern.

Jesus bemerkt den zurückgehaltenen, mit einem Lächeln verschleierten Seufzer und heilt sofort das Leid Marias.

«Die reinen Seelen, wo gibt es die, Maria? Eher wird sich ein Berg in Bewegung setzen, als daß ein Geschöpf die dreifache Reinheit zu erlangen vermag. Viele, allzu viele Dinge umgeben einen Erwachsenen und gären. Es läßt sich nicht immer verhindern, daß sie ins Innere eindringen. Nur Kinder haben eine engelgleiche Seele, eine Seele, die in ihrer Unschuld vor Erkenntnissen bewahrt bleibt, die sich in Schlamm verwandeln können. Daher liebe ich sie so sehr. Ich sehe in ihnen einen Widerschein der unendlichen Reinheit. Sie sind die einzigen, die diese Erinnerung an den Himmel mit sich tragen.

Meine Mutter ist die Frau mit der Seele eines Kindes. Mehr noch. Sie ist die Frau mit der Seele eines Engels, so wie Eva war, als sie aus der Hand des Vaters hervorging. Kannst du dir vorstellen, Maria, wie diese erste blühende Lilie im irdischen Garten war? So schön auch diese hier sein mögen, an denen das Wasser vorbeifließt, die erste, die aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen ist, war sie Blume oder Diamant? Waren es Blütenblätter oder Blätter aus reinstem Silber? Und doch ist meine Mutter noch reiner als jene erste Lilie, die ihren Duft mit den Winden verströmte. Ihr Duft der unversehrten Jungfrau erfüllt Himmel und Erde, und ihm werden von Jahrhundert zu Jahrhundert die Guten folgen.

Das Paradies ist Licht, Duft und Harmonie. Aber wenn der Vater sich nicht der Wunderbaren erfreuen könnte, die aus der Erde ein Paradies macht, und wenn das Paradies in Zukunft nicht diese lebendige Lilie hätte, in deren Schoß die drei Blütenstengel des Feuers der göttlichen Dreifaltigkeit, Licht, Duft und Harmonie, sind, so wäre die Glückseligkeit des Paradieses um die Hälfte vermindert. Die Reinheit der Mutter wird der Edelstein des Paradieses sein. Aber das Paradies ist unendlich! Was würdest du von einem König sagen, der nur eine Perle in seinem Schatz hat? Auch wenn es die allerschönste wäre?

Wenn ich die Pforten des Himmelreiches geöffnet habe – seufze nicht, Maria, denn dazu bin ich gekommen – dann werden viele Seelen von Gerechten und von Kindern hineingehen. Eine Schar der Reinheit folgt dem Purpur des Erlösers nach. Aber es werden immer noch zu wenige sein, um den Himmel mit Perlen zu schmücken und die Bürgerschaft des Ewigen Jerusalern zu bilden. Doch später... wenn die Lehre der Wahrheit und

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Heiligung bei den Menschen bekannt sein wird, später, wenn mein Tod den Menschen die Gnade wieder geschenkt haben wird, wie würden die Erwachsenen wohl den Himmel erwerben können, wenn das arme Menschenleben immer nur Schlamm wäre, der unrein macht? Wird mein Paradies also nur den Kindern gehören? O nein! Wie die Kinder müssen sie werden, dann steht auch den Erwachsenen das Reich offen.

Wie die Kinder... So ist die Reinheit. Siehst du dieses Wasser? Es scheint ganz klar zu sein. Aber beobachte: es genügt, daß ich mit diesem Zweig den Grund aufwühle, und schon trübt es sich. Abfälle und Schlamm kommen an die Oberfläche. Das kristallklare Wasser wird gelblich, und niemand würde mehr davon trinken.

Aber wenn ich den Zweig herausziehe, kehrt der Friede zurück und das Wasser wird langsam wieder klar und schön. Der Zweig ist die Sünde. So ist es bei den Seelen. Die Reue, glaube mir, ist das, was reinigt...»

Martha kommt bekümmert hinzu: «Bist du immer noch hier, Maria? Und ich mühe mich so sehr ab! ... Die Zeit vergeht... Bald werden die Geladenen kommen, und es ist noch so vieles zu tun. Die Dienerinnen sind beim Brotbacken, die Diener bereiten und kochen das Fleisch. Ich sorge für die Gedecke, die Tische und die Getränke. Aber es sind noch Früchte zu pflücken und Pfefferminz- und Honigwasser herzurichten ...»

Maria hört sich die Klagen ihrer Schwester mehr oder weniger an. Mit einem seligen Lächeln schaut sie unentwegt auf Jesus, ohne sich zu bewegen.

Martha wendet sich an Jesus: «Meister, schau, wie erhitzt ich bin. Scheint es dir recht, daß ich mich allein für die Bewirtung abmühe? Sag ihr doch, sie soll mir helfen.» Martha ist wirklich aufgeregt.

Jesus schaut sie mit einem halb milden, halb wissendes, oder vielmehr scherzhaften Lächeln an.

Martha wird etwas ungeduldig: «Ich sage es im Ernst, Meister. Schau nur, wie faul sie ist, während ich arbeite, und sie sieht doch, daß...»

Jesus wird ernster: «Das ist nicht Müßiggang, Martha. Es ist Liebe. Müßiggang war es einmal, und du hast über diesen unwürdigen Müßiggang so viel geweint. Deine Tränen haben meinen Bemühungen, sie mir zu retten und sie deiner ehrlichen Liebe wiederzugeben, Flügel verliehen. Willst du ihr nun ihre Liebe zu ihrem Erlöser streitig machen? Möchtest du sie lieber fern von hier sehen, damit sie dich nicht arbeiten sieht, aber auch fern von mir?

Martha, Martha! Muß ich nun sagen, daß sie (Jesus legt ihr die Hand aufs Haupt), die von so weit her gekommen ist, dich in der Liebe übertroffen hat? Muß ich nun sagen, daß sie, die nicht ein einziges gutes Wort zu sagen wußte, nun eine Gelehrte in der Wissenschaft der Liebe ist? Laß sie doch in ihrem Frieden! Sie war so krank, und nun ist sie eine Genesende, die gesundet, indem sie Getränke trinkt, die sie kräftigen. Sie war so

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sehr gequält ... Und nun, aus dem Alptraum erwacht, schaut sie um sich und in sich und entdeckt sich neu und entdeckt eine neue Welt. Lasse sie sich darin sicher fühlen. Mit diesem ihrem "neuen" Leben muß sie die Vergangenheit vergessen und sich das ewige erwerben ... Dieses wird nicht allein durch Arbeit erworben, sondern auch durch Anbetung. Wer dem Apostel und dem Propheten ein Brot gereicht hat, wird dafür belohnt werden, aber doppelt belohnt werden jene, die sogar vergessen haben, Speise zu sich zu nehmen, um mich zu lieben; denn mehr als das Fleisch wird dann der Geist gekostet haben, dessen Stimme stärker war als die selbst der berechtigten menschlichen Bedürfnisse.

Du machst dir Sorge und Unruhe um vieles, Martha. Diese hier hat nur eine Sorge, die jedoch genügt für ihren Geist, und vor allem für ihren und deinen Herrn. Laß die unnützen Dinge beiseite. Ahme deine Schwester nach. Maria hat den besseren Teil erwählt, und er wird ihr nicht genommen werden. Wenn alle anderen Tugenden verblaßt sind, weil sie für die Bürger des Reiches entbehrlich sein werden, wird als einzige Tugend die Liebe bleiben. Sie wird als ewig Einzige bestehen und herrschen. Maria hat diese zu ihrem Schild und Wanderstab erwählt und mit ihr wird sie wie auf Engelsflügeln in meinen Himmel gelangen.»

Martha senkt beschämt den Kopf und geht weg.

«Meine Schwester liebt dich sehr, und sie müht sich ab, um dir Ehre zu erweisen», sagt Maria, um Martha zu entschuldigen.

«Ich weiß es, und es wird ihr vergolten werden... Aber sie bedarf der Läuterung in ihrem menschlichen Denken, so wie dieses Wasser jetzt rein geworden ist. Schau, wie klar es wieder geworden ist, während wir gesprochen haben. Martha wird sich durch die Worte, die ich zu ihr gesagt habe, reinigen. Du... du durch die Aufrichtigkeit deiner Reue...»

«Nein, durch deine Vergebung, Meister. Meine Reue hätte nicht genügt, um meine große Sünde abzuwaschen ...»

«Sie genügt, und sie wird deinen Schwestern genügen, die es dir nachtun werden, all den armen Kranken im Geiste. Die aufrichtige Reue ist ein Filter, der reinigt; die Liebe ist dann das Mittel, das vor jeglicher neuen Befleckung bewahrt. Dadurch können jene, die das Leben zu Erwachsenen und Sündern gemacht hat, wieder unschuldige Kinder werden und wie sie in mein Reich eintreten. Wir wollen jetzt zum Haus gehen, damit Martha nicht zu lange in ihrem Schmerz verweilt. Bringen wir ihr unser Lächeln, das Lächeln eines Freundes und einer Schwester.»

Jesus sagt:

«Eine diesbezügliche Erläuterung ist nicht nötig. Das Gleichnis des Wassers erklärt die Wirksamkeit der Buße in den Seelen.

So hast du nun den vollständigen Zyklus der Magdalena vom Tode zum Leben. Sie ist die größte der Auferstandenen meines Evangeliums. Sie ist vom siebenfachen Tode auferstanden. Sie ist wiedergeboren worden. Du hast gesehen, wie der Stengel sich aus dem Schlamm

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erhoben hat und die Blüte immer höher gewachsen ist, um für mich zu erblühen, zu duften und zu sterben. Du hast sie als Sünderin gesehen; dann dürstend der Quelle sich zuwendend; dann als Büßerin, als Tochter, der verziehen worden ist, als Liebende, als Trauernde über den Leichnam ihres Herrn gebeugt, als Dienerin der Mutter, die sie liebt, weil sie meine Mutter ist; schließlich als Büßerin auf der Schwelle ihres Paradieses.

Ihr furchtsamen Seelen, lernt, euch nicht vor mir zu fürchten, lest das Leben der Maria Magdalena.

Ihr liebenden Seelen, lernt von ihr die seraphische Liebe.

Seelen, die ihr gefehlt habt, lernt von ihr die Weisheit, die auf den Himmel vorbereitet.

Ich segne euch alle, um euch Hilfe zum Aufstieg zu geben. Geh nun in Frieden.»

425. JESUS SPRICHT IN BETHANIEN

Jesus befindet sich in Bethanien, das grün und mit Blüten übersät daliegt in diesem schönen Monat Nisam, der so heiter und klar ist, als ob die Schöpfung sich reingewaschen hätte. Die Menge, die ihn sicherlich in Jerusalem gesucht hat und nicht abreisen will, ohne ihn gehört zu haben, um sein Wort in ihrem Herzen mit nach Hause zu nehmen, hat ihn dort erreicht. Sie ist so zahlreich, daß Jesus gebietet, alle zu versammeln, damit er sie belehren kann. Die Zwölf mit den zweiundsiebzig Jüngern (dies ist ungefähr die Anzahl, auf die sie in der letzten Zeit angewachsen sind), verstreuen sich, um den erhaltenen Befehl auszuführen.

Inzwischen nimmt Jesus im Garten des Lazarus von den Frauen und besonders von der Mutter Abschied, die seiner Anordnung zufolge nach Galiläa zurückkehren werden, begleitet von Simon des Alphäus, Jairus, Alphäus der Sara, Margziam, vom Gatten der Susanna und von Zebedäus. Es gibt Abschiedsgrüße und Tränen. Viele verspüren den starken Wunsch, nicht zu gehorchen. Ein Wunsch, der der Liebe zum Meister entspringt, doch die Kraft der vollkommenen Liebe zum Meister gewinnt die Oberhand, da sie ganz übernatürlicher Art ist und dem allerheiligsten Worte gilt, und diese Kraft läßt sie gehorchen und die schmerzliche Trennung annehmen.

Wer am wenigsten spricht, ist Maria, seine Mutter. Doch ihr Blick sagt mehr als alle Worte der anderen zusammen. Jesus versteht diesen Blick, und er beruhigt, tröstet und sättigt sie mit Liebkosungen, wenn man überhaupt eine Mutter damit sättigen kann, zumal diese Mutter, die ganz Liebe und Kummer um ihren verfolgten Sohn ist. Die Frauen entfernen sich schließlich, wobei sie sich immer wieder umwenden, um den Meister, die Söhne und die glücklichen Jüngerinnen von Judäa, die noch beim Meister bleiben dürfen, zu grüßen.

«Es ist ihnen schwergefallen, aufzubrechen ...» bemerkt Simon der Zelote.

«Es ist gut, daß sie gegangen sind, Simon.»

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«Siehst du traurige Tage voraus?»

«Stürmische wenigstens. Die Frauen können nicht wie wir die Mühseligkeiten ertragen. Nun, da die Jüngerinnen von Judäa und Galiläa fast gleich an der Zahl sind, ist es gut, sie zu teilen. Sie werden abwechselnd bei mir sein und somit abwechselnd die Freude haben, mir zu dienen, wie ich abwechselnd den Trost ihrer heiligen Zuneigung haben werde.»

Immer mehr Menschen kommen hinzu. Im Obstgarten, zwischen dem Haus des Lazarus und dem ehemaligen Besitz des Zeloten, wimmelt es von Menschen. Ich sehe Leute aller Stände, und es fehlen auch nicht Pharisäer von Judäa, Synedristen und verschleierte Frauen.

Aus dem Haus des Lazarus kommt eine Gruppe, die sich um die Bahre drängt, auf der Lazarus liegt. Es sind die Synedristen, die Lazarus am Passahsabbat in Jerusalern besucht haben, und noch andere Leute. Lazarus winkt den Vorübergehenden mit der Hand und widmet Jesus ein seliges Lächeln. Jesus erwidert es, während er sich dem kleinen Zug anschließt, um dorthin zu gehen, wo ihn das Volk erwartet.

Die Apostel schließen sich ihm an, und Judas Iskariot, der seit einigen Tagen triumphiert und sich in einer glücklichen Phase befindet, blickt mit seinen tiefschwarzen, schimmernden Augen in alle Richtungen und flüstert Jesus seine Entdeckungen ins Ohr.

«Oh, schau nur! Es sind auch Priester da! ... Schau, schau! Auch Simon vom Hohen Rat. Sogar Elchias ist da. Sieh nur, welch ein Lügner! Noch vor wenigen Monaten sagte er die schlimmsten Dinge über Lazarus und nun begrüßt er ihn wie einen Gott ... und dort die Ratsherren Doros und Trison. Siehst du, wie er Joseph begrüßt? Und der Schreiber Samuel mit Saulus... und der Sohn des Gamaliel! Dort ist eine Gruppe von Herodianern... und jene so tief verschleierten Frauen sind sicher Römerinnen. Sie stehen abseits, aber schau nur, wie sie achtgeben, wohin du gehst, um einen Platz zu finden, von dem aus sie dich hören können! Ich erkenne einige trotz ihrer weiten Mäntel. Siehst du? Zwei hohe Frauen, die eine breiter als hoch; die andere von mittlerer Statur, aber gut proportioniert. Soll ich hingehen und sie begrüßen?»

«Nein. Sie kommen als Unbekannte, die nach dem Wort des Rabbi verlangen, und als solche müssen wir sie betrachten.»

«Wie du willst, Meister. Ich würde es tun, um... Claudia an ihr Versprechen zu erinnern...»

«Das ist nicht nötig, und selbst, wenn es das wäre, wollen wir nie Bettler werden, nicht wahr, Judas? Der Heroismus im Glauben muß sich in den schwierigen Lebenslagen heranbilden.»

«Aber es wäre für... dich... Meister.»

«Und für deine immerwährende Idee von einem menschlichen Triumph, Judas, gib dich keinen Illusionen hin, weder was mein künftiges Handeln noch was die gegebenen Versprechen betrifft. Du glaubst an das,

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was du dir selbst sagst. Aber nichts kann den Gedanken Gottes ändern, und der besteht darin, daß ich der Erlöser und der König eines geistigen Reiches bin.»

Judas entgegnet nichts.

Jesus ist an seinem Platz im Kreise der Apostel. Fast zu seinen Füßen ist Lazarus auf seiner Bahre. Nicht weit von ihm befinden sich die Jüngerinnen von Judäa, also die Schwestern des Lazarus, Elisa, Anastasica, Johanna mit den Kindern, Annalia, Sara, Marcella und Nike.

Die Römerinnen, oder die, die Judas dafür hält, haben sich weiter hinten, fast ganz im Hintergrund, unter das einfache Volk gemischt.

Synedristen, Pharisäer, Schriftgelehrte und Priester sind selbstverständlich in der ersten Reihe. Aber Jesus bittet sie, Platz zu machen für drei Bahren, auf denen Kranke liegen, die er befragt, aber nicht sofort heilt.

Um einen Grundgedanken für seine Predigt zu haben, macht Jesus die Anwesenden auf die große Anzahl von Vögeln aufmerksam, die sich in den Bäumen des Gartens des Lazarus und in denen des Obstgartens, in dem die Zuhörer versammelt sind, eingenistet haben.

«Beobachtet sie. Es sind einheimische und fremdartige darunter, alle Arten und Größen, und wenn dann die Schatten herniedersteigen, werden die Vögel der Nacht ihren Platz einnehmen. Auch diese sind zahlreich, obgleich man sie fast vergessen könnte, weil man sie ja nicht sieht. Warum sind hier so viele Vögel in der Luft? Weil sie alles Notwendige finden, um glücklich zu leben. Hier haben sie Sonne, Ruhe, reichliche Nahrung, sicheren Unterschlupf und frisches Wasser. Hier versammeln sie sich aus Osten und Westen, aus Norden und Süden, wenn es Zugvögel sind, oder aber sie bleiben diesem Ort treu, wenn es sich um einheimische handelt. Sind diese Vögel also den Menschenkindern an Klugheit überlegen? Wie viele unter diesen Vögeln sind Jungen bereits gestorbener Vögel, die aber im vergangenen Jahr oder noch früher hier genistet und Nahrung gefunden haben. Sie haben es ihrer Brut vor dem Sterben mitgeteilt. Sie haben ihr diesen Ort empfohlen, und die Nachkommen sind gehorsam wieder hierher zurückgekehrt.

Der Vater im Himmel, der Vater aller Menschen, hat nicht auch er seinen Heiligen seine Wahrheit anvertraut und alle möglichen Anweisungen für das Wohl seiner Kinder gegeben? Alle Anweisungen, sowohl für das Wohl des Fleisches als auch für das Wohl des Geistes. Aber was sehen wir nun? Wir sehen, daß das, was für das Fleisch bestimmt ist – von den Fellschürzen angefangen, die er den Stammeltern gab, nachdem sie durch die Sünde das Kleid der Unschuld verloren hatten, bis zu den letzten Entdeckungen, die der Mensch durch die Erleuchtung Gottes gemacht hat -durchaus nicht vergessen wird, während das, was für den Geist gelehrt, befohlen und überliefert wurde, nicht gelehrt und angewandt wird.»

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Viele vom Tempel beginnen zu murren. Aber Jesus beruhigt sie Mit einer Geste.

«Der Vater, der so gut ist, wie es sich kein Mensch auch nur im entferntesten vorstellen kann, entsendet seinen Knecht, um seine Lehre in Erinnerung zu rufen, die Vöglein an den Orten des Heiles zu vereinen und ihnen die genaue Kenntnis dessen zu vermitteln, was für sie nützlich und heilig ist, um das Reich zu gründen, in dem jeder engelgleiche Vogel, jeder Geist, Gnade und Frieden, Weisheit und Heil finden wird. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wie die Vögel, die an diesem Ort geboren wurden, im Frühling zu anderen aus anderen Gegenden sagen werden: "Kommt mit uns, denn wir kennen einen Ort, an dem ihr Frieden und Überfluß genießen könnt"; und wie im neuen Jahr dann viele Vögel hier zusammenströmen werden, so werden wir aus allen Teilen der Welt, wie es die Propheten gesagt haben, Seelen über Seelen zu der von Gott gekommenen Lehre, zum Erlöser, dem Gründer des Gottesreiches, strömen sehen.

Aber unter die Tagvögel dieses Ortes mischen sich auch Nachtvögel, Raubvögel, Friedensstörer, die fähig sind, Tod und Schrecken unter den guten Vögeln zu verbreiten, und es sind Vögel, die seit Jahren, seit Generationen so sind, und nichts kann sie ausrotten, da sie ihre Werke in der Finsternis vollbringen, an Orten, die den Menschen unzugänglich sind. Diese, mit ihren grausamen Augen, ihrem lautlosen Flug, ihrer Gefräßigkeit und ihrer Grausamkeit, arbeiten in der Finsternis und säen als Unreine Unreinheit und Schmerz. Mit wem könnten wir sie vergleichen? Mit all jenen in Israel, die das Licht nicht annehmen wollen, das gekommen ist, um die Finsternis zu erleuchten; das Wort, das gekommen ist, um zu belehren; die Gerechtigkeit, die gekommen ist, um zu heiligen. Für sie bin ich vergeblich gekommen. Für sie bin ich vielmehr Anlaß zur Sünde, weil sie mich verfolgen und auch meine Getreuen verfolgen. Was soll ich also sagen? Das, was ich schon oft gesagt habe: "Viele werden kommen von Osten und Westen und mit Abraham und Jakob im Himmelreich zu Tische sitzen. Aber die Söhne dieses Reiches werden in die äußerste Finsternis geworfen werden."»

«Die Söhne Gottes in der Finsternis? Du lästerst Gott!» schreit einer der widerspenstigen Synedristen. Es ist der erste Spritzer des Geifers dieser Schlangen, die sich zu lange ruhig verhalten haben und nun nicht mehr schweigen können, da sie sonst in ihrem eigenen Gift ersticken.

«Nicht die Kinder Gottes», antwortet Jesus.

«Du hast es gesagt! Du hast gesagt: "Die Söhne dieses Reiches werden in die äußerste Finsternis geworfen werden."»

«Und ich wiederhole: die Söhne dieses Reiches, des Reiches, in dem das Fleisch, das Blut, der Geiz, der Betrug, die Begierlichkeit und das Verbrechen regieren. Aber dieses ist nicht mein Reich, das meinige ist das Reich des Lichtes. Das eurige ist das Reich der Finsternis. Zum Reich des Lichtes

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werden von Osten und Westen, von Süden und Norden die gerechten Seelen gelangen, auch jene, die jetzt noch Heiden und Götzendiener sind und von Israel verachtet werden, und sie werden in heiliger Gemeinschaft mit Gott leben, denn sie werden das Licht Gottes in sich aufgenommen haben in Erwartung des Aufstieges zum wahren Jerusalern, wo es keine Tränen, keinen Schmerz und vor allem keine Lüge mehr geben wird. Die Lüge, die heute die Welt der Finsternis regiert und deren Söhne durchdringt bis zu dem Punkt, an dem kein Fünkchen von göttlichem Licht mehr von ihnen aufgenommen wird. Oh, mögen recht bald die neuen Söhne anstelle der Söhne der Verleumdung kommen! Mögen sie kommen, welches auch ihre Herkunft sei, Gott wird sie erleuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit!»

«Du hast geredet, um uns zu beleidigen!» schreien die feindlich gesinnten Judäer.

«Ich habe gesprochen, um die Wahrheit zu sagen.»

«Deine Macht liegt in der Zunge, mit der du, die neue Schlange, die Menge auf Irrwege führst.»

«Meine Macht liegt in der Kraft, die mir durch meine Einheit mit dem Vater eigen ist.»

«Du Gotteslästerer!» rufen die Priester.

«O du, der du zu meinen Füßen liegst, woran leidest du?»

«Meine Beine hängen kraftlos herab, seit dieser hier, der mich mit meinem Mann hergebracht hat, das Licht der Welt erblickt hat», und sie deutet auf einen Jüngling von ungefähr sechzehn Jahren.

«Erhebe auch du dich und lobe den Herrn. Und der Jüngling dort, warum geht er nicht allein?»

«Weil er schwachsinnig, taub, blind und stumm geboren wurde. Ein Stück Fleisch, das atmet», sagen die, die bei dem Unglücklichen sind.

«Im Namen Gottes habe Verstand, das Wort, die Sehkraft und das Gehör. Ich will es!»

Und nach dem dritten Wunder wendet er sich an die feindlich Gesinnten und sagt: «Was sagt ihr nun?»

«Zweifelhafte Wunder. Warum heilst du nicht deinen Freund und Verteidiger, wenn du doch alles kannst?»

«Weil Gott es anders will.»

«Aha! Aha! Gott! Bequeme Ausrede! Wenn wir dir einen oder auch zwei Kranke bringen würden, würdest du sie heilen?»

«Ja, wenn sie es verdienen.»

«Dann warte auf uns.» Und sie gehen grinsend davon.

«Meister, sei vorsichtig! Sie wollen dir eine Falle stellen!» sagen einige.

Jesus macht eine Handbewegung, als ob er sagen wollte: «Laßt sie nur machen!» und beugt sich nieder, um Kinder zu liebkosen, die ihren Eltern weggelaufen sind und sich langsam an ihn herangemacht haben. Einige

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Mütter machen es ihnen nach und bringen die zu ihm, die noch zu unsicher im Gehen oder gar noch Säuglinge sind.

«Segne unsere Kinder, Gesegneter, denn wir lieben das Licht!» sagen die Mütter.

Jesus legt ihnen segnend seine Hände auf. Dies verursacht eine große Bewegung unter dem Volk. Alle, die Kinder haben, wollen denselben Segen und drängen und schreien, um sich Platz zu schaffen.

Die Apostel, teils weil sie schon durch die übliche Bosheit der Schriftgelehrten und Pharisäer nervös geworden sind, teils weil sie sich um Lazarus Sorgen machen, der Gefahr läuft, von der Flut der Eltern, die ihre Kinder zum göttlichen Segen bringen, überschwemmt zu werden, werden unruhig und weisen diesen oder jenen zurück, besonders die Kinder, die allein gekommen sind. Doch Jesus sagt sanft und liebevoll: «Nein, nein! Nicht so! Hindert nie die Kinder, zu mir zu kommen, noch ihre Eltern, sie zu mir zu bringen. Besonders für diese Unschuldigen ist das Himmelreich. Sie werden unschuldig sein an dem großen Verbrechen und im Glauben an mich heranwachsen. Laßt sie mich also weihen. Es sind ihre Engel, die sie zu mir führen!»

Jesus ist jetzt der Mittelpunkt in einem Blumenbeet von Kindern, die begeistert zu ihm aufschauen; so viele Gesichtlein, so viele unschuldige Äuglein, so viele lächelnde Mündlein...

Die verschleierten Frauen haben die Gelegenheit benützt, um in dem allgemein herrschenden Durcheinander um die Menge herumzugehen und sich hinter Jesus zu stellen, so als ob die Neugierde sie dazu getrieben hätte.

Die Pharisäer, Schriftgelehrten und andere Leute kommen mit zwei Menschen, die schwer krank zu sein scheinen, zurück. Besonders einer, der auf seiner Bahre mit einem Mantel zugedeckt ist, jammert. Der andere leidet anscheinend nicht so sehr; doch muß auch er schwer krank sein, denn er ist sehr mager und keucht.

«Sieh, unsere Freunde. Heile sie. Sie sind wirklich krank. Dieser hier vor allem!» und sie deuten auf den Seufzenden.

Jesus senkt den Blick auf die Kranken, dann richtet er ihn wieder auf die Juden. Er blickt seine Feinde mit schreckenerregenden Augen an. Aufrecht stehend hinter der Schar der unschuldigen Kinder, die ihm kaum bis an die Hüften reichen, scheint er sich aus einem Wurzelstock der Reinheit zu erheben, um Rächer zu sein, als ob er seine Kraft aus dieser Reinheit schöpfen würde. Er breitet seine Arme aus und ruft: «Ihr Lügner! Dieser ist nicht krank! Ich sage es euch. Deckt ihn auf! Sonst wird er augenblicklich sterben wegen des Betrugs, mit dem man Gott versuchen wollte.»

Der Mann springt von der Bahre auf und schreit: «Nein! Nein! Bestrafe mich nicht! Und ihr, Verfluchte, behaltet eure Münzen!» und er wirft den Pharisäern einen Beutel zu Füßen, worauf diese Reißaus nehmen.

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Die Menge murrt, lacht, pfeift, klatscht Beifall...

Der andere Kranke sagt: «Und ich, Herr? Man hat mich mit Gewalt aus meinem Bett geholt und seit heute morgen habe ich keine Ruhe mehr... Aber ich wußte nicht, daß ich in die Hände deiner Feinde geraten war...»

«Du, armer Sohn, sei geheilt und gesegnet!» und er legt ihm die Hände auf, indem er den lebenden Zaun der Kinder durchschreitet.

Der Mann hebt einen Augenblick die Decke, die über seinen Körper ausgebreitet worden ist, und schaut, ich weiß nicht, auf was... Dann steht er auf. Er ist von den Schenkeln bis zu den Füßen nackt und schreit und schreit, bis er ganz heiser ist: «Mein Fuß! Mein Fuß! Aber wer bist du denn, daß du verlorene Dinge zurückgeben kannst?» Und er fällt Jesus zu Füßen und erhebt sich dann wieder, springt auf sein Bett und ruft: «Ein Übel verzehrte meine Knochen. Der Arzt hat mir die Zehen ausgerissen, das Fleisch verbrannt und bis zum Knochen des Knies eingeschnitten. Schaut! Seht die Narben! Ich war dem Tode nahe, und nun... Nun bin ich ganz geheilt! Mein Fuß! Mein Fuß ist wiederhergestellt... und ich habe keine Schmerzen mehr! Ich habe Kraft und fühle mich wohl... Die Brust ist befreit... Das Herz geheilt! ... O Mutter! Meine Mutter! Ich komme, um dir eine große Freude zu bereiten!»

Der Geheilte will davoneilen, doch dann hält ihn die Dankbarkeit zurück. Er begibt sich aufs neue zu Jesus und küßt ihm die gesegneten Füße, bis Jesus zu ihm sagt, indem er ihm das Haar streichelt: «Geh nun! Geh zu deiner Mutter und sei gut.» Dann schaut er seine entlarvten Feinde an und donnert: «Und nun? Was soll ich mit euch nun tun? Was soll ich nun tun, ihr Menschen, nach diesem Gericht Gottes?»

Die Menge schreit: «Zur Steinigung mit diesen Gotteslästerern! Zum Tode! Ihr habt dem Heiligen genug Nachstellungen bereitet! Ihr sollt verflucht sein!» Sie greifen nach Steinen, Erdschollen, Zweigen und Kieseln, bereit, mit der Steinigung zu beginnen.

Jesus hält sie davon ab. «Das ist das Wort der Menschen. Das ist ihre Antwort. Die meine lautet anders. Ich sage: Geht! Ich werde mich nicht damit beschmutzen, euch zu bestrafen. Der Allerhöchste soll sich um euch kümmern. Er ist meine Verteidigung gegen die Gottlosen.»

Die Schuldigen haben trotz ihrer Angst vor dem Volk noch die Frechheit, den Meister zu beleidigen, und anstatt still zu sein, schreien sie schäumend vor Zorn: «Wir sind Judäer und mächtig! Wir befehlen dir, fortzugehen! Wir verbieten dir zu lehren! Wir verjagen dich. Geh fort! Genug mit dir. Wir haben die Macht in Händen und benützen sie, und werden es immer mehr tun, indem wir dich verfolgen, du Verfluchter, du Usurpator, du ...»

So kreischen sie inmitten des Geschreis, des Schluchzens und der Pfiffe, als die größere der verschleierten Frauen sich mit einer plötzlichen,

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gebieterischen Bewegung und mit noch gebieterischerem Blick und gebieterischerer Stimme zwischen Jesus und seine Feinde stellt und ihr Antlitz enthüllt. Peitschend wie eine Geißel, die Galeerensträflinge trifft, und schneidend wie ein Beil, das auf den Verbrechernacken saust, fallen ihre Worte: «Wer hat hier vergessen, daß er ein Sklave Roms ist?»

Es ist Claudia. Sie läßt den Schleier sinken und verneigt sich leicht vor dem Meister. Dann kehrt sie zu ihrem Platz zurück. Aber das hat genügt.

Die Pharisäer sind sofort ruhig, nur einer sagt im Namen aller in heuchlerischem Ton: «Herrin, verzeihe! Aber er stört den alten Geist Israels. Du, o Mächtige, solltest ihn daran hindern; du solltest es verhindern lassen durch den gerechten und tapferen Prokonsul. Langes Leben und Wohlergehen seien ihm beschieden!»

«Das geht uns nichts an. Es genügt, daß er die Ordnung Roms nicht stört, und das tut er nicht!» antwortet die Patrizierin verächtlich. Dann gibt sie ihren Begleiterinnen einen knappen Befehl und entfernt sich in Richtung auf eine Baumgruppe am Ende des Pfades, hinter der sie verschwindet, um sich dann auf einem rasselnden überdachten Wagen, dessen Vorhänge sie zuziehen läßt, zu entfernen.

«Bist du nun zufrieden, daß du uns hast beschimpfen lassen können?»fragen die wieder zum Angriff übergehenden Pharisäer und Schriftgelehrten und ihr Gefolge.

Die Menge schreit, von Unwillen ergriffen. Joseph, Nikodemus und alle, die sich als Freunde Jesu erwiesen haben – und mit ihnen, wenn auch etwas weniger entschieden, der Sohn des Gamaliel – verspüren das Bedürfnis, dazwischenzutreten und die anderen zu tadeln, weil sie das Maß überschritten haben. Nun streiten sich die beiden Gruppen, während Jesus, um den es geht, unbehelligt gelassen wird.

Jesus schweigt und hört mit verschränkten Armen zu, während er eine Kraft auszuströmen scheint, die die Menschenmenge und besonders die zornroten Apostel zurückhält.

«Wir müssen uns und auch das Volk verteidigen», schreit ein aufgeregter Jude.

«Wir sind es leid, die begeisterten Volksmengen zu sehen, die hinter ihm herlaufen», sagt ein anderer.

«Wir sind die Mächtigen! Wir allein und nur unsere Worte sollen angehört und befolgt werden», kreischt ein Schriftgelehrter.

«Geh fort von hier! Jerusalern gehört uns!» schreit ein Priester, der rot wie ein Truthahn ist.

«Ihr seid Treulose!»

«Mehr als Blinde seid ihr!»

«Das Volk verläßt euch, weil ihr es verdient!»

«Seid heilig, wenn ihr geliebt werden wollt. Nicht durch Übergriffe hält man sich an der Macht, die sich auf die Achtung des Volkes stützt,

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das man regiert!» schreien die von der Gegenpartei und viele aus dem Volk.

«Ruhe!» gebietet Jesus. Und als diese eingetreten ist, sagt er: «Tyrannei und Unterdrückung können am Wohlwollen als Folge der empfangenen Wohltaten nichts ändern. Ich ernte das, was ich gegeben habe: Liebe. Ihr erreicht mit eurer Verfolgung nichts anderes, als daß ihr diese Liebe vermehrt, die mich für eure Lieblosigkeit entschädigen will. Bei all eurer Weisheit wißt ihr nicht, daß die Verfolgung einer Lehre gerade dazu dient, ihre Macht zu vermehren, besonders wenn die mit ihr verbundenen Werke ihr entsprechen. Hört euch eine meiner Vorhersagen an, ihr Israeliten. Je mehr ihr den Rabbi von Galiläa und seine Nachfolger verfolgt und versucht, seine Lehre, die göttlich ist, mit Gewalt zunichtezumachen, umso mehr wird sich diese Lehre über die ganze Welt verbreiten. Jeder Tropfen Märtyrerblut, den ihr vergießen lassen werdet in der Hoffnung, mit euren entarteten, heuchlerischen Gesetzen, die nicht mehr dem Gesetz Gottes entsprechen, zu triumphieren und zu herrschen, wird ein Same für künftige Gläubige sein, und ihr werdet besiegt werden, während ihr glaubt, triumphieren zu können. Geht. Auch ich gehe. Jene, die mich lieben, sollen mich an den Grenzen von Judäa und in Transjordanien suchen oder dort auf mich warten, denn wie ein Blitz, der von Osten nach Westen fährt, wird der Weg des Menschensohnes sein, bis er den Altar und den Thron als Hoherpriester und neuer König besteigen und unerschüttert dort sitzen wird vor dem Angesicht der Welt, der Schöpfung und des Himmels, in einer seiner vielen Erscheinungen, die nur die Guten zu begreifen vermögen.»

Die feindlichen Pharisäer und ihre Begleiter sind fortgegangen. Die anderen bleiben. Der Sohn des Gamaliel kämpft mit sich selbst, aber dann entfernt er sich wortlos...

«Meister, du wirst uns doch nicht hassen, da wir derselben Kaste angehören?» fragt Eleazar.

«Ich bestrafe nie mit dem Fluch den einzelnen, weil die Kaste schuldig ist. Habe keine Angst», antwortet Jesus.

«Nun werden sie uns hassen ...» flüstert Joachim.

«Eine Ehre für uns, wenn dem so ist!» ruft Johannes der Synedrist aus.

«Gott möge die Wankelmütigen stärken und die Starken segnen. Ich segne alle im Namen des Herrn», und mit ausgebreiteten Armen gibt er allen Anwesenden den mosaischen Segen.

Dann verabschiedet er sich von Lazarus und den Schwestern, von Maximinus und den Jüngerinnen und macht sich auf den Weg...

Die grünen Gefilde, die den Weg nach Jericho säumen, nehmen ihn auf in ihr Grün, das sich in einem herrlichen Sonnenuntergang rötet.

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426. AUF DEM WEG ZUM BERG ADUMMIM

«Wohin gehen wir nun, da es Abend wird?» fragen sich die Apostel und unterhalten sich über die Ereignisse des Tages. Aber sie sagen nichts Böses, um den Meister nicht zu entmutigen, der sichtlich nachdenklich einhergeht.

Es wird Abend, während sie so gehen, immer hinter dem in Gedanken versunkenen Meister. Dann aber zeigt sich ein Dorf am Fuße einer stark zerklüfteten Gebirgskette.

«Wir bleiben hier und übernachten», befiehlt Jesus. «Ja, ihr bleibt hier, und ich gehe auf diese Berge, um zu beten ...»

«Allein? O nein! Allein lasse ich dich nicht auf den Adummim steigen! Bei all den Räubern, die auf dich lauern... Nein, da gehst du nicht hin! ...»sagt Petrus entschieden.

«Was sollen sie mir schon antun? Ich habe nichts!»

«Du hast... dich selbst! Ich spreche von noch schlimmeren Räubern, von jenen, die dich hassen, und denen genügt dein Leben. Du darfst nicht getötet werden... wie... wie... und auf eine so hinterlistige Weise. Du würdest deinen Feinden nur Gelegenheit geben, wer weiß was zu erfinden, um die Menge auch deiner Lehre abspenstig zu machen», entgegnet Petrus.

«Simon des Jonas hat recht, Meister. Sie wären imstande, deinen Körper verschwinden zu lassen und zu sagen, daß du geflohen seist, weil du dich entlarvt gesehen hättest, oder... dich gar an einen verrufenen Ort, in das Haus einer Dirne zu bringen, um sagen zu können: "Seht ihr, wo und wie er gestorben ist? Im Streit um eine Dirne." Du hattest recht, als du sagtest: "Eine Lehre verfolgen bedeutet, ihre Macht vermehren"; und ich habe bemerkt – denn ich habe ihn nie aus den Augen verloren – daß der Sohn des Gamaliel mit einem Kopfnicken zugestimmt hat. Aber auch das ist wahr und gut gesagt: "Einen Heiligen und seine Lehre mit Spott zu bedecken, ist die sicherste Waffe, um ihn zu Fall zu bringen und das Ansehen des Heiligen beim Volk zu schmälern"», sagt Judas Thaddäus.

«Ja, und das darf bei dir nicht geschehen», fügt Bartholomäus hinzu.

«Geh nicht auf das Spiel deiner Feinde ein. Denke daran, daß du durch diese Unvorsichtigkeit nicht nur dich allein, sondern den Willen dessen, der dich gesandt hat, zunichte machen würdest; und man würde sehen, daß die Söhne der Finsternis wenigstens momentan über das Licht gesiegt hätten», fügt der Zelote hinzu.

«Aber ja! Du sagst immer und durchbohrst uns das Herz, wenn du es sagst, daß du getötet werden wirst. Ich erinnere mich, wie du Simon Petrus getadelt hast, und sage daher nicht: "Das soll nie geschehen"; aber ich glaube nicht, Satan zu sein, wenn ich sage: "Es möge wenigstens so geschehen, daß es dir zur Verherrlichung gereiche, als unwiderlegliches Siegel deiner Heiligkeit und sichere Verdammung deiner Feinde; auf daß die

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Menge die notwendigen Kriterien habe, um unterscheiden und glauben zu können." Dies wenigstens, o Meister. Die heilige Sendung der Makkabäer erschien nie so sehr als solche wie damals, als Judas, der Sohn des Mattathias, als Held und Retter auf dem Schlachtfeld starb. Willst du zum Adummim gehen? Dann werden wir dich begleiten, wir sind deine Apostel! Wo du, das Haupt, bist, da wollen wir, deine Diener, sein», sagt Thomas, und selten habe ich ihn mit so feierlichem Nachdruck sprechen gehört.

«Das ist wahr! Das ist wahr! Und wenn sie dich ergreifen wollen, dann müssen sie zuerst uns angreifen!» sagen einige.

«Aber so schnell werden sie uns nicht angreifen! Sie müssen sich erst einmal von den Worten Claudias erholen, und sie sind schlau, sehr schlau... zu schlau! Sie wissen genau, daß Pontius sie im Falle deines Todes zur Rechenschaft ziehen würde. Sie haben sich zu sehr selbst verraten, besonders vor den Augen Claudias, und sie werden sich etwas ausdenken, was sicherer als ein gemeiner Angriff ist. Vielleicht ist unsere Furcht töricht. Wir sind nicht mehr die einstigen armen Unbekannten, jetzt ist Claudia da!» sagt Iskariot.

«Schon gut... Aber wir wollen das Schicksal nicht herausfordern. Was willst du also auf dem Adummim tun?» fragt Jakobus des Zebedäus.

«Beten und einen Ort suchen, an dem wir alle in den nächsten Tagen beten können, um uns vorzubereiten auf die neuen und immer heftigeren Angriffe.»

«Der Feinde?»

«Auch unseres eigenen Ichs. Es muß sich festigen.»

«Aber hast du denn nicht gesagt, daß du an die Grenzen von Judäa und nach Transjordanien gehen willst?»

«Ja, gewiß werde ich dorthin gehen, aber erst nach dem Gebet. Ich werde mich nach Achor und dann über Doko nach Jericho begeben.»

«Nein, nein, Herr! Das sind verhängnisvolle Orte für die Heiligen von Israel! Geh nicht dorthin! Ich fühle, daß dies nicht gut ist. Eine innere Stimme sagt es mir! Im Namen Gottes, geh nicht hin!» schreit Johannes, der außer sich zu sein scheint, als sei er von einer furchterregenden Ekstase erfaßt worden... Alle schauen ihn erstaunt an, denn so haben sie ihn noch nie gesehen. Aber niemand spottet über ihn. Sie begreifen alle, daß sie einem Übernatürlichen Ereignis beiwohnen und bewahren respektvolles Schweigen. Auch Jesus schweigt, bis er sieht, daß Johannes wieder sein normales Aussehen gewinnt und sagt: «O mein Herr! Wie habe ich gelitten!»

«Ich weiß es. Wir wollen zum Kerith gehen. Was sagt dein Geist?»

Ich bin tief betroffen von dem Respekt, mit dem sich Jesus dem Erleuchteten zuwendet...

«Das fragst du mich, o Herr? Den armen törichten Knaben? Du, der du die allerheiligste Weisheit bist?»

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«Ja, dich. Der Kleinste ist der Größte, wenn er sich in Demut zum Wohl seiner Brüder mit seinem Herrn vereinigt. Sprich...»

«Ja, Herr. Gehen wir zum Kerith. Dort gibt es sichere Schluchten, in denen man sich in Gott sammeln kann, und die Straßen nach Jericho und Samaria sind nicht weit entfernt. Wir werden von dort herabsteigen, um jene zu versammeln, die dich lieben und auf dich hoffen, und wir werden sie dir zuführen oder dich zu ihnen führen und uns dann noch einmal im Gebet stärken... Und der Herr wird herabsteigen, um zu unseren Seelen zu sprechen... und unsere Ohren zu öffnen, die das Wort wohl hören, es aber nicht vollständig verstehen... und vor allen Dingen, um unsere Herzen mit seinem Feuer zu erfüllen. Denn nur, wenn sie entflammt sind, werden wir das Martyrium auf Erden ertragen können. Nur, wenn wir zuvor das süße Martyrium der vollkommenen Liebe erlitten haben, werden wir bereit sein, das Martyrium des menschlichen Hasses auf uns zu nehmen. Herr... was habe ich gesagt?»

«Meine Worte, Johannes. Fürchte dich nicht. Nun werden wir hier anhalten und morgen bei Sonnenaufgang auf die Berge steigen.»

427. NACH DER EINKEHR AUF DEM KERITH

Von einer Bergkette aus, in der jeder Gipfel damit beschäftigt zu sein scheint, den anderen zu überragen – und man könnte sagen, daß jede dieser Anstrengungen durch eine Kette abschüssiger felsiger Hügel, durch steil abfallende Hänge und enge Täler, die riesigen Einschnitten gleichen und von wilden Graten beherrscht werden, gekennzeichnet ist – sehen der Meister und die Apostel in südöstlicher Richtung einige Teile des Toten Meeres. Den Jordan und sein fruchtbares, friedliches Tal sieht man nicht, und auch Jericho oder andere Städte sind nicht zu sehen. Nur Berge über Berge erheben sich in der Richtung von Samaria, und das dunkle Tote Meer erscheint zwischen zwei spitzen Bergeshöhen. In der Tiefe fließt ein Gießbach von Westen nach Osten, der sicherlich in den Jordan mündet. Lautes Schreien von Falken und Krächzen von Raben kommt vom hellblauen Himmel, lebhaftes Vogelgezwitscher von den Sträuchern der wilden Abhänge. Die Winde blasen durch die engen Schluchten und bringen ferne Düfte und Geräusche mit sich; manchmal übertönen sie auch nahe Geräusche, je nachdem, ob diese leise oder laut sind. Man hört auch das Pferdegetrappel, das von der Straße im Tale heraufkommt; das Blöken eines Schafes, das auf der Hochebene weidet, das Plätschern von Wasser, das vom Felsen tropft und als Bach herabstürzt. Das Wetter ist gut, trocken und lau, und die Abhänge sind alle gleichsam eine Emailmalerei von Blumen auf dem smaragdgrünen Gras; Trauben und Girlanden

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von Blumen hängen von Stämmen und Zweigen herab, und der Ort wirkt freundlich.

In übernatürlicher Freude erstrahlen die Gesichter der Dreizehn, die dort versammelt sind. Die Welt ist vergessen. Sie ist fern... Die Seelen haben ihr Gleichgewicht, das durch so viele Stöße erschüttert worden war, wiedergefunden und sind wieder in den Vorhof Gottes, d.h. in den Frieden zurückgekehrt, und diesen Frieden liest man auf ihren Gesichtern.

Doch der Aufenthalt ist beendet, und Jesus spricht davon. Petrus wiederholt seine Bitte vom Tabor: «Oh, warum bleiben wir nicht länger hier? Es ist so schön, mit dir hier zu sein.»

«Weil die Arbeit auf uns wartet, Simon des Jonas. Wir können nicht nur in der Betrachtung leben. Die Welt erwartet uns, um belehrt zu werden. Die Arbeiter des Herrn dürfen nicht ruhen, solange es noch Felder zu besäen gibt...»

«Aber dann... Ich, der ich nur ein bißchen gut werde, wenn ich mich so absondere, ich werde nie... Die Welt ist so groß! Wie werden wir vor unserem Tode alle Menschen belehren und uns in dir vereinigen können?»

«Ihr werdet sicherlich nicht die ganze Welt bearbeiten können. Jahrhunderte werden dazu nötig sein, und wenn ein Teil bearbeitet ist, wird Satan kommen und Zerstörungsarbeit leisten. Es wird daher eine ununterbrochene Arbeit sein, die bis ans Ende der Zeiten dauern wird.»

«Oh, wie werde ich mich dann auf den Tod vorbereiten können?» Petrus ist wirklich untröstlich.

Jesus versichert ihm, indem er ihn umarmt: «Du wirst Zeit haben. Es genügt ein Augenblick vollkommener Sammlung, um sich vorzubereiten, um vor Gott zu erscheinen. Aber du wirst reichlich Zeit haben. Im übrigen wisse, daß die Erfüllung des Willens Gottes immer Vorbereitung auf einen heiligmäßigen Tod ist. Wenn Gott dich tätig will und du gehorchst, dann bereitest du dich durch diesen Gehorsam besser vor, als wenn du dich zwischen einsame Felsen verkriechen würdest, um zu beten und zu betrachten. Überzeugt dich das?»

«Gewiß, da du es sagst. Was sollen wir also tun?»

«Verteilt euch auf den Wegen in den Tälern. Versammelt jene, die auf mich warten, verkündet und predigt den Herrn und den Glauben, bis ich komme.»

«Bleibst du allein zurück ?»

«Aber ja. Fürchtet euch nicht. Ihr seht, daß das Böse manchmal dem Guten dient. Hier wurde Elias von den Raben ernährt, und wir können sagen, daß die wilden Geier unseren Hunger gestillt haben.»

«Glaubst du, daß es ein Anfang einer Bekehrung gewesen ist?»

«Nein. Aber Liebe, wenn sie auch nur dem Gedanken entsprungen ist, uns durch die geübte Hochherzigkeit daran zu hindern, sie zu verraten ...»

«Aber wir hätten sie doch nicht verraten!» ruft Andreas aus.

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«Nein. Aber sie, die unglücklichen Räuber, wissen das nicht. Nichts Geistiges wirkt in ihnen, beladen mit Verbrechen wie sie sind.»

«Herr, du hast gesagt, daß die Liebe... Was wolltest du damit sagen?» fragt Johannes.

«Ich wollte damit sagen: Die Liebe, die sie uns erwiesen haben, wird nicht unbelohnt bleiben, wenigstens bei den besseren von ihnen. Die Bekehrung, die noch nicht erfolgt ist, kann langsam zustandekommen; aber sie kann erfolgen, und deswegen habe ich zu euch gesagt: "Weist das von ihnen Dargebotene nicht ab", und ich habe ihre Speisen angenommen, obwohl sie nach Sünde rochen.»

«Du hast jedoch nicht davon gegessen ...»

«Ich habe aber auch die Sünder nicht gedemütigt, indem ich ihr Angebot abgelehnt habe. Sie hatten eine erste Regung von Güte. Warum sie zerstören? Hat jener Gießbach im Abgrund seinen Ursprung nicht an der Quelle, die von diesem Felsen tropft? Denkt immer daran. Es ist eine Lehre für euer zukünftiges Leben, für die Zeit, da ich nicht mehr unter euch sein werde. Wenn ihr auf den Wegen eurer apostolischen Reisen Verbrechern begegnet, dann seid nicht wie die Pharisäer, die alle verachten, während sie selbst verderbt sind, sondern nähert euch ihnen mit großer Liebe, ich würde sagen, mit unbegrenzter Liebe. Ja, ich sage es sogar, denn es ist möglich, obwohl der Mensch in seinen Handlungen endlich und begrenzt ist. Wißt ihr, wie der Mensch die unendliche Liebe besitzen kann? Indem er so innig mit Gott vereint ist, daß er eins mit Gott ist, und da das Geschöpf im Schöpfer aufgeht, wirkt dann der Schöpfer, der unendlich ist. Und so, mit ihrem Gott vereinigt durch die Macht der Liebe, die so eng mit dem Ursprung verbunden ist, daß sie eins mit ihm ist, so müssen meine Apostel sein. Nicht durch eure Worte, sondern durch eure Liebe werdet ihr die Herzen bekehren, und wenn ihr Sünder antrefft, dann liebt sie. Wenn ihr wegen der Jünger leidet, die vom rechten Weg abgekommen sind, versucht, sie durch Liebe zu retten. Denkt an das Gleichnis vom verlorenen Schäflein. Durch alle Jahrhunderte hindurch wird die Liebe der süße Lockruf für die Sünder sein, aber sie wird auch die sichere Richtschnur für meine Priester sein. Unter Anwendung all eurer Künste, zu jedem Opfer bereit, selbst auf die Gefahr hin, euer Leben zu verlieren, um durch euren Tod eine Seele zu retten; mit aller notwendigen Geduld müßt ihr hingehen und die Verirrten aufsuchen, um sie in den Schafstall zurückzubringen.

Die Liebe wird euch Freude schenken, und euch sagen: "Fürchte dich nicht." Sie wird euch eine wirksame Kraft zu ihrer Verbreitung in der Welt verleihen, wie ich sie selbst nicht hatte. Die Liebe der künftigen Gerechten soll nicht mehr als ein Siegel auf Herz und Arm gedrückt werden, wie es im Hohenlied geschrieben steht, sondern sie muß ins Herz gesenkt werden und der Antrieb sein, der die Seele zu jeder Tat befähigt. Jede Handlung

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muß ein Überströmen von Liebe sein, die sich nicht damit begnügt, Gott oder den Nächsten nur in Gedanken zu lieben, sondern die sich zum Kampf gegen die Feinde Gottes aufmacht, um Gott und den Nächsten auch mit der Tat zu lieben, durch immer weitreichendere und vollkommenere Handlungen, die schließlich in der Rettung und Heiligung der Brüder gipfeln. Durch die Betrachtung liebt man Gott, und durch die Tat liebt man den Nächsten, und diese beiden Arten der Liebe sind nicht zu trennen; denn es gibt nur eine Liebe, und indem wir den Nächsten lieben, lieben wir Gott, der uns diese Liebe befiehlt und uns den Nächsten als Bruder gegeben hat. Ihr werdet nicht behaupten können – und ebensowenig werden es die künftigen Priester tun können – meine Freunde zu sein, wenn eure Liebe – und die ihre – nicht gänzlich auf die Rettung der Seelen ausgerichtet ist, für die ich Mensch geworden bin und leiden werde. Ich gebe euch das Beispiel, wie man liebt. Daher sollt ihr und die, die nach euch kommen werden, das tun, was ich tue. Eine neue Zeit bricht an, die Zeit der Liebe. Ich bin gekommen, dieses Feuer in den Herzen zu entfachen, und es wird noch anwachsen nach meinem Leiden und nach meiner Auferstehung und euch ganz entzünden, wenn die Liebe des Vaters und des Sohnes herabsteigen wird, um euch für euer Amt zu weihen.

0 göttliche Liebe! Worauf wartest du, um das Opfer zu vollenden und dieser meiner Herde Augen und Ohren zu öffnen und Zunge und Glieder zu lösen, auf daß sie unter die Wölfe gehe und sie belehre, daß Gott die Liebe ist und daß, wer keine Liebe hat, nichts als ein unvernünftiges Tier und ein Dämon ist? Oh, komm, süßester und mächtigster Geist, und entflamme die Erde, nicht um sie zu zerstören, sondern um sie zu reinigen. Entzünde die Herzen! Mache aus ihnen meinesgleichen, Christen, das heißt mit der Liebe Gesalbte, durch die Liebe Wirkende und aus Liebe Heilige und Heiligende. Selig jene, die lieben, denn sie werden geliebt werden und ihre Seelen werden nie aufhören, Gott mit den Engeln zu preisen, bis sie den ewigen Lobgesang im Lichte der Himmel singen werden. So sei es mit euch, meine Freunde. Geht nun und tut mit Liebe das, was ich euch gesagt habe.»

428. ESSENER UND PHARISÄER; DAS GLEICHNIS VOM UNTREUEN VERWALTER

Viel Volk wartet auf den Meister an den unteren Hängen eines ziemlich einsam stehenden Berges, der sich an einem Ort erhebt, an dem mehrere umliegende Täler zusammentreffen. Die Hänge sind an einigen Stellen sehr abschüssig. Ein in den Kalkfelsen gehauener Pfad, an dessen einer Seite die Bergwand aufsteigt, während auf der anderen der Hang steil

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abfällt, windet sich schlangenartig bis zum Berggipfel empor. Der holprige, lehmfarbene, fast rötliche Pfad zieht sich wie ein Band zwischen dem staubigen Grün der niedrigen Dornbüsche dahin; und ich würde sagen, daß die Blätter der Büsche, welche die steinigen, trockenen Abhänge bedecken, die Dornen selbst sind. Da und dort schmücken sie sich mit einer Blüte von lebhaftem Violett, die an diesem Dorngestrüpp hängengeblieben ist wie ein Federbusch oder ein Seidenknäuel. Dieses lästige, blaugrüne Kleid aus spitzen Dornen ist wie mit einer traurig stimmenden, unberührbaren Asche bedeckt, und breitet sich strichweise auch am Fuß des Berges und in der Ebene zwischen diesem und anderen Bergen aus, sowohl in nordwestlicher als auch in südöstlicher Richtung, und dringt bis zu den grünen Flächen vor, auf denen es echtes Gras und echte Sträucher gibt, die nicht nur hinderlich und unnütz sind.

Die Leute haben sich auf diesen Flächen niedergelassen und warten geduldig auf die Ankunft des Meisters. Es muß der Tag nach der Belehrung der Apostel sein. Es ist ein frischer Morgen und der Tau ist noch nicht auf allen Halmen verdunstet, besonders nicht auf den mehr im Schatten stehenden Dornen und Blättern, die er mit seinem Schmuck versieht, und auf den bizarren Blüten der Dornbüsche, die er in diamantene Flocken verwandelt. Dies ist gewiß die Stunde, in der dieser traurige Berg am schönsten erscheint, denn während der übrigen Zeit, in der unbarmherzigen Sonne oder im Mondschein, muß er das schreckliche Aussehen einer Stätte höllischer Sühne haben.

Im Osten sieht man in einer überaus fruchtbaren Ebene eine reiche und ausgedehnte Stadt. Anderes ist von diesem ziemlich tief liegenden Hang aus, auf dem sich die Pilger befinden, nicht zu sehen. Vom Gipfel aus muß das Auge eine wunderbare Aussicht auf die benachbarten Gebiete genießen. Ich glaube, daß man von der Höhe des Berges einen Ausblick auf das Tote Meer und die Gegend östlich davon, auf die Bergketten von Samaria und auf die, die Jerusalern verbergen, haben muß. Aber ich bin nicht auf dem Gipfel gewesen, und daher...

Die Apostel gehen in der Menge hin und her und suchen Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten und den Kranken zu den besten Plätzen zu verhelfen. Jünger, vielleicht solche, die in dieser Gegend wirken und die Pilger, die den Meister hören wollen, an die Grenzen von Judäa geführt haben, helfen ihnen dabei.

Jesus, der ein weißes Linnengewand trägt und sich den roten Mantel übergeworfen hat, um sich sowohl vor der Hitze der sonnigen Stunden als auch vor der Frische der noch nicht sommerlichen Nächte schützen zu können, erscheint ganz plötzlich. Er schaut, selbst noch unbemerkt, auf das Volk, das ihn erwartet, und lächelt. Er scheint von der Rückseite des Berges, aus mittlere Höhe zu kommen und steigt gewandt den schwierigen Pfad hinab. Als erster sieht ihn ein Knabe. Ich weiß nicht, ob er gerade die

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Vögel beobachtet hat, die in dem Dorngestrüpp nisten und durch einen rollenden Stein aufgeschreckt worden sind, oder ob er von seinem Blick angezogen wird. Er springt auf und ruft: «Der Herr ist da!»

Alle wenden sich um und sehen Jesus, der nun etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt ist. Sie wollen ihm entgegeneilen, doch er gebietet ihnen mit einer Armbewegung und der durch das Echo verstärkten Stimme: «Bleibt, wo ihr seid!» Immer noch lächelnd steigt er zu den Wartenden hinab und bleibt an der höchsten Stelle des Plateaus stehen. Von dort aus begrüßt er sie: «Der Friede sei mit euch allen», und wiederholt mit einem besonderen Lächeln den Gruß für die Apostel und die Jünger, die ihn umringen.

Jesus strahlt vor Schönheit. Mit dem Sonnenschein im Antlitz und dem grünen Berg im Hintergrund, scheint er eine Traumvision zu sein. Die Stunden der Einsamkeit, ein uns unbekanntes Ereignis, vielleicht ein Überfluß an väterlicher Liebesbezeugung, ich weiß es nicht, unterstreichen seine stets vollkommene Schönheit und lassen sie glorreich, mächtig, friedlich, freundlich und, ich würde fast sagen, heiter werden. Er gleicht einem, der von einer liebenden Begegnung zurückkehrt und bei dem sich die Freude darüber in seinem ganzen Aussehen, in seinem Lächeln und seinem Blick widerspiegelt. Hier leuchtet das Zeugnis dieser Begegnung, die göttlich ist, hundertmal stärker als nach einer armseligen, menschlichen Liebesbezeugung, und Christus ist wie verklärt. All das überträgt sich auf die Anwesenden, die ihn bewundernd und schweigend betrachten, eingeschüchtert vielleicht durch die Ahnung einer geheimnisvollen Vereinigung des Allerhöchsten mit seinem Wort... Es ist ein Geheimnis. Der Vater hat eine geheimnisvolle Stunde der Liebe mit seinem Sohn verbracht. Niemand wird das Geheimnis je erfassen, doch der Sohn trägt noch das Zeichen. Es ist, als koste es ihn Mühe, wieder der Sohn des Menschen zu sein, nachdem er für eine Weile nur das Wort des Himmlischen Vaters gewesen ist. Die Unendlichkeit, die Erhabenheit zögert noch, "Mensch" zu werden. Die Gottheit strömt über, bricht hervor, dringt durch das Menschsein, wie Öl durch weiche Tonerde oder das Licht des Herdfeuers durch den Schleier eines matten Glases.

Nun schlägt er seine strahlenden Augen nieder, neigt sein seliges Antlitz und verbirgt sein wunderbares Lächeln, indem er sich über die Kranken beugt, sie liebkost und heilt, und diese betrachten erstaunt das sonnenhafte, liebevolle Antlitz, das sich über ihr Elend neigt, um ihnen Freude zu schenken. Aber schließlich muß er sich aufrichten, muß der Menge zeigen, was das Antlitz des Friedfertigen, des Seligen, des menschgewordenen Gottes ist, der noch immer in das Licht der Ekstase eingehüllt ist. Er wiederholt: «Der Friede sei mit euch.» Selbst seine Stimme ist melodischer als sonst, von sanften und triumphierenden Tönen durchdrungen... Mächtig breitet sie sich über die stummen Zuhörer

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aus, sucht die Herzen, liebkost sie, rüttelt sie auf und ruft sie auf zu lieben.

Abgesehen von der Gruppe der Pharisäer, die unfruchtbarer, rauher und schroffer als der Berg selber sind und wie gefühllose, leblose Statuen in einer Ecke stehen; abgesehen von einer anderen Gruppe, die aus weißgekleideten Männern besteht, welche von einem Felsvorsprung aus zuhören und von Bartholomäus und Judas Iskariot als "Essener" bezeichnet werden, sind alle erschüttert. Petrus brummt: «Noch ein Stall voller Sperber!»

«Oh, laß sie nur machen. Das Wort ist für alle!» sagt Jesus lächelnd zu seinem Petrus, wobei er sich auf die Essener bezieht. Dann beginnt er zu reden.

«Es wäre schön, wenn der Mensch vollkommen wäre, wie es der Vater im Himmel wünscht. Vollkommen in allen seinen Gedanken, Gefühlen und Handlungen. Aber der Mensch versteht es nicht, vollkommen zu sein und mißbraucht die Gaben Gottes. Gott hat den Menschen Handlungsfreiheit gelassen, doch hat er ihnen auch die guten Dinge befohlen und die vollkommenen angeraten, damit der Mensch nicht sagen kann: "Ich habe es nicht gewußt."

Welchen Gebrauch macht der Mensch von der Freiheit, die Gott ihm gegeben hat? Ein Großteil der Menschen benützt sie, wie es ein Kind tun würde; andere, als wären sie Törichte, und wieder andere wie Verbrecher. Aber dann kommt der Tod, und der Mensch steht vor dem Richter, der ihn mit strenger Stimme fragen wird: "Wie hast du das gebraucht oder mißbraucht, was ich dir gegeben habe?"

Schreckliche Frage! Geringer als ein Strohhalm werden dann die Güter dieser Welt erscheinen, für die der Mensch so oft zum Sünder geworden ist! In seiner unendlichen Armseligkeit und vollkommen entblößt wird er beschämt und zitternd vor der Majestät des Herrn stehen, ohne Worte zu finden, um sich zu rechtfertigen. Auf Erden ist es leicht, sich zu rechtfertigen und arme Menschen zu täuschen, im Himmel jedoch gibt es das nicht. Gott läßt sich nicht betrügen, nie, und Gott läßt sich nicht auf Kompromisse ein. Niemals.

Wie kann man sich also retten? Wie kann alles dem Heil dienen, auch das, was aus der Verderbtheit stammt, die lehrt, daß edle Metalle und Edelsteine Mittel sind, um zu Reichtum zu gelangen, die Gier nach Macht und Fleischeslust entzündet hat? Kann also der Mensch nicht gerettet werden, der, so elend er auch sein mag, immer sündigen kann, indem er maßlos nach Gold, Ämtern und Frauen verlangt, und bisweilen zum Dieb wird, um dasselbe zu besitzen, was der Reiche hat? Kann also der Mensch, ob reich oder arm, sich auf keinen Fall retten? Doch, er kann es. Und wie? Indem er Reichtum oder Armut für gute Zwecke nützt. Der Arme, der nicht beneidet, der nicht flucht und nicht darauf bedacht ist,

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sich das Gut der anderen anzueignen, sondern sich mit dem zufrieden gibt, was er hat, benützt seinen niedrigen Stand, um künftige Heiligkeit zu erlangen; und wahrlich, die Mehrzahl der Armen ist imstande, dies zu tun. Weniger verstehen es die Reichen, recht zu handeln, da der Reichtum eine ständige Verlockung Satans und der dreifachen Begierlichkeit für sie ist.

Aber vernehmt ein Gleichnis, und ihr werdet sehen, daß auch die Reichen gerettet werden können. Sie können die begangenen Irrtümer wiedergutmachen, indem sie ihre Reichtümer gut gebrauchen, selbst wenn diese Reichtümer auf sündhafte Weise erworben wurden. Denn Gott, der Gütigste, gibt seinen Söhnen immer viele Mittel, um sich zu retten.

Es war einmal ein Reicher, der einen Verwalter hatte. Einige unter dessen Feinden, die neidisch auf seine gute Stellung waren, oder gute Freunde des Reichen, die auf seinen Vorteil bedacht waren, klagten den Verwalter bei seinem Herrn an: "Er verschleudert deine Güter. Er eignet sich diese an, oder er gibt sich nicht genügend Mühe, um sie Gewinn abwerfen zu lassen. Paß auf! Wehre dich!"

Der Reiche hörte sich diese Anklagen mehrmals an, ließ schließlich den Verwalter zu sich kommen und sagte zu ihm: "Dies und das habe ich von dir gehört. Wir konntest du in dieser Weise vorgehen? Ich will, daß du mit mir abrechnest, denn ich erlaube dir nicht mehr, weiterhin mein Verwalter zu sein. Ich kann mich nicht auf dich verlassen und den Mitknechten nicht ein Beispiel von Ungerechtigkeit und Untreue geben, das sie dazu verleiten würde, wie du zu handeln. Geh und komm morgen mit allen Abrechnungen, damit ich sie prüfen und mir ein Bild von meinem Besitz machen kann, bevor ich ihn einem anderen Verwalter anvertraue."

Und der Reiche entließ den Verwalter, der nachdenklich wegging und sich fragte: "Und nun? Was werde ich nun tun, da mein Herr mir die Verwaltung entzieht? Ersparnisse habe ich keine, denn ich war überzeugt, daß alles gut gehen würde, und genoß und eignete mir an, was ich wollte. Landarbeiter und Untergebener kann ich nicht werden, denn ich bin nicht mehr an der Hände Arbeit gewöhnt und durch die Schwelgereien schwerfällig geworden. Betteln gehen möchte ich noch viel weniger, denn das wäre eine allzu große Erniedrigung! Was soll ich also tun?"

Er dachte nach und dachte nach, und schließlich fand er einen Ausweg aus dieser mißlichen Lage. Er sagte: "Dies ist die Lösung. Mit denselben Mitteln, mit denen ich mir bisher ein angenehmes Leben verschafft habe, will ich mir jetzt Freunde schaffen, die mich aus Dankbarkeit in ihre Häuser aufnehmen werden, wenn ich nicht mehr Verwalter bin. Wer Gutes tut, hat immer Freunde. Tun wir also Gutes, um dann selbst auch Wohltaten zu empfangen, und beginnen wir sofort damit, bevor die Sache bekannt wird und es zu spät ist."

Und er machte sich auf den Weg zu den verschiedenen Schuldnern

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seines Herrn und sagte zu dem ersten: "Wieviel schuldest du meinem Herrn für die Summe, die er dir vor drei Jahren im Frühling geliehen hat?"

Der Gefragte antwortete: "Hundert Krüge Öl für die Summe und die Zinsen."

"Oh, du Armer! Du hast so viele Kinder und Sorgen wegen ihrer Krankheiten, und jetzt sollst du so viel geben?! Aber er hat dir doch nur für den Wert von dreißig Krügen gegeben!"

"Ja. Aber ich brauchte es dringend, und er sagte zu mir: 'Ich gebe dir unter der Bedingung, daß du mir so viel zurückgibst, als dir die Summe in drei Jahren einbringen wird.' Sie hat mir einen Wert von umgerechnet hundert Krügen eingebracht, und die muß ich ihm nun geben."

"Aber das ist doch Wucher! Nein, nein. Er ist reich, und du nagst am Hungertuch. Seine Familie ist klein, deine ist zahlreich. Schreibe, daß die Summe dir umgerechnet fünfzig Krüge eingebracht hat und dann denke nicht mehr darüber nach. Ich werde schwören, daß dies der Wahrheit entspricht, und so wird es dir etwas besser ergehen."

"Aber wirst du mich auch nicht verraten? Wenn er es erfahren sollte..."

"Was denkst du? Ich bin der Verwalter, und was ich schwöre, ist heilig. Tue, was ich dir sage, und sei getrost."

Der Mann schrieb, übergab das Schreiben dem Verwalter und sagte: "Sei gesegnet, mein Freund und Retter! Wie kann ich es dir vergelten?"

"Sprich nicht davon! Wenn ich deinetwegen zu leiden haben und verjagt werden sollte, wirst du mich aus Dankbarkeit aufnehmen."

"Aber gewiß! Gewiß! Du kannst auf mich bauen."

Der Verwalter ging zu einem anderen Schuldner und redete mit ihm mehr oder weniger auf die gleiche Weise. Dieser mußte hundert Scheffel Weizen zurückgeben, denn drei Jahre hintereinander hatte die Dürre sein Getreide vernichtet, und er hatte den Reichen um Weizen bitten müssen, um seine Familie ernähren zu können.

"Aber denk doch nicht daran, das Doppelte von dem zurückzugeben, was er dir gegeben hat! Das Doppelte verlangen von einem, der Hunger leidet und Kinder hat, während das Seine in den Scheunen wurmstichig wird, weil er es im Überfluß hat! Schreibe achtzig Scheffel."

"Aber wenn er sich daran erinnert, daß er mir zwanzig, dann abermals zwanzig und schließlich zehn gegeben hat?"

"Was wird er sich schon daran erinnern? Ich habe sie dir gegeben, und ich will mich nicht daran erinnern. Mache es so, wie ich gesagt habe, dann ist alles in Ordnung. Gerechtigkeit muß sein zwischen arm und reich! Wenn ich der Herr wäre, würde ich nur fünfzig zurückfordern, und vielleicht würde ich dir sogar auch diese noch schenken."

"Du bist gut. Wenn nur alle so wären wie du. Denk daran, daß mein Haus dir immer offen steht."

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Der Verwalter ging zu anderen und verfuhr mit ihnen ebenso. Er erklärte sich bereit zu leiden, um alles mit Gerechtigkeit in Ordnung zu bringen, und es regnete Angebote von Hilfeleistungen und Segnungen auf ihn herab. Nachdem er seine Zukunft sichergestellt hatte, ging er beruhigt zum Herrn. Dieser war ihm heimlich gefolgt und hatte sein Spiel entdeckt. Aber er lobte ihn dennoch mit den Worten: "Deine Handlungsweise ist nicht gut, und ich billige sie nicht. Aber ich lobe dich ob deiner Klugheit. Wahrlich, wahrlich, die Kinder dieser Welt sind gegenüber ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichtes."

Und was der Reiche sagte, sage auch ich zu euch: "Der Betrug ist nie lobenswert, jedoch ermahne ich euch, die Dinge der Welt wenigstens mit Klugheit zu gebrauchen, wie es die Söhne der Welt tun, und sie in Münzen für den Eintritt in das Reich des Lichtes umzuwandeln." Das heißt, mit den irdischen Reichtümern, die ungerecht verteilt sind und zum Erwerb eines vorübergehenden Wohlstandes gebraucht werden, der keinen Wert im Ewigen Reich hat, schafft euch Freunde, die euch die Tore dieses Reiches öffnen können. Tut Gutes mit den Gütern, die ihr besitzt. Gebt zurück, was ihr oder andere aus eurer Familie auf ungerechte Weise erworben haben. Macht euch frei von krankhafter und sündhafter Anhänglichkeit an die Reichtümer, und alle diese Dinge werden wie Freunde sein, die euch in der Stunde des Todes die ewigen Pforten öffnen und euch in die seligen Stätten aufnehmen. Wie könnt ihr verlangen, daß Gott euch seine paradiesischen Güter gibt, wenn er sieht, daß ihr nicht einmal von euren irdischen Gütern guten Gebrauch macht? Wollt ihr, daß verschwenderische Elemente in das himmlische Jerusalern aufgenommen werden? Nein, das wird nie geschehen. Dort oben lebt man in Liebe, Großherzigkeit und Gerechtigkeit. Alle für einen, und alle für alle. Die Gemeinschaft der Heiligen ist eine tätige und ehrbare Gesellschaft, eine heilige Gesellschaft, und niemand, der sich als ungerecht und untreu erwiesen hat, kann ihr angehören.

Sagt jedoch nicht: "Aber dort oben werden wir treu und gerecht sein, denn dort werden wir alles haben, ohne das Schicksal fürchten zu müssen." Nein! Wer in den kleinen Dingen untreu ist, würde es auch sein, wenn er alles besäße, und wer ungerecht im Kleinen ist, ist es auch im Großen. Gott vertraut die wahren Reichtümer nicht dem an, der gezeigt hat, daß er mit den irdischen Gütern nicht umzugehen weiß. Wie kann euch Gott eines Tages im Himmel die Aufgabe der geistigen Hilfe für die Brüder auf Erden übertragen, wenn ihr bewiesen habt, daß Stehlen und Betrügen oder die gierige Erhaltung eures Reichtums eure grundlegenden Charaktereigenschaften sind?

Er wird euch deshalb den Schatz vorenthalten, der für euch bereitet war, und wird ihn jenen geben, die es verstanden haben, auf Erden Vorsorge zu treffen, indem sie auch das, was ungerecht und ungesund ist,

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zu Werken benützt haben, die es gerecht und gesund haben werden lassen.

Kein Knecht kann zwei Herren dienen, denn entweder gehört er dem einen an oder dem anderen, und entweder den einen oder den anderen wird er hassen. Die beiden Herren, zwischen denen der Mensch wählen kann, sind Gott und der Mammon. Wenn er dem ersten angehören will, kann er nicht das Zeichen des zweiten tragen, seiner Stimme folgen und seine Mittel in Anspruch nehmen.»

Eine Stimme erhebt sich aus der Gruppe der Essener: «Der Mensch ist nicht frei, zu wählen. Er ist gezwungen, seiner Bestimmung zu folgen. Wir behaupten nicht, daß ohne Weisheit verteilt worden sei. Im Gegenteil, der Allwissende hat nach seinem eigenen vollkommenen Plan die Zahl derer, die des Himmels würdig sind, festgelegt, und die anderen geben sich vergeblich Mühe, es zu werden. So ist es, und anders kann es nicht sein. Wie einer, der aus dem Haus geht, den Tod durch einen Stein finden kann, der sich vom Gesims des Hauses löst, kann ein anderer im dichtesten Gedränge der Schlacht ohne die geringste Wunde davonkommen; und so wird derjenige, der gerettet werden will, während es im ewigen Buch nicht so geschrieben steht, ständig sündigen, ohne es zu wissen, weil ihm die Verdammung bestimmt ist.»

«Nein, Mann, so ist es nicht. Sieh deinen Irrtum ein. Wenn du so denkst, beleidigst du den Herrn schwer.»

«Warum? Beweise es mir, und ich werde meine Meinung ändern.»

«Indem du dies behauptest, gibst du im Geist zu, daß Gott ungerecht gegen seine Geschöpfe ist. Gott hat sie in gleicher Weise und mit der gleichen Liebe geschaffen. Er ist ein Vater, vollkommen in seiner Vaterschaft, wie in allen anderen Dingen. Wie kann er also Unterschiede machen und einen Menschen, der empfangen wird, verdammen, während dieser noch ein unschuldiger Embryo und unfähig zu sündigen ist?»

«Um sich für die Beleidigungen von seiten der Menschen zu rächen.»

«Nein. So rächt sich Gott nicht! Er würde sich nicht mit einem so elenden und noch dazu ungerechten und erzwungenen Opfer zufriedengeben. Die Beleidigung Gottes kann nur durch den menschgewordenen Gott getilgt werden. Er wird die Sühne sein, nicht dieser oder jener Mensch. Oh, wäre es möglich, daß ich nur die Erbsünde tilgen müßte! Daß die Erde keinen Kain gehabt hätte, keinen Lamech, keinen verdorbenen Sodomiten, keinen Mörder, keinen Dieb, keinen Einbrecher, keinen Unzüchtigen, keinen Gotteslästerer, keinen Lieblosen zu den Eltern, keinen Meineidigen usw.! Aber an jeder einzelnen dieser Sünden ist nicht Gott, sondern der Sünder schuld. Gott hat den Menschen die Freiheit gelassen, zwischen dem Guten und dem Bösen zu wählen.»

«Er hat nicht gut daran getan», schreit ein Schriftgelehrter.

«Er hat uns über alle Maßen versucht. Obwohl er wußte, daß wir

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schwach, unwissend und vergiftet waren, hat er uns in Versuchung geführt. Das ist Unklugheit oder gar Bosheit. Du, der du gerecht bist, mußt zugeben, daß ich die Wahrheit sage.»

«Du sagst eine Lüge, um mich zu versuchen. Gott hatte Adam und Eva alle notwendigen Ratschläge gegeben, und was hat es genützt?»

«Er hat es schon damals schlecht gemacht. Er hätte den Baum, die Versuchung, nicht in den Garten setzen dürfen.»

«Aber wo bleibt dann das Verdienst des Menschen?»

«Er wäre auch ohne das Verdienst ausgekommen. Er hätte ohne eigenes Verdienst und nur durch das Verdienst Gottes leben können.»

«Meister, sie wollen dich versuchen. Laß diese Schlangen, und höre uns zu, die wir in Enthaltsamkeit und Betrachtung leben», ruft aufs neue der Essener.

«Ja, ihr lebt in Enthaltsamkeit und Betrachtung, aber schlecht. Warum lebt ihr nicht heiligmäßig?»

Der Essener beantwortet diese Frage nicht, sondern fragt: «So wie du mir eine überzeugende Antwort, was die freie Entscheidung betrifft, gegeben hast – und ich werde guten Willens darüber nachdenken, in der Hoffnung, sie annehmen zu können – so sage mir jetzt: Glaubst du wirklich an eine Auferstehung des Fleisches und an ein Leben der Geister, das durch sie vervollständigt wird?»

«Willst du etwa, daß Gott dem Leben des Menschen einfach so ein Ende setze?»

«Die Seele, das verstehe ich... Aber wenn der Lohn sie glücklich macht, wozu dient dann die Auferstehung des Fleisches? Wird sie die Glückseligkeit der Heiligen vermehren?»

«Nichts wird die Glückseligkeit vermehren, die ein Heiliger hat, wenn er Gott besitzt. Das heißt, nur eines wird sie am Jüngsten Tag vermehren: die Gewißheit, daß die Sünde nicht mehr existiert. Aber ist es nicht recht, daß Fleisch und Seele, so wie sie heute im Kampf um den Besitz des Himmels vereint sind, auch am Ewigen Tag vereint seien, um sich gemeinsam des Lohnes zu erfreuen? Leuchtet dir das nicht ein? Weshalb lebst du dann in Enthaltsamkeit und Betrachtung?»

«Um... mehr Mensch zu sein, Herr über die anderen Lebewesen, die nur ihrem Instinkt gehorchen, und um besser zu sein als der größte Teil der Menschen, die von Sinnlichkeit durchdrungen sind, auch wenn sie Stirnbänder, Falbeln und weite Gewänder tragen und sich die "Abgesonderten" nennen.»

Anathema! Die Pharisäer, die dieser Angriff, der die Menge zustimmend murmeln läßt, voll getroffen hat, winden sich und schreien wie besessen:

«Er beleidigt uns, Meister! Du kennst unsere Heiligkeit. Verteidige uns!»

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Jesus antwortet: «Auch er kennt eure Scheinheiligkeit. Die Gewänder entsprechen nicht der Heiligkeit. Verdient es, gelobt zu werden, dann kann ich für euch sprechen. Dir aber, Essener, antworte ich, daß du dich für zu wenig opferst. Warum opferst du dich? Für wen? Wie lange? Für ein menschliches Lob. Für einen sterblichen Leib. Für eine kurze Zeit, die dahineilt wie der Flug des Falken. Bringe deine Opfer auf einer höheren Ebene dar. Glaube an den wahren Gott, an die selige Auferstehung, an den freien Willen des Menschen. Lebe als Asket, aber aus diesen übernatürlichen Gründen, und du wirst mit dem auferstandenen Fleisch die ewige Glückseligkeit genießen.»

«Es ist zu spät! Ich bin alt! Ich habe vielleicht mein Leben durch die Zugehörigkeit zu einer Sekte des Irrtums vergeudet... Es gibt keine Rettung mehr...»

«Nein! Es gibt immer eine Rettung für den, der das Gute will. Hört, o ihr Sünder, o ihr, die ihr im Irrtum seid, o ihr, welches auch eure Vergangenheit gewesen sein mag. Bereut. Kommt zur Barmherzigkeit. Ich öffne euch die Arme. Ich zeige euch den Weg. Ich bin die reine Quelle, die Quelle des Lebens. Werft die Dinge, die euch bis jetzt verführt haben, weg! Kommt entblößt zur Reinigung. Bekleidet euch mit Licht. Werdet wiedergeboren. Habt ihr auf den Straßen Raub getrieben oder in herrschaftlicher Weise und mit Hinterlist beim Handel oder bei der Verwaltung gestohlen? Kommt. Habt ihr euch durch Laster oder unreine Leidenschaften befleckt? Kommt. Seid ihr Unterdrücker gewesen? Kommt. Kommt und bereut es... Kommt zur Liebe und zum Frieden. Oh, laßt zu, daß die Liebe Gottes sich in euch ergieße. Tröstet diese Liebe, die über euren Widerstand, eure Furcht und eure Zaghaftigkeit betrübt ist. Ich bitte euch darum im Namen meines und eures Vaters. Kommt alle zum Leben und zur Wahrheit, und ihr werdet das ewige Leben erlangen.»

Ein Mann aus der Menge ruft: «Ich bin reich und ein Sünder. Was muß ich tun, um ins Himmelreich zu kommen?»

«Verzichte auf alles aus Liebe zu Gott und deiner Seele.»

Die Pharisäer murren und verspotten Jesus als einen "Händler von Illusionen und Irrlehren" ' als einen "Sünder, der sich als Heiliger ausgibt", und machen ihn darauf aufmerksam, daß die Häretiker stets Häretiker sein werden und daß die Essener solche sind. Sie sagen, daß die plötzlichen Bekehrungen nichts sind als momentane Begeisterung und daß der Unreine immer ein Unreiner, der Räuber ein Räuber und der Mörder ein Mörder bleibt. Dann schließen sie, indem sie sagen, daß nur sie, die in vollkommener Heiligkeit leben, Anrecht auf den Himmel und alle Verheißungen haben.

«Es war ein glücklicher Tag heute. Eine Saat der Heiligkeit fiel in die Herzen. Meine Liebe, genährt vom Kuß Gottes, gab den Samenkörnern Leben. Der Menschensohn war glücklich, da er heiligte... und ihr vergiftet

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mir diesen Tag. Aber es macht nichts. Ich sage euch – und wenn ich nicht sanft mit euch bin, dann ist es eure eigene Schuld – daß ihr diejenigen seid, die sich vor den Menschen als gerecht ausgeben oder es wenigstens versuchen, aber nicht gerecht sind. Gott kennt eure Herzen. Was groß ist in den Augen der Menschen, ist verabscheuenswert vor der Unendlichkeit und Vollkommenheit Gottes. Ihr zitiert das Alte Gesetz und beschwert es mit Lasten, die euch nützlich sind. Warum wehrt ihr euch sonst, wenn ich es zugunsten dieser Kleinen vereinfache, indem ich alle beschwerlichen und unnützen Schnörkel und Anhängsel der von euch gemachten Vorschriften wegnehme, die das wesentliche Gesetz darunter verschwinden lassen und ersticken? Ich habe Erbarmen mit diesen Menschen, mit diesen Seelen, die in der Religion aufatmen möchten, jedoch Schlingen finden, die sie erdrosseln. Sie suchen Liebe und finden Schrecken.

Nein. Kommt, ihr Kleinen von Israel. Das Gesetz ist Liebe! Gott ist Liebe. So sage ich den Eingeschüchterten unter euch. Das strenge Gesetz und die drohenden Propheten, die mich vorausgesagt haben, denen es aber trotz ihrer lauten, prophetischen, furchteinflößenden Rufe nicht gelungen ist, die Sünden zu vermindern, gelten bis Johannes. Mit Johannes beginnt das Reich Gottes, das Reich der Liebe. Und ich sage den Demütigen: "Tretet ein, es ist für euch", und jeder, der guten Willens ist, bemüht sich, hineinzugelangen. Für jene aber, die ihr Haupt nicht beugen, sich nicht an die Brust schlagen und nicht sagen wollen: "Ich habe gesündigt", wird das Reich nicht sein. Es steht geschrieben: "Beschneidet eure Herzen, und versteift euren Nacken nicht weiterhin!"

Diese Welt hat das Wunder des Elisäus erlebt, der das schlechte Wasser gut werden ließ, indem er Salz hineinwarf. Streue ich nicht das Salz der Weisheit in eure Herzen? Warum seid ihr also unfähiger als das Wasser und ändert euren Geist nicht? Streut mein Salz in eure Formeln und sie werden einen neuen Geschmack haben, denn das Salz wird dem Gesetz die ursprüngliche Kraft wiedergeben. Streut es in euch selbst, denn ihr bedürft seiner mehr als alle anderen. Ihr sagt, daß ich das Gesetz verändere. Nein. Lügt nicht. Ich gebe dem Gesetz seine ursprüngliche Form wieder, die ihr verdreht habt, denn es ist ein Gesetz, das währen wird, solange die Erde besteht, und eher werden Himmel und Erde vergehen als ein einziges seiner Gebote und Ratschläge. Selbst wenn ihr es durch Spitzfindigkeiten ändert, weil es euch so gefällt und ihr Ausflüchte für eure Sünden sucht, so wisset, daß euch dies nichts nützt. Es nützt nichts, o Samuel! Es nützt nichts, o Isaias. Immer wird das Gebot gelten: "Du sollst nicht ehebrechen", und ich vervollständige es: "Wer seine Braut entläßt, um eine andere zu nehmen, ist ein Ehebrecher, und wer eine von einem Mann Entlassene zur Frau nimmt, begeht Ehebruch; denn was Gott verbunden hat, kann nur durch den Tod getrennt werden."

Aber, die harten Worte sind für die unbußfertigen Sünder. Jene, die

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gesündigt haben, ihre Sünden jedoch bereuen, sollen wissen und glauben, daß Gott die unendliche Güte ist, und zu dem kommen, der ihnen verzeiht und ihnen das ewige Leben schenkt. Geht mit dieser Gewißheit, und verbreitet sie in den Herzen. Verkündigt die Barmherzigkeit, die euch Frieden gibt und euch im Namen des Herrn segnet.»

Die Menschen entfernen sich nur langsam, einerseits, weil der Weg sehr schmal ist, und andererseits weil sie sich nicht von Jesus trennen wollen, aber sie entfernen sich...

Bei Jesus bleiben nur die Apostel, und während sie miteinander sprechen, machen auch sie sich auf den Weg. Sie suchen Schatten und gehen am Rande eines kleinen Waldes aus zerzausten Tamarinden entlang. Im Wald ist ein Essener, und zwar der, der mit Jesus gesprochen hat. Er ist dabei, seine weißen Gewänder abzulegen.

Petrus, der etwas vorausgegangen ist, bleibt erschrocken stehen, als er den Mann in kurzen Beinkleidern sieht, dann läuft er zurück und sagt: «Meister! Ein Verrückter! Der, der mit dir gesprochen hat, der Essener. Er hat sich entkleidet und weint und jammert. Wir können dort nicht hingehen.»

Doch der bärtige, magere Mann, der bis auf die kurzen Beinkleider und die Sandalen nackt ist, kommt schon aus dem dichten Wald heraus und nähert sich Jesus, weinend und sich an die Brust schlagend. Er wirft sich zu Boden: «Du hast in meinem Herzen ein Wunder gewirkt. Du hast meinen Geist geheilt. Ich gehorche dir. Ich will mich mit dem Licht bekleiden und jeden anderen Gedanken, der mir Gewand des Irrtums wäre, fahren lassen. Ich mache mich frei, um den wahren Gott zu betrachten und das Leben und die Auferstehung zu erlangen. Genügt das? Gib mir einen neuen Namen und sage mir einen Ort, wo ich für dich und deine Worte leben kann.»

«Er ist wahnsinnig. Wir, die wir so viele Worte hören, verstehen nicht danach zu leben, und dieser... nach einer einzigen Predigt...» sagen die Apostel unter sich.

Doch der Mann, der sie hört, erwidert: «Wollt ihr Gott Grenzen setzen? Er hat mir das Herz gebrochen, um mir einen freien Geist zu geben. Herr! ...» fleht er, während er Jesus seine Arme entgegenstreckt.

«Ja, nenne dich Elias und sei Feuer. Jener Berg ist voller Höhlen. Geh dorthin, und wenn du die Erde in einem furchtbaren Erdbeben erzittern siehst, dann komm hervor und suche die Diener des Herrn auf, um dich ihnen anzuschließen. Du wirst wiedergeboren werden und ebenfalls ein Diener sein. Geh nun.»

Der Mann küßt ihm die Füße, erhebt sich und geht weg.

«Aber geht er so, unbekleidet?» fragen die Apostel erstaunt.

«Gebt ihm einen Mantel, ein Messer, Zunder, Feuerstein und ein Brot. Er wird heute und morgen wandern, und dort, wo wir angehalten haben,

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wird er sich im Gebet zurückziehen, und der Vater wird für seinen Sohn sorgen.»

Andreas und Johannes eilen ihm nach und holen ihn ein, als er gerade an einer Biegung der Straße verschwindet.

Als sie zurückkehren, sagen sie: «Er hat die Sachen genommen. Wir haben ihm den Weg gezeigt, der zu dem Ort führt, an dem wir gewesen sind... Welch unerwartete Beute, Herr!»

«Gott läßt auch auf den Felsen Blumen blühen. Auch in der Wüste der Herzen läßt er zu meinem Trost Seelen guten Willens erstehen. Jetzt gehen wir nach Jericho. Wir werden in einem Haus auf dem Lande haltmachen.»

429. IM HAUSE DER NIKE

Obwohl die Straße durch eine grüne Landschaft führt und von Laubbäumen gesäumt ist, gleicht sie in der Mittagssonne einem Backofen. Von den Feldern, auf denen das Getreide rasch heranreift, kommen Hitze und Duft eines Backofens, in dem aus Mehl Brot gebacken wird. Das Licht blendet. Jede Ähre scheint eine kleine goldene Lampe zwischen den Goldspelzen und stechenden Grannen zu sein, und das Flimmern der Sonne über den Strohhalmen ist für die Augen ebenso lästig, wie das von der Straße zurückgeworfene Sonnenlicht. Vergebens sucht das Auge Erholung, indem es sich auf das Laubwerk richtet. Wenn es sich noch etwas mehr erhebt, setzt es sich gänzlich der unbarmherzigen Sonne aus und muß sich sofort wieder senken, um dieser Grelle zu entgehen; es muß sich darauf beschränken, alles durch den schmalen Schlitz der staubigen, geröteten und schmerzenden Lider zu betrachten. Der Schweiß zieht glänzende Streifen über die staubigen Wangen. Die müden Füße schleppen sich dahin und wirbeln neuen Staub auf, der lästig, lästig, sehr lästig ist.

Jesus tröstet seine ermüdeten Apostel, obwohl er selbst auch schwitzen muß, und hat den Mantel über sein Haupt gezogen, um sich vor der Sonne zu schützen. Er rät den anderen, es ihm gleichzutun. Sie gehorchen ihm, ohne ein Wort zu sagen, denn sie sind zu sehr ermattet und finden nicht einmal mehr Kraft zu ihren üblichen Klagen. Wie Betrunkene gehen sie einher...

«Nur Mut. Schaut, dort in den Feldern ist ein Haus...» sagt Jesus.

«Wenn es wie die anderen ist... werden wir auch den Weg dorthin durch die glühenden Felder vergebens zurücklegen», brummt Petrus in seinen Mantel, und die anderen bestätigen seine Worte mit einem trostlosen "HM".

«Ich werde hingehen. Ihr bleibt hier in diesem bißchen Schatten.»

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«Nein, nein, wir kommen mit dir. Wenigstens einen Brunnen werden sie dort wohl haben, da es in dieser Gegend nicht an Wasser mangelt... und so können wir trinken und das Feuer in unserem Innern löschen.»

«So erhitzt wie ihr seid, würde euch das übel bekommen.»

«Dann werden wir eben sterben... Auf jeden Fall wird es uns dann besser gehen als jetzt...»

Jesus entgegnet nichts. Er seufzt und geht auf einem Weg zwischen den Getreidefeldern voran.

Die Felder reichen nicht bis ans Haus, sondern enden bei einem wunderbaren schattigen, hitze- und lichtdämpfenden Obstgarten, der einen üppigen erquickenden Ring um das Haus bildet. Die Apostel stürzen sich dort hinein und atmen mit einem "Ah!" auf.

Ungeachtet ihrer Bitte, ein Weilchen haltzumachen, geht Jesus weiter. Ein Gurren von Tauben, das Quietschen der Zugrolle eines Brunnens und die ruhigen Stimmen von Frauen kommen vom Haus herüber und tönen durch die absolute Stille.

Jesus gelangt auf einen kleinen Hof, der das Haus wie ein breiter und sauberer Bürgersteig umgibt und über den sich eine Weinlaube mit ihrem Flechtwerk von Rebschößlingen und ihren schattenspendenden Blättern ausbreitet. Zwei Brunnen, einer zur rechten und einer zur linken Seite des Hauses, sind ebenfalls von Weinreben beschattet. Längs der Mauern des Hauses befinden sich Blumenbeete. Leichte, dunkel gestreifte Vorhänge hängen vor den offenen Türen. Frauenstimmen und das Klappern von Geschirr dringen aus einem Raum. Jesus begibt sich dorthin, und bei seinem Vorüberschreiten fliegen ein Dutzend Tauben, die auf der Erde verstreute Körner aufgepickt haben, mit lautem Flügelschlag davon. Die Aufmerksamkeit der Hausbewohner ist geweckt, und gleichzeitig schlägt Jesus mit der Hand den Vorhang auf der rechten Seite zurück, während eine Magd ihn auf der linken zurückschlägt und sich erstaunt einem Unbekannten gegenüber sieht.

«Der Friede sei mit diesem Haus! Darf ich als Pilger um eine Erquickung bitten?» sagt Jesus, der auf der Schwelle einer geräumigen Küche steht, in der Dienerinnen das Geschirr in Ordnung bringen, das man beim Mittagsmahl benutzt hat.

«Die Herrin des Hauses wird dich nicht abweisen. Ich werde ihr Bescheid sagen.»

«Ich habe noch zwölf andere bei mir, und wenn ich nur für mich Erquickung erhalten könnte, würde ich lieber darauf verzichten.»

«Wir werden es der Herrin sagen, und gewiß ...»

«Meister und Herr! Du hier? Bei mir? Wie komme ich zu dieser Gnade?» unterbricht sie eine Stimme, und eine Frau geht mit raschen Schritten auf Jesus zu und kniet vor ihm nieder, um seine Füße zu küssen.

Die Dienerinnen sind zu Statuen erstarrt. Die, die die Teller abgewaschen

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hat, ist mit einem Lappen in der Rechten und einem tropfenden Teller in der Linken stehengeblieben; ihre Hände sind vom heißen Wasser gerötet. Eine andere, die dabei war, Messer zu polieren, und in einer Ecke auf den Fersen hockt, richtet sich auf, um besser sehen zu können, und die Messer fallen mit großem Getöse auf den Boden. Eine dritte, die daran war, die Asche aus den Kochherden zu entfernen, erhebt ihr mit Asche bestäubtes Gesicht und verbleibt mit offenem Mund in dieser Haltung.

«Ja, ich bin hier. Sie haben uns in vielen Häusern abgewiesen. Wir sind müde und durstig.»

«Komm, komm! Nicht hier. In die Räume auf der Nordseite, die kühl und schattig sind. Ihr bereitet Wasser, damit sie sich erfrischen können, und aromatische Getränke. Du, Mädchen, geh rasch den Verwalter wecken, damit er für Speisen sorgt, während wir den Tisch decken ...»

«Nein, Nike! Ich bin kein weltlicher Gast. Ich bin dein Meister, den sie verfolgen. Ich bitte mehr um Unterkunft und Liebe, als um Speise. Ich bitte um Erbarmen, mehr für meine Freunde als für mich selbst ...»

«Ja, Herr. Aber wann habt ihr die letzte Mahlzeit eingenommen?»

«Was die Apostel betrifft, weiß ich es nicht. Ich selbst habe das letztemal gestern bei Sonnenaufgang zusammen mit ihnen gegessen.»

«Siehst du? ... Ich werde keine Schlemmermahlzeit bereiten, sondern wie eine Schwester oder eine Mutter allen das Nötige geben; und dir werde ich, als Dienerin und Jüngerin, Ehre und Hilfe erweisen. Wo sind die Brüder?»

«Im Obstgarten. Aber vielleicht kommen sie schon. Ich höre ihre Stimmen.»

Nike eilt hinaus, sieht und ruft sie und führt sie zusammen mit Jesus in eine kühle Vorhalle, in der schon Becken und Handtücher bereitstehen. Dort waschen sie sich Gesicht, Hände und Füße, die mit Staub und Schweiß bedeckt sind.

«Ich bitte euch, legt eure warmen Gewänder ab und gebt sofort alles den Dienerinnen. Es wird eine große Erleichterung sein, reine Kleider und frische Sandalen anzuhaben. Und kommt dann in den Saal dort, dort erwarte ich euch.»

Nike entfernt sich und schließt die Tür...

... «Ah! Dieser Schatten und das Wasser tun gut!» seufzt Petrus, als er den Saal betritt, in dem die diensteifrige und ehrerbietige Nike sie erwartet.

«Meine Freude, euch Erleichterung zu verschaffen, ist sicher größer als die Erquickung selbst, o Apostel meines Herrn.»

«Hm! Apostel... Ja... Aber höre, Nike... Reden wir nicht von deinem Reichtum und deiner Gelehrsamkeit und auch nicht davon, daß ich Apostel bin. Benehmen wir uns... wir gute Geschwister, die für Leib und Seele aufeinander angewiesen sind. Ich habe Angst... wenn ich daran denke, daß ich "Apostel" bin.»

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«Angst? Vor was?» fragt die Frau erstaunt und lächelt.

«Ich habe Angst, daß ich... zu groß bin für den Lehm, aus dem ich gemacht bin, und daß ich unter meinem Gewicht zusammenbrechen werde... Ich habe Angst, vor Stolz übermütig zu werden... Ich habe Angst, daß die Jünger und die guten Seelen mir aus dem Wege gehen und schweigen, selbst wenn ich Fehler begehe... eben, weil ich Apostel bin... Und das möchte ich nicht, denn unter den Jüngern und auch unter den einfachen Gläubiger. sind viele, die in dem einen oder anderen Punkt besser sind als ich; und ich möchte es machen wie... die Biene dort, die in einen der Obstkörbe, die du für uns hast bringen lassen, hineingekrochen ist, und die da und dort genascht hat, und nun zum Abschluß an den Blumen saugt und dann hinausfliegen wird, um an Kleeblüten und Kornblumen, Kamille und Ackerwinden zu nippen. Sie nimmt von allem etwas. Und ich habe das Bedürfnis, es wie sie zu machen ...»

«Aber du nährst dich ja an der schönsten Blume, dem Meister!»

«Ja, Nike. Aber von ihm lerne ich, ein Kind Gottes zu werden, von den guten Menschen lerne ich, ein Mensch zu werden.»

«Du bist es doch schon.»

«Nein, Frau. Ich bin fast noch ein Tier, und ich weiß wirklich nicht, wie der Meister mich ertragen kann...»

«Ich ertrage dich, weil du weißt, was du bist, und man deshalb an dir wirken kann, wie an einem Teig. Wenn du aber widerspenstig, ablehnend, oder gar hochmütig wärest, würde ich dich wie einen Dämon fortjagen», sagt Jesus.

Es treten Dienerinnen mit Tassen kalter Milch und porösen Krügen ein, in denen die Flüssigkeiten sicher sehr frisch bleiben.

«Erquicket euch», sagt Nike. «Danach könnt ihr bis zum Abend ausruhen. Das Haus hat Zimmer und Betten, und selbst wenn ich sie nicht hätte, würde ich euch die meinen zur Verfügung stellen. Meister, ich ziehe mich zurück, um für den Haushalt zu sorgen. Ihr wißt alle, wo ihr mich und meine Mägde finden könnt.»

«Geh nur und sorge dich nicht um uns.»

Nike geht hinaus. Die Apostel tun der Erfrischung, die ihnen angeboten worden ist, alle Ehre an. Sie essen mit gutem Appetit und machen ihre Bemerkungen dazu.

«Gute Früchte!»

«Und eine gute Jüngerin.»

«Ein schönes Haus, ohne Luxus, aber auch ohne Not.»

«Und geführt von einer, die sanft und stark zugleich ist. Ordnung, Reinlichkeit, Achtung, und gleichzeitig Liebenswürdigkeit.»

«Welch schöne Felder ringsum! Ein Reichtum!»

«Ja. Und ein Glutofen!»... sagt Petrus, der noch nicht vergessen kann, was er gelitten hat. Die anderen lachen.

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«Hier geht es uns gut. Aber hast du gewußt, daß Nike hier wohnt?» fragt Thomas.

«Genausowenig wir ihr. Ich wußte, da13 sie bei Jericho Ländereien besitzt, die sie vor kurzem erworben hat. Nicht mehr als das. Der treue Engel der Pilger hat uns geleitet.»

«In Wirklichkeit hat er dich geleitet. Wir wollten nicht mitkommen.»

«Ich war eher bereit, mich auf den Boden zu werfen und von der Sonne verbrennen zu lassen, als noch einen weiteren Schritt zu machen», sagt Matthäus.

«Man kann bei Tag nicht mehr wandern. Dieses Jahr ist die Sonne schon sehr früh stark geworden, es scheint, als wäre auch sie verrückt.»

«Ja, wir werden von nun in den ersten Tagesstunden wandern und dann wieder am Abend. Aber bald werden wir auf die Hügel gehen, und dort ist die Hitze mäßiger.»

«Zu meinem Haus?» fragt Judas Iskariot.

«Ja, Judas, und nach Jutta und Hebron.»

«Aber nicht nach Askalon, he?»

«Nein Petrus. Wir werden dorthin gehen, wo wir noch nicht gewesen sind. Aber gewiß werden wir auch Sonne und Hitze vorfinden. Ein wenig Opferbereitschaft aus Liebe zu mir und zu den Seelen! Nun ruht euch aus. Ich werde hinausgehen und im Obstgarten beten.»

«Aber bist du denn niemals müde? Wäre es nicht besser, wenn auch du dich ausruhen würdest?» fragt Judas des Alphäus.

«Vielleicht will der Meister sich hier aufhalten...» bemerkt der Zelote.

«Nein. Bei Sonnenaufgang werden wir aufbrechen, um den Fluß in den kühlen Stunden zu durchwaten.»

«Wo werden wir den Jordan überqueren?»

«Das Volk kehrt nach dem Passahfest nach Hause zurück. In Jerusalern wurde ich von zu vielen erfolglos gesucht. Ich werde an der Furt predigen und heilen. Dann werden wir das Häuschen des Salomon in Ordnung bringen, es wird für uns wertvoll sein ...»

«Aber kehren wir denn nicht nach Galiläa zurück?»

«Wir werden auch dorthin gehen. Aber erst werden wir uns längere Zeit in diesen südlichen Gegenden aufhalten, und eine Unterkunft wird wertvoll für uns sein. Schlaft nun. Ich gehe.»

Das Abendessen muß beendet sein. Es ist Nacht. Reichlicher Tau fällt tropfend von den Gesimsen auf die Blätter des Weinstocks. Unvorstellbar schöne Sterne am Himmel, eine riesige Zahl von Sternen, in der sich der Blick verliert, das Zirpen von Grillen, das Rufen von Nachtvögeln und Schweigen über den Feldern.

Die Apostel haben sich schon zurückgezogen. Aber Nike ist noch wach und hört dem Meister zu.

Er sitzt aufrecht auf einem Steinsitz am Haus. Die Frau steht vor ihm

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in aufmerksamer Ehrfurcht. Jesus beendet eine Unterredung, die er mit ihr gehabt hat, und sagt: «Ja, die Bemerkung ist richtig. Aber ich war sicher, daß dem Büßer, oder besser, dem "Wiedergeborenen" die Hilfe des Herrn nicht fehlen würde. Während der Mahlzeit, als du uns bedient und Fragen gestellt hast, dachte ich, daß du die Hilfe sein wirst. Du hast gesagt: "Ich kann dir höchstens jeweils kurze Zeit folgen, denn das Haus und die neue Dienerschaft müssen überwacht werden." Du hast es bedauert und gesagt, wenn du gewußt hättest, daß du mich so rasch finden würdest, hättest du diese Anschaffung, die dich so bindet, nicht gemacht. Du siehst nun aber, daß sie dazu gedient hat, die Verkünder der Frohen Botschaft zu beherbergen, und somit war es also gut. Aber du kannst auch weiterhin dienen... in der Erwartung, deinem Herrn auf vollkommene Weise zu dienen. Ich bitte dich um einen Dienst aus Liebe zu dieser Seele, die wiedergeboren wird, die voll guten Willens, aber noch sehr schwach ist. Ein Übermaß an Buße könnte sie ängstigen, und Satan könnte sich dieser Angst bedienen.»

«Was soll ich tun, mein Herr?»

«Geh zu ihm, jeden Monat, als wäre es ein Ritus, und es ist ein Ritus, ein Ritus schwesterlicher Liebe. Du wirst zum Kerith gehen, und auf de

Pfad zwischen den Felsen wirst du rufen: "Elias! Elias!" Er wird sich erstaunt zeigen, und du wirst ihn folgendermaßen grüßen: "Der Friede sei mit dir, Bruder, im Namen Jesu, des Nazareners." Du wirst ihm so viele Stücke Zwieback bringen, als der Monat Tage hat. Sonst nichts während des Sommers. Vom Laubhüttenfest an wirst du ihm jeden Monat zusammen mit dem Zwieback vier Maß Öl bringen, und am Laubhüttenfest wirst du ihm ein Gewand aus Ziegenfell, das schwer und wasserundurchlässig ist, und eine Decke bringen. Sonst nichts.»

«Und keine Worte?»

«Nur die absolut notwendigen. Er wird nach mir fragen, und du wirst ihm sagen, was du weißt. Er wird dir seine Zweifel, Hoffnungen und Rückschläge anvertrauen, und du wirst ihm sagen, was dein Glaube und deine Barmherzigkeit dir eingeben. Das Opfer wird übrigens nicht sehr lange dauern... Nicht einmal zwölf Monate... Willst du barmherzig sein mit mir und dem Büßer?»

«Ja, mein Herr... Aber warum bist du so traurig?»

«Und du, warum weinst du?»

«Weil ich in deinen Worten die Vorahnung des Todes fühle... Werde ich dich schon bald verlieren Herr?» Nike weint in ihren Schleier.

«Weine nicht. Es wird dann einen großen Frieden für mich geben.. Keinen Haß mehr... Keine Hinterhalte mehr. Nichts von alledem... Kein Schrecken der Sünde über mir und um mich herum... Keine schrecklicher Begegnungen mehr... Oh, weine nicht, Nike! Dein Erlöser wird im Frieden sein. Er wird siegreich sein...»

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«Aber vorher... aber vorher... Mit meinem Gatten habe ich immer die Propheten gelesen und wir sind erzittert bei den Worten Davids und Isaias. Aber wird es dir denn so ergehen? Wirklich so?»

«So und noch schlimmer...»

«Oh! ... Wer wird dich dann trösten? Wer wird dich noch... mit Hoffnung sterben lassen?»

«Die Liebe der Jünger und besonders die der treuen Jüngerinnen.»

«Dann auch die meine! Denn ich werde unter keinen Umständen fern von meinem Erlöser sein. Nur... O Herr! Verlange von mir jede Buße, jedes Opfer, aber gib mir einen starken Mut für jene Stunde, wenn du wie ein vertrocknetes Myrrhenbüschlein" sein wirst, "mit der Zunge, die vor Durst am Gaumen klebt", wenn du aussehen wirst "wie ein Aussätziger, der sein Antlitz verbirgt", dann gib, daß ich den König der Könige erkenne und dir als ergebene Dienerin zu Hilfe komme. Verbirg mir dein gemartertes Antlitz nicht, o mein Gott, sondern gewähre mir, daß ich mich wie jetzt an deinem Glanz erfreue, du Morgenstern. Gib, daß ich dich dann betrachten kann und dein Antlitz sich in mein Herz eingräbt, das an jenem Tag des Schmerzes, wie deines, weich wie Wachs sein wird ...» Nike liegt jetzt auf den Knien, sie hat sich vor Jesus niedergeworfen und hebt ab und zu das tränenüberströmte Gesicht, um ihren Herrn zu betrachten, dessen Antlitz sich im Mondschein von der dunklen Wand abhebt.

«All dies wird dir gewährt, und ich werde dein Mitleid erfahren. Du wirst mit mir zu meinem Schandpfahl emporsteigen, und von dort wirst du dich mit mir zum Himmel erheben, zu deiner Krone auf ewig. Engel und Menschen werden dir das schönste Lob spenden: "In der Stunde des Unglücks, der Sünde, des Zweifels blieb sie treu, sie sündigte nicht und kam ihrem Herrn zu Hilfe." Steh auf, Frau, und sei gesegnet von jetzt an und immerdar.»

Er legt ihr die Hände auf, während sie gerade aufstehen will; dann begeben sich beide zur Nachtruhe in das schweigende Haus.

430. AN DER FURT ZWISCHEN JERICHO UND BETHABARA

Die Ufer des Jordan bei der Furt sind in diesen Tagen der Rückkehr der Karawanen zu ihren Heimatstädten in allem einem Nomadenlager ähnlich. Zelte oder auch nur einfache Decken, von einem Baumstamm zum anderen gespannt, gestützt von in den Boden gesteckten Ästen, angebunden am hohen Sattel eines Kamels oder auf irgendeine andere Art befestigt, damit man sich darunter verkriechen und vor dem Tau schützen kann, der in dieser unter dem Meeresspiegel gelegenen Gegend fast ein

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Regenschauer sein muß, sind längs der den Fluß umgebenden, grünen Wälder verteilt.

Als Jesus sich mit den Seinen im Norden der Furt dem Ufer nähert, beginnen die Kampierenden gerade zu erwachen. Jesus muß beim ersten Morgengrauen vom Haus der Nike aufgebrochen sein, denn die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen und der Ort ist noch schön kühl und ruhig. Die Eifrigsten werden vom Knurren der Kamele, vom Scharren der Pferde und der Esel oder vom Streit und Gesang der Hunderte von Sperlingen und anderer Vögel geweckt, die sich auf den Weidenzweigen, im Schilfrohr oder auf den hohen Bäumen, die eine grüne Galerie über den blumenreichen Ufern bilden, tummeln. Ein paar Leute kommen aus den verschiedenfarbigen Zelten hervor und gehen zum Fluß, um sich zu waschen. Hin und wieder ein Kinderweinen und sanfte Stimmen von Müttern, die die Kinder beruhigen... Das Leben kehrt von Minute zu Minute in all seinen Äußerungen zurück. Vom benachbarten Jericho kommen Händler aller Art und noch mehr Pilger, Wachtposten und Soldaten, die für Sicherheit und Ordnung sorgen in diesen Tagen, in denen sich Stämme aller Regionen begegnen und es nicht an Beschimpfungen und Vorwürfen fehlen lassen. Auch Diebstähle sind wohl keine Seltenheit, und die Diebe haben sich im Pilgergewand unter die Menge gemischt. Es fehlt auch nicht an Dirnen, die versuchen, ihre österliche "Pilgerfahrt" zu machen, das heißt, von reichen und wollüstigen Pilgern Geld und Geschenke zu bekommen als Entgelt für eine Stunde der Lust, in der diese ihre österliche Reinigung auf erbärmliche Weise zunichte machen... Ehrbare Frauen, die sich mit ihren Gatten oder mit den schon erwachsenen Kindern unter den Pilgern befinden, kreischen wie unruhige Elstern, um ihre Männer zu sich zurückzurufen, die beim Anblick der Dirnen große Augen machen, oder vielleicht scheint es den Müttern oder Frauen auch nur so. Die Dirnen lachen unverschämt und antworten gehörig auf die "Titel", die ihnen von den Ehrbaren zugedacht werden. Die Männer, besonders die Soldaten, lachen und haben nichts dagegen, mit den Dirnen zu scherzen. Manch ein Israelit von echter strenger oder nur geheuchelter Sittsamkeit entfernt sich entrüstet, und andere... verständigen sich durch das Alphabet der Taubstummen gar nicht schlecht mit den Dirnen, denn durch Zeichen verstehen sie sich sehr gut.

Jesus geht nicht auf dem Weg weiter, der ihn mitten in das Lager führen würde, sondern steigt hinab zum Kiesstrand des Flusses, zieht seine Sandalen aus und geht den Fluß entlang, wo das Wasser bereits das Gras benetzt. Die Apostel folgen ihm.

Die Älteren, die Unnachgiebigen murren: «Wenn man bedenkt, daß hier der Täufer Buße gepredigt hat!»

«Ja! Und schlimmer als die Vorhalle römischer Thermen ist dieser Ort jetzt !»

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«Solche, die sich heilig nennen, finden es nicht unter ihrer Würde, sich hier zu belustigen!»

«Hast auch du es gesehen?»

«Auch ich habe Augen im Kopf. Ja, ich habe gesehen! Ich habe gesehen! ...»

Die jüngeren oder weniger strengen Apostel – also Judas von Kerioth, der lacht und alles, was im Lager vor sich geht, sehr aufmerksam beobachtet und sich nicht schämt, die schönen Schamlosen, die auf der Suche nach Kundschaft sind, anzusehen; Thomas, der lachen muß beim Anblick der aufgeregten Frauen und des Zornes der Pharisäer; Matthäus, der ehemalige Sünder, der nicht imstande ist, gegenüber Laster und Lasterhaftigkeit streng zu sein, und sich mit einem Kopfschütteln und einem Seufzer begnügt, und Jakobus des Zebedäus, der alles interesse- und kritiklos betrachtet, gehen am Ende der kleinen Schar, deren Spitze Jesus zwischen Andreas, Johannes und Jakobus des Alphäus bildet.

Das Gesicht Jesu ist unbewegt, marmorn, wie in Stein gemeißelt, und es wird immer starrer, je öfter er von der Böschung des Ufers Phrasen der Bewunderung oder lockere Reden zwischen einem wenig ehrbaren Mann und einem Freudenmädchen vernimmt. Er schaut beharrlich vor sich hin und will nichts hören. Seine Absicht wird klar durch sein ganzes Auftreten ausgedrückt.

Aber ein Jüngling, der sehr reich gekleidet ist und mit anderen seinesgleichen gerade mit zwei Dirnen spricht, sagt laut zu einer von ihnen: «Geh! Geh! Wir möchten ein wenig lachen. Biete dich an! Tröste ihn! Er ist traurig, denn arm wie er ist, kann er sich keine Frauen leisten.»

Eine Welle der Röte überzieht das elfenbeinfarbene Antlitz Jesu, das gleich wieder blaß wird. Aber er wendet ihnen den Blick nicht zu. Dieser Wechsel der Farbe ist das einzige Zeichen dafür, daß er gehört hat.

Die Unverschämte, ganz ein Geklingel von Schmuckstücken zwischen leichten, flatternden Gewändern, springt mit einem ausgelassenen Schrei vom niedrigen Ufer auf den Kies und hat so Gelegenheit, viele verborgene Reize sehen zu lassen. Sie landet direkt vor den Füßen Jesu. Mit einem spöttischen Gelächter auf dem schönen Mund, mit einladenden Bewegungen und einem Augenzwinkern ruft sie: «O du Schönster unter den aus der Frau Geborenen! Für einen Kuß deines Mundes kannst du mich ganz umsonst haben!»

Johannes, Andreas und Jakobus des Alphäus sind wie gelähmt durch dieses skandalöse Auftreten und vermögen nicht, sich zu rühren. Aber Petrus macht einen Panthersprung von seiner Gruppe bis zu der Schamlosen, die auf den Knien halb nach hinten geneigt ist, packt sie, hebt sie auf, schüttelt sie und schleudert sie mit einem schrecklichen Beinamen gegen den Damm, und dann geht er auf sie los, um ihr den Rest zu geben.

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Jesus ruft: «Simon!» Ein Schrei, der mehr ausdrückt als eine ganze Rede.

Simon dreht sich um, rot vor Zorn, und sagt zu seinem Herrn:

«Warum läßt du mich sie nicht bestrafen?»

«Simon, man bestraft nicht das Kleid, das schmutzig geworden ist, sondern man wäscht es. Diese Frau hat als Kleid ihr schmutziges Fleisch, und ihre Seele ist geschändet. Beten wir, um sie an Seele und Leib reinzuwaschen.» Jesus sagt es sanft, mit leiser Stimme, jedoch so, daß er noch von der Frau gehört werden kann, und während er weitergeht, richtet er nun einen Augenblick seinen milden Blick auf die Unglückliche. Einen Blick, einen einzigen Blick, einen Augenblick nur, doch die ganze Macht der barmherzigen Liebe ist in ihm enthalten! Die Frau neigt den Kopf, hebt den Schleier wieder auf und hüllt sich hinein... Jesus setzt seinen Weg fort.

Nun ist die Furt erreicht. Das seichte Wasser erlaubt es den Erwachsenen, zu Fuß hinüberzugehen. Es genügt, die Kleider über die Knie hinaufzuziehen und die flachen Steine zu suchen, die unter dem klaren Wasser weiß aufleuchten und den Hinübergehenden als Gehweg dienen. Etwas weiter unten überqueren jene, die Reittiere benützen, den Fluß.

Die Apostel patschen zufrieden bis an die Oberschenkel im Wasser, und Petrus scheint es nicht glauben zu können, denn er verspricht sich immer wieder, daß er sich beim Aufenthalt im Haus des Salomon ein erfrischendes Bad genehmigen werde, als Ersatz für die "Braterei" von gestern.

Nun sind sie auf der anderen Seite. Auch hier sind die Menschen nach der Nachtruhe wieder in Bewegung oder trocknen sich ab, nachdem sie den Fluß durchwatet haben.

Jesus befiehlt: «Geht umher und sagt den Leuten, daß der Rabbi da ist. Ich gehe zu dem Baumstrunk dort und warte auf euch.»

Bald ist viel Volk benachrichtigt und eilt herbei.

Jesus beginnt zu sprechen. Den Ausgangspunkt bietet ihm ein Zug von Klagenden, der einer Tragbahre folgt, auf der ein in Jerusalern krank gewordener Mann liegt. Von den Ärzten aufgegeben, wird er nun rasch nach Hause gebracht, um dort zu sterben. Alle reden davon, denn er ist reich und noch sehr jung. Viele sagen: «Es muß doch recht schwer sein zu sterben, wenn man so reich und noch so jung ist!» Einige sagen – vielleicht sind es solche, die schon an Jesus glauben – «Das geschieht ihm recht! Er weiß nicht zu glauben. Die Jünger sind zu seinen Verwandten gegangen und haben zu ihnen gesagt: "Dort ist der Heiland. Wenn ihr Glauben habt und ihn darum bittet, wird der Kranke geheilt werden." Aber der Kranke hat sich als Erster geweigert, zum Rabbi zu gehen.» Zu der Kritik gesellen sich mitleidige Bemerkungen. Jesus nimmt all das zum Anlaß für seine Predigt.

«Der Friede sei mit euch allen! Gewiß, das Sterben fällt den Reichen

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und den Jungen schwer, die nur reich an Geld und jung an Jahren sind. Jene aber, die reich an Tugend und jung durch die Reinheit ihrer Sitten sind, schmerzt das Sterben nicht. Der wahrhaft Weise richtet sich vom Erwachen der Vernunft an so ein, daß er einem friedvollen Tod entgegengeht. Das Leben ist die Vorbereitung auf den Tod, wie der Tod die Vorbereitung auf das höhere Leben ist. Sobald der wahrhaft Weise die Wahrheit des Lebens und des Sterbens für ein ewiges Leben begriffen hat, sucht er sich mit allen Mitteln dessen zu entledigen, was unnütz ist, und sich mit dem zu bereichern, was nützlich ist, also mit Tugenden und guten Werken, um eine Mitgift vor dem zu besitzen, der ihn zu sich ruft, um ihn mit vollkommener Gerechtigkeit zu richten, zu belohnen oder zu bestrafen. Der wahrhaft Weise führt ein Leben, das ihn erwachsener in der Weisheit macht als einen Greis und jünger als einen Jüngling; denn durch ein tugendhaftes und rechtschaffenes Leben bewahrt er im Herzen eine Frische der Gefühle, die oft nicht einmal die Jungen kennen. Wie süß ist es dann zu sterben, das müde Haupt in den Schoß des Vaters zu legen, sich zu sammeln in seiner Umarmung, und im Nebel des entfliehenden Lebens zu sprechen: "Ich liebe dich, ich hoffe auf dich, ich glaube an dich", und dies zum letzten Mal auf Erden, um dann das jubilierende "Ich liebe dich" die ganze Ewigkeit hindurch in den Herrlichkeiten des Paradieses zu sagen.

Ist der Tod ein harter Gedanke? Nein. Als gerechter Beschluß für alle Sterblichen, ist er nur für die eine bedrückende Sorge, die nicht glauben und mit Schuld beladen sind. Ganz umsonst entschuldigt man einen Sterbenden, der nicht gut gelebt hat, mit den Worten: "Er trauert, weil er noch nichts oder nur wenig Gutes getan hat, und möchte weiterleben, um wiedergutzumachen." Vergebens sagt man: "Wenn er länger gelebt hätte, hätte er einen größeren Lohn erhalten können, denn er hätte mehr getan! " Die Seele weiß, wenigstens ungefähr, wieviel Zeit ihr gegeben ist. Sie weiß, daß das Leben, gemessen an der Ewigkeit, ein Nichts ist, und die Seele spornt das Ich an, zu handeln. Aber, arme Seele! Wie oft wird sie überhört, getreten und zum Schweigen gebracht, weil man ihr Wort nicht vernehmen will. Dies geschieht bei jenen, die nicht guten Willens sind. Der von frühester Kindheit an gerechte Mensch hingegen hört die Seele an und leistet ihren Ratschlägen gehorsam, und jung an Jahren, aber reich an Verdiensten stirbt der Heilige oft schon in der Blüte des Lebens; und wenn ihm noch hundert oder tausend Jahre gegeben würden, könnte er nicht heiliger werden, als er schon ist, denn die Liebe zu Gott und seinem Nächsten, die er in allen ihren Arten und mit aller Hochherzigkeit geübt hat, macht ihn vollkommen. Im Himmel wird nicht darauf geachtet, wie viele Jahre man gelebt hat, sondern wie man gelebt hat.

Man trauert über der Leiche. Man weint über sie. Aber der Leichnam weint nicht. Man zittert vor dem Sterbenmüssen, achtet jedoch nicht darauf, so zu leben, daß man in der Stunde des Todes nicht zu zittern

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braucht. Warum weint und klagt man nicht über die lebendigen, die wahren Leichen, jene, die in ihrem Körper wie in einem Grab eine tote Seele tragen? Warum weinen die, die da klagen, weil ihr Leib sterben muß, nicht über den Leichnam, den sie in sich herumtragen? Wie viele Leichname sehe ich, die lachen und scherzen, aber nicht über sich selbst weinen! Wie viele Väter, Mütter, Gatten, Geschwister, Kinder, Freunde, Priester und Lehrer sehe ich, die törichterweise um einen Sohn, einen Gatten, einen Bruder, einen Vater, einen Freund, einen Gläubigen und einen Jünger weinen, welche in offenkundiger Freundschaft mit Gott gestorben sind, nach einem Leben, das ein Kranz von Vollkommenheiten war, die aber nicht weinen über die Kadaver der Seelen eines Sohnes, eines Gatten, eines Bruders, eines Vaters, eines Freundes, eines Gläubigen, eines Jüngers, die durch Laster und Sünde gestorben sind und in alle Ewigkeit tot sein werden, für ewig verloren, wenn sie sich nicht bekehren! Warum versuchen sie nicht, diese aufzuerwecken? Dies ist Liebe, wißt ihr? Dies ist die größte Liebe. O törichte Tränen über Staub, der wieder zu Staub geworden ist! Götzendienst der Gefühle! Heuchelei der Gefühle! Weint nur, aber über die toten Seelen eurer Teuren. Sucht sie zum wahren Leben zu führen. Besonders an euch, ihr Frauen, wende ich mich, die ihr so viel vermögt bei denen, die ihr liebt.

Nun wollen wir zusammen das betrachten, was die Weisheit als Ursache des Todes und der Schande nennt.

Beleidigt Gott nicht durch einen schlechten Gebrauch des Lebens, indem ihr es mit üblen Handlungen besudelt, die den Menschen entehren. Beleidigt eure Eltern nicht durch einen Lebenswandel, der Schmutz auf ihre weißen Haare wirft und Trübsal über ihre letzten Tage bringt. Beleidigt nicht den, der euch Wohltaten erweist, um nicht verflucht zu werden, weil ihr die Liebe mit Füßen tretet. Beschimpft nicht diejenigen, die an der Regierung sind; denn nicht durch Auflehnung gegen die Obrigkeit wird eine Nation groß und frei, sondern durch die heiligmäßige Lebensweise der Bürger erlangt man den Segen des Herrn, der das Herz der Regierenden rühren oder sie aus ihrer Position oder auch aus dem Leben entfernen kann, wenn sie das Maß überschreiten; besonders, wenn das Volk sich geheiligt und die Vergebung Gottes erlangt hat, und Gott deshalb das Instrument der Unterdrückung vom Nacken der Bestraften nimmt. Wir haben genügend Beispiele dafür in der Geschichte Israels. Beleidigt nicht die Gemahlin durch ehebrecherische Liebschaften und verletzt nicht die Unschuld der Kinder durch das Wissen um unerlaubte Liebesverhältnisse. Seid heilig im Angesicht derer, die in euch aus Zuneigung und Pflicht jenen sehen, der ein Beispiel für ihr Leben sein soll. Ihr könnt nicht die Heiligkeit gegenüber dem Nächsten von der Heiligkeit gegenüber Gott trennen, denn die eine bringt die andere hervor, so wie es bei der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten geschieht, da eine aus der anderen entspringt.

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Seid gerecht gegen die Freunde. Freundschaft ist eine Verwandtschaft der Seele. Es steht geschrieben: "Wie schön ist es für Freunde, gemeinsam fortzuschreiten." Ja, es ist schön, wenn man auf dem Weg des Guten voranschreitet. Wehe dem, der die Freundschaft zerstört oder verrät durch egoistisches Handeln, durch Verrat, durch ein Laster oder eine Ungerechtigkeit. Zu viele sind es, die sagen: "Ich liebe dich", um die Geheimnisse eines Freundes zu erfahren und sie dann zu ihrem eigenen Vorteil auszunützen! Zu viele gibt es, die die Rechte des Freundes widerrechtlich an sich reißen!

Seid ehrlich vor den Richtern! Vor allen Richtern, angefangen vom höchsten, der Gott ist und sich nicht täuschen und betrügen läßt durch heuchlerische Handlungen, bis zu jenem inneren, der das Gewissen ist; vom strengen Richter des Volkes, bis zu dem liebenden, leidenden und aufmerksamen Richter: den Augen der Familienmitglieder. Lügt nicht, indem ihr Gott zum Zeugen anruft, um der Lüge Gewicht zu verleihen.

Seid ehrlich beim Kaufen und Verkaufen. Wenn ihr verkauft und die Begierlichkeit euch sagt: "Betrüge, um mehr Gewinn zu erzielen", während das Gewissen euch sagt: "Sei ehrlich, denn du würdest es bedauern, wenn du selbst bestohlen würdest", dann hört auf diese letztere Stimme, die euch daran erinnert, daß man andern nicht antun soll, was man selbst nicht erleiden möchte. Das Geld, das euch als Entgelt für die Ware gegeben wird, ist oft mit dem Schweiß und den Tränen des Armen benetzt und hat Mühe gekostet. Ihr wißt nicht, wieviel Schweiß und wieviel Schmerz hinter dem Geld steckt, das euch, ihr Verkäufer, stets zu wenig erscheint für das, was ihr dafür gebt. Kranke Geschöpfe, Vaterlose, Kinder, unbemittelte Alte... O heiliger Schmerz und heilige Würde des Armen, die der Reiche nicht versteht, warum werdet ihr nicht erwogen? Warum ist man ehrlich beim Verkauf an den Starken, den Mächtigen? Aus Furcht vor seiner Vergeltung! Den, der sich nicht verteidigen kann, den unbekannten Bruder aber betrügt man, und das ist eher ein Verbrechen gegen die Liebe als gegen die Redlichkeit. Gott verflucht dieses Gebaren, denn die Tränen des Armen, der dem Mißbrauch nur sein Weinen entgegensetzen kann, schreien ebenso zum Herrn wie das Blut, das ein Mensch, ein Kain, aus den Venen seines Bruders fließen läßt.

Seid ehrbar in Blicken sowie in Worten und Werken. Ein Blick auf den, der ihn nicht verdient, oder ein Blick, der dem verweigert wird, der ihn verdient, gleicht einer Schlinge und einem Dolch. Der Blick, der sich mit dem schamlosen Blick einer Dirne verbindet und ihr sagt: "Du bist schön!" und ihre Einladung durch diesen Blick annimmt, ist schlimmer als die Schlinge für den Erhängten. Der Blick, der dem armen Verwandten oder dem ins Elend geratenen Freund verweigert wird, gleicht einem Dolch, den man ins Herz dieser Unglücklichen stößt. Ebenso ist es auch mit dem Blick des Hasses oder der Verachtung, der auf den Feind oder

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auf den Bettler gerichtet wird. Dem Feind gebührt Verzeihung und Liebe, wenigstens im Geist, wenn das Fleisch sich weigert, ihn zu lieben. Verzeihung ist Liebe des Geistes. Sich nicht rächen ist Liebe des Geistes. Der Bettler verdient Liebe, weil niemand ihn tröstet. Es genügt nicht, ihm im Vorübergehen verächtlich eine Münze zuzuwerfen. Die Münze dient dem hungrigen Körper, der entblößt und ohne Obdach ist, doch die Barmherzigkeit, die beim Geben lächelt, die sich um die Tränen des unglücklichen kümmert, ist Brot für das Herz.

Liebet, liebet, liebet!

Seid ehrlich bei der Abgabe des Zehnten und in den Bräuchen. Seid ehrenhaft in euren Häusern, indem ihr den Knecht nicht übermäßig ausnützt und der Dienerin, die unter eurem Dach schläft, nicht nachstellt. Wenn auch die Welt den verborgenen Diebstahl im Haus, den Diebstahl an der unwissenden Frau und an der Dienerin, die ihr entehrt, nicht kennt, kennt doch Gott eure Sünde!

Seid ehrbar im Reden. Seid ehrenhaft in der Erziehung der Söhne und Töchter. Es steht geschrieben: "Tu das, damit die Tochter dich nicht zum Gespött der Stadt mache." Ich sage euch: "Tut das, damit der Geist eurer Tochter nicht sterbe."

Geht nun hin. Auch ich gehe, nachdem ich euch eine Wegzehrung der Weisheit gegeben habe. Der Herr sei mit denen, die sich bemühen, ihn zu lieben.»

Er segnet sie mit einer Handbewegung, steigt dann rasch von seinem Baumstumpf herab und schlägt einen Pfad zwischen den Bäumen ein, der stromaufwärts führt und ihn bald hinter den grünen Schlinggewächsen entschwinden läßt.

Die Menge bespricht lebhaft die Worte Jesu, manche sind auch entgegengesetzter Meinung. Natürlich sind die Gegner die wenigen Exemplare von Schriftgelehrten und Pharisäern, die sich immer unter das einfache Volk mischen.

431. IM HAUS DES SALOMON

Das Haus des Salomon, das ich im März 1944 in der Vision der Auferweckung des Lazarus gesehen habe, ohne zu wissen, wem es gehört, ist eines der letzten an der einzigen am Flusse beginnenden Straße dieses ärmlichen, abseits gelegenen Dorfes. Ein Fischerdorf, mit den... besseren Häusern längs der staubigen Straße und den Hütten im Ufergebüsch. Es sind nicht viele, vielleicht fünfzig, und sie sind so klein, daß sie alle zusammen in einer der heutigen Wohnkasernen Platz hätten. Nun läßt sie das Frühjahr weniger armselig erscheinen, denn es bedeckt sie mit seiner

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Frische, mit Ranken, Blüten und Weinreben, und lacht mit den gelben Blüten der Kürbisse, die sich an den winzigen Zäunen, welche die Besitzungen abgrenzen, an Dachrändern und um die Türen der Häuser befinden. Es fehlt auch nicht an einigen Rosen, die sich in ihrer Schönheit etwas verloren vorkommen inmitten dieser Körbe und Netze, dem Gelb blühender Senfbäume und dem Schaukeln der ersten Gemüseschoten.

Auch die Straße scheint weniger häßlich, denn das Röhricht im Hintergrund hat nicht mehr nur die harten Stengel der staubigen Kolben, sondern schmückt sich mit Federbüschen, und zwischen den Bändern der Blätter des Schilfrohrs richten sich die wilden Gladiolen auf, die mit ihren bunten Blütenrispen protzen, während die zarten Winden in Spiralen Kolben und Rohre umarmen und bei jeder Wendung den zierlichen Kelch einer lilafarbenen Blüte hinterlassen. Unzählige Vöglein nisten im Schilf, zwitschern auf der Spitze der Rohre, wiegen sich auf den Winden und bringen Töne und Farben ins Grün der sumpfigen Ufer.

Jesus stößt das einfache Tor auf, das in ein Gärtchen oder in einen Hof führt. Nun, wenn es einmal ein Garten war, so ist es jetzt ein wildes Durcheinander von nachgewachsenen Pflanzen; und wenn es ein Hof war, dann ist es jetzt ebenfalls eine Ansammlung von Unkraut, das der Wind gesät hat. Nur die Kürbisse haben sich klug benommen und sind am einzigen Feigenbaum und am Weinstock hinaufgeklettert, um die lachenden Kelche ihrer Blüten neben die winzigen Trauben der Weinrebe oder zwischen die zarten Blätter des Feigenbaumes zu halten, der bereits die kleinen, harten Ansätze der ersten Feigen zeigt. Die Brennesseln quälen die nackten Füße, so daß Petrus und Thomas mit zwei wurmstichigen Rudern, die sie gefunden haben, sich daran machen, das lästige Unkraut zu schlagen, um sein Gift unschädlich zu machen.

Inzwischen versuchen Jakobus und Johannes, das große verrostete Schloß wieder brauchbar zu machen, und nachdem sie ihr Ziel erreicht haben, öffnen sie das Tor und betreten einen Raum, eine Küche, die nach Moder und abgestandener Luft riecht. Staub und Spinngewebe bedecken die Wände. Ein rustikaler Tisch, Bänke, Stühle und ein Regal stehen darin, und in einer der Wände befinden sich zwei Türen.

Petrus späht umher... «Hier ist ein Zimmerchen mit einem Bett. Gerade recht für Jesus... und hier? Oh, ich habe verstanden! Das hier ist der Vorratsraum, die Kornkammer und das Mäusenest... Schau nur, welch ein Mäusegewimmel! Sie haben in diesen Monaten alles angenagt. Aber nun werde ich mich um euch kümmern, nur keine Sorge! Meister, können wir hier wirklich so tun, als ob wir zu Hause wären?»

«Salomon hat es gesagt.»

«Sehr gut! Bruder, und du Jakobus! Kommt her und verstopft alle Löcher, und du, Matthäus, stell dich mit Judas vor die Tür und paß auf, daß keine Maus entkommt. Stell dir vor, du seiest noch der liebenswürdige

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Steuereinnehmer von Kapharnaum. Damals entkam dir kein Kunde, auch wenn er sich so dünn machte wie eine davonschlüpfende Eidechse... und ihr, geht und holt möglichst viel Unkraut aus dem Garten und bringt es hierher. Und du, Meister... geh, wohin du willst, während ich... diese schmutzigen Teufel versorge, die diese nützlichen Netze zerstört und einen ganzen Bootskiel aufgefressen haben ...» Während er so spricht, wirft er angenagte Hölzer und Teile von Netzen, die zu Werg geworden sind, mitten im Raum auf einen Haufen, und als er die Kräuter bekommen hat, wirft er sie obenauf und legt Feuer an. Er springt weg, während schon der erste Rauch aufsteigt, und sagt lachend: «Alle Philister sollen sterben!»

«Aber verbrennst du nicht alles?» fragt Simon der Zelote.

«Nein, mein Lieber, denn die Feuchtigkeit der Reiser hält die Flammen niedrig, und die Flammen erzeugen zusammen mit den Kräutern Rauch; und so üben das Trockene und das Grüne gemeinsam Rache. Riechst du, welch ein Gestank? Bald wirst du das Piepsen hören! Wer hat mir einmal von den Schwänen erzählt, die vor dem Sterben singen? Ah, Syntyche! Bald werden auch die Mäuse singen.»

Judas Iskariot unterbricht das Gelächter und bemerkt: «Man hat nichts mehr von ihr erfahren können. Auch nichts von Johannes von Endor. Wer weiß, wo sie gelandet sind?»

«Gewiß am richtigen Platz», antwortet Petrus.

«Du weißt es?»

«Ich weiß, das sie nicht mehr die Zielscheiben böser Seelen sind.»

«Hast du niemanden gefragt? Ich schon!»

«Ich nicht. Es interessiert mich nicht zu wissen, wo sie sind. Es genügt mir, an sie zu denken und zu beten, daß sie sich heilig bewahren.»

Thomas sagt: «Die reichen Pharisäer, die Kunden meines Vaters, haben mich nach ihnen gefragt. Doch ich habe geantwortet, daß ich nichts weiß.»

«Bist du denn nicht neugierig, etwas zu erfahren?» drängt Judas.

«Ich, nein, und damit sage ich die Wahrheit.»

«Hört! hört! Der Rauch wirkt schon. Aber gehen wir hinaus, sonst ersticken auch wir noch», sagt Petrus, und diese Ablenkung macht der Unterhaltung ein Ende.

Jesus ist im Garten und richtet Erbsenpflanzen auf, die wild gewachsen sind und am Boden liegen.

«Spielst du den Gärtner, Meister?» fragt Philippus lächelnd.

«Ja. Es tut mir leid, wenn ein Gewächs unnütz am Boden liegt, da doch geschaffen wurde, um sich zur Sonne zu erheben und Früchte zu tragen.»

«Schöner Gegenstand für eine Predigt, Meister», bemerkt Bartholomäus.

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«Ja, schon, aber alles dient dem, der zu betrachten versteht, als Gegenstand.»

«Wir wollen dir helfen. Auf! Wer geht zum Fluß, um Schilfrohr für die Erbsenpflanzen zu holen?»

Die Jüngeren gehen lachend davon, und die Älteren machen sich daran, das Unkraut zu jäten.

«Oh, jetzt sieht man wenigstens, daß es ein Garten ist. Es gibt keinen Salat, aber Lauch, Knoblauch, Gemüse, Kräuter und Bohnen. Und Kürbisse! Viele Kürbisse. Man muß den Weinstock beschneiden, den Feigenbaum befreien und...»

«Aber Simon, wir bleiben doch nicht hier! ...» sagt Matthäus.

«Aber wir werden öfters hierher kommen, hat Jesus gesagt, und es wird nicht schaden, wenn etwas Ordnung hier hereinkommt. Schau, schau! Auch Jasmin, Armer, unter diesem Kürbisbehang. Wenn Porphyria diese so betrübte Pflanze sehen könnte, würde sie darüber weinen und mit ihr wie mit einem Kind reden. Ja, bevor sie Margziam hatte, sprach sie mit den Blumen wie mit Kindern... So. Nun habe ich auch hier Platz gemacht. Ich habe den Kürbis weggenommen... Oh, da kommen die Jungen mit den Rohrstöcken und einem... Meister, nun bekommst du etwas zu tun. Ein Blinder!»

Tatsächlich kommen Jakobus und Johannes, Andreas und Thomas mit Rohrstöcken beladen an, und Thomas trägt beinahe einen armen Alten, der völlig zerlumpt ist und dessen Augen durch den Star ganz weiß sind.

«Meister, er hat am Ufer nach Wurzeln gesucht und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Seit einigen Monaten ist er allein, da sein Sohn, der bisher für ihn gesorgt hat, gestorben ist. Die Schwiegertochter ist nach Hause zurückgekehrt, und nun lebt er... wie er kann. Nicht wahr, Vater?»

«Ja, ja. Wo ist der Herr?» sagt er und verdreht seine verschleierten Augen.

«Hier ist er. Siehst du den langen hellen Schein? Das ist er.» Doch Jesus kommt schon herbei und nimmt ihn bei der Hand.

«Bist du allein, armer Vater? Kannst du nichts sehen?»

«Nein. Solange ich sehen konnte, habe ich Körbe, Fischreusen und Netze angefertigt, aber jetzt... Ich kann mit den Fingern mehr sehen als mit den Augen, und beim Suchen nach Kräutern irre ich mich manchmal und schade meinem Magen mit giftigen Kräutern.»

«Aber im Dorf ...»

«Oh, dort sind alle arm und haben viele Kinder, und ich bin alt. Wenn ein Esel stirbt, dann ist es schlimm... Aber wenn ein alter Mann stirbt! ... Was ist schon ein Alter? Wer bin ich? Die Schwiegertochter hat mir alles weggenommen. Aber hätte sie mich wenigstens mitgenommen wie ein altes Schaf, damit ich in der Nähe meiner Enkel sein könnte... der Kinder

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meines Sohnes...» und er weint an der Brust Jesu, der ihn im Arm hält und liebkost.

«Hast du kein Haus?»

«Sie hat es verkauft.»

«Wovon lebst du?»

«Ich lebe wie ein Tier. Die ersten Tage haben mir die Leute im Dorf geholfen, doch dann wurden sie es müde...»

«Salomon wird helfen, denn er ist hochherzig», bemerkt Matthäus.

«Mit uns schon. Aber warum hat er dem Alten nicht sein Haus gegeben?» fragt Philippus.

«Weil ich das letzte Mal, als er vorbeigekommen ist, noch ein Haus hatte. Salomon ist gut. Doch das Dorf nennt ihn seit einiger Zeit einen "Narren" und tut nicht mehr, was er es gelehrt hat», sagt der Alte.

«Würdest du gern hier bei mir bleiben?»

«Oh, dann würde ich den Enkeln nicht mehr nachtrauern.»

«Auch wenn du arm und blind bleiben würdest, wärest du zufrieden damit, mir dienen zu dürfen?»

«Ja!» Ein zitterndes Ja, doch ein sehr bestimmtes...

«Gut also, Vater. Höre. Du kannst nicht die Wege gehen, die ich gehe Ich kann nicht hierbleiben. Doch wir können uns lieben und uns gegenseitig Gutes tun.»

«Du mir, ja. Aber ich... Was kann der alte Ananias tun?»

«Für mich das Haus und den Garten hüten, damit ich es bei jede Rückkehr in Ordnung finde. Willst du?»

«O ja. Aber ich bin blind... Das Haus... Ich werde mich an die Mauer gewöhnen. Aber der Garten... Wie soll ich ihn pflegen, wenn ich die Pflanzen nicht unterscheiden kann? Oh, es wäre so schön, dir zu dienen Herr, und auf diese Weise das Leben zu beenden...» Der Greis hält die Hand aufs Herz und träumt von etwas Unmöglichem.

Jesus neigt sich lächelnd und küßt ihn auf seine trüben Augen.

«Aber... ich... ich fange an zu sehen... Ich sehe... Oh! Oh! Oh...» E wankt vor Freude und würde zu Boden fallen, wenn Jesus ihn nicht halte würde.

«Ja, die Freude! ...» sagt Petrus mit vor Rührung rauher Stimme.

«Und auch der Hunger... Er hat gesagt, daß er seit Tagen von Zichorie lebt, ohne Salz und Öl...» ergänzt Thomas.

«Ja, deshalb haben wir ihn hergebracht... um ihm zu essen zu geben.

«Armer Alter!» bemitleiden ihn alle.

Der alte Mann kommt wieder zu sich und weint und weint. Das elend Weinen der Alten... so traurig, auch wenn es der Freude entspringt; und er murmelt:

«Jetzt, ja, jetzt kann ich dir dienen, Gesegneter, Gesegneter! Gesegneter!» und er will niederknien, um Jesus die Füße zu küssen.

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«Nein, Vater. Jetzt werden wir hineingehen und zusammen essen. Danach werden wir dir ein Gewand geben, und du wirst unter Söhnen sein, und wir werden einen Vater haben, der uns bei jeder Heimkehr begrüßt und uns bei jeder Abreise seinen Segen gibt. Wir werden zwei Tauben suchen, damit du lebende Geschöpfe um dich hast. Samen für den Garten werden wir auch besorgen, und du wirst Samen in die Beete säen und den Glauben an mich in die Menschenherzen dieses Dorfes.»

«Ich werde sie die Nächstenliebe lehren. Sie fehlt ihnen!»

«Auch die Nächstenliebe. Aber sei sanft...»

«Oh, das werde ich sein. Ich habe kein hartes Wort zur Schwiegertochter gesagt, als sie mich verlassen hat. Ich habe verstanden und verziehen.»

«Ich habe es in deinem Herzen gelesen. Deshalb liebe ich dich. Komm, komm mit mir ...» und Jesus begibt sich, den Alten an der Hand führend, ins Haus.

Petrus schaut ihnen nach und wischt sich mit dem Handrücken eine Träne ab, bevor er die unterbrochene Arbeit wieder aufnimmt.

«Weinst du, Bruder?»

Petrus antwortet nicht.

Andreas fängt wieder an: «Warum weinst du, Bruder?»

«Kümmere dich um das Unkraut. Ich weine, weil... weil... ich weiß, warum ...»

«Sage es auch uns. Sei gut», sagen einige.

«Nun, weil diese Unterweisungen... diese eben... mein Herz mehr ergreifen, als wenn er mit mächtiger Stimme donnert...»

«Aber dann erkennt man in ihm den König!» ruft Judas aus.

«Und so erkennt man in ihm den Heiligen. Petrus hat recht», sagt Bartholomäus.

«Aber um herrschen zu können, muß er stark sein.»

«Doch um zu erlösen, muß er heilig sein.»

«Für die Seelen, ja. Aber für Israel...»

«Israel wird nie Israel sein, wenn sich die Seelen nicht heiligen.»

«Ja» und «Nein» wechseln sich ab, und jeder trägt seine Ansicht vor.

Der Alte kommt mit einem Krug in der Hand aus dem Haus und geht zum Brunnen, um Wasser zu holen. Er scheint nicht mehr der gleiche zu sein, so glücklich ist er.

«Alter Vater, höre. Was meinst du, was Israel braucht, um groß zu sein?» fragt Andreas, «einen König oder einen Heiligen?»

«Gott braucht es. Den Gott, der da drinnen betet und betrachtet. Ach Söhne, Söhne! Seid gut, ihr, die ihr ihm nachfolgt! Seid gut, gut, gut! Ach, welch ein Geschenk hat euch der Herr zuteil werden lassen! Welch ein Geschenk!» Dann geht er weg, hebt die Arme zum Himmel und flüstert dabei: «Welch ein Geschenk! Welch ein Geschenk!»...

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432. PREDIGT AN DER WEGKREUZUNG BEIM DORF DES SALOMON

Die kleine Schar kommt aus dem Häuschen, und der alte Mann bewundert sich in seinem Gewand, das irgendeinem Apostel von kleiner Gestalt gehört.

«Wenn du bleiben willst, Vater ...» sagt Jesus.

Doch der Alte unterbricht ihn: «Nein, nein. Ich komme mit. Oh, laß mich mitkommen. Ich habe gestern gegessen! Ich habe heute nacht geschlafen, sogar in einem Bett, und habe keine Herzbeschwerden mehr! Ich bin stark wie ein Jüngling ...»

«Dann komm. Du wirst bei mir, Bartholomäus und meinem Bruder Judas bleiben. Ihr werdet zu zweit gehen, wie schon gesagt. Vor der sechsten Stunde werden wir uns hier wieder zusammenfinden. Geht nun, und der Friede sei mit euch.»

Sie trennen sich, und die einen gehen in Richtung des Flusses, die anderen in Richtung der Felder. Jesus läßt sie vorausgehen und folgt dann als letzter. Er durchquert langsam die Ortschaft und wird von den Fischern, die vom Fluß kommen oder zu diesem gehen, und auch von den Hausfrauen bemerkt, die bei Sonnenaufgang aufgestanden sind, um Wäsche zu waschen, die Gärten zu gießen oder Brot zu backen. Doch niemand spricht.

Nur ein Knabe, der sieben Schafe zum Fluß treibt, fragt den alten Mann: «Wohin gehst du, Ananias? Verläßt du das Dorf?»

«Ich gehe mit dem Rabbi. Doch ich komme mit ihm zurück. Ich bin sein Diener.»

«Nein, du bist mein Vater. Jeder gerechte Greis ist ein Vater und ein Segen für den Ort, der ihn beherbergt, und für den, der ihm beisteht. Selig jene, welche die Alten lieben und ehren», sagt Jesus mit feierlichem Ausdruck.

Das Kind betrachtet ihn ängstlich und murmelt dann: «Ich habe Ananias immer etwas von meinem Brot abgegeben...» als wollte er sagen: «Tadle mich nicht, denn ich verdiene es nicht.»

«Ja, Michael ist gut zu mir gewesen. Er war der Freund meiner Enkel... und er ist auch dem Großvater Freund geblieben. Auch seine Mutter ist nicht böse und würde helfen... Aber sie hat elf Kinder, und sie leben vorn Fischfang...»

Frauen kommen neugierig herbei und hören zu.

«Gott wird immer dem helfen, der den Armen hilft so gut er kann, und immer kann man auf irgendeine Art helfen. Oft sagt man: "Ich kann nicht" ' und das ist eine Lüge, denn wenn man will, findet man immer noch einen überflüssigen Bissen, eine ausgediente Decke, ein abgelegtes Kleid für jemanden, der nichts hat, und der Himmel vergilt die Gabe.

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Gott wird dir, o Michael, die Bissen vergelten, die du dem Alten gegeben hast.» Jesus liebkost den Knaben und geht weiter.

Die Frauen bleiben beschämt zurück und befragen den Knaben, der ihnen erzählt, was er weiß. Da werden die geizigen Frauen, die ihr Herz vor der Not des Alten verschlossen hatten, von Angst erfaßt...

Indessen wendet sich Jesus, als sie beim letzten Haus ankommen, einer Gabelung zu, an der der Weg von der Hauptstraße zum Dorf abzweigt. Von hier aus kann man sehen, daß auf der Straße Karawanen zu den Städten der Dekapolis und der Peräa zurückkehren.

«Wir wollen hingehen und predigen. Willst auch du es tun, Vater?»

«Ich bin dazu nicht fähig. Was soll ich sagen?»

«Du bist fähig. Deine Seele kennt die Weisheit des Verzeihens und ist Gott auch in den Stunden des Schmerzes treu und ergeben gewesen, und du weißt, daß Gott dem hilft, der auf ihn hofft. Geh und sage es den Pilgern.»

«Oh, das schon!»

«Judas, geh mit ihm. Ich bleibe mit Bartholomäus an der Wegkreuzung.»

Dort angekommen, setzt er sich in den Schatten einer dichtbelaubten Platanengruppe und wartet geduldig.

Die Felder ringsum sind schön und ertragreich, ebenso die Obstgärten. Sie sind frisch in dieser Morgenstunde. Das Auge findet Gefallen an ihnen. Die Karawanen ziehen auf der Straße vorbei... Nur wenige schauen auf die beiden, die sich an die Platanenstämme gelehnt haben. Vielleicht vermuten sie in ihnen müde Wanderer. Doch einige erkennen Jesus und deuten auf ihn oder verneigen sich grüßend.

Endlich hält der erste sein Eselchen und die seiner Verwandten an, steigt ab und begibt sich zu Jesus: «Gott sei mit dir, o Rabbi! Ich bin von Arbela. Ich habe dich im Herbst sprechen gehört. Dies ist meine Frau, und dort sind ihre verwitwete Schwester und meine Mutter. Dieser alte Mann ist ihr Bruder, und der Jüngling dort ist der Bruder meiner Frau. Hier sind unsere Kinder. Deinen Segen. Meister! Ich habe erfahren, daß du an der Furt gesprochen hast. Doch ich bin erst gegen Abend dort angekommen... Wirst du nicht auch zu uns sprechen?»

«Das Wort versagt man nie, aber warte einige Minuten, denn es kommen noch andere...»

Tatsächlich kommen die Dorfbewohner zögernd näher und solche, die schon weitergegangen waren, kehren wieder zurück. Andere steigen neugierig von ihren Reittieren ab, und wieder andere bleiben im Sattel. Es bildet sich ein immer größerer Kreis von Zuhörern. Auch Judas des Alphäus kommt mit dem alten Mann zurück, und mit ihnen kommen zwei Kranke und mehrere Gesunde. Jesus beginnt zu sprechen.

«Die auf den Wegen des Herrn wandeln, auf den vom Herrn gewiesenen

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Wegen, und guten Willens sind, werden den Herrn finden. Ihr findet den Herrn auf der Rückkehr vom Passahfest, der erfüllten Pflicht jedes treuen Israeliten, und nun spricht die Weisheit, wie ihr es wünscht, an dieser Wegkreuzung zu euch, wo uns die Güte Gottes uns begegnen läßt.

Es sind der Wegkreuzungen viele, denen der Mensch auf seinem Lebensweg begegnet, mehr übernatürliche als natürliche Wegkreuzungen. Tagtäglich wird das Gewissen vor Scheidewege und Kreuzwege des Guten und des Bösen gestellt und muß mit Bedacht wählen, um sich nicht zu irren. Wenn es sich aber geirrt hat, muß es imstande sein, demütig zurückzukehren, wenn einer es ermahnt und darauf aufmerksam macht. Selbst wenn ihm der Weg des Bösen oder auch nur der der Lauheit schöner vorkommt, muß es imstande sein, den holprigen, aber sicheren Weg des Guten zu wählen.

Hört ein Gleichnis.

Eine Gruppe von Wanderern, die aus fernen Gegenden kam, auf der Suche nach Arbeit, gelangte an die Grenze eines Landes. An dieser Grenze befanden sich Arbeitsvermittler, die von verschiedenen Herren ausgesandt worden waren. Die einen suchten Arbeiter für das Bergwerk, die anderen für Felder und Wälder, einer suchte Knechte für einen reichen Gottlosen und ein anderer Soldaten für einen König, der in einem Schloß auf dem Gipfel eines Berges wohnte, zu dem ein sehr steiler Weg hinaufführte. Der König wollte Soldaten, verlangte jedoch, daß seine Miliz eher eine Miliz der Weisheit als der Gewalt sei, um diese in die Städte auszusenden und seine Untertanen zu heiligen. Aus diesem Grunde lebte er dort in der Höhe wie in einer Einsiedelei, um seine Knechte heranzubilden, ohne daß weltliche Lustbarkeiten die Bildung ihres Geistes verlangsamen oder gar verhindern könnten. Er versprach keine großen Geschenke und kein bequemes Leben, gab jedoch die Zusicherung, daß aus seinem Dienste Heiligkeit und Belohnung hervorgehen würden.

Dies sagten seine Boten zu denen, die an die Grenzen kamen. Die Boten der Bergwerkbesitzer oder der Besitzer der Felder hingegen sagten: "E wird kein bequemes Leben sein, doch ihr werdet frei sein und so viel verdienen, daß ihr euch auch noch ein wenig Vergnügen leisten könnt." Jene aber, die Knechte für einen schamlosen Reichen suchten, versprachen geradezu reichliche Nahrung, Müßiggang, Lustbarkeiten und Reichtum: "Es genügt, wenn ihr seine eigensinnigen Launen befriedigt, die aber nicht so schlimm sind. Ihr werdet ein Leben wie viele Satrapen führen können."

Die Wanderer berieten sich untereinander. Trennen wollten sie sich nicht... und fragten: "Sind denn die Felder, die Bergwerke, der Palast de Lebemannes und das Schloß des Königs nahe beieinander?"

"0 nein!" antworteten die Anwerber. "Kommt zu dieser Straßenkreuzung, und wir werden euch die verschiedenen Wege zeigen."

Sie gingen hin.

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"Hier, diese herrliche, schattige, blumige, ebene Straße mit den kühlen Brunnen führt zum Palast des Herrn", sagten die Anwerber der Diener.

"Hier, diese staubige Straße zwischen friedlichen Äckern führt zu den Feldern. Die Sonne scheint, doch schaut nur, wie schön es ist", sagten die Anwerber der Landarbeiter.

"Diese, die von Rädern gefurcht und mit dunklen Splittern bedeckt ist, zeigt die Richtung der Bergwerke an. Sie ist weder schön noch häßlich..." sagten jene von den Bergwerken.

"Und hier, dieser steile Weg, der in die Felsen eingeschnitten ist, der in der Sonne glüht und von Dornen und Disteln überwuchert wird, was das Voranschreiten zwar beschwerlich macht, aber die Verteidigung gegen die Angriffe der Feinde erleichtert, führt nach Osten zu dem schlichten Schloß. Wir könnten es gleichsam heilig nennen, da sich die Seelen dort zum Guten heranbilden", sagten die Leute des Königs.

Die Wanderer schauten und schauten, und wägten ab... Viele Dinge verlockten Sie, von denen nur eines ganz gut war. Langsam trennten sie sich. Es waren zehn. Drei wandten sich den Äckern zu... und zwei gingen zu den Bergwerken. Die Zurückgebliebenen schauten sich an, und zwei sagten: "Kommt mit uns zum König. Wir werden auf Erden nichts verdienen und nicht genießen, doch werden wir heilig sein in Ewigkeit."

"Diesen Pfad dort? Wir müßten verrückt sein! Nichts verdienen? Nicht genießen? Dann wäre es nicht der Mühe wert gewesen, alles zu verlassen und auszuwandern, nur um noch weniger zu haben, als wir in unserer Heimat hatten. Wir wollen verdienen und genießen..."

"Aber ihr werdet das ewige Heil verlieren! Habt ihr nicht gehört, daß dieser Herr gottlos ist?"

"Märchen! Nach einiger Zeit werden wir ihn verlassen; doch werden wir zumindest genossen haben und reich sein!"

"Ihr werdet euch nicht mehr von ihm befreien können. Die ersten haben schlecht gehandelt, weil sie der Gier nach Geld gefolgt sind, ihr aber folgt der Gier nach Vergnügen. Oh! Setzt nicht für eine flüchtige Stunde das ewige Schicksal aufs Spiel!"

"Ihr seid töricht und glaubt an ideale Versprechungen. Wir sind für die Wirklichkeit. Lebt wohl!..." Und eilig schlugen sie die schöne schattige, blumige, wasserreiche, ebene Straße ein, an deren Ende der zauberhafte Palast des Lebemannes in der Sonne strahlte.

Die beiden Zurückgebliebenen schlugen weinend und betend den steilen Pfad ein. Nach einigen Metern waren sie schon fast entmutigt, so schwierig war er. Doch sie harrten aus. Die körperliche Anstrengung schien immer unbedeutender zu werden, je weiter sie vorankamen, und in ihrer Mühe wurden sie durch eine eigenartige Freude getröstet. Sie kamen stöhnend und zerkratzt auf der Höhe des Berges an und wurden vor den König geführt, der ihnen alles sagte, was er von ihnen verlangte, um sie zu

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seinen Erben zu machen. Zum Schluß sagte er: "Überlegt es euch acht Tage lang, und dann bringt mir die Antwort."

Sie überlegten lange und überstanden schwere Angriffe des Verführers, der sie entmutigen wollte, indem er das Fleisch sagen ließ: "Ihr tötet mich ab" und sie mit der Erinnerung an die Welt versuchte. Doch sie siegten. Sie hielten durch. Sie wurden zu Helden im Guten. Es kam der Tod, also die Verherrlichung. Von der Höhe des Himmels schauten sie hinab auf die, die zu dem gottlosen Herrn gegangen waren. Über das Leben hinaus angekettet, seufzten sie im Dunkel der Hölle. "Und sie wollten frei sein und genießen!" sagten die beiden Heiligen.

Die drei Verfluchten sahen sie und wurden zornig, verfluchten alle, Gott als ersten, und sagten: "Ihr habt uns alle betrogen."

"Nein, das könnt ihr nicht sagen. Die Gefahr hatte man euch genannt. Ihr habt euer Unglück selbst gewollt", antworteten die Seligen, die freundlich blieben, selbst als sie den schmählichen Hohn und die schamlosen Flüche hörten, die ihnen entgegengeschleudert wurden.

Danach sahen sie die, die auf die Felder und in die Bergwerke gegangen waren, an verschiedenen Reinigungsorten, und jene sahen sie und sagten: "Wir waren weder gut noch böse, und jetzt büßen wir für unsere Lauheit. Betet für uns!"

"Oh, das werden wir tun. Aber warum seid ihr nicht mit uns gekommen?"

"Wir waren zwar keine Dämonen, aber Menschen... Wir waren nicht hochherzig. Wir liebten das Vergängliche, wenn es auch ehrbar war, mehr als das Ewige und Heilige. Nun lernen wir mit Gerechtigkeit zu erkennen und zu lieben."

Das Gleichnis ist zu Ende. Jeder Mensch befindet sich am Kreuzweg, an einem immerwährenden Kreuzweg. Selig jene, die ausharren und großmütig auf den Wegen des Guten wandeln. Gott möge ihnen helfen, und Gott möge die, die nicht so sind, rühren und bekehren und sie dazu bringen, gut zu sein. Geht in Frieden.»

«Und die Kranken?»

«Was hat die Frau?»

«Bösartiges Fieber, das ihr die Knochen krümmt. Sie ist bis zu den wunderbaren Quellen am Großen Meer gegangen, aber sie verspürt keine Erleichterung.»

Jesus neigt sich über die Kranke und fragt sie: «Was glaubst du, wer ich bin?»

«Der, den ich gesucht habe, der Messias Gottes. Hab Erbarmen mit mir, die ich dich so sehr gesucht habe!»

«Dein Glaube schenke deinen Gliedern und deiner Seele Gesundheit. Und die, Mann?»

Der Mann antwortet nicht. Die Frau, die ihn begleitet hat, spricht an

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seiner Stelle: «Eine Krebsgeschwulst nagt an seiner Zunge. Er kann nicht sprechen und wird verhungern.» Der Mann ist tatsächlich ein Skelett.

«Glaubst du, daß ich dich heilen kann?»

Der Mann macht mit dem Kopf ein zustimmendes Zeichen.

«Öffne deinen Mund!» gebietet Jesus und nähert sein Antlitz dem entsetzlich vom Krebs zerfressenen Mund. Er haucht hinein und sagt: «Ich will!»

Ein Augenblick des Wartens, dann zwei Schreie: «Meine Knochen sind geheilt!» «Maria, ich bin gesund! Schaut her! Schaut meinen Mund an. Hosanna, Hosanna!» Der Mann will aufstehen, doch er wankt vor Schwäche.

«Gebt ihm zu essen», gebietet Jesus und will sich zurückziehen.

«Geh nicht fort! Es kommen noch mehr Kranke! Andere werden zurückkehren... Auch sie, auch sie!» schreit die Volksmenge.

«Jeden Morgen von Sonnenaufgang bis zur sechsten Stunde werde ich hier sein. Irgendein Freiwilliger soll dafür sorgen, daß sich die Pilger versammeln.»

«Ich, ich, Herr!» sagen mehrere.

«Gott möge euch dafür segnen.»

Jesus wendet sich der Ortschaft zu mit seinen bisherigen Gefährten und den anderen, die nacheinander angekommen sind, während er gesprochen hat. «Aber wo sind denn Petrus und Judas von Kerioth?» fragt Jesus.

«Sie sind in die Nachbarstadt gegangen, mit viel Geld, und machen Einkäufe...»

«Ja, Judas hat ein Wunder gewirkt und freut sich darüber», bemerkt Simon der Zelote lachend.

«Auch Andreas, und er hat zum Dank ein Schaf erhalten. Er hat einem Hirten das gebrochene Bein geheilt, und dieser hat ihn so dafür belohnt. Wir werden das Schaf dem Vater geben. Milch tut alten Menschen gut», sagt Johannes und liebkost den Alten, der darüber selig ist.

Sie gehen ins Haus und bereiten ein kleines Mahl... Gerade wollen sie sich zu Tische setzen, als die beiden Fehlenden, wie Esel beladen und von einem Wägelchen gefolgt, das mit geflochtenen Matten beladen ist, die von den Armen in Palästina als Betten verwendet werden, eintreffen.

«Verzeih, Meister. Aber es mußte sein. Nun wird es uns gut gehen», sagt Petrus. «Schau her, wir haben nur das Nötigste besorgt, so wie es dir gefällt», sagt Judas. Dann machen sie sich daran, alles abzuladen und verabschieden den Wagenlenker.

«Zwölf Liegen und zwölf Strohmatten, und einiges Geschirr. Hier sind die Samen, hier die Tauben, und hier ist das Geld. Morgen werden viele Menschen kommen. Uff! Welche Hitze! Doch nun ist alles gut. Was hast du getan, Meister? ...»

Während Jesus berichtet, setzen sich alle zufrieden um den Tisch.

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433. ZUM WESTUFER DES JORDAN

Jesus ist wiederum unterwegs. Den Norden im Rücken geht er den Windungen des Flusses entlang, um nach jemandem zu suchen, der ihn ans andere Ufer übersetzt. Die Seinen umgeben ihn und sprechen über die Ereignisse der vergangenen Tage, die sich im Dorf und im Haus Salomons zugetragen haben.

Wenn ich recht verstehe, sind sie so lange dort geblieben, als der Aufenthalt des Meisters den feindlich gesinnten Menschen unbekannt geblieben ist. Erst nachdem auch diese davon erfahren haben, sind sie aufgebrochen und haben das wieder instandgesetzte Häuschen dem alten Ananias überlassen, der sich glücklich in seiner nun nicht mehr so trostlosen Armut fühlt.

«Hoffen wir, daß der jetzige Zustand der Gemüter andauert», sagt Bartholomäus.

«Wenn wir gehen und kommen, wie der Meister sagt, werden wir sie wohl in dieser Verfassung bewahren können», meint Judas des Alphäus.

«Er hat geweint, der arme Alte. Er hatte uns schon liebgewonnen ...»sagt Andreas noch gerührt.

«Sein letztes Gespräch hat mir gefallen. Nicht wahr, Meister, er hat wie ein Weiser gesprochen?» sagt Jakobus des Zebedäus.

«Wie ein Heiliger hat er geredet, würde ich sagen!» ruft Thomas aus.

«Ja, und ich werde mir seinen Wunsch vor Augen halten», antwortet Jesus.

«Aber was hat er denn genau gesagt? Ich war mit Johannes fortgegangen, um die Mutter des Michael daran zu erinnern, das zu tun, was der Meister ihr aufgetragen hatte, und somit bin ich nicht genau im Bild», sagt Iskariot.

«Er hat gesagt: "Herr, wenn du ins Dorf meiner Schwiegertochter kommst, sage ihr, daß ich ihr nichts nachtrage und mich freue, nicht mehr verlassen zu sein, denn so wird das Gericht Gottes für sie weniger streng sein. Sage ihr, sie soll die Enkelkinder im Glauben an den Messias erziehen, damit ich sie einst bei mir im Himmel haben werde. Sobald ich im Frieden bin, werde ich für sie und ihr Heil beten." Ich werde es ihr sagen, ich werde die Frau aufsuchen und es ihr mitteilen, denn es ist gut so», sagt Jesus.

«Kein Wort des Vorwurfs! Vielmehr freut er sich, daß er nicht mehr vor Hunger und von allen verlassen zu sterben braucht und so die Schuld der Frau geringer wird. Das ist bewundernswert!» bemerkt Jakobus des Alphäus.

«Aber wird dadurch die Schuld der Schwiegertochter wirklich vermindert? Das sollte man wissen», wirft Judas des Alphäus ein.

Die Ansichten sind verschieden. Matthäus wendet sich an Jesus: «Wie

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urteilst du, Meister? Bleiben die Dinge, wie sie vorher waren, oder tritt eine Veränderung ein?»

«Sie ändern sich...»

«Siehst du, daß ich recht habe? ...» triumphiert Thomas. Aber Jesus gibt ein Zeichen, daß er weitersprechen möchte und sagt: «Die Dinge werden sich für den Alten im Himmel ändern, so wie sie sich für ihn schon auf Erden geändert haben, weil er so liebevoll verziehen hat. Für die Frau werden sie sich nicht ändern. Ihre Schuld schreit stets zum Himmel. Nur wenn sie bereuen würde, könnte das Gericht Gottes weniger streng sein, und ich werde ihr dies sagen.»

«Wo wohnt sie?»

«In Masada, bei ihren Brüdern.»

«Willst du bis dorthin gehen?»

«Auch das sind Orte, wo die Frohe Botschaft verkündet werden muß...»

«Und nach Kerioth? ...»

«Nach Kerioth hinauf werden wir von Masada aus gehen, und wir gehen auch nach Jutta, Hebron, Bethsur und Bether, um dann zu Pfingsten wieder in Jerusalern zu sein.»

«Masada ist ein Ort des Herodes...»

«Was tut das? Es ist eine Festung. Aber er selbst ist nicht dort, und wenn dem auch so wäre... Es ist nicht die Anwesenheit eines Menschen, die mich daran hindern könnte, Heiland zu sein.»

«Aber wo werden wir den Fluß überqueren?»

«In der Gegend von Gilgal. Dann werden wir den Fluß entlang gehen, indem wir den Bergen folgen. Die Nächte sind frisch, und der neue Mond des Ziw (Blütenmonat) leuchtet am heiteren Himmel.»

«Wenn wir durch diese Gegend kommen, warum gehen wir dann nicht auf den Berg, wo du gefastet hast? Es wäre gut, wenn wir alle ihn richtig kennenlernen würden», sagt Matthäus.

«Wir werden auch dorthin gehen. Aber seht, da ist ein Boot. Einigt euch mit dem Fährmann über den Preis der Überfahrt, damit wir auf die andere Seite kommen.»

434. ZU GILGAL

Ich weiß nicht, wie Gilgal jetzt aussieht. Zu der Zeit, da Jesus es besucht, ist es eine ganz gewöhnliche, ziemlich volkreiche Stadt Palästinas, auf einem nicht sehr hohen Hügel gelegen, der hauptsächlich mit Weinstöcken und Olivenbäumen bepflanzt ist. Aber die Sonne scheint hier so stark, daß selbst das aufs Geratewohl zwischen andere Gewächse und zwischen die Baumreihen gesäte Getreide trotz der Äste gut gedeiht, da bereits

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die brütende Sonne der nahen Wüste spürbar ist. Staub, Geschrei, Schmutz und das Menschengewimmel der Markttage. Unerbittlich wie das Schicksal sind die eifrigen und nicht zu überzeugenden Pharisäer und Schriftgelehrten, die hier in der am günstigsten gelegenen Ecke des Marktplatzes mit großen Gesten disputieren, ihre Weisheit feilhalten und tun, als ob sie Jesus nicht sehen oder nicht kennen würden. Jesus geht weiter, um seine Mahlzeit auf einem anderen kleineren Platz zu sich zu nehmen, der fast am Stadtrand liegt und vom Astwerk von Bäumen aller Art überschattet wird. Ich habe den Eindruck, daß es sich um einen Teil des Hügels handelt, der erst seit kurzem in die bewohnte Gegend einbezogen worden ist und deshalb noch stark an seinen ursprünglichen natürlichen Zustand erinnert.

Der erste, der sich Jesus nähert, während er noch Brot und Oliven ißt, ist ein zerlumpter Mann, der ihn um ein Stück Brot bittet. Jesus gibt ihm das seine mit allen Oliven, die er in der Hand hat.

«Und du? Wir haben kein Geld mehr, du weißt es», bemerkt Petrus. «Wir haben alles Ananias gelassen ...»

«Das macht nichts. Ich habe keinen Hunger. Durst, das schon...»

Der Bettler sagt: «Dort hinten ist ein Brunnen. Aber warum hast du mir alles gegeben? Du hättest mir die Hälfte deines Brotes geben können... Wenn du keinen Abscheu davor empfindest, es aus meinen Händen zurückzunehmen...»

«Iß, iß. Ich kann ohne das Brot auskommen. Aber um dir den Verdacht zu nehmen, daß es mich ekelt, sollst du mir mit deinen Händen ein kleines Stückchen geben, und ich werde es essen, um dein Freund zu sein...»

Der Mann mit dem traurigen und leblosen Blick lächelt erstaunt und sagt: «Oh! Das ist das erste Mal, seit ich der arme Ogla bin, daß ein Mensch mir sagt, er wolle mein Freund sein!» Und er gibt Jesus ein Stückchen Brot. Dann fragt er: «Wer bist du? Wie heißt du?»

«Ich bin Jesus von Nazareth, der Rabbi von Galiläa.»

«Ah! Man hat mir von dir erzählt... Aber... bist du nicht der Messias? ...»

«Ich bin es.»

«Und du, der Messias, bist so gut zu den Bettlern? Der Tetrarch läßt uns von seinen Dienern verprügeln, wenn er uns auf seinem Weg sieht ...»

«Ich bin der Heiland; ich schlage nicht, ich liebe.»

Der Mann schaut ihn ganz fest an. Dann beginnt er leise zu weinen.

«Warum weinst du?»

«Weil ich gerettet werden möchte... Hast du keinen Durst mehr, Herr? Ich würde dich zum Brunnen führen und dir dort erzählen ...»

Jesus versteht, daß der Mann ihm etwas gestehen will, und erhebt sich mit den Worten: «Gehen wir!»

«Ich komme auch mit», sagt Petrus sofort.

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«Nein. Ich komme gleich zurück... Und im übrigen soll man einen reumütigen Menschen achten.»

Er geht mit dem Mann hinter ein Haus, wo das freie Feld beginnt.

«Dort ist der Brunnen... Trinke, und dann höre mich an.»

«Nein, Mann. Schütte erst dein Herz aus, dann... werde ich trinken. Und vielleicht finde ich eine noch viel bessere Quelle als das Grundwasser für meinen Durst.»

«Welche, Meister?»

«Deine Reue. Gehen wir unter die Bäume dort, hier sehen uns die Frauen. Komm», und er legt ihm eine Hand auf die Schulter und führt ihn unter ein dichtes Ölbaumgeäst.

«Woher weißt du, daß ich schuldbeladen und reumütig bin?»

«Oh... rede, und habe keine Angst vor mir.»

«Herr, wir waren sieben Brüder, aber ich wurde von der Frau geboren, die mein Vater als Witwer geheiratet hatte, und die anderen sechs haßten mich. Der Vater hinterließ bei seinem Tode allen das gleiche Erbteil. Aber die Brüder bestachen die Richter, enthielten mir jeglichen Anteil vor und vertrieben mich und meine Mutter unter schamlosen Anklagen. Sie starb, als ich sechzehn Jahre alt war... Sie starb an Auszehrung... und danach hatte ich niemanden mehr, der mich liebte...» Er weint ganz trostlos. Dann faßt er sich und fährt fort: «Die sechs Wohlhabenden und Glücklichen bereicherten sich auch mit meinem Anteil, und ich starb fast vor Hunger, weil ich krank geworden war, als ich meine kranke Mutter pflegte... Dann aber hat Gott sie einen nach dem anderen geschlagen. Ich habe sie so sehr verflucht und gehaßt, daß etwas wie der "Böse Blick" über sie kam. Habe ich Unrecht getan? Sicher. Ich weiß es, und ich wußte es auch damals. Aber wie sollte ich sie nicht hassen und verfluchen? Der letzte, der in Wirklichkeit als dritter zur Welt gekommen war, widerstand allen Verwünschungen. Er wurde sogar immer reicher, indem er sich die Güter der anderen fünf aneignete; die der drei jüngsten gemäß dem Gesetz, da sie unverheiratet waren; die des ältesten, indem er dessen Frau heiratete, die kinderlos war; und die der Witwe und der Kinder des zweiten Bruders, indem er ihnen durch Betrug und Wucher einen großen Teil des väterlichen Erbes stahl. Wenn er mir zufällig auf dem Markt begegnete, wo ich als Diener eines Reichen Lebensmittel verkaufte, verhöhnte er mich und schlug mich sogar... Eines Abends bin ich ihm dann begegnet. Ich war allein, und auch er war allein. Er hatte etwas Wein getrunken ... und ich war trunken von Erinnerungen und Haß... Es waren gerade zehn Jahre vergangen, seit meine Mutter gestorben war. Er beschimpfte mich, indem er meine Mutter schmähte... Er nannte sie "unreine Hündin", und mich nannte er den "Sohn einer Hyäne"... Herr, hätte er nur meine Mutter nicht beschimpft... ich hätte alles ertragen. Aber er hat sie beschimpft ... Da habe ich ihn an der Kehle gepackt. Wir haben miteinander gerungen ...

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Ich wollte ihn nur verprügeln... Aber er ist zu Boden gefallen und der Abhang war mit schlüpfrigem Grün bedeckt ... und unten, in der Tiefe, waren eine Schlucht und ein Gießbach. Er glitt aus, betrunken wie er war, und stürzte hinab... Sie suchen ihn noch heute, nach so vielen Jahren. Aber er liegt in einem der Wildbäche des Libanon unter schweren Steinen und Sand begraben. Ich bin nicht mehr zu meinem Herrn zurückgekehrt, und er ist nicht mehr nach Caesarea Philippi gekommen. Ich bin friedlos umhergeirrt... Ah! Der Fluch des Kain! Angst vor dem Leben! ... Angst vor dem Sterben! ... Ich bin krank geworden... und dann... habe ich von dir gehört... Aber ich fürchte mich... Sie sagten, du sähest in das Herz des Menschen. Doch die Rabbis in Israel sind so schlecht! ... Sie kennen kein Erbarmen... Du, der Rabbi der Rabbis, du warst mein Schrecken... Ich bin vor dir geflohen, und doch möchte ich Verzeihung finden ...» Dann sinkt er zu Boden und weint...

Jesus schaut ihn an und sagt leise: «Auch diese Sünden will ich auf mich nehmen! ... Sohn, höre zu! Ich bin die Barmherzigkeit, nicht der Schrecken des Menschen. Auch für dich bin ich gekommen. Schäme dich nicht vor mir... Ich bin der Erlöser. Willst du Verzeihung erhalten? Was soll ich dir verzeihen?»

«Mein Verbrechen, und du fragst mich? Ich habe meinen Bruder getötet.»

«Du hast gesagt: "Ich wollte ihn nur schlagen", denn in jenem Augenblick warst du beleidigt und zornerfüllt. Doch als du deine Brüder gehaßt und verflucht hast, nicht einen, sondern alle sechs, warst du nicht beleidigt und erzürnt. Haß, Verwünschung und Schadenfreude waren damals dein geistiges Brot, nicht wahr?»

«Ja, Herr. Zehn Jahre lang waren sie mein Brot.»

«In Wirklichkeit hat dein größtes Verbrechen in dem Augenblick begonnen, als du angefangen hast, zu hassen und zu verfluchen. In dieser Hinsicht bist du ein sechsfacher Brudermörder.»

«Aber Herr, sie haben mich doch ins Unglück gestürzt und gehaßt... und meine Mutter ist ihretwegen vor Hunger gestorben ...»

«Willst du behaupten, daß du recht hattest, Rache zu üben?»

«Ja, das will ich sagen.»

«Du hast unrecht. Gott ist da, um zu strafen, und du hättest lieben sollen. Dann hätte Gott dich auf Erden und im Himmel gesegnet.»

«Nun wird er mich also nie segnen?»

«Die Reue bringt den Segen zurück. Aber wieviel Schmerz und wieviel Kummer hast du dir selbst verursacht! Viel mehr, als deine Brüder dir angetan haben, hast du dir selbst durch deinen Haß zugefügt...»

«Das ist wahr! Das ist wahr! Ein Schauder, der seit sechsundzwanzig Jahren anhält. Du siehst, daß mich meine Schuld schmerzt. Ich bitte um nichts, was mein irdisches Leben betrifft. Mittellos und krank bin ich, und

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so soll es bleiben, denn ich will leiden und sühnen. Aber gib mir den Frieden Gottes! Ich habe im Tempel Opfer dargebracht und Hunger gelitten, um das Geld für die Opfergaben zusammenzusparen. Aber ich konnte mein Verbrechen nicht gestehen und weiß nicht, ob mein Opfer angenommen worden ist.»

«Ganz gewiß nicht. Selbst wenn du jeden Tag eines dargebracht hättest, hätte es dir keinen Nutzen gebracht, weil es mit Lügen verbunden war. Der Ritus ist völlig nutzlos, wenn er nicht mit einem aufrichtigen Schuldbekenntnis beginnt. Was hast du dem Priester gesagt?»

«Ich habe gesagt: "Ich habe aus Unkenntnis gesündigt und Dinge begangen, die vom Herrn verboten sind, und nun will ich sühnen." Dabei habe ich mir gedacht: "Ich weiß, worin ich gefehlt habe, und Gott weiß es auch. Aber einem Menschen kann ich es nicht klar gestehen. Gott ist allwissend und weiß, daß ich an meine Sünde denke."»

«Heimlicher Vorbehalt, unwürdige Ausflüchte. Der Höchste verabscheut das. Wenn man sündigt, muß man sühnen. Tue es nicht mehr.»

«Nein, Herr, und wird mir dann verziehen werden? Oder muß ich alles eingestehen? Muß ich mit meinen Leben für das Leben, das ich genommen habe, bezahlen? Ich bin zufrieden, wenn ich mit der Verzeihung Gottes sterben kann.»

«Lebe, um zu sühnen. Du könntest weder der Witwe ihren Gatten, noch den Kindern ihren Vater wiedergeben... Bevor man mordet, bevor man sich vom Haß beherrschen läßt, sollte man überlegen! Aber stehe auf und beginne ein neues Leben! Auf dem Weg wirst du meine Jünger antreffen. Sie werden gewiß die Berge von Judäa zwischen Thekoa und Bethlehem und weiter bis nach Hebron durchwandern. Sage ihnen, daß Jesus dich geschickt hat, und sage ihnen, daß er vor Pfingsten über Bethsur und Bether nach Jerusalern zurückkehren wird. Frage nach Elias, Joseph, Levi, Matthias, Johannes, Benjamin, Daniel und Isaak. Wirst du diese Namen behalten? Wende dich besonders an sie. Nun laß uns gehen.»

«Trinkst du nicht?»

«Ich habe deine Tränen getrunken. Eine Seele, die zu Gott zurückkehrt! Es gibt nichts, was mich mehr erquicken könnte.»

«Ist mir also verziehen worden?! Du sagst: "Kehre zu Gott zurück"...»

«Ja, es ist dir verziehen worden. Aber hasse nie mehr.»

Der Mann neigt sich erneut zu Boden, denn er hatte sich inzwischen erhoben, und küßt die Füße Jesu.

Sie kehren nun zu den Aposteln zurück und finden sie im Streitgespräch mit einigen Schriftgelehrten.

«Seht, da kommt der Meister. Er kann euch antworten und sagen, daß ihr Sünder seid.»

«Was gibt es?» fragt Jesus, nachdem er auf seinen freundlichen Gruß keine Antwort erhalten hat.

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«Meister, sie quälen uns mit Fragen und Schmähreden ...»

«Belästigungen zu ertragen, ist ein Werk der Barmherzigkeit.»

«Aber sie beleidigen dich. Sie machen dich zur Zielscheibe ihres Spottes... und das Volk ist wankelmütig. Siehst du? Es ist uns gelungen, Menschen um uns zu versammeln... und was ist nun von ihnen übriggeblieben? Zwei oder drei Frauen...»

«O nein! Ihr habt jetzt auch einen Mann bei euch, einen ganz schmutzigen, und das ist schon zu viel für euch! Meister, verunreinigst du dich nicht zu sehr, du, der du immer sagst, daß Unreinheit dich anekelt?»höhnt ein junger Schriftgelehrter, indem er auf den Bettler an der Seite Jesu zeigt.

«Das ist keine Unreinheit. Das ist nicht die Unreinheit, die mich anwidert. Es ist "der Arme", ein Armer aber verursacht keinen Ekel. Sein Elend sollte vielmehr die Seele den Gefühlen brüderlichen Mitleids öffnen. Ich habe Abscheu vor sittlichem Elend, vor stinkenden Herzen, zerfetzten Seelen und Seelen mit eiternden Wunden.»

«Weißt du denn, ob er nicht so ist?»

«Ich weiß, daß er glaubt und seine Hoffnung auf Gott und seine Barmherzigkeit setzt, da er sie nun kennengelernt hat.»

«Kennengelernt hat? Wo wohnt sie denn? Sag es uns, damit auch wir ihr ins Gesicht schauen können. Ha, ha! Der furchtbare Gott, den Moses nicht anzuschauen wagte, muß auch in seiner Barmherzigkeit, und selbst, wenn er nach so vielen Jahrhunderten der Strenge weich geworden sein sollte, ein furchtbares Antlitz haben!» erwidert der junge Schriftgelehrte und beginnt ein abschätziges Gelächter, das schlimmer als eine Lästerung ist.

«Ich, der ich mit dir rede, bin die Barmherzigkeit Gottes!» ruft Jesus laut aus. Hoch aufgerichtet steht er da und seine Augen blitzen so mächtig, daß ich nicht weiß, wie es möglich ist, daß den anderen keine gewaltige Furcht befällt.

Doch wenn er auch nicht flicht, so verstummt er doch, während ein anderer seinen Platz einnimmt: «Oh, wie viele unnütze Worte! Wir möchten nur glauben können. Besseres können wir nicht verlangen. Aber u

glauben zu können, braucht man Beweise. Meister, weißt du, was Gilgal für uns ist?»

«Hältst du mich für töricht?» fragt Jesus, und in einen langsamen und etwas gedehnten Psalmton fallend, beginnt er: «"Josua erhob sich vor Tagesanbruch und brach das Lager ab. Er verließ Schittim und begab sich mit allen Söhnen Israels zum Jordan, wo sie sich drei Tage lang aufhielten. Am Ende des dritten Tages eilten die Herolde durch das Lager und riefen aus: 'Wenn ihr die von den levitischen Priestern getragene Bundes lade des Herrn, eures Gottes, erblickt, dann brecht auch ihr von eurem Standort auf und folgt ihr, damit ihr schon von weitem den Weg, den ihr

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nehmen sollt, erkennen könnt, da ihr ihn noch nie zuvor gezogen seid. Nur muß zwischen euch und der Lade ein Abstand von etwa zweitausend Ellen bleiben .... ..»

«Genug, genug! Die Lektion beherrschst du. Wir aber möchten nun, daß du ein ähnliches Wunder wirkst, damit wir glauben können. Zu Ostern, im Tempel, waren wir erstaunt, als uns ein Fährmann die Nachricht überbrachte, daß du den Fluß, der Hochwasser führte, aufgehalten hattest. Nun, wenn du für einen beliebigen Menschen so viel getan hast, dann steige für uns, die wir viel mehr wert sind, mit den Deinen in den Jordan und durchquere ihn trockenen Fußes, wie es Moses beim Roten Meer und Josua bei Gilgal getan haben. Auf, also! Zauberstücke sind nur gut für Unwissende, wir aber lassen uns durch deine Schwarze Kunst nicht verführen, obwohl du, das ist bekannt, in den Geheimnissen Ägyptens und den magischen Formeln bewandert bist.»

«Ich bedarf ihrer nicht.»

«Gehen wir zum Fluß hinab, und wir werden an dich glauben.»

«Es steht geschrieben: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen."»

«Aber du bist nicht Gott. Du bist ein armer Verrückter. Du bist einer, der das unwissende Volk verführt. Mit ihm hast du es leicht, denn Beelzebub ist mit dir. Aber bei uns, die wir uns als Exorzisten auszeichnen, erreichst du weniger als nichts», sagt einer der Schriftgelehrten gehässig.

«Beleidige ihn nicht! Bitte ihn, uns zufriedenzustellen. So erniedrigst du ihn nur und er verliert seine Kraft. Auf, Rabbi von Nazareth! Gib uns einen Beweis, und wir werden dich anbeten», sagt ein alter Schriftgelehrter heuchlerisch, und scheint mit seiner schlangenhaften Schmeichelei feindseliger zu sein als die anderen mit ihrer offenen Rohheit.

Jesus schaut ihn an. Dann wendet er sich nach Südwesten, streckt seine Arme aus und spricht: «Dort ist die Wüste von Judäa, und dort wurde mir vom Geist des Bösen gesagt, ich solle den Herrn, meinen Gott, versuchen. Aber ich habe geantwortet: "Weiche von mir, Satan! Es steht geschrieben: Du sollst Gott allein anbeten, ihn nicht versuchen und ihm über die Gesetze des Fleisches und des Blutes hinaus gehorchen!" Und das sage ich auch zu euch.»

«Uns gibst du den Namen Satan? Uns? Oh, du Verfluchter!» und als ob sie eher Straßenjungen als Gesetzeslehrer wären, heben sie Steine vom Boden auf, um sie nach ihm zu werfen, und schreien: «Geh fort! Geh fort, du ewig Verfluchter!»

Jesus schaut sie furchtlos an. Er lähmt sie in ihrem gotteslästerlichen Unterfangen, nimmt seinen Mantel und sagt: «Gehen wir! Mann, geh du vor mir her», und er wendet sich dem Brunnen und dem Ölgarten des Geständnisses zu. Dort angelangt... neigt er niedergeschlagen das Haupt,

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und zwei Tränen, die er nicht zurückhalten kann, rollen über das bleiche Antlitz herab.

Sie kommen an einen Weg. Jesus bleibt stehen und sagt zu dem Bettler: «Geld kann ich dir nicht geben. Ich habe keines. Aber ich segne dich. Leb wohl. Tu, was ich dir gesagt habe.»

Sie trennen sich ... Die Apostel sind betrübt. Sie reden nicht und schauen einander verstohlen an...

Jesus unterbricht ihr Schweigen und spricht wieder wie vor der Unterbrechung durch die Schriftgelehrten im Ton dessen, der einen Psalm vorträgt: «"Und der Herr sprach zu Josua: 'Nimm zwölf Männer, einen aus jedem Stamm, und laß sie mitten ins Flußbett des Jordan steigen, da wo die Füße der Priester feststanden. Sie sollen zwölf harte Steine nehmen, und sie an dem Platz niederlegen, an dem ihr diese Nacht die Zelte aufschlagen werdet.' Josua berief zwölf Männer, die er aus den Stämmen Israels hatte bestimmen lassen, und sagte zu ihnen: 'Zieht vor der Lade des Herrn, eures Gottes, mitten in den Jordan hinein und nehmt aus der Mitte seines Bettes je einen Stein, um damit ein Zeichen zu errichten. Wenn euch eure Söhne später nach der Bedeutung dieses Zeichens fragen werden, dann antwortet ihnen: Die Wasser des Jordan haben sich gespalten vor der Lade des Bundes des Herrn, als sie hindurchzog, und diese Steine sollen für die Israeliten ein Gedächtnis auf ewig an dieses Ereignis sein.' "»

Nun erhebt Jesus das Haupt und läßt seinen Blick über die Zwölf schweifen, die auf ihn schauen. Mit einer Stimme wie in den Augenblicken größter Traurigkeit sagt er: «Die Lade stand im Fluß; jedoch nicht das Wasser, sondern der Himmel öffnete sich aus Ehrfurcht vor dem Wort, das die Wasser noch heiligte für die Lade, die im Fluß stand. Das Wort hat sich zwölf sehr harte Steine erwählt, denn sie sollen dauern bis zum Ende der Welt. Sie sollen ja den Grundstein des neuen Tempels und des ewigen Jerusalern bilden. Zwölf. Bedenkt es. Das soll die Zahl sein. Danach erwählte er weitere zwölf, damit sie das zweite Zeugnis ablegten: die ersten Hirtenjünger, den aussätzigen Abel und den lahmen Samuel, die ersten Geheilten ... und Dankbaren... Ganz hart, denn sie werden den Schlägen Israels, das Gott haßt, widerstehen müssen! ...»

Wie herzzerreißend, wie schwach, fast unhörbar wird die Stimme Jesu, während er über die Hartherzigkeit Israels weint. Dann fährt er fort: «Im Fluß haben die Jahrhunderte und die Menschen Gedächtnissteine verstreut... Auf der Erde wird der Haß meine Zwölf zerstreuen. An den Ufern des Flusses haben die Jahrhunderte und die Menschen den Gedächtnisaltar zerstört ... Die ersten und die zweiten Steine erkennt man nicht wieder, denn sie haben zu allen möglichen Dingen gedient durch den Haß der Dämonen, die nicht nur in der Hölle hausen, sondern auch im Innern der Menschen. Einige dienten auch zum Morden. Wer weiß, ob

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die Steinbrocken, die gegen mich erhoben wurden, nicht etwa Stücke waren von den harten Steinen, die die Männer Josuas gewählt hatten? Sehr harte! Feindliche! Oh, sehr harte Steine! Auch unter den Meinen wird es solche geben, die zerstreut werden und den Dämonen als Handlanger dienen... Sie werden zu Splittern werden, mit denen man mich zu treffen versuchen wird... und werden nicht mehr auserwählte Steine sein... sondern Teufel... Oh! Jakobus, mein Bruder! Steinhart ist Israel gegen seinen Herrn!» Was ich noch nie gesehen habe: Jesus, überwältigt von ich weiß nicht welchem mächtigen Schmerz, lehnt sich an die Schulter des Jakobus des Alphäus und umarmt ihn weinend...

435. NACH ENGEDI; TRENNUNG UND ABSCHIED VON JUDAS UND SIMON

Sie müssen wohl in der mondhellen Nacht weitergegangen sein. Vielleicht haben sie sich einige Stunden in einer Höhle etwas Ruhe gegönnt und sind dann beim Morgengrauen wieder aufgebrochen. Es ist offensichtlich, daß sie wegen des schwierigen Weges, der sie durch Dorngestrüpp, über Felsen und hinderliche Schlinggewächse geführt hat, müde sind. Simon der Zelote führt die Gruppe an. Er scheint ortskundig zu sein und entschuldigt sich wegen des beschwerlichen Weges, als ob er schuld daran wäre.

«Wenn wir auf den Bergen sind, die ihr dort seht, werden wir es leichter haben, und ich verspreche euch wilden Honig und reines Wasser in Hülle und Fülle...»

«Wasser? Da werfe ich mich hinein! Der Sand hat meine Füße aufgerieben, als wären sie über Salz gegangen, und die ganze Haut brennt mir. Welch eine verfluchte Gegend! Oh, man merkt, man fühlt schon, daß wir den Orten nahe sind, die mit Feuer und Schwefel vom Himmel bestraft worden sind. Es ist etwas davon im Wind, in der Erde, in den Dornen, in allem zurückgeblieben!» ruft Petrus aus.

«Doch einmal war es schön hier, nicht wahr, Meister?»

«Sehr schön. In den ersten Jahrhunderten der Weltgeschichte waren diese Orte hier ein kleines Paradies. Der Boden war äußerst fruchtbar und reich an Quellen, die zu den verschiedensten Zwecken dienten. Alles war dazu geschaffen, nur Gutes hervorzubringen. Dann... schien die Unordnung der Menschen plötzlich auf die Elemente überzugehen, und das Verderben war unvermeidlich. Die Weisen der heidnischen Welt erklären die furchtbare Strafe auf vielerlei Weise. Doch es sind immer menschliche Erklärungen, die bisweilen mit einer abergläubischen Furcht verbunden Sind. Aber glaubt mir: Es war einzig der Wille Gottes, der den Elementen

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zu gebieten vermochte. Die Elemente des Himmels riefen jene des Abgrundes hervor, sie schüttelten sich gegenseitig und maßen sich gegeneinander wie in einem Hexentanz. Die Blitze entzündeten das Pech, das aus den Adern der Erde drang und sich überall ausbreitete. Das Feuer aus dem Inneren der Erde, das Feuer auf Erden und das Feuer des Himmels vereinigten sich, um das irdische Feuer zu nähren, und die Schwerter der Blitze brachten der in schrecklicher Verwirrung zitternden Erde immer neue Wunden bei. Über Stadien und Stadien verbrannte und verzehrte sich eine Gegend, die einst ein Paradies gewesen war, und es wurde daraus die Hölle, die ihr jetzt seht und in der es kein Leben geben kann.»

Die Apostel hören aufmerksam zu.

Bartholomäus fragt. «Glaubst du, daß man, wenn sich die dichte Decke des Wassers austrocknen ließe, auf dem Grund des großen Meeres die Reste der bestraften Städte finden würde?»

«Gewiß, und zwar fast unversehrt; denn das hohe Wasser bildet eine Art Schutzschicht über den begrabenen Städten, und der Jordan hat sie mit einer Schicht Sand bedeckt. So sind sie nun zweifach begraben und werden nie wieder erstehen als Zeichen derer, die in ihrer Schuld verharrten und unerbittlich begraben wurden unter dem Fluch Gottes und der Gewalt Satans, dem sie ihr Leben lang mit so viel Eifer gedient hatten.»

«Und hier suchte Mattathias des Johannes des Simeon, der gerechte Hasmonäer, der mit seinen Söhnen der Ruhm Israels ist, seine Zuflucht?»

«Hier, zwischen Bergen und Wüsteneien, und hier richtete er das Volk und sein Heer wieder auf, und Gott war mit ihm.»

«Nun, für ihn war es leichter, denn die Asidäer verfuhren gerechter mit ihm als die Pharisäer mit dir!»

«Oh, gerechter als die Pharisäer sein, ist wirklich leicht! Leichter als das Stechen für diesen Dorn, der sich mir ins Bein gebohrt hat», sagt Petrus, der beim Zuhören nicht auf den Weg geachtet hat und so in ein Dorngestrüpp geraten ist, das ihm die Waden blutig gestochen hat.

«Auf der Höhe wird es nicht so viele geben. Siehst du nicht, wie sie schon weniger werden?» tröstet ihn Simon der Zelote.

«Hm! Du bist sehr erfahren in diesen Dingen ...»

«Ich habe hier gelebt als Geächteter und Verfolgter...»

«Ja, dann! ...»

Tatsächlich kleiden sich die Höhen in ein weniger lästiges Grün, obwohl es dort wenig Schatten gibt. Die Gräser sind nicht hoch, dafür aber sehr wohlriechend, und verstreute Blumen bilden einen farbigen Teppich. Zahlreiche Bienen tummeln sich hier und fliegen dann in die Höhlen, die in den Flanken der Berge recht zahlreich sind. Unter dem Schutz von Efeu und Blüten des Geißblatts lagern sie ihren Honig in natürlichen Bienenstöcken. Simon der Zelote geht in eine Höhle und kommt mit goldenen

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Honigwaben zurück. Dann geht er auch in andere, bis er für alle genug gefunden hat, und bietet sie dem Meister und den Freunden an, die gern von dem süßen fließenden Honig kosten.

«Wenn jetzt Brot zu haben wäre! Wie gut dieser Honig schmeckt!»sagt Thomas.

«Oh, auch ohne Brot ist er gut, besser als die Ähren der Philister. Und... ich hoffe, daß kein Pharisäer kommt und uns sagt, das dürfe man nicht essen», sagt Jakobus des Zebedäus.

So gehen sie essend dahin und kommen zu einer Zisterne, in die sich die Wasser einiger Rinnsale ergießen, die alsdann irgendwohin abgeleitet werden. Das Wasser, das über den Rand des Beckens tritt, ist frisch, kristallklar und wird von der Wölbung des Felsens, in den die Zisterne gehauen ist, vor Staub und Sonne geschützt. Gleich nebenan hat sich im schwärzlichen Felsen ein winziger Teich gebildet.

Mit offenkundigem Genuß entkleiden sich die Apostel, um nacheinander in das unerwartete Becken zu tauchen. Aber vorher haben sie Jesus gebeten, sich darin zu erfrischen, «um an ihren Gliedern geheiligt zu werden», wie Matthäus sich ausdrückt. Dann nehmen sie den Marsch wieder auf, erquickt, wenn auch hungriger als zuvor, und die Hungrigsten unter ihnen begnügen sich nicht mit dem Honig; sie kauen an Stengeln von wildem Fenchel und an anderen eßbaren Schößlingen, deren Namen mir unbekannt sind.

Die Aussicht von den Hochebenen dieser bizarren Berge, die mit einem gewaltigen Schwertschlag geköpft worden zu sein scheinen, ist herrlich. Ausschnitte von anderen grünen Bergen und fruchtbaren Ebenen werden im Süden sichtbar; ebenso Teile des Toten Meeres, die im Osten erscheinen mit ihren entfernten Bergen, etwas nebelhaft unter leichtem Gewölk. Gegen Norden sieht man in der Ferne zwischen Bergkämmen das Grün der Jordanebene, im Westen die hohen Berge von Judäa.

Die Sonne beginnt zu brennen, und Petrus ist der Ansicht, daß «diese Wolken über den Bergen von Moab Vorzeichen großer Hitze sind.»

«Jetzt gehen wir in das Kedrontal hinab. Dort gibt es genügend Schatten», erklärt der Zelote.

«Der Kedron!?! Wie kommt es, daß wir so schnell ins Kedrontal gelangen?»

«Ja, Simon des Jonas. Es ist ein schwerer Weg gewesen, aber wie sehr haben wir dadurch abgekürzt! Durch das Tal gelangt man schnell nach Jerusalem», erklärt der Zelote.

«Und nach Bethanien... Ich müßte einige von euch nach Bethanien schicken, damit sie den Schwestern sagen, daß sie Egla zu Nike bringen sollen. Sie hat mich so sehr darum gebeten, und es ist eine gerechte Bitte. Als Witwe ohne Kinder wird auch sie eine heilige Liebe finden, und das elternlose Mädchen wird eine Mutter haben, die sie in unserem alten Glauben

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und auch im meinigen heranbildet. Ich würde am liebsten mitkommen. Es wäre eine friedliche Ruhepause für die verbitterte Seele... Im Hause des Lazarus findet das Herz des Gesalbten nur Liebe... Aber der Weg, den ich vor Pfingsten zurücklegen muß, ist noch lang!»

«Schicke mich, Meister, und mit mir jemanden, der gut zu Fuß ist. Wir werden nach Bethanien gehen und anschließend nach Kerioth hinauf, wo wir uns dann treffen», sagt Iskariot begeistert. Die anderen hingegen, die für diesen Marsch, der sie vom Meister trennen würde, in Betracht kommen, sind durchaus nicht begeistert. Jesus denkt nach, schaut gedankenvoll auf Judas und scheint noch nicht sicher zu sein, ob er nachgeben soll. Judas drängt: «Ja, Meister! Sag ja. Tu mir den Gefallen...»

«Du bist von allen am wenigsten dazu geeignet, nach Jerusalern zu gehen, Judas!»

«Warum, Herr? Ich kenne mich dort besser aus als jeder andere 1»

«Gerade deshalb! ... Es ist dir nicht nur bekannt, sondern es beeinflußt dich auch mehr als jeden anderen.»

«Meister, ich gebe dir mein Wort, daß ich mich nicht in Jerusalern aufhalten und niemanden von Israel von mir aus besuchen werde... Aber laß mich gehen. Ich werde dir nach Kerioth vorausgehen und...»

«Und du wirst nicht darauf drängen, daß mir menschliche Ehren erwiesen werden?»

«Nein, Meister. Ich verspreche es dir.»

Jesus denkt noch immer nach.

«Warum zögerst du so sehr, Meister? So sehr mißtraust du mir?»

«Du bist schwach, Judas, und sobald du dich von deiner Kraftquelle entfernst, fällst du! Seit einiger Zeit bist du so gut! Warum willst du dich wieder verwirren lassen und mir Schmerz bereiten?»

«Nein, Meister. Ich will dies auf keinen Fall tun. Eines Tages werde ich wohl ohne dich auskommen müssen. Und dann? Was werde ich machen, wenn ich mich nicht darauf vorbereitet habe?»

«Judas hat recht», sagen einige.

«Nun gut, dann geh! ... Geh mit meinem Bruder Jakobus.»

Die anderen atmen erleichtert auf, Jakobus hingegen atmet schwer, sagt aber willfährig: «Ja, mein Herr. Segne uns, und dann werden wir uns auf den Weg machen.»

Simon der Zelote bemitleidet ihn und sagt: «Meister, Väter nehmen gern die Stelle ihrer Söhne ein, um ihnen Freude zu bereiten. Diesen hie habe ich zusammen mit Judas als Sohn angenommen. Viel Zeit ist seither verstrichen, aber meine Gesinnung ist immer die gleiche geblieben. Nimm meine Bitte an: Schicke mich mit Judas des Simon. Ich bin alt, aber widerstandsfähig wie ein Jüngling, und Judas wird sich über mich nicht zu beklagen haben.»

«Nein, es ist nicht recht, daß du dich opferst und dich statt meiner voll

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Herrn trennst. Gewiß wäre es schmerzlich für dich, nicht mit ihm zu gehen...» sagt Jakobus des Alphäus.

«Der Schmerz wird durch die Freude gemildert, daß ich dich beim Meister lassen kann. Du kannst mir dann später erzählen, was ihr getan habt ... andererseits ... gehe ich gern nach Bethanien...» schließt der Zelote, gleichsam um den Wert seines Opfers zu schmälern.

Gut. Dann werdet ihr beiden gehen. Vorher aber wollen wir noch zusammen bis zu der Ortschaft dort gehen. Wer will hinaufsteigen und im Namen Gottes Brot erbitten?»

«Ich! Ich! Ich!» Alle wollen gehen. Aber Jesus hält Judas Iskariot zurück.

Als sich alle entfernt haben, nimmt Jesus Judas bei der Hand und spricht zu ihm, indem er ihm in die Augen schaut. Es scheint, als wolle er seine Gedanken auf ihn übertragen, und dies mit solcher Intensität, daß Judas keine Gedanken mehr zu hegen vermag, die nicht mit den seinen übereinstimmen. «Judas... schade dir nicht selbst! Schade dir nicht selbst, mein Judas! Fühlst du dich seit einiger Zeit nicht viel ruhiger und glücklicher, frei von den Blutsaugern deines schlechteren Ichs, jenes menschlichen Ichs, das so leicht zum Spielball Satans und der Welt wird? Ja, du fühlst dich so! Nun bewahre dir deinen Frieden, dein Wohlbefinden. Schade dir nicht selbst, Judas. Ich lese in deinem Inneren. Du bist nun in einer so guten Verfassung! Oh, könnte ich dich doch, könnte ich dich auf Kosten meines eigenen Blutes so bewahren; könnte ich doch das letzte Bollwerk zerstören, in dem sich dein großer Feind verschanzt, um dich ganz in Geist umzuwandeln, in Verstand des Geistes, Liebe des Geistes, des Geistes, des Geistes!»

Judas, Brust an Brust, Auge in Auge mit dem Meister, die Hände in seinen Händen, ist ganz verwirrt. Er flüstert: «Mir selbst schaden? Das letzte Bollwerk? Was meinst du damit?»...

«Was ich damit meine? Du weißt es. Du weißt, wodurch du dir schadest! Durch deine Gedanken über menschlichen Ruhm und Freundschaften, die dir zu diesem Ruhm verhelfen sollten. Israel liebt dich nicht, glaube mir. Es haßt dich, wie es auch mich haßt und wie es jeden haßt, der etwas von einem wahrscheinlichen Triumphator an sich hat. Gerade deswegen wirst du gehaßt, weil du deine Gedanken nicht verbirgst. Glaube nicht ihren trügerischen Worten, ihren trügerischen Fragen, die sie unter dem Vorwand stellen, sich für dich zu interessieren und dir helfen zu wollen. Sie umgarnen dich, um dir zu schaden und herauszufinden, auf welche Art sie dir schaden können. Ich bitte dich nicht um meinetwillen, sondern um deinetwillen, allein um deinetwillen. Selbst wenn sie mich zur Zielscheibe ihrer Schandtaten machen, werde ich doch immer der Herr sein. Sie können das Fleisch quälen, den Leib töten, mehr aber können sie nicht. Aber du! Doch du! Dir würden sie sogar die Seele töten... Fliehe

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die Versuchung, mein Freund! Versprich mir, daß du sie fliehen wirst. Gib deinem armen, verfolgten, betrübten Meister dieses Versprechen des Friedens!»

Er hat ihn in seine Arme genommen und, Wange an Wange, spricht er ihm ins Ohr, so daß sich sein dunkelblondes Haar unter die schweren braunen Locken des Judas mischt.

«Ich weiß, daß ich leiden und sterben muß. Ich weiß, daß meine Krone nur die eines Märtyrers sein wird. Ich weiß, daß mein Purpur nur der meines eigenen Blutes sein wird. Dazu bin ich gekommen, denn durch dieses Martyrium werde ich die Menschheit erlösen, und die Liebe drängt mich seit ewigen Zeiten zu dieser Tat. Aber ich möchte, daß keiner der Meinen verlorengehe. Oh, alle Menschen sind mir teuer, denn in ihnen ist das Ebenbild meines Vaters, die unsterbliche Seele, die er erschaffen hat. Aber ihr, meine Geliebten und Auserwählten, ihr, Blut meines Blutes, ihr dürft nicht verlorengehen! Oh, es gäbe keine Qual, die dieser gleich wäre, selbst wenn Satan mich mit seinen vom höllischen Feuer glühenden Waffen durchbohren, wenn er mich beißen und umklammern würde, er, die Sünde, der Schrecken, der Schauder, es wäre eine geringere Qual für mich als der Verlust eines meiner Auserwählten... Judas, Judas, mein Judas! Oder willst du, daß ich den Vater bitte, mich dreimal die schreckliche Passion erleiden zu lassen, und daß ich sie zweimal nur für dich erleide, um dich zu retten? Sage es mir, mein Freund, und ich werde es tun. Ich werde ihr bitten, er möge meine Leiden dafür bis ins Unendliche vermehren. Ich liebe dich Judas, so sehr liebe ich dich. Ich möchte dir mich selbst schenken, aus dir mich selbst machen, um dich vor dir selbst zu retten...»

«Weine nicht, sprich nicht so, Meister. Auch ich liebe dich. Ich würde mich selbst hingeben, um dich stark, geehrt, gefürchtet und im Triumph zu sehen. Ich werde dich nicht mit Vollkommenheit lieben können, und mein Gedanke wird nie vollkommen sein. Aber alles, was ich bin, setze ich ein, und manchmal übertreibe ich vielleicht in dem Bestreben, dich geliebt zu sehen. Aber ich schwöre dir, bei Jahwe schwöre ich dir, daß ich weder Schriftgelehrte noch Sadduzäer, weder Judäer noch Priester aufsuche werde. Sie werden sagen, ich sei wahnsinnig, aber das macht nichts. Es genügt mir, daß du nicht um mich fürchtest. Bist du zufrieden? Ein Kuß Meister, als Zeichen deines Segens und deines Schutzes.»

Mit einem Kuß trennen sie sich, während die anderen im Laufschritt herunterkommen und große Brotkuchen und frische Käselaibe schwenken.

Sie setzen sich auf den grünen Rasen am Ufer und verteilen die Nahrung untereinander, während einige von der freundlichen Aufnahme berichten, die sie in den wenigen Häusern gefunden haben... und davon daß es dort Leute gibt, die die Hirtenjünger kennen und dem Messias wohlgesinnt sind.

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«Wir haben nicht gesagt, daß du hier bist, denn sonst...» schließt Thomas.

«Wir werden versuchen, bisweilen hier vorbeizukommen. Man darf niemanden vernachlässigen», entgegnet Jesus.

Die Mahlzeit ist zu Ende. Jesus erhebt sich und segnet die beiden, die nach Bethanien gehen und nicht den Abend abwarten, da das Tal schattig und feucht ist.

Jesus legt sich mit den übrigen zehn ins Gras, und sie ruhen sich in Erwartung des Sonnenunterganges aus, um dann auf die Straße nach Engedi und Masada zurückzukehren, wie ich aus ihren Gesprächen entnehme.

436. ANKUNFT IN ENGEDI

Die Wanderer, so müde sie von dem langen Marsch auch sein mögen, den sie wohl in zwei Etappen von Sonnenuntergang bis zu diesem Morgenrot auf gewiß nicht allzu leichten Pfaden zurückgelegt haben, können nicht umhin, einen Ruf der Bewunderung auszustoßen, als sie an einer Küste, die in der ersten Morgensonne wie unzählige Diamanten aufleuchtet, das letzte Stück Weges zurückgelegt haben und sich vor ihnen das vollständige Panorama des Toten Meeres mit seinen beiden Ufern auftut.

Im Westen liegt ein schmaler Uferstreifen zwischen dem Meer und der Reihe der Berge, die aus niedrigen Höhen bestehen und die letzten Ausläufer der Bergketten von Judäa bilden. Es ist, als ob sich eine Welle auf das verlassene Ufer vorgeschoben und, dort stehengeblieben, sich mit üppiger Vegetation bedeckt hätte nach dem Verlassen der nackten Wüste, die zwischen ihr und der nächsten Bergkette von Judäa liegt. Das östliche Ufer hingegen besteht aus Bergen, die steil ins Tote Meer abfallen. Man hat wirklich den Eindruck, als habe hier ein furchtbares Erdbeben die Bergspitzen abgeschlagen und am Meeresufer senkrechte Spalten gebildet, aus denen sich mehr oder weniger große Bäche ins Meer ergießen, wo sie dann in den dunklen, verfluchten Wassern des Salzmeeres verdampfen. Dahinter, jenseits des Meeres und der vordersten Bergkette, erheben sich immer neue Berge, die in dieser Morgensonne wunderschön erscheinen. Im Norden sieht man die blaugrüne Mündung des Jordan, im Süden Berge, die den See umrahmen.

Es ist ein Anblick von feierlicher, trauriger und mahnender Herrlichkeit, in dem sich die undeutlichen Umrisse der Berge mit dem Dunkel des Toten Meeres verschmelzen. Letzteres scheint daran erinnern zu wollen, WOZU die Sünde führen kann und was der Zorn Gottes vermag. Denn es ist etwas Furchterregendes, einen so weiten Wasserspiegel zu sehen ohne ein

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Segel, eine Barke, die darübergleitet, ohne einen Vogel, der darüberfliegt, oder ein anderes Tier, das an seinen Ufern trinkt.

Im Gegensatz zu diesem strafenden Aspekt des Meeres stehen die Wunder der Sonne auf den kleinen Bergkuppen und den Dünen bis zum Sand der Wüste, wo die Salzkristalle kostbarem, auf den Strand, die Steine und die steifen Stiele der Wüstenpflanzen gestreutem Jaspis gleichen und alles in diamantene Schönheit verwandeln. Noch wunderbarer ist der Anblick einer fruchtbaren Ebene, die ungefähr hundert bis hundertfünfzig Meter über dem Meeresspiegel liegt. Palmen, Weingärten und andere Pflanzen leuchten zwischen blauen Wasserläufen, und eine liebliche Stadt, von prächtigen Feldern umgeben, dehnt sich dort aus. Wenn man den Blick von dem dunklen Meeresspiegel, vom rauhen östlichen Ufer und von der trostlosen Wüste Judäas mit ihren ernsten judäischen Bergen abwendet und auf diesen Fleck Erde schaut, der so lieblich, reizend und blühend daliegt, hat man den Eindruck, daß sich ein fieberhafter Alptraum plötzlich in eine prächtige Friedensvision auflöst.

«Das ist Engedi, das die Dichter unserer Heimat besungen haben. Bewundert diese schöne Gegend, genährt von anmutigen Gewässern, inmitten großer Trostlosigkeit! Steigen wir hinab, um uns in seinen Gärten zu erfrischen, denn dort ist alles Garten, Wiese, Wald und Weinberg. Es ist das alte Hazezon-Tamar. Sein Name erzählt uns von schönen Palmbäumen, unter denen es so angenehm war, Hütten zu bauen, Felder zu bestellen, sich zu lieben, Kinder zu erziehen und Herden unter dem singenden Rauschen der Palmenblätter weiden zu lassen. Das ist eine lachende Oase, ein Rest des verlorenen Eden, eine Perle, umgeben von Pfaden, die nur Ziegen und Zicklein zugänglich sind, wie es im Buch der Könige geschrieben steht. Hier öffnen sich gastliche Höhlen für Verfolgte, Müde und Verlassene. Denkt an David, unseren König, und an die Güte, die er seinem Feind Saul gegenüber walten ließ. Dies ist Hazezon-Tamar oder Engedi mit seinem Quellgebiet und seiner gesegneten Schönheit, von wo die Feinde auszogen gegen den König Josaphat und die Söhne seines Volkes, die, eingeschüchtert von Jachasiel, dem Sohn des Zacharias, bestärkt wurden, als der Geist Gottes aus ihm sprach. Sie errangen einen großen Sieg, weil sie Glauben und Vertrauen auf den Herrn hatten. Auch verdienten sie seinen Beistand durch ihre Buße und ihr Gebet vor der Schlacht. Dies ist die von Salomon besungene Königin aller irdischen Schönheiten. Ezechiel erwähnt sie als eines der Gebiete, die von den Wassern des Herrn genährt werden... Doch gehen wir hinab. Gehen wir, der Perle Israels das lebendige Wasser zu bringen, das vom Himmel herabgestiegen ist.»

Nun beginnt fast im Laufschritt der Abstieg auf dem halsbrecherischen Pfad mit seinen vielen Wendungen und Zickzacklinien. An den Stellen, wo er sich am meisten dem Meere nähert, verläuft er am Rand des rötlichen Kalkstein-Berges, der seinen Rahmen bildet. Es ist ein Pfad, der

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selbst dem geübtesten Bergsteiger Schwindel verursachen könnte. Die Apostel haben Mühe, Jesus zu folgen, und die älteren bleiben immer weiter zurück, bis der Meister bei den ersten Palmen und Weingärten der fruchtbaren Ebene mit ihren kristallklaren Wassern und dem Gesang von Vögeln aller Arten stehenbleibt.

Weiße Schafe weiden unter dem rauschenden Dach des Palmenhaines, unter Mimosen, Balsamstauden, Pistazienbäumen und anderen aromatischen Gewächsen. Hier mischt sich der Duft der Rosen mit dem des blühenden Lavendels, der Zimtpflanze, der Myrrhe, des Weihrauchs, des Safrans, des Jasmins, der Lilien, der Gänseblümchen, der gigantischen Aloe, der Nelken und der Harze, die aus den Einschnitten an den Stämmen der Nadelbäume strömen. Wahrlich, das ist "der verschlossene Garten, der versiegelte Quell". Früchte, Blumen und Düfte entspringen allen Ecken und Enden, und es gibt in Palästina keinen Ort, der in seiner Ausdehnung und Natürlichkeit diesem an Schönheit gleichkommt. Bei seinem Anblick versteht man die vielen orientalischen Dichter, die die Schönheit der Oasen als das Paradies auf Erden gepriesen haben.

Die Apostel, erhitzt und verschwitzt, aber voll des Staunens, schließen sich dem Meister an und steigen mit ihm auf einer wohlgepflegten Straße hinab zum Gestade, das man erreicht, nachdem man so manche einander abwechselnde, schön bebaute Terrassengärten hinter sich gelassen hat, begleitet von lieblichen Wasserfällen mit ihrem wohltuenden Naß für die zahlreichen Pflanzungen, die erst am Ufer des Meeres enden. Nicht weit von der Küste betreten sie die Stadt mit ihren weißen Gebäuden, rauschenden Palmen und duftenden Blumengärten. Bei den ersten Häusern bitten sie im Namen des Herrn um Unterkunft, und diese Häuser, gütig wie die Natur, öffnen sich ihnen sogleich, während die Bewohner fragen, wer "der Prophet ist, der in seinem weißen Gewand und in seiner strahlenden Schönheit König Salomon selbst zu sein scheint"...

Jesus betritt mit Petrus und Johannes ein Haus, in dem eine Witwe mit ihrem Sohn lebt. Die anderen verteilen sich in andere Häuser, nachdem sie den Segen des Meisters empfangen und beschlossen haben, sich bei Sonnenuntergang auf dem größten Platz zu treffen.

437. PREDIGT UND WUNDER IN ENGEDI

Ein feuriger Sonnenuntergang rötet die strahlend weißen Häuser von Engedi und verleiht dem Toten Meer Facetten von schwarzer Perlmutter. Jesus ist auf dem Weg zum Hauptplatz. Der Jüngling aus dem gastlichen Haus begleitet ihn und führt ihn durch das Labyrinth der Straßen der Stadt, einer in ihrer Architektur echt orientalischen Stadt.

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Da die Sonne sicher unerbittlich auf diese offene, am dichten Wasserspiegel des Salzmeeres liegende Gegend scheint und diese in den Sommermonaten in heiße Dünste gehüllt sein muß, auch wegen der Nähe der öden Wüste, auf deren Boden die Sonne in ihrer ganzen Glut herniederbrennt, haben die Einwohner von Engedi dafür gesorgt, daß ihre Straßen sehr eng sind. Wegen der Gesimse und der Dachrinnen sieht man überhaupt nur einen schmalen blauen Streifen, wenn man den Blick zum Himmel erhebt.

Die Häuser haben fast alle zwei Stockwerke und eine Terrasse, zu der sich, trotz der Höhe, Weinreben emporgewunden haben. Außer Schatten müssen die Reben auch prächtige, süße Trauben spenden, da sie durch den Reflex der weißen Wände und der Terrassenböden zu schneller Reife gelangen und süß wie Rosinen sind. Die Reben wetteifern darin, Menschen und Tieren als Erquickung zu dienen, nicht zuletzt den zahlreichen Vögeln, vom grauen Sperling bis zur Taube, die ihr Nest in den gestutzten, überall emporwachsenden Palmen oder in Bäumen mit wundervollem Obst bauen; Bäume, die sich in Höfen oder geschlossenen Gärten zwischen den Häusern erheben und ihre Zweige mit ihrer Last der unter der fröhlichen Sonne heranreifenden Früchte über die weißen Mauern strecken, die Gewölbebögen überragen, die an manchen Stellen so zahlreich sind, daß sie wahre Galerien bilden, die nur da und dort wegen architektonischer Erfordernisse unterbrochen sind, und sich zum blauen Himmel emporrecken, der in einer so satten Farbe leuchtet, daß man den Eindruck hat, man könne ihn berühren und er müsse sich anfühlen wie schwerer Samt oder glattes Leder, von einem fähigen Künstler gefärbt oder bemalt mit jener vollkommenen Farbe, die etwas dunkler als ein Türkis und etwas heller als ein Saphir ist, aber wunderschön, unvergeßlich schön.

Viel Wasser gibt es hier... Vielerlei größere und kleinere Springbrunnen müssen in den Höfen und Gärten der Häuser inmitten tausend grüner Pflanzen sprudeln. Beim Durchschreiten der verlassenen Gäßchen – verlassen, weil die Bewohner bei der Arbeit oder in ihren Häusern sind -hört man ein Tropfen, ein Glucksen, ein Rauschen, als ob ein verborgener Musiker gleichzeitig viele Harfensaiten zupfen würde, und um diesen Eindruck noch zu unterstreichen, nehmen Gewölbe und Straßenecken diese Stimmen des Wassers auf, verstärken und vermehren sie durch das Echo und bilden so ein wahres Harfenspiel.

Und dann Palmen, Palmen und wieder Palmen. Wo immer es einen kleinen Platz gibt, nicht größer als die Fläche eines gewöhnlichen Zimmers, da recken sie auch schon ihre hohen schlanken Stämme zum Himmel, wiegen sanft ihre Federkronen und werfen ihre Schatten, die um die Mittagszeit wohl senkrecht herniederfallen, auf die Mäuerchen der höchsten Terrassen, wobei sie bizarre Figuren malen.

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Im Vergleich zu anderen Städten Palästinas ist diese Stadt sehr sauber. Vielleicht haben die dicht gedrängten Häuser oder die vielen Höfe und gepflegten Gärten dazu beigetragen, die Bewohner zur Reinlichkeit zu erziehen. Vielleicht werfen sie die Abfälle nicht auf die Straßen, sondern benützen sie vielmehr zum Düngen von Bäumen und Gärten; oder vielleicht ist es auch ein sehr seltener Ordnungssinn. Die Straßen sind sauber und trocken von der Sonne, und man sieht nicht die wenig appetitlichen Gemüseabfälle, kaputten Sandalen, schmutzigen Lappen, Exkremente und dergleichen, denen man selbst in Jerusalern begegnen kann, sobald man in die Außenbezirke gelangt.

Da kommt auch schon der erste Landmann von seiner Arbeit zurück. Er reitet auf einem grauen Esel. Um sich vor den Mücken und Fliegen zu schützen, hat der Mann ganze Büschel von Jasmin auf seinen Esel gelegt, der dahertrabt, indem er Ohren und Schellen mitten in dem wogenden, duftenden Vorhang von Zweigen schüttelt. Der Mann schaut auf und grüßt. Der Jüngling sagt: «Komm auf den großen Platz. Dort wirst du den Rabbi, der neben mir geht, sprechen hören.»

Und dort kommt eine Schafherde vom Ortsrand, wo die Felder beginnen, und strömt in die Straße. Sie kommen sehr dicht gedrängt heran, setzen ihre Hufe dahin, wo die anderen sie hingesetzt haben, alle mit gesenktem Kopf, als ob ihre Köpfe für den zarten Hals zu schwer wären. So trotten sie daher mit ihrem eigenartigen Schritt und ihren fetten Körpern, die wie auf vier Stöcke gesteckte Bündel aussehen... Jesus, Johannes und Petrus machen es dem jungen Mann bei ihnen nach, und drücken sich ebenfalls an die warme Mauer eines Hauses, um die Schafe vorbeiziehen zu lassen. Ein Mann und ein Knabe folgen der Herde. Sie schauen die vier an und grüßen. Der Jüngling sagt: «Bringt die Schafe in die Hürde, und dann kommt mit euren Verwandten zum großen Platz! Der Rabbi von Galiläa ist bei uns. Er wird zu uns sprechen.»

Und jetzt kommt die erste Frau aus einem Haus, um ich weiß nicht wohin zu gehen. Sie ist von einer Schar Kinder umgeben. Der Jüngling sagt: «Komm mit Johannes und den Kindern, den Rabbi zu hören, den sie den Messias nennen.»

Zu dieser abendlichen Stunde öffnen sich die Häuser eines nach dem anderen und gewähren Einblick in grüne Gärten und ruhige Höfe, in denen die Tauben ihre letzte Mahlzeit halten. Der Jüngling steckt den Kopf durch alle offenen Türen und ruft: «Kommt, den Rabbi, den Herrn, zu hören.»

Schließlich gelangen sie auf eine gerade Straße, die einzige in dieser Stadt. Sie wurde nicht gebaut, wie die Einwohner es gern gehabt hätten, sondern man mußte sich nach den Palmen und den mächtigen Pistazienbäumen richten, die gewiß hundert Jahre alt sind und in Ehren gehalten werden, da sie einst die Bürger vor einem schlimmen Hitzetod geschützt

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haben... Nun kommt im Hintergrund ein Platz, auf dem die zahlreichen Palmenstämme gleichsam die Säulen bilden. Man glaubt fast, sich in einer Säulenhalle alter Tempel oder königlicher Paläste zu befinden, in der ein ganzer Wald wohlgeordneter Steinsäulen die Decke trägt. Hier bilden die Palmstämme mit ihren Wedeln, die sich ineinander schmiegen, Säulen und eine smaragdfarbene Decke, die den weißen Platz beschattet, in dessen Mitte sich ein großer viereckiger Brunnen mit kristallklarem Wasser befindet. Das Wasser quillt aus einer kleinen Säule in der Mitte des Beckens und fällt dann in niedrigere Becken, aus denen die Tiere trinken können. In diesem Augenblick nehmen die zahmen und friedlichen Tauben den Brunnen in Anspruch und trinken und trippeln mit ihren rosa Füßchen auf dem höchsten Brunnenrand umher oder besprengen ihre Federn, deren schillernder Glanz durch die Wassertropfen, die kurze Zeit an den Federspitzen haften, noch verstärkt wird.

Es sind viele Menschen da, und auch die acht Apostel, die in verschiedenen Häusern um Unterkunft gebeten hatten. Jeder hat seine Getreuen um sich gesammelt, die begierig sind, den zu hören, den ihnen die Apostel als den verheißenen Messias angekündigt haben. Die Apostel eilen von allen Seiten auf den Meister zu, und wie einem Kometen folgt ihnen der Schweif der Menschen, die sie für ihren Herrn gewonnen haben.

Jesus erhebt die Hand, um die Apostel und die Bewohner von Engedi zu segnen. Judas des Alphäus spricht für alle: «Sieh, Herr und Meister! Wir haben getan, was du uns aufgetragen hast, und diese Menschen hier wissen, daß heute die Gnade Gottes unter ihnen ist. Aber sie wollen auch selbst das Wort vernehmen. Viele kennen dich vom Hörensagen. Einige sind dir schon in Jerusalern begegnet. Alle, besonders die Frauen, möchten dich kennenlernen, vor allem der Synagogenvorsteher. Da ist er. Komm her, Abraham.»

Ein greiser Mann tritt vor. Er ist gerührt. Er will sprechen, bringt jedoch vor Erregung kein Wort von dem heraus, was er sich so schön vorbereitet hat. Er neigt sich, auf seinen Stab gestützt, um niederzuknien, doch Jesus hindert ihn daran und umarmt ihn mit den Worten: «Friede sei mit dem alten und gerechten Diener Gottes!»

Der Greis, der immer erregter wird und nicht weiß, was er nun antworten soll, sagt: «Lob sei Gott! Meine Augen haben den Verheißenen gesehen! Was könnte ich noch mehr von Gott erbitten?» Dann erhebt er die Arme und stimmt mit feierlicher Geste den Psalm Davids an (Ps 40): «"Ich habe gehofft, gehofft auf den Herrn, und er neigte sich zu mir."» Aber er betet nicht den ganzen Psalm, sondern nur die passenden Verse: «"Er hörte auf mein Rufen. Er zog mich aus der grauenhaften Grube, aus dem Schlamm und Morast... Er legte mir in den Mund ein neues Lied... Selig, wer auf den Herrn sein Vertrauen setzt... Zahlreich hast du, o Herr, mein Gott, deine Wunder gemacht und in den Gedanken, die du hegtest

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für uns, kommt keiner dir gleich. Wollte ich künden und reden davon, sie wären nicht aufzuzählen...

Opfer und Gaben wolltest du nicht, aufgetan aber hast du mein Ohr... (Er wird immer erregter.) Es steht geschrieben, deinen Willen soll ich erfüllen... Dein Gesetz ist mir ins Herz geschrieben. Ich habe deine Gerechtigkeit in großer Versammlung verkündet. Siehe, meine Lippen habe ich nicht verschlossen, du weißt es, o Herr. Deine Gerechtigkeit habe ich in mir nicht verborgen, deine Wahrheit und das Heil, das von dir kommt, habe ich kundgetan... Aber du, o Herr, wende deine Barmherzigkeit nicht von mir ab... Großes Mißgeschick kam über mich... (Und nun weint er ganz hemmungslos und spricht mit noch schwächerer und zitternder Stimme.) Ein armer Bettler bin ich, aber der Herr hat für mich gesorgt. Du bist meine Hilfe, mein Retter bist du. O mein Gott, komm, säume nicht länger!"

Das ist der Psalm, mein Herr, und ich füge noch hinzu: "Sage mir: 'Komm', und ich werde mit den Psalmisten erwidern: 'Sieh, ich komme.' "»

Nun schweigt er und weint, und sein ganzer Glaube spiegelt sich in seinen durch das Alter verschleierten Augen wider.

Das Volk fügt erklärend hinzu: «Ihm ist die Tochter gestorben, und sie hat ihm kleine Enkelkinder hinterlassen. Seine Frau ist erblindet und ob des vielen Leides trübsinnig geworden, und von seinem einzigen Sohn hat er keine Nachricht mehr. Er ist einfach von heute auf morgen verschwunden...»

Jesus legt seine Hand auf die Schulter des Alten und sagt zu ihm: «Die Leiden des Gerechten vergehen wie ein Flügelschlag im Vergleich zur Dauer des ewigen Lohnes. Aber wir werden deiner Sara das Augenlicht und den Verstand von früher wiedergeben, damit sie dir in deinem Alter ein Trost sei.»

«Sie heißt Colomba», bemerkt einer aus dem Volk.

«Für ihn ist sie die Prinzessin. Doch, nun hört das Gleichnis, das ich euch erzählen will...»

«Würdest du nicht zuerst die Augen und den Geist meiner Frau der Finsternis entreißen, damit auch sie das Wort der Weisheit vernehmen kann?» fragt der alte Synagogenvorsteher besorgt.

«Kannst du glauben, daß Gott alles vermag, und daß seine Macht von dieser zur anderen Welt waltet?»

«Ja, o Herr! Ich erinnere mich an einen Abend vor vielen Jahren. Damals war ich glücklich; aber auch in meiner Freude glaubte ich an Gott. Denn so ist es doch: Solange der Mensch glücklich ist, kann er leicht den Herrn vergessen. Ich glaubte auch in jener Zeit der Freude an Gott, als meine Frau noch jung und gesund war und Elisa schön wie eine Palme heranwuchs. Sie war schon verlobt, und Elisäus, ihr an Schönheit gleich,

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übertraf sie nur an Kraft, wie es dem Mann zukommt... Ich war mit dem Knaben zu den Quellen in den Weinbergen gegangen, die die Mitgift von Colomba waren, und hatte Frau. und Tochter am Webstuhl zurückgelassen, an dem sie das Hochzeitskleid woben... Aber vielleicht langweile ich dich... Der Elende träumt von seinem vergangenen Glück, das in seinem Gedächtnis haftengeblieben ist... aber andere interessiert das wohl nicht...»

«Sprich, sprich!»

«Ich war mit dem Knaben zu den Quellen gegangen... Wenn du von Westen her gekommen bist, weißt du, wo sie sind... Die Quellen befanden sich am Rand des gesegneten Ortes, und von dort aus sah man in der Ferne die Wüste und die Straße, die weiß war wegen der römischen Steine und damals im Sande von Judäa noch gut sichtbar... Später ist auch dieses Zeichen verschwunden, und es ist nichts dabei, wenn ein Zeichen sich im Sand verliert. Schlimm ist es, daß ein Zeichen Gottes verlorenging, das dich den Seelen Israels, so vielen Seelen, verkünden sollte. Mein Junge sagte: "Vater, schau! Eine große Karawane von Herren und Knechten mit Pferden und Kamelen kommt auf Engedi zu. Vielleicht kommen sie zu den Quellen, bevor die Sonne untergeht..." Ich erhob die Augen von den Reben, die ich nach einer reichen Weinlese pflegte, und schaute zur Straße hin... Die Leute kamen direkt auf die Quellen zu. Sie stiegen von ihren Reittieren, sahen mich und fragten, ob sie für eine Nacht an diesem Ort ihre Zelte aufschlagen dürften.

"Engedi hat gastliche Häuser und ist ganz nahe", antwortete ich.

"Nein, wir müssen ständig zur Flucht bereit sein, denn Herodes sucht uns. Die Wachen können von hier aus alle Wege überblicken, und so wird es leicht sein, denen zu entfliehen, die uns suchen."

"Was für ein Verbrechen habt ihr denn begangen?" fragte ich erstaunt und bereit, ihnen die Höhlen unserer Berge zu weisen, wie es unser heiliger Brauch Verfolgten gegenüber ist, und fügte hinzu: "Ihr seid Fremde und aus verschiedenen Gegenden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr an Herodes ein Verbrechen begangen haben könnt ... "

"Wir haben den Messias angebetet, der zu Bethlehem geboren wurde und zu dem uns der Stern des Herrn geführt hatte. Herodes sucht ihn, und deshalb sucht er nun auch uns, damit wir ihm sagen, wo er ihn finden kann. Er sucht ihn, um ihn zu töten. Vielleicht werden wir auf dem langen, unbekannten Weg durch die Wüste umkommen, aber wir werden ihn nicht verraten, den Heiligen, der vom Himmel herabgestiegen ist!"

Der Messias! Der Traum eines jeden wahren Israeliten! Auch mein Traum! Er war auf der Welt! Er war in Bethlehem in Judäa gemäß der Prophezeiung. Ich erkundigte mich, während ich meinen Sohn an mein Herz drückte, nach allen Neuigkeiten und sprach: "Höre, Elisäus, erinnere

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dich, du wirst ihm sicher noch begegnen!" Ich war schon fünfzig Jahre alt und hoffte nicht mehr, ihn sehen zu können ... und noch weniger dachte ich daran, ihm einst als Mann zu begegnen ... Elisäus... kann ihn nun nicht mehr anbeten ...»

Der Alte weint erneut; aber er faßt sich wieder und fährt fort: «Die drei Weisen sprachen sehr lieb und ruhig und erzählten mir von dir, dem heiligen Kind, und von der Mutter und vom Vater. Ich hätte gerne die ganze Nacht mit ihnen zugebracht... doch Elisäus schlief mir an der Brust ein. Ich verabschiedete mich von den drei Weisen und versprach ihnen zu schweigen, um zu verhindern, daß sie von jemandem verraten würden. Aber meiner Colomba erzählte ich im Brautgemach alles, und dies war unsere Sonne in den späteren Unglücksfällen. Dann erfuhren wir von dem Kindermord... und all die Jahre hindurch wußte ich nicht, ob du gerettet wurdest. Jetzt weiß ich es. Aber nur ich allein, denn Elisa ist tot, Elisäus ist nicht mehr da, und Colomba vermag die Frohe Botschaft nicht zu begreifen... Aber der schon lebendige Glaube an die Allmacht Gottes wurde stärker seit jenem fernen Abend, an dem die drei Männer, alle verschiedener Rasse, Zeugnis gaben von der Allmacht Gottes, die sie zusammengeführt hatte durch die Stimme der Gestirne und der Seelen auf dem Weg zu Gott, damit sie sein Wort anbeten.»

«Und dein Glaube soll Belohnung finden. Hört...

Was ist der Glaube? Gleich dem harten Samenkorn der Palme, oft klein, stützt er sich auf das kurze Sätzlein: "Es gibt einen Gott", und wird von der einen Behauptung genährt: "Ich habe ihn gesehen." So war der Glaube Abrahams an mich, dank der Worte der drei Weisen aus dem Morgenland; so war der Glaube unseres Volkes, der von den frühesten Patriarchen auf die späteren übergegangen war, von Adam auf seine Nachkommen, von Adam, dem Sünder, dem man aber glaubte, als er sprach: "Es gibt einen Gott, und wir sind hier, weil er uns erschaffen hat, und ich habe ihn gekannt!" Dann wurde der Glaube immer vollkommener, da er immer mehr enthüllt wurde und er unser Vermächtnis ist, erhellt durch göttliche Offenbarungen, Erscheinungen von Engeln und das Licht des Heiligen Geistes. Immer sind es kleine Samenkörner im Vergleich zum Unendlichen. Aber sie haben Wurzel gefaßt, haben die harte Scholle der Menschlichkeit mit ihren Zweifeln und Neigungen durchbrochen und über das Unkraut der Leidenschaften, der Sünden, über den Schimmel der Niedergeschlagenheit, über die Motten der Lasterhaftigkeit, über alles triumphiert. Die Seelen haben sich erhoben, sich zur Sonne gewandt, und schwingen sich immer höher zum Himmel empor, bis sie sich aus der Beschränkung des Fleisches befreit und sich mit Gott vereinigt haben, mit seiner vollkommenen Erkenntnis, seinem vollkommenen Besitz jenseits des Lebens und des Todes, mit dem wahren Leben.

Wer den Glauben besitzt, besitzt den Weg zum Leben. Wer glauben

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kann, verfällt nicht dem Irrtum. Er sieht, erkennt und dient Gott und besitzt das ewige Heil. Für ihn ist der Dekalog lebendig und jedes seiner Gebote ist für ihn eine Perle in seiner Krone des ewigen Lebens. Für ihn ist das Versprechen des Erlösers Heil. Ist der Gläubige schon vor meiner Ankunft auf Erden gestorben? Das macht nichts. Sein Glaube hebt ihn auf die gleiche Stufe wie jene, die sich mir mit Liebe und Vertrauen nähern. Die dahingeschiedenen Gerechten werden bald jubeln, da ihr Glaube bald seinen Lohn zeitigen wird. Ich werde hingehen, wenn ich den Willen des Vaters erfüllt habe, und sagen: "Kommt!" und alle, die im Glauben gestorben sind, werden mit mir in das Reich des Herrn eingehen. Ahmt im Glauben die Palmen eurer Heimat nach! Aus kleinen Samenkörnlein sind sie hervorgegangen, doch stark in ihrem Willen zu wachsen, sind sie aufrecht emporgeschossen. Sie haben die Erde vergessen, verliebt in die Sonne und die Gestirne des Himmels. Glaubt an mich. Wißt zu glauben, was zu wenige in Israel glauben, und ich verspreche euch den Besitz des Himmelreiches durch die Vergebung der Erbsünde als gerechte Belohnung für alle, die meine Lehre, welche die wunderbare Vollendung des vollkommenen Dekalogs Gottes ist, in die Tat umgesetzt haben.

Ich werde heute und auch morgen, am heiligen Sabbat, bei euch bleiben, und am Tag darauf im Morgengrauen aufbrechen. Wer Sorgen hat, komme zu mir! Wer zweifelt, komme zu mir! Wer nach dem Leben verlangt, komme zu mir, ohne Furcht, denn ich bin die Barmherzigkeit und die Liebe.»

Jesus macht ein großes Segenszeichen, um seine Zuhörer zu entlassen, damit sie sich zum Abendessen und zur Ruhe begeben können. Schon schickt er sich an wegzugehen, als eine alte Frau, die bis dahin in einem Winkel einer Gasse verborgen war, sich durch die Menge, die noch beim Meister bleiben möchte, einen Weg bahnt und sich unter dem erstaunten Aufschrei der Anwesenden zu Füßen Jesu niederwirft, indem sie ausruft: «Du Gesegneter! Es ist der Allerhöchste, der dich sendet. Gesegnet sei der Schoß, der dich getragen hat, und der mehr als der einer gewöhnlichen Frau sein muß, da er dich tragen durfte!»

Der Schrei eines Mannes ertönt gleichzeitig mit ihrer Stimme: «Colomba! Colomba! Oh! Du siehst! Du begreifst! Du sprichst weise Worte und erkennst den Herrn! O Gott, Gott meiner Väter, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Gott der Propheten! Gott! Mein Gott! Sohn des Vaters! König wie der Vater! Retter im Gehorsam gegen den Vater! Gott wie der Vater und mein Gott, Gott deines Knechtes! Sei gesegnet, geliebt, gefolgt und angebetet in alle Ewigkeit!»

Der alte Synagogenvorsteher sinkt an der Seite seiner kleinen alten Frau auf die Knie, umarmt sie mit dem linken Arm, drückt sie an sein Herz, beugt sich nieder und läßt auch sie niederknien, um die Füße des Erlösers zu küssen, während ein Freudenschrei der ganzen Menge selbst

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die Baumstämme erzittern läßt, so gewaltig und lebhaft ist er. Die Tauben flattern aus ihren Nestern, in denen sie sich schon niedergelassen hatten, und kreisen um Engedi, als wollten sie der ganzen Stadt die Frohe Botschaft verkünden, daß der Heiland in ihren Mauern weilt.

438. ELISÄUS VON ENGEDI, DER GEHEILTE AUSSÄTZIGE

Vermutlich haben sie die Abreise auf Anraten der Bewohner von Engedi vorverlegt. Es ist noch Nacht. Der Mond, der sich täglich rundet, erhellt die Stadt mit seinem klaren Schein. Die Sträßlein liegen wie ein silbernes Netz zwischen den würfelförmigen Häusern und Gartenmauern und die magischen Strahlen des Mondes scheinen den Kalkstein in behauenen Marmor verwandelt zu haben. Palmen und andere Bäume, eingehüllt in die phosphoreszierenden Strahlen des Nachtgestirns, bieten einen faszinierenden Anblick. Die Brunnen und die kleinen Wasserläufe erwecken den Eindruck von Miniaturwasserfällen und diamantenen Halsketten. Im Laub der Bäume singen die Nachtigallen ihre goldenen Notenreihen, im Einklang mit den Stimmen der Gewässer, die in der Nacht stets klarer sind.

Die Stadt schläft noch. Aber einige der Bewohner haben sich dem abschiednehmenden Jesus angeschlossen. Es sind Männer aus den Häusern, die Jesus und die Apostel beherbergt haben, und einige andere. Der Synagogenvorsteher geht an der Seite Jesu. Er läßt es sich nicht nehmen, Jesus zu begleiten, nicht einmal, als dieser ihn, bevor sie zu den Feldern gelangen, darum bittet.

Sie gehen in Richtung Masada, nicht auf der unteren Straße am Toten Meer entlang, von der ich höre, daß sie in der Nacht gefährlich ist, sondern auf einem Weg mehr landeinwärts, der in die Hügel längs der Küste eingeschnitten ist.

Herrlich, diese Oase in der Mondnacht! Man glaubt in einem Traumland zu wandern... Dann hört die eigentliche Oase auf, und die Palmen werden seltener. Sie befinden sich nun wieder im Bergland mit seinen hochstämmigen Bäumen, seinen Wiesen und seinen in die Flanken der Felsen gehauenen Höhlen, wie man sie bei fast allen Bergen Palästinas antrifft. Aber hier scheinen sie mir zahlreicher zu sein, und ihre eigenartigen Öffnungen, bald länglich, bald flach, bald gerade, bald schief, bald halbrund, bald spaltenartig, haben im Mondlicht etwas Erschreckendes an sich.

«Abraham, die Straße ist weiter unten. Warum steigst du wieder höher hinauf und machst auf diesem unwegsamen Pfad einen Umweg?» mahnt einer von Engedi.

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«Weil ich dem Messias etwas zeigen muß und ihn bitten möchte, zu den großen Wohltaten, die er uns erwiesen hat, noch etwas hinzuzufügen. Wenn ihr jedoch müde seid, dann geht nach Hause oder wartet hier auf mich, und ich gehe allein», entgegnet der alte Synagogenvorsteher, der schwer atmend auf dem schwierigen, steilen Pfad emporklettert.

«O nein! Wir kommen mit dir. Aber es tut uns leid, sehen zu müssen, wie du dich abmühst. Du setzest dein Herz einer zu harten Probe aus...»

«Oh, es ist nicht der Pfad! ... Es ist etwas anderes! Es ist ein Schwert, das in meinem Herzen bohrt ... eine Hoffnung, die mein Herz erfüllt. Kommt, meine Söhne, und ihr werdet sehen, welch ein Schmerz, welch ein Leid im Herzen dessen war, der euch in all euren Schmerzen stets Trost schenkte! Welch eine... nicht Verzweiflung, das nicht, aber... Überzeugung, sich damit abfinden zu müssen, keine Freude mehr erleben zu können, war in dem, der euch immer gesagt hat, daß ihr auf den Herrn hoffen sollt, der alles vermag.. Ich habe euch gelehrt, an den Messias zu glauben... Erinnert ihr euch daran, wie ich, als ich es tun konnte, ohne ihm Schaden zuzufügen, mit Vertrauen von ihm sprach? Ihr sagtet: "Aber der Kindermord des Herodes?" Ja, ja, das war ein großer Stachel im Herzen! Aber ich klammerte mich mit aller Kraft an die Hoffnung... Ich sagte: "Wenn Gott den Dreien, die nicht einmal aus Israel waren, den Stern gesandt hat, um sie einzuladen, das Messiaskind anzubeten, und sie durch ihn zu dem armen Hause führte, das den Rabbis von Israel und selbst den Hohenpriestern und Schriftgelehrten unbekannt war; wenn er sie im Schlaf aufforderte, nicht zu Herodes zurückzukehren, um den Knaben zu retten, wird er dann nicht mit noch viel größerer Macht den Vater und die Mutter aufgefordert haben zu fliehen, um die Hoffnung Gottes und der Menschen in Sicherheit zu bringen?"

Der Glaube an seine Rettung wuchs, vergeblich waren die Angriffe der menschlichen Zweifel und das Gerede anderer... und, als mich der größte Schmerz traf, der einen Vater treffen kann... als ich einen Lebenden zu Grab geleiten und ihm sagen mußte: "Bleibe hier, solange du lebst, und bedenke, wenn dich die Sehnsucht nach mütterlicher Liebkosung oder ein anderer Grund zu den Häusern treiben würde, müßte ich dich als erster verfluchen und steinigen und dich dorthin verbannen, wo nicht einmal meine trostlose Liebe dir Hilfe bringen könnte." Als ich das tun mußte... habe ich mich noch mehr an den Glauben an Gott, den Erlöser, geklammert und zu mir selbst und zu meinem Sohn gesagt... meinem aussätzigen Sohn... versteht ihr! ... meinem Aussätzigen: "Neigen wir das Haupt vor dem Willen des Herrn und glauben wir an seinen Messias! Ich, Abraham... du, Isaak, geopfert in der Krankheit und nicht im Feuer, bringen wir den Schmerz dar, um das Wunder zu erhalten..." Jeden Monat, bei jedem heimlichen Besuch, beladen mit Nahrungsmitteln... Kleidern... und Liebe, die ich in einer gewissen Entfernung von meinem Kind niederlegte,

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weil ich zurückkehren mußte zu euch, meinen Kindern, und zu meiner Gattin, die durch den furchtbaren Schmerz erblindet und stumpfsinnig geworden war... in mein Haus ohne Kinder... ohne den Frieden der gegenseitigen bewußten Liebe... in meine Synagoge, um dort von Gott zu sprechen... von seiner Größe... von der Schönheit seiner Schöpfung... während ich das Bild meines von der Krankheit zerfressenen Sohnes vor Augen hatte... den ich nicht einmal verteidigen konnte, wenn ihm zur Last gelegt wurde, daß er ein Undankbarer oder ein Verbrecher sei, der von zu Hause weggelaufen ist... jeden Monat, wenn ich als Vater diese Pilgerfahrt zum Grab meines lebendigen Sohnes machte, sagte ich ihm, um ihn zu ermutigen: "Der Messias ist da. Er wird kommen und dich heilen..."

Im vergangenen Jahr, als ich zu Ostern nach Jerusalern ging und dich in der kurzen Zeit suchte, die ich fern von meiner blinden Frau war, sagte man mir: "Er ist wirklich da. Er war gestern hier und hat auch Aussätzige geheilt. Er wandert heilend, tröstend und lehrend durch Palästina." Oh, da kehrte ich so schnell zurück, daß ich einem Jüngling glich, der zur Hochzeit geht! Ich habe nicht einmal in Engedi angehalten, sondern bin hierher gekommen und habe ihn gerufen, meinen Sohn, mein Kind, meinen Nachkommen, der dahinstirbt, und habe ihm gesagt: "Er wird kommen!"

Herr, du hast so viel Gutes in unserer Stadt getan. Laß bei deiner Abreise keinen Kranken zurück... Selbst die Bäume und die Tiere hast du uns gesegnet... und willst doch sicher nicht... Du hast meine Frau geheilt... Wirst du mit der Frucht ihres Schoßes kein Erbarmen haben? ... Gib der Mutter ihren Sohn zurück, du, der du der vollkommene Sohn einer Mutter voll der Gnaden bist.

Im Namen deiner Mutter hab Erbarmen mit mir, mit uns! ...»

Alle weinen mit dem Alten, dessen Worte mächtig und herzzerreißend gewesen sind... und Jesus nimmt ihn in seine Arme, seufzt und sagt zu ihm: «Weine nicht mehr! Gehen wir zu deinem Elisäus. Dein Glaube, deine Gerechtigkeit, deine Hoffnung verdienen dies und noch mehr. Weine nicht, Vater. Zögern wir nicht länger, ein Geschöpf von seinem schrecklichen Leben zu befreien.»

«Der Mond entschwindet am Horizont, und der Pfad ist schwierig. Könnten wir nicht bis zum Morgengrauen warten?» sagen einige.

«Nein. Harzhaltige Bäume umgeben uns. Nehmt einige Äste, zündet sie an, und dann gehen wir weiter», befiehlt Jesus.

Sie steigen weiter auf dem schmalen und beschwerlichen Pfad empor, der das trockene Bett eines Baches zu sein scheint. Die rauchenden Fackeln knistern und verbreiten einen starken Harzgeruch.

Eine Höhle mit einem engen Eingang, der hinter einem üppigen, am Rand einer Quelle wachsenden Gebüsch verborgenen ist, zeigt sich jenseits

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eines schmalen Plateaus. Das Quellwasser ergießt sich in eine Kluft, die sich in der Mitte öffnet.

«Dort lebt seit Jahren Elisäus... und wartet auf den Tod oder auf die Gnade Gottes ...» sagt der Alte mit leiser Stimme, indem er auf die Höhle weist.

«Rufe deinen Sohn. Tröste ihn. Er soll sich nicht fürchten, sondern glauben.»

Abraham ruft laut: «Elisäus! Elisäus, mein Sohn!» und wiederholt den Ruf, zitternd vor Angst wegen des Schweigens, das die einzige Antwort ist.

«Ist er vielleicht gestorben?» sagen einige.

«Nein! Gestorben, jetzt, am Ende seiner Qual! Ohne eine Freude, nein! Mein männlicher Nachkomme!» seufzt der Vater...

«Weine nicht. Rufe noch einmal.»

«Elisäus! Elisäus! Warum antwortest du nicht auf ...»

«Vater! Mein Vater! Warum kommst du zu so ungewöhnlicher Stunde? Ist vielleicht die Mutter gestorben, und kommst du, um ...» Die Stimme nähert sich, und ein Gespenst schiebt die Zweige beiseite, die den Eingang der Höhle bedecken, ein schreckliches Gespenst, ein Skelett, halb nackt und zerfressen... das beim Anblick so vieler Menschen mit Fackeln und Stöcken an wer weiß was denkt und zurückweicht mit dem Schrei: «Vater, warum hast du mich verraten? Nie bin ich von hier fortgegangen... Weshalb bringst du mir die Steiniger?!» Die Stimme entfernt sich wieder, während von der Erscheinung nichts mehr bleibt als schwankende Zweige.

«Beruhige ihn! Sage ihm, daß der Erlöser hier ist!» drängt Jesus.

Aber der Mann hat keine Kraft mehr... Er weint trostlos... Da spricht Jesus: «Sohn des Abraham und des Vaters im Himmel, höre mich an! Es erfüllt sich, was dein rechtschaffener Vater dir prophezeit hat. Hier ist der Erlöser, und bei ihm sind deine Freunde von Engedi und die Apostel des Messias. Sie sind gekommen, um sich über deine Auferstehung zu freuen. Komm, fürchte dich nicht! Komm hervor bis zum Spalt, und ich werde dir entgegengehen und dich berühren, und du wirst rein werden. Komm ohne Furcht zum Herrn, der dich liebt!»

Die Zweige werden wieder beiseitegeschoben, und der Aussätzige schaut ängstlich aus der Höhle. Er sieht Jesus, eine weiße Gestalt, die auf dem Rasen des Plateaus wandelt und am Rand der Kluft stehenbleibt. Er sieht die anderen... und ganz besonders den alten Vater, der wie bezaubert Jesus folgt, mit ausgestreckten Armen und mit auf seinen aussätzigen Sohn gerichteten Augen. Er beruhigt sich und kommt vorwärts. Er hinkt, vielleicht wegen der Wunden an den Füßen... Er streckt Jesus seine Arme mit den zerfressenen Händen entgegen ... dann bleibt er Jesus gegenüber stehen... und schaut ihn an. Jesus breitet seine so schönen Hände aus,

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erhebt die Augen zum Himmel und scheint alles Licht der zahllosen Sterne in sich zu sammeln und den reinen Glanz auf das unreine Fleisch, das faule, zerfressene Fleisch zu übertragen, das die Fackeln, die, damit sie mehr Licht geben, geschüttelt werden, in ihrem roten Schein noch schrecklicher aussehen lassen.

Jesus neigt sich über den Spalt, berührt mit seinen Fingerspitzen die Fingerspitzen des Aussätzigen und spricht: «Ich will!» Er sagt es mit einem liebenswürdigen Lächeln von unaussprechlicher Schönheit. Er wiederholt noch zweimal: «Ich will!» Er betet und befiehlt mit diesem Wort...

Dann löst er sich von ihm, tritt einen Schritt zurück, breitet seine Arme in Kreuzesform aus und spricht: «Wenn du gereinigt sein wirst, geh und verkünde den Herrn, denn ihm gehörst du an. Denke daran, daß Gott dich geliebt hat, damit du ein guter Israelit und ein guter Sohn seiest. Nimm eine Braut, zeuge Söhne und erziehe sie im Glauben an den Herrn. Sieh, die Zeit der herben Bitterkeit ist nun vorüber. Preise Gott dafür und sei glücklich!»

Dann dreht er sich um und spricht: «Ihr mit den Fackeln! Kommt heran und seht, was der Herr für jene zu tun vermag, die es verdienen.»

Er senkt die Arme, die so ausgebreitet durch den herabhängenden Mantel die Sicht auf den Aussätzigen versperrt, und tritt zur Seite.

Zuerst schreit der alte Vater laut auf, der hinter Jesus kniet: «Sohn! Sohn! Sohn! Wie du in deinem zwanzigsten Lebensjahr warst! Schön wie damals! Gesund wie damals! Schön, ja schöner als damals! ... Oh! Ein Brett, ein Ast, irgend etwas, um zu dir zu kommen!» Und er will zu ihm hinüberstürzen.

Aber Jesus hält ihn zurück: «Nein, deine Freude soll dich nicht veranlassen, das Gesetz zu übertreten. Erst muß er sich reinigen. Schau ihn an! Küsse ihn mit den Augen und dem Herzen, und sei tapfer, wie du es so viele Jahre gewesen bist, und sei glücklich...»

Dies ist tatsächlich ein vollständiges Wunder. Es ist nicht nur eine Heilung, sondern eine Wiederherstellung alles dessen, was die Krankheit zerstört hatte, denn der Mann, um die Vierzig, ist unversehrt, als sei er nie krank gewesen. Nur seine starke Magerkeit bleibt ihm, die ihm ein asketisches Aussehen von ungewöhnlicher, übernatürlicher Schönheit verleiht. Er bewegt die Arme, kniet nieder und preist Gott. Er weiß nicht, was er tun soll, um Jesus zu danken. Schließlich sieht er Blumen zwischen den Gräsern. Er pflückt sie, küßt sie und wirft sie über den Spalt vor die Füße des Erlösers.

«Laßt uns gehen! Ihr von Engedi, bleibt bei eurem Synagogenvorsteher, und wir gehen weiter nach Masada.»

«Aber ihr wißt ja nicht ... Ihr seht ja nicht ...»

«Ich kenne den Weg. Alles kenne ich! Alle Wege des Landes und die der

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Herzen, auf denen Gott und der Feind Gottes gehen, und ich sehe, wer den einen oder den anderen aufnimmt. Bleibt in meinem Frieden! Es wird bald Tag, und bis zum Morgengrauen werden wir mit brennenden Zweigen Licht machen. Abraham, komm, daß ich dir den Abschiedskuß geben kann. Der Herr sei mit dir, wie er bisher war, und mit den Deinen und der ganzen Stadt.»

«Wirst du nicht mehr zu uns zurückkehren, Herr, um mein Haus im Glück zu sehen?»

«Nein. Ich bin bald am Ziel. Aber im Himmel wirst du bei mir sein, und die Deinen ebenfalls. Liebt einander und erzieht die Kleinen im Glauben an Christus... Lebt wohl, ihr alle. Friede und Segen euch und euren Familien. Der Friede sei mit dir, Elisäus. Sei vollkommen aus Dankbarkeit gegen den Herrn! Kommt, meine Apostel ...»

Er geht an der Spitze seines kleinen Gefolges, das brennende Zweige hochhält, und entschwindet alsbald in seinem weißen Gewand hinter einem Felsvorsprung. Auch die Apostel entschwinden einer nach dem anderen den Augen der Zurückgebliebenen. Das Geräusch ihrer Schritte entfernt sich und wird immer leiser. Und auch der rötliche Schein ihrer flammenden Fackeln entschwindet...

Vater und Sohn bleiben auf dem schmalen Plateau. Sie sitzen auf den gegenüberliegenden Rändern der Kluft und betrachten einander... Im Hintergrund die Leute von Engedi, die voller Verwunderung flüstern... Sie warten den Morgen ab, um mit der Botschaft von der wunderbaren Heilung in ihre Ortschaft zurückzukehren.

439. IN MASADA

Sie erklimmen einen Saumpfad hinan zu einer Stadt, die wie ein Adlernest auf einer Alpenspitze aussieht. Es ist wirklich eine einsame Höhe, um die herum der Berg steil abfällt, so wie sie die Adler für ihre königlichen Liebesaffären aufsuchen, bei denen sie Zeugen und Gemeinschaft verschmähen. Dort hinauf steigen sie nun mit großer Mühe, und gehen dabei von Westen nach Osten. Hinter ihnen liegt die zusammenhängende Bergkette, die einen Teil des Gebirges von Judäa ausmacht und mit einem mächtigen Ausläufer endet, ähnlich der starken Bastion eines gewaltigen Mauerwerkes, das sich in westlicher Richtung auf das Tote Meer zu erhebt und dessen südlichsten Zipfel berührt.

«Welch ein Weg, mein Gott!» seufzt Petrus.

«Noch schlimmer als der von Jipftael», bestätigt Matthäus.

«Aber andererseits regnet es hier nicht, und der Pfad ist weder feucht noch schlüpfrig. Das ist auch schon etwas...» bemerkt Thaddäus.

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«O ja, diesen Trost haben wir... aber es ist auch der einzige. Sei beruhigt, die Feinde werden dich nicht erobern! Wenn dich kein Erdbeben zu Fall bringt, wirst du nicht fallen, durch keines Menschen Hand!» sagt Petrus, indem er sich an die befestigte Stadt wendet, die sicher im Ring ihrer Mauern eingeschlossen ist und deren Häuser so dicht gedrängt sind, wie die Kerne eines Granatapfels im Schrein ihrer Schale.

«Glaubst du das, Petrus?» fragt Jesus.

«Ob ich es glaube? Ich sehe es, und das gibt mir größere Gewißheit!»

Jesus schüttelt den Kopf und antwortet nichts.

«Vielleicht wäre es besser gewesen, von der Meerseite her aufzusteigen. Wenn Simon hier gewesen wäre... Er kennt sich in dieser Gegend aus», seufzt Bartholomäus, dem die Kräfte schwinden.

«Wenn wir in der Stadt sind und ihr den anderen Weg seht, werdet ihr mir danken, daß ich diesen hier gewählt habe. Auf dieser Seite kann wohl ein Mensch nur mit großer Mühe den Berg ersteigen, auf der anderen hingegen würde es selbst eine Ziege Mühe kosten», antwortet Jesus.

«Woher weißt du das? Hat dir das jemand gesagt, oder ...»

«Ich weiß es. Übrigens wohnt auf dieser Seite auch die Schwiegertochter des Ananias. Zuallererst will ich mit ihr sprechen.»

«Meister... gibt es da oben keine Gefahren? ... Denn... hier könnten wir nicht so schnell entkommen, wenn sie uns verfolgen würden... Schau, welche Abgründe und welch schroffe Felsen! ...» sagt Thomas.

«Habt keine Furcht. Wir werden hier zwar kein Engedi vorfinden... Engedi gibt es nur sehr wenige in Israel. Aber es wird uns nichts Schlimmes zustoßen.»

«Und warum? ... Du weißt doch, daß es eine Festung des Herodes ist?»

«Und? Fürchte dich nicht, Thomas! Solange die Stunde noch nicht gekommen ist, wird nichts wirklich Schlimmes geschehen.»

Sie gehen weiter und gelangen zu den Festungsmauern, als die Sonne bereits hoch steht. Doch die Höhenlage mildert die Hitze.

Sie betreten die Stadt durch den Bogen einer engen, dunklen Pforte. Das Mauerwerk der Bastion ist gewaltig, mit gedrungenen Türmen und engen Schießscharten.

«Welch eine Mausefalle!» sagt Matthäus.

«Ich denke an die Unglücklichen, die dieses Material einst heraufgeschleppt haben, diese Blöcke, diese eisernen Platten...» sagt Jakobus des Alphäus.

«Heilige Liebe zum Vaterland und zur Unabhängigkeit erleichterte den Männern des Jonathan des Makkabäers ihre Lasten. Die schlimme Eigenliebe und die Angst vor dem Zorn des Volkes legten ein schweres Joch auf die Schultern der Untergebenen des Herodes, der sie sich zu Sklaven machte. Mit Blut und Tränen getauft, wird diese Stadt untergehen, wenn die Stunde der göttlichen Strafe gekommen ist.»

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«Meister, aber was hat das mit den Einwohnern zu tun?»

«Nichts und alles. Denn wenn die Untergebenen den Vorgesetzten in ihren Sünden oder Verdiensten nacheifern, haben sie auch teil an deren Belohnung oder Strafe. Aber seht, da ist schon das Haus, das dritte Haus in der zweiten Straße, mit dem Brunnen davor. Gehen wir...»

Jesus klopft an das verschlossene Tor eines hohen, schmalen Hauses. Ein Knabe öffnet.

«Bist du ein Verwandter des Ananias?»

«Ich trage seinen Namen, denn er ist der Vater meines Vaters.»

«Rufe deine Mutter. Sage ihr, daß ich von der Ortschaft komme, in der Ananias lebt und wo sich das Grab ihres verstorbenen Gatten befindet.»

Der Knabe geht und kommt zurück. «Sie hat gesagt, daß sie nichts von dem Alten wissen will und daß du gehen kannst.»

Jesus macht ein sehr strenges Gesicht. «Ich werde nicht fortgehen, bevor ich sie nicht gesprochen habe. Junge, geh und sage ihr, daß Jesus von Nazareth hier ist, an den ihr Gatte geglaubt hat, und daß er sie sprechen will. Sage ihr, sie solle nichts fürchten. Der alte Vater ist nicht da...»

Der Knabe geht wieder und kehrt lange nicht zurück. Leute sind stehengeblieben, und einige befragen die Jünger. Aber ihre Gesichtszüge sind hart, gleichgültig oder ironisch... Die Apostel versuchen, höflich zu sein, sind aber sichtlich beeindruckt. Schließlich kommen auch die Prominenten des Ortes und Bewaffnete. Die einen wie die andern haben Galgengesichter, die wenig Vertrauen einflößen.

Jesus steht mit verschränkten Armen auf der Schwelle und wartet geduldig und in sich versunken.

Schließlich kommt die Frau. Sie ist groß, braun, mit einem harten Blick und einem scharf geschnittenen Profil. Sie ist weder häßlich, noch alt, aber ihre Miene läßt sie alt und häßlich erscheinen. «Was willst du? Beeile dich, denn ich habe zu tun», sagt sie hochnäsig.

«Ich will nichts. Nichts. Sei dessen versichert. Ich bringe dir nur die Verzeihung des Ananias, seine Liebe, sein Gebet ...»

«Ich werde ihn nicht wieder aufnehmen. Es ist zwecklos zu beten. Ich will keine alten Plagegeister. Alles ist zu Ende zwischen uns. Außerdem werde ich bald eine neue Ehe eingehen, und ich kann dem Haus eines Reichen nicht einen groben Bauern aufbürden, wie er einer ist. Ich habe einen genügend großen Fehler begangen, als ich seinen Sohn zum Gatten nahm! Damals war ich ein törichtes Mädchen, das nur auf die Schönheit des Mannes sah. Ein Unglück für mich! Verflucht sei das Schicksal, das ihn auf meinen Weg führte! Verflucht sei auch die Erinnerung an...» Sie spricht wie ein Maschinengewehr.

«Genug! Achte die Lebenden und die Toten, deren du nicht würdig warst, Frau, die du härter als Stein bist. Unheil komme über dich! Ja! Unheil! Denn in dir wohnt keine Nächstenliebe, und deshalb ist Satan in dir.

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Aber erzittere, o Frau! Erzittere, daß die Tränen des Alten und die deines Mannes, den du gewiß mit deiner Lieblosigkeit bedrückt hast, nicht zu einem Feuerregen werden für dich und für alles, was dir teuer ist. Du hast Kinder, o Frau! ...»

«Kinder! O daß ich sie nicht hätte! Dann wäre auch das letzte Band zerrissen. Ich will nichts mehr davon wissen. Ich will dich nicht anhören. Geh fort! Ich bin in meinem Haus, im Hause meines Bruders. Ich kenne dich nicht. Ich will nicht an den Alten erinnert werden. Nein...» kreischt sie wie eine lebendig gerupfte Elster, wie eine wahre Hexe...

«Hüte dich!» sagt Jesus.

«Du drohst mir?»

«Ich erinnere dich an Gott, an das Gesetz, aus Mitleid mit deiner Seele! Was für Söhne willst du mit so einer Gesinnung erziehen? Fürchtest du das Gericht Gottes nicht?»

«Oh, genug! Saul, geh und rufe meinen Bruder und sage ihm, daß er mit Jonathan kommen soll. Ich werde es dir schon zeigen! Dir... !»

«O nein, das ist nicht nötig. Gott wird deine Seele zu nichts zwingen. Leb wohl.»

Jesus geht weg, indem er sich einen Weg durch die Menge bahnt. Die Straße zwischen den hohen Häusern ist eng, und die Stadt ist zur Verteidigung sehr geeignet. Aber der Schwerpunkt dieser Verteidigung selbst liegt auf der Ostseite, dort, wo alles hunderte von Metern abfällt und das zierliche Band eines unglaublich steilen Zickzackweges vom Ufer des Meeres in der Ebene zur Höhe des Berges heraufführt.

Jesus geht zu einem kleinen Platz, der für die Aufstellung von Kriegsmaschinen vorgesehen ist, und beginnt zu reden. Er wiederholt seine Einladung zum Himmelreich, das er allgemein beschreibt. Während dieser Ausführungen teilt sich die kleine, eher neugierige als gläubige Menge und gibt einen Weg frei, um die Prominenten durchzulassen, die laut miteinander reden. Kaum sind sie bei Jesus angelangt, als sie ihm schon, alle durcheinander redend und sich nur in der Ablehnung Jesu einig, befehlen: «Geh fort! Hier reicht es, wenn wir die Kinder Israels belehren.»

«Fort! Unsere Frauen haben es nicht nötig, von dir getadelt zu werden, du Galiläer!»

«Fort, du Gegner des Gesetzes! Wie kannst du dich unterstehen, in einer vom großen Herodes geliebten Stadt die Frau eines Herodianers zu beleidigen? Du, der du von Geburt an seine souveränen Rechte usurpiert hast, fort von hier!»

Jesus schaut sie an, besonders die letzteren, und sagt nur das eine Wort: «Heuchler!»

«Fort, fort!»

Ein wahrer Tumult entsteht. Unzählige einander widersprechende Stimmen, die ihre Kaste entweder anklagen oder verteidigen. Man versteht

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nichts mehr. Auf dem engen kleinen Platz kreischen Frauen und werden ohnmächtig, Kinder weinen, Bewaffnete kommen von der wirklichen und eigentlichen Burg und bahnen sich einen Weg durch die Menge. Um sich Platz zu schaffen, mißhandeln sie die dichtgedrängten Menschen, die ihrerseits ihrem Unwillen Luft machen, indem die einen Herodes und seine Soldaten, die andern den Messias und seine Anhänger beschimpfen. Ein Heidenlärm. Die Apostel, dicht um Jesus geschart, die einzigen, die ihn mehr oder weniger mutig verteidigen, überhäufen die anderen mit gesalzenen Vorwürfen, und sie haben welche für alle.

Jesus ruft sie zur Ordnung: «Gehen wir fort von hier! Wir werden hinten herumgehen und die Stadt verlassen...»

«Und zwar für immer, weißt du? Für immer!» brüllt Petrus, der rot vor Zorn ist.

«Ja, für immer...»

Einer nach dem anderen gehen sie weg, und der Letzte ist trotz allen Widerspruchs der Seinen Jesus selbst. Die Wächter, die sich ebenfalls über den "verlachten Propheten" lustig machen und allerlei Witze reißen, sind wenigstens so verständig, daß sie sich beeilen, das kleine Tor hinter Jesus zu schließen, sich dagegen lehnen und ihre Waffen auf die von dem Platz Herankommenden richten.

Jesus wandert auf dem engen Pfad, der rings um die Stadtmauer führt und nur zwei Spannen breit ist. Auf der einen Seite ist die Leere, der Tod. Die Apostel folgen ihm und vermeiden es ängstlich, in die Tiefe zu schauen.

Nun sind sie wieder an dem Tor angelangt, durch das sie die Stadt betreten haben. Ohne anzuhalten beginnt Jesus den Abstieg. Auch auf dieser Seite ist das Tor verschlossen worden.

Als die Stadt schon viele Meter hinter ihnen liegt, bleibt Jesus stehen und legt seine Hand auf die Schulter des Petrus, der sich den Schweiß abtrocknet und sagt: «Da sind wir noch einmal davongekommen! Verfluchte Stadt! Verfluchte Frau! Oh, armer Ananias! Diese ist viel schlimmer als meine Schwiegermutter! ... Welch eine Schlange!»

«Ja, sie hat ein Herz, so kalt wie das der Schlangen... Simon des Jonas, was sagst du? Scheint dir die Stadt mit allen ihren Verteidigungsanlagen sicher zu sein?»

«Nein, Herr! Gott ist nicht in ihr. Ich sage, daß sie das gleiche Los treffen wird wie Sodom und Gomorrha.»

«Das hast du gut gesagt, Simon des Jonas. Sie lenkt die Blitze des göttlichen Zornes auf sich, und nicht so sehr, weil sie mich verjagt hat, als vielmehr, weil in ihr der Dekalog in all seinen Geboten mißachtet wird. Gehen wir jetzt. Eine schattige Höhle wird uns in diesen heißen Mittagsstunden aufnehmen. Und um die Zeit des Sonnenuntergangs gehen wir dann nach Kerioth weiter, solange uns der Mond Licht gibt ...»

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«Mein Meister!» seufzt Johannes mit einem unversehenen Tränenausbruch.

«Was hast du denn?» fragen alle.

Johannes spricht nicht. Er weint, die Hände vor dem Gesicht und etwas vornübergebeugt... Er gleicht schon dem von Schmerz zerrissenen Johannes der Passion...

«Weine nicht! Komm her... Wir haben noch manche schöne Stunde vor uns», sagt Jesus, indem er ihn an sich zieht. Das tröstet zwar sein Herz, vermehrt aber auch seine Tränen: «Oh, Meister! Mein Meister! Was werde ich tun?! Was werde ich tun!?»

«Aber wann, mein Bruder?»

«Wann, Freund?» fragen Jakobus und die anderen.

Johannes zögert mit der Antwort. Dann erhebt er sein Antlitz und wirft seine Arme um den Hals Jesu. Er zwingt ihn so, sich über sein verzerrtes Gesicht zu beugen, und antwortet ihm, anstatt denen, die ihn gefragt haben: «Wenn ich dich sterben sehe!»

«Gott wird dir, seinem geliebten Sohn, beistehen! Sein Beistand wird dir nie fehlen. Weine nicht mehr. Laßt uns gehen! Gehen wir...» Und Jesus nimmt den von Tränen Geblendeten bei der Hand und setzt den Abstieg fort...

440. IM LANDHAUS MARIAS, DER MUTTER DES JUDAS

An einem frischen und strahlenden Morgen gelangen sie zum Landhaus des Judas. Die Apfelbäume sind taubenetzt, und der Rasen darunter ist ein Teppich von Blumen, auf denen Bienen summen. Die Fenster des Hauses sind bereits alle geöffnet. Die kräftige Frau, die die Geschäfte des Hauses leitet und ihre Herrschaft durch große Güte mäßigt, gibt den Knechten und Bauern Aufträge und verteilt eigenhändig Nahrungsmittel an sie, bevor sie jeden an seine Arbeit schickt. Durch die weit geöffnete Tür sieht man sie in der geräumigen Küche in ihrem dunklen Gewand hin- und hergehen. Sie spricht bald mit diesem, bald mit jenem und versorgt jeden Arbeiter mit dem Notwendigen. Ein Schwarm Tauben wartet gurrend vor der Tür; auch sie wollen ihren Anteil haben.

Jesus nähert sich lächelnd, und er ist schon fast an der Tür, als Maria des Simon mit einem Säcklein Körner in der Hand auf der Schwelle erscheint und sagt: «Jetzt seid ihr an der Reihe, meine Täubchen. Das ist eure erste Mahlzeit, und dann geht fröhlich an die Sonne, den Herrn zu loben. Brav, brav! Es ist für alle etwas da und es gibt keinen Grund, euch zu streiten ...» Dann streut sie die Körner in alle Richtungen aus, um heftige Streitereien unter den gefräßigen Tierlein zu vermeiden. Sie hat Jesus

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noch nicht erblickt, denn sie steht mit geneigtem Haupt da, und nun bückt sie sich sogar, um die Vögel zu streicheln, die ihr zum Zeichen ihrer Anhänglichkeit die Zehen picken. Maria nimmt ein Täubchen in die Hand und streichelt es, dann setzt sie es wieder auf den Boden und seufzt.

Jesus tut einen Schritt vorwärts und sagt: «Der Friede sei mit dir, Maria, und mit deinem Haus!»

«Der Meister!» ruft die Frau, läßt das Säcklein, das sie unter dem Arm hält, fallen, und eilt Jesus entgegen, wobei sie die Tauben in die Flucht treibt; letztere kehren aber sofort zurück, um hartnäckig an der Schnur des Säckleins und an der Leinwand zu zupfen.

«O Herr! Welch ein heiliger und seliger Tag!» Sie schickt sich an, niederzuknien, um die Füße Jesu zu küssen.

Aber er hindert sie daran mit den Worten: «Die Mütter meiner Apostel und die heiligen Israelitinnen dürfen sich bei meinem Erscheinen nicht wie Sklavinnen erniedrigen. Sie haben mir die Treue ihres Geistes und ihre Söhne geschenkt. Ihnen gilt meine besondere Liebe.»

Die Mutter des Judas küßt ihm gerührt die Hände und flüstert: «Danke, Herr!»

Dann erhebt sie das Haupt und bemerkt die Gruppe der Apostel, die bei den letzten Bäumen stehengeblieben sind, und daß ihr Sohn ihr nicht entgegenkommt. Als sie genauer hinschaut, wird sie bleich vor Schrecken. Sie schreit fast auf bei der Frage: «Mein Sohn, wo ist er'?» und schaut dabei Jesus mit Furcht und Sorge an.

«Habe keine Sorge, Maria. Ich habe ihn mit Simon dem Zeloten zum Haus des Lazarus geschickt. Wenn ich mich in Masada hätte aufhalten können, wie ich es vorhatte, würde ich ihn hier finden. Aber ich konnte dort nicht bleiben. Die feindlich gesinnte Stadt hat mich verjagt, und ich bin sogleich hierher gekommen, um bei einer Mutter Trost zu finden und ihr selbst Trost zu bringen, indem ich ihr sage, daß ihr Sohn dem Meister dient», sagt Jesus und unterstreicht dabei die letzten Worte, um ihnen eine besondere Bedeutung zu geben.

Maria ist wie eine welke Blume, die sich wieder erholt. Wieder kommen Farbe auf ihre Wangen und Licht in ihren Blick. Sie fragt: «Wirklich, Herr? Ist er gut? Bist du mit ihm zufrieden? Ja? Oh, welche Freude! Freude für das Herz einer Mutter! Ich habe so viel gebetet! So viel! Ich habe so viele Almosen gegeben! So viele! Und Bußübungen... So viele... Was würde ich nicht alles tun, um aus meinem Sohn einen Heiligen zu machen! Danke, Herr! Danke, daß du ihm so viel Liebe schenkst. Denn deine Liebe ist es, die ihn rettet, meinen Judas...»

«Ja. Es ist "unsere" Liebe, die ihn... aufrecht hält ...»

«Unsere Liebe! Wie gut bist du, Herr, daß du meine arme Liebe der deinigen so annäherst, sie vereinigst mit deiner göttlichen Liebe! ... Oh, was für Worte hast du mir da geschenkt! Welch eine Gewißheit! Welch

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einen Trost und welch einen Frieden gibst du mir damit! Solang meine arme Liebe allein wirkte, vermochte sie wenig. Aber du, mit deiner Verzeihung... denn du kennst seine Fehler. Du, mit deiner unendlichen Liebe, die umso mehr zu wachsen scheint, als er ihrer nach einer Sünde bedarf. Oh, du... Mein Judas wird sich endlich überwinden, für immer. Nicht wahr, Meister?» Die Frau blickt ihn mit ihren ernsten, tiefen Augen an, die Hände zum Gebet gefaltet.

Jesus... oh! Jesus, der nicht "Ja" sagen kann, ihr aber auch diese Stunde des Friedens und der Ablenkung von ihren Befürchtungen nicht versagen will, findet eine Antwort, die keine Lüge und auch kein Versprechen ist, aber der Frau dennoch Erleichterung verschaffen kann. Er sagt: «Sein guter Wille, verbunden mit unserer Liebe, kann wahre Wunder wirken, Maria. Bewahre den Frieden in deinem Herzen und denke immer daran, daß Gott dich liebt, sehr liebt. Er versteht dich gut und wird dir stets Freund sein.»

Maria küßt ihm erneut die Hände, um ihm zu danken. Dann sagt sie: «Tritt also ein in mein Haus in Erwartung des Judas. Hier herrschen Liebe und Friede, gesegneter Meister.»

Jesus ruft die Seinen und begibt sich ins Haus, um dort Erquickung und Ruhe zu genießen.

Es ist Abend. Die Nacht senkt sich langsam über die Gefilde. Nach und nach hören alle Geräusche auf, und in diesem allgemeinen Schweigen spricht nur noch das leise Säuseln des Windes im Laub der Bäume. Dann beginnt die erste Grille in den reifen Kornfeldern zu zirpen, eine zweite, eine dritte... und schließlich erklingt in der ganzen Gegend der eintönige Gesang... bis eine Nachtigall ihre ersten Fragen an die Sterne richtet... Schweigend wartet sie auf eine Antwort, und beginnt dann erneut... Worauf wartet sie? ... Vielleicht auf den ersten Mondschein? ... Sie flüstert leise. Sie muß in dem dichten Nußbaum nahe beim Haus sitzen, und vielleicht hat sie dort auch ihr Nest. Es scheint, als spräche sie mit ihrer Gefährtin, die vielleicht gerade brütet... Ein anhaltendes Blöken in geringer Entfernung. Ein Klingen von Glöcklein auf dem Weg nach Kerioth. Dann wieder Schweigen.

Jesus sitzt neben Maria auf einem der Stühle, die man vor das Haus gestellt hat. Er ruht sich zusammen mit den Seinen und der Dienerschaft des Hauses aus. Jesus spricht wenig. Er läßt die Apostel von Engedi, vom alten Synagogenvorsteher und von dem Wunder erzählen, und Maria und die Diener hören aufmerksam zu.

Da regt sich etwas zwischen den Apfelbäumen. Aber wenn man hier auf dein Platz vor dem Haus noch etwas sieht wegen der Sterne, die am heiteren Himmel leuchten, so ist es drüben unter dem dichten Blattwerk stockdunkel; nur das Geräusch von etwas, das sich bewegt, dringt an ihre Ohren.

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«Irgendein nächtliches Tier? Oder ein verlorenes Schaf?» denkt der eine oder andere. Der Gedanke an ein Schaf ruft manch einem das Mutterschaf in Erinnerung, das sich beklagt, weil ihm das Lamm genommen wurde, um geschlachtet zu werden.

«Das Tier gibt keine Ruhe!» sagt der Verwalter. «Ich fürchte, daß ihm die Milch vertrocknet. Seit heute morgen frißt es nicht mehr und blökt und blökt... Hört es nur! ...»

«Es wird sich damit abfinden... Die Lämmer kommen doch nur zur Welt, um von uns verzehrt zu werden», sagt ein Knecht philosophisch.

«Aber sie sind nicht alle gleich. Dieses hier ist weniger dumm und leidet umso mehr. Hörst du? Ist das nicht ein wirkliches Weinen? Heiße mich nicht einfältig, Meister... Ich leide darunter, wie wenn es das Weinen einer Mutter wäre, die ihren Sohn verloren hat ...»

«Du hingegen hast deinen Sohn wiedergefunden, o Mutter!» sagt Judas von Kerioth, der zusammen mit Simon hinter ihrem Rücken auftaucht und alle vor Überraschung aufspringen läßt.

«Meister! Deinen Segen bei der Rückkehr, wie du ihn uns bei der Abreise gegeben hast.»

«Ja, Judas», und Jesus umarmt die beiden Heimkehrer.

«Und den deinen, Mutter...» und Maria küßt und umarmt ihren Sohn.

«Wir haben nicht geglaubt, dich schon hier zu finden, Meister. Wir sind unermüdlich gewandert und haben alle möglichen Abkürzungen benützt, um von niemandem aufgehalten zu werden. Wir sind aber einigen Jüngern begegnet und haben Johanna und Elisa mitgeteilt, daß wir uns bald sehen werden», erklärt Simon.

«Ja, und Simon marschierte wie ein Jüngling, Meister. Wir haben unseren Auftrag ausgeführt. Lazarus geht es sehr schlecht. Die Hitze setzt ihm sehr zu, und er läßt dich bitten, bald zu ihm zu kommen... Meister, ich bin nirgendwo hingegangen, außer zur Burg Antonia, um Egla einen Gefallen zu tun, die sich vor ihrer Abreise nach Jericho bei Claudia bedanken wollte. Ist es nicht so, Simon?»

«So ist es. Zur Antonia sind wir um die sechste Stunde gegangen, an einem schwülen Tag, an dem es alle vorzogen, zu Hause zu bleiben. Während Judas mit Claudia sprach, die Albula Domitilla in den Garten gerufen hatte, wurde ich von den anderen Frauen befragt. Ich glaube nicht schlecht gehandelt zu haben, als ich so gut wie möglich erklärt habe, was sie gern wissen wollten.»

«Du hast es gut gemacht. Sie haben den aufrichtigen Willen, die Wahrheit kennenzulernen.»

«Claudia hat den aufrichtigen Willen, dir zu helfen. Sie hat Egla entlassen, die sich von Plautina und den anderen verabschieden gegangen ist, und hat mir viele Fragen gestellt. Wenn ich recht verstanden habe, will sie Pontius überreden, den pharisäischen und sadduzäischen Verleumdungen

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keinen Glauben zu schenken. Pontius verläßt sich bis zu einem gewissen Grad auf seine Centurionen, die sich wohl für das Schlachtfeld, aber nicht für Gesandtschaften eignen. Oft bedient er sich jedoch seiner Frau, die schlau ist bis zur List und den Dingen auf den Grund geht. In Wirklichkeit ist Claudia der Prokonsul. Er muß eine Null sein und ganz unter ihrem Einfluß stehen, denn sie ist eine starke Persönlichkeit und gute Ratgeberin. Sie hat uns Geld geben wollen für deine Armen. Sieh, da ist es.»

«Wann seid ihr angekommen? Ihr scheint gar nicht müde und staubig zu sein», fragt Jakobus des Zebedäus.

«Zwischen der dritten und sechsten Stunde. Wir sind nach Kerioth gegangen, um zu sehen, ob meine Mutter dort sei, und um ihr deine Ankunft anzukündigen. Ich habe mich nach deinem Willen gerichtet, Meister, und habe mich nicht von menschlichen Wünschen versuchen lassen. Nicht wahr, Simon?»

«So ist es.»

«Du hast gut daran getan. Gehorche immer, und du wirst dich retten.»

«Ja Meister. Jetzt, da ich weiß, daß Claudia auf unserer Seite ist, habe ich nicht mehr diese törichte Eile. Alles geschah aber immer aus Liebe, das mußt du zugeben. Es war eine ungeordnete Liebe... ungeordnet, weil ich mich ohne Schutz fühlte, ohne Hilfe, um ans Ziel zu kommen, das darin besteht, dich beliebt zu machen und dich geehrt zu sehen, wie du es verdienst und wie es sein muß. Jetzt bin ich ruhiger. Jetzt befürchte ich nichts mehr, und das Warten ist mir sogar lieb.» Judas träumt mit offenen Augen.

«Überlaß dich nicht deinen Träumen, Judas. Bleibe bei der Wahrheit. Ich bin das Licht der Welt, und das Licht wird immer im Gegensatz zur Finsternis stehen», mahnt Jesus.

Der Mond ist aufgegangen. Sein weißer Schein legt sich auf die Gefilde, läßt alle Gesichter fahl erscheinen und versilbert Häuser und Bäume. Der Nußbaum ist nach Osten hin ganz davon eingehüllt.

Die Nachtigall nimmt die Einladung des Mondes an und beginnt ihren langen, melodischen Gesang, den sie bewahrt hat, um damit die Nacht und den Mond zu begrüßen.

441. DER ABSCHIED VON KERIOTH

Jesus spricht in der Synagoge von Kerioth, in der die Menschen unglaublich dichtgedrängt stehen. Er antwortet diesen und jenen, die ihn etwas abseits um Ratschläge bitten, welche ihr privates Leben betreffen. Nachdem er alle zufriedengestellt hat, beginnt er mit lauter Stimme zu reden.

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«Leute von Kerioth, hört mein Gleichnis zum Abschied. Wir wollen ihm den Titel geben: "Die beiden Willensarten."

Ein Vater hatte zwei Söhne. Er liebte beide mit gleich weiser Liebe und ließ beiden eine gute Erziehung angedeihen, ohne einen Unterschied zwischen ihnen zu machen. Dennoch waren die beiden Söhne sehr verschieden voneinander.

Einer, der Erstgeborene, war demütig und gehorsam. Ohne Widerspruch führte er den Willen des Vaters aus, immer heiter und zufrieden mit seiner Arbeit.

Der andere, obwohl jünger, war oft unzufrieden und im Widerstreit mit dem Vater und seinem eigenen Ich. Immer sann er nach über die Ratschläge und die Anordnungen, die er erhielt, aber in sehr menschlicher Weise. Anstatt sie so auszuführen, wie es ihm aufgetragen worden war, erlaubte er sich, die Dinge nach eigenem Gutdünken zu ändern, als ob der Auftraggeber ein ganz törichter Mensch wäre. Der größere Bruder sagte zu ihm: "Handle nicht so. Du betrübst deinen Vater!" Aber er antwortete: "Du bist töricht. Wenn ich so alt wäre wie du, und noch dazu der Erstgeborene, würde ich mich nicht zufriedengeben mit der Stellung, die dir der Vater zugewiesen hat. Ich würde den Dienern zu spüren geben, daß ich der Herr bin. Du scheinst selbst ein Knecht zu sein mit deiner ewigen Sanftmut. Merkst du nicht, daß dich im Grunde trotz deiner Erstgeburt niemand ernst nimmt? Manch einer macht sich sogar über dich lustig..." Von Satan versucht oder vielmehr als Schüler Satans, wurde der Zweite zum Versucher des Erstgeborenen. Dieser aber befolgte die Gebote Gottes und blieb dem Vater treu, den er durch sein tadelloses Benehmen ehrte.

Jahre vergingen, und der Zweitgeborene wurde unwillig darüber, daß er nicht herrschen konnte, wie er es sich erträumt hatte, und nachdem er den Vater wiederholt gebeten hatte: "Gib mir das Kommando. Laß mich in deinem Namen und zu deiner Ehre verhandeln, anstatt es diesem Törichten zu überlassen, der sanfter ist als ein Lamm"; nachdem er vergeblich versucht hatte, seinen Bruder dazu zu bringen, mehr zu tun, als der Vater befahl und strenger mit seinen Knechten, mit den Mitbürgern und Nachbarn umzugehen, sprach er zu sich selbst: "Jetzt ist es aber genug! Hier steht auch unser guter Name auf dem Spiel! Da jedoch niemand das Heft in die Hand nimmt, will ich es tun", und er begann, auf eigene Faust zu handeln, indem er sich dem Übermut, der Lüge und dem skrupellosen Ungehorsam hingab.

Der Vater sagte zu ihm: "Mein Sohn, unterwirf dich dem Erstgeborenen. Er weiß, was er tut." Er sagte auch: "Mir wird berichtet, daß du dies und das getan hast. Ist das wahr?" Der Zweitgeborene sprach, indem er als Antwort auf die väterliche Ermahnung die Achseln zuckte: "Ja, ja, er weiß, was er tut. Aber er ist zu schüchtern und zaghaft. Er verpaßt die besten Gelegenheiten, um Gutes für uns herauszuschlagen..." Und auch:

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"Das habe ich nicht getan." Der Vater sprach: "Suche nicht Hilfe bei diesem oder jenem. Wer kann dir besser helfen, unserem Namen Ehre zu machen, als wir selbst? Es sind falsche Freunde, die dich anstacheln, um dann hinter deinem Rücken zu lachen." Da sagte der Zweitgeborene: "Du bist eifersüchtig, weil ich derjenige bin, der die Initiative ergreift. Im übrigen weiß ich, daß ich richtig handle."

Es verging noch einige Zeit. Der Erstgeborene nahm an Gerechtigkeit zu, und der andere nährte seine Leidenschaften. Endlich sagte der Vater: "Jetzt ist es an der Zeit, Schluß zu machen. Entweder beugst du dich meinem Wort oder du verlierst meine Liebe." Da ging der Widerspenstige hin, um es seinen falschen Freunden zu erzählen. "Bist du darüber traurig? Aber nein! Es gibt einen Weg, es dem Vater unmöglich zu machen, den einen Sohn dem anderen vorzuziehen. Gib uns freie Hand, und wir werden alles Notwendige erledigen. Du wirst keine direkte Schuld haben, und das Besitztum wird zu neuer Blüte gelangen, wenn der allzu Gutmütige aus dem Wege geräumt ist und du endlich handeln kannst. Weißt du nicht, daß es besser ist, einen harten Schlag zu versetzen, auch wenn er Schmerz bereitet, als in Untätigkeit zu verharren, was dem Besitztum nur schadet?" So antworteten jene.

Und der Zweitgeborene, nunmehr mit Widerwillen gesättigt, gab seine Einwilligung zu dem schändlichen Komplott.

Nun sagt mir: Kann man vielleicht den Vater beschuldigen, bei seinen Söhnen zwei verschiedene Erziehungsmethoden angewandt zu haben? Kann man behaupten, er sei mitschuldig? Nein. Woher kommt es also, daß der eine Sohn rechtschaffen und der andere ein Bösewicht ist? Werden den Menschen vielleicht von Anfang an verschiedene Willensarten mitgegeben? Nein, der Wille ist allen Menschen in gleicher Weise gegeben. Der Mensch ist frei und gebraucht ihn, wie es ihm beliebt; der Gute benützt diese Freiheit gut, und der Böse schlecht.

Ich ermahne euch, Leute von Kerioth, und es wird das letzte Mal sein, daß ich euch auffordere, auf den Wegen der Weisheit zu wandeln und nur dem guten Willen zu folgen. Bald am Ende meiner Sendung angelangt, wiederhole ich euch die Worte, die bei meiner Geburt gesungen wurden: "Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind!" Friede! Das heißt Sieg auf Erden und im Himmel; denn Gott ist mit dem, der den guten Willen hat, ihm zu gehorchen. Gott schaut nicht so sehr auf die hochtrabenden Werke, die der Mensch auf eigene Initiative hin vollbringt, als vielmehr auf die demutsvolle, bereitwillige und treue Ausführung der Werke, die er zu tun aufgibt.

Ich erinnere euch an zwei Begebenheiten aus der Geschichte Israels, zwei Beweise dafür, daß Gott nicht dort ist, wo der Mensch eigenmächtig und gegen den empfangenen Befehl handeln will.

Betrachten wir auch die Makkabäer. Es steht geschrieben, daß, während

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Judas Makkabäus mit Jonathan hinging, um in Gilead zu kämpfen, und Simon, um die anderen in Galiläa zu befreien, Joseph des Zacharias und Azarias, den Häuptern des Volkes, aufgetragen wurde, in Judäa zu bleiben und es zu verteidigen. Judas sagte ihnen: "Sorgt für dieses Volk, fangt aber keinen Krieg mit den Heiden an, bis wir zurückkommen!" Aber Joseph und Azarias, die von großen Siegen der Makkabäer hörten, wollten ebensolche erringen und sprachen: "Auch wir wollen uns Ruhm erwerben, ausziehen und gegen die Heiden in unserer Umgebung Krieg führen! " Da wurden sie besiegt und geschlagen, und "groß war die Flucht des Volkes, weil sie Judas und seinen Brüdern nicht gehorcht hatten, sondern selbst die Helden spielen wollten." Hochmut und Ungehorsam!

Was liest man ferner im Buch der Könige? Es steht geschrieben, daß Saul mehrmals getadelt wurde. Beim zweiten Mal wurde er für seinen Ungehorsam so sehr bestraft, daß David an seiner Stelle erwählt wurde. Also wegen seines Ungehorsams. Denkt daran! "Will der Herr Ganzopfer und Lobopfer, oder will er nicht vielmehr, daß man der Stimme des Herrn gehorche? Der Gehorsam ist mehr wert als das Opfer; ihm 'Ja' zu sagen ist mehr wert als das Fett der Hammel, denn die Auflehnung ist wie das Verbrechen der Magie, das Sich-nicht-unterwerfen-Wollen des Verbrechens der Abgötterei. Weil du das Wort des Herrn verworfen hast, hat auch der Herr dich verworfen, und er will dich nicht mehr als König haben."

Erinnert euch daran! Bedenkt es! Als Samuel gehorsam sein Horn mit Öl füllte und zu Isai nach Bethlehem ging, weil Gott sich dort einen anderen König ausgewählt hatte, und als die Söhne, die mit Isai zum Mahl kamen, nach dem Opfer Samuel vorgestellt wurden, da erschien zuerst Eliab, der ein schönes Antlitz hatte, hochgewachsen war und sich im besten Alter befand. Aber der Herr sagte zu Samuel: "Schaue nicht auf sein Aussehen und seine hohe Gestalt, denn ich habe ihn nicht erkoren, weil ich nicht auf das sehe, worauf der Mensch sieht. Der Mensch schaut ja auf das Äußere, der Herr aber schaut auf das Herz!" Und Samuel erwählte nicht Eliab zum König. Dann wurde ihm Amminadab vorgestellt. Aber Samuel sprach: "Auch diesen hat der Herr nicht erwählt." Isai stellte nun Schamma vor. Aber Samuel sagte: "Auch diesen hat der Herr nicht erkoren." Und so erging es allen sieben Söhnen des Isai, die beim Mahl zugegen waren. Aber Samuel sprach: "Sind das alle deine Kinder?" "Nein", antwortete Isai, "nur der Jüngste fehlt noch, er weidet gerade das Kleinvieh." "Sende hin und laß ihn holen, wir werden uns erst zum Mahl setzen, wenn er da ist." Und David kam, blond und schön, ein Knabe. Der Herr sprach: "Salbe ihn! Er ist der König."

Denn das sollt ihr immer wissen: Gott wählt, wen er will, und nimmt dem, der unwürdig ist, da er seinen Willen durch Stolz und Ungehorsam verdorben hat. Ich werde nicht mehr zu euch zurückkehren. Der Meister vollendet nun sein Werk. Danach wird er mehr sein als ein Meister. Bereitet

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eure Herzen vor für diese Stunde, denn wie meine Geburt den Menschen guten Willens zum Heil gereichte, so wird auch meine Ganzhingabe Rettung sein für jene, die guten Willens gewesen und mir als Meister in meiner Lehre gefolgt sind, wie auch für die, die meiner Lehre später, nach meiner Ganzhingabe, folgen werden.

Lebt wohl, ihr Männer, Frauen und Kinder von Kerioth! Lebt wohl. Schauen wir uns tief in die Augen. Vereinigen wir unsere Herzen, das meinige und die eurigen, im Kuß der Liebe und des Friedens, und möge die Liebe stets lebendig bleiben, auch wenn ich nicht mehr hier, nie mehr unter euch sein werde...

Als ich zum ersten Mal hierher kam, hauchte ein Gerechter im Kuß seines Erlösers seine Seele aus. Es war eine Vision der Herrlichkeit Gottes... Jetzt, da ich das letzte Mal hier bin, segne ich euch mit Liebe...

Lebt wohl! Der Herr gebe euch Glauben, Hoffnung und Liebe in vollkommenem Maße. Er gebe euch Liebe, Liebe, Liebe: zu ihm, zu mir, zu allen Guten, zu allen Unglücklichen, zu allen Schuldbeladenen, zu denen, die eine Last tragen, die nicht die ihrige ist...

Erinnert euch daran. Seid gut. Seid nicht ungerecht. Bedenkt, daß ich immer verziehen habe. Nicht nur die Schuldigen, sondern ganz Israel habe ich mit meiner Liebe umfangen; ganz Israel, bestehend aus Guten und Bösen, so wie es in einer Familie Gute und Böse gibt; und es wäre ungerecht zu behaupten, daß eine ganze Familie schlecht ist, weil eines ihrer Mitglieder es ist.

Ich gehe nun. Wenn jemand noch mit mir sprechen möchte, komme er am Abend zum Landhaus der Maria des Simon.»

Jesus erhebt seine Hand zum Segen; dann geht er eilends durch eine Seitentür, gefolgt von den Seinen.

Das Volk flüstert: «Er kommt nicht wieder!»

«Was wollte er damit sagen?»

«Er hatte Tränen in den Augen, als er sich verabschiedete ...»

«Habt ihr gehört? Er sagt, er werde aufgenommen werden!»

«Dann hat Judas wirklich recht! Gewiß wird er später, als König, nicht mehr unter uns weilen wie jetzt ...»

«Aber ich habe mit seinen Brüdern gesprochen. Sie sagen, er werde nicht König sein, wie wir uns das vorstellen, sondern König der Erlösung, wie die Propheten ihn verkündet haben. Er wird der Messias sein. Das ist es!»

«Gewiß, der Messias-König!»

«Aber nein! Der Erlöser-König und Mann der Schmerzen.»

«Ja.»

«Nein.»

Jesus geht inzwischen raschen Schrittes feldeinwärts.

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442. ANNA UND MARIA VON KERIOTH; ABSCHIED VON DER MUTTER DES JUDAS

«Herr, würdest du nicht mit mir kommen, mit mir allein, zu einer unglücklichen Mutter? Das ist es, was ich mehr als alles andere wünsche», sagt Maria des Simon. «Ehrfurchtsvoll steht sie vor Jesus, während die Apostel sich nach dem Mittagessen zur Ruhe begeben haben, um am Abend ihre Reise fortsetzen zu können. Jesus hingegen steht im Schatten der Apfelbäume, die mit grünen Äpfelchen, die der Reife entgegengehen behangen sind, und es scheint, daß Maria ein vorher begonnenes Gespräch wieder aufnimmt.

«Ja, Frau. Auch ich möchte noch etwas bei dir sein, allein, in diesen letzten Stunden wie in den ersten, als ich hier war. Gehen wir.» Sie gehen zurück ins Haus. Jesus nimmt seinen Mantel, Maria Schleier und Mantel.

Sie gehen auf Feldwegen zwischen Apfelbäumen und anderen hochstämmigen Obstbäumen. Es ist noch warm. Von den reifen Kornfeldern wehen glühende Hitzewellen herüber, doch der Bergwind mäßigt die Hitze, die in der Ebene sonst unerträglich wäre.

«Es tut mir leid, dich in dieser Hitze herumzuführen, aber später könnten wir es nicht mehr... und ich habe mich so sehr danach gesehnt, ohne es zu wagen, dich darum zu bitten. Vor kurzem hast du mir gesagt: "Maria, um dir zu beweisen, daß ich dich liebe, wie wenn du meine Mutter wärest, sage ich dir: Bitte mich um was immer du dir wünschst, und ich werde dich zufriedenstellen." Und nun habe ich es gewagt. Herr, weißt du, wohin wir gehen?»

«Nein Frau.»

«Wir gehen zum Hause derjenigen, die die Schwiegermutter des Judas hätte werden sollen (Maria seufzt schmerzlich auf). Hätte werden sollen... Sie ist es nicht geworden und wird es nie werden, denn Judas hat das Mädchen verlassen, das darüber vor Schmerz gestorben ist... und die Mutter ist mir und meinem Sohn gram und verflucht uns fortwährend. Judas ist so schwach ... so schwach dem Bösen gegenüber, daß er nur Segnungen braucht! ... Ich möchte, daß du mit ihr sprichst. Du kannst sie überreden... Du kannst sie überzeugen davon, daß es eine Gnade gewesen ist, daß die Heirat nicht zustande kam... Sage ihr, daß ich keine Schuld daran trage... Sage ihr, daß sie ihren Groll nicht mit ins Grab nehmen soll; denn die Frau stirbt allmählich mit dieser Verkrampfung der Seele. Ich möchte, daß zwischen uns Frieden herrscht... denn ich habe darunter gelitten und habe mich geschämt über das, was vorgefallen ist. Mit Schmerzen sehe ich, wie eine Freundschaft zerbrochen ist, die bestanden hat, seit ich als Gattin hierher gekommen bin. Im übrigen weißt du ja Bescheid, Herr ...»

«Ja. Gräme dich nicht. Deine Bitte ist gerecht, und ich werde deinen Wunsch erfüllen, weil er gut ist.»

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Nachdem sie durch ein Tal gegangen sind, ersteigen sie eine Anhöhe, auf der ein Dörflein liegt.

«Anna lebt hier auf ihren Besitzungen, seit ihre Tochter gestorben ist. Vorher hat sie in Kerioth gewohnt. Aber wenn wir uns damals hin und wieder begegnet sind, haben ihre Vorwürfe mein Herz zerrissen.»

Kurz vor dem Dorf schlagen sie einen Pfad ein und gelangen zu einem niedrigen Haus inmitten von Feldern.

«Sieh! Oh! Mein Herz zittert, jetzt, da ich hier bin. Sie wird mich gar nicht sehen wollen... Sie wird mich verjagen ... Sie wird sich aufregen, und dann wird ihr armes Herz noch mehr leiden ... Meister ...»

«Ja, ich werde allein gehen. Du, bleibe hier, bis ich dich rufe, und bete, um mir zu helfen.»

Jesus geht allein bis zur weit geöffneten Haustür und tritt mit einem liebevollen Gruß ein.

Eine Frau eilt herbei: «Was willst du? Wer bist du?»

«Ich bin gekommen, deiner Herrin Erleichterung zu bringen. Führe mich zu ihr.»

«Ein Arzt nützt nichts! Es gibt keine Hoffnung mehr. Ihr Herz ist dem Tode nahe.»

«Es bleibt noch ihre Seele zu heilen. Ich bin der Rabbi.»

«Auch als solcher kannst du ihr nicht nützen. Sie ist unzufrieden mit dem Ewigen und will keine Predigt hören. Laß sie in Ruhe.»

«Gerade, weil sie sich in einem solchen Zustand befindet, bin ich gekommen. Laß mich zu ihr gehen, und sie wird weniger unglücklich sein in ihren letzten Tagen.»

Die Frau zuckt die Achseln und sagt: «Tritt ein!»

Ein halbdunkler Korridor führt zu verschiedenen Räumen. Die letzte Tür im Hintergrund ist etwas geöffnet, und Klagen dringen aus dem Zimmer. Die Frau tritt ein und sagt: «Meine Herrin, hier ist ein Rabbi, der mit dir sprechen möchte.»

«Wozu? ... Wohl um mir zu sagen, daß ich verdammt bin? Daß ich keinen Frieden finden werde, auch nicht im anderen Leben?» sagt die Kranke keuchend und unruhig.

«Nein, um dir zu sagen, daß dein Friede vollkommen sein wird, wenn du nur willst, und daß du in Ewigkeit glücklich sein wirst mit deiner Johanna», sagt Jesus, der auf der Schwelle erscheint.

Die Kranke, die gelb, aufgedunsen, keuchend und von vielen Kissen gestützt auf ihrem Lager sitzt, schaut ihn an und sagt: «Oh, welche Worte! Es ist das erste Mal, daß ein Rabbi mich nicht tadelt... Welch eine Hoffnung! ... Meine Johanna! ... mit mir... in der Seligkeit... kein Schmerz mehr ... Schmerz, den ein Verfluchter verursacht hat... und der nicht verhindert worden ist von der, die ihn geboren und mich verraten hat... die mich enttäuscht hat... Meine unglückliche Tochter!» Sie keucht immer stärker.

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«Siehst du? Es wird nur schlimmer. Ich wußte es. Geh fort!»

«Nein. Geh du hinaus und laß mich allein mit ihr...»

Die Frau geht kopfschüttelnd weg. Jesus nähert sich langsam dem Bett der Kranken. Voller Güte wischt er ihr den Schweiß von der Stirn, als sie sich bemüht, es mit ihren unglaublich geschwollenen Händen zu tun. Er fächelt ihr mit einem Palmenfächer Luft zu. Dann reicht er ihr zu trinken, da er sieht, daß sie aus einem auf dem Tischlein stehenden Krug zu trinken versucht. Er bedient sie wie ein Sohn seine kranke Mutter. Dann setzt er sich, liebevoll, jedoch fest entschlossen, seine Sendung zu erfüllen.

Die Frau beobachtet ihn, während sie ruhiger wird, und sagt mit schmerzlichem Lächeln: «Du bist schön, du bist gut. Wer bist du, o Rabbi? Du tröstest und erquickst mich mit der gleichen Zartheit wie meine geliebte Tochter.»

«Ich bin Jesus von Nazareth.»

«Du! ? ... Bei mir? ... Warum? ...»

«Weil ich dich liebe. Auch ich habe eine Mutter, und in jeder Mutter sehe ich die meinige, und in den Tränen der Mütter sehe ich die Tränen meiner Mutter ...»

«Warum? Weint deine Mutter? Warum? Ist ihr ein anderer Sohn gestorben ?»

«Noch nicht... Ich bin ihr einziger Sohn und lebe noch. Aber sie weint, weil sie weiß, daß ich sterben muß.»

«Oh! Oh, die Unglückliche! Im voraus wissen, daß der Sohn sterben muß! Aber woher weiß sie es denn? Du bist doch gesund. Du bist gut. Ich habe stets gehofft, bis sie mir dann doch gestorben ist, und sie war so krank! ... Wie kann deine Mutter wissen, daß du sterben mußt?»

«Weil ich der von den Propheten verkündete Menschensohn bin. Ich bin der Mann der Schmerzen, den Isaias vorhergesagt hat. Ich bin der von David besungene Messias. Ich bin der Erlöser, der Heiland, o Frau, und ein furchtbarer Tod erwartet mich... und meine Mutter wird dabeisein... und meine Mutter weiß, seit ich geboren wurde, daß ihr Herz, ebenso wie das meine, von Schmerz gemartert werden wird... Weine nicht... Mit meinem Leiden werde ich deiner Johanna die Pforten des Paradieses öffnen...»

«Auch mir! Auch mir!»

«Ja, zu seiner Zeit. Aber vorher mußt du lernen, zu lieben und zu verzeihen. Du mußt wieder lernen zu lieben... gerecht zu sein... und zu verzeihen. Sonst wirst du nicht mit Johanna und mit mir in den Himmel eingehen können...»

Die Frau weint bitterlich. Sie seufzt: «Lieben... lieben, wenn doch die Menschen uns gelehrt haben, zu hassen... wenn Gott uns die Liebe entzieht und keine Barmherzigkeit walten läßt. Es ist schwierig... Wie können wir lieben, wenn die Menschen uns gequält haben, die Freundinnen uns verletzt haben und Gott uns verlassen hat?»

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«Nein, nicht verlassen. Ich bin hier, um dir himmlische Versprechungen zu geben, um dir zu versichern, daß dein Schmerz sich in Freude wandeln wird, wenn du es nur willst. Anna, höre mir zu... Du weinst über die zerschlagene Hochzeit und machst sie zur Ursache all deiner Schmerzen. Du klagst deswegen einen Menschen des Mordes und seine unglückliche Mutter als Helfershelferin an. Anna! Nur wenige Monate werden vergehen, und du wirst erkennen, daß es eine Gnade des Himmels gewesen ist, daß Johanna nicht die Gattin des Judas geworden ist...»

«Nenne mir nicht seinen Namen!» schreit die Frau.

«Ich nenne ihn dir, um dir zu sagen, daß du dem Herrn danken mußt, und du wirst ihm in einigen Monaten danken ...»

«Ich werde bald tot sein...»

«Nein, du wirst leben und wirst dich meiner Worte erinnern und verstehen, daß es Schmerzen gibt, die viel größer sind als der deine.»

«Noch größer? Das ist nicht möglich!»

«Und was ist der Schmerz meiner Mutter, die mich am Kreuz sterben sehen wird?» Jesus hat sich erhoben. Sein Anblick ist beeindruckend. «Und was ist der Schmerz der Mutter des Verräters Jesu Christi, des Sohnes Gottes? Denke, o Frau, an diese Mutter... Ganz Kerioth und Umgebung hat dich bedauert in deinem Schmerz, und du konntest dich seiner rühmen wie einer Märtyrerkrone. Aber jene Mutter! Wie Kain, ohne Kain zu sein, vielmehr Abel: das Opfer eines verräterischen Sohnes, des Gottesmörders, des Gotteslästerers, des Verfluchten, wird nicht den Blick der Menschen ertragen können, denn jeder Blick wird wie ein Brocken der Steinigung sein, und in jedes Menschen Stimme, in jedem Wort wird sie eine Verwünschung, einen Vorwurf vernehmen. Sie wird keinen Zufluchtsort auf Erden finden bis zum Tode, bis zu jenem Augenblick, da Gott, der Gerechte, sie als Märtyrerin zu sich nehmen und sie vergessen lassen wird, daß sie die Mutter des Gottesmörders ist, indem er ihr den Besitz Gottes verleihen wird... Ist das nicht ein größerer Schmerz?»

«Oh, ein unermeßlicher Schmerz! ...»

«Du siehst also. Sei gut, Anna. Erkenne an, daß Gott in seinem Handeln gut zu dir gewesen ist ...»

«Aber meine Tochter ist tot! Judas hat sie sterben lassen, um eine größere Erbschaft zu haben... Seine Mutter hat es gebilligt.»

«Nein, das ist nicht wahr. Ich sage es dir, ich, der ich in die Herzen schaue. Judas – er ist zwar mein Apostel, aber ich sage es – hat schlecht gehandelt und wird dafür bestraft werden. Aber seine Mutter ist unschuldig. Sie liebt dich und möchte, daß auch du sie liebst... Anna, ihr seid zwei unglückliche Mütter. Aber du rühmst dich deiner toten Tochter, die unschuldig und rein war und die die Welt in Ehren hält... Maria des Simon kann sich ihres Sohnes nicht rühmen. Seine Taten werden von den Menschen getadelt.»

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«Das ist wahr. Aber wenn er Johanna geheiratet hätte, wäre er nicht getadelt worden.»

«Aber bald hättest du Johanna vor Schmerzen sterben sehen, weil Judas eines gewaltsamen Todes sterben wird.»

«Was sagst du? O unglückliche Maria! Wann? Wie? Wo?»

«Bald, und in fürchterlicher Weise... Anna! Anna, du bist gut! Du bist eine Mutter! Du weißt, was der Schmerz einer Mutter bedeutet! Anna, werde wieder die Freundin von Maria. Der Schmerz soll euch verbinden, wie euch einst die Freude verbunden hat. Laß mich in der Gewißheit abreisen, daß sie wenigstens eine Freundin haben wird ...»

«Herr... sie lieben... Das bedeutet, ihr verzeihen... Das ist sehr schwer ... Es kommt mir vor, als müßte ich meine Tochter noch einmal begraben ... als würde ich selbst sie töten...»

«Das sind Gedanken, die aus der Finsternis kommen! Höre nicht auf sie. Höre auf mich, das Licht der Welt. Das Licht sagt dir, daß es weniger bitter für Johanna gewesen ist, als Jungfrau zu sterben, als wenn sie als Witwe des Judas hätte sterben müssen. Glaube mir, Anna, und bedenke, daß Maria des Simon unglücklicher ist als du ...»

Die Frau denkt nach, kämpft mit sich, weint und sagt: «Aber ich habe sie verflucht, sie und die Frucht ihres Leibes! Ich habe gesündigt ...»

«Und ich vergebe dir diese Sünde, und je mehr du sie liebst, desto mehr wirst du im Himmel freigesprochen sein.»

«Aber wenn ich ihre Freundin werde... werde ich Judas begegnen. Das kann ich nicht, Herr, das ist mir unmöglich! ...»

«Du wirst ihm nie mehr begegnen. Ich werde nicht mehr nach Kerioth zurückkehren, und Judas ebensowenig. Wir haben schon von den Bürgern Abschied genommen.»

«Oh, du hast gesagt ...»

«Daß ich nicht mehr wiederkommen werde. Und Judas hat gesagt, daß er nicht wiederkommen wird bis zu meiner Ganzhingabe. Aber er glaubt, daß er mich einen Thron besteigen sehen wird. Statt dessen erwartet mich der Tod am Kreuz. Er glaubt, daß er mein Minister sein wird. Statt dessen erwartet ihn der Tod... Aber das sollst du niemandem sagen. Niemals! Auch die Mutter soll es nicht wissen, bis alles erfüllt ist. Du hast gesagt: "Die Unglückliche! Im voraus wissen, daß der Sohn sterben muß!" Aber wenn die Leiden meiner Mutter deshalb auch das Verdienst meines Opfers vermehren werden, so ist es für Maria des Simon Barmherzigkeit, wenn darüber geschwiegen wird. Du wirst nicht darüber sprechen.»

«Nein, Herr. Ich schwöre es dir beim Namen meiner Johanna.»

«Ich möchte noch ein Versprechen... ein großes ... heiliges Versprechen! Du bist gut. Du liebst mich schon ...»

«Ja, sehr! Ich bin in Frieden, seit du hier bist ...»

«Wenn Maria des Simon keinen Sohn mehr haben und die Welt sie mit

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Schmach bedecken wird, sollst du, du allein, ihr Haus und Herz öffnen. Versprichst du mir das, im Namen Gottes und der Johanna? Sie würde es getan haben, denn Maria war für sie stets die Mutter des immer Geliebten», sagt Jesus mit Nachdruck.

«Ja!» und sie bricht in Tränen aus...

«Gott segne dich, Frau, und gebe dir Frieden... und Heil... Komm, wir wollen Maria entgegengehen, um ihr den Friedenskuß zu geben...»

«Aber Herr, ich kann nicht gehen, denn meine Beine sind geschwollen und steif. Siehst du? Ich sitze hier, angekleidet, aber ich bin nur eine arme Gelähmte ...»

«Du warst es. Komm!» Und er reicht ihr einladend die Hand. Die Frau heftet ihre Augen fest auf die seinen, bewegt ihre Beine, streckt sie auf dem Lager aus, setzt die unbekleideten Füße auf den Boden, erhebt sich und macht einige Schritte... Sie scheint so bezaubert zu sein, daß sie nicht einmal die erlangte Heilung bemerkt... Sie geht, immer an Jesu Hand, durch den halbdunklen Korridor... und eilt auf den Ausgang zu. Als sie fast dort angelangt sind, begegnen sie der Dienerin, die einen Schrei freudigen Schreckens ausstößt... Andere Diener eilen herbei. Sie befürchten schon, einen Todesschrei gehört zu haben; statt dessen sehen sie ihre Herrin, noch kurz zuvor eine Sterbende und voller Groll gegen Maria des Simon, mit raschen Schritten und ausgebreiteten Armen zu der gedemütigten Maria eilen, sie anreden, sie an ihr Herz drücken, während beide in Tränen ausbrechen...

... Auf dem Rückweg zu ihrem Haus, nachdem sie die Frau in Frieden zurückgelassen haben, dankt Maria des Simon ihrem Herrn und fragt: «Wann wirst du wiederkommen, um Gutes zu tun?»

«Nie, o Frau. Ich habe es schon deinen Mitbürgern gesagt. Aber mein Herz wird beständig bei dir sein. Erinnere dich, denke immer daran, daß ich dich geliebt habe und dich liebe. Erinnere dich daran, daß ich weiß, daß du gut bist, und daß Gott dich dafür liebt. Erinnere dich immer daran. Auch wenn schreckliche Stunden kommen. Nie soll dich der Gedanke überwältigen, daß Gott dich als schuldig richten wird. In seinen Augen wird deine Seele immer mit den Edelsteinen aller Tugenden und den Perlen deiner Leiden geschmückt erscheinen. Maria des Simon, Mutter des Judas, ich will dich segnen, ich will dich umarmen und küssen, denn dein mütterlicher, aufrichtiger, getreuer Kuß wird mir jeden anderen ersetzen... und mein Kuß wird dir in allen Schmerzensstunden ein Trost sein. Komm, Mutter des Judas. Ich danke dir für alle Liebe und Ehre, die du mir erwiesen hast.» Er umarmt sie und küßt sie auf die Stirn, wie er es bei Maria des Alphäus macht.

«Aber wir werden uns noch einmal sehen! An Ostern werde ich kommen...»

«Nein, komm nicht. Ich bitte dich darum. Willst du mich glücklich

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machen? Dann komm nicht! Die Frauen sollen nicht zum nächsten Passahfest kommen. Nein!»

«Aber warum nicht?»

«Weil es am nächsten Passahfest in Jerusalern einen furchtbaren Aufruhr geben wird. Da ist kein Platz für Frauen! Ja noch mehr, Maria, ich werde deinem Verwandten gebieten, zu dir zu kommen. Bleibt beisammen. Du bedarfst seiner, weil... Judas dir von nun an nicht mehr helfen können wird, weil er nicht mehr kommen wird ...»

«Ich werde tun, wie du sagst... Also werde ich dich nie mehr sehen? Werde ich dein Antlitz nie mehr schauen? Wieviel Freude hast du mit deinen Augen in mein leidvolles Herz gegossen! ...» Maria weint.

«Weine nicht. Das Leben ist kurz. Einst wirst du mich in alle Ewigkeit in meinem Reich schauen.»

«Also glaubst du, daß deine niedrige Dienerin in das himmlische Reich eingehen wird?»

«Ich sehe schon deinen Platz inmitten der Scharen der Märtyrer und der Miterlöserinnen. Fürchte dich nicht, Maria. Der Herr wird dein ewiger Lohn sein. Gehen wir. Der Abend senkt sich hernieder, und es ist Zeit, aufzubrechen...»

Nun gehen sie wieder auf den Wegen zwischen den Feldern und Obstbäumen bis zum Haus, wo die Apostel sie erwarten. Jesus verabschiedet sich kurz und segnet alle Anwesenden. Dann stellt er sich an die Spitze der Seinen... und geht... Maria sinkt auf die Knie und weint...

443. ABSCHIED VON JUTTA

Jesus spricht an einem heiteren Morgen zum Volk von Jutta. Oh, man kann wirklich sagen, daß das ganze Volk von Jutta zu seinen Füßen ist. Selbst die Hirten, die gewöhnlich auf den Höhen der Berge verstreut sind, sind mit ihren Schafen am Rand der Menschenmenge. Auch die, die sonst anderswo sind, auf den Feldern, in den Wäldern oder auf den Märkten, sind heute alle da. Die gebrechlichen Alten sind da, und ganz nahe bei Jesus die lachenden Kinder, Mädchen und jungen Bräute, und auch schwangere Frauen sowie Mütter mit ihrem Kind an der Brust. Ganz Jutta.

Der Bergvorsprung gegen Süden gleicht einem Amphitheater, das diese heitere Versammlung von Menschen aufnimmt. Sie sitzen im Gras oder rittlings auf trockenem Gemäuer, mit einem weiten Horizont ringsumher und einem endlosen Himmel darüber. In der Tiefe lacht und glitzert in der Morgensonne ein Gießbach, und die Schönheit der mit Wiesen und Wäldern bedeckten Berge umgibt alles. Die Bewohner von Jutta schauen

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auf den Meister, der sich an einen sehr hohen Nußbaum gelehnt hat und von dort aus spricht. Sein weißes Gewand hebt sich von dem dunklen Stamm ab. Jesus steht mit lächelndem Antlitz und strahlenden Augen da, weil er sich geliebt sieht. Die Sonne streichelt sein flammendes Haar. Das ehrfürchtige, aufmerksame Schweigen wird nur vom Gesang der Vögel und dem Rauschen des Wildbachs in der Tiefe unterbrochen. Die Worte des Meisters dringen sanft in die Herzen der Zuhörer, und seine wohlklingende Stimme erfüllt die Stille mit ihrem musikalischen Klang.

Während ich schreibe, spricht er noch einmal von der Notwendigkeit, den Dekalog, vervollkommnet in seiner Anwendung durch seine Lehre der Liebe, zu befolgen, «um in den Herzen die Stätte zu bereiten, wo der Herr wohnen wird bis zu jenem Tag, da die Getreuen, die die Gebote halten, bei ihm im Himmelreich wohnen werden». Dann fährt er fort: «Den Einzug Gottes in die Herzen der Menschen erreicht man durch den Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das beginnt mit dem Gebot der Liebe und ganz Liebe ist, vom ersten bis zum letzten seiner Gebote. Das ist die wahre Wohnstatt, die Gott haben will, um darin zu wohnen. Der himmlische Lohn für den Gehorsam gegen das Gesetz ist die wahre Heimat, in der ihr mit Gott in alle Ewigkeit wohnen werdet.

Erinnert euch des 66. Kapitels bei Isaias: Gott hat keine Wohnung auf Erden, die nur der Schemel seiner Füße für seine Unermeßlichkeit ist. Sein Thron ist der Himmel, der immer noch zu klein ist, ein Nichts, um den Unendlichen aufzunehmen, aber in den Herzen der Menschen hat er eine Wohnung. Nur die vollkommenste Güte des Vaters aller Liebe kann seinen Kindern gewähren, ihn aufzunehmen, und es ist ein unendliches Geheimnis, das sich immer mehr vervollkommnet, daß dieser Eine und Dreieine Gott, dieser reinste dreifaltige Geist, in den Herzen der Menschen zu wohnen vermag. Oh, wann, wann, o himmlischer Vater, wirst du mir erlauben, aus denen, die dich lieben, nicht nur einen Tempel für unseren Geist zu bilden, sondern auch ein heiliges Zelt für deine Vollkommenheit der Liebe und der Vergebung, indem du aus jedem treuen Herzen die Lade machst, in der das wahre Brot des Himmels ruht, wie es im Schoß der Gebenedeiten unter allen Frauen ruhte?

0 ihr geliebten Jünger von Jutta, das mir von einem Gerechten vorbereitet wurde, haltet den Propheten vor den Augen des Geistes und was er im Namen des Herrn sagt im Hinblick auf jene, die leere Tempel aus Stein erbauen, in denen es keine Gerechtigkeit und Liebe, keinen Thron des Herrn durch den Gehorsam gegen seine Gebote gibt. Der Prophet sagt: "Was ist das für ein Haus, das ihr mir bauen wollt, und welcher Art ist die Stätte für meinen Ruhesitz?" Er will damit sagen: "Glaubt ihr, mich zu besitzen, weil ihr mir armseliges Mauerwerk errichtet? Glaubt ihr, mir Freude zu bereiten durch eure Lügenhaftigkeit, die mit Heiligkeit des Lebens nichts gemein hat?" Nein. Gott besitzt man nicht durch

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Äußerlichkeiten, die Wunden und Öde verdecken sollen, gleich einem prächtigen, über einen Aussätzigen oder eine leere, tönerne Statue, in der keine lebendige Seele wohnt, geworfenen Mantel.

Er, der Herr der Welt, sagt, indem er seine Armut als König über gar so wenige Untertanen, als Vater von allzuvielen fahnenflüchtigen Söhnen bekennt: "Zu wem sonst soll ich meinen Blick erheben als zum Armen, zum Zerknirschten, der zittert bei meinem Wort?" Weshalb zittert er? Nur aus Furcht vor Gott? Nein, aus tiefer Ehrfurcht und wahrer Liebe, als demütiger Untertan und Sohn, der anerkennt, daß der Herr alles ist und er selbst ein Nichts. Er zittert vor Rührung, weil er sieht, daß der, der alles ist, ihn liebt, ihm verzeiht und hilft.

Oh, sucht Gott nicht unter den Hochmütigen! Dort ist er nicht. Sucht ihn nicht unter den Hartherzigen. Dort ist er nicht. Sucht ihn nicht unter den Unbußfertigen. Dort ist er nicht. Er ist bei den Einfältigen, den Reinen, den Barmherzigen, den Armen im Geiste, den Sanftmütigen, bei denen, die weinen, ohne sich zu beklagen, bei den Suchenden nach der Wahrheit, bei den Verfolgten und den Friedfertigen. Er ist bei den Reumütigen, die Verzeihung suchen und Sühne leisten. Alle diese Menschen opfern weder Ochsen, noch Lämmer noch andere Tiere, um gelobt zu werden, oder aus abergläubischer Angst vor Strafe, oder aus Hochmut, um als vollkommen zu gelten. Sie bringen vielmehr das Opfer ihres zerknirschten und gedemütigten Herzens dar, wenn es Sünder sind; ihres bis zum Heroismus gehorsamen Herzens, wenn es Gerechte sind. Seht, das ist es, was dem Herrn wohlgefällig ist. Das sind die Opfer, für die er sich mit seinen unaussprechlichen Schätzen der Liebe und übernatürlichen Freuden schenkt. Den anderen schenkt er sich nicht. Sie haben ihre armselige Genugtuung schon gehabt, und es ist zwecklos, daß Gott sie auf seine Wege ruft, da sie ja ihre eigenen gewählt haben. Ihnen wird er nichts anderes schicken als Verlassenheit, Schrecken und Strafe; denn sie haben dem Herrn nicht geantwortet und nicht gehorcht. Sie haben vor den Augen Gottes voller Verachtung und aus eigenem Willen Böses getan.

Aber ihr, meine Geliebten von Jutta; ihr, die ihr vor Liebe erzittert, wenn Gott sich euch offenbart; ihr, die ihr um meinetwillen von den Mächtigen töricht gescholten werdet und dennoch in der Liebe verharrt; ihr, die ihr verstoßen werdet um meines Namens willen und verschmäht werdet als Bastarde Israels, als Bastarde Gottes, obwohl gerade in euch und in denen, die mit euch sind, der Rebschößling des ewigen Lebens eingepflanzt ist, der seine Wurzeln im Vater hat, und ihr gerade deswegen Anteil an Gott habt, von dessen Saft und Kraft ihr lebt; ihr, denen man einreden will, daß sie im Irrtum sind, und vor deren einfältigen, aber von der Gnade erleuchteten Augen man sich rechtfertigen will, um nicht als Gotteslästerer und Bösewichte zu erscheinen; ihr, zu denen gesagt wird: "Mag der Herr erscheinen in Herrlichkeit, auf daß wir eure Freude

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mitansehen können!" Ihr allein werdet die Freude besitzen, sie aber werden beschämt werden.

Oh, ich sehe schon, wie sie, die Vipern, die sich auch, nachdem die Verwirrung sie niedergeschmettert hat, nicht bessern werden, nicht aufhören werden zu schaden, bis ihr abscheuliches Haupt zertreten sein wird. Sie werden beißen und morden, selbst wenn sie zweigeteilt sind und nur noch den Kopf erheben können nach einer zerschmetternden Kundgebung Gottes. Schon höre ich sie schreien: "Wie kann der Herr mit einem Schlag sein neues Volk geboren haben, wenn wir, die er so lange in seinem Schoß getragen hat, noch nicht zum Licht geboren sind? Kann eine gebären, ohne daß das Haus mit Jammergeschrei erfüllt wird? Hat der Herr vor der Zeit jemals gebären können? Kann die Erde in einem Tag gebären und kann ein ganzes Volk an einem Tag geboren werden?"

Ich antworte, und merkt euch diese Antwort, um sie denen weiterzugeben, die euch verfolgen und verspotten werden: "Nie hätten jene zum Licht Gottes geboren werden können, die schon im Schoß Gottes tote Frucht waren, weil sie getrennt von der Gebärmutter und leblos sind und daher nicht wachsende Embryos sein können; und um den toten Samen aus seinem Schoß auszustoßen und andere Kinder zu haben, auf daß sein Name auf Erden nicht aussterbe, ist Gott mit neuen Söhnen, bezeichnet mit seinem Tau, fruchtbar geworden. Und im Geheimen, in der Stille, damit Satan und sein Anhang nicht schaden könnten, hat er, von der Glut seiner Liebe erfüllt, seinen Sohn gebildet und zugleich ein neues Volk geboren; denn alles vermag der Herr." Oh, er sagt es auch durch den Mund des Propheten Isaias: "Sollte ich vielleicht nicht gebären können, ich, der ich andere gebären lasse, der ich andern die Fruchtbarkeit verleihe?"

Freut euch mit dem himmlischen Jerusalern, jubelt mit ihm, ihr alle, die ihr den Herrn liebt! Freut euch mit ihm in wahrer Freude, ihr Wartenden, ihr Hoffenden, ihr Leidenden.

Oh, kehrt zurück ihr Worte! Ihr Worte, die ihr kommt vom Wort Gottes. Worte, gesprochen vom Sprachrohr Gottes: von Isaias, meinem Propheten. Kehrt zurück zur Quelle, ihr ewigen Worte, um über dieses Blumenbeet Gottes ausgegossen zu werden, über diese Herde, diese Nachkommenschaft!

Oh, kommt! Dies ist eine der Stunden und der Versammlungen, für die ihr gegeben worden seid, ihr Worte der Propheten, ihr Klänge der Liebe, ihr Stimmen der Wahrheit!

Seht, sie kommen! Sie kehren zurück zu dem, der sie eingegeben hat! Seht, ich sage sie im Namen des Vaters, meines Wesens und des Heiligen Geistes zu euch, den Auserwählten in der Herde Gottes, die nur aus Schäflein bestehen sollte, die aber verkommen ist, so daß nun Widder und sogar noch unreineres Getier darin zu finden sind. Ihr werdet saugen

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an den Brüsten der göttlichen Tröstung und gesättigt werden und von der vielfältigen Herrlichkeit Gottes entzückt sein.

Seht, der Herr spricht zu euch: Ich werde einen Strom des Friedens über euch ausgießen, und es wird weit mehr sein als der Ruhm, den man bei anderen Völkern genießt. Die Herrlichkeit des Himmels wird euch überfluten. Ihr werdet davon trinken, auf meinem Schoß sitzen und von mir liebkost werden. Ja, wie eine Mutter ihre Kinder streichelt und wie ich diesen Kleinen hier liebkose, dem ich meinen Namen gegeben habe (und Jesus nimmt den kleinen Jesai aus den Armen seiner Mutter, die sich mit dreien ihrer Kinder fast zu seinen Füßen befindet), so werde ich euch trösten, die ihr mich jetzt liebt und auch fernerhin lieben werdet. Bald werdet ihr für immer in meinem Reich Trost finden. Ihr werdet es schauen, und eure Herzen werden frohlocken und eure Gebeine werden zu neuem Leben erstehen, ihr, die ihr von aller Furcht frei sein werdet, weil ihr mir treu geblieben seid, wenn der Herr im Feuer kommen wird auf einem Wagen, ähnlich dem Wirbelsturm, um im Feuer der Liebe und der Gerechtigkeit zu walten, zu bestrafen oder zu belohnen, um die Schafe von den Wölfen zu trennen, das heißt von denen, die geglaubt haben, sich zu heiligen und zu reinigen, und statt dessen Götzendiener geworden sind...

Der Herr, der nun fortgeht, wird wiederkommen; und selig jene, die er beharrlich finden wird bis ans Ende.

Das ist mein Abschied, und mit ihm mein Segen. Kniet nieder, und ich werde euch durch meinen Segen stärken. Der Herr segne euch und behüte euch. Der Herr zeige euch sein Angesicht und habe Erbarmen mit euch. Der Herr gebe euch seinen Frieden.

Geht nun. Erlaubt mir, daß ich mich von den Besten unter den Guten von Jutta verabschiede.»

Die Leute gehen schweren Herzens. Als aber ein Knabe als erster sagt: «Herr, laß mich noch deine Hand küssen», und Jesus ihm willfährt, wollen alle seine heiligen Hände küssen, die Hände des Lammes Gottes, selbst die, die sich schon auf den Weg gemacht hatten. Nun gibt es Küsse der Kinder auf die Wangen, Küsse der Alten auf die Hände, Küsse der Frauen auf die nackten Füße im Gras, mit Tränen, Abschiedsworten und Segenswünschen.

Jesus nimmt sie geduldig an und findet für jeden noch einen besonderen Gruß.

Schließlich sind alle zufrieden... Es bleibt noch die Gastgeberfamilie, und sie drängt sich Jesus heran. Sara sagt: «Wirst du wirklich nicht mehr wiederkommen?»

«Nein, Frau, nie mehr. Aber wir werden nicht getrennt sein, meine Liebe wird immer bei dir, bei euch sein, und die eurige bei mir. Ihr werdet mich nicht vergessen, ich weiß es. Aber ich sage euch: Nehmt selbst in den schrecklichsten Stunden nie die Lüge auf, auch nicht als vorübergehenden

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Gast oder als unvorhergesehenen Eindringling... Gib mir das Knäblein, Sara.»

Die Frau gibt ihm Jesai, und Jesus setzt sich mit dem Kleinen im Schoß ins Gras und spricht mit ihm, sein Antlitz über den Kopf des Kleinen gebeugt: «Erinnert euch immer daran, daß ich das Lamm Gottes bin, das Isaak euch lieben gelehrt hat, noch bevor ihr mich kanntet, und daß ein Lamm stets unschuldig ist, wie dieses Knäblein, auch wenn man es mit einem Wolfspelz bedecken will, um es als Übeltäter hinzustellen. Bedenkt, daß ich noch viel unschuldiger bin als dieser Kleine... als dieser Glückliche! Denn dank seiner Unschuld und Kindheit wird er die Schmähungen der Menschen gegen ihren Herrn nicht verstehen und daher werden sie ihn nicht betrüben... und er wird mich weiterhin so lieben... wie jetzt... Nehmt euch sein Herz zum Vorbild und liebt euer Gotteslamm, euren Freund, euren Unschuldigen, euren Erlöser, der euch liebt und euch in ganz besonderer Weise segnet... Leb wohl, Maria! Komm, gib mir einen Kuß... Leb wohl, Emmanuel! Komm auch du... Leb wohl, Jesai, Lämmlein des Lammes... Seid gut ... Liebt einander ...»

«Weinst du, Herr?» fragt das Mädchen erstaunt, da es eine Träne auf den Haaren des Jesai bemerkt.

«Weinst du?» fragt der Gemahl der Sara.

«Du weinst, o Meister! Warum?» fragt die Frau.

«Seid nicht traurig über meine Tränen, sie sind Liebe und Segen... Leb wohl, Sara. Leb wohl, Mann. Kommt wie die andern und küßt euren Freund zum Abschied ...» Und nachdem die beiden Gatten seine Hände geküßt haben, legt er den Kleinen in die Arme der Mutter, segnet noch einmal und beginnt dann rasch den Abstieg auf derselben Straße, auf der er gekommen ist.

Die Abschiedsgrüße der Zurückgebliebenen folgen ihm noch lange. Man hört die tiefe Stimme des Mannes, die gerührte Stimme der Frau, die trillernden Stimmchen der Kinder, bis Jesus am Fuß des Hügels entschwindet. Dann begleitet nur noch das Rauschen des Gießbaches den für immer von Jutta scheidenden Meister.

444. ABSCHIED VON HEBRON

Nun sehe ich Hebron zwischen den Bergen mit ihren Wiesen und Wäldern. Jesu Einzug ist von den Hosannarufen der ersten, die ihn sehen und zum Teil vorauseilen, um die Kunde in der ganzen Ortschaft zu verbreiten, begleitet.

Der Synagogenvorsteher eilt herbei. Es kommen auch die wunderbar Geheilten vom vergangenen Jahr und die Prominenten des Ortes. Ein

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jeder will Jesus als Gast aufnehmen. Er dankt allen mit den Worten: «Ich bleibe nur kurz, um zu euch zu sprechen. Gehen wir daher zum armen und heiligen Haus des Täufers, ich möchte mich auch von diesem verabschieden... Es ist ein Ort des Wunders. Ihr wißt es nicht.»

«Oh, wir wissen es, Meister. Die dort Geheilten sind unter uns», sagen viele.

«Schon lange vor dem letzten Jahr war es ein Ort des Wunders. Vor 33 Jahren war es das schon, als die Gnade des Herrn den unfruchtbaren Schoß wieder aufleben ließ, um in ihm die süße Frucht meines Vorläufers heranwachsen zu lassen. Es war vor 32 Jahren, als ich ihn durch geheimnisvolles Wirken im voraus heiligte, als ich und er als zwei Früchte in tiefem Schoß heranreiften. Dann, als ich dem Vater des Johannes die gebundene Zunge löste. Zu dem geheimen Walten des noch nicht Geborenen gesellte sich vor nunmehr zwei Jahren ein großes Wunder, das euch verborgen blieb. Erinnert ihr euch an die Frau, die hier gewohnt hat?

«Wer? Aglaia?» fragen viele.

«Ja, sie. Ich habe sie wieder aufblühen lassen, nicht ihren Schoß, sondern ihre durch das Heidentum unfruchtbare Seele. Ich befreite sie, unterstützt von ihrem guten Willen, von dem, was sie fesselte und stelle sie euch nun als Vorbild vor Augen. Stoßt euch nicht daran. Wahrlich, ich sage euch, sie kann als Vorbild dienen, denn wenige in Israel sind einen so weiten Weg gegangen wie diese Heidin und Sünderin, um zu den Quellen Gottes zu gelangen.»

«Wir glaubten, sie sei mit anderen Liebhabern geflohen... Manche sagten, sie habe sich bekehrt und sei nun gut... aber man sagte auch: "Es war nur eine Laune." Dann gab es solche, die behaupten, sie sei zu dir gegangen, um... zu sündigen», erklärt der Synagogenvorsteher.

«Sie kam tatsächlich zu mir, aber um erlöst zu werden!»

«Also haben wir gesündigt, da wir sie verurteilt haben...»

«Deshalb sage ich immer: Urteilt nicht!»

«Wo ist sie jetzt?»

«Gott weiß es, gewiß büßt sie schwer. Betet für sie, auf daß sie dabei ausharre... Ich begrüße dich, o heiliges Haus meines Vetters und Vorläufers! Der Friede sei mit dir! Wenn du auch jetzt einsam und verlassen bist, immer sei der Friede in dir, o heiliger Ort des Friedens und des Glaubens!» Jesus betritt segnend den Garten, der nun verwildert ist, und geht durch das aufgeschossene Unkraut an dem Gestrüpp entlang, wo einst ein Laubengang oder geordnetes Spalier von Lorbeer- und Buchsbäumen war. Jetzt sieht man nur noch ein wildes Durcheinander von Pflanzen, in deren Geäst sich Efeu, Weißdorn und Schlinggewächse eingenistet haben. Jesus geht ans Ende des Gartens, wo noch die Reste eines Grabes sind, und bleibt dort stehen.

«Ihr Kinder Gottes, Volk von Hebron, hört mich an!

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Damit ihr nicht verwirrt werdet und euch nicht irreführen laßt in eurem Urteil über den Erlöser, wie dies bei der Sünderin geschehen ist, komme ich, um euch im Glauben zu stärken. Ich komme, um euch mein Wort als Wegzehrung zu geben, damit seine Flamme in der Stunde der Finsternis nicht erlösche und damit Satan euch nicht vom Weg des Himmels abirren lasse.

Es werden Stunden kommen, in denen eure Herzen die Psalmen des prophetischen Sängers Asaph wiederholen und sagen werden: "Warum, o Herr, hast du uns für immer verstoßen? Warum lodert dein Zorn wider die Schäflein deiner Weide?" Und wahrlich, ihr werdet alsdann die nunmehr erfüllte Erlösung zu eurem Schutz beanspruchen können und rufen: "Dies ist dein Volk, und du hast es erlöst!" um Schutz gegen die Feinde zu erflehen, die im wahren Heiligtum alles erdenklich Böse angerichtet haben; in dem Heiligtum, in dem Gott wie im Himmel wohnt, im Gesalbten des Herrn. Und nachdem sie das Allerheiligste niedergerissen haben, werden sie versuchen, die Tempelmauern zu zerstören: seine Getreuen. Echte Tempelschänder und Feinde Gottes sind sie, schlimmer als Nebukadnezar und Antiochus; und schlimmer als die zukünftigen Feinde erheben sie die Hände, um mich niederzuschmettern in ihrem grenzenlosen Hochmut, der sich nicht bekehren will, der keinen Glauben, keine Liebe und keine Gerechtigkeit annehmen will und sich wie der Sauerteig in einem Haufen Mehl aufbläht und überquillt aus dem Heiligtum, das zur Zitadelle der Feinde Gottes geworden ist.

Ihr Söhne, hört mich an! Wenn ihr verfolgt werdet, weil ihr mich geliebt habt, dann stärkt eure Herzen mit dem Gedanken, daß ich vor euch verfolgt wurde. Erinnert euch daran, daß sie schon jetzt das Geschrei ihres vermeintlichen Triumphes in der Kehle haben und die Banner vorbereiten, um sie in der Stunde des Sieges zu entfalten, und daß auf jeder Fahne eine Lüge gegen mich geschrieben steht, der ich als der Besiegte, der Verbrecher, der Verfluchte erscheinen werde.

Ihr schüttelt den Kopf? Ihr glaubt mir nicht? Eure Liebe hindert euch, daran zu glauben... Etwas Großes ist die Liebe! Eine große Macht... und eine große Gefahr! Ja, Gefahr. Der Druck der Wirklichkeit in der Stunde der Finsternis wird heftig sein, übermenschlich stark in den Herzen mit noch nicht zur Vollkommenheit gelangter Liebe, weil sie blind macht. Ihr könnt es nicht glauben, daß ich als mächtiger König der Gewalt von Bösewichten ausgeliefert sein werde. Besonders in jener Stunde werdet ihr es nicht glauben können, und es wird der Zweifel auftauchen: "Ist er es wirklich selbst gewesen, und wenn er es war, wie konnte er besiegt werden?"

Stärkt eure Herzen für diese Stunde! Denn wenn die Feinde des Heiligen in einem Augenblick eure Tore niederreißen und alles zerstören werden; wenn sie auch das Feuer des Hasses an die Heiligen Gottes legen, das

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Zelt seines heiligsten Namens niederreißen und in ihrem Herzen sprechen werden: "Laßt uns Schluß machen auf Erden mit allen Festen Gottes", denn es ist ein wahres Fest, Gott unter euch zu haben; und wenn sie auch sagen werden: "Seine Zeichen wollen wir nicht mehr sehen. Wir wollen keinen Propheten mehr, der durchschaut, was wir sind", so wird der, der dem Meer Ruhe geboten und in den schmutzigen Wassern die Köpfe der heiligen Krokodile und ihrer Anbeter zerschmettert hat; der Quellen entspringen und Wildbäche und ewige Flüsse austrocknen ließ; der über Tag und Nacht, Sommer und Frühling, Leben und Tod herrscht, alles noch viel schneller wieder errichten durch seinen Gesalbten, der König sein wird in Ewigkeit, wie es geschrieben steht; und die, die ihm treu geblieben sind, werden mit ihm im Himmel herrschen.

Dies bedenkt, und wenn ihr mich erhöht und verhöhnt seht, dann wanket nicht. Wenn ihr auch selbst erhöht und verhöhnt werdet, wanket nicht!

Oh, Vater, mein Vater! Ich bitte dich im Namen derer, die dir und mir teuer sind, erhöre dein Wort, erhöre den Sühnenden. Überlaß nicht den Unmenschen die Seelen derer, die dich loben, indem sie mich lieben. Vergiß nicht für immer die Seelen deiner Kleinen. Schau auf sie herab, o guter Gott, schau auf deinen Bund, denn die dunklen Orte der Welt sind Höhlen der Bosheit, aus denen Schrecken hervorkommt, um deine Kleinen zu entmutigen. Vater! Oh, mein Vater! Den Demütigen, der auf dich hofft, laß ihn nicht in Verwirrung geraten! Der Arme und Hilfsbedürftige möge deinen Namen loben kraft des Beistandes, den du ihm hast zuteil werden lassen.

Erhebe dich, o Gott! Für jene Stunde, für jene Stunden, ich bitte dich! Erhebe dich, o Gott! Um des Opfers des Johannes und der Heiligkeit deiner Patriarchen und Propheten willen, um meines Opfers willen, o Vater, verteidige diese deine und meine Herde! Gib ihr Licht in der Finsternis, Glauben und Kraft gegen die Verführer! Gib ihr dich, o Vater! Gib ihr, uns, jetzt, morgen und immerdar bis zum Eintritt in dein Reich ' Gib ihren Herzen uns bis zu der Stunde, da sie dort sein werden, wo wir sind, in alle Ewigkeit. So sei es.»

Da keine Wunder mehr zu wirken sind, schreitet Jesus durch die langen Reihen seiner beinahe verzückten Zuhörer und segnet einen nach dem anderen. Dann setzt er seinen Weg fort unter der hoch stehenden Sonne, die dank der belaubten Bäume und der Bergluft erträglich ist. Hinter ihm reden die Apostel in Gruppen miteinander. Sie sprechen ganz leise. «Welche Worte! Sie lassen erzittern!» sagt Bartholomäus.

«Aber wie traurig sie sind. Es kommen einem dabei die Tränen», seufzt Andreas.

«Ja, das ist sein Abschied. Ich habe recht. Er geht wirklich dem Thron entgegen», ruft Judas Iskariot aus.

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«Thron? Hin? Mir scheint, er spricht von Verfolgungen anstatt von Ehrenerweisen», bemerkt Petrus.

«Ach was! Die Zeit der Verfolgungen ist vorüber! Ach, wie glücklich ich bin!» schreit Iskariot.

«Gut für dich! Ich wünschte, es wären noch die Tage, da wir unbekannt waren, vor zwei Jahren... oder beim "Trügerischen Gewässer"... Ich zittere, wenn ich an die kommenden Tage denke ...» sagt Johannes.

«Weil du ängstlich wie ein Hase bist ... Ich hingegen! Ich sehe schon in die Zukunft... Festzüge! ... Sängerchöre! ... Volk auf den Knien! ... Ehrenbezeigungen anderer Nationen! ... Oh, jetzt ist die Stunde gekommen! Wahrlich, die Kamele von Midian und die Menschen von überallher werden kommen; und es werden nicht nur drei arme Magier sein, sondern ganze Mengen... Israel wird groß wie Rom sein, größer noch als Rom... Der Ruhm der Makkabäer, eines Salomon, sie werden überboten ... Jeglicher Ruhm... Er, der König der Könige... und wir seine Freunde ... Oh! Allmächtiger Gott! Wer wird mir Kraft für diese Stunde geben? ... Wenn doch mein Vater noch lebte! ...» Judas ist ganz außer sich. Er strahlt beim Gedanken an die Zukunft, die er sich erträumt...

Jesus geht weit voraus. Aber er bleibt stehen, der künftige König nach den Vorstellungen des Judas, und da ihn dürstet, legt er die Hände zusammen, um Wasser aus einem Bach zu trinken... wie ein Vogel im Wald oder ein Lamm auf der Weide. Dann wendet er sich um und sagt: «Hier gibt es wilde Früchte. Wir wollen sie sammeln, um unseren Hunger zu stillen...»

«Hast du Hunger, Meister?» fragt der Zelote.

«Ja», antwortet Jesu demütig.

«Das will ich meinen! Gestern abend hast du alles diesem Elenden gegeben!» ruft Petrus aus.

«Aber warum hast du dich nicht in Hebron aufhalten wollen?» fragt Philippus.

«Weil Gott mich anderswohin ruft. Ihr könnt es nicht wissen.» Die Apostel zucken die Achseln und gehen daran, die kleinen halbreifen Früchte zu sammeln. Sie wachsen auf wilden Pflanzen, die auf dem Bergrücken verstreut sind, und es scheinen mir wilde Äpfelchen zu sein. Der König der Könige nährt sich davon mit seinen Begleitern, die wegen der Bitterkeit der wilden, herben Frucht den Mund verziehen. Jesus, in sich versunken, ißt und lächelt.

«Du ärgerst mich fast!» ruft Petrus aus.

«Warum?»

«Du hättest es dir in Hebron gutgehen lassen und den Bewohnern eine Freude machen können, und stattdessen verdirbst du dir den Magen und die Zähne mit diesem Gift das bitterer und saurer ist als Vitriol!»

«Oh, ich habe euch um mich, die ihr mich liebt! Wenn ich einst erhöht sein und Durst und Hunger haben werde, dann werde ich mich mit

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Sehnsucht dieser Stunde erinnern, dieser Speise und eurer, die ihr jetzt noch bei mir seid, aber dann ...»

«Aber dann wirst du weder Durst noch Hunger haben! Einem König mangelt es an nichts! Und wir werden dir dann noch näher stehen», ruft Iskariot aus.

«Das sagst du.»

«Glaubst du, daß es nicht so sein wird, Meister?» fragt Bartholomäus.

«Nein, Bartholomäus, so wird es nicht sein. Als ich dich unter dem Feigenbaum sah, waren seine Früchte noch so herb, daß sich der, der sie gesammelt und gegessen hätte, Zunge und Gaumen verbrannt hätte... Aber viel süßer als eine Honigwabe sind die bitteren Früchte des Feigenbaumes im Vergleich zu dem, was für mich die Erhöhung und Ganzhingabe sein wird... Gehen wir.» Wieder geht er allen voraus, während die Apostel hinter ihm flüstern und murmeln.

445. ABSCHIED VON BETHSUR

Es ist kaum Tag geworden, als die unermüdlichen Wanderer Bethsur zu Gesicht bekommen. Müde, mit zerknitterten Kleidern durch eine sicher ziemlich unbequeme Nachtruhe in den Wäldern, schauen sie freudig auf das Städtchen, das nun schon nahe ist und in dem sie mit einer großherzigen Gastfreundschaft rechnen.

Die Bauern, die zur Arbeit gehen, sind die ersten, die Jesus begegnen, und sie denken, es sei wohl besser, die Arbeit im Stich zu lassen und in die Stadt zurückzukehren, um den Meister zu hören. Ebenso denken die Hirten, die sich aber vorerst vergewissern, ob Jesus sich in der Stadt aufhalten wird oder nicht.

«Ich werde Bethsur am Abend wieder verlassen», antwortet Jesus.

«Wirst du sprechen, Meister?»

«Gewiß.»

«Wann?»

«Sofort.»

«Wir haben die Herden ... Könntest du nicht hier auf dem Feld zu uns sprechen? Die Schafe könnten hier grasen, und wir würden dein Wort auch hören können.»

«Folgt mir! Ich werde auf den Weiden im Norden sprechen. Zuerst aber muß ich Elisa sehen.»

Die Hirten bringen mit ihren Hirtenstäben die Schafe zum Umkehren. Dann folgen sie den Männern mit ihren blökenden Tieren. Sie gehen durch die Ortschaft. Aber die Kunde ihrer Ankunft ist schon bis zum Haus der Elisa gedrungen, und auf dem Vorplatz des Hauses erweisen

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Elisa und Anastasica dem sie segnenden Meister einen ehrfürchtigen Willkommensgruß.

«Tritt ein in mein Haus, Herr. Du hast es vom Leid befreit. Nun soll es dir mit all seinen Bewohnern und all seinem Hausrat zur Stärkung dienen», sagt Elisa.

«Ja, Elisa. Aber du siehst, wieviel Volk mir schon folgt. Erst werde ich zu allen sprechen, und dann, zur dritten Stunde, werde ich zu dir kommen und mich in deinem Haus aufhalten, um am Abend meine Reise fortzusetzen. Dann werden wir auch miteinander reden...» verspricht er, um Elisa zu trösten, die auf einen längeren Aufenthalt gehofft hat und nun ein enttäuschtes Gesicht macht. Aber Elisa ist eine gute Jüngerin und widerspricht nicht. Sie bittet nur um die Erlaubnis, ihrer Dienerschaft die nötige Befehle erteilen zu dürfen, um sich dann mit den anderen dorthin begeben zu können, wo Jesus sprechen wird. Sie erledigt alles äußerst rasch, und sie erscheint sehr verschieden von der müden Frau, die sie im vergangenen Jahr war...

Jesus wartet schon auf einer großen Wiese, auf der die Sonne spielt, indem sie ihre Strahlen durch das leichte Blattwerk der hohen Bäume sendet. Es sind Eschen, wie mir scheint. Jesus ist dabei, ein Kind und einen alten Mann zu heilen. Ersteres hat eine innere Krankheit, der Alte ein Augenleiden. Andere Kranke sind nicht da, und so segnet Jesus die Kleinen, die ihm von den Müttern gereicht werden, und wartet geduldig, bis Elisa und Anastasica kommen.

Endlich sind sie da. Jesus beginnt sofort zu reden: «Leute von Bethsur, hört mich an! ... Im vergangenen Jahr habe ich euch gesagt, was man tun muß, um das Reich Gottes zu erlangen. Heute möchte ich das Gesagte bekräftigen, damit ihr das Gewonnene nicht verliert. Es ist das letzte Mal, daß der Meister so zu euch spricht, zu einer Versammlung, in der niemand fehlt. Später werde ich vielleicht dem einen oder anderen oder einzelnen Gruppen auf den Wegen unseres irdischen Vaterlandes begegnen. Dann, noch später, werde ich euch in meinem Reich wiedersehen. Aber es wird nie mehr so sein wie jetzt.

In Zukunft wird man euch viel von mir berichten und viel gegen mich sagen; man wird auch viel über und gegen euch sagen. Man wird euch einschüchtern wollen.

Ich sage euch mit Isaias: "Fürchtet euch nicht, denn ich habe euch erlöst und habe euch beim Namen gerufen." Nur jene, die mich verlassen wollen, haben Grund sich zu fürchten. Nicht aber jene, die mir treu bleiben und bei mir sein werden. Fürchtet euch nicht! Ihr seid mein, und ich bin euer. Weder die Wasser der Flüsse noch die Flammen der Scheiterhaufen, noch Steine, noch Schwerter können euch von mir trennen, wenn ihr bei mir ausharrt. Immer stärker werden die Flammen, die Wasser, die Schwerter und Steine auf mich eindringen, und euch wird es wie mir ergehen; und

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ihr werdet auch meinen Lohn empfangen. Ich werde bei euch sein in den Stunden der Qual, in euren Prüfungen, bis zum Tode; und danach wird euch nichts mehr von mir trennen können.

0 mein Volk! Das Volk, das ich berufen und versammelt habe und das ich noch mehr berufen und versammeln werde, wenn ich erhöht sein und alles an mich ziehen werde. O auserwähltes Volk, heiliges Volk, fürchte dich nicht, denn ich bin und werde immer bei dir sein, und du wirst mich verkünden, mein Volk, und daher werdet ihr, die ihr es bildet, meine Diener genannt werden. Und euch gebe ich schon jetzt und auch in Zukunft den Auftrag: Verkündet dem Norden und dem Süden, dem Osten und dem Westen, daß die Söhne und Töchter des Schöpfer-Gottes, auch die an den äußersten Enden der Welt, gesammelt werden sollen, auf daß alle mich als ihren König anerkennen und mich mit meinem wahren Namen anrufen; auf daß sie die Herrlichkeit besitzen, für die sie geschaffen worden sind, und der Ruhm dessen seien, der sie erschaffen hat.

Isaias sagt, daß Völker und Nationen nach Zeugen meiner Herrlichkeit verlangen werden. Aber wo werde ich Zeugen finden, wenn der Tempel und die mächtigen Parteien Haß und Lüge verbreiten, weil sie nicht bekennen wollen, daß ich der bin, der ich bin? Wo werde ich sie finden? Sich, o mein Gott, meine Zeugen! Diese hier, die ich im Gesetz unterwiesen habe, diese, die ich an Leib und Seele geheilt habe, diese, die blind waren und nun sehen, die bedrückt waren und nun befreit sind, alle, alle diese, für die mein Wort Licht, Wahrheit, Weg und Leben gewesen ist.

Ihr seid meine Zeugen, meine auserwählten Diener, und ich habe euch erwählt, auf daß ihr erkennt, glaubt und begreift, daß ich es wirklich bin. Ich bin der Herr, der Erlöser. Glaubt es zu eurem Heil. Außer mir gibt es keinen Erlöser. Wißt dies zu glauben, entgegen jeder anderen menschlichen und satanischen Einflüsterung. Vergeßt alles, was euch von anderen gesagt worden ist und nicht mit meinem Wort übereinstimmt. Weist alle Widersprüche zurück, mit denen man euch in Zukunft bedrängen wird. Sagt jedem, der euch dazu verleiten will, dem Gesalbten zu widersagen: "Seine Werke sprechen zu unserer Seele", und seid beharrlich im Glauben.

Ich habe viel getan, um euch einen unerschütterlichen Glauben zu geben. Ich habe eure Kranken geheilt, ich habe eure Schmerzen gelindert. Wie ein guter Meister habe ich euch unterwiesen und wie ein Freund habe ich euch angehört. Ich habe mit euch das Brot gebrochen und den Trank geteilt. Aber das sind immer noch Werke eines Heiligen und Propheten. Anderes werde ich vollbringen, um euch jeden Zweifel zu nehmen, den die Finsternis in euch aufkommen lassen könnte, so wie der Sturmwind den sommerlichen Himmel mit Gewitterwolken bedeckt. Laßt die Gewitterwolken vorüberziehen und verharrt in der Liebe zu eurem Jesus, der den Vater verlassen hat, um euch zu retten, und der auch sein Leben lassen wird, um euch das Heil zu schenken.

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Ihr, die ich mehr geliebt habe und liebe als mich selbst – denn es gibt keine größere Liebe als sich aufzuopfern für das Wohl derer, die man liebt – soll nicht geringer sein als jene, die in der Prophezeiung des Isaias wilde Bestien, Drachen und Strauße genannt werden, daß heißt Heiden, Götzendiener und Unreine, die, nachdem ich ihnen die Macht meiner Liebe und meines Wesens gezeigt habe, indem ich selbst den Tod besiege (was niemand leugnen können wird, ohne ein Lügner zu sein), sagen werden: "Er ist der Sohn Gottes!" und die alsdann alle scheinbar unüberwindlichen Hindernisse beseitigen werden, um nach Jahrhunderten vom unreinen Heidentum, von Finsternis und Laster zum Licht, zur Quelle, zum Leben zu kommen. Seid nicht wie gar zu viele in Israel, die mir kein Ganzopfer darbringen, mich durch keine Gabe ehren, mir vielmehr Pein verursachen durch ihre Bosheit und mich zum Opfer ihrer verhärteten Herzen machen; die auf meine verzeihende Liebe mit höllischem Haß antworten, der mir den Boden untergräbt, um mich zu Fall zu bringen und dann noch sagen zu können: "Seht ihr? Er ist gefallen, weil ihn Gott zerschmettert hat."

Bürger von Bethsur, seid stark! Liebt mein Wort, denn es ist wahr, und mein Zeichen, denn es ist heilig. Der Herr sei immer mit euch, und ihr mit den Dienern des Herrn, alle vereint, damit ihr alle einst dort sein könnt, wo ich hingehe und eine ewige himmlische Wohnung bereite für alle, die nach Überwindung der Trübsal und nach siegreicher Schlacht im Herrn sterben und im Herrn auferstehen in Ewigkeit!»

«Herr, was willst du sagen? Triumph- und Schmerzensrufe klingen in deinen Worten», sagen einige.

«Ja, du gleichst einem, der sich von Feinden umgeben weiß», sagen andere.

«Du sprichst fast so, als ob auch wir solche wären», meinen andere.

«Wie verhält es sich mit deinem "Morgen", o Herr?» sagen wieder andere.

«Ruhm und Herrlichkeit!» schreit Judas von Kerioth.

«Der Tod», seufzt Elisa weinend.

«Die Erlösung. Die Erfüllung meiner Sendung. Fürchtet euch nicht. Weint nicht. Liebt mich. Ich bin glücklich, der Erlöser zu sein. Komm, Elisa, wir gehen zu deinem Haus...» und er entfernt sich als erster, indem er sich einen Weg durch die Menge bahnt, die von unterschiedlichen und gegensätzlichen Gefühlen überwältigt ist.

«Aber Herr, warum immer diese Reden?!» beklagt sich Judas mit einem Vorwurf in der Stimme und fügt hinzu: «Sie gehören sich nicht für einen König.»

Jesus antwortet ihm nicht. Er antwortet hingegen seinem Vetter Jakobus, der ihn mit tränenfeuchten Augen fragt: «Warum, Bruder, führst du immer Schriftstellen an, in denen vom Abschied die Rede ist?»

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«Damit meine Ankläger nicht sagen können, ich sei wahnsinnig und ein Gotteslästerer, und damit der, der sich nicht an die Wirklichkeit der Dinge halten will, versteht, daß die Offenbarung mich immer als König eines überirdischen Reiches angekündigt hat, das sich abzeichnet, errichtet und ausbaut in der Darbringung des Opfers, des einzigen Opfers, welches das Himmelreich wieder zu erneuern vermag, das von Satan und den Stammeltern zerstört wurde. Hochmut, Haß, Lüge, Wollust und Ungehorsam haben es verwüstet. Demut, Gehorsam, Liebe, Reinheit und Opfer werden es wieder errichten... Weine nicht, Frau, die, die du liebst und die warten, sehnen sich nach der Stunde meiner Opferung...»

Sie betreten das Haus, und während die Apostel noch damit beschäftigt sind, sich zu erfrischen und zu essen, geht Jesus allein mit Elisa in den gepflegten blühenden Garten hinaus, um sie anzuhören. «Meister, ich allein weiß, daß Johanna dich im Verborgenen sprechen möchte. Sie hat mir Jonathan geschickt, und er hat gesagt: "Es handelt sich um sehr wichtige Dinge." Nicht einmal die Tochter, die du mir anvertraut hast – sei dafür gesegnet – weiß davon. Johanna hat nach allen Richtungen Diener ausgesandt, um dich zu suchen. Aber sie haben dich nicht gefunden...»

«Ich war sehr weit entfernt und wäre noch weiter gegangen, wenn der Geist mich nicht angetrieben hätte, zurückzukehren... Elisa, du wirst mit mir und mit dem Zeloten zu Johanna gehen. Die anderen werden hierbleiben und sich zwei Tage ausruhen. Dann werden wir nach Bether gehen, und du wirst mit Jonathan zurückkehren.»

«Ja, mein Herr ...» Elisa schaut ihn mit einem forschenden, mütterlichen Blick an... Aber eine Frage kann sie sich nicht versagen: «Leidest du?»

Jesus schüttelt sein Haupt, ohne ein wirkliches Zeichen der Verneinung zu geben, aber mit offensichtlicher Niedergeschlagenheit.

«Ich bin eine Mutter... Du bist mein Gott... Aber... O mein Herr! Was glaubst du, was Johanna will? Du hast vom Tod gesprochen, und ich habe verstanden, denn im Tempel lasen die Jungfrauen viel die Heiligen Schriften, wo von dir, dem Erlöser, die Rede ist, und ich erinnere mich jener Worte. Du hast vom Tod gesprochen, und dein Angesicht leuchtete derweilen in himmlischer Freude... Jetzt leuchtet dein Antlitz nicht mehr... Maria war mir wie eine Tochter... und du bist ihr Sohn. Daher, wenn es nicht sündhaft ist, dies zu sagen, sehe ich dich in gewisser Weise als meinen Sohn an... Deine Mutter ist fern von hier... Aber eine andere Mutter ist an deiner Seite. Von Gott Gesegneter, kann ich nicht deinen Kummer lindern?»

«Du erleichterst ihn schon durch deine Liebe... Was ich denke über das, was Johanna mir sagen will? Mein Leben ist wie dieser Rosenstock. Die Rosen seid ihr, meine getreuen Schülerinnen. Aber wenn man die Rosen wegnimmt, was bleibt dann? Dornen...»

«Aber wir werden bis zum Tod bei dir bleiben.»

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«Das ist wahr. Bis zum Tod! Und der Vater wird euch segnen für den Trost, den ihr mir geben werdet. Gehen wir ins Haus. Ruhen wir etwas aus. Bei Sonnenuntergang werden wir nach Bether aufbrechen.»

446. IN BETHER

Jesus, gefolgt vom Zeloten, der das Eselchen der Elisa am Zügel führt, pocht an das Tor des Aufsehers von Bether. Sie haben nicht die gleiche Straße eingeschlagen wie das letzte Mal, sondern sind vom Dorf her zu den Besitzungen der Johanna gekommen. Das Dorf liegt an den westlichen Hängen des Berges, wo sich auch das Schloß erhebt.

Der Torhüter, der den Herrn erkennt, beeilt sich, das Gittertor neben seinem Wächterhäuschen weit zu öffnen, durch das man in den Vorgarten jener traumhaften Rosengärten der Johanna gelangt.

Ein starker Duft von frischen Rosen und Rosenessenzen liegt in der warmen Abendluft, und als der erste Abendwind sich von Osten her erhebt und die blühenden Rosen bewegt, scheint dieser Duft noch eindringlicher, frischer und echter zu werden, denn er kommt von den mit Rosenstöcken bedeckten Höhen und verdrängt den schweren Essenzgeruch, der unter dem niedrigen, breiten Wetterdach hervordringt, das dem westlichen Mauerwerk des Besitztums vorgelagert ist.

Der Aufseher erklärt: «Meine Herrin ist drüben. Jeden Abend geht sie dorthin, wo sich um diese Stunde die Rosensammler und Essenzbereiter zusammenfinden. Dann spricht sie mit ihnen, stellt ihnen Fragen, bemüht sich um sie und ermutigt sie. Oh! Sie ist so gut, unsere Herrin. Sie ist es immer gewesen; aber ganz besonders gut ist sie, seit sie deine Jüngerin geworden ist! ... Ich gehe sie holen. Um diese Jahreszeit gibt es sehr viel Arbeit, und die üblichen Rosensammler reichen nicht mehr aus, obwohl seit Ostern neue Diener und Dienerinnen dazugekommen sind. Warte auf mich, Herr...»

«Nein, ich gehe zu ihr. Gott segne dich und gebe dir den Frieden», sagt Jesus, und er hebt die Hand und segnet den alten Wächter, den er bis dahin geduldig angehört hat. Dann verläßt er ihn und geht zu dem niedrigen, breiten Wetterdach.

Aber das Geräusch der Schritte auf dem harten Boden des Pfades läßt den neugierigen Matthias den Kopf heben, und schon eilt er mit seinem schrillen Kindergeschrei dem Heiland entgegen. Er läuft mit ausgestreckten, geöffneten Armen als Zeichen der Einladung und Sehnsucht nach seiner Umarmung. «Jesus ist da! Jesus ist da!» schreit er, und während er noch in den Armen des Herrn liegt, der ihn küßt, erscheint auch schon Johanna inmitten ihrer Dienerschar.

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«Herr!» ruft sie ihrerseits und fällt auf die Knie, um ihn gleich dort zu verehren, wo sie sich gerade befindet. Sie wirft sich nieder und erhebt sich dann mit einem Antlitz, das sich vor Erregung in Purpur kleidet, ähnlich einem flammenden Rosenblatt. Hierauf nähert sie sich Jesus und wirft sich abermals zu Boden, um seine Füße zu küssen.

«Der Friede sei mit dir, Johanna! Du wolltest mich sprechen? Sieh, ich bin da.»

«Ja, Herr, ich habe dich gesucht...» Johanna wird wieder bleich und ernst. Jesus bemerkt es.

«Erhebe dich, Johanna. Geht es Chuza gut?»

«Ja. mein Herr.»

«Und der kleinen Maria, die ich nicht hier sehe?»

«Ebenfalls, Herr... Sie ist mit Esther ausgegangen , um Heilmittel für einen kranken Diener zu holen.»

«Hast du mich für diesen Kranken gerufen?»

«Nein Herr... wegen... dir.» Johanna, das ist ganz offensichtlich, will nicht in Gegenwart aller reden, die sich um sie versammelt haben.

Jesus versteht es und sagt: «Nun gut. Gehen wir zunächst deinen Rosengarten anschauen...»

«Du wirst müde sein, Herr. Du solltest etwas essen... Du wirst auch Durst haben.»

«Nein. Wir haben während der heißen Stunden im Haus von Hirtenjüngern haltgemacht. Ich bin nicht müde...»

«Dann gehen wir... Jonathan, du wirst alles für den Herrn und für seine Begleiter vorbereiten... Geh herunter, Matthias ...» befiehlt sie dem Aufseher, der ehrfürchtig in der Nähe steht, und dem Kleinen, der es sich in den Armen Jesu bequem gemacht hat und sein Köpfchen schmeichelnd an den Hals Jesu lehnt, wie ein Täubchen, das sich unter den väterlichen Flügeln verbirgt. Das Knäblein stößt einen schweren Seufzer aus, fügt sich aber gehorsam.

Aber Jesus sagt: «Nein. Er wird mit uns kommen und nicht stören. Er wird der kleine Engel sein, vor dem man kein anstößiges Wort sagen und nicht Anstößiges tun kann; und er wird verhindern, daß auch der leiseste Verdacht in den Herzen aufsteigt. Gehen wir...»

«Meister, ich und Elisa, wir gehen ins Haus; oder willst du uns bei dir haben?» fragt der Zelote.

«Geht nur.»

Johanna führt Jesus auf einem breiten Weg durch den Garten und zu den Rosenbeeten, welche die Hügel bedecken, die die blühenden Besitzungen der Jüngerin bilden. Johanna geht immer weiter, als wolle sie dorthin gelangen, wo es nur noch Rosenstöcke und Bäume gibt, wo sich Vögel um ihren Schlafplatz streiten oder noch mit dem Nestbau beschäftigt sind.

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Die Rosen, die heute abend noch in verschlossenen Knospen ruhen und morgen der Schere zum Opfer fallen werden, duften stark, bevor der nächtliche Tau sie bedeckt. Sie bleiben stehen in einem kleinen Tälchen, wo ihnen auf der einen Seite Girlanden von fleischfarbenen Rosen zulachen und auf der anderen rosarote Rosen wie gerinnende Blutstropfen leuchten. Es ist da ein Felsblock, der als Sitz oder als Abstellplatz für die Körbe der Rosensammler dient. Rosen und abgefallene Blütenblätter liegen im Gras und auf dem Felsblock und zeugen von der Arbeit des heutigen Tages.

Johanna wischt sie mit ihrer ringgeschmückten Hand von der Sitzfläche und sagt: «Meister, setze dich. Ich muß mit dir sprechen... lange.» Jesus setzt sich, und Matthias beginnt auf dem Rasen hin- und herzulaufen, bis er eine große Kröte entdeckt, die gekommen ist, um frische Abendluft zu schöpfen. Mit Geschrei und Freudensprüngen verfolgt er die arme Kröte, bis die kleine Höhle einer Grille seine Aufmerksamkeit weckt und er mit einem Stöcklein darin herumzustochern beginnt.

«Johanna, ich bin hier, um dich anzuhören... Warum sprichst du nicht?» fragt Jesus nach längerem Schweigen. Er hört auf, dem Knaben mit seinen Augen zu folgen, um nur auf die Jüngerin, die aufrecht, ernst und schweigsam vor ihm steht, zu schauen.

«Ja, Meister. Aber ... es ist sehr schwer... Und ich glaube, es ist schmerzlich, mich anzuhören ...»

«Sprich nur einfach und vertrauensvoll ...»

Johanna läßt sich ins Gras gleiten und hockt auf ihren Fersen in tiefer Hochachtung vor dem Meister, der etwas höher sitzt, in einer aufrechten, ernsten Haltung, die ihn als Mensch weiter entfernt sein läßt, als wenn viele Meter und Hindernisse zwischen ihnen wären, ihn aber als Gott durch die Güte seines Blickes und seines Lächelns ganz nahe bringt. Johanna blickt in der milden Abenddämmerung dieses Maitages zu ihm auf. Endlich beginnt sie zu reden: «Mein Herr, bevor ich spreche, muß ich dich etwas fragen... muß ich deine Gedanken kennen... muß ich erfahren, ob ich deine Worte immer falsch verstanden habe... Ich bin eine Frau, eine törichte Frau... Vielleicht habe ich geträumt... und beginne erst jetzt die Wirklichkeit zu sehen... die Dinge, wie du sie gesagt hast, wie du sie vorbereitet hast, wie du sie haben willst für dein Reich... Vielleicht hat Chuza recht... und ich unrecht...»

«Hat Chuza dir Vorwürfe gemacht?»

«Ja und nein, Herr. Er hat mir gesagt, mit seiner ganzen Macht als Gemahl, daß ich dich nach den letzten Vorkommnissen meiden muß, weil er als Höfling des Herodes nicht gestatten kann, daß seine Frau sich gegen Herodes verschwört.»

«Und seit wann sollst du eine Verschwörerin sein? Wer denkt denn daran, Herodes zu schaden? Sein armer, schmutziger Thron ist weniger wert

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als dieser Sitz im Rosengarten. Hier setze ich mich hin, dort würde ich mich nie hinsetzen. Chuza möge dessen versichert sein! Der Thron des Herodes lockt mich nicht, nicht einmal der des Caesar. Das sind nicht meine Throne, das sind nicht meine Reiche.»

«Oh! Ja, Herr?! Gesegnet seist du! Wieviel Frieden gibst du mir! Seit vielen Tagen leide ich deswegen! Mein heiliger und göttlicher Meister! Mein teurer Meister! Mein Meister, wie ich ihn immer verstanden, gesehen und geliebt habe, so hoch, so erhaben über die Erde, so... so göttlich. O mein Herr und himmlischer König!» Johanna ergreift die Hände des Herrn und küßt ehrfürchtig seine Handrücken, während sie wie in Anbetung vor ihm kniet.

«Aber was ist denn vorgefallen? Was, von dem ich nicht weiß, vermag dich so zu verwirren und in dir das Bild meiner sittlichen und geistigen Unantastbarkeit zu verdunkeln? Sprich!»

«Was? Meister, der Rauch des Irrtums, des Hochmuts, der Habsucht und der Starrköpfigkeit hat sich wie aus stinkenden Kratern erhoben und in einigen dein Bild verzerrt... und man hat dasselbe bei mir versucht. Aber ich bin deine Johanna, dein Gnadengeschenk, o Gott, und konnte nicht verlorengehen. Wenigstens hoffe ich das, wenn ich an die Güte Gottes denke. Aber wer noch ein Embryo von Seele ist, wer noch ringt, um sich zu bilden, kann leicht durch eine Enttäuschung zugrundegehen. Wer noch in einem schlammigen und durch heftige Strömungen aufgewühlten Meer das Ufer, den Hafen zu erreichen sucht, um sich zu reinigen und Orte des Friedens und der Gerechtigkeit zu finden, kann wohl leicht von Müdigkeit überwältigt werden, wenn er das Vertrauen auf das Ufer, auf jene Orte des Friedens verliert, und wieder von Strömung und Schlamm überwältigt wird. Dieses Verderben von Seelen, für die ich dein Licht erflehe, hat mich betrübt und gequält. Die Seelen, die wir für das ewige Leben heranbilden, sind uns noch viel teurer als die Körper, die wir dem irdischen Licht schenken. Wir weinen über das Kind, das uns stirbt. Aber das ist nur unser Schmerz. Um eine Seele, die wir in deinem Licht zu erziehen versucht haben und die wir dann verlieren, trauern nicht nur wir allein, sondern auch du, mein Gott. Denn im Schmerz über den geistigen Tod einer Seele ist auch dein Schmerz, der unendliche Schmerz Gottes... Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke...»

«Oh, sehr gut. Aber erzähle der Reihe nach, wenn du willst, daß ich dich tröste.»

«Ja, Meister. Du hast Simon den Zeloten und Judas von Kerioth nach Bethanien geschickt, nicht wahr? Wegen des hebräischen Mädchens, das die Römerinnen dir gegeben haben und das du zu Nike geschickt hast...»

«Ja. Und? ...»

«Und sie wollte Abschied nehmen von ihren guten Vorgesetzten und Simon und Judas haben sie zur Burg Antonia begleitet. Weißt du das?»

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«Ich weiß es. Und dann?»

«Meister... ich muß dir weh tun... Meister, bist du wirklich nur ein König dem Geiste nach? Du denkst doch nicht an irdische Reiche?»

«Aber nein, Johanna! Wie kannst du mich so etwas fragen?»

«Um wieder die Freude zu haben, dich göttlich zu sehen, nur göttlich. Gerade weil du so bist, muß ich dir einen Schmerz bereiten... Meister, der Mann von Kerioth versteht dich nicht, und er versteht auch die nicht, die dich als großen Philosophen, als großen Weisen, als die Tugend selbst auf Erden verehren und bewundern und bereit sind, dich zu schützen. Es ist seltsam, daß Heidinnen verstehen, was einer deiner Apostel nicht versteht, obwohl er schon so lange bei dir ist ...»

«Der Mensch in ihm, seine menschliche Liebe verblendet ihn.»

«Du entschuldigst ihn... Aber er schadet dir, Meister. Während Simon mit Plautina, Lydia und Valeria gesprochen hat, hat Judas mit Claudia gesprochen, und zwar in deinem Namen, als dein Abgesandter. Er wollte ihr Versprechen abgewinnen für eine Wiederaufrichtung des Reiches Israel. Claudia hat ihn gründlich ausgefragt... und er hat viel geredet. Er ist überzeugt, auf der Schwelle seines tollen Traumes zu stehen, dort, wo der Traum Wirklichkeit wird. Meister, Claudia ist sehr erzürnt darüber. Sie ist eine Tochter Roms.. Sie hat etwas vom Kaiserreich in ihrem Blut... Wie sollte gerade sie, eine Tochter der Claudier, sich je gegen Rom stellen? Sie hat einen so gewaltigen Schock bekommen, daß sie an dir und der Heiligkeit deiner Lehre gezweifelt hat. Sie hat noch kein rechtes Verständnis für die Heiligkeit deines Ursprungs ... Aber sie wird dazu gelangen, sobald sie deiner sicher ist. Vorerst kommst du ihr vor wie ein Rebell, ein habgieriger und falscher Usurpator... Plautina und die andern haben versucht, sie zu überzeugen... Aber sie will eine direkte Antwort von dir selbst.»

«Sage ihr, sie soll nichts fürchten. Ich bin der König der Könige, der, der sie erschaffen hat und sie richtet. Aber ich habe keinen anderen Thron als den des Lammes, das zuerst geopfert wird und dann im Himmel triumphiert. Laß sie das sofort wissen!»

«Ja, Meister. Ich werde persönlich hingehen, bevor sie Jerusalern verlassen, denn Claudia ist so sehr darüber aufgebracht, daß sie nicht länger in der Antonia bleiben will, "um nicht... die Feinde Roms sehen zu müssen" ' wie sie sagt.»

«Wer hat dir das gesagt?»

«Plautina und Lydia. Sie sind gekommen... und Chuza war dabei... Danach hat er mich vor die Alternative gestellt: Entweder du bist der geistige Messias, oder ich muß dich für immer meiden.»

Jesus hat ein müdes Lächeln auf seinem Antlitz, das bleich geworden ist während des Berichtes der Johanna. Er sagt: «Kommt Chuza nicht hierher?»

«Morgen ist Sabbat, und er wird hier sein.»

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«Ich werde ihn beruhigen. Fürchte dich nicht. Niemand soll sich beunruhigen, weder Chuza wegen seiner Stellung am Hofe, noch Herodes wegen eines befürchteten Usurpators, noch Claudia wegen ihrer Liebe zu Rom, und auch du sollst nicht befürchten, getäuscht worden zu sein und dich von mir trennen zu müssen.»

«Meister, diesen Schmerz hätte ich dir lieber erspart. Aber davon zu schweigen wäre Falschheit gewesen... Meister, wie wirst du dich Judas gegenüber verhalten? ... Ich fürchte seine Reaktionen... nur deinetwegen.»

«Ich werde aufrichtig mit ihm sprechen und ihm zu verstehen geben, daß ich sein Tun und seine Starrköpfigkeit mißbillige.»

«Er wird mich hassen, denn er wird verstehen, daß du es durch mich erfahren hast.»

«Betrübt dich das?»

«Deine Abneigung würde mir Schmerz bereiten, nicht die seine. Ich bin eine Frau, aber männlicher als er in deinem Dienst. Ich diene dir, weil ich dich liebe, nicht um durch dich zu Ehren zu gelangen. Wenn ich morgen auch um deinetwillen Reichtümer, die Liebe meines Gatten und selbst Freiheit und Leben verlieren sollte, so würde ich dich nur noch mehr lieben; denn dann hätte ich nur noch dich zu lieben und deine Liebe», sagt Johanna mit Entschiedenheit, indem sie sich erhebt.

Auch Jesus erhebt sich und spricht: «Sei gesegnet, Johanna, für diese Worte, und bleibe in Frieden. Weder der Haß noch die Liebe des Judas können auf das, was im Himmel geschrieben steht, Einfluß haben, und ich werde meine Sendung erfüllen, wie es beschlossen ist. Sorge dich nicht. Sei ruhig wie der kleine Matthias, der, nachdem er, seiner Meinung nach, der Grille ein schöneres Haus gebaut hat, die Stirn an die Rosenblätter gelehnt hat und eingeschlafen ist... im Glauben, auf Rosen zu ruhen, denn das Leben ist schön, solange man unschuldig ist. Auch ich lächle, selbst wenn mein Menschendasein nur entblätterte, verwelkte Blütenblätter kennt; aber im Himmel werde ich einst all die Rosen der Geretteten haben... Komm. Die Nacht senkt sich hernieder. Bald wird man den Pfad nicht mehr sehen.»

Johanna schickt sich an, das Kind auf die Arme zu nehmen.

«Laß es... Ich nehme ihn. Schau, wie er lächelt! Sicherlich träumt er vom Himmel, von der Mutter und von dir... Auch ich träume in meinen ständigen Nöten vom Himmel, von der Mutter und von meinen guten Jüngerinnen.»

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447. JESUS MIT PETRUS UND BARTHOLOMÄUS IN BETHER

Jesus wandelt zwischen den Rosenhainen, in denen Sammler der Blütenblätter eifrig tätig sind, und hat Gelegenheit, mit dem einen oder anderen zu sprechen, auch mit der Witwe und ihren Kindern, die Johanna aus Liebe zu ihm an Ostern nach dem Bankett mit den Armen als Dienerin angenommen hatte. Sie scheinen nicht mehr dieselben zu sein. Sie sind aufgeblüht, heiter und gehen freudig ihrer Arbeit nach, jedes entsprechend seiner Fähigkeit. Die Kleinsten, die die Rosen noch nicht nach Farbe und Frische unterscheiden können, spielen mit anderen Kindern in stillen Ecken, und das Gezwitscher dieser menschlichen Nestlinge vermischt sich mit dem Piepsen der noch federlosen kleinen Vögel, die im Laub der Bäume schreiend ihre Alten begrüßen, die mit Nahrung zurückkehren.

Jesus begibt sich zu diesen kleinen Kindern, beugt sich über sie, spricht mit ihnen, liebkost sie und hilft denen auf die Beine, die hinfallen und weinen, Stirn und Händchen mit Erde beschmutzt und sich am Boden zerkratzt haben. Tränen, Streitereien und Eifersüchteleien enden plötzlich bei der Liebkosung und dem Wort, das der Unschuldige an die Unschuldigen richtet; und sie schenken ihm sogar den Gegenstand, der kurz zuvor noch die Ursache eines Streites oder eines Hinfallens gewesen ist: einen goldglänzenden Käfer, einen farbigen Stein oder eine gepflückte Blume... Jesus hat nun Hände und Gürtel voll von diesen Dingen und läßt sich nicht sehen, wenn er einen Mistkäfer oder ein Marienkäferchen auf ein Blatt setzt und ihm die Freiheit wiedergibt. Wie oft habe ich nun schon das feine Zartgefühl Jesu beobachtet, auch den Kleinen gegenüber, um ihnen nicht weh zu tun und sie nicht zu enttäuschen! Er versteht es auf entzückende Weise, sie zu erziehen und ihre Liebe mit scheinbaren Kleinigkeiten zu gewinnen; in Wirklichkeit ist es vollkommene Liebe, die sich der Kleinheit der Kinder anpaßt...

Wie bei mir. Oh! Er hat mich tatsächlich immer wie ein "kleines Kind" behandelt, um meinen Schmerz zu lindern, um meine Liebe zu gewinnen! Später, als ich ihn mit meinem ganzen Wesen geliebt habe, hat er mir die Hand gedrückt und hat mich wie eine Erwachsene behandelt, ohne auf mein Flehen zu hören: «Aber siehst du denn nicht, daß ich zu nichts gut bin?» Er hat gelächelt und mich verpflichtet, wie eine Erwachsene zu handeln... Oh! Nur wenn die arme Maria ganz niedergeschlagen ist, wird er wieder zum Jesus der Kinder für meine arme Seele, die so unfähig ist, und gibt sich mit Mistkäfern, Steinchen, Blümchen oder mit dem, was ich gerade geben kann, zufrieden und zeigt mir, daß er sie schön findet... und daß er mich liebt, weil ich «das Nichts bin, das sich voller Vertrauen im "Alles" verliert.»

Mein teurer Jesus, geliebt bis zum äußersten, geliebt mit meinem ganzen Wesen. Ja, ich kann es wohl sagen. Wenn ich mich aufrichtig erforsche am Vorabend meines 49. Geburtstages, am Vorabend des menschlichen Urteils über meine Tätigkeit als Sprachrohr, wenn ich redlich meinen Geist durchforsche, um die Wahrheit der Worte zu entziffern, die in mir sind, kann ich sagen, daß ich jetzt meinen Gott liebe, ihn zu lieben verstehe mit meinem ganzen Wesen. Ich habe mich 48 Jahre lang bemüht, zu dieser vollendeten Liebe zu gelangen; zu

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dieser Liebe, die so total ist, daß ich nicht den geringsten furchtsamen Gedanken in Bezug auf eine Verurteilung hege, sondern nur besorgt bin wegen der Enttäuschung, die sie in den Seelen hervorrufen würde, die ich zu Gott geführt habe und die überzeugt sind, von dem in mir lebendigen Heiland erlöst worden zu sein, und die sich von der Kirche lossagen würden von diesem Band zwischen Menschheit und Gott. Einige werden sagen: «Schämst du dich nicht, daß du so lange dazu gebraucht hast?» Nein, wirklich nicht. Ich war so schwach und nichtswürdig, daß ich diese ganze Zeit dazu gebraucht habe. Übrigens bin ich überzeugt, daß ich so lange dazu gebraucht habe, wie Jesus gewollt hat; keine Minute länger, keine Minute weniger. Denn das kann ich euch sagen: seit ich angefangen habe zu verstehen, was Gott ist, habe ich Gott nichts mehr abgeschlagen. Seit ich mit vier Jahren fühlte, daß Gott überall zugegen ist, sogar in der Rückenlehne des Stuhles, auf dem ich saß, so daß ich ihn um Entschuldigung bat, weil ich ihm den Rücken zuwandte und ihn als Lehne benützte – seit ich als vierjähriges Kind selbst im Schlaf daran dachte, daß unsere Sünden ihn verwundet und getötet haben, und aufrecht im Bett stehend im Nachthemd betete, ohne auf ein Bild zu schauen, sondern nur indem ich mich an den für uns getöteten Geliebten wandte und ihn anflehte: «Ich nicht! Ich nicht! Laß mich lieber sterben als daß du mir sagst, daß ich dich verletzt habe!»... Du kennst sie, o meine Liebe, meine glühenden Stoßgebete. Kein einziges ist dir unbekannt. Du weißt, daß jeder von dir auch nur angedeutete Wunsch von deiner Maria unverzüglich angenommen wurde... Auch als du mich batest, dir die Liebe der Verlobten zu schenken – ja, gerade damals, an Weihnachten 1921, habe ich dir meine Liebe zugesichert – meine Liebe zu den Eltern, das Leben, die Gesundheit, den Wohlstand... um immer mehr ein Nichts im gesellschaftlichen Leben zu werden, ein Wrack, das die Welt mitleidig und verächtlich betrachtet... unfähig, seinen Durst zu stillen, wenn es nicht jemanden hat, der ihm ein Glas Wasser reicht... angenagelt wie du, wie du... Und wie sehr habe ich danach verlangt, es zu sein, und wie sehr würde ich sofort wieder danach verlangen, wenn du mich heilen würdest.

Alles! Das Nichts hat alles gegeben, sein ganzes Sein... Und auch jetzt, da ich abgewiesen und verurteilt werden könnte, was sage ich da? Laß mich nur dich besitzen, deine Gnade. Alles andere ist nichts. Ich bitte dich nur darum, mir deine Liebe nicht zu entziehen und nicht zu erlauben, daß die, die ich dir gegeben habe, in die Finsternis zurückfallen.

Aber wo bin ich hingegangen, du meine Sonne, während du zwischen den Rosenbeeten wandelst? Wohin trägt mich mein Herz, das sich ganz deiner Liebe hingibt? Es zittert, das Blut erhitzt sich in meinen Venen, und die Leute sagen: «Sie hat Fieber und Herzklopfen.»Nein, nein. Diesen Morgen ergießt du dich in mich mit der Kraft deines göttlichen Liebessturmes, und ich... und ich vernichte mich in dir, der du mich durchdringst, und denke nicht mehr als Geschöpf dieser Welt, sondern fühle, was das Leben der Seraphime ist... und brenne und vergehe und liebe dich, liebe dich. Habe Erbarmen in deiner Liebe! Habe Erbarmen, wenn du willst, daß ich weiterhin lebe, um dir zu dienen, o göttliche, ewige Liebe, o süßeste Liebe, o Liebe der Himmel und der Schöpfung, Gott, Gott, Gott...

Aber nein, kein Erbarmen! Noch mehr! Noch mehr! Bis zum Tod auf dem Scheiterhaufen der Liebe! Fließen wir ineinander! Lieben wir uns! Um im Vater zu sein, wie du es für uns betend gesagt hast: «Mögen alle, die mich lieben, dort sein, wo wir sind. Alle eins.»

Alle eins! Ja, das ist eines der Worte des Evangeliums, die mich immer in einen Abgrund liebender Anbetung haben hinabsteigen lassen.

Was hast du für uns erbeten, o mein göttlicher Meister und Erlöser! Um was hast du gebetet, o mein göttlicher Tor der Liebe! Daß wir eins seien mit dir, mit dem Vater, mit dem Heiligen Geist; denn wer in einem ist, ist in allen dreien, o unzertrennliche Dreifaltigkeit des einen und dreieinigen Gottes!

Sei gepriesen! Gepriesen bei jedem Pulsschlag und Atemzug! ... Aber setzen wir die Schauung fort.

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Ich sehe, wie Petrus mit eiligen Schritten naht, so schnell, daß seine Kleider sich aufblähen wir ein Segel, das vom Wind erfaßt wird. Bartholomäus folgt ihm etwas langsamer.

Petrus kommt von hinten auf den Meister zu, der sich über Säuglinge gebeugt hat, die sicher Kinder von Sammlerinnen sind und die im Schatten der Bäume liegen. «Meister!»

«Simon! Du hier? Und du, Bartholomäus? Ihr hättet nach dem Sonnenuntergang des morgigen Sabbat abreisen sollen...»

«Meister, mache uns keine Vorwürfe... Höre mich zuerst an.»

«Ich höre euch an, und ich tadle euch nicht, denn ich nehme an, daß ihr aus einem wichtigen Grund entgegen meiner Anordnung gehandelt habt. Versichert mir nur, daß keiner von euch krank oder verletzt ist.»

«Nein, Meister. Kein Unglück hat uns getroffen», beeilt sich Bartholomäus zu sagen. Aber Petrus, offen und stürmisch wie immer, sagt: «Hin! Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten uns alle die Beine gebrochen und meinetwegen auch den Kopf zerschlagen, anstatt...»

«Was ist denn vorgefallen?»

«Meister, wir haben gedacht, es ist besser, jetzt zu kommen, um Schluß zu machen mit ...» will Bartholomäus sagen, doch Petrus unterbricht ihn: «Sprich doch etwas schneller», und schließt mit den Worten: «Judas ist ein Teufel geworden, seit du fort bist. Man kann nicht mehr mit ihm reden. Er hat mit allen gestritten ... Er hat bei allen Dienern der Elisa und auch bei anderen Anstoß erregt ...»

«Vielleicht ist er eifersüchtig geworden, weil du Simon mit dir genommen hast...» entschuldigt ihn Bartholomäus, als er sieht, daß Jesus sehr ernst wird.

«Ach was! Eifersucht! Hör auf, ihn zu entschuldigen... oder ich streite mit dir, um mich auszutoben, weil ich nicht mit ihm habe streiten können... Denn es ist mir gelungen zu schweigen, Meister. Denke dir! Schweigen! Und das aus Gehorsam und Liebe zu dir... aber was für eine Anstrengung! Gut. In einem Augenblick, als Judas weggegangen ist und dabei die Türe zugeschlagen hat, haben wir uns beraten... und gedacht, es sei besser abzureisen, um dem Ärgernis in Bethsur ein Ende zu bereiten und... zu vermeiden, ihn... ihn zu ohrfeigen... Ich bin mit Bartholomäus sofort aufgebrochen. Ich habe die andern gebeten, mich gehen zu lassen, noch bevor er zurückkehrt, denn... denn ich fühlte, daß ich mich nicht mehr hätte halten können... Jetzt ist es heraus und du kannst mich tadeln, wenn ich etwas falsch gemacht habe.»

«Du hast richtig gehandelt. Alle habt ihr gut gehandelt.»

«Auch Judas? Nein, nein Herr! Sage das nicht! Er hat ein unwürdiges Theater aufgeführt!»

«Nein, er hat nicht richtig gehandelt, aber urteile nicht über ihn.»

«Nein, Herr...» Petrus bringt das Nein nur mit großer Mühe heraus. Es

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folgt ein Schweigen. Dann fragt Petrus: «Kannst du mir wenigstens sagen, weshalb Judas sich plötzlich so verändert hat? Er schien so gut geworden zu sein. Ich habe gebetet und Opfer gebracht, damit es andauert ... denn ich kann es nicht ertragen, dich traurig zu sehen. Ich weiß, du bist betrübt, wenn wir uns schlecht benehmen, und seit dem Tempelweihfest weiß ich, daß selbst das Opfer eines Löffels Honig seinen Wert hat... Aber diese Wahrheit hat mir ein Jünger beibringen müssen, noch dazu der kleinste, ein armes Kind, mir, dem törichten Apostel. Doch habe ich sie nicht unbenützt gelassen, denn ich habe den Erfolg gesehen. Auch ich Dummkopf habe etwas begriffen dank des Lichtes der Weisheit, das gütig über mich gekommen ist, das herabgestiegen ist zu mir, dem einfachen Fischer und sündigen Menschen. Ich habe verstanden, daß man dich nicht nur mit Worten lieben muß, sondern durch die Rettung von Seelen durch eigene Opfer, um dir Freude zu bereiten, um dich nicht so sehen zu müssen, wie du jetzt bist, wie du am Sabbat warst, so bleich und so traurig, mein Meister und Herr, den bei uns zu haben wir nicht würdig sind. Wir können dich ja nicht begreifen, wir Würmchen neben dir, dem Sohn Gottes, wir Schmutz neben dir, dem Stern, wir Finsternis neben dir, dem Licht. Aber es hat ja nichts genützt! Nichts! Es ist wahr. Meine elenden Opfer... so arm... so schlecht dargebracht... Wozu konnten sie auch dienen? Es war Hochmut meinerseits zu glauben, sie könnten helfen... Verzeih mir. Ich habe dir gegeben, was ich hatte. Ich habe mich geopfert, um dir alles zu geben, was ich habe. Ich glaubte, gerechtfertigt zu sein, weil ich dich geliebt habe, o mein Gott, mit meinem ganzen Wesen, mit meinem ganzen Herzen, mit meiner ganzen Seele, mit allen meinen Kräften, so wie es geschrieben steht. Doch jetzt verstehe ich auch das und sage es schlicht heraus, wie es Johannes, unser Engel, immer tut, und bitte dich (er kniet zu Füßen Jesu nieder), deine Liebe in deinem armen Simon zu vermehren, damit meine Liebe zu dir wachse, o mein Gott.» Petrus beugt sich nieder, um die Füße Jesu zu küssen, und verbleibt in dieser Haltung. Bartholomäus, der ihn gehört hat und ihm bewundernd beistimmt, tut desgleichen. «Steht auf, meine Freunde. Meine Liebe wächst immer mehr in euch und wird immer mehr wachsen. Und seid gesegnet für das Herz, das ihr habt. Wann werden die andern kommen?»

«Vor Sonnenuntergang.»

«Auch Johanna und Elisa werden mit Chuza kommen, noch bevor die Sonne untergeht. Wir werden den Sabbat hier verbringen und dann abreisen.»

«Ja, Herr. Aber warum hat dich Johanna so dringend gerufen? Konnte sie nicht warten? Es war doch beschlossen, daß wir alle hierher kommen sollten! Durch ihre Unklugheit hat sie etwas Schönes angerichtet! ...»

«Tadle sie nicht, Simon des Jonas. Sie hat mit Klugheit und aus Liebe

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gehandelt. Sie hat mich gerufen, weil da Seelen waren, die in ihrem guten Willen bestärkt werden mußten.»

«Ah! Dann sage ich nichts mehr... Aber, Herr, warum ist denn Judas auf einmal so verändert?»

«Denke nicht daran! Denke nicht daran! Freue dich über dieses Eden, über so viele Blumen und so viel Frieden. Freue dich deines Herrn. Vergiß das Menschliche in all seinen elendesten Formen, in seinen Angriffen auf den Geist deines armen Kameraden. Denke nur daran, für ihn zu beten, viel, sehr viel. Kommt, gehen wir zu den Kleinen, die uns so erstaunt zuschauen. Ich sprach gerade zu ihnen von Gott, von Seele zu Seele, mit Liebe, und zu den Größeren durch die Schönheiten Gottes...»; und er legt seine Arme um die Schultern der beiden Apostel und begibt sich zu einem Kreis von Kindern, die ihn erwarten.

448. ABSCHIED VON BETHER

Ich weiß nicht, wie ich es mit dem Schreiben machen soll, erschöpft wie ich bin durch die ständigen Herzkrämpfe bei Tag und Nacht... aber ich sehe etwas und muß schreiben.

Ich sehe Jesus vor dem Palast der Johanna in Bether. Dort erweitert sich der Garten vor dem Haus und bildet gleichsam zwei grüne Flügel in Zangenform, so daß ein kleiner, halbkreisförmiger Platz entsteht, ohne Pflanzen in der Mitte und von sehr hohen, alten Laubbäumen umgeben ' die in der leichten Brise, die über die Hügel weht, leise rauschen und einen wohltuenden Schatten werfen, wenn die Sonne im Westen steht. Unter den Bäumen bildet eine Rosenhecke einen Halbkreis von Farben und Düften um den Platz. Der Abend senkt sich hernieder, und man kann den Sonnenuntergang ziemlich lange am Horizont beobachten, da das Schloß auf einer Anhöhe liegt. Nun beginnt die Sonne sich hinter dem Höhenzug zu verbergen, der gegen Westen liegt und auf den Andreas den Philippus aufmerksam macht, indem er an Bethginna erinnert, wo sie den Herrn verkünden sollten. Offensichtlich liegt Bethginna auf diesen Bergen, wo der Herr vor einem Jahr, zu Beginn seiner Wanderschaft entlang den Küsten des Mittelmeeres, die Tochter des Gastwirts geheilt hat, wenn ich mich recht entsinne. Ich bin allein und kann mir nicht die Hefte der vergangenen Monate geben lassen, um zu vergleichen, und ich kann mich nicht erinnern.

Die Apostel sind alle zugegen. Ich weiß nicht, wie sich die Begegnung Jesu mit Judas abgespielt hat. Anscheinend ist alles gut verlaufen, denn ich bemerke keine Zurückhaltung oder Spannung in den Gesichtern, und Judas ist unbefangen und heiter, als ob nichts geschehen wäre, so sehr,

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daß er selbst den niedrigsten Dienern gegenüber freundlich ist, was ihm sonst nicht so leicht fällt, vor allem, wenn er unruhig ist.

Auch Elisa ist da und Anastasica, die sicher mit den Aposteln und der Dienerin der Elisa gekommen ist. Ebenso ist Chuza zugegen, ganz ehrerbietig. Er hält Matthias an der Hand, und Johanna steht neben Elisa mit der kleinen Maria an der Seite. Jonathan steht hinter seiner Herrin.

Zum Schutz gegen die Sonne, die noch auf die Westseite des Palastes scheint, dient Jesus eine Zeltplane, die mit Pfählen und Schnüren wie ein Baldachin aufgespannt ist. Ihm gegenüber sind alle Diener und Gärtner von Bether, und gewiß sind es nicht nur die üblichen, sondern auch Hilfsarbeiter aus dem Dorf, das zum Schloß gehört. Schweigend stehen sie in der Kühle des schattigen Halbkreises in einer Reihe und warten auf den Segen Jesu, der kurz vor der Abreise zu sein scheint, nur noch in Erwartung des Sonnenuntergangs, der das Ende des Sabbat bedeutet.

Jesus ist etwas abseits mit Chuza im Gespräch. Ich weiß nicht, was er sagt, denn sie reden leise miteinander. Aber ich sehe, daß Chuza sich mehrmals verneigt und Versicherungen kundgibt; denn er hat seine rechte Hand aufs Herz gelegt, wie um zu sagen: «Mein Ehrenwort. Sei unbesorgt, was mich betrifft», usw. Die Apostel haben sich diskret in einen Winkel zurückgezogen. Aber niemand kann sie daran hindern, zu beobachten; und wenn Petrus und Bartholomäus dreinblicken wie zwei, die schon mehr oder weniger wissen, um was es sich handelt, so liegt auf den Gesichtern der anderen, abgesehen von Judas, ein gewisser Ausdruck der Traurigkeit, besonders in denen der Apostel Jakobus des Alphäus, Johannes, Simon und Andreas, während Judas des Alphäus fast unruhig und ernst aussieht. Der andere Judas, der gelassen erscheinen will, beobachtet genauer als alle anderen, und man hat das Gefühl, daß er an den Händen und Lippen Jesu und Chuzas ablesen möchte, worüber sie miteinander reden.

Die Jüngerinnen betrachten sie ebenfalls schweigend und ehrfürchtig, und Johanna lächelt unwillkürlich, etwas ironisch in ihrer Traurigkeit, und scheint ihren Gemahl zu bemitleiden, als dieser seine Stimme erhebt und am Ende der Unterredung versichert: «Meine Dankespflicht ist so groß, daß ich ihr niemals voll nachkommen kann. Daher überlasse ich dir, was mir am teuersten ist: meine Johanna... Aber du mußt meine fürsorgliche Liebe für sie verstehen... Der Unwillen des Herodes... und seine berechtigte Verteidigung... hätten zu Vergeltungsmaßnahmen geführt, die unsere Güter... unsere Machtstellung getroffen hätten. Johanna ist an diese Dinge gewöhnt, sie ist zart... und bedarf ihrer... Ich schütze Interessen. Aber ich schwöre dir, jetzt, da ich sicher bin, daß Herodes keinen Grund hat, sich über mich als einen Helfershelfer seiner Feinde zu beklagen, werde ich dir mit unbeschränkter Freude dienen und Johanna jegliche Freiheit gestatten!»

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«Gut. Aber denke daran: die ewigen Güter für eine kurze menschliche Ehre herzugeben ist dasselbe, wie die Erstgeburt gegen einen Teller Linsen einzutauschen. Ja, es ist noch viel schlimmer...»

Die Jüngerinnen haben die Worte verstanden, auch die Apostel. Während sie aber für die meisten nicht mehr als ein akademischer Vortrag sind, haben sie für Judas Iskariot eine ganz besondere Bedeutung. Er wechselt Farbe und Gesichtsausdruck und wirft einen teils entsetzten, teils erzürnten Blick auf Johanna. Es wird mir klar, daß Jesus bis jetzt noch nicht über das Vorgefallene gesprochen hat, und daß bei Judas erst jetzt der Verdacht erwacht, daß seine Ränke aufgedeckt sein könnten.

Jesus wendet sich an Johanna mit den Worten: «Nun gut, so wollen wir jetzt die gute Jüngerin zufriedenstellen. Ich werde, wie du es gewünscht hast, vor meiner Abreise zu deiner Dienerschaft sprechen.»

Er tritt vor bis an den Rand des Schattens, der mit der langsam tiefer sinkenden Sonne immer länger wird. Diese Sonne ist wie eine Orange, von der eine jedesmal größere Scheibe abgeschnitten wird, während das Gestirn hinter den Bergen von Bethginna verschwindet und ein feuriges Rot am klaren Himmel hinterläßt.

«Meine geliebten Freunde, Chuza und Johanna, und ihr guten Diener, die ihr den Herrn schon seit vielen Jahren kennt durch den Mund meines Jüngers Jonathan und durch den Mund der Johanna, seit sie meine Jüngerin ist, hört.

Ich habe mich von allen Ortschaften Judäas verabschiedet, in denen ich zahlreiche Jünger habe durch die Bemühungen der ersten Jünger, der Hirten, und durch die Achtung vor dem Wort, das zu ihnen kam, um zu belehren und zu retten. Jetzt verabschiede ich mich auch von euch; denn nie mehr werde ich in dieses Eden zurückkehren, das so schön ist, nicht nur der Rosenstöcke und des hier herrschenden Friedens wegen, nicht nur der guten Herrin wegen, die hier gebietet, sondern vor allem, weil hier dem Herrn geglaubt und nach seinem Wort gelebt wird. Ein Paradies! Ja. Was war das Paradies von Adam und Eva? Ein herrlicher Garten, in dem man ohne Sünde lebte und in dem die Stimme Gottes erklang, die geliebte Stimme, auf die seine ersten beiden Kinder mit Freude hörten...

Nun ermahne ich euch, darüber zu wachen, daß euch nicht geschehe, was in Eden geschah: daß nicht die Schlange der Lüge, der Verleumdung und der Sünde sich einschleiche, eure Herzen betöre und euch von Gott trenne. Seid wachsam und haltet an eurem Glauben fest... Laßt euch nicht beeinflussen. Hütet euch vor Werken des Unglaubens. Es könnte geschehen, denn der Verfluchte wird eindringen, wird versuchen einzudringen, wie er schon an vielen Orten eingedrungen ist, um das Werk Gottes zu zerstören. Solange er sich nur einschleicht, er, der Unscheinbare, der Falsche und Unermüdliche, forscht und lauscht, Fallen legt, geifert und zu verführen sucht, ist noch nichts verloren. Niemand kann ihn davon abhalten.

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So hat er schon im irdischen Paradies gehandelt ... Aber ein großes Übel wäre es, ihn einfach wirken zu lassen, ohne ihn zu verjagen. Der Feind, der nicht vertrieben wird, macht sich schließlich zum Herrn; denn er setzt sich auf hinterlistige Weise fest und bereitet seine Angriffe vor.

Macht sofort Jagd auf ihn, schlagt ihn in die Flucht mit der Waffe des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung auf den Herrn. Das schlimmste Übel ist es, wenn man ihn ungestört unter den Menschen wirken und von außen ins Innere eindringen läßt; wenn man ihm gestattet, sich in den Herzen der Menschen festzusetzen. Oh, dann! Und doch haben ihn schon viele Menschen in ihr Herz aufgenommen, gegen den Gesalbten.

Sie haben ihn samt seinen bösen Leidenschaften in ihre Herzen aufgenommen und Christus verjagt. Wenn sie Christus noch nicht als den Christus erkannt oder ihn nur oberflächlich kennengelernt hätten, so wie Reisende sich zufällig auf dem Weg begegnen, als Unbekannte, zum ersten und letzten Mal, und einige Worte miteinander wechseln, nach dem Weg fragen oder sich mit Feuerstein oder Werkzeug aushelfen; wenn sie Christus nur so kennengelernt hätten, diese Herzen, die heute und mehr noch morgen Christus vertreiben, um sich mit Satan einzulassen, dann könnte man Mitleid mit ihnen haben und Barmherzigkeit walten lassen, da sie Christus nicht richtig kennen. Aber wehe denen, die wissen, wer er wirklich ist, die sich von meinem Wort und von meiner Liebe genährt haben und mich nun verjagen und statt meiner Satan aufnehmen, der sie mit lügnerischen Versprechungen menschlicher Triumphe verführt, die in Wirklichkeit nur ihre ewige Verdammnis bedeuten.

Ihr, die ihr demütig seid und nicht Kronen und Throne erträumt, sondern Frieden und den Triumph Gottes, sein Reich, seine Liebe, das ewige Leben, und das allein, ahmt jene nicht nach. Wachet! Wachet! Bewahrt euch rein und stark gegen die Versuchungen, die Drohungen, gegen alles.»

Judas, der nun verstanden hat, daß Jesus etwas weiß, hat eine finstere, von Wut verzerrte Maske aufgesetzt. Seine Augen werfen flammende Blicke des Hasses auf den Meister und auf Johanna... Er verzieht sich hinter den Rücken seiner Kameraden, wie um sich an die Mauer zu lehnen. In Wirklichkeit tut er es, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Jesus fährt nach einer kleinen Pause fort, die er gemacht hat, so als wolle er den zweiten Teil seiner Predigt vom ersten trennen. Er sagt:

«Es gab eine Zeit, da Nabot von Zezrael einen Weinberg beim Königspalast des Achab, des Königs von Samaria, hatte, den Weinberg seiner Väter, der ihm sehr am Herzen lag. Er war ihm heilig, da es ein Erbstück war, das seit Generationen vom Vater auf den Sohn überging. Generationen hatten ihn mit Mühe und Schweiß bearbeitet, um aus ihm einen der schönsten und fruchtbarsten Weinberge zu machen, und Nabot liebte ihn

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sehr. Achab sagte zu ihm: "Überlasse mir deinen Weinberg, denn er liegt so nahe bei meinem Haus und könnte mir dazu dienen, einen Garten für mich und die Meinen daraus zu machen. Ich gebe dir dafür einen besseren Weinberg, oder wenn es dir lieber ist, bezahle ich dir den Kaufpreis in Geld!" Doch Nabot entgegnete: "Es tut mir leid, meinen König enttäuschen zu müssen. Aber ich kann dir nicht willfahren. Dieser Weinberg ist ein Erbstück von meinen Vätern, und er ist mir heilig. Der Herr bewahre mich davor, daß ich das Erbe meiner Väter dir übergebe."

Betrachten wir einmal diese Antwort. Viel zu wenig wird sie erwogen, von zu wenigen in Israel. Die andern, die meisten, die, von denen ich zuvor gesprochen habe, die leichtsinnig Christus verjagen, um Satan zu folgen, nehmen wenig Rücksicht auf das Erbe der Väter, und nur, um viel Geld, viele Ländereien, Ehrenstellen oder die Sicherheit, nicht so leicht vertrieben zu werden, zu besitzen, sind sie leicht geneigt, das Erbe der Väter herzugeben; das Erbe, das darin besteht, die messianische Idee in ihrer Wirklichkeit so anzunehmen, wie sie den Heiligen von Israel enthüllt worden ist, und die ihnen in ihren kleinsten Einzelheiten heilig sein sollte, so daß sie sie nicht aus der Hand geben, verändern oder durch menschliche Begrenzungen erniedrigen wollen. Wie viele, gar viele verwechseln die strahlende, ganz heilige und geistige Idee vom Messias mit der Marionette menschlichen Königtums, zum Schrecken und zum Schaden der Autorität und der Wahrheit!

Ich, die Barmherzigkeit, bringe es nicht über mich, diese mit den furchtbaren Verwünschungen des Moses gegen die Gesetzesübertreter zu verfluchen. Aber auf die Barmherzigkeit folgt die Gerechtigkeit. Ein jeder merke sich das!

Ich erinnere – und wenn unter den Anwesenden einer ist, den es angeht, nehme er die Mahnung mit willigem Herzen auf – noch an andere Worte des Moses, die denen gesagt wurden, die mehr sein wollten, als Gott ihnen zugestanden hatte. Moses sprach zu Korach, Datan und Abiram, die sich heilig dünkten wie Moses und Aaron und sich dagegen auflehnten, im Volk Israel nur Nachkommen Levis zu sein: "Morgen wird der Herr kundtun, wer zu ihm gehört. Er wird die Heiligen zu sich herantreten lassen, und jene, die er erwählt hat, werden sich ihm nahen. Legt Feuer in eure Weihrauchbecken und auf das Feuer Weihrauch. Stellt sie vor den Herrn und kommt, ihr und die Euren mit Aaron, und wir werden sehen, wen der Herr dann erwählt. Ihr erhöht euch etwas zu viel, o Söhne Levis."

Als gute Israeliten wißt ihr, welches die Antwort Gottes an die war, die sich zu sehr erhöhen wollten und vergaßen, daß Gott der ist, der die Plätze seiner Söhne bestimmt, der sie auserwählt, und zwar mit Gerechtigkeit, ja bis zum äußersten gerecht. Auch ich muß sagen: "Es gibt einige, die sich zu sehr erhöhen wollen; aber sie werden bestraft werden, so daß die Guten begreifen, daß jene gelästert haben."

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Diejenigen, die die messianische Idee, wie der Höchste sie geoffenbart hat, vertauschen mit ihrer eigenen armseligen, menschlichen, schwerfälligen, begrenzten und rachsüchtigen Auffassung; sind sie nicht tatsächlich mit denen zu vergleichen, die über das Heilige urteilen wollten, das in Moses und Aaron wirkte? Diejenigen, die, um ihr Ziel zu erreichen, um ihre armselige Auffassung zu verwirklichen, selbst die Initiative ergreifen wollen und ihre eigene Absicht in ihrem Hochmut höher einschätzen als die göttliche, scheinen sie euch nicht das Haupt gar zu hoch zu erheben, und dies unrechtmässigerweise, anstatt von Levi von Aaron abstammen zu wollen? Diejenigen, die von einem armseligen König von Israel träumen und ihn dem geistigen König der Könige vorziehen, die sich von Hochmut und Habsucht blenden lassen, so daß sie die ewigen Wahrheiten der heiligen Bücher entstellen und in ihrem fieberhaften menschlichen Begehren die klarsten Worte der geoffenbarten Wahrheit nicht begreifen können, sind sie nicht Menschen, die gegen ein wertloses Nichts das Erbe eines ganzen Stammes, und noch dazu das heiligste Erbe, eintauschen?

Aber wenn auch sie es tun, so werde doch ich nicht das Erbe des Vaters und der Ahnen dafür eintauschen und lieber sterben für dieses Versprechen, das lebendig ist, solange die Notwendigkeit der Erlösung besteht. Ich werde diesem Gehorsam treu bleiben, dem ich mich beständig ergebe; denn ich habe meinen Vater nie enttäuscht und werde ihn nie enttäuschen, auch nicht aus Furcht vor dem schrecklichsten Tod. Mögen die Feinde sich falsche Zeugen verschaffen, mögen sie auch Eifer und redliches Verfahren vorgeben; dies wird an ihrem Verbrechen und an meiner Heiligkeit nichts ändern. Er aber und jene, die seine Helfershelfer sein werden, nachdem sie seine Verführer gewesen sind, die glauben, sich aneignen zu können, was mein ist, werden Hunde und Geier finden, die sich auf Erden ihrem Blut und ihrem Leib sättigen; und in der Hölle werden sie Dämonen finden, die sich an ihrem gotteslästerlichen, gottesmörderischen Geist weiden.

Das habe ich euch gesagt, damit ihr es wißt, damit jeder es wisse und die Bösewichte sich reumütig bekehren, indem sie Achab nachahmen, solange es noch möglich ist, und damit der Gute sich nicht verwirren lasse in der Stunde der Finsternis.

0 ihr Söhne von Bether, behüte euch Gott! Der Gott Israels sei immer mit euch, und die Erlösung möge ihren Tau auf ein reines Feld träufeln, damit in euren Herzen alle Samenkörner sprießen, die euer Meister in sie ausgestreut hat; der Meister, der euch geliebt hat bis zum Tod.»

Jesus segnet sie und sieht sie langsam fortgehen. Die Sonne ist untergegangen. Nur ein roter Streifen, der in violett übergeht, erinnert an sie. Die Sabbatruhe ist zu Ende. Jesus kann abreisen. Er küßt die Kleinen, grüßt die Jüngerinnen und Chuza. Am Gittertor dreht er sich um und sagt laut, damit alle es hören können: «Ich werde, wenn es mir möglich ist, mit

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diesen Geschöpfen sprechen. Aber du, Johanna, laß sie wissen, daß ich nichts anderes bin als der Feind der Sünde und der König des Geistes. Denke auch du daran, Chuza, und verzage nicht. Niemand soll sich meinetwegen fürchten, nicht einmal die Sünder; denn ich bin ihr Heil. Nur die bis zum Tode Unbußfertigen müssen vor Christus erzittern, der zum Richter wird, nachdem er ganz Liebe gewesen ist... Der Friede sei mit euch.»

Dann geht er den Seinen voraus und beginnt den Abstieg...

449. SIMON DES JONAS IN EINEM GEISTIGEN,

SIEGREICHEN KAMPF

Im Namen des Herrn.

Nun kann ich mich endlich wieder dir zuwenden, liebes Evangelium, heilige Erzählung der Pilgerschaft meines Meisters auf den Wegen Palästinas.

Nachdem ich alle Pflichten erfüllt habe, wende ich mich wieder dir zu. Besser gesagt: Du wendest dich wieder mir zu. Ich weiß nicht, ob jemand über die stumme und doch so lehrreiche Unterweisung nachdenkt, die der Herr uns durch sein Schweigen erteilt, das drei Ursachen haben kann:

1. Das Mitleid mit der Schwäche des kranken, bisweilen dem Tode nahen Sprachrohrs.

II» Die Strafe für den, der sich seiner Gabe gegenüber nicht gut benimmt.

111. Die Lehre, und gerade darüber möchte ich jetzt sprechen, über die Pflicht, immer zu gehorchen, selbst wenn es ein Gehorsam ist, der uns geringer erscheint als die Arbeit, die wir dafür unterbrechen müssen. Oh! Es ist nicht leicht "Stimme" zu sein! Man lebt in einer beständigen Übung der Wachsamkeit und des Gehorsams. Jesus, der Herr der Welt, gestattet kein Fehlen gegen den Gehorsam, dem sein Werkzeug unterworfen ist, wenn der Auftrag von einem rechtmäßig Bevollmächtigten gegeben wird.

Ich mußte in diesen Tagen den Aufträgen nachkommen, die mir P. Migliorini gegeben hatte. Sie waren bürokratischer Natur und in einem gewissen Sinn lästig. Aber Jesus hat nie eingegriffen, weil ich Gehorsam leisten mußte... Vollkommenen Gehorsam, wie Azarias gestern in seiner Predigt gesagt hat. Aber nun ist alles getan...

Und ich kann zusehen, o mein Herr, wie du auf Abkürzungswegen in ein fruchtbares Tal hinabsteigst, während Bether hinter dir hoch oben auf dem blumenreichen Gipfel im letzten Tageslicht liegt... Du hast die Liebe der Jüngerinnen, der Kleinen und der Demütigen zurückgelassen und steigst nun hinab zu den nach Jerusalern führenden Wegen, zur Welt, in die Tiefe... und es ist dort nicht nur dunkler als auf dem Gipfel, weil es ein Tal ist und die Sonnenstrahlen nicht mehr hinuntergelangen, sondern vor allem, weil dort, in der niederträchtigen Welt, Härte und Trug herrschen und du nicht viel Gutes zu erwarten hast, o mein Herr...

Jesus geht an der Spitze der Gruppe. Eine weiße, schweigsame Gestalt, die majestätisch einherschreitet, auch auf den schlecht gehaltenen, steilen Pfaden, die er einschlägt, um abzukürzen. Beim Abstieg schleift er das

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lange Gewand und den weiten Mantel hinter sich her und scheint schon in einen königlichen Mantel mit Schleppe gehüllt zu sein... Hinter ihm gehen, weniger majestätisch, aber ebenfalls schweigsam, die Apostel... Als letzter, in einem gewissen Abstand, folgt Judas, dessen Gesicht von Zorn entstellt ist. Bisweilen wenden sich die beiden einfältigsten, Andreas und Thomas, um und schauen ihn an. Andreas fragt ihn sogar: «Warum gehst du so allein und so weit hinter uns? Fühlst du dich nicht wohl?» Dadurch fordert er die herbe Antwort heraus: «Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!» die Andreas verwundert, zumal auch noch ein beleidigender Zusatz folgt.

Petrus ist der zweite in der Reihe der Apostel hinter Jakobus des Alphäus, der unmittelbar hinter dem Herrn geht. Er horcht auf in er großen Abendstille den Bergen und dreht sich plötzlich um. Er will schon auf Judas zugehen, doch plötzlich überlegt er einen Augenblick und läuft zu Jesus. Er packt ihn recht unsanft am Arm und schüttelt ihn, indem er ganz aufgeregt sagt: «Meister, versicherst du mir, daß es wirklich so ist, wie du mir gestern abend gesagt hast? ... Daß Opfer und Gebete nie erfolglos sind, auch wenn es scheint, daß sie nichts nützen? ...»

Jesus, bleich und traurig, blickt sanft auf seinen ins Schwitzen geratenen Simon, so sehr strengt er sich an, nicht gleich auf die Beleidigung zu reagieren. Er wird ganz rot und zittert sogar, und vielleicht hat er dem Meister mit dem rauhen Ergreifen seines Armes auch wehgetan. Dieser antwortet mit einem traurigen und zugleich friedvollen Lächeln: «Sie werden immer belohnt, dessen kannst du sicher sein.»

Petrus verläßt ihn, geht aber nicht wieder an seinen Platz zurück, sondern unter die Bäume, die auf dem Hang des Berges wachsen, und macht seinen Gefühlen dadurch Luft, daß er Äste zerbricht und junge Pflanzen ausreißt, mit einer Wut, die eigentlich auf etwas anderes gerichtet ist, sich aber auf diese Weise austobt.

«Aber was machst du denn da? Bist du verrückt geworden?» fragen ihn einige. Petrus antwortet nicht. Er fährt fort, zu zerbrechen und auszureißen. Die Apostel überholen ihn, auch Judas. Doch Petrus scheint im Akkord zu arbeiten, so schnell geht alles vor sich. Zu seinen Füßen liegt ein Haufen Holz, der genügen würde, ein Lamm zu braten. Mit Mühe lädt er ihn sich auf die Schultern und macht sich auf, seine Kameraden einzuholen. Ich weiß nicht, wie er es fertig bringt, ist er doch sehr behindert durch seinem Mantel, durch die Last, durch seinen Reisesack und den schlechten Weg. Aber er geht voran, ganz gebeugt wie unter einem Joch...

Judas lacht, als er ihn so daherkommen sieht: «Du scheinst ja ein Sklave zu sein!»

Petrus kann kaum seinen unter der Last gebeugten Kopf bewegen und will etwas erwidern. Aber er schweigt, beißt die Zähne zusammen und geht weiter.

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«Ich helfe dir, Bruder», sagt Andreas.

«Nein.»

«Aber für ein Lamm ist dies zu viel Holz», bemerkt Jakobus des Zebedäus.

Petrus antwortet nicht. Er geht weiter. Er schafft es fast nicht mehr, aber er hält durch.

Endlich bleibt Jesus am Ende des Abstieges bei einer Höhle stehen. «Hier wollen wir haltmachen, und am frühen Morgen werden wir wieder aufbrechen», befiehlt der Meister. «Bereitet das Abendessen.»

Da wirft Petrus seine Last zu Boden und setzt sich darauf, ohne jemandem zu erklären, warum er sich so abgemüht hat, wo es doch überall Holz in Hülle und Fülle gibt. Doch als die einen dahin und die anderen dorthin gehen, um Trinkwasser zu holen, den Boden der Höhle zu reinigen, das Lamm zu waschen und für das Kochen vorzubereiten, und Petrus mit seinem Meister allein bleibt, legt Jesus die Hand auf das graumelierte Haar des Simon und streichelt dieses brave Haupt... Da ergreift Petrus die Hand, küßt sie, drückt sie an seine Wange, küßt sie noch einmal und liebkost sie... Ein Tropfen fällt auf die weiße Hand; kein Schweißtropfen des rauhen und ehrlichen Apostels, sondern eine stille Träne der Liebe und der Mühe, des Sieges nach dem schweren Kampf. Jesus neigt sich über ihn und küßt ihn, indem er sagt: «Danke, Simon!»

Petrus ist gewiß kein schöner Mensch; aber als er seinen Kopf zurückneigt, um seinen Jesus anzuschauen, der ihn geküßt und ihm gedankt hat, weil er, nur er ihn verstanden hat, da machen ihn Verehrung und Freude schön...

Und während dieser Verwandlung schwindet die Schauung dahin.

450. AUF DEM WEG NACH EMMAUS IN DER EBENE

Das Morgengrauen wirft ein grünliches Licht auf das Himmelsgewölbe, hoch über dem frischen, schweigenden Tal. Dann badet dieser unbeschreibliche Schein, der schon Licht und doch noch nicht hell ist, die Höhen der beiden Hänge. Es scheint, als berühre er leicht die höchsten Partien der Berge von Judäa und sage zu den bejahrten Bäumen: «Seht, da bin ich; ich steige vom Himmel herab, ich komme von Osten, ich gehe der Morgenröte voraus, ich verjage die Schatten, ich bringe Licht, Arbeitsamkeit und den Segen eines neuen Tages, den Gott euch gewährt.» Die Gipfel erwachen mit dem Seufzen des Laubwerks, mit dem Gezwitscher der Vögel, die vom leichten Zittern der Zweige und von diesem ersten Lichtschein geweckt werden. Dann steigt das Morgengrauen tiefer hinab auf das untere Buschwerk, auf die Wiesen, und immer tiefer hinunter, und

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immer mehr Gezwitscher antwortet grüßend dem Laub und dem Rascheln der aufgewachten Eidechsen im Grünen. Schließlich erreicht es den Gießbach im Talgrund und verwandelt seine dunklen Gewässer in ein mattsilbernes Schillern, das immer reiner und glänzender wird. Inzwischen sind am Himmel, dessen nächtliches Indigoblau sich eben in ein zartes grünliches Blau verwandelt hat, schon die ersten Anzeichen der rosaroten Morgenröte erschienen... und sieh, die erste fleckige Federwolke, die dahersegelt wie rosiger Schaum...

Jesus kommt aus der Höhle und schaut umher... Er wäscht sich im Bach, bringt sein Gewand in Ordnung und wirft einen Blick in die Höhle... Er ruft nicht... Vielmehr steigt er den Berg empor, um auf einem vorspringenden Felsen zu beten. Er ist schon so hoch oben, daß sich ihm eine weite Sicht über den Osten mit seiner strahlenden Morgenröte und über den Westen, in dem noch das Indigoblau überwiegt, öffnet. Er betet... Er betet mit glühendem Eifer, auf den Knien, die Ellenbogen auf die Erde gestützt, den Körper vornüber geneigt... Er betet so lange, bis unten die Stimmen der Zwölf, die erwacht sind und ihn rufen, zu hören sind.

Er erhebt sich und antwortet: «Ich komme!» Und das Echo im engen Tal wiederholt mehrere Male den Laut seiner wohlklingenden Stimme. Es scheint, als ob das Tal sein Wort an die Ebene weitergäbe, die im Westen sichtbar ist, das Versprechen des Herrn: «Ich komme», damit die Ebene schon im voraus darüber frohlocke.

Jesus macht sich auf den Weg mit einem Seufzer und einer Bitte, die sein langes Gebet zusammenfaßt: «Und du, Vater, gib mir Trost ...» Er steigt schnell hinab und grüßt seine Apostel mit einem liebevollen Lächeln und den üblichen Worten: «Der Friede sei mit euch an diesem neuen Morgen.»

«Und mit dir, Meister», antworten die Apostel. Alle. Auch Judas, der nun weniger finster und zurückhaltend erscheint. Ich weiß nicht, ob er sich sicher fühlt, weil Jesus geschwiegen hat, ihn nicht zurechtgewiesen hat und ihn behandelt wie alle anderen, oder ob er sich während der Nacht einen Plan zu seinem Vorteil ausgedacht hat. Gerade er ist es, der für alle fragt: «Gehen wir nach Jerusalern? Wenn ja, dann müssen wir zurückkehren und die Brücke dort benützen. Dort ist ein Weg, der direkt nach Jerusalern führt.»

«Nein, wir gehen nach Emmaus in der Ebene.»

«Warum? Und Pfingsten?»

«Es ist noch Zeit. Ich will zu Nikodemus und zu Joseph gehen, über die Ebene zum Meer...»

«Aber warum?»

«Weil ich dort noch nicht gewesen bin und das Volk mich erwartet, und weil die guten Jünger es gewünscht haben. Wir werden für alles Zeit finden.»

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«Hat Johanna dir das gesagt? Hat sie dich deswegen gerufen?»

«Das war nicht notwendig; sie haben es mir selbst in den Ostertagen gesagt, und ich halte mein Wort.»

«Ich würde nicht hingehen... Vielleicht sind sie schon in Jerusalern... Das Fest ist ja schon nahe, und dann... Du könntest Feinden begegnen, und ...»

«Feinden begegne ich überall, und ich habe sie immer in meiner Nähe ...» und Jesus schleudert einen Blick auf den Apostel, der ihn schmerzt... Judas spricht nicht mehr, es ist ihm zu gefährlich, sich weiter vorzuwagen. Er fühlt es und schweigt.

Johannes und Andreas kommen mit kleinen Früchten zurück. Sie scheinen zur Familie der Himbeeren oder Erdbeeren zu gehören, sind aber dunkler, fast wie noch unreife Brombeeren. Die beiden bieten sie dem Meister an. «Sie werden dir schmecken. Wir haben sie noch gestern abend entdeckt und sind hinaufgestiegen, um sie für dich zu pflücken. Iß sie Meister, sie sind gut.»

Jesus streichelt die beiden jungen guten Apostel, die ihm ihre Früchte auf einem großen, im Bach gewaschenen Blatt liebevoll anbieten. Er sucht die schönsten Früchte aus und verteilt sie an alle, die sie mit etwas Brot verzehren...

«Wir haben auch Milch für dich gesucht. Aber es ist noch weit und breit kein Hirte zu sehen ...» entschuldigt sich Andreas.

«Das macht nichts. Laßt uns gleich aufbrechen, damit wir noch vor der großen Hitze nach Emmaus gelangen.»

Sie machen sich auf den Weg, und die noch Hungrigen essen weiter, während sie durch das frische Tal wandern, das sich immer mehr erweitert, bis es schließlich zu einer fruchtbaren Ebene wird, in der schon eifrig Erntearbeit geleistet wird.

«Ich wußte nicht, daß Nikodemus Häuser in Emmaus besitzt», bemerkt Bartholomäus.

«Nicht in Emmaus selbst. Dahinter. Es sind Felder, die er von Verwandten geerbt hat ...» erklärt Jesus.

«Welch herrliche Ebene!» ruft Thaddäus aus.

Tatsächlich ist sie ein Meer von goldenen Ähren, unterbrochen von traumhaften Obstgärten und von Weinbergen, die schon herrliche Trauben versprechen. Diese Ebene, die gerade in den trockenen Monaten mit den Hunderten von Bächen aus den nahen Bergen und zudem sicherlich noch mit dem Wasser unterirdischer Quellen bewässert wird, ist ein wahres Eden der Landwirtschaft.

«Hm! Diese Ebene ist schöner als die vom vergangenen Jahr», brummt Petrus.

«Hier gibt es wenigstens Wasser und Obst...»

«Die Ebene von Saron ist noch schöner», entgegnet er Zelote.

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«Aber ist sie das nicht schon?»

«Nein, sie kommt nach dieser hier. Aber diese ähnelt ihr schon...» Die beiden Apostel beginnen miteinander zu sprechen und entfernen sich ein wenig von den andern.

«Das sind wohl Güter der Pharisäer?» fragt Jakobus des Zebedäus, indem er auf die herrlichen Gefilde weist.

«Von Judäern auf jeden Fall. Sie haben sich die besten Ländereien angeeignet, nachdem sie auf tausenderlei Weise die ursprünglichen Besitzer verjagt hatten», antwortet ihm Thaddäus, der sich vielleicht der väterlichen Güter in Judäa erinnert, von denen sie vertrieben worden sind, wodurch sie viel an Wohlhabenheit eingebüßt haben.

Iskariot fährt gleich auf: «Wenn man sie euch genommen hat, dann nur deshalb, weil ihr Galiläer weniger rechtschaffen und ihnen unterlegen seid...»

«Ich bitte dich zu bedenken, daß Alphäus und Joseph vom Stamme Davids waren und nach Bethlehem in Judäa gehen mußten, um sich dort eintragen zu lassen. Daher ist er dort geboren», antwortet Jakobus des Alphäus ruhig, um einer beißenden Antwort seines feurigen Bruders zuvorzukommen mit dem Hinweis auf den Herrn, der gerade mit Matthäus und Philippus spricht.

«Oh! Ich bin der Meinung, daß es überall Gute und Böse gibt. Bei unseren Geschäften haben wir Menschen aller Rassen kennengelernt, und ich versichere euch, daß wir in allen Rassen Ehrenhafte und Bösewichte angetroffen haben. Und dann... warum sich rühmen, Judäer zu sein? Haben wir es vielleicht selbst gewollt? Hm! Was habe ich davon gewußt, was ein Judäer und was ein Galiläer ist, als ich im Schoß meiner Mutter war? Ich war einfach dort... und nachdem ich geboren worden war, lag ich schön warm in Windeln gewickelt, ohne mich zu fragen, ob die Luft, die ich atmete, judäisch oder galiläisch war... Ich kannte nichts anderes als die mütterliche Brust... und so wie mir erging es uns allen. Warum sich also miteinander streiten, weil der eine weiter oben und der andere weiter unten geboren wurde? Sind wir denn nicht alle gleicherweise Israeliten?»sagt gutmütig und mit großer Wichtigkeit Thomas.

«Du hast recht, Thomas», antwortet Johannes und fügt hinzu: «Und außerdem sind wir jetzt alle von einem Stamm: vom Stamme Jesu.»

«Ja, der Allerhöchste hat uns zeigen wollen, daß Spaltungen gegen die Nächstenliebe sind und daß er entsandt worden ist, um alle um sich zu sammeln wie die liebevolle Henne, von der die Heiligen Bücher sprechen. Er ist vom Stamme Juda, jedoch in Galiläa empfangen und zu Hause, nachdem er in Bethlehem geboren wurde, und Gott will uns damit sagen, daß er der Erlöser von ganz Israel ist, vom Norden bis zum Süden. Schon allein weil er der "Galiläer" genannt wird, sollte man die Galiläer nicht verachten», sagt Jakobus des Alphäus sanft und bestimmt.

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Jesus, der in ein Gespräch mit Matthäus und Philippus vertieft zu sein scheint und einige Meter weiter vorne geht, wendet sich um und sagt: «Das hast du gut gesagt, Jakobus des Alphäus. Du verstehst die Wahrheit und die Gerechtigkeit Gottes in allen seinen Werken. Denn wißt, was Gott tut, entspringt nie dem Zufall, so wie er auch den nie unbelohnt läßt, der rechtschaffen ist. Selig, wer die Absichten Gottes auch in den kleinsten Ereignissen und die Antworten Gottes auf die Opfer der Menschen erkennt.»

Petrus dreht sich um und möchte offenbar etwas sagen. Aber er macht den Mund wieder zu und begnügt sich damit, dem Meister zuzulächeln, der sich nun wieder unter die Apostel mischt, da sie auf einer breiten Hauptstraße zwischen goldenen Feldern wandern.

Sie gehen auf Emmaus zu, das schon nahe ist: eine Ansammlung von blendend weißen Gebäuden zwischen blonden Kornfeldern und dem Grün prachtvoller Obstgärten.

«Meister, Meister! Bleib stehen! Deine Jünger!» rufen ferne Stimmen, und eine Gruppe von Männern trennt sich von den Bauern, die im Schatten eines Obstgartens liegen, und eilt auf einem sonnenbeschienenen Pfad Jesus entgegen. Es sind Matthias und Johannes, die früher Hirten und dann Jünger des Täufers waren; und bei ihnen sind Nikolaus, Abel, der frühere Aussätzige, Samuel, Ermastheus und noch andere.

«Der Friede sei mit euch. Ihr seid in dieser Gegend?»

«Ja, Meister. Wir sind an allen Gestaden des Meeres gewesen. Jetzt sind wir auf dem Weg nach Jerusalern. Weiter oben ist Stephanus mit anderen, und noch weiter oben Hermas und andere, und dann Isaak, der kleine Meister von uns allen. Wenigstens war er da, so wie Timoneus in Transjordanien war. Aber jetzt sind sie wohl alle aufgebrochen, um zum Pfingstfest in Jerusalern zu sein. Wir haben uns in viele Gruppen aufgeteilt, kleine, aber nicht untätige. Wenn man uns verfolgt, wird man nur einige gefangennehmen können, aber nicht alle», erklärt Matthias.

«Das habt ihr gut gemacht. Ich war erstaunt, niemanden von euch im südlichen Judäa anzutreffen ...»

«Dort bist du ja hingegangen... Wer ist besser als du? Und außerdem... haben sie schon übergenug empfangen, um heilig zu werden! ... Statt dessen aber... werfen sie Steine auf den, der ihnen das Wort Gottes bringt. Elias und Joseph wurden in den Engpässen des Kedron geschlagen und sind nach Transjordanien in das Haus des Salomon gegangen. Joseph wäre beinahe durch einen Stein getötet worden, der ihn am Kopf traf. Acht Tage lang haben sie in einer tiefen Höhle gelebt mit einem von dir Abgesandten, der alle Geheimnisse der Berge kennt. Dann sind sie in der Nacht langsam auf die andere Seite gegangen ...»

Die Jünger und Apostel erregen sich bei der Erinnerung an die erlebten Verfolgungen und dem Bericht über diese neuerlichen Nachstellungen.

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Aber Jesus beruhigt sie mit den Worten: «Die Unschuldigen haben mit dem Purpur ihres unschuldigen Blutes den Weg des Gesalbten gefärbt. Aber dieser Weg muß immer aufs neue mit Purpur gefärbt werden, um die Spuren des Bösen auf dem Weg Gottes zu entfernen. Es ist der königliche Weg. Und die Märtyrer meiner Liebe sind es, die ihn mit Purpur färben. Selig unter den Seligen, die für mich Verfolgung leiden!»

«Meister, wir haben zu diesen Landleuten gesprochen. Willst du nicht auch zu ihnen sprechen?»

«Geht und sagt ihnen, daß ich vor Sonnenuntergang am Tor von Einmaus sprechen werde. Jetzt brennt die Sonne zu stark. Geht, und Gott sei mit euch.»

Er segnet sie und geht dann weiter auf der Suche nach Schatten; denn die heißen Sonnenstrahlen werden von der weißen Straße reflektiert, die nur von einigen schlanken Platanen auf beiden Seiten beschattet ist.

451. DIE PREDIGT BEI EMMAUS IN DER EBENE

Nahe beim Stadttor von Emmaus steht ein Bauernhaus. Dort herrscht tiefe Stille, denn alle sind auf den Feldern bei der Arbeit. Auf der Tenne sind die Garben des Vortages aufgehäuft. Ich sehe auch Heu in einfachen Heuschobern. Die brennende Mittagssonne saugt warmen Duft aus Heu und Garben. Kein anderer Laut ist zu hören als das Gurren der Tauben und das Gezwitscher die Spatzen, die wie immer gefräßig und streitsüchtig sind. Die einen wie die anderen fliegen vom Dach und von benachbarten Bäumen zu den Garben und Heuhaufen. Sie, die ersten, die davon kosten, picken an den aufrecht stehenden Ähren, streiten unter Einsatz der Flügel, bemühen sich, die meisten Körner zu ergattern und die weichsten Heustengel zu erhaschen, gierig, kämpferisch, unbefangen und frech. Es sind die einzigen öffentlichen Räuber in Israel, wo, wie ich bemerkt habe, größte Achtung vor dem Eigentum des anderen herrscht. Die Haustüren sind gewöhnlich nicht verriegelt, und die Tennen und Weinberge bleiben unbewacht. Abgesehen von ganz seltenen berufsmäßigen Dieben und den wirklichen Räubern, die in den Schluchten der Berge Reisende überfallen, gibt es keine Diebe oder auch nur... Leckermäuler, die ihre Hand nach der Frucht oder dem Täubchen eines anderen ausstrecken. Jeder geht seines Weges, und wenn er durch das Gut eines anderen geht, ist es, als habe er weder Hände noch Augen. Gewiß die Gastfreundschaft ist so ausgeprägt, daß es nicht nötig ist zu stehlen, um den Hunger zu stillen. Nur auf Jesus ist der Haß so groß, daß man selbst dem Pilger gegenüber gegen die uralte Sitte der Gastfreundschaft verstößt. Nur ihm werden Nahrung und Gastfreundschaft verweigert. Den

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anderen aber erweist man gewöhnlich Barmherzigkeit, und das besonders bei den niederen Klassen.

So geschieht es, daß die Apostel, nachdem sie angeklopft und niemanden angetroffen haben, sich in den Schatten eines Schutzdaches begeben haben, wo Ackergeräte und leere Krüge herumstehen. Furchtlos bereiten sie sich Sitzgelegenheiten aus Heu, nehmen Eimer, um Wasser zu schöpfen, und Krüge, um zu trinken, während sie harte Brotstücke und kalte Lammreste verzehren. All dies spielt sich in vollkommenem Schweigen ab, so sehr sind sie von der Sonnenhitze erschöpft und schläfrig geworden. Mit der gleichen Freiheit, mit der sie sich des Heues und der Krüge bedient haben, strecken sie sich auf dem duftenden Heu aus, und bald darauf schnarchen sie im Chor, in allen Lautstärken und Tonarten.

Auch Jesus ist müde, eher traurig als müde. Er betrachtet eine Weile die zwölf Schläfer. Er betet. Er denkt nach... Er denkt nach und seine Augen verfolgen fast mechanisch die Streitereien der Spatzen und der Tauben und die Flüge der Schwalben über der sonnenbeschienenen Tenne. Es scheint, daß die Schreie dieser meisterhaften Flieger die unerfreulichen Fragen bejahen, die sich Jesus stellt. Dann legt auch er sich ins Heu und bald schließen sich seine saphirblauen Augen und sein Antlitz entspannt sich im Schlaf. Vielleicht weil er mit Traurigkeit im Herzen einschläft, hat sein Antlitz viel von dem müden, schmerzerfüllten Ausdruck, den es im Tod haben wird...

Die Eigentümer des Hauses kehren zurück, Männer, Frauen und Kinder. Mit ihnen kommen die vorher erwähnten Jünger. Sie sehen Jesus und die Seinen schlafend auf dem Heu liegen und dämpfen ihre Stimmen, um sie nicht aufzuwecken. Manche Mutter muß ihr Kind zurechtweisen, weil es nicht schweigen will. Ein Kleiner geht mit dem Trippeln eines Täubchens und einem Finger im Mund Jesus anschauen, den "Schönsten", wie er sagt, der im Schlaf sein Haupt auf den Arm gelegt hat. Alle tun es dem Kleinen nach und gehen barfuß und auf Zehenspitzen hin, als erste Matthias und Johannes, die ganz gerührt sind, als sie Jesus schlafend auf dem Heu erblicken, und Matthias bemerkt: «Wie beim ersten Schlaf, so auch jetzt... unser Meister, aber weniger glücklich als damals... Auch fehlt ihm die Mutter...»

«Ja, er hat nur Verfolger um sich. Aber wir werden ihn immer lieben, wir lieben ihn immer noch wie damals...» ergänzt Johannes.

«Noch mehr, Matthias. Noch mehr. Damals liebten wir nur, weil wir glaubten und weil es so süß ist, ein Kindlein zu lieben. Jetzt aber lieben wir ihn auch, weil wir ihn kennen...»

«Er ist von Kindheit an gehaßt worden, Johannes. Bedenke, was geschah, um ihn zu beseitigen! ...» Matthias erbleicht bei dieser Erinnerung.

«Du hast recht... Aber gesegnet sei jener Schmerz! Wir haben alles

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verloren außer ihm, und das ist das Wichtigste. Was hätte es uns genützt, Eltern, Haus und unseren kleinen Wohlstand zu behalten, wenn er gestorben wäre?»

«Das ist wahr. Du hast recht Matthias, und was würde es uns nützen, selbst die ganze Welt zu besitzen, wenn er einmal nicht mehr auf dieser Welt ist?»

«Sprich nicht davon! ... Dann werden wir wirklich arme, verlassene Menschen sein... Geht nun, wir bleiben beim Meister», sagt Johannes und verabschiedet die Bauern.

«Es tut uns leid, daß wir nicht daran gedacht haben, ihnen den Schlüssel zu geben. Sie hätten ins Haus gehen können und hätten es dort besser gehabt ...» sagt der Familienälteste.

«Wir werden es ihm sagen... er wird glücklich sein über euere Liebe. Geht, geht nur...»

Die Bauern begeben sich ins Haus, und bald steigt Rauch aus dem Kamin auf, der anzeigt, daß sie ein Mahl bereiten. Aber sie tun es mit Vorsicht, halten die Kleinen zurück und machen wenig Lärm. Ebenso geräuschlos bringen sie den Jüngern ihr Essen und flüstern: «Für die anderen haben wir noch etwas zurückbehalten...»

Dann hüllt wieder Schweigen das Haus ein. Vielleicht sind die Schnitter, die seit der Morgenfrühe gearbeitet haben, schlafen gegangen, um sich in diesen Stunden auszuruhen, in denen es unmöglich ist, auf den Feldern unter der glühenden Sonne zu arbeiten. Auch die Jünger schlummern ein... Selbst die Tauben und die Sperlinge sind still geworden... Nur die Schwalben schießen unermüdlich durch die Lüfte und schreiben mit ihrem blitzartigen Flug blaue Worte an den Himmel und Schattenworte auf die weiße Tenne.

Der Kleine von vorher, allerliebst in seinem kurzen Hemdchen, auf das man in dieser entsetzlich heißen Stunde seine Kleidung reduziert hat, steckt sein braunes Köpfchen durch den Ausgang der Küche, blinzelt und kommt ganz vorsichtig auf den zarten Füßchen, die ihn auf dem heißen Boden schmerzen müssen, heraus. Das offene Hemdchen gleitet fast von den runden Schultern. Er kommt zu den Jüngern und macht Anstalten, über sie wegzusteigen, um wieder Jesus anschauen zu gehen. Aber seine Beinchen sind zu kurz, um über die muskulösen Körper der Erwachsenen steigen zu können, und er stolpert und fällt auf Matthias, der aufwacht und das erschrockene Gesichtchen des Kleinen erblickt, der nahe daran ist, in Tränen auszubrechen. Der Jünger lächelt und sagt, als er die Absicht des Kleinen erkannt hat: «Komm her, ich werde dich zwischen mich und Jesus legen. Aber bewege dich nicht und sei still. Laß ihn sein Schläfchen halten, denn er ist müde.» Der glückliche Kleine setzt sich hin, ganz eingenommen von dem schönen Antlitz Jesu. Er schaut ihn an, erforscht ihn und möchte ihn so gern liebkosen und seine blonden Haare berühren.

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Aber Matthias wacht lächelnd und erlaubt es nicht. Da fragt ihn der Kleine leise: «Hält er immer so sein Schläfchen?»

«Immer», antwortet Matthias.

«Ist er müde? Warum?»«Weil er so viel geht und redet.»«Warum spricht und geht er denn?»

«Um die Kinder zu lehren, brav zu sein und den Herrn zu lieben, damit sie mit ihm in den Himmel kommen.»

«Dort hinauf? Wie ist das möglich? Es ist so weit...»«Die Seele, weißt du, was die Seele ist?» «Nein! ...»«Sie ist das Schönste, was wir in uns haben, und...»

«Schöner als die Augen? Die Mama sagt mir immer, daß ich zwei Sterne als Augen habe. Die Sterne sind schön, weißt du!?»

Der Jünger lächelt und antwortet: «Die Seele ist noch schöner als die Sternchen deiner Augen, denn die gute Seele ist schöner als die Sonne.»

«Oh! Und wo ist sie? Wo ist die Seele?»

«Hier in deinem Herzchen, und sie sieht und hört alles und stirbt nie, und wenn jemand niemals böse ist und einst als Gerechter stirbt, fliegt seine Seele mit dem Herrn nach oben.»

«Mit ihm?» Und der Kleine weist auf Jesus hin.

«Mit ihm.» «Und er, hat er auch eine Seele?»

«Er hat die Seele und die Gottheit. Denn dieser Mensch, den du da siehst, ist Gott.»

«Woher weißt du das? Wer hat dir das gesagt?» «Die Engel.»

Der Kleine, der sich ganz dicht neben Matthias gesetzt hat, kann bei dieser Nachricht nicht ruhig bleiben; er springt auf und sagt: «Du hast die Engel gesehen?» und dabei schaut er Matthias mit weit offenen Augen an. So erstaunt ist er, daß er einen Augenblick Jesus vergißt und deshalb nicht bemerkt, daß dieser die Augen öffnet, aufgeweckt von dem leisen Aufschrei des Kindleins, um sie dann wieder zu schließen und den Kopf auf die andere Seite zu drehen.

«Still! Siehst du? Du weckst ihn auf... Ich schicke dich fort.»

«Ich will brav sein. Aber wie sehen die Engel denn aus? Wann hast du sie gesehen?» Das Stimmchen flüstert wieder, und der geduldige Matthias erzählt dem Kleinen, der sich entzückt auf seine Brust gesetzt hat, von der heiligen Weihnacht und antwortet geduldig auf alle Warum: «Warum wurde er in einem Stall geboren? Hatte er kein Haus? War er so arm, daß er kein Haus gefunden hat? Und jetzt hat er auch kein Haus? Hat er keine Mama? Wo ist seine Mama? Warum läßt sie ihn allein, wenn sie doch weiß, daß sie ihn schon haben umbringen wollen? Liebt sie ihn

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nicht? ...» Eine Flut von Fragen, und als Matthias auf die letzte antwortet: «Die heilige Mama liebt ihren göttlichen Sohn sehr. Aber sie bringt das Opfer, ihn gehen zu lassen, damit er die Menschen rettet. Um sich zu trösten, sagt sie sich, daß es immer noch Menschen gibt, die ihn lieben...»Darauf erwidert der Kleine: «Und weiß sie nicht, daß es gute Kinder gibt, die ihn lieben? Wo wohnt sie? Sag es mir, und ich werde hingehen und ihr sagen: "Weine nicht. Ich werde deinem Sohn meine Liebe geben." Was meinst du, wird sie dann glücklich sein?»

«Sehr, mein Kind», sagt Matthias, indem er es küßt.

«Und wird auch er glücklich sein?»

«Sehr, sehr. Du mußt es ihm sagen, sobald er aufwacht.»

«Oh! Ja! ... Aber wann wird er aufwachen?» fragt sich das Kind erregt...

Jesus kann nicht mehr widerstehen. Er wendet sich um und sagt mit weit geöffneten Augen und einem strahlenden Lächeln: «Du hast es mir schon gesagt, denn ich habe alles gehört. Komm her, mein Kind.»

Das läßt sich das Knäblein nicht zweimal sagen. Es rollt zu Jesus hinüber, liebkost ihn, küßt ihn, berührt mit seinen Fingerlein die Stirn, die Augenbrauen und die goldenen Wimpern des Meisters, spiegelt sich in den blauen Augen, reibt sich am weichen Bart, an den seidenen Haaren und sagt bei jeder neuen Entdeckung: «Wie schön du bist! Schön! Schön!»

Jesus lächelt, und auch Matthias lächelt, und die Apostel und die Jünger, die nun nacheinander aufwachen, da der Kleine keine besondere Rücksicht mehr auf sie nimmt, lächeln über die genaue Prüfung, die dieses halbnackte, mollige Miniatur-Männlein vornimmt, das auf dem Körper Jesu herumspaziert, ihn vom Kopf bis zu den Füßen betrachtet und schließlich sagt: «Dreh dich um, damit ich deine Flügel sehen kann.» Enttäuscht fragt es sogleich: «Warum hat er keine?»

«Ich bin kein Engel, Kind.»

«Aber du bist Gott! Wie kannst du Gott sein, ohne voller Flügel zu sein? Wie kannst du so in den Himmel kommen?»

«Ich bin Gott, und da ich Gott bin, habe ich die Flügel nicht nötig. Ich tue, was ich will, und kann alles.»

«Dann mache meine Augen wie die deinen. Sie sind so schön.»

«Nein. Die deinen gefallen mir so, wie sie sind. Wünsche dir lieber, daß ich aus deiner Seele die eines Gerechten mache, damit du mich immer mehr lieben kannst.»

«Auch die hast du mir gegeben, und deshalb wird sie dir so gefallen, wie sie ist», sagt der Kleine mit seiner kindlichen Logik.

«Ja, jetzt gefällt sie mir sehr, weil sie unschuldig ist. Aber während deine Augen immer die Farbe reifer Oliven haben werden, kann aus deiner weißen Seele eine schwarze werden, wenn du böse wirst.»

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«Böse? Nein. Ich habe dich gern und will das tun, was die Engel sagten, als du geboren wurdest: "Friede sei Gott im Himmel und Ehre den Menschen, die guten Willens sind."» Die Verwechslung löst ein schallendes Gelächter unter den Erwachsenen aus. Der Kleine verstummt, da er sich gedemütigt fühlt. Aber Jesus tröstet ihn, wenn er ihn auch verbessert: «Gott ist immer in Frieden, Kind. Er ist der Friede. Aber die Engel zollten ihm Ehre wegen der erfolgten Geburt des Erlösers und gaben den Menschen die erste Regel, um den Frieden zu erlangen, der durch meine Geburt in die Welt gekommen ist: Sie sollten guten Willens sein... und das willst du ja sein.»

«Ja. Gib du mir ihn und lege ihn dort hinein, wo dieser Mann gesagt hat, daß ich die Seele habe», und mit beiden Zeigefingern klopft er sich nochmals an die kleine Brust.

«Ja, mein kleiner Freund. Wie heißt du denn?»

«Michael!»

«Der Name des mächtigen Erzengels. Möge also der gute Wille stets in dir sein, Michael, und mögest du ein Bekenner des wahren Gottes werden. Zu den Widersachern aber sage wie dein heiliger Schutzpatron: "Wer ist wie Gott?" Sei gesegnet, jetzt und immer», und er legt ihm die Hände auf.

Aber der Kleine ist noch nicht zufrieden: «Nein, küsse mich hier auf die Seele. So wird dein Segen in sie eindringen und in ihr verschlossen bleiben», und er entblößt die kleine Brust, damit nichts mehr zwischen ihr und den göttlichen Lippen Jesu ist.

Die Anwesenden lächeln und sind gleichzeitig gerührt, und dafür ist Grund genug vorhanden! Der wunderbare Glaube des unschuldigen Knaben, der instinktiv – wie einige wohl sagen würden; ich aber sage: vom Heiligen Geist angetrieben – zu Jesus gegangen ist, ist wirklich rührend. Jesus unterstreicht dies mit den Worten: «Ach, wenn doch alle ein Herz wie die Kinder hätten! ...»

Stunden sind indessen vergangen. Das Haus belebt sich wieder. Stimmen von Frauen, Kindern und Männern sind zu hören. Eine Frau ruft: «Michael! Michael, wo bist du?» Und sie geht zum Brunnen und schaut erschrocken und mit furchtbaren Gedanken im Herzen hinein.

«Keine Sorge, Frau, dein Sohn ist bei mir.»

«Oh, ich befürchtete... denn das Wasser gefällt ihm so sehr ...»

«Er ist zum lebendigen Wasser gekommen, das vom Himmel herabsteigt, um den Menschen das wahre Leben zu geben.»

«Hat er dich gestört? ... Er ist so leise verschwunden, daß ich es nicht gemerkt habe», entschuldigt sich die Frau.

«Oh, nein! Er hat mich nicht gestört. Er hat mich getröstet! Kinder bereiten Jesus nie Schmerz.»

Die Männer und Frauen kommen herbei. Das Haupt der Familie sagt:

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«Tritt ein und erquicke dich. Verzeihe uns, daß wir dich nicht gleich zum Herrn unseres Hauses gemacht haben, als wir dich sahen...»

«Ich habe nichts zu verzeihen. Ich bin hier gewesen, und es hat mir an nichts gefehlt. Deine Hochachtung macht mir alle Ehre. Wir hatten zu essen, und das Wasser deines Brunnens ist frisch. Dein Heu ist weich. Mehr braucht der Menschensohn nicht. Ich bin kein syrischer Satrap.» Jesus betritt die geräumige Küche, gefolgt von den Seinen, um etwas zu essen, während die Männer auf der Tenne Platz schaffen für die, die schon von allen Seiten herbeikommen, um den Meister zu hören. Andere sind damit beschäftigt, Getränke und Speisen vorzubereiten. Sogar ein Lamm enthäuten sie, um den Verkündern des Evangeliums eine Wegzehrung mitgeben zu können. Frauen bringen Eier und Butter, was den Protest des Petrus hervorruft, der richtig bemerkt, daß man solche Nahrungsmittel bei dieser Hitze nicht in den Reisesäcken mitnehmen kann. Aber die Krüge müssen zu etwas nütze sein... und einen füllen sie mit Butter, verschließen ihn und lassen ihn in den Brunnen hinunter, um ihn möglichst stark zu kühlen.

Jesus dankt und möchte ihre Gebefreudigkeit mäßigen. Aber es ist vergebliche Mühe. Andere Gaben kommen von allen Seiten, und jeder entschuldigt sich, daß er nur so wenig bringt...

Petrus flüstert: «Man sieht, daß die Hirten hier gewesen sind. Gut vorbereiteter Boden... guter Boden ...»

Die Tenne ist mit Menschen überfüllt. Sie haben sich nicht von der Sonne abschrecken lassen, die noch immer unbarmherzig herniederbrennt.

Jesus beginnt zu reden: «Der Friede sei mit euch! Ich sehe, daß die Lehre des Meisters von Israel schon durch das Wirken der guten Jünger zu euch gelangt ist. Ich will nicht wiederholen, was ihr schon wißt. Ich lasse den guten Jüngern die Ehre und die Aufgabe, euch zu unterrichten und immer weiter zu belehren, um euch die volle Sicherheit zu geben, daß ich der Verheißene Gottes bin und daß mein Wort von Gott kommt.»

«Auch deine Wunder kommen von Gott, du Gesegneter», ruft eine Frauenstimme in der Menge, und viele wenden sich um. Die Frau hebt ein blühendes, lachendes Knäblein empor und sagt: «Meister, das ist der kleine Johannes, den du beim Trügerischen Gewässer geheilt hast. Das Knäblein mit den gebrochenen Hüften, das kein Arzt heilen konnte und das ich dir voller Vertrauen gebracht hatte. Du hast es geheilt, als es auf deinem Schoß saß.»

«Ich erinnere mich, Frau. Dein Glaube verdiente das Wunder.»

«Und der Glaube ist gewachsen, Meister, meine ganze Verwandtschaft glaubt an dich. Geh, mein Sohn, und danke dem Heiland. Laßt ihn zu ihm gelangen...» bittet die Frau. Die Menge teilt sich und läßt den Knaben durch, der mit ausgestreckten Armen auf Jesus zueilt, um ihn zu umarmen. Dies geschieht unter Hosannarufen und Bemerkungen der Leute

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aus der Stadt; denn die vom Land kennen das Wunder schon und sind nicht mehr erstaunt darüber.

Jesus beginnt wieder zu reden und hält dabei den Knaben an der Hand.

«Seht, hier wird von einer dankbaren Mutter mein Wesen anerkannt und die Macht des Glaubens über das Herz Gottes bestätigt, das niemals die Glaubenden enttäuscht und die gerechten Bitten seiner Kinder unerhört läßt.

Ich lade euch ein, des Judas Makkabäus zu gedenken, der in dieser Ebene erschien, um das gewaltige Herr des Gorgias auszukundschaften, das aus 5000 Mann Fußvolk und 1000 ausgewählten Reitern bestand, zum Kampfe gerüstet mit Harnischen, Waffen und Kriegsmaschinen. Judas betrachtete sie mit seinen 3000 Mann Fußvolk, die weder Harnische noch Schwerter besaßen, und merkte, daß die Herzen seiner Krieger von Furcht ergriffen wurden. Im festen Vertrauen auf die Gerechtigkeit seiner Sache, die Gott billigte, da es sich nicht um Mißbrauch der Gewalt handelte, sondern um die Verteidigung des überfallenen und entweihten Vaterlandes, sprach er: "Fürchtet euch nicht vor der Überzahl und erschreckt nicht vor ihrem Ansturm. Denkt daran, wie unsere Väter im Roten Meer gerettet wurden, als sie Pharao mit seiner Kriegsmacht verfolgte." Nachdem er ihren Glauben an die Macht Gottes, die dem Gerechten immer beisteht, gestärkt hatte, belehrte er sie über die Mittel, Gottes Beistand zu erlangen, und sagte: "Erheben wir also unsere Stimmen zum Himmel, und der Herr wird Erbarmen mit uns haben, des Bundes mit unseren Vätern eingedenk sein und noch heute diese Heeresmacht vor uns vernichten. Dann werden alle Heidenvölker erkennen, daß es einen gibt, der Israel erlöst und errettet."

Seht, ich weise euch auf die beiden Hauptbedingungen hin, um bei gerechten Unternehmungen den Beistand Gottes zu erlangen. Die erste ist diese: um ihn als Verbündeten zu gewinnen, muß man das aufrichtige Gemüt unserer Väter besitzen. Denkt an die Heiligkeit unserer Väter, an ihre Bereitwilligkeit, dem Herrn zu gehorchen, ob es sich um ein großes oder ein kleines Unternehmen handelte. Erinnert euch daran, mit welcher Hingabe sie dem Herrn treu blieben. Viele in Israel beklagen sich darüber, daß uns der Herr nicht mehr beisteht wie einst. Aber hat Israel heute noch die Gesinnung seiner Väter? Wer brach und bricht beständig das Bündnis mit dem Vater?

Die zweite wichtige Bedingung, um Gott an seiner Seite zu haben, ist die Demut. Judas der Makkabäer war ein großer Israelit. Aber er sagte nicht: "Ich werde heute dieses Heer zerstören, und die Völker werden erkennen, daß ich der Retter Israels bin"; nein, er sagte: "Der Herr wird diese Heeresmacht vor euch vernichten, da wir selbst dazu nicht fähig sind." Denn Gott ist ein Vater, der für seine Kinder sorgt, und um sie nicht zugrunde gehen zu lassen, schickt er seine mächtigen Scharen, die mit

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übermenschlichen Waffen die Feinde seiner Kinder bekämpfen. Wenn Gott mit uns ist, wer kann uns dann besiegen? Das sagt euch immer wieder, heute und mehr noch in der Zukunft, wenn man euch zu besiegen droht; und nicht nur in geringen Angelegenheiten, wie ein irdisches Gefecht, sondern in weit wichtigeren Dingen, wenn nämlich eure Seele auf dem Spiel steht. Dann laßt euch nicht von Mutlosigkeit oder Übermut überwältigen. Beides ist schädlich. Gott wird mit euch sein, wenn ihr um meines Namens willen verfolgt werdet und euch während der Verfolgung Kraft geben. Gott wird mit euch sein, wenn ihr demütig seid; wenn ihr anerkennt, daß ihr allein zu nichts fähig seid, wohl aber alles vermögt, wenn ihr mit dem Vater vereint seid.

Judas prahlt nicht, indem er sich mit dem Titel "Retter von Israel" schmückt; er gibt diesen Titel vielmehr dem ewigen Gott. Tatsächlich quälen sich die Menschen vergeblich ab, wenn Gott sie nicht in ihren Bemühungen unterstützt, während jener ohne Mühe siegt, der auf den Herrn vertraut. Gott weiß, wann es recht ist, jemanden mit Siegen zu belohnen, und wann es recht ist, ihn durch Niederlagen zu bestrafen. Töricht ist der Mensch, der Gott richtet, ihm Vorschläge machen oder ihn kritisieren will. Stellt euch eine Ameise vor, die einen Marmorschleifer beobachtet und zu ihm sagt: "Du weißt nicht, wie man das macht; ich würde es besser und schneller machen als du."? Ebenso erscheint der Mensch, der Gott belehren will. Er macht sich nicht nur lächerlich, sondern erweist sich überdies als undankbar und eigensinnig. Er vergißt den Unterschied zwischen dem Geschöpf und Gott, dem Schöpfer. Wenn Gott ein Wesen geschaffen hat, das so vollkommen ist, daß es sich fähig glaubt, demselben Gott Ratschläge erteilen zu können, wie vollkommen muß dann erst der Urheber aller Dinge sein? Dieser Gedanke allein müßte genügen, den Hochmut niederzuhalten, ihn zu zerstören; dieses bösartige und satanische Gewächs, diesen Parasiten, der, wenn er sich einmal in einem Menschenverstand eingenistet hat, diesen beherrscht, überwuchert, erstickt und alles Gute vernichtet, alle Tugendhaftigkeit, die den Menschen groß macht, wirklich groß macht auf Erden, nicht durch Reichtum und Kronen, sondern durch Gerechtigkeit und übernatürliche Weisheit, und ihn selig macht im Himmel in alle Ewigkeit.

Betrachten wir auch einen anderen Rat, den uns Judas Makkabäus und die Ereignisse jenes Tages in dieser Ebene geben.

Als es zur Schlacht kam, siegten die Scharen des Judas, mit denen Gott war, und zersprengten die Feinde. Diese flohen, teils bis nach Geser, Azot, Idumäa und Jabnia, sagt die Geschichte, teils kamen sie durch das Schwert um, denn 3000 Tote blieben auf dem Schlachtfeld zurück. Doch Judas sagte zu seinen siegestrunkenen Soldaten: "Begehrt nicht nach Beute, denn uns steht noch ein Kampf bevor. Gorgias ist mit seinem Heer im nahen Gebirge. Wir müssen weiter gegen die Feinde kämpfen und sie

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vollständig besiegen. Danach könnt ihr in aller Ruhe Beute machen." So taten sie und errangen einen sicheren Sieg, herrliche Beute und Freiheit; und bei der Rückkehr sangen sie den Lobpreis Gottes: "Er ist gut, denn ewig währt seine Barmherzigkeit!"

Auch dem Menschen, jedem Menschen, ergeht es wie den Gebieten um die heilige Stadt der Juden. Er ist von äußeren und inneren Feinden umgeben, die alle grausam und darauf bedacht sind, der heiligen Stadt des einzelnen Menschen, seiner Seele, eine Schlacht zu liefern, und zwar ganz unversehens, um sie durch unerwartete Überfälle und tausend Listen einzunehmen und zu zerstören. Die Leidenschaften, die Satan fördert, und die der Mensch nicht mit seinem Willen überwacht, können gefährlich werden, wenn es ihm nicht gelingt, sie einzudämmen. Unschädlich aber sind sie, wenn er sie wie einen gefesselten Dieb überwacht. Wenn sich die Welt von außen her mit ihnen verschwört durch Verführung des Fleisches, durch Anstachelung zu Habsucht und Hochmut, dann sind sie den mächtigen Heeren des Gorgias ähnlich, die gepanzert und mit Kriegsmaschinen ausgerüstet waren, stets bereit, auf Befehl des Bösen anzugreifen.

Was aber vermag der Böse, wenn Gott mit dem Menschen ist, der gerecht sein will? Der Mensch wird leiden, wird verwundet werden, aber er wird das Leben und die Freiheit gewinnen und nach einem guten Kampf den Sieg erringen. Dieser Kampf findet aber nicht nur einmal statt; er wiederholt sich ständig, solange das Leben währt oder bis der Mensch sich so weit seines Menschseins entäußert hat und mehr Geist als Fleisch geworden ist, so sehr mit Gott verbunden ist, daß die Pfeile, die Wunden und das Feuer des Kampfes ihm keinen Schaden mehr zufügen können, ihn nur oberflächlich berühren wie ein Tropfen, der auf einen harten, leuchtenden Jaspis fällt.

Haltet euch nicht beim Beutemachen auf und laßt euch nicht ablenken, solange ihr nicht an der Schwelle eures Lebens steht. Ich meine nicht dieses irdische Leben, sondern das wahre Leben des Himmels. Dann könnt ihr siegreich eure Beute sammeln; dann könnt ihr glorreich vor den König der Könige treten und sagen: "Ich habe gesiegt. Sieh meine Beute. Ich habe sie mit deiner Hilfe und mit meinem guten Willen errungen. Ich preise dich, Herr, denn du bist gut und deine Barmherzigkeit währt ewig."

Das gilt für das Leben im allgemeinen, für alle. Aber euch, die ihr an mich glaubt, steht noch eine andere Schlacht bevor. Mehrere Schlachten. Die gegen den Zweifel, die gegen die Worte, die man zu euch sagen wird, die gegen die Verfolgungen.

Ich werde bald an einem Ort erhöht werden, denn dazu bin ich vom Himmel herabgestiegen. Dieser Ort wird Furcht in euch erwecken; es wird euch scheinen, daß er meine Worte widerlegt. Nein. Betrachtet das Ereignis mit dem geistigen Auge. Ihr werdet sehen, daß das, was kommen wird, die Bestätigung dessen ist, was ich in Wirklichkeit bin: nicht der arme

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König eines armen Reiches, sondern der von den Propheten vorausgesagte König, zu dessen einzigem, unvergänglichen Thron die Völker der Erde strömen werden wie die Flüsse in den Ozean, um zu sagen: "Wir beten dich an, o König der Könige und ewiger Richter, denn durch dein heiliges Opfer hast du die Welt erlöst."

Widersteht dem Zweifel. Ich lüge nicht. Ich bin der, von dem die Propheten sprechen. Wie es die Mutter des Johannes vor kurzem getan hat, so preist auch ihr die Erinnerung an das, was ich an euch getan habe, und sagt: "Diese Werke kann nur Gott vollbringen. Er hat sie uns zum Gedenken gelassen, zur Bestätigung, zur Hilfe, damit wir glauben, damit wir gerade in dieser Stunde glauben."

Kämpft, und ihr werdet siegen über den Zweifel, der die Seele erstickt. Kämpft gegen die Worte, die man euch sagen wird. Gedenkt der Propheten und meiner Werke und antwortet auf die Worte der Feinde mit den Propheten und mit den Wundern, die ihr mich habt wirken sehen. Habt keine Furcht und seid nicht undankbar aus Furcht, indem ihr verschweigt, was ich euch Gutes getan habe. Kämpft gegen die Verfolgungen; aber nicht, indem ihr die Verfolger verfolgt. Antwortet vielmehr denen, die euch durch Todesdrohungen dazu bewegen wollen, mich zu verleugnen, mit eurem heldenmütigen Bekenntnis. Kämpft immer gegen die Feinde. Gegen alle. Gegen eure Menschlichkeit und eure Ängste, gegen unwürdige Kompromisse und eigennützige Bündnisse, gegen Druck und Drohungen, gegen Martern und Tod.

Der Tod!

Ich bin nicht der Führer, der zu seinem Volk sagt: "Leide für mich, während ich genieße!" Nein. Ich leide als erster, um euch das Beispiel zu geben. Ich bin kein Heerführer, der zu seinem Heer sagt: "Kämpft, um mich zu verteidigen. Sterbt, um mir das Leben zu retten." Nein. Ich kämpfe als erster. Ich werde als erster sterben, um euch sterben zu lehren, so wie ich immer das getan habe, was ich lehre... So habe ich die Armut gepredigt und bin selbst arm geblieben. Ich habe Keuschheit, Verzeihung, Mäßigkeit und Gerechtigkeit gepredigt und bin keusch geblieben, habe verziehen, war mäßig und gerecht; und so wie ich all dies getan habe, so werde ich auch das letzte tun: ich werde euch lehren, wie man erlöst. Ich werde es euch nicht mit Worten lehren, sondern durch die Tat. Ich werde euch lehren zu gehorchen, indem ich bis zum Tod gehorsam sein werde.

Ich werde euch lehren, zu verzeihen, indem ich unter den äußersten Qualen verzeihen werde, wie ich auf dem Stroh meiner Wiege der Menschheit verziehen habe, daß sie mich dem Himmel entrissen hat. Ich werde verzeihen, wie ich immer verziehen habe. Allen. Den kleinen Feinden, den Schwachen, den Gleichgültigen und den Unbeständigen; auch den großen Feinden, die mir nicht nur den Schmerz zufügen, daß sie meiner Macht und dem Verlangen, sie zu retten, gleichgültig gegenüberstehen,

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sondern mir auch die Qual bereiten und bereiten werden, Gottesmörder zu sein. Ich werde es ihnen verzeihen, und da ich den unbußfertigen Gottesmördern nicht die Lossprechung geben kann, werde ich meinen Vater in meiner äußersten Todesqual für sie bitten... auf daß er ihnen verzeihen möge, da sie durch den satanischen Einfluß trunken sind... Ich werde verzeihen... und ihr sollt in meinem Namen verzeihen. Lieben sollt ihr! Liebt, wie ich liebe; wie ich euch liebe und in Ewigkeit lieben werde.

Lebt wohl. Der Abend senkt sich nieder. Beten wir zusammen, und dann kehre jeder mit dem Wort des Herrn im Herzen in sein Haus zurück und mache daraus eine volle Ähre für den künftigen Hunger, wenn ihr danach verlangen werdet, noch einmal euren Freund und Meister, euren Heiland zu hören. Denn nur dadurch, daß ihr euren Geist zum Himmel erhebt, werdet ihr den finden, der euch mehr als sich selbst geliebt hat.

Vater unser, der du bist in den Himmeln ...» Und Jesus betet mit ausgebreiteten Armen, ein hohes, weißes Kreuz vor der dunklen Mauer der Nordwandfassade, das Vaterunser.

Dann segnet er alle mit dem mosaischen Segen. Er küßt die Kinder und segnet sie abermals. Dann verabschiedet er sich und geht in nördlicher Richtung an der Stadtmauer von Emmaus vorbei, ohne die Stadt zu betreten.

Die violetten Farben der Abenddämmerung nehmen langsam die süße Erscheinung des Meisters in sich auf, der immer mehr seiner Bestimmung entgegengeht... Im halbdunklen Hof herrscht ein Schweigen leidvollen Friedens... fast, als erwarte man etwas.

Dann bricht das Weinen des kleinen Michael, das Weinen eines Lämmleins, das sich verlassen fühlt, den Bann. In vielen Augen glänzen Tränen, und viele Lippen wiederholen die unschuldigen Worte des Kleinen: «Oh, warum bist du fortgegangen? Komm zurück! Komm zurück! ... Laß ihn zurückkehren, Herr!» Als Jesus ganz ihren Augen entschwunden ist, kommt die trostlose Erkenntnis: «Jesus ist nicht mehr da!» Vergeblich ist der Versuch der Mutter des kleinen Michael, ihn zu trösten. Er weint, als hätte er mehr verloren als seine Mutter, und schaut auf die Stelle, an der Jesus entschwunden ist, indem er seine Hände ausstreckt und ruft: «Jesus! Jesus!»... Jesus wartet, bis sie in einer gewissen Entfernung von der Stadt sind, und sagt dann: «Wir werden jetzt nach Joppe gehen. Die Jünger haben dort viel gewirkt, und die Stadt wartet auf das Wort des Herrn.»

Die Aussicht, den Weg noch zu verlängern, begeistert die Apostel nicht; aber Simon der Zelote macht sie darauf aufmerksam, daß man von Joppe schnell zu den Gütern des Nikodemus und des Joseph gelangen kann, und zwar auf guten Straßen. Johannes freut sich andererseits, daß es zum Meer geht. Die anderen, von diesen Erwägungen angetrieben, begeben sich schließlich mit mehr Bereitwilligkeit auf die Straße, die zum Meer führt.

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Jesus sagt: «Hier sollt ihr die Vision vom 20.9.1944: "Jesus und die Heiden in einer Stadt am Meer" einsetzen, der ihr den Titel: "Jesus spricht in Joppe zu Judas Iskariot und zu den Heiden" geben werdet; denn diese Episode hat sich dort nach einem Tag der Wunder und der Predigt ereignet.»

452. JESUS SPRICHT IN JOPPE ZU JUDAS ISKARIOT UND ZU DEN HEIDEN

Ich sehe Jesus im Innenhof eines Hauses, das vornehm ist, ohne jedoch prunkvoll eingerichtet zu sein. Er scheint sehr müde zu sein und sitzt auf einer kleinen Steinbank bei einem Brunnen mit niedrigem Rand, über dem eine grüne Laube einen Bogen bildet. Die Weintrauben sind noch winzig. Erst vor kurzem müssen die Blüten abgefallen sein, und die Weinbeerchen gleichen kleinen Erbsen, die an grünen Stielen hängen. Jesus stützt den rechten Ellbogen auf das rechte Knie und hält das Kinn in der hohlen Hand. Manchmal, wie um sich besser ausruhen zu können, legt er den Arm auf den Rand des Brunnens und sein Haupt auf den Arm, als wolle er schlafen. Die Haare fallen ihm wie ein Schleier über das müde Antlitz, das im übrigen bleich und ernst aussieht unter den rotblonden lockigen Haarsträhnen.

Eine Frau kommt mit mehlbestäubten Händen aus einem Raum des Hauses und geht zu einem kleinen Gebäude auf der entgegengesetzten Seite des Hofes, wo wahrscheinlich der Backofen steht. Jedesmal schaut sie auf Jesus. Aber sie stört ihn nicht in seiner Ruhe. Es muß schon gegen Abend sein, denn immer weniger Sonnenstrahlen treffen die Terrasse, die schließlich ganz im Schatten liegt. Ein Dutzend Tauben fliegen gurrend in den Hof zu ihrer letzten Mahlzeit. Sie kreisen um Jesus, als wollten sie auskundschaften, wer wohl dieser Fremdling sei; und mißtrauisch, wie sie sind, wagen sie es noch nicht, sich auf den Boden niederzulassen. Jesus löst sich aus seinen Gedanken und lächelt. Er streckt eine Hand aus, mit nach oben gerichteter Handfläche, und sagt, als ob er zu Menschen sprechen würde: «Seid ihr hungrig? Kommt.» Die kühnste setzt sich auf diese Hand, und nach ihr auch andere. Jesus lächelt. «Ich habe nichts», antwortet er auf ihr bittendes Gurren. Dann ruft er mit lauter Stimme: «Frau! Deine Tauben haben Hunger. Hast du Körner für sie?»

«Ja, Meister. Sie sind im Beutel in der Vorhalle. Ich komme gleich.»

«Laß nur. Ich werde sie ihnen geben. Ich tue es gern.»

«Sie werden nicht zu dir kommen. Sie kennen dich nicht.»

«Oh! Ich habe sie schon auf den Schultern und sogar auf dem Kopf! ...» Jesus geht hinein mit seinem eigenartigen Kopfschmuck, der aus einem Täuberich besteht, dessen bleifarbene Brust wie ein kostbarer Panzer schillert.

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Die Frau schaut ungläubig heraus und sagt: «Oh!»

«Siehst du? Die Tauben sind besser als die Menschen, Frau. Sie spüren, wer sie liebt. Die Menschen nicht...»

«Denke nicht an das Vorgefallene, Meister. Hier gibt es nur wenige, die dich hassen. Die andern lieben dich alle oder achten dich wenigstens.»

«Oh, darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich habe das gesagt, um dich darauf aufmerksam zu machen, daß die Tiere oft besser sind als die Menschen.»

Jesus hat den Beutel geöffnet, seine schmale Hand hineingesteckt und blondes Korn hervorgeholt, das er in den Zipfel seines Mantels legt. Er faltet ihn zusammen und kehrt mitten in den Hof zurück, wo er sich gegen den Überfall der Tauben verteidigt, die sich selbst bedienen wollen. Dann öffnet er sein Bündelchen, streut die Körner auf den Boden und lacht über den Wirbel und die Streitereien des gefräßigen Geflügels. Das Mahl ist schnell beendet. Die Tauben trinken noch aus einem tiefen Teller, der in der Nähe des Brunnens steht, und schauen dann wieder auf Jesus.

«Nun geht, es gibt nichts mehr.»

Die Tierlein flattern noch eine Weile auf den Schultern und den Knien Jesu herum und kehren dann zu ihren Nestern zurück. Jesus setzt seine Betrachtung fort.

Ein heftiges Klopfen an der Tür. Die Frau eilt hin, um zu öffnen. Es sind die Jünger.

«Kommt», sagt Jesus. «Habt ihr das Geld an die Armen verteilt?»

«Ja, Meister.»

«Bis zum letzten Pfennig? Denkt daran, daß das, was uns gegeben wird, nicht für uns ist, sondern für Werke der Nächstenliebe. Wir sind arm und leben von der Barmherzigkeit anderer. Elend ist der Apostel, der seine Mission für menschliche Zwecke mißbraucht!»

«Aber wenn wir eines Tages ohne Brot sein sollten und angeklagt werden, gegen das Gesetz zu verstoßen, weil wir die Sperlinge nachahmen und an den Ähren zupfen?»

«Hat dir jemals etwas gefehlt, Judas, etwas Wesentliches, seit du bei mir bist? Bist du jemals verschmachtend auf der Straße niedergesunken?»

«Nein, Meister.»

«Als ich dir gesagt habe: "Komm", habe ich dir damals Bequemlichkeiten und Reichtümer versprochen? Und habe ich meinen Zuhörern jemals gesagt, daß ich den Meinen irdische Güter geben werde?»

«Nein, Meister.»

«Nun also, Judas, warum bist du so verändert? Weißt du nicht, fühlst du nicht, daß deine Unzufriedenheit und deine Kälte mir Schmerz bereiten? Siehst du nicht, daß sich deine Unzufriedenheit deinen Brüdern mitteilt? Warum, Judas, Freund, der du zu einem so hohen Los berufen und

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mit so viel Begeisterung zu meiner Liebe und zu meinem Licht gekommen bist, verläßt du mich jetzt?»

«Meister, ich verlasse dich nicht. Ich bin der, der sich am meisten um dich kümmert, um deine Interessen und deinen Sieg. Ich möchte dich überall triumphieren sehen. Glaube es mir.»

«Ich weiß; aber nur als Mensch willst du es. Das ist schon viel; aber das will ich gar nicht, Judas, mein Freund... Ich bin für etwas ganz anderes gekommen als für menschliche Triumphe und menschliche Reiche... Ich bin nicht gekommen, um meinen Freunden Krumen eines menschlichen Triumphes zu geben, sondern um sie an einem reichen Lohn teilhaben zu lassen, der eigentlich schon kein Lohn mehr ist, so vollkommen ist er: es ist die Teilhabe an meinem ewigen Reich, an den Rechten der Kinder Gottes... Oh, Judas! Warum begeistert dich dieses erhabene Vermächtnis nicht, das man nur durch Verzicht erwerben kann, das aber kein Ende kennt? Komm noch näher zu mir, Judas.

Siehst du? Wir sind allein. Die andern haben verstanden, daß ich mit dir sprechen will, der du der Verteiler meiner... Reichtümer bist, der Almosen, die der Menschensohn und Sohn Gottes empfängt, um sie im Namen Gottes und des Menschen dem Menschen zu geben. Wir sind allein, Judas, in dieser milden Abendstunde, in der unser Herz zu unseren fernen heimatlichen Häusern, zu unseren Müttern eilt, die sicher, während sie ihr einsames Abendbrot bereiten, an uns denken und mit ihrer Hand den Platz liebkosen, an dem wir saßen, bevor die Stunde Gottes kam, in der der heiligste Wille uns berief, damit wir ihn im Geist und in der Wahrheit lieben.

Unsere Mütter! Meine so reine und heilige Mutter, die euch allen so wohlgesinnt ist und für euch betet, ihr Freunde ihres Jesus... Meine Mutter, die nur diesen einen Frieden kennt in ihrer Sorge als Mutter des Gesalbten: daß sie mich von eurer Zuneigung umgeben weiß... Enttäuscht und verwundet dieses Mutterherz nicht, Freunde. Zerreißt es nicht durch eine böse Tat! Deine Mutter, Judas! Deine Mutter, die das letzte Mal, als wir durch Kerioth kamen, nicht aufhörte, mich zu preisen, und mir die Füße küssen wollte, weil sie so glücklich ist, daß ihr Judas im Licht Gottes steht, sagte zu mir: "0 Meister! Mach ihn heilig, meinen Judas! Was will das Herz einer Mutter mehr als das Wohl ihres Kindes? Und welches Wohl ist besser als das ewige Heil?" In der Tat! Welches Gut ist größer, Judas, als das, zu dem ich dich führen will und zu dem man gelangt, indem man mir auf meinem Weg nachfolgt? Eine heilige Frau ist deine Mutter, Judas! Eine wahre Tochter Israels. Ich habe nicht zugelassen, daß sie mir die Füße küßt, weil ihr meine Freunde seid und ich in jeder eurer Mütter, in jeder guten Mutter, meine Mutter sehe, Judas. Ich möchte, daß ihr in der eurigen die meine seht mit ihrer furchtbaren Bestimmung, Miterlöserin zu sein, und daß ihr sie nicht tötet, nein, nicht tötet, weil... weil es euch scheinen würde, die eurige zu töten.

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Judas, weine nicht. Warum weinst du? Wenn du dir in Bezug auf meine und deine Mutter keine Vorwürfe zu machen brauchst, weshalb dann diese Tränen? Komm her. Lege dein Haupt auf meine Schulter und klage deinem Freund deinen Kummer. Hast du gefehlt? Bist du daran, zu fehlen? Oh! Bleibe nicht allein! Besiege Satan mit Hilfe dessen, der dich liebt. Ich bin Jesus, Judas. Ich bin Jesus, der die Kranken heilt und die Dämonen verjagt. Ich bin Jesus, der rettet ... ... der es so gut mit dir meint und den es schmerzt, dich so schwach zu sehen. Ich bin Jesus, der euch lehrt, siebzigmal siebenmal zu verzeihen. Aber ich selbst verzeihe euch nicht nur siebzigmal, sondern siebenhundertmal, siebentausendmal siebenmal... und es gibt keine Schuld, Judas, keine Sünde, die ich nicht verzeihe, wenn der Schuldige reumütig zu mir sagt: "Jesus, ich habe gesündigt." Ja, es genügt schon, daß er sagt: "Jesus." Ja, daß er mich nur flehentlich anschaut. Weißt du, wem ich zuerst verzeihe, mein Freund? Den am schwersten mit Schuld Beladenen und den Reumütigsten. Weißt du, welche Sünden ich zuerst verzeihe? Die, die mich persönlich treffen.

Judas? ... Findest du kein Wort der Erwiderung für deinen Meister? ... Ist dein Kummer so groß, daß dir die Worte fehlen? Fürchtest du, daß ich dich öffentlich anklage? Befürchte es nicht! Es drängt mich schon lange, so zu dir zu sprechen, indem ich dich an mein Herz drücke, als ob wir zwei Brüder wären, die in derselben Wiege lagen, die aus derselben Geburt stammen, die fast wie ein einziges Fleisch sind, die an derselben warmen Brust getrunken und den brüderlichen Speichel in der Muttermilch geschmeckt haben. Jetzt habe ich dich bei mir und lasse dich nicht, bis du mir gesagt hast, daß ich dich geheilt habe. Fürchte dich nicht, Judas. Es ist ein Bekenntnis, das ich haben will, doch deine Gefährten werden glauben, daß es ein liebevolles Gespräch war, so sehr werden unsere Gesichter nach diesem Gespräch von gegenseitigem Frieden und gegenseitiger Liebe erstrahlen, und ich werde dafür sorgen, daß sie es immer mehr glauben, indem ich dich heute abend beim Mahl an meiner Brust halten, mein eigenes Brot für dich eintauchen und es dir bevorzugt reichen werde. Ich werde dir als erstem den Becher reichen, nachdem ich dem Herrn Dank gesagt habe. Du wirst der König des Abendmahles sein, Judas. Du wirst es wirklich sein. Die Braut des Bräutigams wirst du sein, o Seele, die ich liebe, wenn du dich läuterst, indem du deinen Staub in meinen reinigenden Schoß schüttelst.

Sprichst du immer noch nicht, um mir deine Tränen zu erklären?»

«Du hast so lieb zu mir gesprochen... von der Mutter... von der Heimat... von deiner Liebe... Ein Augenblick der Schwäche... Ich bin so müde! ... Und es war mir, als ob du mich schon seit längerer Zeit nicht mehr so lieben würdest...»

«Nein, das ist es nicht. In deinen Worten ist nur eine Wahrheit, und zwar die, daß du müde bist. Aber nicht vom Gehen, vom Staub, von der

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Sonne, vom Schmutz, oder wegen den Menschenmenge. Du bist deiner selbst müde. Deine Seele ist deines Fleisches und deines Geistes müde, und zwar so müde, daß sie schließlich in eine tödliche Müdigkeit versinken wird. Arme Seele, die ich zum ewigen Glanz berufen hatte! Arme Seele, die weiß, daß ich dich liebe, und die dir Vorwürfe macht, weil du sie meiner Liebe entreißt! Arme Seele, die dir umsonst vorwirft – wie ich dich umsonst mit meiner Liebe liebkose – daß du deinem Meister gegenüber heimtückisch bist! Aber nicht du bist es, der da handelt. Er ist es, der dich haßt und mich haßt. Daher habe ich dir gesagt: "Bleibe nicht allein." Nun gut, höre zu. Du weißt, daß ich meine Nächte größtenteils im Gebet zubringe. Wenn du in dir einmal die Kraft verspürst, ein Mann zu sein, und den Willen, mein zu sein, dann komm zu mir, während die Gefährten schlafen. Die Sterne, die Blumen und die Vögel sind kluge und gute Zeugen. Geheime und barmherzige Zeugen. Sie verabscheuen das Verbrechen, das sich unter ihrem Schein und Blick ereignet, aber sie haben keine Stimme, um zum Menschen zu sagen: "Dieser da ist ein Kain für seinen Bruder." Hast du verstanden, Judas?»

«Ja, Meister. Aber glaube mir: Ich war nur müde und gerührt. Ich liebe dich aus ganzem Herzen und ...»

«Gut. Das genügt mir.»

«Gibst du mir einen Kuß, Meister?»

«Ja, Judas. Diesen und noch mehr werde ich dir geben ...» Jesus seufzt tief, aber er küßt Judas auf die Wange. Dann nimmt er sein Haupt zwischen seine Hände und hält es fest wie in einer Klammer. Nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, schaut er ihn fest an und durchbohrt ihn mit seinem magnetischen Blick, und Judas, dieser Unglückliche, schreckt nicht zusammen. Der prüfende Blick läßt ihn anscheinend ganz gleichgültig. Nur etwas bleich wird er, und für einen Augenblick schließt er die Augen.

Jesus küßt ihn auf die gesenkten Augenlider, auf den Mund und aufs Herz, indem er sich niederbeugt... und sagt: «Um die Nebel zu zerstreuen, um dich die Liebe Jesu fühlen zu lassen, um dein Gemüt zu stärken.»Dann läßt er ihn gehen und begibt sich ins Haus, gefolgt von Judas.

«Gut, daß du kommst, Meister! Alles ist bereit. Wir haben nur noch auf dich gewartet», sagt Petrus.

«Ja, ich habe mit Judas über so manche Dinge gesprochen... Nicht wahr, Judas? Wir werden auch für den armen Alten sorgen müssen, dessen Sohn getötet worden ist.»

Unverzüglich ergreift Judas die gute Gelegenheit, um sich endgültig zu beruhigen und einen etwaigen Verdacht aus dem Weg zu räumen. «Ah! Weißt du, Meister? Heute sind wir von einer Gruppe Heiden aufgehalten worden, die mit Juden aus den römischen Kolonien Griechenlands zusammen waren. Sie wollten vieles wissen. Wir haben geantwortet, so gut

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wir konnten. Aber wir haben sie nicht überzeugen können. Doch waren sie gut und haben uns viel Geld gegeben. Sieh, da ist es, Meister. Wir werden damit viel Gutes tun können.» Und Judas legt einen schweren Beutel aus weichem Leder, groß wie ein Kinderkopf, auf den Tisch, in dem die Silbermünzen klingen.

«Gut, Judas! Du wirst das Geld gerecht verteilen. Was wollten diese Heiden wissen?»

«Dinge über das künftige Leben... ob der Mensch eine Seele hat und ob sie unsterblich ist. Sie nannten Namen ihrer Meister. Aber wir... was konnten wir dazu sagen?»

«Ihr hättet ihnen sagen müssen, daß sie hier herkommen sollen.»

«Das haben wir auch gesagt. Vielleicht kommen sie.» Die Mahlzeit wird fortgesetzt.

Jesus hat Judas neben sich und gibt ihm ein Stück Brot, nachdem er es in den Saft auf dem Teller mit dem gebratenen Fleisch getaucht hat. Sie essen gerade kleine schwarze Oliven, als an die Tür geklopft wird. Kurz darauf betritt die Hausfrau den Raum und sagt: «Meister, man will dich sprechen.»

«Wer ist es?»

«Fremde Männer.»

«Aber das ist unmöglich!»

«Der Meister ist müde!» «Den ganzen Tag ist er gewandert und hat er gesprochen!» «Zudem, Heiden im Haus!» Die Zwölf sind alle so aufgeregt wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm.

«Pst! Friede! Es ist keine Mühe für mich, die anzuhören, die nach mir verlangen. Es ist mir eine Erholung.»

«Es könnte sich aber um eine Falle handeln. Zu dieser Stunde!»...

«Nein. Es ist keine Falle. Beruhigt euch und erholt euch. Ich habe mich schon ausgeruht, während ich auf euch gewartet habe. Ich gehe. Ich verlange nicht, daß ihr mit mir kommt... obwohl... obwohl ich euch sagen muß, daß ihr euer Judentum, das nichts anderes als Christentum sein wird, gerade unter den Heiden werdet verbreiten müssen.»

«Gehst du allein? Ah, das niemals!» sagt Petrus und erhebt sich.

«Bleib, wo du bist. Ich gehe allein.»

Er geht hinaus und zeigt sich an der Haustür. In der Abenddämmerung warten viele Menschen.

«Der Friede sei mit euch! Ihr habt nach mir gefragt?»

«Sei gegrüßt, Meister!» Es ist ein imposanter, in ein römisches Gewand gehüllter Alter, der da spricht. Über dem Gewand trägt er ein rundes Mäntelchen mit einer über den Kopf gezogenen Kapuze. «Wir haben heute mit deinen Jüngern gesprochen. Aber sie konnten uns nicht viel sagen. Wir möchten mit dir sprechen.»

«Seid ihr die, die das Almosen gegeben haben? Ich danke euch im

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Namen der Armen Gottes.» Jesus wendet sich an die Hausherrin und sagt: «Frau, ich gehe mit ihnen. Sage den Meinen, sie sollen mich am Ufer des Meeres aufsuchen; denn diese sind, wenn ich richtig sehe, Kaufleute und kommen vom Stapelplatz ...»

«Und Seeleute. Du hast recht.»

Sie gehen alle auf die Straße, die in einem schönen Mondschein liegt.

«Kommt ihr von weit her?» Jesus geht in der Mitte der Gruppe, neben sich auf der einen Seite den Alten, der als erster gesprochen hat, ein schöner Greis mit echt römischen Gesichtszügen. Auf der anderen Seite befindet sich ebenfalls ein bejahrter Mann mit einem typisch jüdischen Gesicht. Außerdem umgeben ihn noch zwei oder drei schlanke Männer mit olivfarbener Haut, die ihn aufmerksam und etwas ironisch betrachten, und ferner kräftig gebaute Männer verschiedenen Alters. Im ganzen etwa zehn Personen.

«Wir kommen aus den römischen Kolonien in Griechenland und Asien und sind teils Juden, teils Heiden... Deswegen haben wir es kaum gewagt zu kommen... Aber man hat uns versichert, daß du die Heiden nicht verachtest... wie die anderen, die praktizierenden Juden in Israel, wollte ich sagen, es tun; denn anderswo sind auch die Juden weniger streng. So habe ich als Römer sogar eine jüdische Frau, die aus Lykaonien stammt, während dieser da eine Römerin zur Frau hat, obwohl er selbst ein Hebräer aus Ephesus ist.»

«Ich verachte niemanden... Und man kann jene nur bedauern, die noch nicht verstanden haben, daß alle Menschen, die ihr Leben von ein und demselben Schöpfer erhalten haben, eines einzigen Blutes sind.»

«Wir wissen, daß du groß bist unter den Philosophen, und was du sagst bestätigt dies. Groß bist du und gut.»

«Gut ist, wer Gutes tut; nicht der, der gut spricht.»

«Du sprichst gut und handelst gut, daher bist du gut.»

«Was wollt ihr von mir wissen?»

«Verzeih uns, Meister, wenn wir dich heute mit unserer Neugierde ermüden; aber es ist eine wohlwollende Neugierde, denn sie sucht die Wahrheit aus Liebe... Heute wollten wir von den Deinen die Wahrheit über eine Lehre wissen, die schon von den alten Philosophen Griechenlands angedeutet worden war und die du, wie man sagt, ausführlicher und schöner darlegst. Eunike, meine Frau, hat mit Juden gesprochen, die dich gehört haben, und hat mir deine Worte wiederholt. Weißt du, Eunike, eine Griechin, ist gebildet und kennt die Worte der Weisen ihres Vaterlandes. Sie hat Ähnlichkeiten zwischen deinen Worten und denen eines der großen griechischen Philosophen festgestellt. Auch bis nach Ephesus ist deine Lehre gedrungen. Als wir daher in diesem Hafen angekommen sind, die einen des Handels, andere religiöser Riten wegen, haben wir gemeinsame Interessen entdeckt und miteinander gesprochen. Die Geschäfte halten

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uns nicht davon ab, auch an andere, höhere Dinge zu denken. Wenn die Lager und Warenhäuser gefüllt sind, haben wir Zeit, uns mit unseren Zweifeln auseinanderzusetzen. Du sagst, daß die Seele ewig ist. Sokrates hat gesagt, daß sie unsterblich ist. Kennst du die Lehren des griechischen Meisters?»

«Nein, ich habe nicht an den Schulen von Rom und Athen studiert. Aber sprich nur. Ich verstehe dich dennoch. Die Gedanken des griechischen Philosophen sind mir nicht unbekannt.»

«Entgegen dem, was wir in Rom glauben und was auch eure Sadduzäer sagen, behauptet Sokrates, daß der Mensch eine Seele hat, und daß diese unsterblich ist. Er sagt, daß der Tod infolgedessen nichts anderes ist als eine Befreiung der Seele und ein Übergang von einem Kerker zu einem Ort der Freiheit, wo sie sich mit denen verbindet, die sie geliebt hat. Dort wird sie die Weisen, von deren Klugheit sie reden hörte, die Großen, die Heiden und Poeten kennen und keine Ungerechtigkeit und keinen Schmerz mehr, sondern ewige Freude in einem Reich des Friedens finden, das allen unsterblichen Seelen offensteht, die in Gerechtigkeit gelebt haben. Was sagst du dazu, Meister?»

«Wahrlich, ich sage dir, obwohl der griechische Meister im Irrtum einer unwahren Religion lebte, war er doch in der Wahrheit, als er von der Unsterblichkeit der Seele sprach. Als Sucher der Wahrheit und Hüter der Tugend vernahm er in der Tiefe seiner Seele das Säuseln der Stimme des unbekannten Gottes, des wahren Gottes, des einzigen Gottes, der da ist der höchste Vater, von dem ich komme, um den Menschen die Wahrheit zu verkünden. Der Mensch hat eine Seele, eine einzige, echte und ewige, eine Herrin, die entweder Lohn oder Strafe verdient. Sie gehört sich selbst, ist von Gott erschaffen und nach der Absicht des Schöpfers dazu bestimmt, zu Gott zurückzukehren. Ihr Heiden gebt euch zu sehr dem Kult des Fleisches hin, das ein wunderbares Werk ist, wahrhaft ein Zeichen des Wirkens des ewigen Gottes. Ihr bewundert zu sehr den Verstand, den im Schrein eures Hauptes verschlossenen Edelstein, der von dort seine tiefen Gedanken ausstrahlt. Er ist ein großes, hoch erhabenes Geschenk des Schöpfer-Gottes, der euch nach seinem Gleichnis gebildet hat, indem er euch einen vollkommenen Körper und eine Ähnlichkeit mit sich selbst im Gedanken und im Geist gegeben hat. Im Geist besteht die Vollkommenheit der Ähnlichkeit mit Gott. Denn Gott hat keine Glieder und kein festes Fleisch, so wie er auch keine Sinne und keine Wollust kennt, sondern er ist vollkommenster, reinster, ewiger und unveränderlicher Geist, unermüdlich in seinem Wirken, der sich immerwährend erneuert in seinen Werken, die er in väterlicher Weise der Entwicklung seiner Kreaturen anpaßt. Der Geist, der für alle Menschen von ein und derselben göttlichen Quelle der Macht und Güte kommt, ist in seiner anfänglichen Vollkommenheit bei allen gleich. Einer nur ist der vollkommene, unerschaffene

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Geist, der immer unverändert geblieben ist. Drei sind die in vollkommener Weise geschaffenen Geister...»

«Einer davon bist du, Meister.»

«Nicht ich. Ich habe in meinem Fleisch den göttlichen Geist, der nicht geschaffen, sondern vom Vater in seiner überströmenden Liebe gezeugt wurde.»

«Wer sind sie also?»

«Die beiden Ahnen, von denen alle Menschen abstammen, die mit einer vollkommenen Seele geschaffen wurden und dann aus freiem Willen der Unvollkommenheit verfallen sind. Der dritte, geschaffen zur Freude Gottes und des Weltalls, steht zu hoch über dem Vermögen des Verstandes und des Glaubens der heutigen Welt, als daß ich ihn euch nennen könnte. Die Geister, sagte ich, die mit dem gleichen Maß an Vollkommenheit aus ein und derselben Quelle hervorgehen, machen später durch ihr Verdienst und ihren Willen eine zweifache Metamorphose durch.»

«So gibt es also deiner Meinung nach ein zweites Leben?»

«Es gibt nur ein Leben. In dieses tritt die Seele, welche die ursprüngliche Ähnlichkeit mit Gott besitzt, ein. Wenn sie nun in allen Dingen Gerechtigkeit übt, geht sie über in eine vollkommenere Ähnlichkeit mit ihm, erlebt sie eine zweite Schöpfung ihrer selbst, wodurch sie eine doppelte Ähnlichkeit mit ihrem Schöpfer entwickelt und fähig wird, die Heiligkeit zu besitzen, die die Vollkommenheit der Gerechtigkeit und die Ähnlichkeit der Kinder mit dem Vater ist. Diese ist in den Seligen, d.h. in denen, die nach eurem Sokrates den Hades bewohnen. Ich aber sage euch, daß, wenn die Weisheit ihre Worte gesprochen und mit ihrem Blute unterzeichnet haben wird, jene die Seligen des Paradieses, des Reiches Gottes, sein werden.»

«Und wo sind sie jetzt?»

«In der Erwartung.»

«Wessen?»

«Des Opfers. Der Verzeihung. Der Befreiung.»

«Man sagt, daß der Messias der Erlöser sein wird und daß du es bist... Ist das wahr?»

«Es ist wahr... Ich bin es, der mit euch spricht.»

«So wirst du also sterben müssen? Warum, Meister? Die Welt bedarf so sehr des Lichtes, und du willst sie verlassen?»

«Gerade du fragst mich das? ... Du, ein Grieche? Du, in dem die Weisheit des Sokrates ihren Thron aufgeschlagen hat?»

«Meister, Sokrates war ein Gerechter. Du bist heilig. Schau, wie sehr die Welt der Heiligkeit bedarf.»

«Sie wird sich durch jeden Schmerz, durch jede Wunde, durch jeden Tropfen meines Blutes um das Zehntausendfache vermehren.»

«Beim Jupiter! Nie war ein Stoiker größer als du, der du dich nicht

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damit begnügst, die Verachtung des Lebens zu predigen. Du bringst es fertig, das Leben wegzuwerfen.»

«Ich verachte das Leben nicht. Ich liebe es als das Allernützlichste, um damit das Heil der Welt zu erkaufen.»

«Aber du bist noch zu jung, um zu sterben, Meister!»

«Dein Philosoph sagt, daß den Göttern teuer ist, was heilig ist; und du hast mich heilig genannt. Wenn ich heilig bin, muß ich danach verlangen, zur Heiligkeit zurückzukehren, von der ich ausgegangen bin. Ich bin daher nie zu jung, um dieses Verlangen zu verspüren. Auch Sokrates sagt, daß, wer heilig ist, es liebt, Dinge zu tun, die den Göttern wohlgefällig sind. Was kann es Wohlgefälligeres geben, als der Umarmung des Vaters jene Söhne zurückzugeben, die die Sünde von ihm entfernt hat, und dem Menschen den Frieden mit Gott, der Quelle alles Guten, zu geben?»

«Du behauptest, die Lehren des Sokrates nicht zu kennen. Woher weißt du dann das, was du über ihn sagst?»

«Ich weiß alles. Der Gedanke der Menschen ist, wenn er gut ist, nichts anderes als der Widerschein einer meiner Gedanken. Wenn er nicht gut ist, ist er nicht der meinige, aber ich habe ihn gelesen in der Ewigkeit. Ich habe gewußt, weiß und werde wissen, was gesprochen wurde, wird und werden wird. Ich weiß.»

«Herr, komm nach Rom und sei das Licht der Welt. Hier umgibt dich der Haß. Dort wird dich Verehrung umgeben.»

«Den Menschen, aber nicht den Lehrer des Übernatürlichen werden sie verehren. Ich bin des Übernatürlichen wegen gekommen. Ich muß es den Söhnen des Volkes Gottes bringen, wenn sie auch noch so hart sind gegen das Wort.»

«Rom und Athen werden dich also nicht haben?»

«Sie werden mich haben, fürchtet euch nicht. Sie werden mich haben. Die mich haben wollen, werden mich haben.»

«Aber wenn sie dich töten... ?»

«Der Geist ist unsterblich; der Geist eines jeden Menschen. Sollte dann der meinige, der Geist des Gottessohnes, es nicht sein? Ich werde mit meinem wirkenden Geist kommen... Ich werde kommen... Ich sehe schon die unzählige Menschenmenge und die zu Ehren meines Namens errichteten Bauwerke... Ich bin überall... Ich werde in den Kathedralen und in den Herzen sprechen... Die Verkündigung meiner Frohen Botschaft wird kein Ende nehmen... Das Evangelium wird über die ganze Erde hineilen... Die Guten werden alle zu mir kommen... und seht... ich gehe an der Spitze meines Heeres von Heiligen und führe es in den Himmel. Kommt zur Wahrheit...»

«O Herr! Unsere Seelen sind in Formeln und Irrtümern befangen. Wie werden wir es fertigbringen, ihr die Tore zu öffnen?»

«Ich werde die Pforten der Unterwelt aufschließen. Ich werde die

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Pforten eures Hades und meiner Vorhölle öffnen; und sollte ich nicht die eurigen öffnen können? Sagt: "Ich will", und wie aus Schmetterlingsflügeln angefertigte Schlösser werden sie vor meinem Glanz zerfallen.»

«Wer wird in deinem Namen kommen?»

«Seht ihr den Mann, der zu dieser Biegung kommt mit einem, der fast noch ein Jüngling ist? Diese werden nach Rom und in euer Land kommen, und mit ihnen noch viele andere, so eifrig wie jetzt, aus Liebe zu mir, die sie anspornt und ihnen keine Ruhe läßt. Aus Liebe zu den durch mein Opfer Erlösten werden sie kommen, um euch aufzusuchen und zum Licht zu führen. Petrus! Johannes! Kommt! Ich glaube, ich bin hier fertig. Habt ihr mir sonst noch etwas zu sagen?»

«Nein, Meister. Wir werden hingehen und deine Worte mit uns nehmen.»

«Mögen sie in euch aufkeimen und ewige Wurzeln schlagen. Geht hin. Der Friede sei mit euch.»

«Leb wohl, Meister.»

Und die Schauung ist zu Ende...

Aber Jesus sagt noch: «Du bist erschöpft? Ein schweres Diktat. Mehr Diktat als Schauung. Aber es ist ein Gegenstand, der manche interessiert. Wen? Du wirst es "an meinem Tag" erfahren. Nun geh auch du in Frieden.»

Ich möchte noch hinzufügen, daß die Unterhaltung Jesu mit den Heiden am Ufer einer Hafenstadt stattgefunden hat. Im Mondlicht waren die ruhigen Wellen gut zu sehen, die rauschend an den Steinen der Mole erstarben. Der Hafen bot Platz für viele Schiffe. Ich habe es vorher nicht sagen können, da die Gruppe beständig gesprochen hat, und ich den Faden verloren hätte, wenn ich den Ort beschrieben hätte. Sie sprachen, indem sie im Hafengelände am Meer entlang hin- und hergingen. Das Ufer war menschenleer, denn die Seeleute waren schon alle auf ihre Schiffe zurückgekehrt, deren rote Fackeln in der Nacht wie rote Sterne leuchteten. Um welche Stadt es sich handelte, weiß ich nicht. Aber sie war schön und sicher bedeutend.

453. AUF DEM LANDGUT DES NIKODEMUS

Jesus kommt dort an einem frischen Morgen an. Schön sind diese fruchtbaren Ländereien des guten Nikodemus im ersten Sonnenlicht. Sie sind schön, obwohl viele Felder schon abgemäht sind und den müden Anblick nach dem Hinsterben des Getreides bieten, das nun in goldenen Getreideschobern lagert oder noch in Garben auf dem Boden liegt und darauf wartet, auf die Tenne gebracht zu werden. Mit ihm sterben auch die Sterne der blauen Kornblumen, die violetten Löwenmäuler, die kleinen Blumenkronen der Skabiosen, die zarten Kelche der Glockenblumen, die lachenden Strahlenkränze der Kamille und der Margeriten, die blutroten

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Klatschrosen und Hunderte von anderen Blumen, die als Sterne, Rispen, Trauben oder Blumenkronen dort geblüht haben, wo jetzt alles vergilbt ist und nur Stoppeln sind. Aber als Gegengewicht zu der Traurigkeit der Erde, die ihres Korns beraubt ist, stehen die dichtbelaubten Obstbäume da, von Tag zu Tag heiterer durch die Früchte, die heranwachsen, ihren Duft verbreiten und in dieser Stunde mit Diamanten bestreut zu sein scheinen vom Tau, der noch nicht von der Sonne aufgesogen worden ist.

Die Bauern sind schon auf der Feldern, voller Freude darüber, daß die mühevolle Arbeit ihrem Ende zugeht. Sie singen beim Mähen und lachen fröhlich. Um die Wette schwingen sie ihre Sensen und binden die Garben, um zu sehen, wer es am schnellsten kann. Ich sehe zahlreiche Scharen von wohlgenährten Bauern, die glücklich sind, im Dienst eines guten Herrn zu stehen, und an den Rändern der Felder oder hinter den Arbeitern, Kinder, Witwen und alte Leute, die sich um die Nachlese kümmern. Sie warten geduldig, denn sie wissen, daß es wie immer für alle genug geben wird, "gemäß dem Befehl des Nikodemus", wie eine Witwe Jesus erklärt.

«Er wacht darüber», sagt sie, «daß absichtlich viele Ähren nicht gebündelt werden und für uns auf dem Feld liegenbleiben. Nicht zufrieden mit dieser großen Geste der Nächstenliebe, gibt er uns, was übrigbleibt, nachdem er den gerechten Ertrag der Ernte erhalten hat. Er wartet damit nicht bis zum Sabbatjahr! Immer macht er es so, um die Armen zu beglücken mit seinem Vieh, seinen Oliven und seinem Wein. Deswegen segnet Gott ihn mit wunderbaren Ernten. Die Segnungen der Armen fallen wie Tau auf seine Samenkörner und Blüten und bewirken, daß jedes Korn mehr Ähren gibt und daß keine Blüte zu Boden fällt, ohne Frucht zu bringen. Dieses Jahr, so hat er uns wissen lassen, wird die ganze Ernte an uns verteilt werden, weil es ein Jahr der Gnade ist. Von welcher Gnade er spricht, weiß ich nicht. Aber die Armen und seine glücklichen Knechte sagen, er sei ein geheimer Jünger dessen, der Christus genannt wird und der die Liebe zu den Armen predigt, um dadurch die Liebe zu Gott zu bezeugen... Vielleicht kennst du ihn, wenn du ein Freund des Nikodemus bist ... denn Freunde haben ja gewöhnlich dieselben Gefühle und Interessen ... Joseph von Arimathäa z.B. ist ein guter Freund des Nikodemus, und auch von ihm sagt man, daß er ein Freund des Rabbi sei... Oh! Was habe ich gesagt! Möge Gott mir verzeihen! Ich habe den beiden Guten dieser Ebene geschadet! ...» Und die Frau ist ganz niederschlagen.

Jesus lächelt und fragt: «Warum, Frau?»

«Weil... Oh! Sage mir, bist du wirklich ein Freund des Nikodemus und des Joseph oder bist du einer vom Hohen Rat, einer der falschen Freunde, die diesen beiden Guten schaden würden, wenn sie die Gewißheit hätten, daß sie Freunde des Galiläers sind?»

«Sei versichert, ich bin ein wahrer Freund der beiden Guten. Aber du weißt viele Dinge, Frau! Woher weißt du sie?»

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«Oh! Wir alle wissen sie! Die oben voller Haß, und wir unten voller Liebe. Auch wenn wir ihn nicht kennen, den Gesalbten, so lieben wir ihn, wir, die Verlassenen, die er allein liebt und die zu lieben er lehrt. Wir haben Angst um ihn... Sie sind so gemein, so gehässig, diese Judäer, Pharisäer, Schriftgelehrten und Priester! ... Aber ich ärgere dich. Verzeih mir... aber eine Frauenzunge weiß eben nicht zu schweigen... Aber es ist so: Alles Leid kommt von ihnen, den Mächtigen, die uns erbarmungslos unterdrücken, die uns zu fasten gebieten, auch wenn es vom Gesetz nicht vorgeschrieben ist, nur damit wir den Zehnten zahlen können, den sie, die Reichen, den Armen auferlegt haben ... und wir setzen unsere ganze Hoffnung auf das Reich dieses Rabbi, der, da er schon jetzt so gut ist, verfolgt wird. Wie gut wird er erst sein, wenn er König ist?»

«Sein Reich ist nicht von dieser Welt, Frau. Er wird keine Paläste und keine Heere haben. Er wird keine menschlichen Gesetze geben und keine Schätze verteilen, aber er wird die besseren Menschen lehren, es zu tun, und die Armen werden nicht nur zwei oder drei oder zehn oder hundert Freunde unter den Reichen haben; alle Reichen, die an den Meister glauben, werden ihre Güter zusammenlegen, um den besitzlosen Brüdern zu helfen; denn von nun an werden sie ihresgleichen nicht nur Nächste, sondern Brüder im Namen des Herrn nennen.»

«Oh... !»

Die Frau ist erstaunt und träumt von einem Zeitalter der Liebe. Sie liebkost ihre Kinder und lächelt; dann erhebt sie ihr Haupt und sagt: «Dann kannst du mir also versichern, daß ich Nikodemus nicht geschadet habe ... durch mein Gespräch mit dir? Es ist mir so spontan herausgekommen ... Deine Augen sind so liebevoll! ... So freundlich ist dein Anblick! Ich weiß nicht... Ich fühle mich so sicher, als wäre ich in der Nähe eines Engels Gottes; deswegen habe ich gesprochen ...»

«Du hast ihm nicht geschadet, sei beruhigt. Vielmehr hast du meinem Freund ein hohes Lob gezollt, weswegen auch ich ihn loben werde; und er wird mir umso teurer sein. Bist du aus dieser Gegend?»

«Nein, Herr. Ich wohne zwischen Lydda und Beth Dagon. Aber wenn man Erleichterung findet, ist man bereit, auch einen weiten Weg zurückzulegen, Herr. Viel länger als der Weg sind die Monate des Winters und des Hungers ...»

«Und länger als das Leben ist die Ewigkeit. Es wäre nötig, ebensogut für die Seele wie für den Körper zu sorgen und hinzueilen, wo Worte des Lebens sind...»

«Und ich tue es mit den Jüngern des Rabbi Jesus, jenes Guten, weißt du? Er ist der einzig gute unter den vielen Rabbis, die wir haben.»

«Du tust gut daran, Frau», sagt Jesus lächelnd. Aber dann gibt er Andreas und Jakobus des Zebedäus, die bei ihm geblieben sind, während die anderen schon zum Haus des Nikodemus gegangen sind, ein Zeichen,

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damit sie ihre Versuche, der Frau verständlich zu machen, daß der Rabbi der ist, mit dem sie spricht, aufgeben.

«Gewiß handle ich richtig. Ich will ohne die Sünde sein, ihn nicht geliebt und nicht an ihn geglaubt zu haben... Sie sagen, er sei der Messias. Ich kenne ihn nicht, aber ich will es glauben; denn ich denke mir, daß Unglück über jene kommen wird, die ihn nicht als diesen anerkennen wollen.»

«Wenn sich aber seine Jünger getäuscht haben sollten?» forscht Jesus.

«Das kann nicht sein, Herr. Sie sind zu gut, zu demütig und arm, als daß man denken könnte, sie seien Anhänger von einem, der nicht heilig ist. Und dann... ich habe mit Leuten gesprochen, die von ihm geheilt worden sind. Begehe nicht die Sünde, nicht an ihn zu glauben, Herr! Du würdest deiner Seele schaden... Schließlich... meine ich: Wenn wir uns auch alle täuschen sollten und er nicht der versprochene König ist, so ist er doch sicher ein Heiliger und Freund Gottes, wenn er solche Worte spricht und Leib und Seele heilt. Die Guten achten, ist immer etwas Gutes.»

«Gut hast du gesprochen. Harre in deinem Glauben aus... Sieh, da kommt Nikodemus...»

«Ja, mit Schülern des Rabbi. Sie sind nämlich auf den Feldern und predigen den Schnittern. Auch gestern haben wir ihr Brot gegessen.»

Inzwischen kommt Nikodemus mit geschürztem Gewand daher, ohne den Meister zu bemerken, und befiehlt den Arbeitern, keine Ähre wegzunehmen von denen, die gemäht sind. «Für uns haben wir Brot genug... Geben wir die Gabe Gottes nun dem, der sie braucht. Und geben wir sie ohne Furcht. Unser Getreide hätte durch den späten Frost zerstört werden können; aber kein Körnchen ist verlorengegangen. Geben wir Gott sein Brot zurück, indem wir es seinen unglücklichen Kindern schenken. Ich versichere euch, daß die Ernte des nächsten Jahres hundertmal so reich sein wird; denn er selbst hat gesagt: "Überreiches Maß wird dem gegeben, der gegeben hat."»

Die Bauern hören ihrem Herrn ehrerbietig und kopfnickend zu, und Nikodemus wiederholt von Feld zu Feld, von Gruppe zu Gruppe gehend seine Anordnung.

Die frohen und ergebenen Bauern hören auf ihn und nicken.

Auch Jesus, halb verdeckt durch eine Schilfrohrwand in der Nähe eines Grenzgrabens, billigt lächelnd seine Worte. Immer mehr lächelt er, je näher Nikodemus kommt, und die überraschende Begegnung muß gleich stattfinden.

Nun springt er über den kleinen Graben, um zu anderen Feldern zu gelangen... und bleibt plötzlich wie angewurzelt vor Jesus stehen, der ihm seine Arme entgegenstreckt... Endlich findet er die Sprache wieder: «Heiliger Meister! Du kommst zu mir, Gesegneter?»

«Um dich noch besser kennenzulernen, wenn es nötig gewesen wäre;

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denn aus den Worten der wahren Zeugen, jener, denen du Wohltaten erweist, habe ich schon alles entnommen ...»

Nikodemus ist niedergekniet und hat sich bis zum Boden verneigt. Auf den Knien liegen auch die Jünger, angeführt von Stephanus und Joseph von Emmaus im Gebirge. Den Bauern geht ein Licht auf. Die Armen beginnen zu verstehen, und alle knien voller Staunen und Verehrung nieder.

«Steht auf. Bis vor kurzem war ich der Wanderer, der Vertrauen erweckt... Als solchen sollt ihr mich betrachten und mich ohne Furcht lieben. Nikodemus, ich habe die fehlenden Zehn zu deinem Haus geschickt.»

«Ich habe draußen übernachtet, um eine Anordnung zu überwachen ...»

«Ja, für diesen Befehl wird Gott dich segnen. Welche Stimme hat dir gesagt, daß gerade dieses Jahr ein Jahr der Gnade ist und nicht das kommende?»

«Ich weiß es nicht... und doch weiß ich es... Ich bin kein Prophet. Aber ich bin auch nicht unvernünftig, und zu meiner Erkenntnis hat sich ein Licht vom Himmel gesellt. Mein Meister... ich wollte, daß die Armen die Güter Gottes genießen, solange Gott noch unter den Armen weilt... und ich ahnte nicht, daß du zu mir kommen und diesem Getreide, meinem Wein, meinem Obst und meinen Oliven edlen Geschmack und heilende Kraft verleihen würdest. Sie sind für die armen Kinder Gottes, für meine Brüder bestimmt. Aber jetzt, da du hier bist, erhebe deine gesegnete Hand und segne, damit sie mit der Nahrung des Leibes auch die Nahrung der Heiligkeit, die aus dir strömt, zu sich nehmen...»

«Ja, Nikodemus, das ist ein gerechtes Verlangen, das der Himmel billigt», und Jesus breitet seine Arme aus zum Segen.

«Oh, warte! Laß mich die Bauern rufen.» Und jetzt gibt er mit einer Pfeife ein dreimaliges Zeichen. Ein scharfer Pfiff ertönt durch die Stille und bewirkt, daß Schnitter, Erntearbeiter und Neugierige von allen Seiten herbeieilen. Eine kleine Volksmenge...

Jesus breitet seine Arme aus und spricht: «Durch die Kraft des Herrn, um des Verlangens seines Dieners willen, komme die Gnade des Heils auf jedes Korn, jede Weinbeere, Olive und Frucht herab, auf daß sie gedeihen mögen und jene heiligen, die sich in guter Absicht davon nähren, rein von Begierden und Haß, sehnsüchtig, dem Herrn im Gehorsam gegen seinen göttlichen und vollkommenen Willen zu dienen...»

«So möge es geschehen», antworten Nikodemus, Andreas, Jakobus, Stephanus und die anderen Jünger... «So möge es geschehen», wiederholt die kleine Volksmenge, indem sie sich wieder erhebt; denn sie haben sich alle auf die Knie geworfen, um gesegnet zu werden.

«Stelle die Arbeiten ein, Freund. Ich will zu ihnen sprechen.»

«Geschenk aller Geschenke. Ich danke dir im Namen aller, Meister!»

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Sie gehen in den Schatten eines dichten Obstgartens und warten auf die Ankunft der Zehn, die zum Hause geschickt worden waren und bald herbeieilen, keuchend und enttäuscht, weil sie Nikodemus nicht gefunden haben...

Jesus sagt: «Der Friede sei mit euch. Euch allen, die ihr mich umgebt, möchte ich ein Gleichnis erzählen, und ein jeder mache sich die Lehre daraus und den für ihn passenden Teil zu eigen.

Hört. Ein Mann hatte zwei Söhne. Er ging zu dem einen und sagte: "Mein Sohn, komm und arbeite heute im Weinberg deines Vaters." Es war dies ein Zeichen der Anerkennung vonseiten des Vaters. Er hielt den Sohn für fähig, dort zu arbeiten, wo bisher der Vater selbst gearbeitet hatte. Es war auch ein Zeichen dafür, daß der Vater im Sohn guten Willen, Standhaftigkeit, Fähigkeit, Erfahrung und Liebe zum Vater sah. Aber der Sohn wurde von irdischen Angelegenheiten abgelenkt; er schämte sich auch, im Arbeitsgewand zu erscheinen (Satan bedient sich solcher Ansichten, um vom Guten abzuhalten) und fürchtete den Spott und vielleicht auch Racheakte seitens der Feinde des Vaters, die gegen ihn selbst nicht die Hand zu erheben wagten, wohl aber gegen seinen schwächeren Sohn. So antwortete er: "Ich gehe nicht. Ich habe keine Lust dazu." Da ging der Vater zum anderen Sohn und sagte ihm dasselbe, was er zum ersten gesagt hatte. Der zweite antwortete sofort: "Ja Vater, ich gehe sogleich."

Was geschah? Der erste Sohn war an sich von guter Gesinnung, aber im ersten Augenblick der Versuchung zur Auflehnung erlegen; er bereute jedoch, seinen Vater beleidigt zu haben, und ging ohne ein Wort zu sagen in den Weinberg und arbeitete den ganzen Tag bis zu später Stunde. Dann kehrte er nach Hause zurück mit Frieden im Herzen wegen der erfüllten Pflicht. Der zweite hingegen, lügnerisch und schwächlich wie er war, ging aus dem Haus, schlenderte dann aber im Dorf herum und machte unnütze Besuche bei einflußreichen Freunden, von denen er irgend etwas erhoffte, und sagte sich in seinem Herzen: "Der Vater ist alt und geht nicht aus dem Haus. Ich werde ihm sagen, daß ich ihm gehorcht habe, und er wird es glauben..."

Als der Abend auch für ihn kam, kehrte er mit dem gelangweilten Gesicht eines Müßiggängers, jedoch mit sauberen Kleidern nach Hause zurück. Der Vater bemerkte den unsicheren Gruß und verglich ihn mit dem des ersten Sohnes, der müde, schmutzig und abgearbeitet, aber heiter war und einen aufrichtigen, demütigen und liebevollen Blick hatte, der, ohne sich mit der erfüllten Pflicht zu brüsten, sagen wollte: "Ich liebe dich, und zwar aufrichtig. Um dich zufriedenzustellen, habe ich mich überwunden." Der Vater umarmte daher den müden Sohn und sprach: "Sei gesegnet, denn du hast die Liebe verstanden."

Was haltet ihr davon? Welcher von den beiden hat den Vater geliebt?

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Sicher werdet ihr sagen: "Der, der den Willen seines Vaters erfüllt hat." Und wer hat ihn erfüllt, der erste oder der zweite Sohn?»

«Der erste», antwortet die Menge einstimmig.

«Ja, der erste. Auch in Israel gibt es so etwas. Nicht die sind die Guten, die da sagen: "Herr, Herr!" und sich an die Brust schlagen, ohne im Herzen Reue über die begangenen Sünden zu empfinden. Sie werden sogar immer hartherziger. Nicht die sind die Guten, die fromme Riten zur Schau tragen, um als Heilige zu erscheinen, dann aber in ihrem Leben ohne Liebe und Gerechtigkeit sind. Sie handeln gegen den Willen Gottes, der mich entsandt hat und den sie bekämpfen, als ob ich im Auftrag des Satans käme. Das wird nicht verziehen. Sie sind keine Heiligen in den Augen Gottes; vielmehr sind es die, die anerkennen, daß Gott alles gut macht, was er tut, die den Gesandten Gottes aufnehmen und sich sein Wort anhören, um zu wissen, wie man besser wird, und immer mehr zu erkennen, was der Vater will. Das sind die wahren Heiligen, die dem Allerhöchsten wohlgefällig und teuer sind.

Wahrlich, ich sage euch: die Unwissenden, die Armen, die Zöllner, die Dirnen werden viele übertreffen, die sich "heilig" nennen, die sich "mächtig" und "Meister" nennen; und sie werden in das Reich Gottes gelangen, und Gerechtigkeit wird walten. Johannes ist nach Israel gekommen, um das Volk auf die Wege der Gerechtigkeit zu führen, und sehr viele in Israel haben ihm nicht geglaubt, in Israel, das sich selbst "gelehrt und heilig" nennt. Aber Zöllner und Dirnen haben ihm geglaubt. Nun bin ich gekommen, und die "gelehrten Heiligen" glauben mir nicht, aber Arme, Unwissende und Sünder glauben an mich. Ich habe Wunder gewirkt, und nicht einmal an diese haben sie geglaubt; und sie haben es auch nicht bereut, nicht an mich geglaubt zu haben. Im Gegenteil, sie haben mich und jene, die mich lieben, mit Haß überschüttet.

Daher sage ich: "Gesegnet, die an mich glauben und den Willen des Herrn tun, in dem ewiges Heil ist." Wachst in eurem Glauben und seid tugendhaft. Ihr werdet den Himmel besitzen, denn ihr habt die Wahrheit zu lieben gewußt.

Geht nun. Gott sei immer mit euch.»

Er segnet und entläßt sie: dann geht er an der Seite des Nikodemus zum Haus des Jüngers, um sich in den heißen Stunden dort aufzuhalten...

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454. BEI JOSEPH VON ARIMATHÄA

Auch hier sind die Schnitter in voller Tätigkeit, oder besser gesagt: Hier sind die Schnitter schon eifrig tätig gewesen. Nun sind die Sensen nicht mehr nötig, da keine Ähre mehr aufrecht steht auf diesen Feldern, die noch näher an der südlichen Küste liegen als die des Nikodemus. Denn Jesus ist nicht nach Arimathäa gegangen, sondern auf die Besitzungen, die Joseph in der Ebene hat, dem Meere zu, und die vor der Ernte ein kleines Meer von Ähren gewesen sein müssen, so ausgedehnt sind sie.

Ein niedriges, breites weißes Haus steht dort inmitten der nun kahlen Felder. Ein ländliches Haus, aber in gutem Zustand. Die vier Tennen füllen sich mit Garben, die man aufrecht aneinanderlehnt, wie es die Soldaten beim Aufenthalt im Feldlager mit ihren Waffen tun. Wagen über Wagen bringen den Schatz der Felder auf die Tennen, Menschen über Menschen laden ab und häufen auf, und Joseph eilt von einer Tenne zur anderen und wacht darüber, daß alles getan wird, und gut getan wird. Ein Bauer verkündet von der Höhe eines Wagens mit aufgetürmten Garben: «Wir sind fertig, Herr. Alles Korn ist nun auf deinen Tennen. Das ist der letzte Wagen, der vom letzten Feld kommt.»

«Gut. Lade ab und dann spanne die Ochsen aus und führe sie zur Tränke und danach in die Stallungen. Sie haben gut gearbeitet und die Ruhe verdient. Auch ihr habt alle gut gearbeitet und die Ruhe verdient. Aber die letzte Mühe wird leicht sein, denn für Gutgesinnte ist die Freude anderer eine Erquickung. Jetzt werden wir die Kinder Gottes kommen lassen und die Gaben des Vaters unter sie verteilen. Abraham, geh und rufe sie», sagt er dann, indem er sich an einen patriarchalischen Bauern wendet, der vielleicht der Oberknecht der auf diesem Hof des Joseph dienenden Bauern ist. Ich denke dies, weil ich die offenkundige Hochachtung bemerkt habe, die die anderen Knechte diesem greisen Mann zollen, der selbst nicht arbeitet, sondern nur überwacht und mit seinen Ratschlägen dem Besitzer beisteht.

Der Alte geht... Ich sehe, daß er seine Schritte zu einem breiten und sehr niedrigen Gebäude lenkt, das mehr einem Wetterdach als einem Haus gleicht und mit zwei riesigen Toren versehen ist, die bis zur Dachrinne reichen. Es scheint eine Art Magazin zu sein, in dem die Wagen eingestellt und andere Ackergeräte aufbewahrt werden. Er geht hinein und kommt mit einer Menge elender Menschen jeglichen Alters wieder heraus. Ich sehe abgezehrte Menschen, ohne physische Defekte, aber auch Lahme, Blinde, Krüppel, Augenkranke... viele Witwen, umgeben von Waisenkindern, und traurige, niedergeschlagene und durch Nachtwachen und Sorgen abgemagerte Frauen, die ihre kranken Männer begleiten.

Ihre Haltung ist die der Armen, die sich an einen Ort begeben, wo ihnen eine Wohltat erwiesen wird. Ein schüchterner Blick, die Zurückhaltung

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ausgemergelten Gesichtern, die von Schmerz gezeichnet sind... auch ein kleiner Funke des Triumphes, fast eine Antwort auf die Härte ihres Schicksals in den traurigen Tagen, als wollten sie sagen: «Heute haben auch wir einmal einen Festtag, eine Erleichterung!»

Die Kleinen reißen die Augen auf vor den Garbenhaufen, die höher als das Haus sind, und sagen, indem sie darauf zeigen, zu ihren Müttern: «Ist das für uns? Oh, wie schön!» Die Alten flüstern: «Der Gesegnete segne den Barmherzigen!» Bettler, Lahme, Blinde, Krüppel und Augenkranke sagen: «So werden auch wir endlich einmal Brot haben, ohne immer die Hand danach ausstrecken zu müssen.» Die Kranken sagen zu ihren Verwandten: «Wenigstens werden wir uns in dem Bewußtsein pflegen können, daß ihr nicht unseretwegen leiden müßt. Die Arzneien werden uns jetzt guttun.» Die Verwandten sagen zu den Kranken: «Jetzt werdet ihr uns nicht mehr sagen, daß wir fasten, um euch die guten Bissen zu überlassen. Freut euch daher! ...» Und die Witwen hört man zu den Waisen sagen: «Kinder, ihr sollt den Vater im Himmel preisen, der sich zu eurem Vater macht, und den guten Joseph, der sein Verwalter ist. Jetzt werde ich euch nicht mehr vor Hunger weinen sehen, ihr Kinder, die ihr nur noch eure Mütter habt, um euch zu helfen... Die armen Mütter, die keinen anderen Reichtum haben als ihre Herzen ...»

Es ist ein Chor und ein Schauspiel, das Freude bereitet, aber gleichzeitig Tränen in die Augen treibt...

Joseph, vor dem diese Unglücklichen stehen, beginnt die Reihen abzugehen und einen nach dem anderen zu fragen, wie viele sie in der Familie sind, seit wann sie Witwen sind, seit wann sie krank sind usw. ... Er macht sich Notizen und gibt seinen Knechten Anordnungen: «Gib ihm dreißig.»

«Gib ihm sechzig», sagt er, nachdem er einen alten Halbblinden angehört hat, der mit siebzehn Enkeln vortritt, alle unter zwölf Jahren, Kinder seiner Kinder, von denen eines im Vorjahr während der Ernte, das andere bei einer Geburt gestorben ist... und der arme Alte fügt hinzu: «Der Schwiegersohn ist nach einem Jahr eine neue Ehe eingegangen und hat seine fünf Kinder zurückgeschickt mit dem Versprechen, er werde für sie sorgen. Aber er hat nie auch nur einen Denar geschickt... Jetzt ist mir auch noch meine Frau gestorben, und ich bin allein... mit diesen...»

«Gib dem alten Vater sechzig, und du, Vater, bleib hier, damit ich dir nachher noch Kleider für die Kleinen geben kann.»

Der Knecht macht die Bemerkung, daß das Korn nicht für alle reichen wird, wenn man einem einzigen bis zu sechzig Garben gibt.

«Und wo ist dein Glaube? Häufe ich vielleicht die Garben für mich auf? Nein, für die Kinder, die dem Herrn am teuersten sind. Der Herr selbst wird dafür Sorge tragen, daß es für alle reicht», antwortet Joseph dem Knecht.

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«Und der Glaube ist der Glaube; und um dir zu beweisen, daß der Glaube alles vermag, ordne ich an, das für die ersten bestimmte Maß zu verdoppeln. Wer zehn hat, soll weitere zehn bekommen, wer zwanzig hat, weitere zwanzig, und der Alte soll nun hundertzwanzig erhalten. Tue, was ich sage. Tut, was ich sage.»

Die Knechte zucken die Achseln und gehorchen.

Die Verteilung geht weiter unter dem freudigen Staunen der Beschenkten, die sehen, daß ihnen ein Maß zuteil wird, das ihre höchsten Erwartungen übertrifft.

Joseph lächelt darüber und streichelt die Kleinen, die sich bemühen, ihren Müttern zu helfen. Er selbst hilft den Krüppeln, ihre kleinen Haufen zurechtzulegen; er hilft den Alten, die zu schwach sind, es zu tun, und den allzu schwächlichen Frauen. Zwei Kranke läßt er zur Seite bringen, um sie noch mit anderen Dingen zu versorgen, wie er es mit dem alten Vater und seinen siebzehn Enkeln getan hat. Die Haufen, die höher als das Haus waren, sind nun sehr klein, fast bis zum Boden geschrumpft. Aber alle haben ihren Anteil in überreichlichem Maß erhalten. Joseph fragt: «Wie viele Garben bleiben nun noch übrig?»

«Hundertzwölf, Herr», sagen die Knechte, nachdem sie den Rest gezählt haben.

«Gut, nehmt davon ...» Joseph geht die Liste der aufgeschriebenen Namen durch und sagt dann: «Nehmt fünfzig davon. Gebraucht sie als Saatgut, denn es ist heiliger Same, und von den restlichen soll jedes Familienoberhaupt eine bekommen. Es sind genau zweiundsechzig Familienoberhäupter.»

Die Knechte gehorchen. Sie bringen die fünfzig Garben im Säulenhof unter und verteilen den Rest. Jetzt liegen auf der Tenne nicht mehr die großen Haufen Goldes, aber auf dem Boden liegen zweiundsechzig Haufen verschiedener Größe, und ihre Eigentümer bemühen sich, sie zu bündeln und auf alte Karren oder magere Esel zu laden, die sie von einem Zaun hinter dem Haus losgebunden haben.

Der alte Abraham, der sich mit den Oberknechten unterhalten hat, nähert sich nun mit diesen dem Besitzer, der ihn fragt: «Und nun? Siehst du? Es hat für alle gereicht, und es ist sogar noch etwas übriggeblieben.»

«Aber Herr! Hier liegt ein Geheimnis vor. Unsere Felder können gar nicht die große Anzahl Garben erbringen, die du verschenkt hast. Ich bin hier geboren und achtundsiebzig Jahre alt. Ich mähe schon seit sechsundsechzig Jahren und weiß Bescheid. Mein Sohn hatte recht, ohne einen geheimnisvollen Eingriff hätten wir gar nicht so viel austeilen können...»

«Aber es ist Wirklichkeit, daß wir es gegeben haben. Abraham, du warst an meiner Seite. Die Garben wurden von den Knechten verteilt. Da

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liegt keine Hexerei vor. Es ist Wirklichkeit. Die Garben lassen sich immer noch zählen. Sie sind noch da, wenn auch in viele Teile aufgeteilt.»

«Ja, Herr, aber... aber es ist nicht möglich, daß die Felder so großen Ertrag geben konnten!»

«Und der Glaube, meine Söhne? Wo bleibt euer Glaube? Hätte der Herr seinen Knecht Lügen strafen können, der in seinem Namen und für einen heiligen Zweck ein Versprechen gab?»

«Dann hast du also ein Wunder gewirkt?!» sagen die Knechte, die schon zu einem Hosannaruf bereit sind.

«Ich bin kein Mann, der Wunder wirkt. Ich bin ein armer Mensch. Der Herr hat es getan. Er hat in meinem Herzen gelesen und dort zwei Wünsche gesehen. Der erste war, euch meinen Glauben zu vermitteln; der zweite, diesen meinen unglücklichen Brüdern recht viel geben zu können. Gott hat meine Wünsche erfüllt... Er sei dafür gepriesen», sagt Joseph mit einer ehrfurchtsvollen Verneigung, als stünde er vor einem Altar.

«Und sein Diener mit ihm», sagt Jesus, der bis dahin hinter einer Hecke, die ein kleines Haus – den Backofen oder die Ölmühle – umgibt, und nun die Tenne betritt, auf der sich Joseph aufhält.

«Mein Herr und Meister!» ruft Joseph aus, während er auf die Knie fällt, um Jesus zu verehren.

«Der Friede sei mit dir! Ich bin gekommen, um dich im Namen meines Vaters zu segnen und deine Liebe und deinen Glauben zu belohnen. Ich bin heute abend dein Gast. Nimmst du mich auf?»

«O Meister, das fragst du mich? Nur... Nur werde ich dir hier nicht die dir gebührende Ehre erweisen können. Hier, in meinem Landhaus, bin ich unter Knechten und Bauern... Ich habe kein gutes Tafelgeschirr. Ich habe keinen Speisemeister und keine fähigen Diener... Ich habe keine besonderen Speisen... keine auserlesenen Weine... keine Freunde... Es wird eine sehr dürftige Gastfreundschaft sein... Aber du wirst entschuldigen ... Herr, warum hast du dich nicht angemeldet? Dann hätte ich vorgesorgt ... Aber vorgestern war Hermas mit den Seinen hier... Ja, ich habe mich seiner bedient, um diese Leute hier zu benachrichtigen, denen ich geben, zurückgeben wollte, was Gottes ist... Aber Hermas hat mir nichts gesagt! Hätte ich es gewußt! ... Erlaube, Meister, daß ich Anweisungen gebe; daß ich versuche, Abhilfe zu schaffen... Warum lächelst du so?» fragt Joseph schließlich, der ganz außer sich ist über die unvorhergesehene Freude und auch über die Situation, die seiner Meinung nach... schrecklich ist.

«Ich lächle über deine unnützen Sorgen. Was suchst du denn, Joseph? Das, was du schon hast?»

«Was ich habe? Ich habe nichts.»

«Oh, wie du jetzt Mensch bist! Warum bist du nicht mehr der geistige Joseph von vorhin, da du als Weiser gesprochen hast? Da du um des Glaubens willen und um Glauben zu geben Versprechungen gemacht hast?»

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«Oh! Hast du das gehört?»

«Gehört und gesehen, Joseph. Die Lorbeerhecke dort ist sehr nützlich, um sehen zu können, daß das, was ich in dich gesät habe, nicht erstorben ist. Deswegen sage ich: Du machst dir unnötige Sorgen. Hast du keinen Speisemeister und keine fähigen Diener? Aber wo Liebe geübt wird, da ist Gott, und wo Gott ist, dort sind seine Engel; und welche Haushofmeister willst du haben, die fähiger sind als sie? Du hast keine auserlesenen Speisen und keinen auserlesenen Wein? Aber welch bessere Speise und welch besseren Trank kannst du mir anbieten als die Liebe, die du für jene und für mich hegst? Du hast keine Freunde, um mich zu ehren? Und diese hier? Welch bessere Freunde kannst du haben als diese Armen und Unglücklichen, Freunde des Meisters, der Jesus heißt? Nicht einmal, wenn Herodes sich bekehren und mir seine Säle öffnen würde, um mich in einem blitzblanken Königssaal zu empfangen und zu ehren, und wenn um ihn die Häupter aller Kasten versammelt wären, hätte ich einen so auserlesenen Hofstaat um mich wie diesen hier, dem auch ich ein Wort und ein Geschenk geben möchte. Erlaubst du das?»

«O Meister! Alles, was du willst, will auch ich. Befiehl.»

«Sag ihnen, sie sollen sich versammeln, auch deine Knechte. Für uns wird es immer ein Stück Brot geben... Besser ist es, wenn sie jetzt meinen Worten lauschen, anstatt mit ihren armseligen Sorgen dahin und dorthin zu laufen.»

Das Volk drängt sich sogleich erstaunt heran...

Jesus spricht: «Ihr habt schon erfahren, daß der Glaube das Getreide vermehren kann, wenn dieser Wunsch der Liebe entspringt. Aber beschränkt euren Glauben nicht auf materielle Bedürfnisse. Gott schuf das erste Weizenkorn; und seitdem setzt das Getreide Ähren an für das Brot der Menschen. Aber Gott schuf auch das Paradies, und dieses erwartet seine Bewohner. Es ist für die geschaffen worden, die nach dem Gesetz leben und ihm trotz der schmerzhaften Prüfungen des Lebens treu bleiben. Habt Glauben, und es wird euch gelingen, euch mit der Hilfe des Herrn heilig zu bewahren, so wie es Joseph gelungen ist, ein doppeltes Maß an Getreide zu verteilen, um euch doppelt glücklich zu machen und seine Knechte im Glauben zu bestärken. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, hätte der Mensch Vertrauen zum Herrn und würde er aus gerechten Beweggründen handeln, nicht einmal die Berge könnten dem Befehl dessen, der an den Herrn glaubt, widerstehen; und obwohl mit ihren Steinmassen in der Erde gegründet, würden sie sich von der Stelle bewegen. Glaubt ihr an Gott?» fragt er und wendet sich damit an alle.

«Ja, Herr!»

«Wer ist euer Gott?»

«Der allerheiligste Vater, wie die Jünger des Gesalbten es lehren.»

«Und Christus, der Gesalbte, wer ist das für euch?»

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«Der Erlöser. Der Meister. Der Heilige!»

«Das allein?»

«Der Sohn Gottes. Aber man darf es nicht sagen, denn die Pharisäer verfolgen uns, wenn wir es sagen.»

«Aber glaubt ihr, daß er es ist?»

«Ja, Herr.»

«Nun, so wachst im Glauben; aber selbst wenn ihr schweigt, werden es die Steine, die Pflanzen, die Sterne, die Erde und alle Dinge verkünden, daß Christus der wahre Erlöser und König ist. Sie werden es verkünden am Tage seiner Aufnahme, wenn er mit heiligstem Purpur bekleidet und mit dem Kranz der Erlösung geschmückt sein wird. Selig, die dies jetzt schon glauben können, sie werden einen noch größeren Glauben an Christus und das ewige Leben erlangen. Habt ihr diesen unerschütterlichen Glauben an Christus?»

«Ja, Herr. Sage uns, wo wir den Gesalbten finden können, und wir wollen ihn bitten, unseren Glauben zu vermehren, um so selig zu werden.»Der letzte Teil der Bitte richten nicht nur die Armen an ihn, sondern auch die Knechte, die Apostel und Joseph.

«Wenn ihr einen Glauben habt wie ein Senfkörnlein und diese kostbare Perle im Herzen bewahrt, ohne sie euch von etwas Menschlichem oder etwas bösem Übermenschlichen rauben zu lassen, dann werdet ihr alle zu diesem prächtigen Jasmin, der den Brunnen Josephs überschattet, sagen können: "Sei entwurzelt und in die Wellen des Meeres verpflanzt."»

«Aber wo ist Christus? Wir erwarten ihn, um geheilt zu werden. Die Jünger haben uns nicht geheilt, sondern gesagt: "Er vermag es." Wir möchten gesund werden, um arbeiten zu können», sagen einige kranke und arbeitsunfähige Männer.

«Und glaubt ihr, daß Christus es vermag?» fragt Jesus, indem er Joseph ein Zeichen gibt, nicht zu sagen, daß er selbst der Messias ist.

«Wir glauben es. Er ist der Sohn Gottes. Er kann alles.»

«Ja, er kann alles... und er will es auch!» ruft Jesus laut, indem er gebieterisch seinen rechten Arm wie zum Schwur ausstreckt und ihn dann wieder senkt mit dem mächtigen Ausruf: «So soll es geschehen zur Ehre Gottes!»

Dann macht er Anstalten, sich dem Haus zuzuwenden. Aber die Geheilten, etwa zwanzig an der Zahl, schreien, eilen herbei und drängen sich in einem Haufen mit ausgestreckten Armen zusammen, um ihn zu berühren, zu lobpreisen, seine Hände und seine Kleider anzufassen und sie zu küssen. Sie trennen ihn von Joseph, von allen...

Jesus lächelt, liebkost, segnet... Langsam macht er sich von ihnen los, und während sie ihm noch immer folgen, verschwindet er im Haus. Die Hosannarufe steigen zum Himmel auf, der sich gerade in der beginnenden Dämmerung rötlich färbt.

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455. SABBAT IM HAUS DES JOSEPH VON ARIMATHÄA; DER SYNEDRIST JOHANNES

Joseph von Arimathäa ruht in einem halbdunklen Raum, da man die Vorhänge zum Schutz gegen die Sonne herabgelassen hat. Vollkommene Stille herrscht im ganzen Haus. Joseph ist auf einem niedrigen, mit Matten versehenen Sitz eingenickt. Ein Diener tritt ein, geht auf den Hausherrn zu und berührt ihn, um ihn aufzuwecken. Joseph öffnet seine verschlafenen Augen und schaut den Diener fragend an. «Meister, dein Freund Johannes ist da ...»

«Mein Freund Johannes?! Wie kann er hier sein, da der Sabbat noch nicht zu Ende ist?» Joseph ist so erstaunt über den Besuch eines Synedristen am Sabbat, daß er gleich hellwach wird. Er befiehlt: «Laß ihn sofort eintreten.»

Der Diener entfernt sich, und Joseph geht in dem halbdunklen, kühlen Raum gedankenvoll auf und ab...

«Gott sei mit dir!» sagt der Synedrist Johannes, den wir schon vom ersten Bankett her kennen, das für Jesus in Arimathäa gegeben wurde, und dem wir auch beim letzten Passahfest im Haus des Lazarus begegnet sind. Wenn er sich auch nicht als Jünger Jesu erwiesen hat, so ist er ihm jedenfalls nicht feindlich gesinnt.

«Und auch mit dir, Johannes! Aber... da ich dich als einen Gerechten kenne, bin ich erstaunt, dich vor Sonnenuntergang hier zu sehen ...»

«Es ist wahr, ich habe das Sabbatgesetz übertreten. Ich habe wissentlich gesündigt, und daher ist es eine große Sünde, für die ich ein entsprechend großes Opfer darbringen muß, um Verzeihung zu erlangen. Aber auch der Grund, der mich dazu verleitet hat, ist sehr wichtig... Jahwe, der gerecht ist, wird Verständnis haben für seinen schuldbeladenen Diener angesichts des wichtigen Grundes, der mich diese Verfehlung hat begehen lassen.»

«Andere Male hast du nicht so gesprochen. Für dich war der Allerhöchste nur Strenge, und du warst vollkommen, weil du ihn als einen unerbittlichen Gott fürchtetest ...»

«Oh! Vollkommen! ... Joseph, ich habe dir nie meine geheimen Verfehlungen gestanden. Aber es ist wahr, ich hielt Gott für unerbittlich, so wie viele in Israel. Man hat uns gelehrt... an die Rache Gottes zu glauben ...»

«Und du hast weiterhin daran geglaubt, auch nachdem der Rabbi gekommen war, um seinem Volk das wahre Antlitz Gottes, sein wahres Herz zu zeigen... Das Antlitz, das Herz eines Vaters ...»

«Es ist wahr. Es ist wahr. Aber... ich hatte ihn noch nicht ausführlich sprechen gehört. Jedoch... du wirst dich erinnern... seit ich ihn zum ersten Mal bei einem Gastmahl in deinem Haus gesehen habe, habe ich ihm Achtung, wenn nicht gar Liebe erwiesen.»

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«Das ist wahr. Aber da ich dir nur Gutes wünsche, möchte ich, daß du ihn wirklich liebst. Achtung ist zu wenig...»

«Du liebst ihn, Joseph, nicht wahr?»

«Ja, und ich sage dir das, obwohl ich weiß, daß die Hohenpriester jene hassen, die den Rabbi lieben. Aber du bist nicht fähig, andere zu verraten...»

«Nein, dazu bin ich nicht fähig... und ich möchte wie du sein. Aber wird es mir je gelingen?»

«Ich werde beten, daß es dir gelingen möge. Es wäre dein ewiges Heil, Freund ...» Dann folgt ein nachdenkliches Schweigen.

Joseph fragt: «Was ist geschehen? Du hast mir gesagt, daß dich ein wichtiger Grund veranlaßt hat, das Sabbatgesetz zu brechen. Darf ich danach fragen, ohne indiskret zu erscheinen? Ich denke mir, daß du gekommen bist, um bei deinem Freund Hilfe zu suchen... und wenn ich dir helfen soll, muß ich wissen...»

Johannes fährt sich mit der Hand über die Stirn. Er hält diese breite Stirn eines reifen Mannes in der Hand, streicht sich mechanisch über die bereits ergrauten Haare, über den dichten, rechteckigen Bart... Dann erhebt er den Kopf, schaut Joseph fest an und sagt: «Ja, ein wichtiger Grund und ein unangenehmer zugleich... und... eine große Hoffnung ...»

«Welche?»

«Joseph, kannst du dir vorstellen, daß mein Haus zu einer Hölle geworden ist und bald nicht mehr ein Haus... sondern ein verwüstetes, verlorenes, zerstörtes Etwas sein wird?»

«Was sagst du da? Du träumst wohl!»

«Nein, ich träume nicht... Meine Frau will mich verlassen... Staunst du darüber?»

«Ja, denn... ich habe sie immer für gut gehalten... und eure Familie schien mir musterhaft zu sein ... Du warst nur Güte... sie, nur Tugend...»

Johannes setzt sich und hält seinen Kopf zwischen den Händen...

Joseph fährt fort: «Nun... diese... Entscheidung... Ich... Sieh, ich kann nicht glauben, daß Anna gefehlt hat... oder daß du gefehlt hast... Aber noch weniger kann ich es von ihr glauben... Sie, die immer nur für das Haus und die Kinder da war! Nein, sie kann keine Schuld treffen! ...»

«Bist du dessen sicher? Ganz sicher?»

«Oh, armer Freund! Ich habe nicht das Auge Gottes, aber soweit ich es beurteilen kann, urteile ich so...»

«Glaubst du nicht, daß Anna untreu sein könnte? ...»

«Anna?! Aber Freund! Hat dir die Hitze zugesetzt? Untreu mit wem? Sie geht nie aus dem Haus. Sie zieht das Land der Stadt vor. Sie arbeitet wie die letzte der Dienerinnen und ist demütig, scheu, fleißig, liebevoll zu dir und zu den Kindern. Eine charakterlose Frau liebt diese Art nicht.

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Glaube es mir. O Johannes, worauf gründest du deinen Verdacht? Und seit wann quält er dich?»

«Von jeher.»

«Von jeher? Aber dann ist dein Verdacht eine Krankheit...»

«Ja, und... Joseph, ich habe viel Unrecht getan. Aber ich will es nicht dir allein bekennen. Vorgestern sind Jünger und arme Leute zu meinem Haus gekommen. Sie sagten, der Rabbi sei auf dem Weg zu dir, und gestern... gestern war ein sehr stürmischer Tag für mein Haus... so daß Anna den Entschluß gefaßt hat, von dem ich dir gesprochen habe... In der Nacht, es war eine schreckliche Nacht, habe ich viel nachgedacht... und bin zu der Einsicht gekommen, daß nur der vollkommene Rabbi...»

«Der göttliche, Johannes, der göttliche!»

«Wie du willst... daß nur er mich heilen kann, mir helfen kann, mein Haus wieder aufzurichten, und mir Anna zurückzugeben vermag... meine Söhne... alles.» Der Mann weint, und unter Tränen fährt er fort: «Denn nur er sieht und sagt die Wahrheit... Ihm werde ich glauben... Joseph, mein Freund, laß mich hier auf ihn warten...»

«Der Meister ist hier. Er wird nach Sonnenuntergang abreisen. Ich werde ihn dir rufen», und Joseph geht hinaus.

Nach einigen Minuten wird der Vorhang des Zimmers wieder zur Seite geschoben und Jesus tritt ein; Johannes erhebt sich zu einem ehrfurchtsvollen Gruß.

«Der Friede sei mit dir, Johannes. Weshalb willst du mich sprechen?»

«Damit du mir hilfst, klar zusehen... und mich rettest. Ich bin sehr unglücklich. Ich habe gegen Gott und gegen mein eigenes Fleisch gesündigt, und durch dieses Sündigen bin ich so weit gekommen, daß ich sogar das Gesetz des Sabbats verletzt habe. Sprich mich los davon, Meister.»

«Das Sabbatgesetz ist zwar ein wichtiges und heiliges Gesetz, und der Gedanke sei fern von mir, es für etwas Unbedeutendes und Veraltetes zu halten; aber warum stellst du es vor das erste der Gebote? Du bittest mich um Lossprechung, weil du das Sabbatgebot übertreten hast, und nicht, weil du gegen die Liebe gefehlt und eine Unschuldige gequält und zur Verzweiflung gebracht hast? Nicht, weil du deine Gemahlin auf die Schwelle der Sünde getrieben hast? Dies sollte dir mehr als jede andere Sünde Sorgen machen. Die Verleumdung, unter der du sie hast leiden lassen...»

«Herr, nur mit Joseph habe ich soeben darüber gesprochen. Mit niemand anderem. So sehr hielt ich meinen Schmerz verborgen, daß Joseph, mein guter Freund, nichts bemerkt hatte und darüber erstaunt war. Jetzt hat er es dir gesagt, aber nur, damit du mir zu Hilfe kommst. Mit niemand anderem wird der gerechte Joseph darüber sprechen.»

«Mit mir hat er nicht darüber gesprochen. Er hat mir nur gesagt, daß du mich suchst.»

«Aber woher weißt du es dann?»

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«Woher ich es weiß? So, wie Gott die Geheimnisse der Herzen kennt. Willst du, daß ich dir den Zustand deines Herzens beschreibe?»

Joseph macht Anstalten, sich diskret zurückzuziehen. Aber Johannes selbst hält ihn zurück mit den Worten: «Oh, bleibe! Du bist mein Freund. Du kannst mir helfen beim Rabbi, du, Brautführer bei meiner Hochzeit!»Joseph kehrt zu den beiden zurück.

«Willst du, daß ich es dir sage? Soll ich dir helfen, dich selbst zu erkennen? Oh, fürchte dich nicht. Meine Hand ist nicht grausam. Ich kann die Wunden aufdecken und sie heilen, ohne sie bluten zu machen. Ich habe Verständnis und Mitleid. Ich kann heilen, vorausgesetzt, daß man geheilt werden will. Du hast diesen guten Willen. Daher hast du mich ja auch aufgesucht. Setze dich hierhin, zwischen mich und Joseph. Er war Brautführer bei deiner irdischen Vermählung. Ich möchte es bei deiner geistigen sein... Oh! Und ob ich es möchte! ... So, und nun höre gut zu und antworte ehrlich auf alles. Glaubst du, daß Gott gut oder schlecht daran getan hat, den Menschen als Mann und Frau zu erschaffen, damit sie sich vereinigen?»

«Gut, Herr; denn alles von Gott Geschaffenes ist gut.»

«Du hast richtig geantwortet. Nun sage mir: Wenn der Akt gut war, welche Folgen konnte er dann haben?»

«Ebenfalls gute, Herr, und gut sind sie, obwohl Satan dazwischentrat, um zu verwirren; denn Adam hatte immer in Eva eine Stütze, und Eva in Adam, und diese Stütze wurde noch viel fühlbarer, als sie, auf die Erde verbannt, allein aufeinander angewiesen waren. Gut waren auch die materiellen Folgen, d.h. die Nachkommenschaft, wodurch das Menschengeschlecht sich vermehrte und die Macht und Güte Gottes noch heller erstrahlte.»

«Warum? Welche Macht und Güte?»

«Die ... die zugunsten der Menschen wirkte. Wenn wir zurückschauen... ja ... dann sehen wir wohl gerechte Strafen, aber noch viel zahlreicher sind die Erweise seiner Güte... Eine unermeßliche Güte liegt in dem Bund, den Gott mit Abraham schloß und der dann mit Jakob und weiter bis zum heutigen Tage erneuert wurde; der von aufrichtigen Stimmen wiederholt wurde, von den Propheten... bis zu Johannes ...»

«Und vom Rabbi, Johannes», unterbricht ihn Joseph.

«Das ist nicht die Stimme eines Propheten... nicht nur die Stimme eines Meisters... Sie ist mehr.»

Jesus hat ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen angesichts dieses beschränkten Glaubensbekenntnisses des Synedristen, der es noch nicht fertigbringt zu sagen "göttliche Stimme" ' es aber schon denkt.

«Also hat Gott wohl daran getan, Mann und Frau zu vereinigen. Das ist damit ausgesprochen. Aber wie wollte er Mann und Frau haben?»

«Als ein Fleisch.»

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«Nun gut. Kann aber das Fleisch sich selbst hassen?»

«Nein.»

«Kann ein Glied sich vom anderen trennen?»

«Nein. Nur Brand, Aussatz oder ein Unglück können ein Glied vom Rest des Körpers trennen.»

«Sehr gut. Also, nur etwas Schmerzhaftes oder Bösartiges kann das trennen, was durch den Willen Gottes eine Einheit ist?»

«So ist es, Meister.»

«Wenn du davon überzeugt bist, wie kannst du dann dein Fleisch nicht lieben? Wie kannst du es so sehr hassen, daß eine Gangrän zwischen dem einen und dem anderen Glied entsteht, wodurch das schwächere Glied in Fäulnis übergeht, sich vom Körper löst und dich alleinläßt?»

Johannes neigt schweigend sein Haupt und zupft an den Fransen seines Gewandes.

«Ich werde es dir sagen, wie es dazu gekommen ist. Satan, der ewige Unruhestifter, ist zwischen dich und deine Frau getreten. Vielmehr: er ist in dich eingedrungen durch die ungeordnete Liebe zu deiner Frau. Wenn die Liebe ungeordnet ist, wird sie Haß, Johannes. Satan hat deine Sinnlichkeit als Mann benützt, um dich zur Sünde zu verleiten. Denn dort hat deine Sünde begonnen; bei einer Unordnung, die immer neue und größere Unordnung nach sich gezogen hat. In der Frau hast du nicht nur die gute Gefährtin und Mutter deiner Kinder gesehen, sondern auch den Gegenstand deiner Lust, und das hat dir die Augen eines wilden Stiers gegeben, der alles verzerrt sieht. Du hast das gesehen, was du sehen wolltest, und da du deine Frau zum Gegenstand deiner Lust gemacht hattest, dachtest du, daß sie es auch für die anderen sei. Daher rühren deine fieberhafte Eifersucht, deine grundlose Furcht, deine sündhafte Gewalttätigkeit, die aus ihr eine verschüchterte, eingekerkerte, gequälte und verleumdete Frau gemacht haben. Was ändert es, daß du sie zwar nicht schlägst und öffentlich tadelst, sie aber sozusagen durch deinen Verdacht prügelst? Dein Zweifel ist eine Verleumdung! Du verleumdest sie, da du denkst, daß sie imstande wäre, dich zu betrügen. Was hilft es, wenn du sie behandelst, wie ihr Rang es dir vorschreibt? In deinem Haus ergeht es ihr wegen deiner tierischen Lust, die sie maßlos erniedrigt, schlimmer als einer Sklavin. Sie hat alles stets schweigend und gehorsam ertragen in der Hoffnung, dich zu überzeugen, zu beruhigen und zu ändern. Aber all das hat dich nur immer zorniger werden lassen, bis du aus deinem Heim eine Hölle gemacht hast, in dem die Dämonen der Wollust und der Eifersucht hausen. Die Eifersucht! Gibt es etwas Schmählicheres für eine Frau als die Eifersucht? Gibt es einen besseren Zeugen für den wirklichen Seelenzustand als die Eifersucht? Glaube mir: wo sie sich einnistet, so töricht, unvernünftig, unbegründet, beleidigend und hartnäckig, da gibt es keine Nächstenliebe und keine Gottesliebe mehr, sondern nur Egoismus. All dies sollte dich

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beunruhigen, nicht eine kleine Übertretung des Sabbatgebotes. Um Verzeihung zu erlangen, mußt du wiedergutmachen, was du durch deine zerstörerischen Zweifel angerichtet hast...»

«Aber Anna will mich nun verlassen... Komm und überrede sie... Du allein kannst, wenn du sie sprechen hörst, beurteilen, ob sie wirklich unschuldig ist und...»

«Johannes! Du willst geheilt werden und doch nicht an das glauben, was ich sage?»

«Du hast recht, Meister. Ändere mein Herz. Es ist wahr, ich habe keinen triftigen Grund, sie zu verdächtigen. Aber ich liebe sie so sehr... auf wollüstige Art, das ist wahr... Du hast richtig gesehen... und alles umschattet sich für mich...»

«Begib dich ins Licht. Verlasse die feurige Hülle der wilden Sinnlichkeit. Anfänglich wird es dich etwas kosten... Aber viel mehr würde es dich kosten, eine gute Frau zu verlieren und die Hölle zu verdienen als Strafe für deine Sünden der Lieblosigkeit und der Verleumdung, des Ehebruchs und der Untreue. Erinnere dich daran: Wer eine Frau zur Scheidung treibt, bringt sie und sich selbst auf den Weg des Ehebruchs. Wenn du einen Monat, wenigstens einen Monat lang deinem Dämon zu widerstehen vermagst, dann wird dein Alptraum ein Ende haben, das versichere ich dir. Versprichst du mir, daß du dich bemühen wirst?»

«O Herr! Herr! Ich möchte es... Aber es ist ein Feuer... Lösche es. Du hast die Macht dazu! ...» Der Synedrist ist vor Jesus auf die Knie gesunken und weint, wobei er seinen Kopf in den auf den Boden gestützten Händen hält.

«Ich werde es dir dämpfen und einschränken. Ich werde diesen Dämon zügeln und ihm Grenzen setzen. Aber du hast viel gesündigt, Johannes, und mußt selbst an deiner Auferstehung mitwirken. Die von mir Bekehrten sind zu mir gekommen in der ernsten Absicht, sich zu erneuern und befreit zu werden... Sie hatten schon aus eigener Kraft begonnen, an ihrer Auferstehung zu arbeiten. So Matthäus, so Maria des Lazarus und andere. Du bist nur hierher gekommen, um zu erfahren, ob deine Frau schuldig sei, und damit ich dir helfe, die Quelle nicht zu verlieren, an der du deine Wollust stillst. Ich werde die Macht deines Dämons nicht für einen, sondern für Monate lang beschränken... Während dieser Zeit denke nach und bessere dich. Nimm dir vor, ein neues Eheleben zu beginnen, das Leben eines Menschen mit einer Seele und nicht das Leben eines Unmenschen, wie du es bisher geführt hast. Gestärkt durch Gebet und Betrachtung und durch den Frieden, den ich dir für drei Monate gewähre, wisse zu kämpfen, das ewige Leben zu erwerben und die Liebe und den Frieden deiner Gattin und des Hauses wiederzugewinnen. Nun, geh hin.»

«Was soll ich Anna sagen? Vielleicht finde ich sie schon zur Abreise bereit ? ... Welche Worte nach so vielen Jahren der... Beleidigungen, um sie

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zu überzeugen, daß ich sie liebe und daß ich sie nicht verlieren will? Komm du...»

«Ich kann nicht. Aber es ist so einfach... Sei demütig! Rufe sie beiseite und bekenne ihr deine Qual. Sage ihr, daß du zu mir gekommen bist, um von Gott Verzeihung zu erlangen, und bitte sie, dir zu verzeihen, weil die Verzeihung Gottes dir nur gewährt wird, wenn sie ihn für dich anruft und dir als erste vergibt... Oh, du Unglücklicher! Wieviel Gutes, wieviel Frieden hast du durch dein Fieber verloren! Wieviel Unheil gebiert die Unbeherrschtheit der Sinne, die Unordnung der Gefühle! Steh auf und geh beruhigt. Verstehst du denn nicht, daß sie, gerade weil sie gut und dir treu ergeben ist, mehr als du selbst leidet bei dem Gedanken, dich zu verlassen, und daß sie nur auf ein Wort von dir wartet, um dir sagen zu können: "Alles ist dir verziehen."? Auf, geh nun. Die Sonne ist bereits untergegangen. Begehe also keine Sünde, wenn du jetzt in dein Haus zurückkehrst... Von jener Sünde, am Sabbat zu deinem Erlöser gekommen zu sein, spricht dich dein Erlöser los. Geh hin in Frieden und sündige nicht mehr.»

«Oh, Meister! Meister! ... Ich verdiene diese Worte nicht! ... Meister... ich will dich von nun an lieben...»

Ja, ja. Geh nun, und erinnere dich dieser Begegnung zu jener Stunde, da ich der unschuldig Verleumdete sein werde.»

«Was willst du damit sagen?»

«Nichts. Geh und leb wohl.» Hierauf zieht Jesus sich zurück und läßt die beiden Synedristen allein, die bewegt und begeistert sind in dem Bewußtsein, daß er wahrhaft heilig und weise ist, wie nur Gott es sein kann.

456. DIE APOSTEL SPRECHEN MITEINANDER

«Ich kann die Stunde nicht erwarten, da wir in den Bergen sein werden!» ruft Petrus aus, indem er schnauft und sich den Schweiß abtrocknet, der ihm an Wangen und Hals herabläuft.

«Wieso? Du hast die Berge doch immer gehaßt, und jetzt sehnst du dich nach ihnen?» fragt Judas Iskariot sarkastisch, der nun keine Angst mehr hat, entdeckt zu werden und wieder dreist und überheblich geworden ist.

«Ja, genau. Jetzt sehne ich mich nach ihnen. In dieser Jahreszeit sind sie einem wohlgesinnt... nie wie mein See... der, ahh! ... aber immerhin... Ich weiß wirklich nicht, weshalb die Felder nach der Ernte wärmer sind als zuvor. Die Sonne ist doch dieselbe...»

«Sie sind eigentlich nicht wärmer. Aber sie sehen trauriger aus, und ihr Anblick ermüdet mehr, als wenn sie Korn tragen», antwortet der kluge Matthäus.

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«Nein, Simon hat recht. Sie sind unerträglich heiß nach der Ernte. Nie habe ich eine solche Hitze erlebt», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Nie? Hast du den Tag vergessen, an dem wir zu Nike gegangen sind?»entgegnet Judas von Kerioth.

«Auch der war nicht so heiß wie dieser», antwortet Andreas.

«Selbstverständlich! Der Sommer ist um vierzig Tage fortgeschritten, und die Sonne brennt dementsprechend», sagt Judas hartnäckig.

«Es ist eine Tatsache, daß die Stoppeln mehr Hitze abgeben, als wenn Ähren auf dem Feld sind. Die Sonne, die vorher von den Ähren aufgefangen wurde, erhitzt nun direkt das kahle, verbrannte Erdreich, das die Hitze wieder zurückwirft als Antwort auf die immer neuen Sonnenstrahlen, die von oben kommen, und so ist der Mensch zwischen zwei Feuern», erklärt Bartholomäus.

Iskariot lacht ironisch und verbeugt sich vor seinem Begleiter, indem er sagt: «Rabbi Nathanael, ich grüße dich und danke dir für deine Lehre.» Seine Worte sind überaus beleidigend.

Bartholomäus schaut ihn an... und schweigt. Aber Philippus verteidigt ihn: «Du brauchst gar nicht so ironisch zu sein! Er hat ganz richtig gesprochen! Du wirst doch sicher nicht eine Wahrheit leugnen wollen, die Millionen von Menschen mit Verstand für logisch und einleuchtend halten.»

«Aber ja! Ja! Ich weiß, aber ich weiß doch, daß ihr gelehrt, erfahren, vernünftig, gut und vollkommen seid... Alles seid ihr! Alles! Nur ich bin das schwarze Schaf in der weißen Herde! ... Nur ich bin derjenige, der sich als Schandtier entpuppt und Bockshörner aufsetzt ... Ich allein bin der Sünder, der Unvollkommene, die Ursache aller Übel unter euch, in Israel, in der Welt... und vielleicht auch im Universum... Ich halte es nicht mehr aus! Immer sehen zu müssen, daß ich der letzte bin; immer sehen zu müssen, daß Nullen, wie die beiden Dummköpfe, die gerade mit dem Meister sprechen, als heilige Orakel bewundert werden. Ich bin es leid ...»

«Höre Bursche! ...» beginnt Petrus, den eher die Anstrengung, sich zu beherrschen, als die Hitze rot werden läßt.

Doch Thaddäus unterbricht ihn: «Mißt du die anderen mit deinem Maßstab? Strebe danach, eine "Null" zu sein, wie mein Bruder Jakobus und Johannes des Zebedäus, dann wird es keine Unvollkommenheiten mehr in der Gruppe der Apostel geben.»

«Habe ich nicht recht? Die Unvollkommenheit bin immer ich! Aber jetzt ist es mir zu viel! Es ist...»

«Ja, ich glaube in der Tat, daß Joseph uns zu viel Wein eingeschenkt hat... und bei dieser Hitze setzt er dir zu ...» sagt Thomas ganz gelassen, um den Streit, der zu entbrennen droht, ins Lächerliche zu ziehen.

Aber Petrus hat die Geduld verloren und sagt mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten, um sich zu bezwingen: «Höre, Bursche.

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Für dich wäre jetzt nur eines ratsam: dich ein wenig von uns zu trennen ...»

«Ich? Ich soll mich von euch trennen? Auf deinen Befehl hin? Nur der Meister kann mir befehlen, und ihm allein gehorche ich. Wer bist du denn schon? Ein armer ...»

«Unwissender, grober und nichtsnutziger Fischer. Du hast recht... Das habe ich mir schon vor dir gesagt, und vor dem allgegenwärtigen und allwissenden Jahwe bekenne ich, daß ich lieber der Letzte als der Erste sein würde. Ich bekenne, daß ich lieber dich oder einen anderen an meiner Stelle sehen würde, aber dich mehr als jeden anderen, damit du befreit wirst von dem Scheusal der Eifersucht, das dich ungerecht werden läßt, und ich nichts anderes zu tun brauchte, als zu gehorchen. Glaube mir, es würde mich weniger Mühe kosten, als selbst als der "Erste" zu sprechen. Aber er, der Meister, hat mich zum "Ersten" unter euch gemacht... Ihm muß ich zuallererst und mehr als jedem anderen gehorchen... und auch du mußt gehorchen. Mit meinem hausbackenen Verstand eines Fischers fordere ich dich nicht auf, dich ganz von uns zu trennen, wie du es verstanden hast, da du überall Feuer siehst, sondern dich ein wenig von uns zu entfernen und alleine nachzudenken. Warst du nicht auch auf dem Weg von Bether in die Täler immer der Letzte? Tue dasselbe auch jetzt... Der Meister vorn... und du der Letzte... Wir, die Nullen, in der Mitte... Es bleibt einem nichts anderes übrig, als etwas allein zu sein, um zu verstehen und sich zu beruhigen... Höre auf mich... Es ist besser für alle, für dich am allermeisten...» Dann packt er ihn an einem Arm und zieht ihn aus der Gruppe heraus mit den Worten: «Hier, bleibe hier stehen, während wir den Meister einholen, und dann komm ganz langsam herauf... Du wirst sehen, daß das Gewitter vorübergeht.» Er läßt ihn zurück, um den Gefährten nachzulaufen, die einige Meter weitergegangen sind.

«Uff! Das Reden mit ihm bringt mich mehr ins Schwitzen als das Wandern... Was für ein Charakter! Wird je etwas Anständiges aus ihm werden können?»

«Nie, Simon. Mein Bruder besteht darauf, ihn bei sich zu behalten, aber... er wird nie etwas Gutes zustandebringen», entgegnet ihm Judas Thaddäus.

«Eine schöne Geißel haben wir da unter uns!»murmelt Andreas und fügt hinzu: «Ich und Johannes, wir schweigen fast immer aus Furcht vor neuen Streitereien.»

«Das ist wirklich das Beste», sagt Bartholomäus.

«Mir gelingt es nicht, zu schweigen», bekennt Thaddäus.

«Auch mir gelingt es nur schwerlich, aber ich habe ein geheimes Mittel gefunden, mit dem ich mir helfe», sagt Petrus.

«Welches? Lehre es uns...» sagen alle.

«Wie ein Ochs vor dem Pflug arbeiten... Eine unnütze Arbeit

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vielleicht... die aber dazu dient, das, was in mir kocht, auf etwas zu lenken, was nicht Judas ist.»

«Ach, ich habe verstanden! Deswegen hast du beim Abstieg ins Tal all die Pflanzen ausgerissen. War es deswegen?» fragt Jakobus des Zebedäus.

«Ja, deswegen ... Aber heute... konnte ich hier nichts zerbrechen, ohne Schaden anzurichten. Hier gibt es nur Obstbäume, und es hätte mir leid getan, sie zu beschädigen... Es hat mich dreimal so viel Mühe gekostet, mich selbst zu zerbrechen, um... um nicht der alte Simon von Kapharnaum zu sein... Meine Knochen schmerzen noch jetzt ...»

Bartholomäus und der Zelote bezeugen Petrus die gleiche Sympathie und umarmen ihn mit denselben Worten: «Und du staunst darüber, daß er dich zum "Ersten" unter uns gemacht hat? Du bist unser Lehrmeister...»

«Ich? Wegen dem, was ich gesagt habe? ... Unsinn. Ich bin ein armer Mensch... und möchte nur, daß ihr mich liebt und mir eure weisen, eure liebevollen und schlichten Ratschläge gebt. Liebe und Einfalt, damit ich werde wir ihr... und einzig aus Liebe zu ihm, der schon so viel Leid zu tragen hat ...»

«Du hast recht: damit wenigstens wir ihm kein Leid bereiten!» ruft Matthäus aus.

«Ich war sehr erschrocken, als Johanna ihn hat rufen lassen. Wißt ihr zwei wirklich nichts, ihr, die ihr vorausgegangen seid?» fragt Thomas.

«Nein, wirklich nicht. Aber ganz für uns haben wir gedacht, daß der, der hinter uns geht... etwas eingebrockt hat», antwortet Petrus.

«Schweig! Mir kam derselbe Gedanke, als ich den Meister am Sabbat sprechen hörte», bekennt Judas Thaddäus.

«Mir auch», fügt Jakobus des Zebedäus hinzu.

«Sich einer an! ... Ich habe nicht daran gedacht... nicht einmal, als ich Judas damals am Abend so finster und ungezogen sah», sagt Thomas.

«Gut. Sprechen wir nicht weiter darüber und versuchen wir, ihn... mit viel Liebe und vielen Opfern zu bessern, wie Margziam es uns gelehrt hat...» sagt Petrus.

«Was wird Margziam wohl machen?» fragt Andreas lächelnd.

«Nun, bald werden wir bei ihm sein. Ich kann die Stunde kaum erwarten... Dieses Getrenntsein von ihm fällt mir wirklich schwer.»

«Wer weiß, weshalb der Meister es wünscht; denn jetzt... könnte er schon bei uns bleiben, der Margziam. Er ist kein Kind mehr, noch ist er zu schwach», bemerkt Jakobus des Zebedäus.

«Und schließlich... wenn er letztes Jahr einen so weiten Weg zurückgelegt hat, als er noch mager und zart war, dann könnte er erst recht jetzt mit uns wandern», sagt Philippus.

«Ich glaube, daß es geschieht, damit er gewisse Spitzbübereien nicht mitzuerleben braucht», sagt Matthäus.

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«Oder damit gewisse Kontakte vermieden werden», murmelt Thaddäus, der Judas Iskariot ganz und gar nicht leiden kann.

«Vielleicht habt ihr alle beide recht», sagt Petrus.

«Aber nein! Es wird geschehen, um ihn kräftiger werden zu lassen. Ihr werdet sehen, daß er nächstes Jahr bei uns ist», versichert Thomas.

«Nächstes Jahr! Wird wohl der Meister im nächsten Jahr noch bei uns sein?» fragt Bartholomäus gedankenvoll. «Mir scheinen seine Gespräche so vielsagend zu sein ...»

«Sag das nicht!» flehen die anderen.

«Ich möchte es nicht sagen. Aber das Schweigen kann nicht fernhalten, was angekündigt ist.»

«Nun ja... Ein Grund mehr, uns in diesen Monaten sehr zu bessern... um ihm keinen Kummer zu machen und bereit zu sein. Ich will ihm sagen, daß er uns während unseres Aufenthaltes in Galiläa oft belehren soll, besonders uns zwölf... Wir werden ja nun bald dort sein...»

«Ja, und ich kann es kaum erwarten. Ich bin schon älter, und die Märsche in dieser Hitze bereiten mir viele verborgene Unannehmlichkeiten», bekennt Bartholomäus.

«Mir auch. Ich bin lasterhaft gewesen und älter als meine Jahre. Die Ausschweifungen... Ja, jetzt spüre ich sie alle in meinen Knochen ... und wir Söhne des Levi leiden sozusagen von Natur aus an Schmerzen ...»

«Und ich? Ich bin jahrelang krank gewesen... und dieses Leben in den Höhlen mit karger, elender Nahrung. Nun spüre ich die Folgen...» sagt der Zelote.

«Aber du hast doch immer gesagt, daß du dich nach deiner Heilung stets stark und gesund gefühlt hast?» fragt hinter seinem Rücken Judas, der sie wieder eingeholt hat. «Hat die Wirkung des Wunders vielleicht aufgehört?»

Das unschöne eindrucksvolle Gesicht des Zeloten hat einen charakteristischen Ausdruck, als ob er sagen wollte: «Er ist hier, Herr! Gib mir Geduld!» Doch er antwortet sehr freundlich: «Nein, die Wirkung des Wunders hat nicht aufgehört, und man sieht es auch. Ich bin nicht mehr krank geworden. Ich bin stark und widerstandsfähig; aber die Jahre sind nun einmal Jahre, und Mühsale sind eben Mühsale. Zudem diese Hitze, die uns zum Schwitzen bringt, als wären wir in einen Wassergraben gefallen, und die Nächte, die im Vergleich zur Hitze des Tages eisig kalt sind, während der Tau die Gewänder anfeuchtet, die schon von Schweiß durchtränkt sind, all das tut mir sicher nicht gut. Ich kann die Stunde kaum erwarten, da ich mich etwas ausruhen und erholen kann. Morgens, besonders wenn ich unter freiem Himmel schlafe, bin ich immer ganz steif. Wenn ich schwer krank werde, wem nütze ich dann noch?»

«Du kannst durch dein Leiden nützlich sein. Er sagt ja immer, daß das Leiden so wertvoll ist wie Arbeit und Gebet», antwortet Andreas.

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«Nun gut. Aber ich ziehe es doch vor, ihm als Apostel zu dienen und ...»

«So bist also auch du müde; gestehe es nur. Du bist es müde, dieses Leben fortzusetzen ohne Aussicht auf gute Stunden, vielmehr mit Aussicht auf Verfolgungen und... Niederlagen. Beginne darüber nachzudenken, daß du dich der Gefahr aussetzest, wieder ein Geächteter zu werden», sagt Judas von Kerioth.

«Ich bedenke nichts. Ich sage nur, daß ich fühle, daß ich krank werde.»

«Oh! Wie er dich doch gut geheilt hat!» lacht Judas ironisch.

Bartholomäus merkt, das sich ein neuer Streit anbahnt, und er kommt dem zuvor, indem er sich laut an Jesus wendet: «Meister! Gibt es nichts für uns? Du gehst uns immer voraus! ...»

«Du hast recht, Bartholomäus. Aber jetzt machen wir halt. Siehst du das Häuslein? Dort wollen wir hingehen, denn die Sonne brennt zu stark. Am Abend werden wir dann wieder aufbrechen. Wir müssen uns beeilen, nach Jerusalern zurückzukehren, denn Pfingsten steht vor der Tür.»

«Worüber habt ihr miteinander geredet?» fragt Judas Thaddäus seinen Bruder.

«Ach, wir haben damit angefangen, über Joseph von Arimathäa zu sprechen, und haben damit geendet, über das alte Landgut des Joachim von Nazareth zu reden und über seine Gewohnheit, die Hälfte der Ernte für sich zu behalten und den Rest an die Armen zu verteilen, solange er es konnte. Die Alten von Nazareth erinnern sich noch gut daran. Welche Enthaltsamkeit haben sich diese beiden Gerechten doch auferlegt! Mit Gewalt haben sie sich so das Wunder einer Tochter, dieser Tochter, errungen! ... Dann habe ich mit Jesus von den Zeiten gesprochen, als wir noch Kinder waren...» Die Erzählung wird fortgesetzt, während sie sich durch die sonnenbeschienenen Felder dem Hause nähern.

457. DAS WUNDER DER ÄHRENLESE IN DER EBENE

Jesus schreitet mit seinen Jüngern durch goldgelbe Kornfelder. Es ist schon sehr heiß, obwohl die Sonne erst vor einigen Stunden aufgegangen ist. Die Schnitter mähen die Halme voller Ähren und hinterlassen leere Flächen im Gold dieses Getreidemeeres. Die Sensen glänzen jeweils einen Augenblick in der Sonne und verschwinden dann wieder zwischen den hohen Ähren, um kurz darauf, wieder nur einen Augenblick, an einer anderen Stelle aufzutauchen. Ein Büschel Ähren neigt sich und legt sich auf das warme Erdreich nieder, als wolle es vom monatelangen Aufrechtstehen ausruhen.

Frauen kommen vorüber und binden hinter den Schnittern die Garben.

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In der ganzen Umgegend ist man mit dieser Arbeit beschäftigt. Die Ernte ist außerordentlich gut, und die Schnitter freuen sich darüber.

Viele der Schnitter stellen beim Vorübergehen der apostolischen Gruppe eine Weile ihre Arbeit ein, stützen sich auf die Sensen, wischen sich den Schweiß von der Stirn und schauen. Auch die Frauen, welche die Garben binden, schauen auf. Mit ihren hellen Gewändern, die Köpfe mit weißen Kopftüchern bedeckt, gleichen sie großen Blumen auf dem Feld, das nun seines Korns und seiner Mohn-, Korn- und Margeritenblumen beraubt ist. Die Männer in ihren kurzen, grauen oder gelblichen Tuniken sind weniger auffallend. Sie tragen nur ein helles Kopftuch, das von einer Schnur gehalten wird und über Rücken und Wangen herniederwallt. Von diesem Weiß umgeben, scheinen die von der Sonne gebräunten Gesichter noch dunkler.

Jesus sieht, daß er beobachtet wird und grüßt im Vorübergehen mit den Worten: «Der Friede und der Segen Gottes sei mit euch», und die anderen antworten: «Der Segen Gottes kehre auf dich zurück», oder einfach: «Und auch mit dir.»

Einige, die gesprächiger sind, weisen Jesus auf die Ernte hin und sagen: «Sie war gut dieses Jahr. Schau, wie groß die Ähren sind und wie dicht sie in den Furchen stehen. Es ist mühsam, sie zu mähen, aber es ist Brot! ...»

«Seid dem Herrn dankbar dafür. Ihr wißt ja, daß man seine Dankbarkeit nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten bezeugen muß. Seid barmherzig bei dieser eurer Ernte und denkt an den Allerhöchsten, der Barmherzigkeit geübt hat, indem er euren Feldern genügend Tau und Sonnenwärme geschenkt hat, damit ihr viel Getreide ernten könnt. Denkt an das Gebot des Deuteronomium. Denkt, während ihr den Reichtum erntet, den Gott euch geschenkt hat, an jene, die nichts besitzen, und laßt ihnen etwas vom Eurigen zurück. Heilige Täuschung ist diese Liebe zum Nächsten, und Gott sieht es. Besser ist es, etwas zurückzulassen, als alles gierig einzusammeln. Gott segnet die Großherzigen. Geben ist seliger als nehmen, denn es verpflichtet den gerechten Gott, dem, der Barmherzigkeit geübt hat, einen noch reicheren Lohn zu geben.»

Jesus geht weiter und wiederholt seine Ermahnungen zur Liebe.

Die Sonne wird heißer, und die Schnitter unterbrechen ihre Arbeit. Jene, die in der Nähe ihrer Häuser sind, begeben sich zu diesen. Die entfernter Wohnenden versammeln sich im Schatten der Bäume und ruhen dort aus, essen und schlummern ein wenig.

Auch Jesus zieht sich in einen kleinen, dichten Wald mitten in der Landschaft zurück. Auf dem Rasen sitzend, und nachdem er gebetet hat, opfert er das karge Mahl, Brot, Käse und Oliven auf und verteilt alles unter seine Jünger, während er mit ihnen spricht.

Hier ist Schatten, Kühle und eine tiefe Stille. Die Stille der heißen Stunden. Eine Stille, die zum Schlafen einlädt, und wirklich, die meisten nicken nach dem Essen ein.

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Jesus nicht. Er ruht sich aus, indem er sich, den Rücken an einen Baum gelehnt, für die Arbeit der Insekten auf den Blumen interessiert. Nach einer Weile gibt er Johannes, Judas Iskariot und dem schon bejahrten Bartholomäus ein Zeichen. Als er sie um sich geschart hat, sagt er: «Beobachtet doch einmal, welche Arbeit dieses kleine Insekt leistet. Schaut. Schon seit geraumer Zeit beobachte ich es. Es will diesem kleinen Blumenkelch den Honig rauben, aber der Kelch ist zu eng, um in ihn eindringen zu können. Was macht das Tierchen also? Es streckt zuerst ein Füßchen und dann das andere aus, taucht sie in den Honig und nährt sich damit. In wenigen Augenblicken wird es den Kelch geleert haben. Seht, wie wunderbar die Vorsehung Gottes ist. In dem Bewußtsein, daß das Insekt, das er dazu geschaffen hat, ein fliegender Chrysolith auf dem Grün der Wiesen zu sein, sich ohne einen genügend langen Rüssel nicht hätte ernähren können, hat Gott seine Füßchen mit ganz kleinen Härchen versehen. Seht ihr sie? Auch du, Bartholomäus? Nein? Schau: ich werde es jetzt nehmen und gegen das Licht halten.» Ganz vorsichtig nimmt er den Käfer, der aus gebräuntem Gold zu sein scheint, und legt ihn innerhalb der Handfläche auf den Rücken. Der Käfer stellt sich tot, und die drei betrachten seine Pfötchen. Dann fängt er an zu zappeln, um zu entfliehen. Es gelingt ihm natürlich nicht; aber Jesus hilft ihm und setzt ihn wieder auf die Füßchen. Das Tierchen wandert über die Handfläche, geht bis zu den Fingerspitzen, schüttelt sich und öffnet die Flügel. Aber es ist mißtrauisch. «Es weiß nicht, daß ich es gut mit ihm meine wie mit allen Lebewesen. Es hat nur seinen kleinen Instinkt, der vollkommen ist, wenn man ihn im Hinblick auf seine Natur betrachtet, und der für all seine Bedürfnisse ausreicht; aber wie gering ist er gegenüber dem Menschenverstand. Daher ist das Insekt nicht verantwortlich, wenn es etwas Böses tut. Beim Menschen ist das anders. Er hat ein höheres Verstandeslicht, und wird es um so mehr besitzen, je mehr er in göttlichen Dingen unterrichtet ist. Daher ist er für sein Tun verantwortlich.»

«Dann, Meister», sagt Bartholomäus, «haben wir, die wir von dir unterwiesen werden, wohl eine große Verantwortung?»

«Eine sehr große, die noch anwachsen wird, wenn das Opfer vollbracht ist und die Erlösung und mit ihr die Gnade, die Kraft und das Licht ist, gekommen sind. Dann wird der kommen, der euch noch mehr verstehen lassen wird. Wer dann das Gute immer noch zurückweist, wird eine große Verantwortung haben.»

«Dann werden also nur wenige gerettet werden!»

«Warum, Bartholomäus?»

«Weil der Mensch so schwach ist!»

«Aber wenn er seine Schwäche durch das Vertrauen auf mich festigt, wird er stark. Glaubt ihr, daß ich eure inneren Kämpfe nicht verstehe? Sollte ich kein Mitleid haben mit euren Schwächen? Seht, Satan ist wie

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diese Spinne, die von dem Ast hier zu dem Stengel dort ihr Netz gespannt hat. Es ist so fein und heimtückisch. Schaut, wie dieser Faden glänzt. Er scheint aus überaus feinem Silberfiligran zu sein. Er wird in der Nacht unsichtbar, und am Morgen glänzt er wieder im Schmuck vieler Perlen, und die unklugen Fliegen, die in der Nacht auf der Suche nach unreiner Nahrung umherirren, verfangen sich darin, wie auch die leichtsinnigen Schmetterlinge, die von allem, was glänzt, angelockt werden ...»

Andere Apostel haben sich genähert und lauschen der Lehre, die dem Pflanzen- und Tierreich entnommen ist.

«... Nun, meine Liebe tut mit Satan, was jetzt meine Hand tut. Sie zerstört das Netz. Schaut, wie die Spinne flieht und sich versteckt. Sie hat Angst vor dem Stärkeren. Auch Satan fürchtet sich vor dem Stärkeren, und der Stärkere ist die Liebe.»

«Wäre es nicht besser, die Spinne zu töten?» sagt Petrus, der immer sehr praktisch in seinen Schlüssen ist.

«Es wäre besser. Aber die Spinne tut ihre Pflicht. Es ist wahr, daß sie die armen bunten Schmetterlinge tötet; aber sie bringt auch eine große Anzahl von schädlichen Insekten um, die Krankheitserreger von kranken auf gesunde, von toten auf lebende Körper übertragen.»

«Aber was tut in unserem Fall die Spinne?»

«Was sie tut, Simon?» (Simon ist schon alt. Es ist der, der über Rheumatismus geklagt hat.) «Sie tut das, was der gute Wille in euch wirkt. Sie rottet die Trägheit, den "Quietismus" ' die eitlen Anmaßungen in euch aus. Sie zwingt euch, wachsam zu sein. Was macht euch der Belohnung würdig? Kampf und Sieg. Könnt ihr ohne Kampf einen Sieg erringen? Die Gegenwart Satans zwingt zu ständiger Wachsamkeit. Die Liebe, die euch liebt, bewirkt, daß seine Gegenwart nicht unumschränkt schädlich sei. Wenn ihr die Liebe in euch habt, versucht euch Satan zwar, aber er wird nie fähig sein, euch wirklich zu schaden.»

«Nie?»

«Nie. Weder in großen noch in kleinen Dingen. Ein Beispiel: Er rät dir unnötig um für deine Gesundheit besorgt zu sein. Ein hinterlistiger Rat, mit dem er versucht, dich mir zu entreißen. Die Liebe aber verbindet dich eng mit mir, Simon, und die Schmerzen verlieren ihre Bedeutung auch für dich.»

«O Herr, du weißt es?»

«Ja, laß dich nicht durch sie niederdrücken. Mut! Mut! Die Liebe wird dir viel Mut geben; die Liebe, die jetzt als erste über dich lächelt, der du in deiner menschlichen Schwäche wegen deines Rheumas zitterst...» Jesus lächelt über den verwirrten Jünger und drückt ihn an sich, um ihn zu trösten. Auch wenn er lacht ist er voller Würde. Die andern lachen ebenfalls.

«Wer kommt mit, um der armen alten Frau dort zu helfen?» fragt

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Jesus, indem er auf eine kleine Frau weist, die trotz der brennenden Sonne in den abgemähten Furchen Ähren liest.

«Ich», antwortet Johannes, und mit ihm Thomas und Jakobus.

Aber Petrus faßt Johannes am Ärmel, zieht ihn auf die Seite und sagt: «Frag den Meister, was ihn so glücklich macht. Ich habe ihn danach gefragt, aber er hat nur erwidert: "Es macht mich so glücklich, wenn eine Seele nach dem Licht sucht." Aber wenn du ihn fragst... Dir sagt er alles.»

In Johannes kämpft die Zurückhaltung mit dem Wunsch, etwas zu erfahren und Petrus zufriedenzustellen. Langsam nähert er sich Jesus, der bereits auf dem Feld ist und Ähren sammelt. Die kleine alte Frau macht ein trauriges Gesicht, als sie so viele junge Leute erblickt, und bemüht sich, rascher zu arbeiten.

«Frau, Frau!» ruft Jesus aus. «Ich sammle die Ähren für dich. Setze dich nicht der Sonne aus, Mütterchen. Jetzt komme ich.»

Die kleine Frau, ganz sprachlos über so viel Güte, schaut ihn fest an; dann gehorcht sie und schleppt ihr kümmerliches Persönchen gebeugt und etwas zitternd in den Schatten am Rand des Feldes. Jesus liest eifrig Ähren. Johannes folgt gleich hinter ihm. Ein wenig weiter entfernt sind Thomas und Jakobus.

«Meister», jammert Johannes, «wie findest du so viele Ähren? Ich finde in der Furche nebenan nur wenige!»

Jesus lächelt und sagt nichts. Ich könnte es nicht beschwören, aber mir scheint, daß die gemähten und nicht gesammelten Ähren dort auftauchen, wo das göttliche Auge hinblickt. Jesus sammelt und lächelt. Er hat schon ein ganzes Büschel in seinen Armen.

«Nimm das, mein Johannes, dann hast auch du viele, und das kleine Mütterchen wird glücklich sein.»

«Aber Meister... wirkst du ein Wunder? Es ist unmöglich, daß du so viele findest.»

«Pst! Es ist für die kleine Mutter... und ich denke dabei an meine Mutter und an die deinige. Schau, wie alt sie ist!... Der gute Gott, der das kaum geborene Vöglein nährt, will den kleinen Kornspeicher dieses Großmütterchens füllen. Sie wird so viel Brot haben, daß es für die Monate reicht, die ihr noch bleiben. Sie wird die neue Ernte nicht mehr erleben. Aber ich will nicht, daß sie in ihrem letzten Winter Hunger leide. Jetzt wirst du ihre Ausrufe hören. Bereite dich darauf vor, Johannes, daß es dir die Ohren zerreißt, so wie ich mich darauf vorbereite, von ihren Tränen und Küssen gewaschen zu werden ...»

«Wie heiter du seit einigen Tagen bist, Jesus! Warum?»

«Willst du es wissen, oder hat dich jemand beauftragt, mich zu fragen?»

Johannes, der schon dieser Anstrengung wegen rot geworden ist, wird nun krebsrot.

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Jesus versteht: «Sage dem, der dich beauftragt hat, daß einer meiner Brüder krank ist und nach Heilung verlangt. Sein Wunsch, geheilt zu werden, erfüllt mich mit Freude.»

«Wer ist es, Meister?»

«Einer deiner Brüder. Einer, den Jesus liebt. Ein Sünder.»

«Also keiner von uns?»

«Johannes, glaubst du, daß ihr frei von Sünden seid? Glaubst du, daß ich mich nur euretwegen freue?»

«Nein, Meister. Ich weiß, daß auch wir Sünder sind und daß du alle Menschen retten willst.»

«Also? Ich habe dir gesagt, du sollst nicht nachforschen, als es galt, das Böse aufzudecken. Ich sage dir dasselbe nun, da es eine Morgenröte des Guten gibt... Der Friede sei mit dir, Mutter! Hier sind unsere Ähren. Meine Begleiter werden noch mit den ihren kommen.»

«Gott segne dich, mein Sohn. Wie hast du so viele finden können? Es ist wahr, ich sehe sehr schlecht, aber das sind ja zwei wirkliche Garben, und große noch dazu...» Die alte Frau berührt sie. Ihre zitternde Hand streichelt sie und will sie aufheben... aber sie vermag es nicht.

«Wir werden dir helfen. Wo ist dein Haus?»

«Dort», und sie weist auf ein Häuschen jenseits der Felder.

«Du lebst allein, nicht wahr?»

«Ja. Woher weißt du das? Und wer bist du?»

«Ich bin einer, der eine Mutter hat.»

«Ist das dein Bruder?»

«Es ist mein Freund.» Der Freund macht hinter dem Rücken Jesu große Gesten. Aber sie kann es mit ihren verschleierten Augen nicht sehen. Außerdem ist sie zu sehr damit beschäftigt, auf Jesus zu achten. Ihr Herz, das einer alten Mutter, ist gerührt.

«Du hast geschwitzt, mein Sohn. Komm hierher, in den Schatten dieses Baumes. Setz dich nieder. Schau, wie der Schweiß herunterläuft! Trockne dich mit meinem Schleier ab. Er ist verschlissen, aber sauber. Nimm ihn, mein Sohn.»

«Danke, Mutter.»

«Gesegnet sei auch deine Mutter, guter Sohn. Nenne mir deinen und ihren Namen. Ich möchte sie Gott nennen, auf daß er euch segne.»

«Maria und Jesus.»

«Maria und Jesus... Maria und Jesus... Warte. Einmal habe ich sehr viel geweint... Der Sohn meines Sohnes wurde getötet, weil er sein Knäblein verteidigte, und mein Sohn starb mir aus Schmerz darüber... Damals hieß es, er sei unschuldig getötet worden, weil man einen mit Namen Jesus suchte... Jetzt bin ich an der Schwelle des Todes, und dieser Name kehrt wieder...»

«Damals hast du um dieses Namens willen geweint, Mutter. Jetzt soll dir dieser Name zum Segen werden ...»

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«Bist du dieser Jesus? ... Sage es einer, die bald sterben wird und die gelebt hat, ohne zu verfluchen, weil ihr gesagt wurde, daß ihr Schmerz zur Rettung des Messias von Israel beigetragen habe.»

Johannes verdoppelt seine Gesten. Jesus schweigt.

«Oh, sage es mir! Bist du es? Du, der du mich am Ende meines Lebens segnest? Im Namen Gottes, sprich!»

«Ich bin es.»

«Ah!» Die kleine alte Frau wirft sich auf die Erde. «Mein Erlöser! Ich lebte in der Erwartung und habe nicht gehofft, dich zu sehen. Werde ich deinen Triumph sehen?»

«Nein, Mutter. Wie Moses wirst du sterben, ohne diesen Tag zu erleben. Aber ich gebe dir im voraus den Frieden Gottes. Ich bin der Friede. Ich bin das Leben. Du, Mutter und Großmutter von Gerechten, wirst mich in einem anderen, ewigen Triumph sehen, und ich werde dir die Tore öffnen, dir, deinem Sohn, dem Sohn deines Sohnes und dessen Knäblein. Dieses Kind, das für mich gestorben ist, ist dem Herrn heilig. Weine nicht, Mutter! ...»

«Ich habe dich berührt, und du hast mir Ähren gesammelt! Oh, wie habe ich diese Ehre verdient?!»

«Durch deine heilige Ergebenheit. Komm, Mutter, wir gehen zu deinem Haus. Und dieses Korn möge dir mehr Brot für die Seele als für den Leib sein. Ich bin das wahre Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist, um den Hunger der Herzen zu stillen. Ihr (Thomas und Jakobus haben sie mit ihren Büscheln eingeholt), nehmt diese Garben, und nun laßt uns gehen.»

Sie gehen alle drei mit Ähren beladen, und Jesus folgt ihnen mit dem Großmütterchen, das weint und Worte eines Gebetes murmelt. Das kleine Haus ist erreicht. Es besteht aus zwei Zimmerchen und einem winzigen Ofen. Davor wachsen ein Feigenbaum und einige Weinstöcke. Armut und Reinlichkeit herrschen hier.

«Ist dies dein Heim?»

«Ja. Segne es, Herr!»

«Nenne mich Sohn und bete, daß meine Mutter in ihrem Schmerz gestärkt werde; denn du weißt, was der Schmerz einer Mutter ist. Leb wohl, Mutter. Ich segne dich im Namen des wahren Gottes.»

Jesus erhebt die Hand und segnet das kleine Heim. Dann beugt er sich nieder und umarmt die kleine alte Frau, drückt sie an sein Herz und küßt sie auf ihr Haupt, das nur noch mit wenigen weißen Haaren bedeckt ist... Sie weint und drückt die Lippen auf die Hände Jesu, verehrt ihn, liebt ihn...

... Und mich übermannt der Schmerz, denn ich muß an meine Mutter denken, die Angst vor dir hatte, Jesus, als sie dich sah... Warum Angst vor dir haben, Jesus?

Jesus sagt: «Warum? Viele "Warum" sehe ich nach diesem Diktat in deinem Herzen. Aber ich beginne beim letzten.

240

Das andere Warum, das du im Herzen hast, ist, ob ich wußte, daß Judas nicht gerettet werden würde, trotz dieses Versuches, ihn zu retten. Ich wußte es.

Warum ich dann glücklich war?

Weil allein schon sein Verlangen – eine Blume auf dem Ödland des Herzens des Judas -den Vater gütig auf meinen Jünger, den ich liebte und den ich doch nicht würde retten können, blicken ließ. Das Auge Gottes auf einem Herzen! Was sollte ich mir anderes wünschen, als daß der Vater euch alle mit Liebe betrachte.

Ich mußte glücklich sein, um dem Unglücklichen auch dieses Mittel zur Auferstehung anzubieten: den Ansporn meiner Freude angesichts seiner Rückkehr zu mir.

Eines Tages, nach meinem Tode, erkannte Johannes diese Wahrheit, und er sagte sie Petrus, Jakobus, Andreas und den anderen; denn dies hatte ich meinem Lieblingsjünger aufgetragen, dem kein Geheimnis meines Herzens unbekannt blieb. Er erfuhr es und sagte es, damit alle später eine Richtschnur hätten zur Führung ihrer Schüler und Gläubigen.

Wenn eine Seele, die gefallen ist, zum Diener Gottes kommt und ihren Fehler bekennt; wenn einer dem Freund oder dem Sohn, dem Gemahl oder dem Bruder nach dem Fall bekennt, daß er gesündigt hat, und spricht: "Behalte mich bei dir. Ich will nicht mehr fehlen, um Gott und dich nicht zu beleidigen", so darf man ihm nicht die Genugtuung nehmen, sondern muß zu erkennen geben, daß man sein Verlangen, uns zu beglücken, schätzt.

Ein unendliches Feingefühl ist bei der Heilung der Herzen vonnöten. Ich, die Weisheit, habe es auch im Fall des Judas, der nicht mehr zu retten war, gehabt, um euch alle die Kunst des Erlösens zu lehren und euch zu zeigen, wie man dem hilft, der sich retten will.

Nun sage ich dir wie Simon dem Kananäer: "Mut, Mut!", und ich drücke dich an mich, um dich fühlen zu lassen, daß jemand da ist, der dich liebt.

Von diesen Händen gehen Strafen, aber auch Liebkosungen aus, und von meinen Lippen Worte der Strenge, aber noch viel zahlreicher und lieber Worte des Lobes.

Geh hin in Frieden, Maria. Du hast deinem Jesus keinen Schmerz bereitet, und dies sei dein Trost.»

Ich hatte solche Angst, Jesus in diesen Tagen betrübt zu haben... und mit großer Sorge dachte ich an meine Mutter...

Das kommt hinzu zu der Freude über die Blume, die auf dem Balkon meines Hauses aufgeblüht ist und die Martha mir gebracht hat, ohne zu wissen, welche Geste sie wiederholte. Die erste Blume, die mir Freude bereitet nach fünfeinhalb Monaten, in denen die schönsten Blumen mich gleichgültig gelassen haben. Arme, kleine, halbwelke Blume eines weißen Januar! Sie war noch von denen, die meine Mutter pflegte; von denen, die noch in der Erde meines Beetes wuchsen, von den Blumen, die mein Vater gebracht hatte. Arme Blume, aber so schön und wertvoll für mich!

Wie gut verstehe ich, Maria, deine Freude, diesen Mandelzweig von zu Hause zu erhalten!

Martha weiß es nicht. Sie hat die Visionen nicht gelesen, denn sie hat keine Zeit dazu, die arme Martha; sie ist immer emsig beschäftigt, eine wahre Martha. Aber sie hat die Geste des Joseph wiederholt, als er der Jungfrau den blühenden Zweig anbot. Martha weiß nicht, daß sie mir damit eine viel größere Freude gemacht hat, als wenn sie mir einen Edelstein geschenkt hätte. Die letzte Blume, die mir teuer war, ist das Veilchen vom Pinienhain, das mir ebenfalls Martha gebracht hat. Auch das Vergißmeinnicht einer Freundin, ein Gruß aus Viareggio an mich, die ich in meiner Höllenpein fast wahnsinnig wurde. Es bringt mich dazu, die Blumen wieder zu lieben. Die erste Blume, die mir wirklich eine "Blume" ist und nicht etwas, was weh tut.

Viele werden mich nicht verstehen... Das macht aber nichts. Ich fühle mit meinem Herzen und ich liebe mit meinem Herzen, und dieses Herz weiß sich ganz Gott hinzugeben. Wäre es kälter, würde es nachgrübeln und das Opfer abwägen. Es grübelt aber nicht nach und wägt nicht ab, weil es eben das Herz ist, das es ist. Daher...

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458. DIE APOSTEL UNTER SICH UND MIT JESUS; JESUS UND PETRUS

Die apostolische Gruppe hat bereits der Ebene den Rücken gekehrt und geht über Berge und durch Täler auf Jerusalern zu. Um den Weg abzukürzen, haben sie nicht die Hauptstraße eingeschlagen, sondern einsame, ermüdende Pfade aufgesucht, die aber die Reise beschleunigen.

In diesem Augenblick befinden sie sich in einem grünen, langgestreckten Tal, das reich an Wasser und Blumen ist. Thaddäus bemerkt, daß die Maiglöckchen mit Recht "Lilien des Tales" genannt und wegen ihrer zarten, aber nichtsdestoweniger widerstandsfähigen und duftenden Schönheit gepriesen werden.

«Aber es sind umgestülpte Lilien», sagt Thomas. «Sie schauen nach unten statt nach oben.»

«Sie sind doch eigentlich so klein, und wir haben viele prächtigere Blumen als diese. Ich weiß wirklich nicht, warum man sie so sehr gelobt hat...» sagt Judas, während er verächtlich mit dem Fuß auf ein Büschel blühender Maiglöckchen tritt.

«Nein! Was tust du denn? Sie sind doch so lieblich!» sagt Andreas zur Verteidigung der armen Blumen und bückt sich, um die geknickten Stiele zu sammeln.

«Sie scheinen mir nur für Heu gut zu sein. Da ist die Agave doch viel schöner, so majestätisch und mächtig. Sie ist Gottes würdig und blüht für ihn.»

«Ich sehe Gott mehr in diesen kleinen Kelchlein... Schau doch, welch eine Anmut! ... Gezähnt, so schön gebogen... Sie scheinen aus Alabaster zu sein, aus reinem Wachs, und von ganz kleinen Händchen gebildet... Derweilen ist es der Unermeßliche, der sie gemacht hat! Oh! Macht Gottes! ...»

Andreas ist wie verzückt beim Anblick der Blumen in Betrachtung der schöpferischen Allmacht Gottes.

«Du scheinst mir ein nervenkrankes Frauchen zu sein! ...» spottet Judas Iskariot boshaft lachend.

«Nein. Tatsächlich finde auch ich, und ich bin Goldschmied und verstehe mich darauf, daß diese Blümchen ein vollkommenes Werk sind. Sie sind viel schwerer aus Metall nachzubilden als eine Agave. Denn du mußt wissen, Freund, daß sich die Fähigkeit des Künstlers im unendlich Kleinen offenbart. Gib mir ein Blümchen, Andreas... und du mit deinen großen Kuhaugen, der du nur großartige Dinge bewunderst, komm her und schau. Welcher Künstler hätte diese so leichten und vollkommenen Becher bilden, sie im Innern mit einem kleinen Topas verzieren und mit diesem Stiel aus zartem, gebogenen Filigran verbinden können? Das ist doch wahrhaft etwas Wunderbares!»

242

«Oh! Welch große Dichter sind da unter uns erstanden! Auch du, Thomas, so...»

«Nicht dumm, weißt du? Nicht weibisch, weißt du? Sondern Künstler, ein einfühlsamer Künstler, und ich bin stolz darauf. Meister, gefallen dir diese Blumen?» Thomas wendet sich an den Meister, der alles gehört hat, ohne ein Wort zu sagen.

«Alles in der Schöpfung gefällt mir, aber diese Blumen gehören zu meinen Lieblingsblumen...»

«Warum?» fragen einige, und gleichzeitig fragt Judas: «Gefallen dir auch die Vipern?» und er lacht dabei.

«Auch sie, denn sie dienen dazu...»

«Wozu?» fragen viele.

«Zum Beißen. Ha, ha, ha!» lacht Judas in beleidigender Weise.

«Dann müssen sie dir ganz besonders gefallen», gibt Thaddäus zurück und schneidet damit sein Gelächter auf ziemlich scharfe Art ab. Jetzt sind es die anderen, die über diese schlagfertige Antwort lachen.

Jesus lacht nicht. Er ist vielmehr bleich und traurig. Er schaut auf die Zwölf und besonders auf die beiden Antagonisten, die einander anblicken, der eine mit Zorn, der andere mit Ernst, und antwortet allen, insbesondere Iskariot: «Wenn Gott sie erschaffen hat, so folgt daraus, daß sie zu etwas nützlich sind. Nichts ist sinnlos oder ausschließlich schädlich in der Schöpfung. Nur der Böse ist vollständig und gänzlich schädlich, und wehe denen, die sich von ihm beißen lassen. Die Folgen seines Bisses sind die Unfähigkeit, das Gute vom Bösen zu unterscheiden; das Abweichen der Vernunft und des verdorbenen Gewissens vom guten Weg; die geistige Blindheit, o Judas des Simon, weshalb man dann die Macht Gottes auch in den kleinsten Dingen nicht mehr sieht.

In dieser Blume steht sie geschrieben: in ihrer Schönheit, in ihrem Duft und in ihrer Form, die so verschieden von der anderer Blumen ist; auch leuchtet sie auf in diesem Tautröpfchen, das zittert und glitzert an der wächsernen Wimper des winzigen Blumenblattes und eine Träne der Dankbarkeit für den Schöpfer zu sein scheint, der alles erschaffen hat und alles gut, nützlich und verschieden gemacht hat. Und es steht geschrieben, daß den Ureltern alles schön erschien, bis sie in die Stromschnellen der Sünde gerieten... Alles sprach ihnen von Gott, bis über die Dinge oder besser über ihre Augen der Schlamm tropfte, der ihnen die Fähigkeit nahm, Gott zu schauen... Auch zum jetzigen Zeitpunkt enthüllt sich Gott umso mehr, als der Geist in einem Geschöpf herrscht...»

«Salomon besang die Wunderwerke Gottes, ebenso David, und sie besaßen sicherlich keinen königlichen Geist. Meister, diesmal habe ich dich bei einem Fehler ertappt.»

«Unverschämter, der du bist! Wie wagst du es, so etwas zu sagen!»fährt Bartholomäus auf.

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«Laß ihn nur reden... Ich achte nicht darauf. Es sind Worte, die der Wind zerstreut und an denen die Pflanzen und die Bäume keinen Anstoß nehmen. Wir, die einzigen, die sie hören, wissen, welchen Wert wir ihnen beimessen können, nicht wahr? Denken wir nicht mehr daran. Die Jugend ist oft unbedacht, Bartholomäus. Habe Mitleid mit ihr... Aber jemand hat mich gefragt, weshalb die Lilie des Tales eine meiner Lieblingsblumen ist... Seht, was ich darauf antworte: "Wegen ihrer Demut." Alles an ihr spricht von der Demut... die Orte, die sie liebt... ihre Haltung... Sie läßt mich an meine Mutter denken... diese Blume... so klein! Aber achtet darauf, wie ein einziges Blümchen duften kann! Die Luft ringsum ist von seinen Duft erfüllt... Auch meine Mutter, demütig, bescheiden und unbekannt, wünscht nur, unbekannt zu bleiben... und doch war ihr Duft der Heiligkeit so stark, daß er mich vom Himmel herabzog ...»

«So siehst du also in dieser Blume ein Symbol deiner Mutter?»

«Ja, Thomas.»

«Glaubst du, daß unsere Vorfahren bei ihrem Lob der Lilie des Tales schon unbewußt an sie dachten?» fragt Jakobus des Alphäus. «Damals hat man sie mit anderen Pflanzen und Blumen verglichen: mit der Rose, mit dem Ölbaum oder mit den lieblichsten Tieren, der Turteltaube, der weißen Taube...»

«Ein jeder verglich sie mit dem, was ihm in der Schöpfung am schönsten erschien, und unter allen Geschöpfen ist sie wirklich die ganz Schöne. Aber ich würde sie die Lilie des Tales oder den friedvollen Ölbaum nennen, wenn ich ihr Lob singen sollte.» Das Antlitz Jesu erhellt sich und strahlt beim Gedanken an seine Mutter, und er entfernt sich, um allein zu sein...

Die Wanderung wird trotz der heißen Tageszeit fortgesetzt, denn der Talgrund ist voll von Bäumen und Büschen, die vor der Sonne schützen.

Petrus beschleunigt nach einer Weile seinen Schritt und holt den Meister ein. Er ruft ihn leise: «Mein Meister!»

«Mein Petrus!»

«Störe ich dich, wenn ich mich dir anschließe?»

«Nein, Freund. Was möchtest du mir so dringend sagen, daß du dich so beeilt hast, deinen Meister einzuholen?»

«Eine Frage... Ich bin ein neugieriger Mensch...»

«Nun?» Jesus lächelt und schaut seinen Apostel an.

«Ich möchte gerne so vieles wissen...»

«Das ist ein Fehler, mein lieber Petrus.»

«Ich weiß es... Aber ich glaube nicht, daß es diesmal ein Fehler ist. Wenn ich etwas über häßliche Dinge, über Spitzbübereien wissen wollte, um die Übeltäter zu kritisieren, oh, dann wäre es ein Fehler. Aber du siehst, daß ich dich nicht gefragt habe, ob Judas etwas mit deinem Aufruf in Bether zu tun hatte und warum...»

244

«Doch du hattest ein großes Verlangen danach...»

«Ja, das ist wahr. Aber dann ist ja das Verdienst umso größer, nicht wahr?»

«Das Verdienst ist größer. Es ist auch ein großes Verdienst, sich zu beherrschen. Das bezeugt eine gute, ernste Entwicklung im geistlichen Leben, ein wirklich aktives Aufnehmen der Lehren des Meisters.»

«Ja? Bist du glücklich darüber?»

«O Petrus, das fragst du mich? Ich bin sehr glücklich darüber.»

«Ja? Wirklich? O mein Meister! Dann ist es vielleicht dein armer Petrus, der dich so glücklich macht?»

«Ja. Aber wußtest du das nicht schon?»

«Ich wagte nicht, daran zu glauben. Aber da ich dich gestern so glücklich sah, habe ich dich fragen lassen, denn ich dachte mir, es hätte auch Judas sein können, der sich gebessert hat... obwohl ich keine Beweise dafür hatte... Aber ich kann mich ja täuschen. Johannes hat mir gesagt, du habest ihm verraten, daß du so glücklich bist, weil es jemanden gibt, der sich heiligt... Dann hast du mir vor kurzem noch gesagt, daß du mit mir zufrieden bist, weil ich mich gebessert habe. Nun weiß ich es. Derjenige, der dich beglückt und froh macht, bin ich, der arme Simon... Jetzt aber möchte ich, daß sich Judas durch meine Opfer bessert. Ich bin nicht neidisch. Ich möchte, daß alle vollkommen seien, um dich vollkommen glücklich zu machen. Wird mir das gelingen?»

«Hab Vertrauen, Simon. Hab Vertrauen und harre aus.»

«Ich werde es tun! Gewiß, ich werde es tun. Für dich... und auch für ihn, denn es ist sicher kein Vergnügen, immer so zu sein. Im Grunde genommen... könnte er fast mein Sohn sein... Hin! Ich ziehe es jedoch vor, der Vater des Margziam zu sein! ... Ich werde ihm auch Vater sein, indem ich mich bemühe, ihm eine Seele zu schenken, die deiner würdig ist.»

«Und deiner, Simon», und Jesus beugt sich nieder und küßt ihn aufs Haupthaar.

Petrus ist ganz selig... Nach einer Weile fragt er: «Sagst du mir sonst nichts? Gibt es sonst nichts Gutes? Keine Blume unter den Dornen, die man überall findet?»

«Ja. Ein Freund des Joseph, der zum Licht kommt.»

«Wirklich? Einer vom Hohen Rat?»

«Ja, aber man darf es nicht sagen. Beten muß man und dafür Opfer bringen. Fragst du mich nicht, wer es ist? Bist du nicht neugierig?»

«Sehr! Aber ich frage dich nicht. Ein Opfer für diesen Unbekannten.»

«Gesegnet bist du, Simon! Heute machst du mich wirklich glücklich. Fahre so fort, und ich werde dich immer mehr lieben. Jetzt bleiben wir stehen und warten auf die anderen ...»

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459. AM PFINGSTFEST IN JERUSALEM

Die Stadt ist voller Menschen. Im Tempel drängt sich die Menge. Jesus betritt ihn, kaum daß er in Jerusalern angelangt ist. Er kommt durch das Tor in der Nähe des Bethesdateiches und erreicht den Tempel, noch bevor das Volk bemerkt, daß er in der Stadt weilt, und sich die Nachricht von dem Haus aus verbreiten kann, in dem sie ihre Reisetaschen ablegen und sich von Staub und Schweiß reinigen, um sauber den Tempel betreten zu können.

Der übliche unziemliche Spektakel der Verkäufer und Geldwechsler... Das übliche Kaleidoskop von Farben und Gesichtern.

Jesus, der sich mit den Aposteln, die das Notwendige an Opfergaben gekauft haben, direkt zum Ort des Gebetes begibt, verweilt dort lange.

Natürlich wird er von vielen bemerkt, von Guten und Bösen, und wie der Wind brausend durch das Geäst fährt, so durchläuft ein Flüstern den äußeren Vorhof, wo das Volk zum Gebet versammelt ist.

Als Jesus sich nach Verrichtung seines Gebets umwendet, um dorthin zurückzukehren, von wo er gekommen ist, folgt ihm ein Schwarm Menschen, der in den anderen Höfen und Säulenhallen immer noch größer wird, bis es eine gewaltige Menge ist, die sich um ihn drängt und sein Wort vernehmen will.

«Zu einer anderen Zeit, meine Kinder, an einem anderen Ort!» sagt Jesus. Er erhebt die Hand zum Segen und versucht, sich zu entfernen.

Wenn auch Schriftgelehrte, Pharisäer, Lehrer und deren Schüler, die unter dem Volke verstreut sind, sich gegenseitig angrinsen und höhnisch sagen: «Die Vorsicht rät...», «Etwas Angst ...», «Er hat das Alter der Vernunft erreicht», oder «Nicht so dumm, wie wir dachten...», so drängen sich doch die meisten, jene, die ihn lieben gelernt haben oder die aufrichtig wünschen, ihn kennenzulernen, neidlos und beharren darauf, ihn zu hören: «Du willst uns doch nicht die Festlichkeit dieses Tages nehmen ? Guter Meister, das kannst du uns nicht antun! Viele von uns haben Opfer gebracht um hierzubleiben und dich zu hören ...» Einige bringen auch die Spötter zum Schweigen oder antworten ihnen gezielt, wie es sich gehört.

Es ist klar, daß die Mehrheit bereit wäre, die boshafte Minderheit zu überwältigen. Die Falschen und Hinterlistigen begreifen, welche Stimmung herrscht; daher beginnen sie nicht nur zu schweigen, sondern versuchen auch davonzukommen. Obwohl sie noch innerhalb der Tempelmauern sind, scheuen sich viele nicht, denen, die sich davonmachen, ein spöttisches oder beleidigendes Wort nachzurufen, während andere, die älteren und bedächtigeren, Jesus fragen: «Du, der du es weißt, sage uns, was wird mit diesem Ort, mit dieser Stadt, mit ganz Israel geschehen, da sie nicht auf das Wort des Herrn hören wollen?»

Jesus schaut mitleidsvoll auf die graumelierten und weißhaarigen Köpfe

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und spricht: «Jeremias hat euch gesagt, was mit denen geschehen wird, die auf den Blitz des göttlichen Zornes mit einer Vermehrung ihrer Sünden antworten; mit solchen, die die göttliche Barmherzigkeit für einen Beweis der Schwäche Gottes halten. Aber Gott läßt seiner nicht spotten, o Söhne. Nach dem Ausspruch des Ewigen durch den Mund des Jeremias seid ihr wie Ton in den Händen des Töpfers; wie Ton sind jene, die sich für

mächtig halten, die Bewohner dieser Stadt und des Königspalastes. Es gibt keine menschliche Macht, die Gott widerstehen könnte. Wenn der Ton sich dem Töpfer widersetzt und eigenartige, schreckliche Formen annehmen möchte, dann macht der Töpfer aus dem bereits Entstandenen wiederum einen Klumpen und modelliert sein Gefäß von neuem, bis der

Ton überzeugt ist, daß der Töpfer der Stärkere ist und sich nicht dem Willen des Tons fügt. Es kann auch geschehen, daß das Geschirr in Scherben geht, weil der Ton sich weigert, sich formen zu lassen; weil er das Wasser abstößt, mit dem der Töpfer ihn befeuchtet, um ihn ohne Risse formen zu können. Dann wirft der Töpfer den widerspenstigen Ton, die unnützen Scherben, die sich nicht bearbeiten lassen, in den Mülleimer, holt sich neuen Ton und formt diesen so, wie er es für richtig hält.

Sagt der Prophet dies nicht an jener Stelle, wo er vom Symbol des Töpfers und des Tongefäßes spricht? Er sagt es, und fährt fort, indem er die Worte des Herrn wiederholt: "Wie der Ton in der Hand des Töpfers, so bist du, o Israel, in der Hand Gottes" und der Herr fügt hinzu, mit dem Hinweis auf die Aufrührer, daß nur Buße und Reue den göttlichen Beschluß zur Bestrafung des rebellischen Volkes ändern können.

Israel hat nicht bereut, und daher haben sich die Drohungen Gottes um das Zehnfache vermehrt. Aber Israel bekehrt sich nicht einmal jetzt, da nicht ein Prophet, sondern ein viel Größerer zu ihm spricht. Und Gott,

der höchste Barmherzigkeit gegen Israel geübt und mich entsandt hat, sagt euch nun: "Da ihr nicht auf meine eigene Stimme hört, werde ich das Gute, das ich euch getan habe, bereuen, und euren Untergang vorbereiten." Ich aber, der ich die Barmherzigkeit bin, rufe Israel zu, obwohl ich weiß, daß mein Wort in den Wind geschlagen wird: "Ein jeder kehre um von seinen bösen Wegen. Ändert eure Lebensführung und richtet eure Bestrebungen auf das Gute, damit wenigstens, wenn die Strafe Gottes auch über das unschuldige Volk kommen wird, die Besten beim allgemeinen Verlust der Güter, der Freiheit und der Einheit, ihre Seele von Schuld freihalten, vereint mit Gott bleiben und nicht auch noch die ewigen Güter verlieren, wie sie die irdischen Güter verloren haben."

Die Schauungen der Propheten sind nicht sinnlos: sie sollen die Menschen aufmerksam machen auf das, was kommen kann. Das Gleichnis des gebrannten Tongefäßes, das im Angesicht des Volkes zerbrochen wird, deutet an, was Städte und Reiche zu erwarten haben, die sich dem Herrn nicht fügen und...»

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Die Ältesten, die Lehrer, die Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich entfernt hatten, müssen wohl die Tempelwache und die Vorsteher des Ordnungsdienstes gerufen haben, denn einer von ihnen, gefolgt von einer Schar dieser eigenartig gekleideten Soldaten, die von Kriegern nichts an sich haben als die Gesichter, welche ein Gemisch aus Dummheit, Bosheit und Hartherzigkeit, um nicht zu sagen Verbrechertum, sind, kommt auf Jesus zu, der sich an eine Säule des Vorhofes der Heiden gelehnt hat und spricht. Da er aber nicht durch den fest geschlossenen Ring der den Meister umgebenden Menge vordringen kann, ruft er von weitem: «Geh fort. Sonst lasse ich dich von meinen Soldaten aus dem Tempelbezirk werfen...»

«Buh! Buh! Die grünen Schmeißfliegen! Die Lämmer-Helden! Seid ihr nicht fähig, die ins Gefängnis zu werfen, die aus Jerusalern eine Räuberhöhle und aus dem Tempel einen Marktplatz machen? Weg, weg, du Feigling... Buh! Buh!» Das Volk empört sich gegen diese Karikaturen von Soldaten und zeigt deutlich, daß es keine Mißhandlung des Meisters zulassen wird.

«Ich führe die erhaltenen Befehle aus...» entschuldigt sich der Hauptmann dieser... Ordnungshüter.

«Du gehorchst dem Teufel und merkst es nicht. Weg! Geh und bitte um Barmherzigkeit, weil du es gewagt hast, den Meister zu beleidigen und zu bedrohen. Den Meister werdet ihr nicht anrühren! Habt ihr verstanden? Ihr seid unsere Unterdrücker, er ein Freund der Armen. Ihr seid unsere Verderber, er ist unser heiliger Meister. Er ist unser Heil. Er ist gut. Ihr seid schlecht. Fort mit euch, oder wir werden dasselbe tun, was Mattathias in Modin getan hat. Wir werden euch den Abhang von Moria hinabstürzen wie Götzenaltäre und den entheiligten Ort reinigen, indem wir ihn mit eurem Blute waschen; und die Füße des einzigen Heiligen in Israel werden über dieses Blut schreiten, um zum Allerheiligsten zu gelangen und dort zu herrschen, er, der dessen würdig ist. Fort von hier, ihr und eure Herren! Fort, ihr Schergen, die ihr Diener von Schergen seid...»

Ein fürchterlicher Tumult entsteht... Von der Burg Antonia eilen römische Wachsoldaten mit einem alten, strengen, kurz angebundenen Offizier herbei.

«Macht Platz, ihr Stinker! Was ist hier los? Zerreißt ihr euch gegenseitig wegen eines eurer räudigen Lämmer?»

«Sie lehnen sich gegen die Soldaten auf...» versucht der Vorsteher des Ordnungsdienstes zu erklären.

«Beim unbesiegbaren Mars! Das sollen Soldaten sein? Führe Krieg gegen die Mistkäfer, du Kantinenkrieger. Sprecht ihr ...» befiehlt er dem Volk.

«Sie wollten dem Rabbi von Galiläa gebieten, zu schweigen. Vertreiben wollten sie ihn, vielleicht sogar gefangennehmen...»

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«Den Galiläer? Non licet. In der Sprache Roms sage ich euch die Worte des Enthaupteten. Ha, ha! Zurück in die Hundehütte mit deinen Kläffern, und sag dort, daß auch die Bluthunde Ruhe geben sollen. Die Wölfin könnte auch sie zerreißen... Verstanden? Nur Rom hat das Recht, zu richten. Du, Galiläer, erzähle ruhig deine Märchen... Ha, ha!» Dann macht er kehrt mit seinem Harnisch, der in der Sonne aufblitzt, und geht.

«Genau wie bei Jeremias ...»

«Wie bei allen Propheten, mußt du sagen ...»

«Aber Gott wird dennoch triumphieren.»

«Meister, sprich weiter. Die Vipern sind geflohen.»

«Nein, laßt ihn nun gehen, damit sie nicht mit einer größeren Truppe zurückkehren und ihn in Ketten legen, die neuen Paschchur...»

«Keine Gefahr... Solange der Löwe brüllt, wagen sich die Hyänen nicht heraus...»

Das Volk redet und kommentiert. Es herrscht ein schönes Durcheinander.

«Ihr irrt euch», sagt schmeichlerisch ein scheinheiliger Pharisäer, gefolgt von anderen seinesgleichen und von einigen Schriftgelehrten. «Ihr irrt euch. Ihr dürft nicht glauben, daß eine ganze Kaste so ist wie einige, die ihr angehören. Ja, ja, Gutes und Schlechtes gibt es an jeder Pflanze.»

«Ja. Die Feigen sind gewöhnlich süß; aber wenn sie noch unreif sind oder überreif werden, dann sind sie sauer oder bitter, und ihr seid sauer und bitter, wie die aus dem verdorbenen Korb des Propheten Jeremias», sagt einer aus der Menge, den ich nicht kenne, der aber vielen bekannt und auch mächtig sein muß, denn ich bemerke ein vielsagendes Zuzwinkern unter den Leuten, und außerdem nimmt der Pharisäer den Schlag ohne Widerrede hin.

Ja, er wendet sich mit einem noch süßlicheren Ton an den Meister und sagt: «Das ist ja ein herrliches Thema für deine Weisheit, Rabbi. Sprich bitte über dieses Thema. Deine Erklärungen sind so... neu... so gelehrt... wir nehmen sie mit Heißhunger auf.»

Jesus schaut diesen pharisäischen Kämpen scharf an und antwortet ihm dann: «Du hast noch einen anderen, nicht eingestandenen Hunger, Elchias, ebenso wie deine Freunde. Aber auch diese Speise wird euch gegeben werden... Bitterer als die Feigen wird sie sein, und euer Inneres wird sie zerreißen, wie saure Feigen die Eingeweide verderben.»

«Nein, Meister. Ich schwöre es dir im Namen des lebendigen Gottes. Ich und meine Freunde haben kein anderes Verlangen, als dich reden zu hören. Gott sieht uns, wenn...»

«Halt ein! Der aufrichtige Mensch bedarf nicht der Schwüre. Seine Handlungen sind Schwüre und Zeugnis. Ich jedoch werde nicht von den guten und den verdorbenen Feigen sprechen...»

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«Warum, Meister? Fürchtest du, daß die Wirklichkeit deinen Erklärungen widersprechen könnte?»

«Nein, im Gegenteil...»

«Dann siehst du also für uns Schmerzen, Widerwärtigkeiten, Schwert, Pest und Hunger voraus?»

«Dies und noch mehr.»

«Noch mehr? Was denn? Gott liebt uns also nicht mehr?»

«Er liebt euch so sehr, daß er sein Versprechen erfüllt hat.»

«Du? Bist du die Verheißung?»

«Ich bin es.»

«Und wann wirst du dein Reich gründen?»

«Die Fundamente sind schon gelegt.»

«Wo? Wo?»

«In den Herzen der Guten.»

«Aber das ist doch kein Reich, das ist eine Lehre!»

«Da mein Reich geistig ist, hat es als Untergebene die Seelen, und diese bedürfen keiner Königspaläste, Häuser, Soldaten und Mauern. Sie brauchen nur das Wort Gottes zu vernehmen und es in die Tat umzusetzen, was die Guten bereits tun.»

«Aber kannst du dieses heilige Wort aussprechen? Wer gibt dir das Recht dazu?»

«Der Besitz.»

«Welcher Besitz?»

«Der Besitz des Wortes. Ich gebe das, was ich bin. Einer, der das Leben hat, kann das Leben geben. Ich habe durch meine ewige Natur das Wort, das den göttlichen Gedanken vermittelt, und dieses Wort gebe ich, denn zu dieser Gabe spornt mich die göttliche Liebe an, um den Gedanken des Allerhöchsten, der mir Vater ist, bekannt zu machen.»

«Bedenke, was du sagst! Das sind kühne Reden! Sie könnten dir schaden!»

«Zu lügen würde mir mehr schaden; denn es würde bedeuten, mich meiner Natur zu entäußern und den zu verleugnen, aus dem ich hervorgehe.»

«Du bist also Gott, das Wort Gottes?»

«Das bin ich.»

«Und du sagst es so offen? In Gegenwart so vieler Zeugen, die dich verklagen könnten?»

«Die Wahrheit lügt nicht. Die Wahrheit berechnet nicht. Die Wahrheit ist heroisch.»

«Und das soll die Wahrheit sein?»

«Der zu euch spricht, ist die Wahrheit, denn das Wort Gottes vermittelt den Gedanken Gottes, und Gott ist die Wahrheit.»

Das Volk ist ganz Ohr. Mit aufmerksamem Schweigen verfolgt es den

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Wortwechsel, der jedoch ohne Streit stattfindet. Andere sind von überall herbeigeströmt, und der Hof ist mit Menschen überfüllt. Hundert Blicke sind auf einen einzigen Punkt gerichtet, und an den Ausgängen, die zu anderen Höfen führen, zeigen sich immer neue Gesichter. Man reckt den Hals, um zu sehen und zu hören...

Der Synedrist Elchias und seine Freunde schauen einander an... Ein wahres Kreuzfeuer von Blicken. Aber sie nehmen sich zusammen. Ein alter Gelehrter fragt sogar ganz höflich: «Was müßte man also tun, um den Strafen zu entgehen, die du voraussiehst?»

«Mir folgen. Vor allem, mir glauben, und ganz besonders, mich lieben.»

«Bist du ein Glücksbringer?»

«Nein. Ich bin der Erlöser.»

«Du hast aber kein Heer ...»

«Ich habe mich selbst. Erinnere dich, erinnert euch alle – zu eurem Wohl und aus Liebe zu euren Seelen – der Worte, die der Herr an Moses und Aaron richtete, als sie noch in Ägypten waren: "Ein jeder aus dem Volke Gottes nehme ein fehlerloses, männliches, einjähriges Lamm. Ein Lamm für jede Hausgemeinschaft. Sind aber in einem Haus zu wenige für ein Lamm, so nehme er es zusammen mit seinem Nachbarn. Am vierzehnten Tag des Abib, der jetzt Nisam genannt wird, sollt ihr es opfern. Von dem Blut sollt ihr nehmen und die beiden Türpfosten und die Oberschwelle der Häuser damit bestreichen. Noch in derselben Nacht sollt ihr das über dem Feuer gebratene Fleisch essen, mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern; so sollt ihr es essen, eure Hüften gegürtet, eure Schuhe an den Füßen und euren Stab in der Hand. Was aber davon doch übrigbleibt, sollt ihr verbrennen. Ihr sollt es essen in Hast; es ist ein Passah (Vorübergehen) für den Herrn. In jener Nacht werde ich durch Ägypten ziehen und in den Häusern, die nicht mit dem Blut des Lammes gezeichnet sind, alle Erstgeburt schlagen, vom Menschen bis zum Vieh."

Beim gegenwärtigen, neuen Vorübergehen Gottes, dem eigentlichen Vorübergehen, da Gott wirklich unter euch sichtbar und kenntlich in seinen Zeichen wandelt, wird denen Heil zuteil werden, die mit dem Blut des Lammes, dem Zeichen des Heiles, gezeichnet sind. Denn ihr werdet zwar alle damit gezeichnet sein, aber nur jene, die das Lamm und sein Zeichen lieben, werden von diesem Blut Heil erfahren. Für die andern wird es zum Zeichen des Kain werden, und ihr wißt, daß Kain nicht mehr würdig war, das Antlitz Gottes zu schauen, und nie mehr Ruhe fand. Gequält von Gewissensbissen, von der Strafe und von Satan, seinem grausamen Herrn, irrte er zeitlebens als Flüchtiger auf Erden umher. Eine bedeutende Gestalt in der Geschichte des Volkes, das den neuen Abel erschlagen wird ...»

«Auch Ezechiel spricht vom Tau... Glaubst du, daß dein Erkennungszeichen das Tau des Ezechiel sein wird?»

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«So ist es.»

«Du klagst uns also an, daß in Jerusalern menschenunwürdige Dinge getrieben werden?»

«Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber es ist so.»

«Unter den mit dem Tau Gezeichneten sind keine Sünder? Kannst du das beschwören?»

«Ich beschwöre nichts. Aber ich sage: Wenn unter den Gezeichneten Sünder sind, dann wird deren Strafe noch schrecklicher sein, denn Ehebrecher des Geistes, Abtrünnige, Gottesmörder, die vorerst Jünger Christi waren, werden in der tiefsten Hölle sein.»

«Aber diejenigen, die nicht glauben können, daß du Gott bist, werden keine Schuld haben, sondern gerechtfertigt sein? ...»

«Nein. Wenn ihr mich nicht gekannt hättet, wenn ihr meine Werke nicht gesehen hättet, wenn ihr meine Worte nicht hättet prüfen können, dann hättet ihr keine Schuld. Aber ihr kennt die Schriften und seht meine Werke. Ihr könnt sie einander gegenüberstellen, und wenn ihr das redlich tut, werdet ihr mich in den Worten der Schrift erkennen, und die Worte der Schrift werdet ihr in meinen Werken wiederfinden. Daher werdet ihr nicht gerechtfertigt sein, wenn ihr mich nicht anerkennt und mich haßt. Allzu viele Greuel, zu viel Götzendienst und Wollust herrschen dort, wo Gott allein sein sollte. Aber so ist es überall, wo ihr seid. Die Rettung besteht darin, die Übel abzuweisen und die Wahrheit, die zu euch spricht, anzunehmen. Wo ihr daher mordet oder versucht zu morden, dort werdet ihr selbst getötet werden. An den Grenzen Israels werdet ihr gerichtet werden, dort, wo alle menschliche Macht zerfällt, wo nur der Ewige Richter seiner Geschöpfe sein wird.»

«Warum sprichst du so, Herr? Streng bist du.»

«Ich bin die Wahrheit. Ich bin das Licht. Das Licht ist gesandt worden, um die Finsternis zu erhellen. Aber das Licht muß frei leuchten. Vergeblich hätte der Allerhöchste sein Licht gesandt, wenn er es dann unter den Scheffel gestellt hätte. Nicht einmal die Menschen tun das, wenn sie ein Licht anzünden; denn dann hätten sie es umsonst angezündet. Wenn sie es anzünden, so geschieht das, damit es leuchtet und jeder sehen kann, der das Haus betritt. Ich komme in das verdunkelte irdische Haus meines Vaters und bringe das Licht, damit alle, die in ihm sind, sehen können. Das Licht strahlt, und ihr sollt es preisen, wenn es mit seinem reinsten Strahl Schlangen, Skorpione, Spinngewebe und Mauerrisse aufdeckt. Das Licht tut es aus Liebe, um euch Gelegenheit zu geben, euch selbst zu erkennen, euch zu reinigen und die schädlichen Tiere zu vertreiben: die Leidenschaften und Sünden, damit ihr auf den rechten Weg zurückkehrt, bevor es zu spät ist, und seht, wohin ihr euren Fuß setzt: in die Fallstricke Satans, bevor ihr in den Abgrund stürzt. Aber um klar zu sehen, braucht es außer dem klaren Licht ein klares Auge. In ein krankes Auge, das mit

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Eiter bedeckt ist, kann das Licht nicht eindringen. Reinigt daher eure Augen, reinigt euren Geist, damit das Licht in euch eindringen kann. Warum in der Finsternis umkommen, wenn der Allgütige euch Licht und Heilmittel schickt, um euch zu heilen? Es ist noch nicht zu spät. Kommt zu eurem Erlöser, der euch die Arme entgegenstreckt, euch das Herz öffnet und euch anfleht, ihn aufzunehmen zu eurem ewigen Heil.»

Jesus fleht sie innig an, voller Liebe, frei von allem, was nicht Liebe ist... Auch die Hartnäckigsten und Haßerfülltesten unter ihnen fühlen es. Ihre Waffen sind besiegt und ihre Gifte kraftlos geworden.

Sie schauen einander an, und endlich spricht Elchias im Namen aller: «Du hast gut gesprochen, Meister. Ich bitte dich, die Einladung zu dem Gastmahl anzunehmen, das ich dir zu Ehren geben werde.»

«Ich bitte um keine andere Ehre als jene, eure Seelen zu erobern. Laß mir meine Armut...»

«Du willst mich doch nicht beleidigen mit deiner Ablehnung?!»

«Keine Beleidigung. Ich bitte dich nur, mich bei meinen Freunden zu lassen.»

«Aber auch sie sollen kommen, das ist doch selbstverständlich. Auch sie sollen mit dir kommen. Es wird eine große Ehre für mein Haus sein! ... Eine große Ehre! ... Du gehst ja auch zu anderen bedeutenden Persönlichkeiten. Warum nicht zu Elchias?»

«Nun gut, ich werde kommen. Aber glaube mir, ich werde dir in der Verborgenheit des Hauses nichts anderes sagen können als das, was ich schon vor dem Volk gesagt habe.»

«Ich auch nicht und auch meine Freunde nicht! Oder zweifelst du daran?»

Jesus schaut ihn ganz fest an und sagt dann: «Ich zweifle nur an dem, was mir unbekannt ist. Aber die Gedanken der Menschen sind mir nicht unbekannt. Gehen wir zu deinem Haus... Der Friede sei mit denen, die mich angehört haben.»

An der Seite des Elchias verläßt er den Tempel, gefolgt von seinen Aposteln, unter die sich, durchaus nicht zu ihrer Freude, die Freunde des EIchias mischen.

460. JESUS ALS GAST DES SYNEDRISTEN UND PHARISÄERS

Jesus betritt das Haus seines Gastgebers, das nicht weit vom Tempel entfernt am Fuß des Tophet liegt. Es ist ein herrschaftliches Haus, etwas finster, das streng, übertrieben streng gehalten wird. Ich glaube, daß sogar Zahl und Lage der Nägel so ausgewählt worden sind, wie es in einer der sechshundertdreizehn Vorschriften für gut angezeigt wird. Keine Muster

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in den Stoffen, keine Verzierung an den Wänden, keine Nippsachen... nicht einmal die ganz kleinen, die selbst in den Häusern des Joseph und des Nikodemus oder in denen der Pharisäer von Kapharnaum zur Ausschmückung der Räume aufgestellt sind. Das Haus gibt in allem den Geist des Hausherrn wieder. Es ist kalt, ohne jeglichen Schmuck, hart, mit seinen dunklen Möbeln, die schwer und rechteckig sind wie Totensärge. Kein Haus, in dem man sich freundlich aufgenommen fühlt.

Elchias rühmt sich dessen auch noch und macht Jesus darauf aufmerksam. «Siehst du, Meister, von welch strenger Observanz ich bin? Alles spricht dafür. Schau: Vorhänge ohne Muster, Möbel ohne Schmuck, keine Gefäße mit Skulpturen, keine Lampen, die Blumen darstellen. Alles ist da; aber alles entspricht der Vorschrift: "Du sollst dir kein geschnitztes Bild, noch andere Darstellungen machen von etwas, das sich oben am Himmel, unten auf der Erde oder in den Gewässern befindet." Wie im Haus, so verhalte ich mich auch in Bezug auf meine Gewänder und die meiner Farnilienangehörigen. Ich billige z.B. nicht die Zierate auf dem Gewand und dem Mantel deines Schülers (Iskariot). Du wirst sagen: "Viele tragen solche Gewänder." Du wirst sagen: "Es ist nur eine Randverzierung." Gut. Aber mit diesen Ecken und Bogen erinnert sie zu sehr an die Zeichen Ägyptens. Ein Greuel! Dämonische Ziffern! Zeichen der Schwarzkunst! Siegel des Beelzebub! Es macht dir keine Ehre, o Judas des Simon, solche Gewänder zu tragen; und auch dir nicht, Meister, es ihm zu gestatten.»

Judas antwortet mit einem sarkastischen Lachen. Jesus erwidert demütig: «Mehr als über die Zeichen an den Gewändern wache ich darüber, daß die Herzen keine Schreckenszeichen tragen. Aber ich werde darum bitten, vielmehr will ich meinen Jünger schon jetzt bitten, weniger verzierte Gewänder zu tragen, um bei niemandem Anstoß zu erregen.»

Judas gibt nun eine gute Antwort: «Mein Meister hat mir schon mehrmals gesagt, daß er größere Einfachheit bei meinen Gewändern vorziehen würde. Aber ich habe getan, was ich wollte, denn mir gefällt diese Kleidung.»

«Schlimm, sehr schlimm, daß ein Galiläer einen Juden zurechtweisen muß, und noch dazu dich, der du vom Tempel gewesen bist... oh!»

Elchias äußert seinen ganzen Abscheu darüber, und seine Freunde tun desgleichen.

Judas ist es schon leid, gut zu sein, und erwidert schlagfertig: «Oh, dann wäre auch bei euch vom Hohen Rat mit vielem Pomp aufzuräumen! Wenn ihr alle Verzierungen entfernen würdet, mit denen die Gesichter eurer Seelen überdeckt sind, dann würden diese recht häßlich ausschauen.»

«Wie sprichst du denn?!»

«Wie einer, der euch kennt.»

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«Meister, hörst du ihn?»

«Ich höre ihn und sage, daß Demut am Platz wäre, auf der einen wie auf der anderen Seite, und gegenseitige Duldsamkeit. Gott allein ist vollkommen.»

«Das hast du gut gesagt, o Rabbi!» sagt einer der Freunde... Eine einzelne, einsame Stimme in der Gruppe der Pharisäer und Gelehrten.

«Schlecht gesagt!» entgegnet Elchias. «Das Deuteronomium ist klar in seinen Verwünschungen. Es steht geschrieben: "Verflucht ist, wer ein Schnitzbild oder Gußbild – ein Greuel für den Herrn – ein Machwerk von Künstlerhand, verfertigt und..."»

«Aber dies sind Kleider und keine Skulpturen», antwortet Judas.

«Schweig du. Laß deinen Meister reden. Elchias, sei gerecht und wisse zu unterscheiden. Verflucht ist, wer Götzenbilder anfertigt, aber nicht, wer durch Zeichnungen das Schöne wiedergibt, das der Schöpfer in die Schöpfung gesetzt hat. Wir pflücken ja auch Blumen, um zu schmücken...»

«Ich pflücke keine Blumen und will die Räume nicht geschmückt sehen. Und wehe meinen Frauen, wenn sie diese Sünde in den ihrigen begehen! Gott allein soll bewundert werden.»

«Ein gerechter Gedanke. Gott allein. Aber man kann Gott auch in einer Blume bewundern, indem man anerkennt, daß er der Künstler ist, der die Blume geschaffen hat.»

«Nein, nein! Das ist Heidentum! Heidentum!»

«Judith und auch Esther haben sich zu einem heiligen Zweck geschmückt...»

«Frauen! Die Frau ist immer ein verachtenswertes Wesen. Aber ich bitte dich, Meister, komm in den Speisesaal, während ich mich einen Augenblick zurückziehe, da ich mit meinen Freunden sprechen muß.»

Jesus fügt sich widerspruchslos.

«Meister, ich bekomme keine Luft! ...» ruft Petrus aus.

«Weshalb? Fühlst du dich übel?» fragen einige.

«Nein, aber sehr unbehaglich... Wie einer, der in eine Fallgrube gestürzt ist.»

«Rege dich nicht auf. Seid alle sehr vorsichtig», rät Jesus.

Sie bleiben in einer geschlossenen Gruppe stehen und warten, bis die Pharisäer, gefolgt von Dienern, wieder eintreten.

«Nehmt Platz, ohne zu zögern. Wir haben eine Sitzung und deshalb nicht viel Zeit», befiehlt Elchias. Er weist die Plätze an, während die Diener schon die Speisen vorschneiden.

Jesus sitzt an der Seite des Elchias und hat auf der anderen Seite Petrus neben sich. Elchias opfert die Speisen, und das Mahl beginnt in eisigem Schweigen...

Dann fallen die ersten Worte. Natürlich sind sie an Jesus gerichtet, denn die Zwölf beachtet niemand, so als ob sie nicht da wären.

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Als erster stellt ein Gesetzeslehrer eine Frage: «Meister, bist du also sicher, das zu sein, was du von dir sagst?»

«Ich sage es nicht von mir aus. Die Propheten haben es gesagt, bevor ich unter euch war.»

«Die Propheten! ... Da du leugnest, daß wir heilig sind, kannst du es auch hinnehmen, wenn ich sage, daß unsere Propheten überspannte Leute gewesen sein können.»

«Die Propheten sind Heilige.»

«Und wir nicht, nicht wahr? Aber schau, Sophonias gesellt in der Verurteilung Jerusalems die Propheten zu den Priestern: "Seine Propheten sind eitle Schwätzer, Männer des Treuebruchs. Seine Priester entweihen das Heilige, mißbrauchen das Gesetz." Das hältst du uns immer vor. Aber wenn du den Propheten im zweiten Teil seiner Aussage annimmst, so mußt du auch den ersten Teil annehmen und zugeben, daß man sich nicht grundsätzlich auf Worte stützen kann, die von Schwärmern stammen.»

«Rabbi von Israel, antworte mir. Sophonias sagt einige Zeilen weiter unten: "Juble Tochter Sion, jauchze Israel! Freue dich und frohlocke..; Entfernt hat der Herr deine Machthaber, beseitigt deine Feinde. Der er

in deiner Mitte ist König von Israel!" Nimmt dein Herz diese Worte an?»«Es ist mein Ruhm, sie mir zu wiederholen, während ich mir jenen Tag erträume.»

«Aber es sind die Worte eines Propheten, eines Schwärmers, daher ...»

Dem Gesetzeslehrer verschlägt es einen Augenblick die Sprache, bis ihm ein Freund zu Hilfe kommt: «Niemand kann in Zweifel ziehen, daß Israel herrschen wird. Nicht nur einer, sondern alle Propheten und die Vorgänger der Propheten, d.h. die Patriarchen, haben dieses Versprechen Gottes zum Ausdruck gebracht.»

«Und kein einziger der Urväter und der Propheten hat es unterlassen, mich als den zu bezeichnen, der ich bin.»

«Oh, gut! Aber wir haben keine Beweise! Auch du könntest ein Schwärmer sein. Welche Beweise gibst du uns dafür, daß du der Messias, der Sohn Gottes bist? Gib mir ein beweiskräftiges Zeichen, damit ich urteilen kann.»

«Ich weise nicht auf meinen Tod hin, wie David und Isaias ihn beschrieben haben, sondern auf meine Auferstehung.»

«Du? Du? Du sollst auferstehen? Und wer wird dich auferstehen lassen?»

«Ihr bestimmt nicht. Auch kein Hoherpriester, kein Herrscher, keine Kaste und nicht das Volk. Aus mir selber werde ich auferstehen.»

«Lästere Gott nicht, o Galiläer, und lüge nicht!»

«Ich tue nichts anderes, als Gott Ehre erweisen und die Wahrheit verkünden, und mit Sophonias sage ich dir: "Erwarte mich bei meiner

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Auferstehung." Bis dahin kannst du noch Zweifel haben, und ihr alle könnt sie haben und euch darum bemühen, sie im Volke zu säen. Aber ihr könnt es nicht mehr, wenn der ewig Lebendige, nachdem er erlöst hat, aus sich selbst auferstehen wird, um nicht mehr zu sterben, er, der unantastbare Richter, der vollkommene König, der mit seinem Szepter und in Gerechtigkeit regieren und richten wird bis zum Ende der Jahrhunderte und fortfahren wird, im Himmel zu herrschen in alle Ewigkeit.»

«Aber weißt du nicht, daß du zu Gelehrten und Mitgliedern des Hohen Rates sprichst?» sagt Elchias.

«Was hat das damit zu tun? Ihr fragt mich, und ich antworte. Ihr tut das Verlangen kund zu wissen, und ich erkläre euch die Wahrheit. Du, der du an den Fluch des Deuteronomiums erinnert hast, der mit dem Muster auf einem Gewand verbunden ist, wirst mich wohl nicht auch an den anderen Fluch daraus erinnern wollen: "Verflucht ist, wer seinen Nächsten heimlich erschlägt!"»

«Ich will dich nicht erschlagen. Ich gebe dir Speise.»

«Nein, die verfänglichen Fragen sind wie hinterlistige Schläge. Gib acht, Elchias, denn die Flüche Gottes folgen aufeinander, und dem eben angeführten folgt der nächste: "Verflucht ist, wer für Bestechungsgeld unschuldiges Blut vergießt."»

«In diesem Fall nimmst du, als Gast, die Gaben an.»

«Ich verdamme nicht einmal die Schuldigen, wenn sie reumütig sind.»

«Dann bist du nicht gerecht.»

«Nein, er ist gerecht, denn er rechnet mit ein, daß die Reue Verzeihung verdient, und verurteilt deswegen nicht», sagt jener, der Jesus schon in der Vorhalle des Hauses beigestimmt hatte.

«Schweig endlich, Daniel! Willst du vielleicht mehr wissen als wir? Oder bist du schon von einem eingenommen, über den es noch vieles zu entscheiden gibt und der nichts tut, um uns zu helfen, damit wir zu seinen Gunsten entscheiden können?» sagt ein Schriftgelehrter.

«Ich weiß, daß ihr gelehrt seid und ich ein einfacher Jude bin, der nicht einmal weiß, weshalb ihr mich öfters bei euch haben wollt...»

«Weil du zur Verwandtschaft gehörst! Das ist doch leicht verständlich! Ich will, daß die, die in meine Verwandtschaft aufgenommen werden, heilig und weise sind. Ich kann keine Unwissenheit dulden, was die Schrift, das Gesetz, die Halacha, den Midrasch und die Haggada betrifft. Alles muß man kennen und alles muß befolgt werden...»

«Und ich bin dir dankbar, daß du dich so sehr um mich sorgst. Aber ich, als einfacher Landmann, der, obwohl unwürdig, dein Verwandter geworden ist, habe mich darauf beschränkt, die heiligen Schriften und die Propheten zu studieren, um aus ihnen Trost für mein Leben zu schöpfen. Mit der Einfachheit des Ungebildeten bekenne ich dir, daß ich im Rabbi den Messias sehe, auf den der Täufer, sein Vorläufer, hingewiesen hat...

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und Johannes, das kannst du nicht leugnen, war vom Geist Gottes erfüllt.»

Alles schweigt. Sie wollen nicht leugnen, daß der Täufer unfehlbar war, wollen es aber auch nicht zugeben.

Schließlich sagt ein anderer: «Schluß damit... Sagen wir, daß Johannes der Vorläufer jenes Engels war, den Gott geschickt hat, um den Weg für Christus zu bereiten, und ... geben wir zu, daß im Galiläer genügend Heiligkeit ist, daß man ihn für diesen Engel halten kann. Nach ihm wird dann die Zeit des Messias kommen. Scheint euch dieser Gedanke nicht für alle annehmbar zu sein? Nimmst du ihn an, Elchias? Und ihr, meine Freunde? Und du, Nazarener?»

«Nein.» «Nein.» «Nein.» Die drei Nein sind sehr energisch.

«Weshalb könnt ihr dies nicht annehmen?»

Elchias schweigt. Seine Freunde schweigen. Nur Jesus antwortet in seiner Aufrichtigkeit: «Weil ich einem Irrtum nicht zustimmen kann. Ich bin mehr als ein Engel. Der Engel war der Täufer, der Vorläufer Christi, und Christus bin ich.»

Es folgt ein langes, eisiges Schweigen. Elchias, den Ellbogen auf seine Liege gestützt, die Wange in der Hand, denkt nach, hart und verschlossen wie sein ganzes Haus.

Jesus wendet sich ihm zu, schaut ihn an und sagt: «Elchias, Elchias, verwechsle Gesetz und Propheten nicht mit Kleinlichkeit!»

«Ich sehe, daß du meine Gedanken gelesen hast. Aber du kannst nicht leugnen, daß du gesündigt hast, da du die Vorschrift nicht beachtet hast.»

«So wie du dich bewußt der Pflicht eines Gastgebers entzogen hast, und zwar mit Arglist, daher bist du noch schuldiger. Du hast mich abgelenkt und dann hierher beordert, während du dich mit deinen Freunden gereinigt und uns bei deiner Rückkehr gebeten hast, rasch zu Tisch zu gehen, weil du zu einer Sitzung mußt. Und dies alles nur, um mir nachher sagen zu können: "Du hast gesündigt."»

«Du hättest mich daran erinnern können, dir das Notwendige zur Reinigung zu geben.»

«An so viele Dinge könnte ich dich erinnern, aber es würde zu nichts anderem dienen, als dich noch unnachgiebiger und feindseliger werden zu lassen.»

«Nein. Sage sie mir. Sage sie mir. Wir alle wollen dich anhören und ...»

«Und mich bei den Hohenpriestern anklagen. Deswegen habe ich dir die letzte und die vorletzte Verfluchung in Erinnerung gerufen. Ich weiß es. Ich kenne euch. Ich bin hier wehrlos unter euch. Ich bin hier getrennt vom Volk, das mich liebt und in dessen Gegenwart ihr es nicht wagt, mich anzugreifen. Aber ich fürchte mich nicht. Ich lasse mich nicht auf Kompromisse ein und begehe keinen Verrat. Ich sage euch eure Sünden und die eurer gesamten Kaste, und auch die eurigen, ihr Pharisäer, ihr falschen

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Reinen des Gesetzes, ihr falschen Schriftgelehrten und Weisen, die ihr absichtlich das wahrhaft Gute mit dem verfälschten Guten vermischt; die ihr von anderen selbst in äußerlichen Dingen Vollkommenheit verlangt, von euch selbst aber nichts. Ihr macht mir zusammen mit eurem und meinem Gastgeber den Vorwurf, mich vor dem Essen nicht gewaschen zu haben. Ihr wißt, daß ich vom Tempel komme, zu dem man hingeht, nachdem man sich vom Staub und Schmutz der Straße gereinigt hat. Wollt ihr demnach behaupten, daß der heilige Ort Befleckung verursacht?»

«Wir haben uns gereinigt, bevor wir uns zu Tisch begeben haben.»

«Uns aber hat man aufgefordert: "Geht dorthin und wartet." Und nachher: "Unverzüglich zu Tisch." In deinem Haus, dessen Wände keine Malereien aufweisen, hatte man einen genauen Plan: Man wollte mich in eine Falle locken. Welche Hand hat den Grund an die Wände geschrieben, der euch dazu dient, mich anzuklagen? Dein Geist oder eine andere Macht, die ihn lenkt und auf die du hörst? Hört nunmehr alle zu!»

Jesus erhebt sich, und, die Hände auf den Rand des Tisches gestützt, beginnt er seine Schmährede: «Ihr Pharisäer wascht das Äußere des Bechers und der Schüssel, die Hände und die Füße, als ob Teller und Becher, Hände und Füße in euren Geist eingehen müßten, den ihr gern als rein und vollkommen bezeichnet. Aber nicht ihr, sondern Gott allein kann das sagen. Nun gut, wißt, was Gott von eurem Geist denkt. Er denkt, daß er voll Lüge, Schmutz, Raub und Bosheit ist und daß nichts, was von außen kommt, noch mehr verderben kann, was schon ganz und gar Verderbtheit ist.»

Er erhebt seine Rechte vom Tischrand und beginnt unwillkürlich, mit ihr zu gestikulieren, während er fortfährt: «Wird der, der euren Geist, wie auch euren Körper erschaffen hat, nicht wenigstens gleicherweise Achtung vor dem Inneren wie vor dem Äußeren verlangen können? O ihr Törichten, die ihr die beiden Werte miteinander verwechselt! Wird der Allerhöchste nicht eine viel intensivere Pflege des Geistes verlangen, der nach seinem Ebenbild geschaffen ist und durch die Verderbtheit das ewige Leben verliert, als der Hände und Füße, deren Schmutz leicht abgewaschen werden kann und die, selbst wenn sie schmutzig bleiben, die innere Reinheit nicht beeinträchtigen können? Kann Gott sich um die Reinheit eines Bechers oder einer Schüssel kümmern, da diese nur seelenlose Gegenstände sind, die keinen Einfluß auf eure Seelen haben?

Ich lese deinen Gedanken, Simon Boetos. Nein, er entspricht nicht der Wahrheit. Es geschieht nicht mit Rücksicht auf die Gesundheit, zum Schutz des Fleisches und des Lebens, daß ihr diese Reinigungen vornehmt. Die fleischlichen Sünden, d.h. jene des Gaumens, der Unmäßigkeit, der Wollust sind sicher schädlicher für den Körper als ein bißchen Staub an den Händen oder auf dem Teller. Trotzdem begeht ihr sie, ohne euch über euer Dasein und die Unversehrtheit eurer Hausgenossen Sorgen

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zu machen. Ihr begeht Sünden aller Art; denn abgesehen von der Befleckung eures Körpers und eures Geistes, der Verschwendung des Eigentums, und der Rücksichtslosigkeit eurer Dienerschaft gegenüber, beleidigt ihr den Herrn durch die Entheiligung eures Körpers, des Tempels eures Geistes, in dem sich der Thron des Heiligen Geistes befinden sollte. Ihr beleidigt ihn auch, indem ihr euch selbst vor den Krankheiten schützen wollt, die von etwas Staub herrühren könnten, als ob Gott euch nicht vor physischer Krankheit schützen könnte, wenn ihr mit reinem Geist zu ihm eure Zuflucht nehmen würdet.

Aber hat Gott, der das Innere geschaffen hat, nicht auch das Äußere geschaffen und umgekehrt? Und ist das Innere nicht der edlere und gottähnlichere Teil?

Vollbringt daher Werke, die Gottes würdig sind, und nicht Kleinlichkeiten, die sich nicht über den Staub erheben, für den und aus dem sie gemacht sind; denn aus dem elenden Staub der Erde ist der Mensch geschaffen, wie das tierische Geschöpf; geformte Materie ist er und zum Staub wird er zurückkehren, zum Staub, den der Wind der Jahrhunderte zerstreut. Vollbringt Werke von bleibendem Wert, die königlich und heilig sind, Werke, die sich mit göttlichem Segen krönen. Übt Liebe, gebt Almosen, seid rechtschaffen, seid rein in euren Werken und in euren Absichten, dann wird auch ohne die Waschung alles in euch rein sein.

Wer glaubt ihr denn zu sein? Meint ihr, das alles in Ordnung ist, wenn ihr den Zehnten von euren Gewürzen gebt? Nein. Wehe euch, ihr Pharisäer, die ihr den Zehnten von Minze, Raute, Pfeffer, Kümmel, Fenchel und allen anderen Kräutern entrichtet, aber die Gerechtigkeit und die Liebe Gottes außer acht laßt. Den Zehnten zu entrichten ist eine Pflicht, die erfüllt werden muß. Aber es gibt noch viel höhere Pflichten, und auch diese müssen erfüllt werden. Wehe dem, der die äußeren Dinge beachtet, die inneren, die mit der Liebe zu Gott und zum Nächsten verbunden sind, aber vernachlässigt. Wehe euch, ihr Pharisäer, die ihr die ersten Plätze in den Synagogen und Versammlungen fordert und es liebt, auf den Märkten verehrt zu werden, aber nicht daran denkt, Werke zu tun, die euch einen Platz im Himmel sichern und die Achtung der Engel einbringen. Ihr gleicht getünchten Gräbern, die der Vorübergehende nicht beachtet und die ihn nicht erschaudern lassen, während sie doch Abscheu in ihm erwecken würden, wenn er sehen könnte, was in ihnen verborgen ist. Gott aber sieht auch die verborgensten Dinge und läßt sich in seinem Urteil über euch nicht täuschen.»

Jesus wird durch den Widerspruch eines Gesetzeslehrers, der sich ebenfalls erhoben hat, unterbrochen... «Meister, wenn du so sprichst, beleidigst du auch uns, und das ist nicht angebracht für dich, denn wir müssen über dich zu Gericht sitzen.»

«Nein. Nicht ihr. Ihr könnt mich nicht richten. Ihr seid die Gerichteten,

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nicht die Richter. Und wer euch richten wird, ist Gott. Ihr könnt wohl reden, mit eurem Mund Laute erzeugen, doch selbst die mächtigste Stimme erreicht nicht die Himmel und alle Winkel der Erde. Nach einem Augenblick herrscht Schweigen... und nach kurzer Zeit sind die Worte vergessen. Aber das Urteil Gottes ist die Stimme, die andauert und nicht in Vergessenheit gerät. Jahrhunderte sind vergangen, seit Gott Luzifer und ebenso Adam gerichtet hat. Aber die Stimme dieses Urteilsspruches verhallt nicht, und die Folgen dieses Urteils bleiben. Wenn ich auch jetzt gekommen bin, um den Menschen wieder die göttliche Gnade zu bringen durch das vollkommene Opfer, so bleibt doch das Urteil über Adam bestehen und seine Tat wird stets "Erbsünde" genannt werden. Die Menschen werden erlöst sein, gewaschen durch eine Reinigung, die jede andere übertrifft. Doch werden sie mit diesem Makel zur Welt kommen; denn Gott hat beschlossen, daß dieser Makel jedem aus der Frau Geborenen anhaften soll, mit Ausnahme dessen, der nicht vom Mann, sondern vom Heiligen Geist stammt, und mit Ausnahme auch der Unversehrten und des im voraus Geheiligten; der ersteren, damit sie die gottähnliche Jungfrau sei, des anderen, damit er der Vorläufer des Unschuldigen sein könne, da er schon rein geboren wurde durch eine Vorwegnahme der unendlichen Verdienste des erlösenden Heilandes.

Ich sage euch, daß Gott euch richtet; und er richtet euch mit den Worten: "Wehe euch, ihr Gesetzeslehrer, denn ihr bürdet dem Volk unerträgliche Lasten auf, wodurch ihr den väterlichen Dekalog des Allerhöchsten zu einer Züchtigung für das Volk macht." Er hat ihn mit Liebe und aus Liebe gegeben, auf daß der Mensch einen wirklichen Halt in einer gerechten Führung habe, der Mensch, das ewige unkluge und unwissende Kind. Aus der liebevollen Gabe, mit der Gott seine Geschöpfe umarmt hat, damit sie auf seinem Weg wandeln und zu seinem Herzen kommen können, habt ihr einen Berg von spitzen, schweren, quälenden Steinen gemacht, ein Labyrinth von Vorschriften, einen Alptraum von Skrupeln, durch die der Mensch niedergedrückt, verwirrt und zaghaft wird und Gott wie einen Feind fürchtet. Ihr hindert die Herzen daran, zu Gott zu kommen. Ihr trennt den Vater von den Kindern. Ihr verleugnet mit euren Auflagen seine milde, gesegnete, wahrhafte Vaterschaft. Ihr hingegen berührt diese Lasten, die ihr anderen aufbürdet, nicht einmal mit eurem kleinen Finger. Ihr haltet euch für gerechtfertigt schon allein, weil ihr sie ihnen aufgebürdet habt.

Ihr Törichten, wißt ihr nicht, daß ihr gerichtet werdet für das, was ihr für die Rettung der Seele für notwendig befunden habt? Wißt ihr nicht, daß Gott euch sagen wird: "Ihr habt euer eigenes Wort heilig und gerecht genannt. Nun denn, auch ich betrachte es so. Nachdem ihr es allen auferlegt und euer Volk beurteilt habt nach der Art, wie es das Wort angenommen und in die Tat umgesetzt hat, werde auch ich euch nach eurem Wort

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richten; und da ihr nicht getan habt, was ihr von anderen verlangt habt, verurteile ich euch."

Wehe euch, die ihr Denkmäler über den Gräbern der Propheten errichtet, die eure Väter getötet haben. Glaubt ihr vielleicht, damit das Ausmaß der Schuld eurer Väter zu verringern? ... oder diese Schuld gar in den Augen der Nachkommen zu tilgen? Ihr seid das lebendige Zeugnis der Werke eurer Väter, und nicht nur das, sondern ihr billigt sie und seid bereit, das gleiche zu tun, um dann dem verfolgten Propheten ein Grabmal zu errichten und euch selbst zu sagen: "Wir haben ihm Ehre erwiesen." Ihr Heuchler! Aus diesem Grund hat die Weisheit Gottes gesprochen: "Ich werde ihnen Propheten und Apostel schicken, sie aber werden einige unter ihnen töten und andere verfolgen; daher kann man von diesem Geschlecht das Blut aller Propheten fordern, das seit der Erschaffung der Welt vergossen wurde, vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der getötet wurde zwischen dem Altar und dem Heiligtum." Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wegen dieses Blutes der Heiligen wird dieses Geschlecht zur Rechenschaft gezogen werden, das Gott nicht dort zu erkennen weiß, wo er ist, und den Gerechten verfolgt und betrübt, da der Gerechte der lebendige Gegensatz zu seiner Ungerechtigkeit ist.

Wehe euch, ihr Gesetzeslehrer, die ihr den Schlüssel des Wissens an euch gerissen und seinen Tempel verschlossen habt, um nicht einzutreten und verurteilt zu werden und um auch andere nicht eintreten zu lassen. Denn ihr wißt: Wäre das Volk in der wahren Wissenschaft belehrt worden, d.h. in der heiligen Weisheit, könnte es euch richten. Daher haltet ihr es lieber in Unwissenheit, weil es euch so nicht richten kann. Mich haßt ihr, weil ich das Wort der Weisheit bin, und am liebsten würdet ihr mich vorzeitig in einen Kerker werfen oder in ein Grab einschließen, damit ich nicht mehr spreche.

Aber ich werde reden, solange es meinem Vater gefällt. Und danach werden meine Werke sprechen, mehr noch als meine Worte. Meine Verdienste werden sprechen, mehr noch als meine Werke. Die Welt wird belehrt sein, sie wird wissen und euch richten. Dies ist das erste Gericht, das über euch gehalten wird, dann kommt das zweite: das individuelle Gericht bei jedem einzelnen Todesfall unter euch. Am Ende wird das letzte Gericht kommen, das weltweite; und dann werdet ihr euch dieses Tages und dieser Tage erinnern, und ihr, nur ihr, werdet den furchtbaren Gott kennenlernen, den ihr den Seelen der Einfältigen eingeredet habt, während ihr ihn im Innern eures Grabes verlacht und vom ersten und wichtigsten Gebot der Liebe bis zu den auf dem Sinai gegebenen keines in Ehren gehalten und keinem Gehorsam erwiesen habt...

Vergeblich, o Elchias, hast du in deinem Haus keine Bilder. Vergeblich habt ihr alle von euren Wohnungen geschnitzte Gegenstände ferngehalten. Im Innern eurer Herzen habt ihr den Abgott und die Götzenbilder,

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denn ihr haltet euch selbst für Götter, Götter eurer Begierlichkeiten. Kommt, laßt uns gehen.»

Er läßt die Zwölf vorausgehen und geht selbst als letzter hinaus. Es folgt ein tiefes Schweigen...

Dann aber beginnen die Zurückgebliebenen zu schreien, und alle zusammen rufen sie: «Man muß ihn verfolgen, man muß ihn auf offener Tat ertappen und Gründe für eine Anklage finden! Ja, umbringen muß man ihn!»

Wiederum ein Schweigen.

Während zwei von ihnen, abgestoßen durch den Haß und die Absichten der Pharisäer, sich entfernen – es handelt sich um einen Verwandten des Elchias und jenen, der zweimal den Meister verteidigt hat – fragen sich die Zurückgebliebenen: «Aber wie?»

Erneutes Schweigen.

Dann sagt Elchias mit einem glucksenden Gelächter: «Wir müssen Judas des Simon bearbeiten...»

«Jawohl! Eine gute Idee! Aber du hast ihn doch beleidigt! ...»

«Laß das meine Sorge sein», sagt der, den Jesus Simon Boetos genannt hat. «Ich und Eleazar des Annas... wir werden ihn umgarnen ...»

«Einige Versprechen ...»

«Etwas Furcht einjagen ...»

«Viel Geld ...»

«Nein, nicht viel... Versprechen, Versprechen von viel Geld ...»

«Und dann?»

«Wie, und dann?»

«Dann, wenn alles geschehen ist. Was werden wir ihm geben?»

«Nichts. Den Tod. So... wird er nicht mehr sprechen», sagt Elchias langsam und grausam.

«Uh! den Tod ...»

«Schauderst du davor? Ach! Wenn wir den Nazarener töten, der... ein Gerechter ist... werden wir auch Judas töten können, der ein Sünder ist...»

Es gibt noch Ungewißheiten...

Aber Elchias erhebt sich und spricht: «Wir wollen auch noch Annas anhören... und ihr werdet sehen... daß er sagt: "Eine gute Idee", und auch ihr werdet noch so weit kommen... Oh, und ob! ...»

Alle gehen hinter ihrem Gastgeber hinaus, der sich entfernt mit den Worten: «Ihr werdet so weit kommen... Ihr werdet so weit kommen!»

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461. IN BETHANIEN

Der Sonnenuntergang rötet den Himmel, als Jesus Bethanien erreicht. Erhitzt und staubbedeckt folgen ihm die Seinen. Jesus und die Apostel sind die einzigen, die der Hitze des Weges trotzen. Die vom Gebiet des Ölbergs bis zu den Hängen um Bethanien verstreuten Bäume, bieten nur wenig Schatten. Der Sommer kennt keine Gnade. Mehr noch wütet der Haß. Die Felder sind öde und versengt und gleichen Backöfen, aus denen einem die Gluthitze entgegenströmt. Aber die Herzen der Feinde Jesu sind noch öder; sie sind nicht nur der Liebe, sondern jeglicher Rechtschaffenheit und menschlicher Sittlichkeit bar und von Haß ausgebrannt... Es gibt nur noch ein Haus, eine Zuflucht für Jesus: Bethanien. Dort erwarten ihn Liebe, Erquickung, Schutz und Treue... Dorthin begibt sich der verfolgte Pilger im weißen Gewand, mit seinem schmerzerfüllten Antlitz und dem müden Schritt dessen, der sich nicht aufhalten darf, weil ihm die Feinde auf den Fersen sind. Er schreitet einher mit dem fügsamen, widerspruchslosen Blick eines Mannes, der schon den Tod vor Augen hat, der jede Stunde und bei jedem Schritt näherkommt und den er im Gehorsam gegen Gott angenommen hat...

Das Haus in seinem großen Garten ist verschlossen und stumm, in Erwartung frischerer Stunden. Auch in dem leeren Garten herrscht tiefe Stille, und nur die Sonne brennt unbarmherzig auf alles herab.

Thomas macht sich mit seiner kräftigen Baritonstimme bemerkbar.

Ein Vorhang wird zur Seite geschoben, und ein Gesicht guckt hervor... dann ertönt ein Ruf: «Der Meister!» und die Diener laufen hinaus, gefolgt von den erstaunten Herrinnen, die Jesus gewiß nicht zu dieser Stunde der größten Hitze erwartet haben.

«Rabbomi!» «Mein Meister!» Martha und Maria grüßen von weitem, schon verneigt und bereit, sich vor ihm niederzuwerfen. Sie tun dies, sowie die Gartentür offen ist und nichts mehr sie vom Herrn trennt. «Maria, Maria, der Friede sei mit euch und eurem Haus.»

«Der Friede sei mit dir, Meister und Herr... Aber wieso zu dieser Stunde?» fragen die Schwestern und entlassen die Diener, damit Jesus ungestört mit ihnen reden kann.

«Um Leib und Seele an einem Ort, an dem man mich nicht haßt, Ruhe zu gönnen...» sagt Jesus traurig und breitet seine Arme aus, als wolle er sagen: «Ihr nehmt mich an.» Er zwingt sich zu lächeln, aber es ist ein sehr trauriges Lächeln, dem der schmerzliche Ausdruck seiner Augen widerspricht.

«Hat man dir ein Leid zugefügt?» fragt Maria, glühend vor Erregung.

«Was ist dir zugestoßen?» fragt Martha und fügt mütterlich hinzu: «Komm und erquicke dich. Seit wann bist du unterwegs, daß du so müde bist ?»

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«Seit der Morgendämmerung... und ich kann sagen: ohne Unterbrechung, denn der kurze Aufenthalt im Haus des Elchias, des Synedristen, war anstrengender als ein langer Marsch.»

«Haben sie dich dort bedrängt?»

«Ja... und zuerst im Tempel...»

«Aber warum bist du zu dieser Schlange gegangen?» fragt Martha.

«Wäre ich nicht hingegangen, dann hätte ihm das dazu gedient, seinen Haß zu rechtfertigen, und mich anzuklagen, daß ich die Mitglieder des Hohen Rates verachte. Aber... ob ich gehe oder nicht, das Maß des Hasses der Pharisäer ist voll, und es wird keine Ruhe mehr geben ...»

«Sind wir schon so weit? Dann bleibe bei uns, Meister. Hier werden sie dir nichts Böses antun...»

«Ich würde gegen meine Sendung fehlen... Viele Seelen warten auf ihren Erlöser. Ich muß gehen ...»

«Aber sie werden dich hindern, zu gehen!»

«Nein, sie werden mich verfolgen und jeden meiner Schritte beobachten; sie werden mich veranlassen zu reden, um jedes Wort zu zerpflücken; sie werden mich wie Spürhunde überwachen, um irgend eine Schuld an mir zu finden... und alles wird ihnen dann dienen...»

Die immer so zurückhaltende Martha ist so von Mitleid gerührt, daß sie die Hände erhebt, als wolle sie seine abgemagerte Wange liebkosen, aber sie beherrscht sich, errötet und spricht: «Verzeih! Du hast mir dieselbe Pein verursacht wie unser Lazarus! Verzeih mir, Herr, daß ich dich geliebt habe wie einen leidenden Bruder!»

«Ich bin der leidende Bruder... Liebt mich mit reiner Schwesterliebe... Aber Lazarus, was macht er?»

«Er siecht dahin, Herr...» antwortet Maria und läßt ihren Tränen freien Lauf bei diesem Bekenntnis, das sich zu der Pein gesellt, ihren Meister so betrübt zu sehen.

«Weine nicht, Maria. Weder meinet- noch seinetwegen. Wir tun den göttlichen Willen. Weinen muß man über den, der diesen Willen nicht zu erfüllen vermag...»

Maria neigt sich, um Jesu Hände zu ergreifen, und küßt die Fingerspitzen.

Inzwischen sind sie beim Haus angelangt, gehen hinein und begeben sich sofort zu Lazarus, während die Apostel in der Vorhalle verweilen, um sich mit dem zu erfrischen, was die Diener ihnen reichen.

Jesus neigt sich über den so sehr abgezehrten Lazarus und küßt ihn lächelnd, um ihm in seiner Traurigkeit Erleichterung zu bringen.

«Meister, wie sehr du mich liebst. Nicht einmal den Abend hast du abgewartet, um zu mir zu kommen. Bei dieser Hitze ...»

«Mein Freund, ich freue mich über dich, und du freust dich über mich. Alles andere zählt nicht.»

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«Das ist wahr. Auch mein Leiden bedeutet mir nichts mehr... Jetzt weiß ich, weshalb ich leide und was ich durch mein Leiden wirken kann», und Lazarus hat ein inniges, vergeistigtes Lächeln auf seinem Antlitz.

«So ist es, Meister. Man könnte fast sagen, unser Lazarus betrachte sein Leiden mit Wohlgefallen und...» Martha unterbricht sich mit einem Schluchzen und schweigt.

«Ja, sag es nur: und auch den Tod. Meister, sag ihnen, daß sie mir helfen sollen, wie die Leviten den Priestern.»

«Wobei, mein Freund?»

«Das Opfer zu vollenden...»

«Und doch hast du noch vor kurzem vor dem Tod gezittert! Liebst du uns also nicht mehr? Liebst du den Meister nicht mehr? Willst du ihm nicht dienen? ...» fragt Maria eindringlicher und bleich vor Schmerz, während sie die gelbliche Hand ihres Bruders streichelt.

«Das fragst du, ausgerechnet du, du glühende, hochherzige Seele? Bin ich nicht dein Bruder? Bin ich nicht von demselben Blut und habe ich nicht dieselbe heilige Liebe für Jesus, für die Seelen und auch für euch, geliebte Schwestern? ... Aber am Passahfest hat meine Seele ein großes Wort aufgenommen, und nun liebe ich den Tod. Herr, ich biete dir mein Leben an nach deiner Meinung.»

«Du bittest mich also nicht mehr um Heilung?»

«Nein, mein Rabbomi. Ich bitte um deinen Segen, um leiden und... sterben zu können... und, wenn ich nicht zu viel verlange, um erlösen zu können... Du hast es gesagt...»

«Ich habe es gesagt und ich segne dich, um dir die nötige Kraft zu geben.» Er legt ihm die Hände auf und küßt ihn.

«Bleiben wir zusammen, dann kannst du mich unterweisen...»

«Nicht jetzt, Lazarus. Ich kann mich nicht lange aufhalten. Ich bin nur für einige Stunden gekommen. Sobald es dunkel wird, breche ich wieder auf.»

«Aber warum?» fragen die drei Geschwister enttäuscht.

«Weil ich mich nicht aufhalten kann... Im Herbst werde ich wiederkommen. Und dann... werde ich öfters hier sein und wirken... hier und in der Umgegend...»

Es folgt ein trauriges Schweigen. Dann bittet Martha: «So ruhe dich wenigstens ein bißchen aus und erquicke dich...»

«Nichts erquickt mich mehr als eure Liebe. Laßt meine Apostel ruhen und mich hier bei euch bleiben, in diesem Frieden...»

Martha geht weinend hinaus, um kurz darauf mit Tassen kalter Milch und frischen Erstlingsfrüchten zurückzukehren... «Die Apostel haben gegessen und sind vor Müdigkeit eingeschlafen. Mein Meister, willst du wirklich nicht ruhen?»

«Bestehe nicht darauf, Martha. Noch vor der Morgendämmerung

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werden sie mich hier suchen, in Gethsemane, bei Johanna, in jedem gastlichen Haus. Aber um diese Zeit werde ich schon weit fort sein.»

«Wohin gehst du, Meister?» fragt Lazarus.

«In Richtung Jericho, aber nicht auf dem gewöhnlichen Weg... Ich werde auf Thekoa zugehen und dann nach Jericho zurückkehren.»

«Das ist ein beschwerlicher Weg in dieser Jahreszeit ...» murmelt Martha.

«Gerade deswegen ist er so einsam. Wir werden bei Nacht wandern. Die Nächte sind hell, schon bevor der Mond aufgeht... und das Morgengrauen läßt nicht lange auf sich warten ...»

«Und dann?» fragt Maria.

«Dann werde ich in das Gebiet jenseits des Jordan gehen, und nördlich davon, auf der Höhe von Samaria, werde ich den Fluß überqueren und auf diese Seite kommen.»

«Geh schnell nach Nazareth, du bist müde...» sagt Lazarus.

«Zuerst muß ich die Küste des Meeres erreichen, dann erst gehe ich nach Galiläa. Aber auch dort werden sie mich verfolgen...»

«Dort wirst du aber deine Mutter haben, die dich tröstet...» sagt Martha.

«Ja, arme Mutter!»

«Meister, Magdala ist dein. Du weißt es», erinnert Maria.

«Ich weiß, Maria... Alles Gute und alles Böse weiß ich...»

«So getrennt zu sein... Für so lange Zeit! Wirst du mich lebendig wiedersehen, Meister?»

«Zweifle nicht daran. Weint nicht... Auch an die Trennungen muß man sich gewöhnen. Sie dienen dazu, zu prüfen, wie stark eine Zuneigung ist. Man versteht die geliebten Herzen besser, wenn man sie aus der Ferne mit dem geistigen Auge betrachtet. Wenn man nicht durch die menschliche Freude über die Nähe eines geliebten Menschen beeinflußt wird und über seinen Geist und seine Liebe nachdenken kann, dann versteht man das "Ich" des Fernen besser... Ich bin sicher, daß ihr euren Meister noch besser verstehen werdet, wenn ihr mein Wirken und meine Zuneigung in Ruhe betrachten könnt.»

«O Meister, aber wir zweifeln nicht an dir!»

«Noch ich an euch. Ich weiß Bescheid. Aber ihr werdet mich noch besser verstehen. Ich brauche euch nicht zu sagen, daß ihr mich lieben sollt, denn ich kenne eure Herzen. Ich sage nur: Betet für mich.»

Die drei Geschwister weinen... Jesus ist so traurig! ... Wie könnte man da nicht weinen?

«Was wollt ihr? Gott hat den Menschen die gegenseitige Liebe gegeben. Aber die Menschen haben sie durch den Haß ersetzt... Und der Haß trennt nicht nur die Feinde, sondern schleicht sich auch ein, um Freunde zu trennen.»

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Es folgt ein langes Schweigen.

Dann sagt Lazarus: «Meister, verlasse Palästina für einige Zeit...»

«Nein, mein Platz ist hier. Hier muß ich leben, die Frohe Botschaft verkünden und sterben.»

«Aber du hast doch für Johannes und die Griechin auch vorgesorgt. Geh zu ihnen.»

«Nein, sie mußten gerettet werden, ich aber muß retten. Das ist der Unterschied, der alles erklärt. Der Altar ist hier, und hier ist auch der Lehrstuhl. Ich kann nicht anderswo hingehen, und überhaupt... glaubt ihr, es würde etwas an dem ändern, was bestimmt ist? Nein, weder auf Erden noch im Himmel. Es würde nur das Bild von der geistigen Reinheit des Messias trüben. Ich wäre "der Feige" ' der sich durch die Flucht rettet. Ich muß der gegenwärtigen und zukünftigen Menschheit ein Beispiel geben, daß man in den Dingen Gottes, in den heiligen Dingen, nicht feige sein darf ...»

«Du hast recht, Meister», seufzt Lazarus.

Martha schiebt den Vorhang beiseite und sagt: «Du hast recht... Es wird Abend. Die Sonne scheint nicht mehr...»

Maria beginnt bitterlich zu weinen, als ob diese Worte ihr die seelische Widerstandskraft genommen hätten, mit der sie ihr Weinen auf stille Tränen beschränkt hat. Sie weint noch viel herzzerreißender als im Haus des Pharisäers, als sie den Erlöser unter Tränen um Verzeihung bat...

«Warum weinst du so?» fragt Martha.

«Weil du die Wahrheit gesagt hast, Schwester! Die Sonne scheint nicht mehr... Der Meister geht fort... und für mich... für uns gibt es keine Sonne mehr ...»

«Seid gut. Ich segne euch, und mein Segen möge über euch bleiben. Und nun laßt mich allein mit Lazarus, der müde ist und der Stille bedarf. Während ich über meinen Freund wache, ruhe ich mich aus. Sorgt für die Apostel und sagt ihnen, sie sollen sich für die Nacht bereithalten.»

Die Jüngerinnen ziehen sich zurück und Jesus bleibt schweigend und ich sich selbst versunken neben seinem kranken Freund sitzen, der, beruhigt durch seine Anwesenheit, mit einem leichten Lächeln auf dem Antlitz einschläft.

462. JESUS UND DER BETTLER AUF DEM WEG NACH JERICHO

Ich sehe Jesus auf einer sehr staubigen und sonnenbeschienenen Hauptstraße. Weit und breit kein Schatten, weit und breit kein Grün. Nur Staub, auf der Straße und auf den öden Feldern längs der Straße.

Es sind wirklich nicht mehr die sanften Hügel von Galiläa oder die

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waldigeren an Wasser und Weideland so reichen Berge von Judäa. Dies hier ist eine Gegend, die ursprünglich nicht so wüstenartig war, sondern sie ist es geworden, weil der Mensch sie nicht bebaut hat. Es ist eine Ebene, denn ich sehe keine Hügel, nicht einmal in der Ferne. Da ich Palästina nicht kenne, kann ich wirklich nicht sagen, welche Gegend es ist. Aber es ist gewiß eine, die ich in früheren Visionen noch nie gesehen habe. Haufen von Steinen liegen auf der einen Straßenseite. Vielleicht will man damit die Straße ausbessern, die sich in einem elenden Zustand befindet. Gegenwärtig versinkt man in Massen von Staub. Wenn es regnet, werden sich letztere in Schlamm verwandeln. Ich sehe kein einziges Haus, weder in der Nähe noch in der Ferne.

Wie immer geht Jesus den Aposteln einige Schritte voraus, und erhitzt und müde folgen sie ihm in Gruppen. Um sich vor der Sonne zu schützen, haben sie die Mäntel über den Kopf gezogen und scheinen so eine Bruderschaft in bunter Kleidung zu sein. Jesus hingegen ist ohne Kopfbedeckung, als ob ihn die Sonne in keiner Weise stören würde. Er trägt eine Tunika aus weißem Linnen mit kurzen Ärmeln, die bis zu den Ellbogen reichen. Sie ist sehr weit und locker. Er trägt nicht einmal seinen gewohnten Kordelgürtel. Dieses Gewand ist für diese Hitze sehr geeignet. Auch der blaue Mantel muß wohl aus Linnen sein, denn er ist sehr fein und fällt leicht um den Körper. Er umhüllt ihn viel weniger als sonst, bedeckt die Schultern und läßt die Arme frei. Ich weiß nicht, wie er ihn befestigt hat.

Auf einem Steinhaufen sitzt ein Mann; vielmehr liegt er halb ausgestreckt. Es ist ein Armer, sicherlich ein Bettler, der mit einer schmutzigen, zerrissenen, kurzen Tunika bekleidet ist, die vielleicht einmal weiß war, jetzt aber die Farbe des Schlammes angenommen hat. Er trägt auch zwei ärmliche, ausgetretene Sandalen: zwei verschlissene Sohlen, die mit Schnüren an seinen Füßen festgebunden sind. Als Wanderstab hält er einen Baumast in den Händen. Um die Stirn ist eine schmutzige Binde gewickelt und um das linke Bein, zwischen Knie und Knöchel, noch ein blutbeschmutzter Fetzen. Der Arme ist ausgemergelt, ein Häufchen Knochen, elend, schmutzig, struppig und ungekämmt.

Noch bevor er Jesus ruft, geht dieser schon zu ihm. Er nähert sich dem Elenden und fragt: «Wer bist du?»

«Ein Armer, der um Brot bittet.»

«An diesem Weg?»

«Ich gehe nach Jericho.»

«Der Weg ist weit, und die Gegend menschenleer.»

«Ich weiß es. Aber die Heiden, die hier vorüberkommen, werden mir eher ein Stück Brot und etwas Geld geben als die Juden, von denen ich komme.»

«Kommst du von Judäa?»

«Ja, von Jerusalern. Aber ich habe einen großen Umweg machen

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müssen, um bei einigen guten Menschen auf dem Land vorbeizukommen, die mir immer helfen. In der Stadt, nein, da gibt es kein Erbarmen.»

«Das hast du gut gesagt: da gibt es kein Erbarmen.»

«Du hast Erbarmen. Bist du ein Judäer?»

«Nein, ich bin aus Nazareth.»

«Früher hatten die Nazarener einen schlechten Namen, aber jetzt muß man sagen, daß sie besser sind als die Judäer. Auch in Jerusalern sind nur die Jünger jenes Nazareners, den sie einen Propheten nennen, gut. Kennst du ihn?»

«Und du, kennst du ihn?»

«Nein. Ich bin hingegangen, denn schau, ich habe ein lahmes Bein und schleppe mich nur mit Mühe dahin. Ich kann nicht arbeiten und sterbe vor Hunger und an den Schlägen. Ich habe gehofft, ihm zu begegnen, denn man hat mir gesagt, daß, wer ihn berührt, geheilt wird. Es ist wahr, ich gehöre nicht zum auserwählten Volk... doch man sagt, daß er zu allen gut ist. Ich hatte erfahren, daß er am Pfingst- und Erntedankfest in Jerusalem war. Aber ich komme nur langsam voran... und ich wurde geschlagen und blieb krank am Wegrand liegen... Als ich nach Jerusalern kam, war er schon abgereist. Man sagte mir, daß die Juden auch ihn geschlagen hätten.»

«Hat man dich geschlagen?»

«Immer. Nur die römischen Soldaten gaben mir ein Brot.»

«Und was sagt das Volk in Jerusalern von diesem Nazarener?»

«Daß er der Sohn Gottes, ein großer Prophet, ein Heiliger, ein Gerechter ist.»

«Und was glaubst du, wer er ist?»

«Ich bin... ich bin ein Götzendiener. Aber ich glaube, daß er der Sohn Gottes ist.»

«Aber wie kannst du an ihn glauben, wenn du ihn nicht kennst?»

«Ich kenne seine Werke. Nur ein Gott kann so gut sein und solche Worte sprechen wie er.»

«Wer hat dir seine Worte mitgeteilt?»

«Andere Arme und Kranke, die geheilt wurden, Kinder, die mir Brot bringen... Die Kinder sind gut und machen keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Heiden.»

«Aber woher bist du denn?»

Keine Antwort.

«Sage es mir. Ich bin wie die Kinder. Hab keine Angst. Nur aufrichtig sollst du sein.»

«Ich bin ein Samariter. Schlage mich nicht! ...»

«Ich schlage niemanden. Ich verachte niemanden. Ich habe Erbarmen mit allen!»

«Dann... dann bist du der Rabbi von Galiläa!»

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Der Bettler schleppt sich von seinem Steinhaufen herab und wirft sich vor Jesus nieder, das Antlitz im Staub.

«Erhebe dich. Ich bin es. Fürchte dich nicht. Steh auf und schau mich an.»

Der Bettler erhebt sein Antlitz, bleibt aber auf den Knien, ganz krumm wegen seines steifen Beines.

«Gebt ihm Brot und zu trinken», gebietet Jesus den Jüngern, die ihn eingeholt haben.

Es ist Johannes, der dem Bettler Wasser und Brot gibt.

«Helft ihm auf, damit er sitzen und bequem essen kann. Iß, Bruder.»

Der Arme weint. Er ißt nicht. Er schaut Jesus wie ein armer, streunender Hund an, der zum ersten Mal von einem barmherzigen Menschen gestreichelt und gefüttert wird.

«Iß», fordert Jesus ihn lächelnd auf.

Der Arme ißt unter wiederholtem Schluchzen, und Tränen benetzen sein Brot. Aber während er noch weint, beginnt er zu lächeln, und allmählich beruhigt er sich.

«Wer hat dir diese Wunde zugefügt?» fragt Jesus und berührt mit seinen Fingern die schmutzige Binde auf der Stirn.

«Ein reicher Pharisäer hat mich absichtlich mit seinem Wagen angefahren... Ich saß an einer Wegkreuzung und bettelte um Brot. Da hat er die Pferde auf mich losgejagt, so schnell, daß ich unmöglich ausweichen konnte. Ich war am Sterben. Ich habe immer noch ein Loch im Kopf, und es fließt Eiter heraus.»

«Und wer hat dich dort geschlagen?»

«Ich hatte mich dem Haus eines Sadduzäers genähert, in dem ein Gastmahl gegeben wurde, um die Reste zu erhalten, nachdem die Hunde schon das Beste weggeholt hatten. Er sah mich und hetzte die Hunde auf mich. Einer von ihnen hat mir die Wade zerrissen.»

«Und diese große Narbe, die deine Hand verkrüppelt?»

«Sie rührt von einem Stockschlag her, den mir ein Schriftgelehrter vor drei Jahren verpaßt hat. Er erkannte mich als Samariter und schlug mich so, daß meine Fingerknochen brachen. Deswegen kann ich nicht arbeiten. Die rechte Hand ist verkrüppelt, und ein Bein ist gelähmt. Wie kann ich da meinen Lebensunterhalt verdienen?»

«Warum bist du denn von Samaria fortgegangen?»

«Die Not ist schlimm, Meister. Es gibt viele Unglückliche in Samaria, und das Brot reicht nicht für alle aus. Wenn du mir helfen könntest ...»

«Was willst du, daß ich für dich tue?»

«Heile mich, damit ich arbeiten kann.»

«Glaubst du, daß ich das kann?»

«Ja, ich glaube es, denn du bist der Sohn Gottes.»

«Glaubst du das?»

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«Ich glaube es.»

«Du, obwohl Samariter, glaubst es? Warum?»

«Warum, weiß ich nicht. Ich weiß, daß ich an dich glaube und an den, der dich gesandt hat. Jetzt, da du gekommen bist, gibt es keinen Unterschied mehr in der Anbetung. Es genügt, dich anzubeten, um deinen Vater, den ewigen Herrn, anzubeten. Wo du bist, dort ist der Vater.»

«Hört, ihr Freunde? (Jesus wendet sich an seine Jünger.) Dieser redet durch den Geist, der ihm die Wahrheit enthüllt. Er, das sage ich euch, steht über Schriftgelehrten und Pharisäern, über den grausamen Sadduzäern und all den Götzendienern, die sich lügnerisch Söhne des Gesetzes nennen. Im Gesetz steht, daß man nach Gott den Nächsten lieben soll, und sie geben dem leidenden und um Brot bittenden Mitmenschen Schläge; auf den Hilfesuchenden hetzen sie Pferde und Hunde; den Nächsten, der sich erniedrigt und erst nachdem die Hunde des Reichen gesättigt sind um Überreste bittet, werfen sie denselben Hunden vor, um ihn noch unglücklicher zu machen, als er schon durch seine Krankheit ist. Verächtlich, grausam, heuchlerisch wie sie sind, lassen sie nicht zu, daß Gott erkannt und geliebt werde. Wenn sie wollten, könnten sie ihn durch ihre Werke erkennen lassen, wie dieser gesagt hat. Denn Werke, nicht Riten, lassen Gott in den Herzen erkennen und führen zu Gott.

Judas, der du mir vorwirfst, unklug zu sein, sollte ich sie vielleicht nicht durch meinen Tadel zurechtweisen? Mein Schweigen würde in der Tat bedeuten, daß ich ihre Lebensweise billige. Nein, um der Ehre Gottes willen kann ich, sein Sohn, nicht erlauben, daß das arme, unglückliche, gute Volk glaube, ich sei mit ihren Sünden einverstanden. Ich bin gekommen, um aus den Heiden Söhne Gottes zu machen. Aber ich kann es nicht tun, wenn sie sehen, daß die Söhne des Gesetzes (sie nennen sich so, obgleich sie Bastarde sind) ein Heidentum praktizieren, das schlimmer ist als das ihrige; denn diese Hebräer kennen das Gesetz Gottes und speien den Auswurf ihrer Leidenschaften, denen sie wie unreine Tiere frönen, darauf. Soll ich glauben, Judas, daß du wie sie bist? Du, der du mir Vorwürfe machst wegen der Wahrheiten, die ich ausspreche? Oder muß ich annehmen, daß du dir um dein Leben Sorgen machst? Wer mir nachfolgt, darf keine menschlichen Sorgen haben. Ich habe es schon gesagt. Judas, du kannst immer noch wählen zwischen meinem Weg und dem der Juden, den du billigst. Aber bedenke wohl: mein Weg führt zu Gott, der ihre zum Feind Gottes. Überdenke dies und entscheide dich. Aber sei aufrichtig.

Du, Freund: Steh auf und wandle. Entferne diese Binden, und kehre nach Hause zurück. Du bist geheilt wegen deines Glaubens.»

Der Bettler schaut ihn erstaunt an. Er wagt nicht, seine Hand auszustrecken... Dann versucht er es. Sie ist unversehrt, der linken gleich. Er läßt den Stock fallen, stemmt die Hände auf den Boden und erhebt sich. Er kann auf beiden Beinen stehen. Die Lähmung ist verschwunden. Er

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bewegt das Bein... macht einen, zwei, drei Schritte. Er kann gehen... Nun schaut er Jesus an, stößt einen Schrei aus und Freudentränen rollen über seine Wangen. Er reißt sich die Binde vom Kopf und greift sich an den Hinterkopf, wo die eiternde Wunde war. Nichts mehr da. Alles ist heil. Er reißt den blutigen Fetzen von der Wade: die Haut ist unversehrt.

«Meister! Mein Meister und Gott!» ruft er mit erhobenen Händen und wirft sich auf die Knie, um die Füße Jesu zu küssen.

«Geh nun nach Hause und glaube stets an den Herrn.»

«Wohin soll ich gehen, Meister und Gott? Nur dir kann ich folgen, der du so heilig und gut bist. Weise mich nicht zurück, Meister...»

«Geh nach Samaria und sprich über Jesus von Nazareth. Die Stunde der Erlösung ist nah. Sei mein Jünger bei deinen Brüdern. Geh in Frieden.»

Jesus segnet ihn, und dann trennen sie sich. Der Geheilte geht eiligen Schrittes in nördlicher Richtung und dreht sich immer wieder um.

Jesus verläßt mit seinen Aposteln die Hauptstraße. Sie schlagen einen Weg ein, der über öde Felder nach Norden führt und erst viel später breiter wird. Vielleicht ist es die Straße nach Jericho, ich weiß es nicht.

Ich habe meinen Jesu wieder gesehen! Oh, wie glücklich ich bin! Wie schön er war! Sein Antlitz, seine Hände, seine Stimme. Wie habe ich danach gedürstet! Gestern, das ist wahr, hatte ich ihn schon gesehen, aber nur in vereinzelten Bildern. Er sprach nicht und bewegte sich nicht. Aber heute, heute war es wie einst. Ich bin glücklich, überglücklich!

Aber welch ein Schmerz in diesen vierzig Tagen, da ich ihn nicht geschaut habe! Denn es waren genau vierzig Tage. Ich habe ihn das letzte Mal lebendig und atmend am Karfreitag, dem 7. April (1944), genau um dieselbe Stunde, 15.30, gesehen. Jetzt begreife ich den ungeheuren Schmerz Marias, als sie Jesus verloren hatte. Die Gegenwart Jesu zu verlieren, seine Stimme nicht mehr zu hören, bedeutet, den Wahnsinn, den Tod und die Hölle kennenzulernen.

Warum, o Jesus, hast du mir das angetan?...

463. DIE BEKEHRUNG DES ZACHÄUS

Ich sehe einen großen Platz, vielleicht einen Marktplatz, der von Palmen und anderen dicht belaubten Bäumen beschattet wird. Die Palmen wachsen da und dort, ohne bestimmte Ordnung, und wiegen raschelnd ihre Blätterbüschel im warmen Höhenwind, der rötliche Staubwolken aufwirbelt; letztere müssen aus einer Wüste oder wenigstens aus öden Gegenden mit rötlicher Erde stammen. Andere Bäume bilden um den ganzen Platz herum eine Art schattigen Säulengang. Darunter haben sich Käufer und Verkäufer geflüchtet und schreien und verhandeln.

In einer Ecke des Platzes, gerade dort, wo die Hauptstraße einmündet, liegt ein einfaches Zollgebäude. Dort gibt es Waagen, Meßstäbe und eine

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Bank. Auf dieser Bank sitzt ein kleinwüchsiger Mann, der beobachtet, Steuern erhebt und mit dem alle reden, als wäre er eine bekannte Persönlichkeit. Ich weiß, daß es Zachäus, der Zolleinnehmer, ist; denn viele nennen ihn so, sogar die Fremden, wenn sie ihn über die Ereignisse in der Stadt befragen oder ihre Steuern zahlen. Viele wundern sich über sein bekümmertes Gesicht. Er scheint abwesend und ganz in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein und antwortet einsilbig, manchmal nur durch Zeichen. Das versetzt viele in Staunen, denn sie wissen, daß Zachäus sonst sehr gesprächig ist. Manch einer fragt ihn, ob er sich nicht wohl fühlt oder ob er Kranke in seiner Familie hat. Aber er verneint es.

Nur zweimal zeigt er großes Interesse. Einmal, als er zwei Männer aus Jerusalern befragt, die von den Wundern und Reden des Nazareners berichten. Da stellt Zachäus viele Fragen: «Ist er wirklich so gut, wie man sagt? Entsprechen seinen Worten auch seine Taten? Übt er auch selbst die Barmherzigkeit, die er predigt? Allen, auch den Zöllnern gegenüber? Ist es wahr, daß er niemanden abweist?» Er hört zu, denkt nach und seufzt.

Das andere Mal, als er auf einen bärtigen Mann aufmerksam gemacht wird, der mit einem schwer beladenen Esel vorübergeht: «Siehst du, Zachäus? Das ist der aussätzige Zacharias. Zehn Jahre lang hat er wie in einem Grab gelebt. Jetzt ist er geheilt und schafft sich neue Möbel und Geschirr an, da sein Haus damals, als man ihn und die Seinen für aussätzig erklärte, entsprechend dem Gesetz ausgeräumt wurde.»

«Ruft ihn.»

Zacharias kommt.

«Warst du aussätzig?»

«Ich war es, und mit mir meine Frau und meine beiden Kinder. Die Krankheit hatte zuerst meine Frau befallen, und wir merkten es nicht rechtzeitig. So wurden die Kinder angesteckt, da sie bei der Mutter schliefen, und ich, als ich mich meiner Frau näherte. Wir waren alle aussätzig. Als man darauf aufmerksam wurde, schickte man uns aus dem Dorf. Sie hätten uns im Haus lassen können, denn unser Haus war das letzte am Ende einer Straße, und wir hätten niemanden belästigt... Ich hatte schon die Hecke ganz hoch wachsen lassen, so daß man uns nicht einmal sehen konnte. Es war wie ein Grab... aber es war immerhin unser Haus... Man hat uns fortgejagt. Fort! Fort! Kein Dorf wollte uns. Nicht einmal unser eigenes hatte uns gewollt. Wir zogen in die Nähe von Jerusalern in ein leeres Grab. Dort leben viele Unglückliche, und meine Kinder sind in der Kälte der Höhle gestorben. Krankheit, Kälte und Hunger haben sie zugrundegerichtet... Es waren zwei Knaben. Sie waren schön, bevor das Übel kam. Stark, aufgeweckt und schön waren sie, braun wie zwei Brombeeren im August, mit lockigem Haar. Aus ihnen wurden zwei mit Wunden bedeckte Skelette...

Keine Haare mehr, ihre Augen von eitrigen Krusten bedeckt, ihre

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Füßchen und Hände lösten sich in weiße Schuppen auf. Sie wurden weiß wie Mehl vor meinen Augen, diese meine Kinder. Kaum mehr ein menschenähnliches Aussehen hatten sie an jenem Morgen, als sie im Abstand von wenigen Stunden nacheinander starben... Ich habe sie wie zwei verendete Tiere unter wenig Erde und vielen Steinen begraben, während ihre Mutter schrie und jammerte... Nach einigen Monaten starb auch die Mutter, und ich war ganz allein...

Ich wartete auf den Tod und es gab niemanden, der mir mit seinen Händen ein Grab bereitet hätte... Ich war schon fast erblindet, als eines Tages der Nazarener vorüberkam. Von meinem Grabe aus habe ich geschrien: "Jesus, Sohn Davids, habe Erbarmen mit mir!" Ein Bettler, der mir furchtlos Brot gebracht hatte, hatte mir erzählt, daß er von seiner Blindheit geheilt wurde, als er sich mit diesem Hilferuf an den Nazarener wandte. Er sagte außerdem: "Nicht nur das Augenlicht hat er mir wiedergegeben, sondern auch meine Seele hat er geheilt. Ich habe gesehen, daß er der Sohn Gottes ist, und nun sehe ich alle durch ihn. Deswegen fliehe ich nicht vor dir, Bruder, sondern bringe dir Brot und Glauben. Geh zu Christus, damit noch einer mehr ihn preise."

Gehen konnte ich nicht. Die Füße, die bis auf die Knochen wund waren, ließen es nicht zu. Gehen... und dann... man hätte mit Steinen nach mir geworfen, wenn man mich entdeckt hätte. Ich habe gewacht. Er kam oft dort vorbei, um nach Jerusalern zu gehen. Eines Tages habe ich, soweit es mir möglich war, Staubwolken auf dem Weg gesehen und Rufe gehört. Ich habe mich bis an den Rand des Hügels geschleppt, in dem sich die Höhlengräber befinden, und als es mir schien, einen blonden Kopf zu sehen unter den in Mäntel gehüllten Menschen, habe ich laut geschrien, so laut ich nur konnte. Dreimal habe ich ihn angerufen, bis er mich gehört hat.

Er hat sich umgedreht und ist stehengeblieben. Dann ist er mir allein entgegengekommen und hat mich angeschaut. Schön war er, gut, mit seinen Augen, seiner Stimme, seinem Lächeln!... "Was willst du, daß ich für dich tue?" hat er gefragt.

"Ich möchte rein werden."

"Glaubst du, daß ich das kann? Warum?" hat er mich gefragt.

"Weil du der Sohn Gottes bist."

"Glaubst du das?"

"Ich glaube es", habe ich geantwortet. "Ich sehe den Allerhöchsten in seiner Herrlichkeit über deinem Haupt leuchten. Sohn Gottes, erbarme dich meiner!"

Da hat er eine Hand ausgestreckt. Sein Antlitz war wie Feuer, seine Augen schienen zwei hellblaue Sonnen. Dann hat er gesagt: "Ich will es, sei rein!" und hat mich gesegnet mit einem Lächeln! ... Ach, welch ein Lächeln! Ich fühlte, wie mich eine Kraft durchdrang. Wie ein feuriges Schwert

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drang sie durch meine Venen und suchte mein Herz, das Herz, das so krank war, und mein Herz wurde wieder wie das eines Zwanzigjährigen. Das eisige Blut in meinen Adern wurde wieder warm und floß rascher. Kein Schmerz mehr, keine Schwäche mehr, aber dafür Freude, eine große Freude! ... Er schaute mich an und beseligte mich mit seinem Lächeln. Dann sagte er zu mir: "Geh und zeige dich den Priestern. Dein Glaube hat dich gerettet." Erst in diesem Augenblick verstand ich, daß ich geheilt war, und schaute auf meine Hände und meine Füße. Die Wunden waren verschwunden. Wo vorher der Knochen sichtbar war, war jetzt rosiges, frisches Fleisch. Ich lief zu einem Bach und schaute hinein. Auch das Gesicht war rein. Ich war geheilt! Rein war ich nach zehnjähriger ekelerregender Krankheit! ... Ach, warum war er nicht früher vorübergekommen? In den Jahren, da noch meine Frau und meine Kinder lebten? Er hätte sie alle geheilt. Siehst du? Jetzt kaufe ich Sachen für mein Haus... Aber ich bin allein! ...»

«Hast du ihn nie wieder gesehen?»

«Nein, aber ich weiß, daß er in dieser Gegend ist und bin eigens hierhergekommen. Ich möchte ihn noch einmal lobpreisen und seinen Segen empfangen, um auszuharren in meiner Einsamkeit.»

Zachäus läßt den Kopf sinken und schweigt. Die Gruppe löst sich auf.

Die Zeit vergeht. Die Sonne wird heißer. Der Marktplatz leert sich. Der Zöllner sitzt an seiner Wechselbank, den Kopf in die Hände gestützt, und denkt nach.

«Seht, da kommt der Nazarener!» schreien Kinder und weisen auf die Hauptstraße.

Frauen, Männer, Kranke und Bettler eilen ihm entgegen. Der Platz ist nun menschenleer. Nur die Esel und Kamele, die an den Palmen festgebunden sind, bleiben zurück, und Zachäus bleibt auf seiner Bank sitzen.

Doch dann steht er auf und steigt auf die Bank. Aber er kann noch nichts sehen, denn viele haben Zweige von den Bäumen abgerissen und schwenken sie jubelnd, und Jesus ist über Kranke gebeugt. Schließlich legt Zachäus den Mantel ab und steigt, nur mit der kurzen Tunika bekleidet, auf einen der Bäume. Nur mit Mühe klettert er an dem großen, glatten Stamm empor, den seine kurzen Arme und Beine kaum zu umklammern vermögen. Aber es gelingt ihm, und schließlich hockt er rittlings über zwei Ästen. Seine Beine baumeln von diesem Untersatz herab, wie bei jemandem, der auf einem Fensterbrett sitzt und auf die Straße schaut.

Die Menge strömt auf den Platz. Jesus erhebt seine Augen und lächelt dem einsamen Zuschauer zu, der sich zwischen den Zweigen eingenistet hat.

«Zachäus, steige sofort herab. Heute will ich in deinem Haus verweilen», gebietet Jesus.

Zachäus läßt sich nach einem Augenblick des Staunens, mit vor

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Aufregung gerötetem Angesicht, wie ein Sack zur Erde gleiten. Er ist so erregt, daß es ihm nur mit Mühe gelingt, seinen Mantel wieder anzuziehen. Er will rasch seine Register und seine Kasse schließen, aber in seiner aufgeregten Hast geht das alles nur sehr langsam. Jesus ist geduldig. Er liebkost einige Kinder, während er wartet.

Schließlich ist Zachäus bereit. Er gesellt sich zum Meister und führt ihn zu einem schönen Gebäude, das von einem großen Garten umgeben ist und im Zentrum der Ortschaft liegt. Es ist eine schöne Ortschaft, ja, eine Stadt, kaum geringer als Jerusalern, was die Gebäude und vielleicht sogar die Ausdehnung anbelangt.

Jesus betritt das Haus und während er darauf wartet, daß man das Mahl bereitet, nimmt er sich der Kranken und Gesunden an mit einer Geduld, wie nur er sie haben kann.

Zachäus kommt und geht. Er ist eifrig mit Vorbereitungen beschäftigt und außer sich vor Freude. Er möchte mit Jesus sprechen, aber Jesus ist immer von einer großen Volksmenge umgeben.

Schließlich entläßt Jesus alle mit den Worten: «Kommt wieder, wenn die Sonne untergeht. Nun begebt euch zu euren Häusern. Der Friede sei mit euch.»

Der Garten entvölkert sich, und das Mahl wird in einem schönen, kühlen Saal serviert, der auf den Garten schaut. Zachäus hat eine reiche Tafel bereiten lassen. Ich sehe keine Farnilienangehörigen und schließe daraus, daß Zachäus unverheiratet ist und nur mit seinen vielen Dienern im Haus lebt.

Nach Beendigung der Mahlzeit zerstreuen sich die Jünger im Schatten der Büsche, um auszuruhen. Zachäus bleibt mit Jesus im kühlen Saal zurück. Für kurze Zeit bleibt Jesus sogar allein, da Zachäus sich zurückzieht, wie um Jesus Ruhe zu gönnen. Dann aber kommt er wieder und schaut durch einen Spalt des Vorhangs. Er sieht, daß Jesus, statt zu schlafen, nur nachdenklich dasitzt, und da nähert er sich ihm. In den Händen hält er einen schweren Schrein. Er stellt ihn neben Jesus auf den Tisch und sagt: «Meister... Man hat mir schon vor einiger Zeit von dir gesprochen. Eines Tages hast du auf einem Berg so viele Wahrheiten gepredigt, die unsere Gelehrten nicht mehr zu verkünden wissen. Sie sind mir im Herzen geblieben... und seitdem denke ich an dich... Dann wurde mir gesagt, du seist gut und würdest auch die Sünder nicht zurückweisen. Ich bin ein Sünder, Meister. Man sagte mir, daß du die Kranken heilst. Ich bin im Herzen krank, denn ich habe Menschen betrogen. Ich habe Wucherei getrieben, mich dem Laster hingegeben, geraubt und bin hart gegen die Armen gewesen. Aber jetzt, sieh, jetzt bin ich geheilt, weil du zu mir gesprochen hast. Du hast dich mir genähert, und der Dämon der Sinnlichkeit und der Habsucht ist entflohen. Ich bin von heute an dein, wenn du mich nicht zurückweisest. Um dir zu zeigen, daß ich in dir wiedergeboren werde,

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entledige ich mich all meiner sündhaft erworbenen Reichtümer und gebe dir die Hälfte davon für die Armen; die andere Hälfte werde ich benützen, um vierfach zurückzuerstatten, was ich durch Betrug an mich genommen habe. Ich weiß, wen ich betrogen habe. Wenn ich dann jedem das Seine zurückgegeben habe, werde ich dir folgen, Meister, wenn du es erlaubst...»

«Ja, ich will es. Komm. Ich bin gekommen, um zu retten und zum Licht zu rufen. Heute haben Licht und Heil das Haus deines Herzens erreicht. Diejenigen, die jenseits des Gartentores murren, weil ich dich erlöst habe, indem ich mich an deine Tafel gesetzt habe, vergessen, daß auch du ein Sohn Abrahams bist wie sie, und daß ich gekommen bin, um zu retten, was verloren war, und um den geistig Toten das Leben zu geben. Komm, Zachäus. Du hast mein Wort besser verstanden als so viele, die mir nur folgen, um mich anklagen zu können. Daher wirst du von nun an bei mir sein.»

Hier endet die Schauung.

464. «ZACHÄUS IST EIN ZÖLLNER UND SONDER,

ABER NICHT AUS BÖSEM WILLEN»

Jesus sagt:

«Es gibt verschiedene Arten von Sauerteig. Es gibt den Sauerteig des Guten und den des Bösen. Der Sauerteig des Bösen ist teuflisches Gift und gärt leichter als der des Guten, denn er findet geeignete Nahrung im Herzen, in den Gedanken und im Fleisch des Menschen, die alle drei verderbt sind durch den Eigenwillen, der zum universalen Willen, d.h. zum Willen Gottes, im Widerspruch steht.

Der Wille Gottes ist universal, denn er ist nie auf einen nur ihn selbst betreffenden Gedanken beschränkt. Er hat vielmehr das Wohl des ganzen Universums vor Augen. Bei Gott kann keine Vollkommenheit vermehrt werden, da er alles immer in vollkommener Weise besessen hat. Daher können beim Wirken Gottes nie eigennützige Beweggründe im Spiel sein. Wenn man sagt: "Dies erfüllt sich zur größeren Ehre Gottes, im Interesse Gottes", so soll das nicht heißen, daß man damit die göttliche Herrlichkeit vermehrt, sondern nur, daß alles, was es in der Schöpfung an Gutem gibt, den Stempel des Guten tragen soll und jede Person, die Gutes tut und es verdient, das Gute zu besitzen, sich mit dem Zeichen der göttlichen Herrlichkeit schmücken soll, indem dieser Mensch der Herrlichkeit Gottes, die alle Dinge herrlich erschaffen hat, Ehre erweist. Es handelt sich also um ein Zeugnis, das Menschen und Dinge ablegen, wenn sie mit ihren Werken ihren vollkommenen Ursprung bezeugen.

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Wenn euch Gott gebietet, anrät oder eingibt, ein gutes Werk zu tun, so entspringt dies nicht selbstsüchtigem Eigennutz, sondern einer altruistischen, liebevollen Absicht, zu eurem Wohl. Daher ist also der Wille Gottes nie selbstsüchtig, sondern gänzlich selbstlos und auf das Allgemeinwohl ausgerichtet. Er ist die einzige wahre Kraft des Universums, die den Gedanken des Allgemeinwohls in sich trägt.

Der Sauerteig des Guten, der geistige Same, der von Gott kommt, gedeiht nur unter großen Schwierigkeiten und mit Mühe, da er Gegenkräfte zu überwinden hat, die den anderen begünstigen: das Fleisch, das Herz und die menschlichen Gedanken, die von einem Egoismus durchdrungen sind, der der Gegenspieler des Guten ist, das seinen Ursprung nur in der Liebe haben kann. Bei den meisten Menschen fehlt der Wille zum Guten und daher wird das Gute unfruchtbar und stirbt, oder aber es fristet ein so kümmerliches Dasein, daß es nicht gären kann: es bleibt so, wie es ist. Darin liegt zwar keine große Schuld, aber es wird auch nicht die geringste Anstrengung gemacht und nicht versucht, das Beste zu tun. Daher ist der Geist lahmgelegt, nicht tot, aber unfruchtbar.

Achtet darauf. Nichts Böses zu tun, reicht gerade nur aus, um der Hölle zu entgehen. Um sofort das schöne Paradies zu genießen, ist es unerläßlich, Gutes zu tun, soweit es einem gelingt, indem man gegen sich selbst und gegen andere kämpft. Ich habe gesagt, daß ich gekommen bin, Krieg zu bringen und nicht Frieden, auch zwischen Vater und Sohn, zwischen Brüdern und Schwestern, sofern dieser Krieg daher rührt, daß man den Willen Gottes und sein Gesetz gegen die Eingriffe des menschlichen Willens verteidigen will, wenn dieser sich Gott widersetzt.

Bei Zachäus hatte die kleine Menge guten Sauerteigs die große Masse durchsäuert. In sein Herz war nur ein allererstes Krümchen gefallen: Man hatte ihm von meiner Bergpredigt berichtet, sicherlich mit vielen Fehlern und unter Auslassung vieler Abschnitte, wie dies vorkommt, wenn Reden nacherzählt werden.

Zachäus war ein Zöllner und Sünder, aber nicht aus bösem Willen. Er war wie einer, der mit dem Schleier des Stars über den Pupillen schlecht sieht und weiß, daß er wieder gut sehen wird, sobald das Auge von diesem Schleier befreit ist. Der so Erkrankte wünscht sich, daß dieser Schleier entfernt werde. So Zachäus. Er war weder überzeugt noch glücklich, besonders nicht überzeugt von den Riten und Übungen der Pharisäer, die nun das wahre Gesetz verdrängt haben und nicht zufrieden mit seiner eigenen Lebensführung.

Instinktiv suchte er nach dem Licht, dem wahren Licht. Er sah nur einen Lichtstrahl in diesem Bruchstück der Rede und schloß ihn in sein Herz ein wie einen Schatz, denn er liebte ihn. Merke dir, Maria: weil er ihn liebte, wurde dieser Lichtstrahl immer lebendiger, mächtiger und stürmischer und befähigte ihn, das Gute vom Bösen zu unterscheiden und

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richtig zu wählen. Großzügig wies er alle ehemaligen Versuchungen von sich, alle Dinge, die früher mit ihren Fangarmen sein Herz in einem Netz böser Sklaverei gefangengehalten hatten.

"Denn er liebte ihn." Sieh, das ist das Geheimnis des Erfolges. Etwas gelingt, wenn man es liebt; es gelingt nur halb, wenn man wenig liebt; überhaupt nicht, wenn man gar nicht liebt. In allen Dingen ist es so, ganz besonders in den göttlichen. Gott ist für die menschlichen Sinne unfaßbar; daher bedarf es, ich möchte sagen, einer vollkommenen Liebe, soweit der Mensch es bis zur Vollkommenheit bringen kann, um ein Unternehmen durchzuführen, das in diesem Falle die Erlangung der Heiligkeit ist.

Zachäus war der Welt und des Fleisches überdrüssig, wie er auch der kleinlichen Übungen der Pharisäer überdrüssig war, die vom Volk streng beachtet werden mußten, während die Gesetzeslehrer selbst sich ihre Freiheiten nahmen. Aber er liebte den kleinen Schatz einiger meiner Worte, die ihm – menschlich gesprochen – durch Zufall zu Ohren gekommen waren. Er liebte ihn als das Schönste, was er in den vierzig Jahren seines Lebens erworben hatte. Von diesem Augenblick an richtete er sein Herz und seine Gedanken auf diesen Punkt. Nicht nur im Bösen, sondern auch im Guten ist dort, wo der Schatz ist, auch das Herz. Haben die Heiligen ihr Herz nicht dort gehabt, wo ihr Schatz war, also bei Gott? Ja, und weil sie nur auf Gott schauten, wußten sie ihre Zeit auf Erden zu verbringen, ohne ihre Seele im irdischen Schlamm versinken zu lassen.

Wenn ich an jenem Morgen nicht gekommen wäre, hätte ich dennoch einen Proselyten gehabt; denn die Rede des Aussätzigen hatte die Veränderung des Zachäus vollendet. An der Zollbank war er nicht mehr der betrügerische und lasterhafte Zöllner, sondern ein Mensch, der seine Vergangenheit bereute und entschlossen war, sein Leben zu ändern. Wenn ich nicht in Jericho erschienen wäre, hätte er die Zollbank verlassen, sein Geld genommen und sich auf die Suche nach mir begeben, denn ohne das Wasser der Wahrheit, ohne das Brot der Liebe und ohne den Kuß der Vergebung hielt er es nicht mehr länger aus.

Die üblichen Kritiker, die mich beobachteten, um mich zu tadeln, erkannten dies nicht und verstanden es noch weniger. Daher wunderten sie sich, daß ich mit einem Sünder zu Tische saß. Oh, wenn ihr doch nicht immer urteilen, sondern diese Aufgabe Gott überlassen würdet, ihr armen Blinden, die ihr nicht einmal fähig seid, euch selbst zu beurteilen 1

Ich bin nie mit den Sündern gegangen, um ihre Sünden zu billigen. Ich ging hin, um sie von der Sünde abzubringen. Oft hatten sie nur noch das Äußere der Sündhaftigkeit: die zerknirschte Seele war schon in eine neue, lebendige, zur Sühne bereite Seele umgewandelt. War ich also wirklich mit einem Sünder zusammen? Nein, mit einem Erlösten, der nur noch meiner Stütze bedurfte, um sich in der Schwäche des von den Toten Erstandenen aufrecht halten zu können.

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Wieviel kann euch die Begebenheit mit Zachäus lehren! Die Macht der redlichen Absicht ist es, die das Verlangen weckt, und dieses redliche Verlangen gibt den Ansporn zum Streben nach einer immer tieferen Erkenntnis des Guten und einer beständigen Suche nach Gott, bis man ihn erreicht hat und aufrichtige Reue gibt den Mut zum Verzicht. Zachäus hatte die redliche Absicht, Worte der wahren Lehre zu hören, und als er einige gehört hatte, erweckte die gute Absicht ein stets innigeres Verlangen und drängte ihn daher zu einer ständigen Suche nach dieser Lehre. Die Suche nach Gott, der in der wahren Lehre verborgen ist, löste ihn los von den elenden Göttern des Geldes und der Sinnlichkeit und machte ihn zum Helden der Selbstverleugnung.

"Wenn du vollkommen sein willst, gehe hin, verkaufe alles, was du besitzest, und folge mir nach" ' hatte ich dem reichen Jüngling gesagt, und er ist dazu nicht fähig gewesen. Zachäus jedoch, obwohl ihn Habsucht und Sinnlichkeit viel mehr verhärtet haben, ist dazu imstande, denn in den wenigen Worten, die ihm zugetragen wurden, hat er Gott erkannt, wie der blinde Bettler und der von mir geheilte Aussätzige.

Kann ein Geist, der Gott gesehen hat, sich noch von den kleinen Dingen der Welt angezogen fühlen? Könnte er das jemals, meine kleine Braut?»

465. SELIG DIE ARMEN IM GEISTE

Jesus spricht:

«In meinen verschiedenen Seligpreisungen habe ich die erforderlichen Eigenschaften dargelegt, um die Belohnungen zu erlangen, die den Seligen zuteil werden. Obwohl die genannten Arten verschieden sind, so ist doch, wenn ihr genau hinseht, die Belohnung die gleiche: man darf dieselben Freuden genießen wie Gott.

Die Stufen sind verschieden. Ich habe schon erklärt, wie Gott durch seinen Gedanken Seelen mit verschiedenen Neigungen geschaffen hat, um der Welt das richtige Gleichgewicht in all ihren niederen und höheren Bedürfnissen zu geben. Wenn dann menschliche Auflehnung dieses Gleichgewicht stört, indem sie stets gegen den Willen Gottes angehen will, der den Menschen liebevoll auf den rechten Weg führt, so liegt die Schuld nicht bei Gott.

Die Menschen, die immer unzufrieden sind mit ihrem Geschick, dringen mit offener oder verhüllter Gewalt in das Gebiet anderer ein. Was sind die Weltkriege, die Familienstreitigkeiten oder die beruflichen Schwierigkeiten, wenn nicht solche Mißbräuche und Übergriffe? Was sind gesellschaftspolitische Revolutionen und Doktrinen, die sich mit dem Beinamen "sozial" bemänteln, in Wirklichkeit anderes als Anmassungen und

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Lieblosigkeiten, weil sie weder den Willen noch die Fähigkeit haben, die Gerechtigkeit zu üben, die sie versprechen, und die immer in Gewalttätigkeiten ausarten, die die Bedrückung nicht beseitigen, sondern sie noch vermehren, und zwar zugunsten der wenigen Machthaber.

Wo aber ich, Gott, herrsche, gibt es keine solchen Verwirrungen. In den Seelen, die wirklich mir angehören, und in meinem Reich stört nichts die Ordnung. Dort werden die verschiedenen Stufen der vielgestaltigen Heiligkeit Gottes, der gerecht, rein, friedfertig, barmherzig, frei von der Sucht nach vergänglichem Reichtum und glücklich in der Freude seiner Liebe ist, gelebt und belohnt.

Unter den Seelen strebt die eine nach dieser, die andere nach einer anderen Form der Vollkommenheit. Der Heilige strebt in hervorragender Weise danach, denn in ihm finden sich alle Tugenden. Aber eine herrscht bei ihm vor, und ihretwegen wird er von den Menschen besonders gefeiert. Ich segne und belohne ihn jedoch für alle seine Tugenden, denn die Belohnung besteht darin, sich "Gottes zu erfreuen". Das gilt für die Friedfertigen wie für die Barmherzigen, für die Liebhaber der Gerechtigkeit wie für die ungerecht Verfolgten, für die Reinen wie für die Betrübten, für die Sanftmütigen wie für die Armen im Geist.

Die Armen im Geist! Wie wird dieser Ausdruck doch immer so falsch verstanden, selbst von dem, der um richtiges Verständnis bemüht ist. Armut im Geist bedeutet für die menschliche Oberflächlichkeit und die törichte menschliche Ironie, wie auch für die Unwissenheit, die sich weise dünkt, "Dummheit". Die Besseren verstehen unter Geist Intelligenz, Verstand, die materialistisch Eingestellten Schlauheit und Bosheit.

Nein, der Geist steht weit über dem Verstand. Er ist der König alles dessen, was in euch ist. Alle physischen und sittlichen Gaben sind Untertanen und Dienerinnen dieses Königs, wo ein Geschöpf in kindlicher Gottergebenheit die Dinge in Ordnung zu halten weiß. Wo aber das Geschöpf nicht kindlich ergeben ist, verfällt man dem Götzendienst, und die Dienerinnen werden zu Königinnen und entthronen den königlichen Geist. Dann herrscht eine Anarchie, die Ruin mit sich bringt, wie jede andere Anarchie.

Die Armut im Geist besteht im Besitz der absoluten Unabhängigkeit von allen Dingen, die den Menschen verlocken und durch die er auch zum materiellen Verbrechen oder zum unbestraften, sittlichen Verbrechen gelangt, das gar zu oft dem menschlichen Gericht entgeht, deshalb aber kein geringeres, sondern eher ein schwerwiegenderes Verbrechen ist, da es oft nicht nur den Tod des Opfers bewirkt, sondern die Farnilienangehörigen der Ehre und des Brotes beraubt.

Der Arme im Geiste kennt keine Versklavung durch die Reichtümer mehr. Wenn er es auch nicht fertigbringt, wirklich auf alle materiellen Güter zu verzichten, sich von ihnen und jeglichem Wohlstand zu lösen

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und in einen Orden einzutreten, so weiß er sie doch selbst mit großer Mäßigkeit zu gebrauchen, die ein doppeltes Opfer beinhaltet, um dann die Armen dieser Welt reichlich beschenken zu können. Ein solcher hat mein Wort verstanden: "Macht euch Freunde mit euren ungerecht erworbenen Reichtümern." Aus seinem Geld, das ein Feind seines Geistes sein könnte, wenn es ihn zu Genußsucht, Gaumenlust und Lieblosigkeit treibt, macht dieser Mensch einen Diener, der ihm den Weg zum Himmel ebnet und ihn – für den Reichen: den Armen im Geiste – gleichsam polstert, dank seiner Abtötungen und Liebeswerke zur Milderung des Elends der Menschen.

Wie viele Ungerechtigkeiten kann doch der Arme im Geiste wiedergutmachen und heilen! Selbst in früheren Zeiten begangene Ungerechtigkeiten , als er noch, wie Zachäus, nichts als habsüchtig und hartherzig war, Ungerechtigkeiten gegenüber noch lebenden Mitmenschen, gegenüber Verstorbenen und im gesellschaftlichen Bereich.

Ihr errichtet Denkmäler für Menschen, die berühmt wurden, nur weil sie gewalttätig waren. Warum errichtet ihr keine Denkmäler für die verborgenen Wohltäter der bedürftigen, armen und arbeitenden Menschheit; für die, die ihre Reichtümer nicht dazu benützt haben, um aus ihrem eigenen Leben ein beständiges Fest zu machen, sondern um das Leben dessen zu erleichtern, der arm, leidend, siech oder in Unwissenheit gehalten wird, weil seine Unwissenheit den Herrschsüchtigen für ihre verfluchten Ziele besser dient? Wie viele gibt es auch unter denen, die keine Reichtümer besitzen, die vielmehr nur wenig wohlhabender sind als die Armen, aber dennoch ihre Pfennige aufopfern, um das Elend derer zu erleichtern, die noch elender sind als sie selbst, weil ihnen das göttliche Licht fehlt.

Arm im Geist sind auch diejenigen, die trotz des Verlustes ihrer reichen oder geringen Habe den Frieden und die Hoffnung zu bewahren wissen und deswegen niemanden verwünschen oder hassen. Niemanden, weder Gott noch die Menschen.

Die große Kategorie der "Armen im Geist", die ich als erste genannt habe, weil ohne diese Unabhängigkeit des Geistes von den Annehmlichkeiten des Lebens die anderen Tugenden, durch die man Seligkeiten erlangen kann, nicht erreichbar sind, ist in mehrere Untergruppen aufgeteilt.

Die Demut im Denken bewirkt, daß man sich nicht aufbläst und für superintelligent hält, sondern sich des Geschenkes Gottes bedient, indem man seinen Ursprung anerkennt und es für das Gute, und zwar ausschließlich für das Gute, einsetzt.

Großzügigkeit in den Zuneigungen, indem man auch auf sie zu verzichten weiß, um allein Gott nachzufolgen. Selbst auf das Leben, das für die animalische Natur der instinktiv geliebte Reichtum ist, kann der Großzügige verzichten. Meine Märtyrer sind alle in diesem Sinn großherzig gewesen, denn ihr Geist hat sie arm werden lassen, um sie "reich" am alleinigen ewigen Reichtum werden zu lassen, der Gott selbst ist.

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Gerechtigkeit in der Liebe zu unseren eigenen Dingen. Sie zu lieben ist unsere Pflicht, da sie ein Zeichen der göttlichen Vorsehung sind. Ich habe schon in früheren Lehren davon gesprochen. Aber man darf sie nicht mehr lieben als Gott und seinen heiligen Willen, und nicht bis zu einem Grad, daß man, wenn Menschenhand sie uns entzöge, mit Gott hadern würde.

Schließlich, ich wiederhole es, Freiheit von der Versklavung durch das Geld.

Seht, das sind die verschiedenen Formen der geistigen Armut, durch die man, wie ich sagte, den Himmel erwirbt. Wir müssen über allen vergänglichen Reichtümern des menschlichen Lebens stehen, um die ewigen Reichtümer zu besitzen. Die Erde mit ihren trügerischen Früchten, die an der Oberfläche wohl süß, im Innern jedoch bitter sind, soll man an die letzte Stelle setzen und lieber für die Erlangung des Himmels wirken. Oh, dort gibt es keine Früchte von trügerischem Geschmack, sondern die unfaßbare Frucht der Freude in Gott.

Das alles hatte Zachäus begriffen. Dieser Satz war der Schlüssel, der sein Herz dem Licht und der Liebe öffnete, mir, der ich kam, um ihm zu sagen: "Komm." Und als ich zu ihm kam und ihn rief, war er schon ein "Armer im Geist". Daher war ihm eigen, den Himmel zu besitzen.»

466. IM DORF SALOMONS

Jesus erreicht das Dorf in tiefer Nacht. Nach dem Stand des Mondes zu schließen, könnte es ungefähr zwei Uhr nachts sein. Es ist ein schöner, leicht abnehmender Mond, der vom klaren Himmel zur Erde scheint und Frieden verbreitet. Frieden und reichlichen Tau, den starken Tau der warmen Gegenden, der so erquickend für die Pflanzen ist nach der brennenden Sonnenhitze des Tages.

Die Wanderer müssen auf dem Kies am Fluß entlang gegangen sein, der zum Ufer hin trocken ist, da der Fluß in der sommerlichen Trockenheit nicht sehr viel Wasser führt. Nun steigen sie vom Schilfdickicht zum Wald hinauf, der die Ufer säumt und sie mit einem Netz von Wurzeln, die ins sumpfige Erdreich vorgedrungen sind, zusammenhält.

«Hier wollen wir bis zur Morgendämmerung anhalten», sagt Jesus.

«Meister, es tut mir alles weh ...» sagt Matthäus.

«Und ich fürchte, Fieber zu haben. Der Fluß ist im Sommer nicht gesund... Du weißt es», fügt Philippus hinzu.

«Noch schlimmer aber wäre es gewesen, wenn wir vom Fluß in die judäischen Berge zurückgekehrt wären. Auch das ist bekannt», sagt der Zelote, der Jesus bemitleidet, dem alle ihre kleinen Befürchtungen mitteilen und dessen eigene Gemütsverfassung niemand versteht.

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«Laß sie nur, Simon. Sie haben recht. Aber bald werden wir uns ausruhen... Ich bitte euch, nur noch ein kurzes Stück Weg zurückzulegen. Seht ihr, wie der Mond seinen Lauf nach Westen nimmt? Warum den Alten aufwecken und Joseph, der vielleicht noch krank ist, wo es doch bald Tag wird...»

«Hier ist alles vom Tau durchnäßt. Man weiß nicht, wo man sich hinsetzen soll ...» brummt Iskariot.

«Hast du Angst, dein schönes Gewand zu beschmutzen? Was willst du, nach diesen Gewaltmärschen in Staub und Tau kann man nicht mehr damit großtun! Übrigens... so würde es dem liebenswürdigen Elchias besser gefallen. Die Randverzierungen... ha, ha, ha, die Falbeln der Ärmel sind als Fetzen an den Dornbüschen der Wüste Judäa hängengeblieben, und die am Kragen hat der Schweiß zerstört... Nun bist du ein vollkommener Jude...» sagt der stets heitere Thomas.

«Ein vollendeter Schmutzfink, vor dem mir selbst graut», entgegnet Iskariot zornig.

«Es genüge dir, ein reines Herz zu haben, Judas», sagt Jesus friedvoll. «Das nur hat Wert ...»

«Wert! Wert! Wir sind von Müdigkeit und Hunger erschöpft... Wir büßen unsere Gesundheit ein, und sie allein hat Wert», sagt Judas frech.

«Ich zwinge dich nicht, bei uns zu bleiben... Du bist es, der bleiben will.»

«Nun... es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich habe...»

«Sprich ruhig das Wort aus, das dir auf den Lippen brennt: "Du hast dich in den Augen des Hohen Rates bloßgestellt." Aber du kannst es immer noch wiedergutmachen... und sein Vertrauen wiedergewinnen ...»

«Ich will es nicht wiedergutmachen... denn ich liebe dich und will bei dir bleiben.»

«Wahrlich, du sagst dies auf eine Art und Weise, die eher Haß als Liebe bekundet ...» knurrt Judas des Alphäus verbissen.

«Nun ... Jeder hat seine eigene Ausdrucksweise, um seine Liebe zu bekunden.»

«Ah, ja! Auch manch einer liebt seine Frau und schlägt sie trotzdem halb tot... Diese Art von Liebe würde mir nicht gefallen», sagt Johannes des Zebedäus und versucht damit, dem Zwischenfall durch einen Scherz ein Ende zu bereiten. Doch niemand lacht, und auch niemand erwidert etwas, Gott sei Dank.

Jesus schlägt vor: «Gehen wir und setzen wir uns auf die Schwelle des Hauses. Die Regenrinne ist breit und schützt vor dem Tau, und dann ist da auch der Vorsprung, der dem Häuschen als Basis dient...»

Sie gehorchen ohne Widerrede, und nachdem sie das Häuschen erreicht haben, setzen sie sich der Reihe nach zu Jesu Füßen. Aber schon die einfache Bemerkung des Thomas: «Ich habe Hunger, denn diese nächtlichen

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Wanderungen machen hungrig», läßt sie das Gesprächsthema wieder aufnehmen.

«Was heißt Wanderungen! Seit Tagen leben wir von nichts!» antwortet wiederum Iskariot.

«Bei Nike und Zachäus haben wir gewiß gut gegessen, und Nike hat uns so viel mitgegeben, daß wir einen Teil davon an die Armen verteilen mußten, da es sonst schlecht geworden wäre. An Brot hat es uns nie gefehlt. Brot und Zukost hat uns auch jener Karawanenführer gegeben...» bemerkt Andreas.

Judas, der dies nicht leugnen kann, schweigt.

In der Ferne kräht ein Hahn, das erste Anzeichen des Morgengrauens.

«Oh! Gut! Bald geht die Sonne auf!» sagt Petrus und streckt sich, da er fast eingeschlafen wäre.

Sie warten schweigend auf das Herannahen des Tages.

Ein Blöken dringt aus einem Gehege... dann ein fernes Geklingel auf der Hauptstraße auf der anderen Seite des Flusses... In der Nähe das Gurren der Tauben des Ananias. Eine rauhe Männerstimme im Schilfdickicht... Es ist ein Fischer, der vom nächtlichen Fischfang heimkehrt und schimpft, weil er keinen großen Fang gemacht hat. Er erblickt Jesus und bleibt stehen, zögert etwas und sagt dann: «Wenn ich dir diese Fische gebe, versprichst du mir dann einen reichlichen Fang für die Zukunft?»

«Damit du einen Gewinn machen kannst oder weil du in Not bist?»

«Weil ich in Not bin. Ich habe sieben Kinder, meine Frau und meine Schwiegermutter zu ernähren.»

«Einverstanden. Sei wohltätig, und ich verspreche dir, daß dir das Notwendige nicht fehlen wird.»

«Dann nimm. Dort drinnen ist ja auch der letzte Verwundete, der trotz aller Pflege nicht gesundet...»

«Gott vergelte es dir und gebe dir den Frieden», sagt Jesus.

Der Mann grüßt und geht, wobei er seine Fische, die er an ihren Mäulern an einer Weidenrute befestigt hat, zurückläßt.

Die Stille, die nur vom Rauschen des Schilfrohrs und vom Piepsen einiger Vögel unterbrochen wird, kehrt wieder... Dann hört man ein Quietschen in der Nähe. Die einfache Gartentür, die Ananias gebastelt hat, dreht sich kreischend in den Angeln, und der kleine Alte geht auf den Weg und schaut forschend zum Himmel auf. Das blökende Schaf folgt ihm.

«Der Friede sei mit dir, Ananias!»

«Meister! Aber... seit wann bist du denn hier? Warum hast du mich nicht gerufen, damit ich dir öffne?!»

«Ich bin erst kurz hier und wollte niemanden stören... Wie geht es Joseph?»

«Weißt du davon? ... Es steht schlecht um ihn. Eiter fließt aus dem einen Ohr, und er hat starke Kopfschmerzen. Ich glaube, daß er sterben

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wird, das heißt, ich glaubte es, doch da du jetzt hier bist, glaube ich, daß er wieder gesund werden wird. Ich wollte gerade Kräuter für Umschläge sammeln gehen...»

«Sind die Kameraden des Joseph da?»

«Zwei von ihnen. Die anderen sind vorausgegangen. Hier sind Salomon und Elias.»

«Haben euch die Pharisäer Unannehmlichkeiten bereitet?»

«Kurz nachdem du abgereist warst, aber nachher nicht mehr. Sie wollten nur wissen, wo du hingegangen bist. Ich habe gesagt: "Zu meiner Schwiegertochter nach Masada." Habe ich es falsch gemacht?»

«Du hast richtig gehandelt.»

«Und bist du wirklich dort gewesen?» Der Alte zittert.

«Ja. Es geht ihr gut.»

«Aber... hat sie dich nicht angehört?»...

«Nein. Man muß viel für sie beten.»

«Auch für die kleinen Kinder... daß sie sie für den Herrn erzieht...»sagt der Alte, und zwei dicke Tränen rollen über seine Wangen herab und sagen das, was er verschweigt. Schließlich fügt er noch hinzu: «Hast du sie gesehen?»

«Eines habe ich eine Weile gesehen... Die anderen habe ich nur flüchtig erblickt. Es geht ihnen gut.»

«Ich opfere Gott meinen Verzicht und meine Verzeihung... Doch... es ist sehr bitter, sagen zu müssen: "Ich werde sie nie mehr wiedersehen"...»

«Du wirst bald deinen Sohn sehen und mit ihm im Frieden des Himmels sein.»

«Danke, Herr. Tritt ein ...»

«Ja, gehen wir gleich zu dem Verwundeten. Wo ist er?»

«Im besten Bett.»

Sie betreten den gut gepflegten Garten, dann die Küche und gelangen durch diese in das Kämmerlein. Jesus neigt sich über den Kranken, der im Schlaf seufzt. Er neigt sich immer tiefer... und haucht ihm aufs Ohr, das in schon mit Eiter getränkte Putzwolle gewickelt ist. Dann richtet er sich wieder auf und zieht sich geräuschlos zurück.

«Willst du ihn nicht aufwecken?» fragt der Alte leise.

«Nein, laß ihn schlafen. Er hat nun keine Schmerzen mehr und wird sich erholen. Nun gehen wir zu den anderen.» Jesus schließt sachte die Tür und begibt sich in das große Zimmer, in dem die Betten stehen, die das letzte Mal erworben wurden. Die beiden müden Jünger schlafen noch.

«Sie wachen jeweils bis zum frühen Morgen bei dem Kranken und ich vom Morgen bis zum Abend. Daher sind sie müde. Sie sind so gut.»

Die beiden hören offenbar auch im Schlaf, denn sie erwachen ganz Plötzlich: «Meister! Unser Meister! Du bist zur rechten Zeit gekommen! Joseph ist...»

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«Geheilt. Ich habe schon dafür gesorgt. Er schläft und weiß es noch nicht. Aber es fehlt ihm nichts mehr. Er braucht sich nur noch vom Eiter zu reinigen und wird dann gesund sein wie zuvor.»

«Oh, dann reinige auch uns, denn wir haben gesündigt.»

«Wieso?»

«Um Joseph beizustehen, sind wir nicht im Tempel gewesen ...»

«Die Liebe macht aus jedem Ort einen Tempel, und im Tempel der Nächstenliebe ist Gott. Wenn wir uns alle lieben würden, wäre die Erde ein einziger Tempel. Geht hin in Frieden. Es wird eine Zeit kommen, in der Pfingsten besagen wird: "Liebe", Offenbarung der Liebe. Ihr seid den Monaten vorausgeeilt und habt schon das künftige Pfingsten gehalten, weil ihr euren Bruder geliebt habt.»

Im anderen Zimmer ertönt die Stimme des Joseph: «Ananias! Elias! Salomon! Ich bin ja geheilt!» und der Mann erscheint, nur mit der kurzen Tunika bekleidet, abgemagert und noch bleich, aber ohne Schmerzen, an der Tür. Er sieht Jesus und sagt: «Ah! Du bist es gewesen, Meister!» und eilt herbei, um ihm die Füße zu küssen.

«Gott gebe dir den Frieden, Joseph, und verzeih mir, wenn du um meinetwillen gelitten hast.»

«Ich rühme mich, für dich Blut vergossen zu haben, wie mein Vater es getan hat. Ich preise dich, daß du mich dessen würdig gemacht hast!»Das bäurische Gesicht strahlt bei diesen Worten vor Freude und veredelt sich zu einer Schönheit, die von einem inneren Licht herrührt.

Jesus liebkost ihn und sagt zu Salomon: «Dein Haus dient dazu, viel Gutes zu tun.»

«Oh! Weil es jetzt das deine ist. Vorher diente es nur dem Fährmann für seinen tiefen Schlaf. Aber ich freue mich, daß es dir und diesem Gerechten nützlich gewesen ist. Nun werden wir einige schöne Tage mit dir verleben.»

«Nein, Freund. Ihr werdet sofort aufbrechen. Es ist uns keine Erquickung mehr gestattet. Dies ist wirklich eine Zeit der Prüfung, und nur jene starken Willens werden treu bleiben. Nun brechen wir zusammen das Brot, und dann macht ihr euch sofort auf den Weg am Fluß entlang und geht mir um eine halbe Tagesreise voraus.»

«Ja Meister! Auch Joseph?»

«Auch er, es sei denn, daß er eine neue Verletzung befürchtet...»

«O Meister, wollte Gott, daß ich dir in deinem Tod vorausginge und mein Blut für dich hingäbe!»

Sie gehen hinaus in den tautriefenden Garten, der in der Morgensonne glitzert, und Ananias bietet den Gästen die ersten Feigen an, die er von den Ästen auf der Südseite pflückt. Dann entschuldigt er sich, daß er kein Täubchen anbieten kann, da der Kranke die beiden letzten verzehrt hat. Aber sie haben ja die Fische, und in Eile wird ein Gericht bereitet.

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Jesus geht zwischen Elias und Joseph auf und ab, die von ihrem Erlebnis erzählen und auch von der Kraft Salomons, der den Verletzten in mehreren aufeinanderfolgenden Nächten auf seinen Schultern viele Kilometer weit getragen hat...

«Aber du, Joseph, du verzeihst doch denen, die dich verletzt haben?»

«Ich habe nie Groll gegen diese Unglücklichen gehegt. Ich habe meine Verzeihung und mein Leid für ihre Erlösung aufgeopfert.»

«So ist es recht, mein guter Jünger! Und Ogla?»

«Ogla ist mit Timoneus gegangen. Ich weiß nicht, ob er ihm weiterhin folgen oder ob er am Hermon bleiben wird. Er sprach immer davon, daß er zum Libanon gehen wolle.»

«Ja, Gott möge ihn zu seinem Besten führen.»

Nun erschallt lautes Vogelgezwitscher im Laub der Bäume; Blöken von Schafen und Kindergeschrei, Frauenstimmen, Eselsschreie und Ziehrollen, die an den Brunnen rasseln, verkünden, daß das Dorf erwacht ist.

Im Garten selbst werden die Brote gebrochen und die Fische verteilt. Sie nehmen das Frühstück ein, und gleich danach verlassen die drei mit dem Segen Jesu das Haus. Sie eilen auf den Weg zum Fluß und verschwinden im frischen, schattigen Röhricht.

Bald sieht man sie nicht mehr...

«Nun ruhen wir uns bis zum Abend aus, und dann folgen wir ihnen», gebietet Jesus.

Einige legen sich auf die Betten, andere auf einen Haufen Netze, die Ananias geflochten hat, um, wie er sagt, nicht müßig zu sein und sein tägliches Brot zu verdienen. Sie strecken sich aus und versuchen, sich durch einen guten Schlaf zu erquicken.

Inzwischen sammelt Ananias die verschwitzten Kleider, geht geräuschlos hinaus, schließt Tür und Gartentor und steigt zum Fluß hinab, um sie zu waschen, damit sie am Abend wieder frisch und trocken sind...

467. JESUS IN EINEM DÖRFCHEN DER DEKAPOLIS

Ich sehe ein Dörfchen am Flußufer, das aus einigen wenigen ärmlichen Hütten besteht. Es muß dasjenige sein, von dem Jesus ausgegangen war, als er in einem Boot den hoch angeschwollenen Jordan überquerte, denn ich sehe, daß der Bootsbesitzer mit seinen Söhnen dem Meister entgegeneilt, der Iskariot und Thomas vorausgeschickt hat, um ihm den Weg zu bereiten.

Schon als der Fährmann Jesus von weitem sieht, beschleunigt er seine Schritte und, bei Jesus angelangt, verneigt er sich mit großer Ehrfurcht und sagt: «Meister, du kommst gerade recht für unsere Kranken. Sie

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warten auf dich. Ich habe ihnen viel von dir erzählt. Das ganze Dorf begrüßt dich durch mich: "Gesegnet sei der Messias des allerhöchsten Gottes! "»

«Der Friede sei mit dir und diesem Dorf. Ich bin für euch hier. Ihr werdet nicht enttäuscht werden in euren Hoffnungen. Wer glaubt, wird die Barmherzigkeit des Himmels erfahren. Gehen wir.»

Jesus geht an der Seite des Fährmannes zum Dorfplatz der kleinen Ortschaft. Frauen, Kinder und Männer erscheinen auf den Türschwellen und schließen sich dem kleinen Zug an, der langsam fortschreitet, und die Volksmenge wächst mit jedem Meter Wegstrecke an. Die einen grüßen Jesus, die anderen preisen ihn, wieder andere flehen ihn an.

«Meister», ruft eine Mutter, «mein Sohn ist krank. Komm, Gesegneter!»

Nun biegt Jesus zu einem armen Haus ab, legt eine Hand auf die Schulter der weinenden Mutter und fragt: «Wo ist dein Sohn?»

«Hier, Meister. Komm!»

Sie treten ein: die Mutter, Jesus, der Fährmann, Petrus, Johannes, Thaddäus und einige Bewohner. Die Menge drängt sich an der Tür, und viele recken ihre Hälse, um etwas zu sehen. In einer Ecke der ärmlichen, finsteren Küche steht ein einfaches Lager neben dem brennenden Herdfeuer. Dort liegt der kleine Leichnam eines etwa siebenjährigen Knaben. Ich sage Leichnam, da er so abgezehrt, fahl und regungslos ist. Nur das keuchende Röcheln der kleinen Brust ist wahrnehmbar. Es scheint sich um Tuberkulose zu handeln.

«Schau Meister. Ich habe all meinen kleinen Reichtum ausgegeben, um wenigstens diesen zu retten. Ich habe keinen Mann mehr. Die anderen beiden Söhne sind mir im gleichen Alter wie dieser hier gestorben. Ich habe ihn bis zur Hafenstadt Caesarea getragen, um ihn einem römischen Arzt zu zeigen. Doch er hat mir nur zu sagen gewußt: "Füge dich. Der Knochenfraß verzehrt ihn." Schau...»

Die Mutter deckt das kleine Wesen auf, indem sie die Decken zurückschlägt. Da, wo Binden und Tücher seine Glieder nicht verbergen, sieht man dünne Knochen unter einer ausgetrockneten, gelblichen Haut. Aber nur ein kleiner Teil seines Körpers ist zu sehen. Erst, als die Mutter die Binden und Tücher entfernt, erscheinen die für den Knochenfraß charakteristischen offenen Stellen. Ein jämmerlicher Anblick. Der kleine Kranke ist so erschöpft, daß er sich nicht einmal bewegen kann. Es scheint, als ob ihn das alles nichts anginge. Er öffnet nur selten die tiefliegenden, verschleierten Augen und richtet einen ausdruckslosen Blick auf die Menge. Dann schließt er sie wieder. Jesus streichelt ihn. Er legt seine schlanke Hand auf das müde Köpfchen, und das Kind öffnet wiederum die Augen und blickt diesmal mit mehr Teilnahme auf den unbekannten Mann, der es mit so viel Liebe berührt und ihm mit so großer Barmherzigkeit zulächelt.

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«Willst du gesund werden?» sagt Jesus leise und beugt sich über das abgemagerte Gesichtchen. Vorher hat er den kleinen Körper wieder zugedeckt und der Mutter, die neue Binden um die Wunden wickeln wollte, gesagt: «Es ist nicht notwendig, Frau. Laß ihn so.»

Der kleine Kranke nickt, ohne zu sprechen.

«Warum?»

«Wegen meiner Mutter», sagt ein ganz zartes Stimmchen. Die Mutter weint noch mehr.

«Wirst du immer brav sein, wenn du wieder gesund bist? Wirst du ein guter Sohn sein? Ein guter Bürger? Ein guter Gläubiger?» Er stellt die Fragen in längeren Abständen, um dem Kleinen Zeit zu lassen, auf jede einzelne zu antworten. «Wirst du dich immer an das erinnern, was du jetzt versprochen hast?»

Die leisen und doch so sehnsuchtsvollen "Ja" kommen eines nach dem andern hervor wie ebensoviele Seufzer der Seele.

«Gib mir deine Hand, Kleiner.» Der Kleine will die gesunde, die linke geben. Aber Jesus sagt: «Gib mir die andere. Ich werde dir nicht weh tun.»

«Herr», sagt die Mutter, «sie ist eine einzige Wunde. Laß mich sie einwickeln, damit du...»

«Das macht nichts, Frau. Ich empfinde nur vor der Unreinheit der Herzen Abscheu. Gib mir die Hand und sprich mit mir: "Ich will immer brav sein, als Sohn, als Mann und als einer, der an den wahren Gott glaubt."»

Der Knabe wiederholt seine Worte, indem er sein Stimmchen anstrengt. Oh! Seine ganze Seele schwingt in der Stimme mit und seine Hoffnung... und gewiß auch die Hoffnung seiner Mutter.

Eine feierliche Stille entsteht im Raum und auf der Straße. Jesus, der die Rechte des Knaben in seiner Linken hält, erhebt seine rechte Hand, wie er es immer tut, wenn er eine Wahrheit verkündet oder Krankheiten und Elementen befiehlt, und spricht feierlich mit mächtiger Stimme: «Und ich will, daß du geheilt wirst. Steh auf, Knabe, und lobe den Herrn.» Dann läßt er das Händchen los, das nun vollständig geheilt ist, mager zwar, aber ohne die geringste Wunde, und sagt zu der Mutter: «Nun kannst du die Decken entfernen.»

Die Frau, die ein Gesicht macht, als ob sie nicht wüßte, ob sie ein Todesurteil oder eine Begnadigung zu erwarten hat, zieht zögernd die Decke Zurück... stößt einen Schrei aus, wirft sich auf das abgemagerte, aber nunmehr gesunde Körperchen, küßt es und drückt es an sich... Sie ist außer sich vor Freude; so sehr, daß sie nicht merkt, wie Jesus sich vom Bett entfernt und zur Tür geht.

Aber der Kleine sieht es und sagt: «Segne mich, o Herr, und laß mich dich loben und preisen. Mutter... dankst du ihm nicht?»

«Oh, Verzeihung! ...» Die Frau wirft sich mit dem Kind in ihren Armen Jesus zu Füßen.

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«Ich verstehe dich, Frau. Geh in Frieden und sei glücklich. Leb wohl, Kind. Sei brav. Lebt alle wohl.» Dann geht er hinaus.

Viele Frauen halten ihre Kinder hoch, damit der Segen Jesu sie in Zukunft vor Krankheiten bewahren möge. Kleine drängen sich zwischen den Großen hindurch, um gestreichelt zu werden, und Jesus segnet, liebkost, hört zu, bleibt nochmals stehen, um drei Augenkranke und einen, der zittert wie beim Veitstanz, zu heilen. Nun ist Jesus im Zentrum der Ortschaft angelangt.

«Hier lebt ein Verwandter von mir, der von Geburt an taubstumm ist», sagt der Fährmann. «Er wäre geistig aufgeweckt, kann aber nichts tun. Heile ihn, Jesus.»

«Führe mich zu ihm.»

Sie betreten einen kleinen Gemüsegarten, an dessen hinterem Ende ein junger Mann, der vielleicht dreißig Jahre alt ist, an einem Brunnen Wasser schöpft, mit dem er dann das Gemüse gießt. Wegen seiner Taubheit und da er den Ankömmlingen den Rücken zuwendet, bemerkt er sie nicht und fährt in seiner Beschäftigung fort, obgleich das Geschrei der Menge so laut ist, daß selbst die Tauben auf den Dächern aufgescheucht werden.

Der Fährmann geht zu ihm, nimmt ihn beim Arm und führt ihn zu Jesus.

Jesus stellt sich ganz nah vor den Unglücklichen, Körper an Körper, und berührt mit seiner Zunge die Zunge des Taubstummen, der mit offenem Mund dasteht. Mit den beiden Mittelfingern in den Ohren des Taubstummen betet er einen Augenblick, die Augen zum Himmel erhoben, und sagt dann: «Öffnet euch!» Dann nimmt er seine Hände von den Ohren und entfernt sich.

«Wer bist du, der du mir Sprache und Gehör gibst?» ruft der wunderbar Geheilte aus.

Jesus macht eine Geste, will weitergehen und das Haus durch eine Hintertür verlassen. Aber sowohl der Geheilte als auch der Fährmann halten ihn zurück. Letzterer sagt: «Es ist Jesus von Nazareth, der Messias», und der Geheilte ruft aus: «Oh, bleibe, daß ich dir huldigen kann!»

«Bete Gott den Allmächtigen an und sei ihm immer treu. Geh hin. Verliere keine Zeit mit unnützen Worten und mache dieses Wunder nicht zum Gegenstand menschlichen Zeitvertreibs. Gebrauche die Zunge zum Guten. Mehr als mit den Ohren des Körpers lausche mit den Ohren deines Herzens der Stimme des Schöpfergeistes, der dich liebt und segnet.»

Aber ja! Einem so Glücklichen zu sagen, er solle nicht über sein Glück reden, ist unnütz! Der Geheilte spricht nach so vielen Jahren der Stummheit und Taubheit mit allen Anwesenden, als hätte er etwas nachzuholen.

Der Fährmann drängt Jesus, sein Haus aufzusuchen, um sich auszuruhen und eine Erquickung anzunehmen. Er fühlt sich als Urheber all der Verehrung, die Jesus umgibt, und besteht darauf. Er will sein Recht anerkannt sehen.

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«Ich bin schließlich der Bürgermeister der Ortschaft», sagt ein imposanter Alter.

«Aber wenn ich mit meinen Booten nicht gewesen wäre, hättest du Jesus nie gesehen», entgegnet der Fährmann.

Petrus, stets offenherzig und impulsiv, fügt an: «In Wirklichkeit ... wenn ich es nicht gewesen wäre, der dir etwas gesagt hat, dann wärst du ... dann wären die Barken...»

Jesus greift vorsorglich ein und stellt alle zufrieden... alle mit den Worten: «Gehen wir zum Fluß. Dort werde ich zu euch reden, während wir auf die Mahlzeit warten, die einfach und bescheiden sein soll, denn die Speise soll dem Körper dienen und nicht Selbstzweck sein. Wer mich hören und befragen will, der möge mit mir kommen.»

Ich kann wohl sagen, daß das ganze Dorf ihm folgt.

Jesus steigt in ein Boot, das auf den Kies des Ufers gezogen worden ist, und von diesem improvisierten Rednerpodium aus spricht er zu denen, die am Ufer und zwischen den Bäumen in einem Halbkreis sitzen.

Er bezieht sich in seiner Rede auf eine Frage, die ihm gestellt wird: «Unser Gesetz, Meister, bezeichnet die als von Gott Gezüchtigte, die als Unglückliche mit einem Gebrechen geboren werden und untersagt ihnen jeglichen Dienst am Altar. Aber worin besteht denn ihre Schuld? Wäre es nicht gerechter, die Eltern, die diese Unglücklichen zur Welt bringen, schuldig zu nennen? Besonders die Mutter? Und wie sollen wir uns diesen unglücklichen Menschen gegenüber verhalten?»

«Hört: Einst formte ein äußerst begabter, vollkommener Künstler ein Modell einer Statue und schuf daraus ein so vollkommenes Werk, daß es ihm selbst gefiel und er sagte: "Ich will, daß die Erde voll sei von solchen Wunderwerken." Aber da seine Kräfte für dieses Unternehmen nicht ausreichten, rief er andere Leute zu Hilfe und sagte ihnen: "Macht mir nach diesem Modell tausend, zehntausend ebenso vollkommene Statuen. Ich selbst werde ihnen dann den letzten Schliff geben und den Gesichtsausdruck verleihen." Aber die Gehilfen waren nicht fähig dazu, denn sie standen nicht nur in ihren Fähigkeiten weit hinter denen ihres Meisters zurück, sondern waren auch etwas trunken; denn sie hatten eine Frucht genossen, deren Saft Taumel und Benebelung verursacht. Also gab der Künstler ihnen Gipsformen und sagte: "In diesen modelliert die Materie; es wird ein Leichtes sein, und ich werde eure Arbeit vollenden und mit einem letzten Eingriff Leben in die Figuren bringen." So machten sich die Gehilfen ans Werk.

Aber der Künstler hatte einen großen Feind. Dieser war sein persönlicher Feind und ebenso ein Feind seiner Gehilfen, der den Künstler um jeden Preis beschämen und Unstimmigkeiten zwischen ihn und seine Gehilfen bringen wollte. In alle Arbeiten mischte er seine hinterlistigen Ränke. Bei dem einen beeinflußte er das Material, aus dem die Gestalt gegossen

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werden sollte; beim anderen schwächte er das Feuer ab; dann wieder lobte er die Gehilfen übermäßig. So kam es, daß der Lenker der Welt, der möglichst verhindern wollte, daß sein Werk unvollkommene Ebenbilder erhalte, die schlechten Modelle mit schweren Strafen belegte. Eine dieser Strafen bestand darin, daß solche Modelle nicht im Haus Gottes aufgestellt werden durften. Dort soll bzw. sollte alles vollkommen sein. Ich sage: sollte; denn es ist nicht so. Auch wenn etwas äußerlich gut zu sein scheint, so ist es doch nicht gesagt, daß es in Wirklichkeit gut ist. Die im Haus Gottes Anwesenden scheinen makellos zu sein, aber das Auge Gottes entdeckt in ihnen die allergrößten Makel: jene, die im Herzen sind.

Oh! Das Herz! Mit diesem muß Gott gedient werden; ich wiederhole: mit diesem. Es ist nicht nötig und genügt nicht, einen klaren Blick und ein gutes Gehör, eine melodische Stimme und schöne Glieder sein eigen zu nennen, um Gott wohlgefällige Loblieder zu singen. Es ist nicht nötig und genügt nicht, schöne, reine und duftende Kleider zu tragen. Klar und vollkommen, harmonisch und gut gebildet muß der Geist sein in seinem Blick, in seinem Gehör, in seiner Stimme und in den geistigen Formen, und diese müssen mit Reinheit geschmückt sein. Seht, das ist das schöne und reine, das von Liebe duftende Gewand, das ist das wohlriechende Öl, das Gott wohlgefällig ist.

Könnte man von Liebe sprechen, wenn ein Glücklicher einen Unglücklichen verhöhnen und hassen würde? Doppelte und dreifache Liebe sollte dem erwiesen werden, der ohne seine Schuld unglücklich geboren wird. Der Unglückliche ist eine Last, die dem Verdienst einbringt, der sie trägt, aus Elternliebe leidet, und sich vielleicht an seine Brust schlägt und bekennt: "Ursache dieser Last und Pein bin ich selbst wegen meiner Lasterhaftigkeit." Und es sollte niemals eine moralische Schuld daraus entstehen. Zur Schuld wird es dann, wenn Lieblosigkeit herrscht. Daher sage ich euch: Seid niemals lieblos gegen euren Nächsten! Ist einer unglücklich zur Welt gekommen? Liebt ihn, denn er hat ein großes Leid zu tragen. Ist einer durch eigene Schuld unglücklich geworden? Liebt ihn, denn seine Schuld hat sich bereits in Strafe umgewandelt. Ist einer Vater eines unglücklich geborenen oder eines unglücklich gewordenen Kindes? Liebt ihn, denn es gibt keine größere Pein für einen Vater, als in seinem Sohn getroffen zu werden. Ist eine Frau Mutter einer Mißgeburt? Liebt sie, denn sie ist buchstäblich zerschmettert durch diesen Schmerz, den sie für den unmenschlichsten hält, und er ist tatsächlich unerträglich. Aber noch größer ist der Schmerz einer Mutter, deren Sohn eine Mißgeburt ist, was die Seele betrifft, wenn sie bemerkt, daß sie einen Dämon geboren hat, der eine Gefahr für die Welt, für das Vaterland, für die Familie und für die Freunde ist. Oh, sie wagt es nicht einmal mehr, die Stirn zu erheben, diese arme Mutter eines Wilden, eines Verworfenen, eines Mörders, eines Verräters, eines Diebes, eines verderbten Menschen!

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Nun, ich sage euch: Liebt auch diese Mütter, die unglücklichsten; jene, die durch die Jahrhunderte als Mütter eines Mörders, eines Verräters in die Geschichte eingehen werden.

Alle haben schon einmal das Weinen von Müttern vernommen, die der grausame Tod ihres eigenen Sohnes quält. Wie viele Mütter haben seit Eva bis heute den schrecklichen Schmerz empfunden, der schlimmer ist als Geburtswehen, wenn sie vor dem Leichnam des ermordeten, des hingerichteten, des von den Menschen zu Tode gemarterten Kindes ihren Schmerz hinausschrien und sich in ihrer wahnsinnigen Qual und ihrer schmerzvollen Liebe über den Leichnam ihres Sohnes warfen, der nicht einmal mehr durch eine Handbewegung, durch einen Blick, oder mit dem Mund sagen konnte: "Mutter, ich höre dich."

Dennoch sage ich euch, daß die Erde noch nicht die Wehklagen der heiligsten und der unglücklichsten unter den Müttern gehört hat, die in der Erinnerung der Menschen ewig währen werden: die der Mutter des getöteten Erlösers und der Mutter dessen, der mein Verräter sein wird. Diese beiden so verschiedenartigen Märtyrerinnen wird man über Meilen hinweg hören, und die unschuldige und heilige, die Unschuldigste, die unschuldige Mutter des Unschuldigen wird ihrer fernen Schwester, der Mutter eines überaus grausamen Sohnes, zurufen: "Schwester, ich liebe dich."

Liebt, um jener würdig zu sein, die für alle lieben und selbst alle lieben wird. Die Liebe ist es, die die Erde erretten wird.»

Hierauf steigt Jesus herab von seinem einfachen Rednerpodium und beugt sich nieder, um ein halbnacktes Knäblein in seinem Hemdchen zu liebkosen, das sich im grünen Gras wälzt. Nach so erhabenen Worten des Meisters ist es rührend zu sehen, wie er sich als Mensch für ein Kind interessiert, wie er das Brot bricht, es aufopfert und den Nahesitzenden reicht, wie er selbst Platz nimmt und als Mensch ißt, während er sicher schon im Herzen die Wehklagen seiner Mutter hört und Judas an seiner Seite sieht.

Diese seine Selbstbeherrschung beeindruckt mich, die ich so impulsiv bin, mehr als viele andere Dinge und ist für mich eine beständige Lehre. Die Zuhörer aber scheinen im wahrsten Sinne des Wortes bezaubert zu sein. Sie essen, in ihre Gedanken vertieft, und blicken schweigend und voller Ehrfurcht auf diesen gütigen Meister der Liebe.

468. DER BESESSENE

Jesus und die Seinen sind auf dem Land. Hier ist die Getreideernte schon zu Ende, und die Felder zeigen ihre trockenen Stoppeln. Jesus geht einen schattigen Weg entlang und spricht mit Männern, die sich der Gruppe der Apostel angeschlossen haben.

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«Ja», sagt einer, «niemand kann ihn heilen. Er ist mehr als verrückt, und weißt du, er ist der Schrecken aller, besonders der Frauen, denn er läuft hinter ihnen her und macht schmutzige, obszöne Gesten und Witze, und wehe, wenn er sie erwischen würde!»

«Man weiß nie, wo er ist», sagt ein anderer, «auf den Bergen, in den Wäldern oder auf den Feldwegen... Er taucht immer ganz plötzlich auf, wie eine Schlange... Die Frauen haben große Angst vor ihm. Ein Mädchen, das vom Fluß zurückkam und sich von dem Wahnsinnigen umschlungen sah, ist nach wenigen Tagen an hohem Fieber gestorben.»

«Vor einigen Tagen ist mein Schwager zu dem Ort gegangen, wo er für sich und die Seinen eine Grabstätte hat, um alles für das Begräbnis des Vaters seiner Frau vorzubereiten. Aber er hat fliehen müssen, denn drinnen war der Besessene, nackt und brüllend wie immer, und hat ihn mit Steinwürfen bedroht... Er hat ihn fast bis zum Dorf verfolgt, und dann ist er zum Grab zurückgekehrt, und der Tote mußte in meinem Grab beigesetzt werden.»

«Einmal, als er sich daran erinnerte, daß Tobias und Daniel ihn mit Gewalt gepackt, gefesselt und nach Hause geschleppt hatten, hat er im Röhricht und im Flußschlamm versteckt auf sie gewartet, und als sie zum Fischfang oder zur Überfahrt (ich weiß es nicht mehr genau) ins Boot gestiegen sind, hat er mit seiner teuflischen Kraft das Schifflein hochgehoben und umgekippt. Sie blieben wie durch ein Wunder am Leben, aber alles, was im Boot war, ging verloren, und der Kiel und die Ruder waren zerbrochen.»

«Aber habt ihr ihn nicht zu den Priestern gebracht?»

«Sicher. Gebunden wie ein Warenbündel wurde er bis nach Jerusalern gebracht... War das eine Reise! ... Ich, der ich dabei war, kann dir sagen, daß ich nicht mehr in die Hölle hinabzusteigen brauche, um zu wissen, was dort vor sich geht und über was man dort spricht. Aber es half alles nichts ...»

«Blieb es so wie zuvor?»

«Er wurde sogar noch schlimmer!»

«Und doch... der Priester! ...»

«Ja, ja... Es wäre notwendig, daß...»

«Was? Fahre fort!»

Schweigen.

«Nun sprich doch. Fürchte dich nicht. Ich werde dich nicht verklagen.»

«Sieh, ich sagte... aber ich will nicht sündigen... ich sagte... daß... ja... daß es dem Priester gelingen würde, wenn... wenn...»

«Wenn er heilig wäre, willst du sagen und wagst es nicht. Ich sage dir: Vermeide es, zu urteilen. Aber was du sagst, ist wahr. Leider ist es wahr! ...»

Jesus schweigt und seufzt. Es folgt ein kurzes verlegenes Schweigen.

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Dann faßt einer Mut und fragt: «Würdest du ihn heilen, wenn wir ihm begegnen sollten? Würdest du diese Gegend von ihm befreien?»

«Hoffst du, daß ich das kann? Warum?»

«Weil du heilig bist.»

«Heilig ist Gott.»

«Und du, der du der Sohn Gottes bist.»

«Wie kannst du das wissen?»

«Man spricht davon; und schließlich wohnen wir hier in der Gegend des Flusses und wissen, was du vor drei Monaten gewirkt hast. Wer kann eine Überschwemmung aufhalten, wenn nicht der Sohn Gottes?»

«Und Moses? Und Josua?»

«Sie wirkten im Namen Gottes und zu seiner Ehre, und sie konnten es, weil sie heilig waren. Du aber bist mehr als sie.»

«Wirst du es tun, Meister?»

«Ich werde es tun, wenn wir ihm begegnen.»

Sie gehen weiter. Die Hitze wird stärker und veranlaßt sie, vom Weg abzuweichen und etwas Erquickung im Dickicht entlang dem Fluß zu suchen, der nicht mehr so wild rauscht wie damals bei Hochwasser. Obwohl er noch wasserreich ist, fließt er ruhig dahin, blau und glitzernd unter der Sonne.

Der Pfad wird breiter, und im Hintergrund sieht man schon das Weiß der Häuser. Es muß ein Dorf sein. An seinem Rand stehen kleine, schneeweiße Bauten mit nur einer einzigen Türöffnung in einer der Hausmauern. Einige dieser Türen stehen offen. Die meisten aber sind hermetisch verschlossen. Ringsum ist niemand zu sehen. Diese Häuser sind in einem öden, nicht bewirtschafteten Gebiet verstreut, das verlassen zu sein scheint. Nur Unkraut und Steinen begegnet man.

«Geh fort! Geh fort! Zurück, oder ich töte dich!»

«Sieh, das ist der Besessene. Er hat uns gesehen. Ich mache mich davon.»

«Ich auch.»

«Ich folge euch.»

«Fürchtet euch nicht. Bleibt und schaut.»

Jesus erscheint so sicher, daß die... Tapferen gehorchen, sich jedoch hinter ihm verstecken. Auch die Jünger bleiben etwas zurück. Jesus geht allein und feierlich voraus, als ob er nichts sähe und hörte.

«Geh fort!» Es ist ein gellender Schrei. Heulen und Wut liegen darin. Es scheint fast unmöglich, daß er aus einer menschlichen Kehle kommt. «Geh fort! Zurück! Ich töte dich! Warum verfolgst du mich? Ich will dich nicht sehen!» Der Besessene schnellt in die Höhe, vollständig nackt, braungebrannt, mit langen, zerzausten Bart- und Kopfhaaren. Schwarze, struppige Strähnen, voll von Staub und trockenen Blättern, fallen ihm Über die verdrehten, blutunterlaufenen Augen, die in den Augenhöhlen

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rollen, bis zum Mund herab, der sich weit öffnet, wenn er schreit oder in ein tolles Gelächter ausbricht, das ein wahrer Alptraum ist. Sein Mund schäumt und blutet, denn er schlägt wie wahnsinnig mit einem scharfen Stein darauf und sagt: «Warum kann ich dich nicht töten? Wer fesselt meine Kraft? Du? Du?»

Jesus sieht ihn an und geht weiter.

Der Besessene wirft sich zu Boden, beißt sich und schäumt noch mehr, schlägt sich mit einem Stein, springt wieder auf die Füße, deutet mit dem Zeigefinger auf Jesus, den er entsetzt anblickt, und sagt: «Hört, hört! Der, der da kommt, ist ...»

«Schweig, du Dämon des Menschen! Ich befehle es dir.»

«Nein! Nein! Nein! Ich schweige nicht. Nein, nein, ich schweige nicht. Was gibt es zwischen uns und dir? Warum läßt du uns nicht in Ruhe? Genügt es dir nicht, uns ins Reich der Hölle verwiesen zu haben? Willst du uns auch noch den Menschen entreißen? Warum stürzest du uns in diesen Abgrund? Laß uns doch in unserer Beute verweilen. Du Großer und Mächtiger, geh vorüber und erobere; aber laß uns die Freude, schaden zu können. Dazu sind wir da. Oh, Ver... Nein, ich kann es nicht aussprechen! Laß es mich dir nicht sagen! Dich kann ich nicht verfluchen! Dich hasse ich! Dich verfolge ich! Auf dich warte ich, um dich zu quälen! Ich hasse dich und den, von dem du kommst, und ich hasse den, der euer Geist ist. Die Liebe hasse ich, ich, der ich der Haß bin. Ich will dich verfluchen! Ich will dich töten! Aber ich kann es nicht! Ich kann es noch nicht! Aber ich warte auf dich, o Christus! Ich warte auf dich. Tot werde ich dich sehen. O Stunde der Freude! Nein! Nicht Freude! Du tot? Nein, nicht tot. Und ich besiegt? Besiegt! Für immer besiegt! ... Ah! ...» Der heftige Anfall hat seinen Höhepunkt erreicht.

Jesus nähert sich dem Besessenen immer mehr, indem er ihn mit dem Strahl seiner magnetischen Augen bannt. Jesus ist nun ganz allein. Die Apostel und die Bauern sind zurückgeblieben. Letztere befinden sich sogar hinter den Aposteln, aber auch diese sind wenigstens dreißig Meter von Jesus entfernt.

Bewohner des anscheinend dicht bevölkerten und wohlhabenden Dorfes sind, angelockt durch das Geschrei, erschienen und beobachten die Szene, jederzeit bereit zu entfliehen wie die andere Gruppe. Die Lage ist nun folgende: In der Mitte befindet sich der Besessene und nicht weit von ihm entfernt steht Jesus. Hinter Jesus, zur Linken, die Apostel und die Bauern, zur Rechten, hinter dem Besessenen, die Dorfbewohner.

Jesus hat nach seinem Befehl, zu schweigen, nicht mehr gesprochen. Er blickt den Besessenen nur fest an. Nun bleibt Jesus stehen, erhebt seine Arme, streckt sie dem Besessenen entgegen und will sprechen. Ein höllisches Gebrüll ist die Folge. Der Besessene krümmt sich, springt nach rechts, nach links, in die Höhe und scheint fliehen oder angreifen zu

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wollen, vermag aber keines von beidem. Er ist wie angenagelt. Außer seinem Hin- und Herwinden ist ihm keine Bewegung mehr erlaubt.

Als Jesus seine Hände wie zum Schwur erhebt, brüllt der Wahnsinnige noch lauter, und nachdem er viel gelästert, gelacht und geflucht hat, beginnt er zu weinen und zu flehen. «In die Hölle nicht, nein, nicht in die Hölle! Schick mich nicht dorthin. Schrecklich ist mein Leben auch hier, in diesem menschlichen Kerker; denn ich möchte die Welt durcheilen, um dir deine Geschöpfe zu entreißen. Aber dort, dort... Nein! Nein! Nein! Laß mich draußen bleiben! ...»

«Fahre aus aus diesem Menschen. Ich befehle es dir.» «Nein!»«Fahre aus!» «Nein!»«Fahre aus!» «Nein!»«Im Namen des wahren Gottes, fahre aus ihm aus!»

«Oh! Warum überwältigst du mich? Aber ich fahre nicht aus ihm aus. Nein. Du bist der Gesalbte, Christus, der Sohn Gottes, aber ich bin...»

«Wer bist du?»

«Ich bin Beelzebub, Beelzebub bin ich, der Herr der Welt, und ich beuge mich nicht. Ich trotze dir, Christus!»

Der Besessene steht plötzlich unbeweglich, steif, fast wie ein Götzenbild da und starrt Jesus mit phosphoreszierenden Augen an, indem er nur ganz schwach die Lippen bewegt und unverständliche Worte spricht. Die Hände auf dem Rücken, macht er kleine Bewegungen.

Jesus ist ebenfalls stehengeblieben. Mit auf der Brust verschränkten Armen schaut er ihn fest an und bewegt ein wenig die Lippen. Aber ich kann kein Wort vernehmen.

Die Anwesenden sind gespannt und uneins untereinander.

«Es gelingt ihm nicht!» «Doch, jetzt wird es Christus gelingen.»«Nein, der andere wird siegen.»«Er ist sehr stark.» «Ja.»«Nein.»

Jesus nimmt die Arme wieder auseinander. Sein Blick leuchtet gebieterisch auf und seine Stimme gleicht dem Donner. «Fahre aus aus ihm! Zum letzten Mal sage ich es dir, Satan. Ich bin es, der dir befiehlt!»

«Aaaaah!» (Ein langer, unendlich schmerzerfüllter Schrei, wie wenn einer langsam mit dem Schwert durchbohrt würde.) Dann konkretisiert sich sein Geschrei in Worte: «Ja, ich fahre aus. Du hast mich besiegt. Aber ich werde mich rächen. Du verjagst mich; aber du hast einen Dämon an deiner Seite, und ich werde in ihn fahren und von ihm Besitz ergreifen

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und ihn mit all meiner Macht ausrüsten, und kein Befehl von dir wird ihn mir entreißen können. Zu jeder Zeit und allen Orten zeuge ich mir Söhne, ich, der Urheber des Bösen. So wie Gott sich aus sich selbst erschaffen hat, zeuge ich mich aus mir selbst. Ich empfange mich im Herzen des Menschen, und er gebiert mich, gebiert einen neuen Satan, der er selber ist, und ich juble, juble über meine zahlreiche Nachkommenschaft. Du und die Menschen, ihr werdet immer diesen meinen Geschöpfen begegnen, die meinesgleichen sind. Ich gehe, Christus, um von meinem neuen Reich Besitz zu ergreifen, wie du es willst. Dieses elende Bündel, das Mensch ich mißhandelt habe, überlasse ich dir. Für ihn, den ich dir lasse als Almosen Satans, dir, Gott, nehme ich mir jetzt tausend, ja zehntausend andere, und du wirst ihnen begegnen, wenn du ein elendes zerfetztes Fleisch sein wirst, das den Hunden überlassen wird; und in den kommenden Jahrhunderten werde ich mir zehntausend und hunderttausend andere holen, aus denen ich meine Werkzeuge und deine Marter mache. Du glaubst zu siegen, indem du dein Zeichen aufrichtest! Die Meinen werden es niederreißen, und ich werde siegen... Ah! Nein, ich werde dich nicht besiegen! Aber ich werde dich selbst und in den Deinen quälen!»

Man hört einen Donner, wie nach einem Blitz. Aber man sieht weder das Aufleuchten des Blitzes noch hört man ein wahres Donnerrollen; nur einen trockenen, lauten Knall. Während der Besessene wie tot zu Boden fällt und so liegenbleibt, stürzt ein großer Baumstamm neben den Aposteln auf den Boden, als wäre er in Meterhöhe von einer blitzschnell arbeitenden Säge abgeschnitten worden. Den Aposteln gelingt es gerade noch, zur Seite zu springen. Die Bauern aber laufen endgültig davon.

Doch Jesus, der sich über den am Boden Liegenden gebeugt hat und ihn an der Hand genommen hat, wendet sich um und spricht: «Kommt, fürchtet euch nicht!» Zaghaft kommt das Volk herbei. «Er ist geheilt. Bringt ihm ein Gewand.» Jemand eilt im Laufschritt davon.

Der Mann kommt allmählich zu sich, öffnet die Augen und begegnet dem Blick Jesu. Er schickt sich an, sich aufzusetzen. Mit der einen freien Hand trocknet er sich Schweiß, Blut und Geifer ab, wirft des Haar zurück und betrachtet sich. Er sieht sich unbekleidet vor so viel Volk und schämt sich. Dann kauert er sich zusammen und fragt: «Was ist geschehen? Wer bist du? Weshalb bin ich hier? Warum bin ich nackt?»

«Nichts ist geschehen, mein Freund. Gleich wird man dir Kleider bringen, und dann kannst du nach Hause zurückkehren.»

«Woher komme ich? Und woher kommst du?» Er spricht mit der müden, schwachen Stimme eines Kranken.

«Ich komme vom Galiläischen Meer.»

«Und woher kennst du mich? Weshalb kommst du mir zu Hilfe? Wie heißt du?»

Männer kommen mit einem Gewand und ziehen es dem Geheilten an.

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Nun kommt auch eine arme Alte, die den Geheilten weinend an ihr Herz drückt.

«Mein Sohn!»

«Mutter, warum hast du mich so lang alleingelassen?»

Die alte Frau weint noch stärker und küßt und liebkost ihn. Vielleicht möchte sie etwas sagen, aber Jesus beherrscht sie mit seinem Blick und gibt ihr andere, noch mitleidsvollere Worte ein: «Du bist krank gewesen, mein Sohn. Preise Gott, der dich geheilt hat, und seinen Gesalbten, der im Namen Gottes gewirkt hat.»

«Dieser? Wie heißt er?»

«Jesus von Galiläa. Aber sein Name ist Güte. Küsse ihm die Hand, Sohn. Sage ihm, daß er dir verzeihen soll, was du gesagt oder getan hast... Sicherlich hast du in deinem...»

«Ja, er hat in seinem Fieber gesprochen», sagt Jesus, um den unklugen Worten zuvorzukommen. «Aber es war nicht er, der gesprochen hat, und daher kann ich ihn nicht mit Strenge behandeln. Sei von nun an gut und brav. Sei enthaltsam.» Jesus betont dieses letzte Wort. Der Mann neigt beschämt sein Haupt.

Aber was Jesus ihm erspart hat, das ersparen ihm die reichen Bürger nicht, die sich nun herangemacht haben. Unter ihnen sind auch die unausstehlichen Pharisäer.

«Du hast Glück gehabt! Es war gut für dich, daß du diesem, dem Herrn der Dämonen, begegnet bist.»

«War ich besessen?» Der Mann ist außer sich.

Die Alte kreischt: «Ihr Verfluchten! Ohne Erbarmen und Rücksicht. Ihr widerwärtigen, grausamen Vipern! Und auch du, nichtsnutziger Diener der Synagoge. Der Herr über die Dämonen soll dieser Heilige sein!»

«Wer kann ihnen befehlen, wenn nicht ihr König und Vater?»

«Oh, ihr Lästerer! Ihr Gotteslästerer! Ihr seid...»

«Schweig, Frau. Sei glücklich mit deinem Sohn. Schimpfe nicht. Geht alle hin in Frieden. Den Guten gelte mein Segen. Gehen wir, Freunde.»

«Darf ich dir folgen?» Es ist der Geheilte, der jetzt spricht.

«Nein, bleibe. Lege Zeugnis von mir ab und sei die Freude deiner Mutter. Geh hin.»

Begleitet von Beifallrufen und spöttischem Gemurmel durchquert Jesus die kleine Stadt und begibt sich in den Schatten der Bäume des Flußufers. Die Apostel scharen sich um ihn.

Petrus fragt: «Warum, Meister, hat der unreine Geist solchen Widerstand geleistet?»

«Weil er ein vollendeter Geist war.»

«Was bedeutet dieses Wort?»

«Hört. Es gibt solche, die sich Satan ergeben, indem sie einem der Hauptlaster erliegen. Es gibt solche, die zwei, drei oder auch sieben

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Hauptlastern erliegen. Wenn sich jemand den sieben Lastern hingegeben hat, dann fährt in ihn ein vollendet böser Geist ein, Satan, der Fürst der Finsternis.»

«Wie konnte dieser Mann, der noch so jung ist, von Satan ergriffen werden?»

«O Freunde, wißt ihr, auf welchem Pfad Satan kommt? Drei sind die Wege, die er gewöhnlich einschlägt, und einer fehlt nie. Drei: Die Sinne, das Geld, der Stolz des Geistes. Die Sinnlichkeit fehlt nie. Sie ist die Begleiterin aller anderen Begierden. Sie streut ihr Giftkorn aus, und satanische Fruchtbarkeit breitet sich aus. Daher sage ich euch: Beherrscht die Fleischeslust. Diese Beherrschung ist der Beginn jeder anderen Selbstbeherrschung; so wie die Sklaverei der Fleischeslust der Beginn jeder anderen Versklavung ist. Der Sklave der Wollust wird zum Dieb, zum Betrüger und zum grausamen Mörder, nur um seinem Herrn zu dienen. Auch die Herrschsucht ist verwandt mit der Fleischeslust. Scheint es euch nicht so? Doch, es ist so. Denkt nach und ihr werdet erkennen, daß ich nicht irre. Auf dem Weg des Fleisches drang Satan in den Menschen ein, und seine Freude ist es, wiederum auf diesem Weg einzudringen. Er, der eine und siebenfältige, mit der Brut seiner Legion von kleinen Dämonen.»

«Maria von Magdala hatte, wie du sagtest, sieben Dämonen, und sicherlich waren es Dämonen der Wollust; dennoch hast du sie mit großer Leichtigkeit von ihnen befreit.»

«Ja, Judas, das ist wahr.»

«Und?»

«Und du meinst, daß meine Theorie damit in sich zusammenfällt. Nein, Freund. Die Frau wollte sich damals schon aus dieser Inbesitznahme befreien. Sie wollte es, und der Wille ist alles.»

«weshalb, Meister, werden so viele Frauen vom Dämon erfaßt und, man kann wohl sagen, gerade von diesem Dämon?»

«Schau, Matthäus. Die Frau unterscheidet sich vom Mann in ihrem Wesen und in ihren Reaktionen auf die Erbschuld. Der Mann hat in seinem mehr oder weniger guten Begehren andere Ziele. Die Frau hat nur ein Ziel: die Liebe. Der Mann ist anders geartet. Die Frau ist viel feinfühliger, da sie zum Gebären bestimmt ist. Du weißt, daß jede Vollkommenheit das Empfindungsvermögen erhöht. Ein Mensch mit einem vollkommenen Gehör hört auch, was einem anderen mit einem weniger vollkommenen entgeht, und freut sich darüber; und dasselbe gilt, was den Gaumen, das Auge und den Geruchsinn anbelangt.

Die Frau sollte die Lieblichkeit Gottes auf Erden sein. Sie sollte die Liebe, die Milde, die Inkarnation dieses Feuers sein, das den bewegt, der die Offenbarung und das Zeugnis dieser Liebe ist. Gott hat ihr daher einen überaus feinfühliger Geist verliehen, auf daß sie eines Tages als Mutter imstande sei, ihren Kindern die Augen des Herzens für die Liebe zu Gott

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und zum Nächsten zu öffnen, so wie der Mann ihnen die Augen des Verstandes öffnet, da sie zum Denken und zum Wirken auf die Welt kommen. Bedenke, was Gott zu sich selbst sagte: "Laßt uns dem Adam eine Gefährtin machen." Der allergütigste Gott konnte für Adam nichts anderes als eine gute Gefährtin erschaffen wollen. Wer gut ist, liebt. Die Gefährtin des Adam sollte daher fähig sein zu lieben, um den Aufenthalt Adams im Paradies glückselig zu gestalten. Sie sollte eine so starke Liebesfähigkeit besitzen, daß sie mitwirkend und stellvertretend für Gott in der Liebe zum Mann sein konnte, damit dieser auch dann nicht aus Mangel an Liebe unglücklich wäre, wenn sich Gott selbst nicht durch seine Stimme der Liebe offenbarte.

Satan wußte von dieser Vollkommenheit. Satan weiß so vieles. Er ist es, der aus den Wahrsagern spricht und Wahrheit mit Lüge vermischt. Und die Wahrheiten, die er haßt, weil er die Lüge ist, sagt er nur – merkt euch das, ihr, die ihr jetzt lebt, und ihr, die ihr noch kommen werdet – um euch glauben zu machen, daß nicht die Finsternis, sondern das Licht zu euch spricht. Satan, verschlagen, schlüpfrig und grausam, hat sich in diese Vollkommenheit eingeschlichen und seinen giftigen Biß hinterlassen. Die Vollkommenheit der Frau in der Liebe ist so zu einem Werkzeug Satans geworden, um Frau und Mann zu beherrschen und das Böse zu verbreiten...»

«Und unsere Mütter?»

«Johannes, fürchtest du für sie? Nicht alle Frauen sind Werkzeuge Satans. Vollkommen in den Gefühlen, sind die Frauen stets überschwenglich in ihrem Handeln: Engel, wenn sie Gottes sein wollen; Dämonen, wenn sie Satan folgen wollen. Die heiligen Frauen, und deine Mutter ist eine von ihnen, wollen Gottes sein und sind daher Engel.»

«Meister, scheint dir die Bestrafung der Frau nicht ungerecht zu sein? Auch der Mann hat gesündigt.»

«Und die Belohnung? Es steht geschrieben, daß durch die Frau das Gute in die Welt zurückkehren und Satan besiegt werden wird.»

«Urteilt nie über die Werke Gottes, das vor allem. Aber erwägt auch, daß, da durch die Frau das Böse in die Welt gekommen ist, es gerecht ist, daß auch das Gute durch sie in die Welt komme. Es gilt, eine vom Satan geschriebene Seite zu vernichten. Und das wird das Weinen einer Frau vollbringen. Da jedoch Satan allezeit seine Stimme hören lassen wird, wird die Stimme einer Frau erklingen, um diese Stimme zu übertönen.»

«Wann?»

«Wahrlich, ich sage euch, ihre Stimme ist schon vom Himmel herabgestiegen, wo sie seit aller Ewigkeit ihr Halleluja gesungen hat.»

«Wird sie größer sein als Judith?»

«Größer als jede andere Frau.»

«Was wird sie tun? Was wird sie wohl tun?»

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«Sie wird das Gegenteil von Eva mit ihrer dreifachen Sünde sein durch ihren unbedingten Gehorsam, ihre unbefleckte Reinheit und ihre bedingungslose Demut. Dadurch wird sie als Königin und Siegerin aufstehen...»

«Aber ist nicht deine Mutter die größte, weil sie dich, Jesus, geboren hat?»

«Groß ist, wer den Willen Gottes tut. Und Maria ist gerade deswegen so groß. Jedes andere Verdienst kommt von Gott. Aber dieses ist ganz ihr eigenes, und sie sei dafür gebenedeit.»

Hier endet alles.

Jesus sagt:

«Du hast einen vom Satan Besessenen gesehen. Viele Antworten liegen in dem von mir Gesagten, nicht so sehr für dich als für andere. Werden sie etwas nützen? Nein, denen, die sie am meisten angehen, werden sie nichts nützen. Ruhe mit meinem Frieden.»

469. DER SAUERTEIG DER PHARISÄER

Nach der Karwoche und der damit verbundenen Buße des "Nicht-Sehens", kehrt heute die geistige Schau des Evangeliums wieder, und in dieser Freude, die sich immer durch ein unbeschreibliches Gefühl des Jubels ankündigt, vergesse ich all mein Leid...

Ich sehe Jesus. Er wandert wieder durch die Wälder, die den Fluß säumen. Nun bleibt er stehen und ordnet eine Rast an in diesen allzu heißen Stunden, die das Wandern unmöglich machen. Die ineinander verflochtenen Zweige bilden zwar einen Schutz gegen die Sonne, wirken aber auch wie eine lästige Kappe, welche die leichte Brise abhält. Daher ist die Luft dort unten heiß, unbeweglich, schwer und mit einer Feuchtigkeit gesättigt, die vom Boden in der Nähe des Flusses aufsteigt und keinerlei Erquickung gewährt, sondern nur die lästige Wirkung des Schweißes der über die Körper rinnt, verstärkt.

«Wir werden bis zum Abend hierbleiben. Dann werden wir auf den hellen Kies hinabsteigen, der im Sternenlicht gut zu sehen ist, und bei Nacht weitergehen. Jetzt essen wir etwas und ruhen uns aus.»

«Vor dem Essen möchte ich mich etwas im Wasser erfrischen. Es wird lau sein wie Hustentee, aber es wird mich wenigstens vom Schweiß befreien. Wer kommt mit mir?» fragt Petrus.

Alle gehen mit ihm, auch Jesus, der, wie alle, schweißgebadet ist und ein staubiges, feuchtes Gewand anhat. Jeder entnimmt seiner Tasche ein sauberes Gewand, und dann steigen sie zum Fluß hinab. Im Grün bleiben zum Zeichen ihres Aufenthaltes nur die dreizehn Taschen und die Wasserflaschen zurück, bewacht von bejahrten Bäumen und unzähligen Vögeln,

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die mit den neugierigen Blicken ihrer lebhaften Äuglein die dreizehn runden, bunten Säcke, die im Gras umherliegen, betrachten.

Die Stimmen der Badenden entfernen sich und mischen sich mit dem Rauschen des Flusses. Nur dann und wann ertönt ein heiteres Lachen der jüngeren, wie eine hohe Note inmitten der tiefen, monotonen Baßtöne des Flusses.

Aber die Stille wird bald durch das Geräusch menschlicher Schritte unterbrochen. Köpfe erscheinen im Gebüsch, man blinzelt sich zu und sagt zufrieden: «Da sind sie. Sie haben haltgemacht. Laßt uns gehen und es auch den anderen sagen.» Sie verschwinden und entfernen sich hinter den Sträuchern...

Inzwischen kehren die Apostel mit ihrem Meister erfrischt zurück. Ihre Haare sind noch feucht, und alle gehen barfuß und halten die gewaschenen und noch tropfenden Sandalen an den Riemen. Sie haben frische Gewänder angezogen und die anderen wahrscheinlich in den blauen Wassern des Jordan gewaschen und zum Trocknen auf das Schilf gelegt. Das ausgiebige Bad hat sie offensichtlich erquickt.

Ohne zu wissen, daß sie entdeckt worden sind, setzen sie sich, nachdem Jesus die Speisen aufgeopfert und gesegnet hat. Nach der Mahlzeit strecken sie sich müde aus und würden wohl gern etwas schlafen. Doch sieh, da kommt ein Mann des Weges, und nach ihm ein zweiter und ein dritter...

«Was wollt ihr?» fragt Jakobus des Zebedäus, der sie kommen sieht. Sie bleiben neben einem Dornbusch stehen, ungewiß, ob sie sich weiter vorwagen sollen. Die anderen, auch Jesus, drehen sich um, um zu sehen, mit wem Jakobus redet.

«Ah, das sind die Dorfbewohner... Sie sind uns gefolgt», sagt Thomas, der sich gerade niederlegen wollte, ohne große Begeisterung.

Indessen antworten die Gefragten zögernd, da sie das offensichtliche Widerstreben der Apostel bemerken: «Wir wollten mit dem Meister sprechen... Wir wollten ihm sagen, daß... Nicht wahr, Samuel? ...»

Mehr bringen sie nicht heraus.

Jesus aber ermutigt sie in seiner Güte: «Sprecht, sprecht nur. Habt ihr noch andere Kranke? ...» Dabei erhebt er sich und geht ihnen entgegen.

«Meister, du bist noch müder als wir. Ruhe dich ein wenig aus. Sie sollen warten...» sagen mehrere Apostel.

«Hier sind Menschen, die nach mir verlangen. Auch sie haben keine Ruhe. Sie haben nicht die Ruhe des Friedens im Herzen, und die Müdigkeit der Herzen ist schlimmer als die der Glieder. Laßt mich sie anhören.»

«Nun gut! Adieu, liebe Ruhe! ...» murren die Apostel. Sie sind von der Müdigkeit und der Hitze so mitgenommen, daß sie sogar in Gegenwart von Fremden ihren Meister tadeln und sagen: «Wenn wir wegen diesen Unklugheiten schließlich alle krank sind, wirst du erkennen, daß du uns gebraucht hast. Aber dann wird es zu spät sein.»

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Jesus schaut sie mitleidig an. Nichts anderes drücken seine so milden müden Augen aus... aber er antwortet: «Freunde, ich verlange nicht, da ihr es mir nachmacht. Bleibt hier und ruht euch aus. Ich werde mich um diese Menschen kümmern, sie anhören und dann zurückkehren und mich mit euch ausruhen.»

So sanft ist seine Antwort, daß er damit mehr erreicht als mit einem Vorwurf. Das gute Herz, die Zuneigung der Zwölf zu ihrem Meister erwachen wieder und gewinnen die Überhand: «Das nicht, Herr! Bleibe, wo du bist und sprich zu ihnen. Wir werden zum Fluß gehen und unsere Kleider umwenden, damit sie auch auf der Innenseite trocknen. So werden wir den Schlaf überwinden, und wenn wir zurückkommen, ruhen wir miteinander aus.»

Die Schläfrigsten gehen zum Fluß... Matthäus, Johannes und Bartholomäus bleiben. Aber aus den drei Dorfbewohnern sind inzwischen zehn geworden, und ihre Zahl nimmt ständig zu...

«Also? Kommt näher, und sprecht ohne Furcht.»

«Meister, nachdem du fortgegangen bist, sind die Pharisäer noch heftiger geworden... Sie haben sich auf den von dir befreiten Mann gestürzt und... und wenn er nicht wahnsinnig wird, ist es ein neues Wunder... denn sie haben ihm gesagt, du hättest ihn von einem Dämon befreit, der nur den Verstand in seiner Gewalt gehabt hat, ihm aber statt dessen einen noch viel schlimmeren Dämon gegeben, der den ersten besiegt hat und ihn nun ganz beherrscht. Der erste hätte keine Auswirkungen auf das andere Leben gehabt, weil seine Handlungen nicht... wie haben sie gesagt, Abraham? ...»

«Sie haben gesagt... oh! ... einen seltsamen Ausdruck... Kurz, sie haben gesagt, daß Gott über diese Handlungen keine Rechenschaft verlangen würde, da er sie ja nicht aus freiem Willen vollbracht hat. Nun aber, da er nicht mehr verwirrten Geistes ist und der Dämon, den du, der Fürst der Dämonen (verzeih, wenn wir das wiederholen), ihm ins Herz gegeben hast, ihn dazu zwingt, dich anzubeten, wird er als Gotteslästerer verflucht werden. Das haben sie gesagt. Nun weint der Arme seiner früheren geistigen Verfassung nach und schimpft fast, wenn er von dir spricht... Er ist wirklich verrückter als zuvor... und seine Mutter ist verzweifelt, weil sie glaubt, daß ihr Sohn nun nicht mehr gerettet werden kann. So hat sich all ihre Freude in Schmerz verwandelt. Um ihres Friedens willen haben wir dich gesucht, und der Engel hat uns sicher geführt... Herr, wir glauben, daß du der Messias bist. Wir glauben auch, daß der Messias vom Geist Gottes erfüllt ist, und daher Wahrheit und Weisheit ist. Wir bitten dich, uns den Frieden zu geben, indem du uns erklärst...»

«Ihr seid in der Gerechtigkeit und in der Liebe. Seid gesegnet. Aber wo ist der Unglückliche?»

«Er folgt uns mit seiner Mutter und weint über ihre Verzweiflung.

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Siehst du? Das ganze Dorf, mit Ausnahme der grausamen Pharisäer, ist trotz deren Drohung auf dem Weg nach hier. Sie haben uns nämlich Strafen angedroht, weil wir an dich glauben. Aber Gott wird uns beschützen.»

«Gott wird euch beschützen. Bringt mich zu dem Unglücklichen.»

«Nein, wir werden ihn hierher bringen. Warte ...» und sie gehen der größeren Gruppe von Dorfbewohnern entgegen, die aufgeregt daherkommt, während Mutter und Sohn mit ihrem heftigen Weinen den Lärm der Menge übertönen. Als die Gruppe, in deren Mitte sich die Mutter mit dem Geheilten befindet, Jesus erreicht, ist dieser nunmehr von einer ansehnlichen Volksmenge umgeben. Manche klettern auf die Bäume, um einen guten Platz zu haben, von dem aus sie alles hören und sehen können.

Jesus geht dem wunderbar Geheilten entgegen, der, sobald er ihn erblickt, sich die Haare rauft, vor ihm niederkniet und ausruft: «Gib mir den ersten Dämon zurück! Was habe ich dir getan, daß du mir solches Leid antust?»

Auch seine Mutter liegt auf den Knien: «Er ist außer sich vor Angst, o Herr! Höre nicht auf seine gotteslästerlichen Worte, sondern befreie ihn von der Angst, die diese Grausamen ihm eingejagt haben, auf daß er nicht das Leben seiner Seele verliere. Du hast ihn schon einmal befreit! Oh, aus Barmherzigkeit für eine Mutter, befreie ihn noch einmal!»

«Ja, Frau, fürchte dich nicht. Kind Gottes, höre!» Und Jesus legt seine Hände auf das ungekämmte Haar des vor Angst irre redenden Menschen: «Höre mich an und urteile. Du selbst kannst urteilen, da dein Verstand nun frei ist, und du kannst gerecht urteilen. Es gibt ein sicheres Zeichen, an dem man erkennt, ob ein Wunder von Gott oder von einem Dämon kommt, und es ist das, was die Seele empfindet. Wenn das außergewöhnliche Ereignis von Gott stammt, wird die Seele von Frieden und erhabener Freude erfüllt. Kommt es aber vom Teufel, zieht es Schmerz und Verwirrung nach sich. Auch Frieden und Freude bewirken die Worte Gottes, während die des Teufels, selbst wenn er durch den Mund eines Menschen spricht, Schmerz und Verwirrung erzeugen. Gottes Nähe flößt Frieden und freudvolle Wonne ein, während von der Gegenwart böser Geister nur Schmerz und Verwirrung ausgehen... Nun, denke nach, Kind Gottes. Hast du, als du dich dem Dämon der Wollust hingabst, um deinen Bedrücker in dich aufzunehmen, Freude und Frieden empfunden?»

Der Mann überlegt und antwortet errötend: «Nein, Herr. Nie. Solange ich noch Verstand, ein wenig freien Verstand hatte, empfand ich nur Verwirrung und Schmerz infolge der Anmaßung des Widersachers. Was dann geschah... weiß ich nicht ... Ich hatte keinen Verstand mehr, der fähig war zu verstehen, was ich litt ... Ich war schlimmer als ein wildes Tier. ... Oh! wie sehr mußte ich leiden! Selbst in diesem Zustand, als ich weniger als ein Tier erfaßte... Oh, wieviel Leid konnte ich noch verspüren! Aber

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ich kann nicht sagen, woran ich litt ... Die Hölle ist schrecklich! Sie ist etwas unheimlich Schreckliches ... So daß man sie nicht beschreiben kann...»

Der Mann zittert bei der undeutlichen Erinnerung an seine Leiden als Besessener. Er zittert, erbleicht und schwitzt... Die Mutter umarmt ihn und küßt ihn auf die Wange, um ihn davon abzulenken... Die Menge flüstert.

«Und als du, deine Hand in meiner Hand, erwacht bist, was hast du da empfunden?»

«Oh, ein so angenehmes Erstaunen... und dann eine Freude, eine immer größer werdende Freude, und einen wachsenden Frieden. Es schien mir, als käme ich aus einem dunklen Kerker, in dem mich zahllose Schlangen fesselten und die Luft vom Gestank einer Kloake erfüllt war, als beträte ich einen blühenden Garten voller Sonnenschein und Gesang... Ich habe das Paradies kennengelernt... aber auch das kann man nicht beschreiben...» Der Mann lächelt wie entrückt, während er sich der kurzen, eben erst erlebten Freude erinnert. Dann seufzt er und schließt mit den Worten: «Aber das ist schnell vergangen ...»

«Bist du dessen sicher? Sage mir, jetzt, da du in meiner Nähe und fern von denen bist, die dich verwirrt haben: Was empfindest du jetzt?»

«Wiederum Frieden. Hier bei dir kann ich nicht glauben, daß ich verdammt bin, und ihre Worte scheinen mir Flüche zu sein... Aber ich habe sie geglaubt... Habe ich dadurch gegen dich gesündigt?»

«Nein, nicht du, sondern sie haben gesündigt. Erhebe dich, Kind Gottes, und glaube an den Frieden, der in dir ist. Der Friede kommt von Gott und du bist bei Gott. Sündige nicht mehr und fürchte dich nicht», und er nimmt seine Hände vom Haupt des Mannes und läßt ihn aufstehen.

«Ist es wahrhaftig so, Herr?» fragen viele.

«Wahrlich, so ist es. Der Zweifel, der ihm durch die bewußt Schaden stiftenden Worte eingeflößt worden ist, war die letzte Rache Satans, der besiegt aus ihm ausgefahren ist, aber die verlorene Beute erneut an sich reißen wollte.»

Mit seinem gesunden Menschenverstand sagt ein Bauer: «Aber dann. dann haben ja die Pharisäer dem Satan gedient!» Viele klatschen Beifall nach dieser folgerichtigen Bemerkung.

«Richtet nicht. Es ist einer, der richtet.»

«Aber wir sind wenigstens aufrichtig im Urteil... und Gott sieht, daß wir eine offenkundige Schuld verurteilen. Sie geben vor zu sein, was sie nicht sind. Sie arbeiten mit Lügen und unguten Absichten und triumphieren gleichwohl über uns, die wir rechtschaffen und aufrichtig sind. Sie sind unser Schrecken. Sie dehnen ihre Macht sogar auf die Glaubensfreiheit aus. Man soll glauben und handeln, wie sie es wünschen, denn sie bedrohen uns, weil wir dich lieben. Sie versuchen, deine Wunder auf Zauberei

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zurückzuführen, um uns abzuschrecken. Sie sind Verschwörer, Bedrücker und Verderber...»

Die Menge redet durcheinander und ist in großer Aufregung.

Jesus gebietet Schweigen durch ein Zeichen und sagt: «Nehmt in eure Herzen weder ihre Einflüsterungen noch ihre Lebensart auf. Nicht einmal an dem Gedanken haltet fest: "Sie sind schlecht, und gleichwohl triumphieren sie." Erinnert ihr euch nicht an die Worte der Weisheit: "Kurz ist der Triumph des Ruchlosen"? Und an die aus dem Buch der Sprüche: "Folge nicht, o Sohn, dem Beispiel der Sünder, und höre nicht auf die Worte der Gottlosen, denn sie werden von den Ketten ihrer eigenen Vergehen gefangengehalten und von ihrer großen Torheit verführt"? Nehmt nicht in euch auf, was in denen ist, die ihr, obwohl ihr selbst unvollkommen seid, als ungerecht verurteilt. Ihr würdet den Sauerteig in euch aufnehmen, der sie selbst verdirbt. Der Sauerteig der Pharisäer ist die Heuchelei. Sie sei stets fern von euch, was die Art des Gottesdienstes und das Verhalten gegen den Mitmenschen angeht. Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer. Bedenkt, daß nichts von dem, was verborgen ist, nicht aufgedeckt werden kann; daß es nichts Verstecktes gibt, was nicht eines Tages ans Licht kommt.

Ihr seht, sie haben mich fortgehen lassen und dann dort Unkraut gesät, wo der Herr guten Samen ausgestreut hatte. Sie glaubten schlau und siegreich gehandelt zu haben, und wenn ihr mich nicht gefunden hättet, wenn ich den Fluß überquert hätte, ohne eine Spur von mir auf dem Wasser zu hinterlassen, dann hätten ihre üblichen Machenschaften unter dem Schein des Guten triumphiert. Aber das Spiel ist schnell aufgedeckt und ihre Bosheit zunichte gemacht worden. So geht es mit allen Handlungen der Menschen. Einer wenigstens ist da, Gott, der alles weiß und vorsorgt. Was im Geheimen geplant wird, wird dennoch durch das Licht enthüllt, als wäre alles auf offenem Platz vorbereitet worden. Denn jeder kann seinen Ankläger finden, da Gott alle Menschen sieht und eingreifen kann, indem er den Schuldigen die Maske vom Gesicht reißt. Daher soll man immer rechtschaffen handeln, wenn man in Frieden leben will. Wer so lebt, hat nichts zu befürchten, weder in diesem noch im jenseitigen Leben. Nein, meine Freunde, ich sichere es euch zu: Wer rechtschaffen handelt, hat nichts zu befürchten.

Er braucht sich nicht vor dem Mörder zu fürchten, der nur seinem Leib, nicht aber der Seele etwas anhaben kann. Ich will euch sagen, wen ihr fürchten müßt. Fürchtet euch vor denen, die, nachdem sie euch getötet haben, euch auch noch in die Hölle stürzen können, d.h. den Lastern, bösen Kameraden und falschen Lehrern; vor denen, die euch zur Sünde verführen oder Zweifel in eure Herzen säen; vor denen, die versuchen, mehr der Seele als dem Körper zu schaden und euch von Gott trennen und euch an der göttlichen Barmherzigkeit zweifeln lassen. Vor diesen müßt ihr

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euch fürchten, ich wiederhole es euch; denn sonst werdet ihr in Ewigkeit tot sein.

Im übrigen fürchtet nicht für euer irdisches Leben. Euer Vater verliert nicht einmal eines dieser kleinen Vöglein aus den Augen, die im Geäst der Bäume nisten. Keines von ihnen verfängt sich in einem Netz, ohne daß der Schöpfer es wüßte, obwohl ihr materieller Wert so gering ist: Fünf Sperlinge für zwei Pfennige, und geistigen Wert haben sie überhaupt keinen. Trotzdem nimmt sich Gott ihrer an. Wie sollte er also für euch nicht sorgen? Für euer Leben und euer Wohl? Selbst die Haare eures Hauptes sind dem Vater bekannt, und kein einziges Unrecht, das man seinen Kindern antut, übersieht er; denn ihr seid seine Kinder, d.h. ihm viel mehr wert als die Sperlinge, die auf den Dächern oder im Geäst der Bäume ihre Nester bauen. Ihr bleibt solange seine Kinder, als ihr nicht aus freiem Willen darauf verzichtet, es zu sein.

Man verzichtet auf diese Kindschaft, wenn man Gott und das Wort, das Gott zu den Menschen gesandt hat, verleugnet. Wenn daher einer mich vor den Menschen nicht anerkennen will, weil er befürchtet, sich dadurch zu schaden, so wird auch Gott ihn nicht als sein Kind anerkennen, und der Sohn Gottes und Menschensohn wird ihn vor den Engeln des Himmels nicht anerkennen. Wer mich vor den Menschen verleugnet hat, dessen Kindschaft Gottes wird auch vor den Engeln Gottes verleugnet werden. Wer schlecht über den Menschensohn und gegen ihn spricht, dem wird noch verziehen werden, denn ich werde für ihn eintreten und den Vater um Verzeihung bitten. Wer aber gegen den Heiligen Geist lästert, dem wird nicht verziehen werden.

Warum? Weil nicht alle das Ausmaß der Liebe, ihre vollkommene Unendlichkeit verstehen und Gott in einem Fleisch erkennen können, das dem jedes Menschenkindes ähnlich ist. Die Heiden können es nicht glauben, denn sie besitzen nicht die Religion der Liebe. Auch bei uns kann die furchtsame Verehrung Jahwes, die Israel hegt, davon abhalten zu glauben, daß Gott Mensch geworden ist, der demütigste aller Menschen. Es ist Sünde, mir nicht zu glauben. Aber wenn diese Sünde auf eine übertriebene Gottesfurcht zurückzuführen ist, kann sie noch verziehen werden. Dem aber kann nicht verziehen werden, der sich der Wahrheit nicht öffnet, die aus meinen Handlungen leuchtet, und dem Geist der Liebe nicht zugestehen will, daß er sein Wort gehalten und den Erlöser zur vorherbestimmten Zeit gesandt hat, vorangegangen und begleitet von den vorausgesagten Zeichen. Die Menschen, die mich verfolgen, kennen die Propheten. Die Prophezeiungen sprechen viel von mir. Sie kennen die Prophezeiungen und wissen, was ich tue. Die Wahrheit ist offenbar. Aber sie leugnen sie, weil sie sie leugnen wollen. Systematisch leugnen sie, daß ich außer dem Menschensohn auch der Sohn Gottes bin, der von den Propheten verheißen wurde, geboren aus einer Jungfrau, und nicht durch den

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Willen eines Menschen, sondern durch den der ewigen Liebe, des ewigen Geistes, der mich angekündigt hat, damit die Menschen mich erkennen können. Um sagen zu können, daß die Finsternis der Erwartung Christi noch andauere, halten sie hartnäckig ihre Augen geschlossen, um das Licht nicht zu sehen, das in der Welt ist; und deswegen leugnen sie den Heiligen Geist, seine Wahrheit, sein Licht. Sie werden strenger gerichtet als die, die nicht wissen. Mich "Satan" genannt zu haben, wird ihnen nicht verziehen werden, weil der Geist durch mich göttliche Werke wirkt und nicht satanische. Und andere zur Verzweiflung zu treiben, wenn die Liebe ihnen den Frieden gebracht hat, wird ihnen nicht verziehen werden. Denn das alles sind Beleidigungen des Heiligen Geistes, des Geistes, der der Tröster ist, der Liebe schenkt und Liebe fordert und auf mein Ganzopfer der Liebe wartet, um sich mit seiner weisen Liebe erleuchtend in die Herzen meiner Getreuen zu ergießen. Und wenn es vollendet sein wird und sie euch immer noch verfolgen und anklagen vor der Obrigkeit, vor den Vorstehern der Synagogen und den Gerichten, dann macht euch keine Sorgen, wie ihr euch rechtfertigen sollt. Derselbe Geist wird euch sagen, was ihr antworten sollt, um der Wahrheit zu dienen und euch das ewige Leben zu erwerben, so wie euch das Wort jetzt schon gibt, was ihr braucht, um in das Reich des ewigen Lebens einzugehen.

Geht hin in Frieden. In meinem Frieden. In jenem Frieden, der Gott ist und den Gott gibt, um seine Söhne damit zu sättigen. Geht und fürchtet euch nicht. Ich bin nicht gekommen, um euch zu täuschen, sondern um euch zu belehren, damit ihr nicht verlorengeht, sondern erlöst werdet. Selig, die an meine Worte zu glauben vermögen.

Du, Mann, der du zweimal gerettet worden bist, sei stark und erinnere dich meines Friedens, um den Versuchern sagen zu können: "Versucht nicht, mich zu verführen. Ich glaube, daß er der Christus ist." Geh, o Frau. Geh mit ihm, und lebt in Frieden.

Lebt wohl! Kehrt zurück in eure Häuser und gönnt dem Menschensohn etwas Ruhe hier im Wiesengrund, bevor er wieder seinen Weg, den Weg des Verfolgten, aufnimmt auf der Suche nach anderen Menschen, die er retten muß, bis ans Ende. Der Friede sei mit euch.»

Er segnet sie und kehrt dann dorthin zurück, wo sie gegessen hatten, und die Apostel folgen ihm. Sobald die Menge sich zerstreut hat, legen sie sich nieder, die Säcke unter dem Kopf, und bald übermannt sie der Schlaf in der dunstigen Hitze des Nachmittags und der schweren Stille der heißen Tagesstunden.

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470. «IHR SOLLT SAGEN: "WIR SIND UNNÜTZE KNECHTE"»

Der Kies glänzt weiß in der mondlosen Nacht, die jedoch von den Tausenden von großen Sternen des orientalischen Himmels erhellt wird. Es ist nicht das grelle Licht des Mondes, sondern ein mildes Schimmern, das dem an die Dunkelheit gewöhnten Auge zu sehen erlaubt, wohin man den Fuß setzt und wo man sich befindet. Hier, zur Rechten der Wanderer, die den Fluß entlang nach Norden gehen, zeigt das milde Sternenlicht den Saum der Vegetation, die sich aus Schilfrohr, Weiden und hohen Bäumen zusammensetzt und eine kompakte, fortlaufende und undurchdringliche Mauer zu bilden scheint, die selbst dort kaum unterbrochen ist, wo die weiße Linie des völlig ausgetrockneten Bachbetts sich nach Osten schlängelt und bei der ersten Biegung des kleinen Zuflusses verschwindet. Auf der linken Seite hingegen unterscheiden die Wanderer das Leuchten der Wasser, die seufzend, gurgelnd, leise rauschend und ruhig zum Toten Meer hinabfließen. Zwischen der leuchtenden Linie der in der Nacht indigoblauen Gewässer und der dunklen, matten Böschung mit ihren Kräutern, Sträuchern und Bäumen, liegt der helle Kiesstreifen, hier breiter, dort schmaler, und bildet bisweilen einen kleinen Teich, ein Überbleibsel vergangener Überschwemmungen. In diesen Wassertümpeln wachsen noch grüne Kräuterbüschel, die anderswo schon durch die große Hitze verdorrt sind.

Die Apostel werden manchmal durch kleine Tümpel oder durch das Gestrüpp aus trockenen Schilfpflanzen, die den Füßen in den einfachen Sandalen gefährlich werden können, voneinander getrennt und gruppieren sich dann wieder um den Meister, der ihnen mit langen, stets majestätischen Schritten meist schweigend vorangeht und seinen Blick mehr zu den Sternen als auf den Boden richtet.

Die Apostel... nein, sie schweigen nicht. Sie sprechen über die Ereignisse des Tages und ziehen daraus ihre Schlüsse oder Folgerungen für die Zukunft. Jesus spricht nur selten ein Wort, meist um eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten oder um nach irgendeiner verkehrten oder nicht sehr liebevollen Äußerung die Zwölf zurechtzuweisen.

So nimmt der nächtliche Marsch seinen Fortgang und gibt der Stille der Nacht an diesen verlassenen Ufern eine neue Note: menschliche Stimmen und Schritte. Da schweigen die Nachtigallen im Laub, erstaunt über die rauhen Mißtöne, die sich in das gewohnte Rauschen der Wasser und der Brise, der üblichen Begleitung ihrer Solovirtuosität, mischen.

Aber eine direkte Frage, die sich nicht auf das bezieht, was geschehen ist, sondern auf das, was noch kommen wird, unterbricht mit der Gewalt eines Aufruhrs und mit einem Ton, der schärfer ist als der der von Unwillen und Zorn bewegten Stimmen, nicht nur die friedliche Stille der Nacht, sondern auch die tiefere der Herzen. Philippus fragt, ob und in wie vielen

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Tagen sie in ihren Häusern sein werden. Ein heimliches Bedürfnis nach Ruhe und eine nicht ausgesprochene Anhänglichkeit an die Familie liegen in der einfachen Frage des schon etwas betagten Apostels, der außerdem Gatte und Vater ist und die häuslichen Interessen wahrzunehmen hat...

Jesus fühlt all das, wendet sich um und schaut Philippus an. Er bleibt stehen, um auf ihn zu warten, da dieser mit Matthäus und Nathanael etwas zurückgeblieben ist, und als er ihn erreicht hat, umschlingt er ihn mit einem Arm und sagt: «Bald, mein Freund. Aber ich bitte deine Güte um ein weiteres kleines Opfer, es sein denn, daß du dich vorher von mir trennen willst...»

«Ich... mich trennen? Nie!»

«Also... dann werde ich dich noch einige Zeit von Bethsaida fernhalten. Ich will über Samaria zur Hafenstadt Caesarea gehen. Auf dem Rückweg begeben wir uns nach Nazareth, und diejenigen, die ihre Familie nicht in Galiläa haben, werden bei mir bleiben. Nach einiger Zeit werden wir uns dann in Kapharnaum wieder zusammenfinden... Dort will ich euch erneut belehren, um euch noch fähiger zu machen. Aber wenn du glaubst, daß deine Gegenwart in Bethsaida notwendig ist... geh nur, Philippus, dann sehen wir uns dort wieder...»

«Nein, Meister. Es ist viel wichtiger, bei dir zu bleiben! Aber weißt du... es ist so schön, zu Hause zu sein... mit den Töchtern... Ich glaube, daß ich sie in Zukunft nicht viel bei mir haben werde... und ich möchte mich ein wenig ihrer keuschen Lieblichkeit erfreuen. Wenn ich aber wählen muß zwischen dir und ihnen, so wähle ich dich... und zwar aus mehreren Gründen...» schließt Philippus seufzend.

«Ja, du tust gut daran, Freund, denn ich werde dir vor deinen Töchtern genommen werden...»

«Oh, Meister! ...» sagt der Apostel tief betroffen.

«So ist es Philippus», schließt Jesus, indem er den Apostel auf die Schläfen küßt.

Judas Iskariot, der schon zu murren begonnen hat, als Jesus Caesarea erwähnt hat, erhebt nun seine Stimme, als ob er beim Anblick des dem Philippus gegebenen Kusses die Kontrolle über sich selbst verlöre, und sagt: «Wie viele unnütze Dinge! Ich verstehe wirklich nicht, warum es notwendig ist, nach Caesarea zu gehen!» Er sagt das in einem ungestümen und barschen Ton, als wolle er zu verstehen geben: «Du, der du dorthin gehen willst, bist ein Dummkopf.»

«Nicht du, sondern der Meister muß darüber entscheiden, was notwendig ist», entgegnet ihm Bartholomäus.

«So? Als ob er die natürlichen Notwendigkeiten besser kennen würde!»

«Oje! Bist du von Sinnen oder noch bei Verstand? Weißt du, von wem

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du sprichst?» fragt ihn Petrus, der ihn an einem Arm gepackt hat und schüttelt.

«Ich bin nicht von Sinnen. Ich bin der einzige, der noch einen gesunden Verstand hat, und ich weiß, was ich sage.»

«Schöne Dinge sagst du da!» «Bitte Gott, daß er sie dir nicht anrechne!» «Die Bescheidenheit scheinst du nicht zu lieben!» «Man könnte fast meinen, du hättest Angst, daß man dich als das erkennt, was du bist, wenn wir nach Caesarea gehen», sagen nacheinander Jakobus des Zebedäus, Simon der Zelote, Thomas und Judas des Alphäus.

Iskariot empört sich besonders gegen letzteren: «Ich habe nichts zu befürchten, und ihr habt nichts zu erfahren. Aber ich bin es müde, mitansehen zu müssen, wie wir von einem Irrtum in den anderen fallen und uns zugrunde richten. Reibereien mit den Synedristen, Streit mit den Pharisäern, jetzt fehlen nur noch die Römer ...»

«Was? Es ist nicht einmal zwei Monate her, daß du ganz außer dir warst vor Freude, daß du sicher warst... alles warst du wegen deiner Freundschaft mit Claudia!» bemerkt ironisch Bartholomäus, der, als der Unnachgiebigste, sich nur aus Gehorsam gegen den Meister den Beziehungen zu den Römern nicht widersetzt.

Judas bleibt für einen Augenblick stumm, weil die Folgerichtigkeit der ironischen Frage zu offensichtlich ist und er, um nicht inkonsequent zu erscheinen, das früher Gesagte nicht leugnen kann. Dann aber faßt er sich: «Ich sage das nicht wegen der Römer. Ich sehe die Römer nicht als unsere Feinde an. Jene – und es sind im Grunde nicht mehr als vier, fünf, höchstens sechs römische Frauen – haben mir Hilfe versprochen und werden ihr Wort halten. Aber es ist klar, daß dies den Haß der Feinde des Meisters vermehren wird, und er begreift das nicht und ...»

«Ihr Haß ist schon vollständig, Judas. Du weißt es so gut wie ich und sogar besser als ich», sagt Jesus ruhig, indem er das "besser" betont.

«Ich, ich? Was willst du damit sagen? Wer kennt die Sachverhalte besser als du?»

«Gerade eben hast du gesagt, daß du allein die Bedürfnisse kennst und weißt, was zu tun ist ...» entgegnet Jesus.

«Aber nur, was die natürlichen Dinge angeht. Ich bin überzeugt, daß du die geistigen Dinge besser kennst als alle anderen.»

«Das ist wahr. Aber gerade deshalb habe ich gesagt, daß du die häßlichen, die beschämenden Dinge, wenn du willst, die natürlichen Dinge, besser kennst, und zu diesen gehören der Haß meiner Feinde und ihre Pläne ...»

«Ich weiß nichts! Nichts weiß ich. Ich schwöre es bei meiner Seele, bei meiner Mutter, bei Jahwe ...»

«Genug! Es steht geschrieben: Du sollst nicht schwören», gebietet Jesus mit einer Strenge, die sein Antlitz verhärtet und ihm die vollendeten Züge einer Statue verleiht.

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«Gut, dann werde ich nicht schwören. Aber es wird mir wohl erlaubt sein, da ich kein Sklave bin, zu sagen, daß es weder notwendig noch nützlich, sondern vielmehr sehr gefährlich ist, nach Caesarea zu gehen, um mit Römerinnen zu sprechen...»

«Und wer sagt dir, daß das geschehen wird?» fragt Jesus.

«Wer? Alles spricht doch dafür 1 Du willst dich irgendeiner Sache vergewissern. Du bist auf der Spur einer...» Er unterbricht sich, denn er merkt, daß der Zorn ihn zu viel reden macht. Dann fährt er fort: «Und ich sage dir: du müßtest auch an unsere Interessen denken. Du hast uns alles genommen, Haus, Verdienst, Zuneigung und Ruhe. Wir werden um deiner Sache willen verfolgt, und so wird es auch in Zukunft sein. Denn du wiederholst uns ja bei jeder Gelegenheit, daß du uns zu einem gewissen Zeitpunkt alleinlassen wirst. Wir werden ruiniert zurückbleiben, wir werden...»

«Du wirst nicht verfolgt werden, wenn ich einst nicht mehr unter euch bin. Das sage ich dir, der ich die Wahrheit bin. Und ich sage dir auch, daß ich angenommen habe, was ihr freiwillig gegeben habt, und oft nur auf euer Drängen hin. Du kannst mich also nicht anklagen, ich hätte euch mit Gewalt auch nur ein einziges der Haare genommen, die ihr verliert, wenn ihr sie in Ordnung bringt. Warum klagst du mich an?» Jesus ist schon weniger streng, und es erfüllt ihn jetzt eine Traurigkeit, die durch Milde zur Vernunft bringen will. Ich glaube, daß diese seine so vollkommene, so göttliche Barmherzigkeit ein Zügel für die anderen ist, die sich sonst dem Schuldigen gegenüber nicht zurückhalten würden.

Auch Judas spürt das, und in einem dieser plötzlichen Ausbrüche seiner Natur mit ihren einander widerstrebenden Kräften, wirft er sich zu Boden, schlägt sich an Kopf und Brust und ruft aus: «Weil ich ein Dämon bin. Ein Teufel bin ich. Rette mich, Meister, wie du so viele Besessene rettest. Rette mich! Rette mich!»

«Dein Wille soll bei dieser Rettung nicht untätig sein.»

«Mein guter Wille fehlt nicht. Du siehst es, ich will gerettet werden.»

«Von mir. Du verlangst, daß ich alles tue. Ich aber bin Gott und achte deinen freien Willen. Ich werde dir Kraft verleihen, damit du dahin gelangst, gerettet werden zu wollen. Aber es muß dein Wille sein, denn du bist kein Sklave.»

«Ich will es! Ich will es! Aber geh nicht nach Caesarea! Höre auf mich, wie du auf Johannes gehört hast, als du nach Achor gehen wolltest. Wir haben alle dieselben Rechte und dienen dir alle in gleicher Weise. Du hast die Pflicht, uns zufriedenzustellen. Behandle mich wie Johannes! Das will ich. Was für ein Unterschied besteht zwischen mir und ihm?»

«Ihr seid von unterschiedlicher Gemütsart. Mein Bruder hätte nie so gesprochen, wie du sprichst. Mein Bruder hätte nicht...»

«Ruhe, Jakobus! Ich spreche, und zwar zu allen. Und du, steh auf und

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sei der Mann, als den ich dich behandle, und nicht ein jammernder Sklave zu Füßen seines Herrn. Sei ein Mann, zumal du so viel Wert darauf legst, wie Johannes behandelt zu werden, der in Wahrheit mehr ist als ein Mann, da er keusch und voller Liebe ist.

Laßt uns gehen. Es ist schon spät, und im Morgengrauen möchte ich den Fluß überqueren. Um diese Stunde kommen die Fischer, die ihre Netze eingezogen haben, nach Hause, und da ist es leicht, ein Fährboot zu finden. Die zarte Mondsichel steigt in ihren letzten Tagen immer höher hinauf. Im zunehmenden Mondlicht werden wir rascher vorwärtskommen.

Hört. In Wahrheit sage ich euch: Niemand darf sich rühmen, daß er seine Pflicht erfüllt, und dafür eine besondere Gunst verlangen.

Judas hat daran erinnert, daß ihr mir alles gegeben habt, und gesagt, daß ich deshalb die Pflicht habe, euch zufriedenzustellen. Aber hört. Unter euch sind Fischer und Grundbesitzer; mehr als einer von euch hat eine Werkstatt, und der Zelote hatte seinen Diener. Nun gut. Wenn die Schiffsjungen oder die Männer, die euch im Olivenhain, im Weinberg, auf den Feldern, in den Werkstätten oder einfach als treue Diener im Haus und bei Tisch geholfen haben, ihre Arbeit beendet hatten, seid ihr dann vielleicht hingegangen, sie zu bedienen?

Ist es nicht so in allen Häusern und bei allen Aufgaben? Wer sagt zu seinem Knecht, der die Schafe hütet, den Acker pflügt oder in der Werkstatt beschäftigt ist, nach getaner Arbeit: "Setz dich sofort zu Tisch"? Niemand. Wenn er vom Feld zurückkommt oder nach der Arbeit sein Werkzeug niedergelegt hat, dann sagt jeder Hausherr: "Bereite mir das Essen, reinige dich und bediene mich mit reinem Gewand und umgürteten Lenden, während ich esse und trinke. Nachher wirst du essen und trinken." Man kann dies nicht als Hartherzigkeit bezeichnen, denn der Diener muß dem Herrn dienen; und der Herr ist ihm nicht verpflichtet, denn der Knecht hat das getan, was der Herr ihm am Morgen aufgetragen hatte. Wenn es auch wahr ist, daß der Hausherr verpflichtet ist, mit seinem Knecht menschlich umzugehen, so hat der Knecht doch die Pflicht, nicht arbeitsscheu und anspruchsvoll zu sein, sondern zum Wohl des Herrn mitzuarbeiten, der ihn kleidet und ihm zu essen gibt. Würdet ihr es ertragen, wenn eure Schiffsjungen, eure Bauern, Arbeiter oder Hausknechte euch sagen würden: "Bediene mich jetzt, da ich für dich gearbeitet habe"? Ich glaube nicht.

So auch ihr. Im Hinblick auf das, was ihr getan habt und in Zukunft tun werdet, um mein Werk fortzusetzen und weiterhin eurem Meister zu dienen, müßt ihr immer sagen – denn ihr werdet auch sehen, daß ihr immer weniger getan habt, als recht gewesen wäre, um euch für all das Gute, das ihr von Gott empfangen habt, dankbar zu erweisen: "Wir sind unnütze Knechte, denn wir haben nicht mehr getan als unsere Pflicht." Wenn

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ihr so denkt, werdet ihr sehen, daß weder Anmaßung noch Mißmut in euch aufkommen, und ihr werdet gerecht handeln.»

Jesus schweigt. Alle denken über das Gesagte nach. Petrus stößt Johannes mit dem Ellbogen an, der nachdenklich seine himmelblauen Augen auf das Wasser geheftet hat, das im Mondschein von Dunkelblau in Silberblau übergeht, und sagt: «Frage ihn, wann einer mehr als seine Pflicht tut. Ich möchte so weit kommen, daß ich mehr tue, als meine Pflicht ist...»

«Auch ich, Simon. Ich habe gerade daran gedacht», antwortet Johannes mit einem lieblichen Lächeln auf den Lippen und fragt ganz klar: «Meister, sage mir: Ist es dem Menschen, deinem Knecht, nie gegeben, mehr zu tun, als seine Pflicht ist, um dir dadurch zu beweisen, daß er dich wirklich sehr liebt?»

«Kind, Gott hat dir so viel gegeben, daß nach dem Maß der Gerechtigkeit all dein Heroismus immer noch wenig wäre. Aber der Herr ist so gut, daß er das, was ihr ihm gebt, nicht mit seinem unendlichen Maß mißt. Er mißt es mit dem begrenzten Maß der menschlichen Fähigkeiten. Und wenn er sieht, daß ihr rückhaltslos großzügig, in vollem, überströmendem Maß gegeben habt, dann sagt er: "Dieser mein Knecht hat mir mehr gegeben, als es seine Pflicht war, daher werde ich ihm auch einen überreichlichen Lohn geben."»

«Oh! Wie glücklich ich bin! Ich will dir in überströmendem Maß geben, um dieses überreichlichen Lohnes teilhaft zu werden!» ruft Petrus aus.

«Ja, du wirst es mir geben. Ihr werdet es mir geben. Alle die, die Wahrheit und das Licht lieben, werden es mir geben, und mit mir übernatürlich glücklich sein.»

471. «WENN JEMAND SIEBENMAL BEREUT, SOLLT IHR IHM SIEBENMAL VERZEIHEN»

Sie sind bereits am anderen Ufer des Jordan und haben zur Rechten den Berg Tabor und den kleinen Hermon, zur Linken die Berge von Samaria, im Rücken den Jordan und vor sich, jenseits der Ebene, in der sie sich befinden, die Hügel, vor denen Mageddo liegt. (Wenn ich mich recht erinnere, habe ich diesen Namen in einer weit zurückliegenden Vision vernommen, damals, als sich Jesus mit Judas von Kerioth und Thomas traf, nach der Trennung, die unumgänglich gewesen war, um die Abreise der Syntyche und des Johannes von Endor geheimzuhalten.)

Sie müssen wohl einen ganzen Tag in irgendeinem gastlichen Haus verweilt haben, denn es ist wieder Abend und sie sind ganz offensichtlich

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ausgeruht. Es ist noch warm, aber starker Tau beginnt zu fallen und die Hitze zu mildern. Die violetten Schatten der Abenddämmerung folgen auf das letzte Rot eines feurigen Sonnenuntergangs.

«Hier geht es sich gut», bemerkt Matthäus zufrieden.

«Ja, wenn wir so gut vorwärtskommen, werden wir vor dem ersten Hahnenschrei in Mageddo sein», entgegnet der Zelote.

«Und beim Morgengrauen jenseits der Hügel, vor der Saronebene», schließt Johannes.

«Und dann an deinem Meer, was?» neckt ihn sein Bruder.

«Ja, an meinem Meer...» antwortet Johannes lächelnd.

«Dann wirst du dich im Geist auf eine deiner mystischen Wanderungen begeben», sagt Petrus, der ihn etwas grob, aber gutmütig am Ärmel zieht und hinzufügt: «Lehre mich doch, wie man es anstellt, beim Anblick gewisser Dinge so... engelgleiche Gedanken zu haben. Wasser habe ich schon so oft gesehen... ich habe es wohl geliebt... aber es hat mir zu nichts anderem gedient als zum Trinken und zum Fischen. Was siehst du, wenn du es betrachtest? ...»

«Wasser sehe ich, Simon, wie du und alle anderen, so wie ich jetzt Felder und Obstgärten sehe... Aber dann, außer den körperlichen Augen habe ich noch andere Augen in mir, und mit diesen sehe ich nicht nur Gras und Wasser, sondern auch Worte der Weisheit, die von diesen materiellen Dingen ausgehen. Nicht ich bin es, der so denkt, denn dazu wäre ich nicht fähig. Ein anderer ist es, der in mir denkt.»

«Bist du vielleicht ein Prophet?» fragt Iskariot ironisch.

«Oh, nein! Ich bin kein Prophet ...»

«Was dann? Glaubst du Gott zu besitzen?»

«Noch viel weniger...»

«Dann redest du irre.»

«Das könnte auch der Fall sein, da ich so gering und schwach bin. Aber wenn dem so ist, dann ist es süß, irre zu reden, denn es führt mich zu Gott. Dadurch wird meine Krankheit zu einem Geschenk, für das ich Gott den Herrn preise.»

«Ha, ha, ha», lacht Judas schallend und heuchlerisch.

Jesus, der alles mitangehört hat, sagt: «Er ist weder krank noch ein Prophet, aber die reine Seele besitzt die Weisheit, und sie ist es, die im Herzen des Gerechten spricht.»

«Dann werde ich es nie so weit bringen, denn ich bin nicht immer gut gewesen...» sagt Petrus entmutigt.

«Und ich erst?» entgegnet Matthäus.

«Freunde, wenige, allzu wenige wären es dann, die die Weisheit besitzen könnten, weil sie von Jugend auf rein gewesen sind. Aber die Reue und der gute Wille machen aus einem sündigen und unvollkommenen einen gerechten Menschen. Durch die Läuterung in Demut, Zerknirschung und

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Liebe wird das Gewissen reingewaschen, und nach dieser Reinigung kann die Seele auch jenen nacheifern, die von jeher rein gewesen sind.»

«Danke, Herr», sagt Matthäus, indem er sich verneigt, um die Hände des Meisters zu küssen.

Es folgt ein Schweigen. Dann ruft Judas aus: «Ich bin müde! Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde, die ganze Nacht hindurch zu wandern.»

«Das kann ich mir vorstellen. Heute bist du wie eine dicke Fliege herumgeschwirrt, während wir geschlafen haben!» entgegnet Jakobus des Zebedäus.

«Ich wollte sehen, ob Jünger in der Gegend sind...»

«Was hat dich dazu gedrängt? Der Meister hat es dir nicht aufgetragen. Also...»

«Nun, ich habe es dennoch getan, und wenn es mir der Meister gestattet, werde ich in Mageddo haltmachen. Ich glaube, daß ich dort einen unserer Freunde treffen werde, der jedes Jahr um diese Zeit nach der Getreideernte herunterkommt. Ich möchte ihm etwas sagen, was meine Mutter betrifft, und...»

«Tu nur, was du für richtig hältst, und wenn du deine Angelegenheiten erledigt hast, dann komm nach Nazareth. Wir werden dich dann dort wiedersehen. So kannst du meine Mutter und Maria des Alphäus benachrichtigen, daß wir bald zu Hause sein werden.»

«Ich sage dir, ebenso wie Matthäus: Danke, Herr.»

Jesus antwortet nichts und nimmt den Handkuß hin, wie den des Matthäus. Es ist nicht möglich, den Ausdruck der Gesichter zu erkennen, denn es ist um die abendliche Stunde, da das Tageslicht endgültig erloschen ist und die Gestirne noch nicht aufleuchten. Es ist so dunkel, daß sie nur mühsam vorwärtskommen, und um alle Hindernisse zu umgehen, entschließen sich Petrus und Thomas, Zweige anzuzünden, die sie von den Hecken brechen und die nun knisternd brennen... Aber das flackernde, rauchige Licht gestattet es nicht, den jeweiligen Gesichtsausdruck klar zu erkennen.

Inzwischen sind die Hügel näher gekommen, und ihre dunklen Hänge zeichnen sich immer deutlicher gegen die abgemähten Felder mit ihren weißlichen Stoppeln ab, je heller die ersten Sterne aufzuleuchten beginnen...

«Ich möchte mich nun hier von dir trennen, denn mein Freund wohnt etwas außerhalb von Mageddo. Ich bin sehr müde ...»

«Geh nur. Der Herr wache über deine Schritte.»

«Danke, Meister. Lebt wohl, Freunde.»

«Leb wohl. Leb wohl», sagen die anderen, ohne dem Abschiedsgruß viel Bedeutung beizumessen.

Jesus wiederholt: «Der Herr wache über deine Handlungen.»

Judas entfernt sich rasch.

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«Er scheint durchaus nicht mehr sehr müde zu sein», bemerkt Petrus. «Ja, hier hat er die Sandalen am Boden nachgeschleift, dort läuft er wie eine Gazelle...»

«Dein Abschiedsgruß war heilig, Bruder. Aber wenn der Herr ihn nicht durch seinen Willen zwingt, wird der göttliche Beistand nicht ausreichen, um ihn gerecht handeln und wandeln zu lassen.»

«Judas, auch wenn du mein Bruder bist, bist du nicht untadelig! Ich werfe dir vor, daß du bitter und erbarmungslos gegenüber deinem Kameraden bist. Er hat wohl seine Fehler, aber auch du hast die deinen, und der erste dieser Fehler ist, daß du nicht imstande bist, mir bei der Heranbildung dieser Seele zu helfen. Du zermürbst ihn mit deinen Worten. Die Herzen lassen sich nicht mit Gewalt auf die rechte Bahn führen. Glaubst du, das Recht zu haben, jede seiner Handlungen zu beanstanden? Hältst du dich für so vollkommen? Bedenke, daß ich, dein Meister, es nicht einmal tue, weil ich diese mißgestaltete Seele liebe. Ich bedauere sie mehr als jede andere, gerade... weil sie so mißgestaltet ist. Glaubst du, daß ihn seine Verfassung freut? Wie wirst du in Zukunft ein Meister der Seelen sein können, wenn du die unendliche Liebe, welche die Sünder erlöst, nicht an einem Kameraden übst?»

Judas des Alphäus, der schon nach den ersten Worten sein Haupt gesenkt hat, kniet am Ende nieder und sagt: «Verzeih mir. Ich bin ein Sünder. Tadle mich stets, wenn ich fehle, denn die Zurechtweisung ist Liebe, und nur der Törichte begreift nicht die Gnade, vom Weisen zurechtgewiesen zu werden.»

«Du siehst, daß ich es zu deinem Wohl tue. Aber an den Vorwurf ist Verzeihung gebunden, denn ich kann den Grund deiner Härte verstehen und die Demut des Getadelten entwaffnet den Tadelnden. Erhebe dich, Judas, und sündige nicht mehr.» Dann nimmt ihn Jesus mit Johannes an seine Seite.

Die anderen Apostel tauschen ihre Gedanken aus, erst leise, dann lauter, aus der Gewohnheit heraus, ziemlich laut zu sprechen. So höre ich, daß sie einen Vergleich anstellen zwischen den beiden Judas.

«Wenn Judas Iskariot diesen Vorwurf hätte hören müssen, wer weiß, wie er sich gewehrt hätte. Dein Bruder ist gut», sagt Thomas zu Jakobus.

«Aber... man kann nicht sagen, daß er unrecht hat. Er hat eine Wahrheit über Judas Iskariot ausgesprochen. Glaubst du unserem Freund, daß er nach Judäa geht? Ich nicht», sagt Matthäus ganz offen.

«Es wird sich um Weinberggeschäfte handeln wie in Jericho», sagt Petrus, da er an eine Szene zurückdenkt, die er nicht vergessen kann. Alle lachen.

«Sicher ist, daß nur der Meister so lange Mitleid mit ihm haben kann», bemerkt Philippus.

«So lange? Immer, mußt du sagen», entgegnet Jakobus des Zebedäus.

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«Was mich angeht, ich hätte nicht so viel Geduld mit ihm», sagt Nathanael.

«Ich auch nicht. Die Szene von gestern war einfach abstoßend», bestätigt Matthäus.

«Der Mann muß in seinem Kopf nicht ganz in Ordnung sein», entschuldigt der Zelote.

«Seine Geschäfte versteht er aber immer gut zu erledigen. Fast zu gut. Ich würde meine Barke, meine Netze und selbst mein Haus wetten – und bin sicher, daß ich nichts verlieren würde – daß er zu einem Pharisäer geht, um sich seines Schutzes zu vergewissern...» sagt Petrus.

«Tatsächlich! Ismael! Ismael lebt in Mageddo! Wie konnten wir das vergessen! Das müssen wir dem Meister sagen», ruft Thomas aus, der sich mit der Hand an den Kopf geschlagen hat.

«Es hätte keinen Sinn. Der Meister würde ihn wieder entschuldigen und uns Vorwürfe machen», sagt der Zelote.

«Nun... versuchen wir es. Geh du, Jakobus. Er liebt dich, du bist sein Vetter...»

«Für ihn sind wir alle gleich. Hier sieht er in uns nicht Verwandte oder Freunde, sondern nur Apostel, und ist unparteiisch. Aber um euch zufriedenzustellen, werde ich gehen», sagt Jakobus des Alphäus und beschleunigt seine Schritte, um seine Gefährten zurückzulassen und Jesus einzuholen.

«Ihr denkt, er sei zu einem Pharisäer gegangen. Ob zu diesem oder jenem, tut nichts zur Sache... Aber ich nehme an, daß er es getan hat, um nicht mit nach Caesarea kommen zu müssen. Er geht nicht gern dorthin...» sagt Andreas.

«Es scheint, daß er seit einiger Zeit vor den Römerinnen Abscheu empfindet», bemerkt Thomas.

«Und doch... während ihr auf dem Weg nach Engedi wart und ich mit ihm zu Lazarus ging, war er ganz glücklich, mit Claudia sprechen zu können...» bemerkt der Zelote.

«Ja... aber... Ich glaube, daß er gerade damals etwas Schlimmes angerichtet hat, und vermute, daß Johanna es erfahren und deswegen Jesus zu sich gerufen hat, und... und... so viele Dinge male ich mir in meinem Gehirn aus, seit Judas in Bethsur so zornig wurde...» brummt Petrus in seinen Bart.

«Willst du vielleicht sagen, daß ... ?» fragt Matthäus neugierig.

«Nun... Ich weiß nicht... Ideen ... Wir werden sehen...»

«Oh, denken wir nichts Schlechtes! Der Meister will es nicht, und wir haben keinen Beweis dafür, daß er etwas Schlimmes getan hat», sagt Andreas.

«Du willst mir doch wohl nicht weismachen, daß es etwas Gutes ist, den Meister zu betrüben, ihm nicht die gebührende Achtung entgegenzubringen, Unzufriedenheit zu stiften ...»

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«Beruhige dich, Simon! Ich versichere dir, daß er ein wenig verrückt ist ...» sagt der Zelote.

«Gut, mag sein. Aber er sündigt gegen die Güte unseres Herrn. Selbst wenn er mir ins Gesicht speien und mich ohrfeigen würde, so könnte ich das ertragen und es Gott für seine Rettung aufopfern. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, jedes nur mögliche Opfer für seine Rettung zu bringen, und ich beiße mir in die Zunge und presse mir die Fingernägel in die Handfläche, wenn er den Tollen spielt, um mich zu beherrschen, aber ich kann ihm nicht verzeihen, wenn er zum Meister böse ist. Wenn er ihm Unrecht zufügt, ist es, als ob es mir selbst angetan würde, und das verzeihe ich ihm nicht ... Wäre es wenigstens eine Seltenheit, aber andauernd geschieht es. Kaum habe ich jeweils den Zorn überwunden, der in mir kocht, wenn er etwas angestellt hat, sieh, schon wieder stellt er etwas Neues an. Einmal, zweimal, dreimal... alles hat seine Grenzen!» Petrus schreit beinahe und gestikuliert heftig.

Jesus, der ihnen ungefähr zehn Meter vorausgeht, wendet sich um, ein weißer Schatten in der Nacht, und spricht: «Liebe und Verzeihung kennen keine Grenzen, weder bei Gott noch bei den wahren Söhnen Gottes. Solange das Leben dauert, solange gibt es keine Grenzen. Das einzige Hindernis für Verzeihung und Liebe ist der unbußfertige Widerstand des Sünders. Wenn er aber bereut, muß man ihm immer verzeihen, selbst wenn er nicht nur ein-, zwei- oder dreimal am Tag, sondern viel öfter sündigen sollte.

Auch ihr sündigt und wollt Verzeihung von Gott, und ihr geht zu Gott und sagt: "Ich habe gesündigt. Verzeihe mir." Und euch ist die Verzeihung süß, ebenso wie Gott das Verzeihen lieb ist. Ihr seid keine Götter, und daher ist die Beleidigung, die euch von euresgleichen zugefügt wird, nicht so schwerwiegend, wie die, die dem zugefügt wird, der keinem anderen gleich ist. Scheint euch das nicht auch so? Und doch, Gott verzeiht. Tut auch ihr desgleichen. Prüft euch! Habt acht, daß eure Unversöhnlichkeit euch nicht zum Schaden gereiche und die Strenge Gottes gegen euch selbst herausfordere.

Ich habe es schon gesagt, aber ich wiederhole noch einmal: Seid barmherzig, auf daß euch Barmherzigkeit zuteil werde. Niemand ist so frei von Sünde, daß er erbarmungslos gegen einen Sünder sein dürfte. Schaut zuerst auf eure eigenen Lasten und dann auf die der anderen; entfernt zuerst die eurigen von eurem Geist, und dann wendet euch denen der anderen zu, um ihnen nicht verdammende Strenge zu zeigen, sondern Liebe, die belehrt und zur Besserung verhilft. Um zu einem Sünder sagen zu können: "Du hast gegen Gott und den Nächsten gesündigt", ohne daß dieser Einwände erhebt, muß man selbst ohne Sünde sein oder wenigstens die begangene Sünde wiedergutgemacht haben. Um dem ob der Sünde Beschämten sagen zu können: "Hab Vertrauen, denn Gott verzeiht dem

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Reumütigen", und dies als Diener des verzeihenden Gottes, müßt ihr ebensoviel Barmherzigkeit im Verzeihen bezeigen. Dann erst werdet ihr sagen können: "Siehst du, reumütiger Sünder? Ich verzeihe dir deine Fehler siebenmal sieben Mal, denn ich bin ein Diener dessen, der dem Reumütigen unzählige Male verzeiht. Bedenke also, wie dir der Vollkommene verzeiht, wenn ich, der ich nur sein Diener bin, verzeihen kann. Hab Vertrauen!"

So müßt ihr sprechen können, und zwar durch euer Handeln, nicht nur mit Worten. Wenn daher euer Bruder sündigt, weist ihn mit Liebe zurecht, und wenn er bereut, verzeiht ihm. Wenn er am Ende des Tages siebenmal gesündigt hätte und euch siebenmal sagte: "Ich bereue es", dann verzeiht ihm ebensooft. Habt ihr verstanden? Versprecht ihr mir, so zu handeln? Versprecht ihr mir, solange er fern ist, Mitleid mit ihm zu haben? Versprecht ihr mir, an seiner Heilung mitzuwirken, indem ihr euch zusammennehmt, wenn er fehlt? Wollt ihr mir nicht helfen, ihn zu retten? Er ist euer Bruder im Geist, da ihr alle von demselben Vater abstammt, der Rasse nach, da ihr demselben Volk angehört, seiner Aufgabe nach, da er ein Apostel ist wie ihr. Dreifach müßt ihr ihn daher lieben. Wenn ihr in eurer Familie einen Bruder hättet, der dem Vater Schmerz bereitet und von sich reden macht, würdet ihr euch dann nicht bemühen, ihn zu bessern, damit der Vater nicht mehr leide und das Volk nicht mehr schlecht über eure Familie spreche? Seid ihr nicht eine noch größere und heilige Familie, deren Vater Gott ist und deren Erstgeborener ich selbst bin? Warum also wollt ihr nicht den Vater und mich trösten und helfen, einen armen Bruder zu bessern, der – glaubt es mir nur – nicht glücklich über sich selbst ist ... ?»

Jesus fleht schmerzerfüllt für den Apostel, der so voller Fehler ist... und schließt mit den Worten: «Ich bin der große Bettler und bitte euch um die kostbarste Gabe: um Seelen bitte ich euch. Ich gehe sie suchen. Aber ihr müßt mir helfen... Stillt den Hunger meines Herzens, das nach Liebe verlangt und sie nur bei sehr wenigen findet; denn jene, die nicht nach Vollkommenheit streben, sind mir wie ebensoviele Brote, die meinem geistigen Hunger entzogen werden. Gebt Seelen eurem Meister, der betrübt ist, weil man ihn nicht liebt und nicht versteht...»

Die Apostel sind gerührt... Sie möchten so vieles sagen, doch jedes Wort scheint ihnen zu armselig zu sein... Sie drängen sich um den Meister; alle wollen ihn liebkosen, um ihn ihre Liebe fühlen zu lassen.

Schließlich spricht der sanftmütige Andreas: «Ja, Herr, mit Geduld, Schweigen und Opfern, den Waffen der Bekehrung, werden wir die Seelen gewinnen... Auch jene... wenn Gott uns hilft!»

«Ja, Herr, und du hilf uns mit deinem Gebet.»

«Ja, Freunde, und nun laßt uns alle zusammen für den Kameraden beten, der fortgegangen ist: Vater unser, der du bist im Himmel ...»

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Jesus betet mit seiner vollkommenen Stimme langsam und deutlich das

Vaterunser, und die andern stimmen im Chor halblaut ein. Bis spät in die Nacht hinein beten sie.

472. «ES IST EIN MARTYRIUM ZU LEBEN, UM ANDERE ZU

BELEHREN, WENN MAN SICH NACH DEM HIMMEL SEHNT»

Vom Kamm der letzten Anhöhen, die dem Meer vorgelagert und keine

eigentlichen Hügel mehr sind, erscheint die Küste des Mittelmeeres wie ein breiter Streifen, der sich vom Vorgebirge des Karmel nach Süden hin bis in unabsehbare Fernen erstreckt. Es ist eine friedliche, fast geradlinige Küste, und dahinter liegt eine fruchtbare, nur selten etwas wellige Ebene. Küstenstädte erscheinen mit ihren weißen Häusern, die zwischen dem Grün des Binnenlandes und dem Blau eines Meeres liegen, das einen strahlenden, heiteren Himmel widerspiegelt.

Caesarea liegt etwas nördlich von der Stelle, an der sich die Apostel mit

Jesus und einigen Jüngern befinden. Letztere haben sich ihnen wohl in den Ortschaften, durch die die Gruppe gewandert ist, am Abend zuvor oder am frühen Morgen zugesellt. Denn Morgengrauen und Morgenröte sind bereits entschwunden, obwohl der Tag erst vor kurzem begonnen hat. Schön sind diese ersten Morgenstunden des strahlenden Sommertages. Nach einem leuchtenden Morgenrot ist das Blau des Himmels über die frischen Gefilde mit ihrer kühlen, reinen Luft zurückgekehrt. Ober das Meer gleiten noch keine Segel. In diesen jungfräulichen Stunden des Tages öffnen sich die ersten Blumen. Der Tau, der unter den ersten Sonnenstrahlen verdampft, nimmt zugleich die Düfte der erwachenden Kräuter mit sich und gibt sie weiter an die leichte Morgenbrise, die noch kaum die Stiele der Blumen zu bewegen oder die Oberfläche des Meeres zu kräuseln vermag.

Die am Gestade des Meeres liegende Stadt erscheint schön wie alle

Städte, in denen römische Vornehmheit ihren Sitz aufgeschlagen hat. Thermen und Paläste aus weißem Marmor leuchten wie Blöcke aus festem Schnee in den dem Meer am nächsten liegenden Stadtteilen. Sie werden überragt und bewacht von einem ebenfalls weißen, hohen, quadratischen Turm in der Nähe des Hafens. Vielleicht ist es eine Festung, vielleicht ein Aussichtsturm. Die Häuser am Stadtrand sind bescheidener, in hebräischem Stil gebaut. Überall grüne Laubengänge, gestutzte Bäume und hängende, mehr oder weniger prunkvolle Gärten auf den Terrassen der Häuser.

Die Apostel bewundern die Stadt vom Rand einer Platanengruppe aus,

die sich fast auf dem Gipfel des Hügels erhebt.

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«Das Herz wird weit bei diesem unermeßlichen Anblick!» ruft Philippus aus.

«Man glaubt, schon die ganze Frische dieser blauen Wasser zu spüren», sagt Petrus.

«Wirklich! Nach so viel Staub, Steinen und Dornen ... schau, welche Pracht! Welche Frische! Welcher Friede! Das Meer gibt immer Frieden...» bemerkt Jakobus des Alphäus.

«Hm! Außer, wenn... es dir Ohrfeigen verpaßt und mit dir und dem Schiff spielt, wie ein Knabe mit Kegeln...» entgegnet Matthäus, der sich wahrscheinlich an seine Seekrankheit erinnert.

«Meister, ich denke... ich denke an all die Worte unserer Psalmisten, an das Buch Job, an die Worte des Buches der Weisheit, wo von der Macht Gottes die Rede ist. Ich weiß nicht warum, aber dieser herrliche Anblick läßt mich ahnen, daß wir einst zu einer vollkommenen Schönheit in einer lichtvollen blauen Sphäre der Reinheit gelangen werden, wenn wir gerecht sind bis zum Ende in der großen Heerschau, bis zu deinem ewigen Triumph, den du uns immer beschreibst und der das Ende alles Bösen sein wird ... Und mir scheint, als sähe ich diese himmlische Unendlichkeit bevölkert mit leuchtenden, auferstandenen Leibern und dich, strahlender als tausend Sonnen, inmitten der Seligen, wo es keinen Schmerz, keine Tränen, keine Schmähungen und keine Verleumdungen mehr geben wird, wie gestern abend ... sondern Frieden, Frieden, Frieden ... Aber wann wird der Böse aufhören, zu schaden? Werden vielleicht die Spitzen seiner Pfeile an deinem Opfer abprallen und abbrechen? Wird er sich endlich überzeugen, daß er besiegt ist?» sagt Johannes, der anfänglich gelächelt hat, nun aber geängstigt erscheint.

«Niemals. Immer wird er glauben, der Triumphierende zu sein, trotz aller Niederlagen, welche die Gerechten ihm beibringen, und mein Opfer wird seine Pfeile nicht abstumpfen. Aber die Stunde wird kommen, die letzte Stunde, in der das Böse besiegt sein wird, und dann werden die Auserwählten ein einziges, ewiges, heiliges Volk sein, das wahre Volk des wahren Gottes in einer noch unendlicheren Schönheit, als sie dein Geist vorausahnt.»

«Werden wir alle dabeisein?» fragen die Apostel.

«Alle.»

«Und wir?» fragen die Jünger, die schon eine zahlreiche Gruppe bilden.

«Auch ihr werdet alle dabeisein.»

«Alle Anwesenden oder alle Jünger überhaupt? Wir sind viele, obwohl sich einige von uns getrennt haben,»

«Und ihr werdet immer zahlreicher sein. Nicht alle werdet ihr treu bleiben bis ans Ende, aber viele werden bei mir im Paradies sein. Manche werden ihren Lohn nach einer Sühne erhalten, andere gleich nach dem Tode.

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Aber der Lohn wird solcher Art sein, daß ihr, so wie ihr die Erde und ihre Leiden vergessen werdet, auch den Reinigungsort mit seiner Liebessehnsucht vergessen werdet.»

«Meister, du hast uns gesagt, daß wir Verfolgung und Martyrium erleiden würden. Könnte es also geschehen, daß wir festgenommen und getötet werden, ohne Zeit zur Reue zu finden? Oder unsere Schwäche könnte uns veranlassen, uns nicht in den grausamen Tod zu ergeben... Was dann?» fragt Nikolaus von Antiochia, der sich unter den Jüngern befindet.

«Glaube das nicht. In eurer menschlichen Schwäche könntet ihr das Martyrium tatsächlich nicht bereitwillig erdulden. Aber den großen Seelen, die den Herrn bezeugen müssen, gibt der Herr eine übernatürliche Kraft...»

«Welche? Vielleicht die der Gefühllosigkeit?»

«Nein, Nikolaus, die der vollkommenen Liebe. Ihr werdet zu einer so vollkommenen Liebe gelangen, daß Folterqualen, Verleumdungen, Trennung von den Verwandten, vom Leben und von allem anderen aufhören werden, etwas Niederdrückendes zu sein; vielmehr wird dies alles die Grundlage bilden, von der ihr euch zum Himmel erheben, ihn sehen und aufnehmen könnt, so daß ihr eure Arme ausbreiten und euch nach den Qualen sehnen werdet, um dorthin zu gelangen, wo euer Herz schon ist: im Himmel.»

«Einem, der so stirbt, wird wohl vieles verziehen werden?» fragt ein alter Jünger, dessen Namen ich nicht kenne.

«Nicht nur vieles, alles wird ihm verziehen werden, Papias. Denn die Liebe ist Freispruch, das Opfer ist Freispruch, und ein heroisches Bekenntnis ist Freispruch. Du siehst also, daß den Märtyrern ein dreifaches Reinigungsbad beschieden ist.»

«Oh, dann... Ich habe viel gesündigt, Meister, und ich bin diesen gefolgt, um Verzeihung zu erlangen. Du hast sie mir gestern gewährt und bist deswegen von einem geschmäht worden, der nicht verzeiht und ein Sünder ist. Ich glaube, daß deine Verzeihung gültig ist. Aber für meine langen Sündenjahre gib mir als Freispruch das Martyrium!» bittet der Jünger, den Jesus Papias genannt hat.

«Viel verlangst du, Mann!»

«Nicht so viel, als ich geben muß, um die Seligkeit zu erlangen, die Johannes des Zebedäus beschrieben hat und die du bestätigt hast. Ich bitte dich, Herr. Gewähre mir, daß ich für dich und deine Lehre sterbe...»

«Viel verlangst du, Mann! Das Leben des Menschen ist in der Hand meines Vaters...»

«Aber ein jedes deiner Gebete wird erhört, wie ein jedes deiner Urteile angenommen wird. Bitte den Ewigen um diesen Freispruch für mich ...»

Der Mann kniet vor Jesus, der ihm in die Augen schaut und schließlich

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sagt: «Scheint es dir nicht ein Martyrium zu sein, noch leben zu müssen, wenn die Welt für dich jegliche Anziehungskraft verloren hat und dein Herz sich nur nach dem Himmel sehnt; noch leben zu müssen, um andere über die Liebe zu belehren, die Enttäuschungen des Meisters kennenzulernen und unermüdlich auszuharren, um dem Meister Seelen zu schenken? Tue den Willen Gottes, immer, auch wenn der deine dir heldenhafter und heiliger erscheinen mag... Aber sieh, da kommen die Kameraden mit den Einkäufen. Beeilen wir uns, damit wir die Stadt noch vor den heißen Stunden erreichen.»

Als erster beginnt er den sanften Abstieg, der bald in der Ebene endet, durch die das weiße Band der Straße, die nach Caesarea am Meer führt, verläuft.

473. IN CAESAREA AM MEER

Caesarea besitzt große Märkte, und von dort werden die feinen Lebensmittel für die vornehmen römischen Tische geliefert. An den Marktplätzen, auf denen in einem Kaleidoskop von Gesichtern, Farben und Geschlechtern die einfacheren Lebensmittel feilgeboten werden, befinden sich Kaufhäuser, in denen die kostbarsten Speisen zu haben sind, die aus aller Welt eingeführt werden, sowohl aus den verschiedenen römischen Kolonien, als auch aus dem fernen Italien, damit man weniger unter dem Fernsein der Heimat leide. Den Kaufhäusern für Weine oder kulinarische Kostbarkeiten, die aus dem Ausland kommen, sind Säulengänge vorgelagert, denn die Römer lieben es nicht, von der Sonne verbrannt oder vom Regen durchnäßt zu werden, während sie die Leckerbissen einkaufen, die sie dann bei ihren Festmählern verzehren. Es ist angenehm, Epikureer zu sein, was den Gaumen anbelangt, aber auch die anderen menschlichen Glieder verlangen das ihre... Daher führen die schattenspendenden und vor dem Regen schützenden Säulengänge im römischen Viertel, das den Palast des Prokonsuls umgibt und zwischen der Küstenstraße und den Kasernen und Zollhäusern liegt, bis zu den römischen Kaufhäusern an den Märkten der Juden.

Viel Volk tummelt sich unter diesen Säulenhallen, die in diesem äußersten Teil, der zu den Märkten führt, wenn nicht gerade schön, so doch bequem sind. Menschen aller Stände sind hier zu sehen: Sklaven, Freigelassene und auch manch ein von Sklaven umgebener Lebemann, der seinen Tragstuhl irgendwo auf dem Weg hat stehenlassen und nun nachlässig von einem Geschäft zum anderen schlendert und Einkäufe macht, die die Sklaven dann nach Hause tragen.

Die üblichen müßigen Gespräche, wenn zwei römische Herren einander

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begegnen: über das Wetter und über das langweilige Land, das nicht die Freuden bietet wie das ferne Italien mit seinen großartigen Schauspielen; über Feste, die man organisieren will und über Frauen.

Ein Römer, dem an die zehn mit Säcken und Bündeln beladene Sklaven vorausgehen, begegnet zwei anderen seinesgleichen. Gegenseitige Begrüßung:

«Salve, Ennius!»

«Sei gegrüßt, o Florus Tullius Cornelius! Heil dir, o Marcus Heracleus Flavius!»

«Wann bist du zurückgekehrt?»

«Erschöpft, am Morgen des vorgestrigen Tages.»

«Du erschöpft? Hast du überhaupt schon einmal geschwitzt?» spottet der Jüngling mit Namen Florus.

«Spotte nicht, Florus Tullius Cornelius! Auch jetzt schwitze ich für meine Freunde!»

«Für die Freunde? Wir haben keine Mühen von dir verlangt», entgegnet der andere, ältere mit Namen Marcus Heracleus Flavius.

«Aber meine Liebe denkt an euch. O ihr Grausamen, die ihr mich verspottet, seht ihr diese Schar von beladenen Sklaven? Andere sind schon mit weiteren Lasten vorausgegangen. Und alles für euch... um euch zu ehren.»

«Das ist also deine Arbeit? Die Vorbereitung eines Banketts? Und der Anlaß dazu?» schreien die beiden Freunde aufgeregt.

«Pst! So ein Lärm unter vornehmen Patriziern? Ihr scheint zum niedrigen Volk dieses Landes zu gehören, wo wir uns aufreiben in...»

«Orgien und Müßiggang. Was tun wir denn anderes? Ich frage mich auch: Warum sind wir überhaupt hier?»

«Erstens, um vor Langeweile zu sterben.»

«Dann, um diese Klageweiber zu lehren, wie man lebt.»

«Und... um Rom in den heiligen Schoß jüdischer Frauen zu säen.»

«Und schließlich, um hier wie anderswo die Steuern zu genießen und uns einer Macht zu erfreuen, der alles erlaubt ist.»

Die drei wechseln sich ab wie bei einer Litanei und lachen. Doch der junge Florus hält plötzlich ein, wird ernst und sagt: «Aber seit einiger Zeit hängt eine düstere Wolke über dem heiteren Hof des Pilatus. Die schönsten Frauen scheinen keusche Vestalinnen geworden zu sein, und ihre Ehemänner ahmen sie in ihren Albernheiten nach. Das tut den gewohnten Festen großen Abbruch ...»

«Ja, die Vorliebe für diesen ungebildeten Galiläer... Aber das vergeht bald.»

«Du täuschst dich, Ennius. Ich habe erfahren, daß auch Claudia von ihm eingenommen ist; gerade deshalb hat sich eine eigentümliche Sittsamkeit in der Kleidung im Palast eingenistet. Es scheint, als blühe dort das strenge republikanische Rom wieder auf...»

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«Uff! Wie muffig sich das anhört. Seit wann stehen die Dinge denn

So?»

«Seit dem süßen April, der der Liebe so freundlich gesinnt ist. Du weißt nicht... Du warst damals nicht da. Aber unsere Damen sind trübsinnig geworden wie die Klageweiber bei den Aschenurnen der Grabstätten, und wir armen Männer müssen unsere Vergnügungen nun anderswo suchen, denn nicht einmal sie sind uns in Gegenwart dieser züchtigen Frauen erlaubt!»

«Ein Grund mehr, daß ich euch zu Hilfe eile. Heute Abend ist ein großes Gelage... und eine noch größere Orgie in meinem Haus. In Citium, wo ich war, habe ich Leckereien gefunden, die diese Dummköpfe hier als unrein bezeichnen: Pfauen, Perlhühner, Rallen aller Art und Frischlinge, die man lebendig der getöteten Mutter genommen und für unsere Mahlzeiten aufgezogen hat. Auch Weine... ah, süße, auserlesene Weine von den römischen Hügeln, von meinen warmen liternischen Gestaden und von deinen sonnenbeschienenen Küsten bei Aciri!... Ebenso duftende Weine aus Chios und von der Insel, deren Perle Citium ist. Dann auch betäubende Weine aus Iberia, besonders geeignet, um die Sinne für das Endvergnügen zu entflammen. Oh! Es muß ein großes Fest werden, das die Langeweile dieses Exils verscheucht, um uns zu bestätigen, daß wir noch Männer sind ...»

«Auch Frauen?»

«Auch Frauen, und schöner als Rosen. Frauen jeglicher Hautfarbe und... für jeden Geschmack. Ein wahres Vermögen hat mich der Kauf all dieser Waren gekostet, die Frauen inbegriffen... Aber ich bin meinen Freunden gegenüber großzügig... Hier habe ich nun noch einige Dinge gekauft... die auf der Reise hätten verderben können. Nach dem Gastmahl, auf zur Liebe! ...»

«Hast du eine gute Seereise gehabt?»

«Eine sehr gute. Die Venus des Meeres war mir freundlich gesinnt. Übrigens weihe ich ihr den Ritus dieser Nacht...» Die drei lachen laut und genießen die bevorstehenden unwürdigen Vergnügungen schon im voraus...

Doch Florus fragt: «Weshalb dieses außerordentliche Fest? Liegt ein besonderer Grund vor? ...»

«Drei Gründe. Mein geliebter Neffe wird in diesen Tagen mit der Toga des Mannesalters bekleidet. Dieses Ereignis muß gefeiert werden. Ferner eine Antwort auf die Weissagung, daß Caesarea sich in eine traurige Stadt verwandeln wird; es ist angezeigt, das Schicksal mit einem an Venus gerichteten Ritus zu bekämpfen. Der dritte Grund... Leise, ganz leise sage ich es euch: ich heirate ...»

«Du? Lügner!»

«Ich heirate. Jedesmal, wenn jemand den ersten Schluck aus einem

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verschlossenen Krug kostet, ist Hochzeit. Ich werde dies heute abend tun. Zwanzigtausend Sesterzen oder, wenn du willst, zweihundert Golddukaten habe ich für sie bezahlt; denn so viel habe ich tatsächlich für Makler und dergleichen Leute ausgegeben... Nicht einmal wenn Venus sie in einer Morgenröte des April geboren hätte und sie aus Schaum und goldenen Strahlen bestünde, könnte sie schöner und reiner sein. Eine Knospe, eine verschlossene Knospe... Ah! Und ich bin ihr Herr!»

«Du Schänder!» sagt Marcus Heracleus scherzend.

«Spiele nicht den Sittenrichter; du bist ja nicht viel anders als ich ... Nach dem Abzug des Valerian kam man hier vor Langeweile um. Aber ich werde ihn ersetzen... Dafür sind uns ja die Schätze unserer Vorgänger geblieben. Ich werde nicht so töricht sein und abwarten, bis die honigblonde Galla Cyprina – so habe ich sie genannt – von der Trauer und der Philosophie der Entmannten, die das Leben nicht zu genießen verstehen, verdorben wird ...»

«Bravo! Aber immerhin ... die Sklavin des Valerian war gelehrt und...»

«... verrückt geworden durch das Lesen der Philosophen ... Seele, zweites Leben, Tugend, alles Dummheiten! Leben bedeutet genießen, und man lebt hier. Gestern habe ich diese unseligen Schriftrollen auf einen Haufen geworfen und verbrannt, und unter Androhung der Todesstrafe habe ich meinen Sklaven verboten, diese Dummheiten der Philosophen und Galiläer zu erwähnen. Jedenfalls wird das Mädchen nur mich kennenlernen ...»

«Aber wo hast du sie denn gefunden?»

«Ha, ha! Es gab einen Schlauen, der nach dem Gallischen Krieg Sklaven kaufte und sie ausschließlich zu Fortpflanzungszwecken benützte. Er hielt sie gut, nur um sie gebären und neue Blüten der Schönheit hervorbringen zu lassen ... Und Galla ist eine davon. Nun ist sie reif, und ihr Besitzer hat sie verkauft ... und ich habe sie erworben... Ha, ha, ha!»

«Du Lüstling!»

«Wenn ich es nicht getan hätte, wäre ein anderer gekommen... Deshalb ... Sie hätte nicht als Frau zur Welt kommen dürfen...»

«Wenn er dich hören würde... Oh! da ist er ja!»

«Wer?»

«Der Nazarener, der unsere Damen verhext hat. Er ist hinter dir...»

Ennius dreht sich um, als hätte er eine giftige Schlange im Rücken und schaut Jesus an, der langsam inmitten des Volkes, das sich um ihn drängt, voranschreitet: armes, niedriges Volk, auch Sklaven der Römer; Ennius lächelt höhnisch und sagt: «Dieser Bettler?! Die Frauen müssen ganz heruntergekommen sein. Aber es ist besser wir fliehen, damit er nicht auch noch uns verhext!» Schließlich sagt er zu seinen armen Sklaven, die die ganze Zeit über mit ihren Lasten wie Karyatiden, für die es kein Mitleid gibt, dagestanden sind: «Ihr, geht nach Hause, und zwar schnell,

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denn ihr habt schon genug Zeit verloren, und die mit der Vorbereitung des Festes Beauftragten warten auf die Waren und Gewürze. Marsch! Ihr wißt ja, daß es Rutenstreiche gibt, wenn zur Zeit der Abenddämmerung nicht alles bereit ist!»

Die Sklaven eilen im Laufschritt davon, und der Römer folgt ihnen langsam mit seinen beiden Freunden...

Jesus geht traurig weiter, denn er hat den letzten Teil des Gesprächs des Ennius gehört, und blickt mit unendlichem Mitleid auf die Sklaven, die unter ihren Lasten gebeugt dahineilen. Dann schaut er umher, auf der Suche nach anderen Gesichtern römischer Sklaven... und er entdeckt einige, die sich zitternd unter die Menge gemischt haben, aus Angst, von Wächtern überrascht oder von den Juden verjagt zu werden, und sagt, indem er stehenbleibt: «Ist niemand aus diesem Haus unter euch?»

«Nein, Herr; aber wir kennen sie», antworten die anwesenden Sklaven.

«Matthäus, gib ihnen reichlich Almosen. Sie sollen es mit ihren Kameraden teilen, damit diese erfahren, daß es einen gibt, der sie liebt. Und ihr sollt wissen und es auch den andern sagen, daß mit dem Leben auch das Leid endet, das jene empfunden haben, die in ihren Ketten gut und ehrenhaft sind; und mit dem Leid schwindet auch der Unterschied zwischen reich und arm, zwischen Herren und Sklaven. Danach gibt es einen einzigen und gerechten Gott für alle, der ohne Rücksicht auf Reichtum und Ketten den Guten Belohnung und den Bösen Strafe zuteil werden läßt. Vergeßt das nicht.»

«Ja, Herr. Aber wir aus dem Hause der Claudia und der Plautina sind recht zufrieden, wie auch die aus dem Hause der Lydia und der Valeria; und wir preisen dich dafür, denn du hast unser Los erleichtert», sagt ein Alter, der von allen wie ein Oberhaupt behandelt wird.

«Um mir zu zeigen, daß ihr mir dankbar seid, werdet immer besser, und ihr werdet den wahren Gott zum ewigen Freund haben.» Jesus hebt die Hand, wie um sie zu entlassen und zu segnen. Dann lehnt er sich an eine Säule und beginnt zu reden, umgeben vom aufmerksamen Schweigen der Volksmenge. Auch die Sklaven entfernen sich nicht, sondern bleiben, um die Worte aus dem göttlichen Mund zu vernehmen.

«Hört. Ein Vater von vielen Söhnen gab einem jeden von ihnen, als sie erwachsen wurden, zwei Geldstücke von hohem Wert und sagte zu ihnen: "Ich habe nicht mehr die Absicht, für euch alle zu arbeiten. Ihr seid jetzt groß genug, um euch selbst den Lebensunterhalt zu verdienen. Daher gebe ich jedem von euch die gleiche Summe, damit ihr sie nach eurem Belieben und zu eurem Nutzen verwendet. Ich werde hierbleiben und warten, stets bereit, euch Ratschläge zu erteilen und auch zu helfen, wenn ihr durch ein ungewolltes Mißgeschick das ganze oder einen Teil des Geldes verlieren solltet. Aber merkt euch: ich werde unerbittlich sein mit dem, der es bewußt verpraßt, der es in seiner Trägheit nur verbraucht oder es

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ungenutzt liegenläßt und sich dem Müßiggang und dem Laster ergibt. Euch alle habe ich belehrt über das, was gut und was böse ist. Ihr könnt also nicht sagen, daß ihr unwissend ins Leben hinaustretet. Allen habe ich das Beispiel eines weisen und gerechten Fleißes und eines ehrenhaften Lebens gegeben. Daher könnt ihr nicht sagen, ich hätte euren Geist durch ein schlechtes Beispiel verdorben. Ich habe meine Pflicht getan. Nun sollt auch ihr eure Pflicht tun, denn ihr seid weder dumm noch unvorbereitet, noch Analphabeten. Geht." So entließ er sie und blieb allein in seinem Haus zurück.

Die Söhne gingen in die Welt hinaus. Alle hatten sie dasselbe mitbekommen: zwei Goldstücke von hohem Wert, über die sie frei verfügen konnten, und einen noch größeren Schatz an Gesundheit, Energie, Kenntnissen und väterlichem Beispiel. Daher hätten sie alle gleicherweise Erfolg haben müssen. Aber was geschah? Der eine machte guten Gebrauch von seinem Geld und erwarb bald einen großen und ehrenvollen Reichtum durch unermüdliche, redliche Arbeit und ein sittenreines, durch die väterlichen Unterweisungen geregeltes Leben; der andere machte zuerst in geziemender Weise sein Glück, vergeudete dann aber alles durch Müßiggang und Völlerei; wieder ein anderer verschaffte sich Geld durch Wucher und unredliche Geschäfte; ein vierter schließlich tat überhaupt nichts, denn er war träge, faul und unentschlossen und gab das wertvolle Geld aus, noch bevor er irgendeine Beschäftigung gefunden hatte.

Nach einiger Zeit schickte der Hausvater seine Diener in alle Richtungen und befahl ihnen "Sagt meinen Söhnen, sie sollen sich alle in meinem Haus versammeln. Sie sollen mir Rechenschaft ablegen über das, was sie in dieser Zeit getan haben, und ich möchte mit eigenen Augen sehen, was aus ihnen geworden ist." Die Diener gingen in alle Richtungen, suchten die Söhne ihres Herrn auf und teilten ihnen die Botschaft mit, und ein jeder kehrte mit dem Sohn seines Herrn, den er gefunden hatte, zurück.

Der Hausvater nahm sie mit großer Feierlichkeit auf, als Vater, aber auch als Richter. Alle Familienmitglieder waren zugegen, und mit den Verwandten waren auch Freunde, Diener und die Bewohner des Ortes und der Nachbarorte gekommen: eine feierliche Versammlung. Der Vater saß auf seinem Sitz als Haupt der Familie, und um ihn herum in Halbkreis alle Verwandten, Freunde, Bekannten, Knechte, Mitbürger und Bewohner der Nachbarorte; vor ihm die Schar seiner Söhne.

Schon bevor der Vater damit begonnen hatte, Fragen zu stellen, gaben ihre verschiedenen Gesichter Auskunft über den wahren Stand der Dinge. Diejenigen, die fleißig, ehrlich und sittsam gelebt und sich ein großes Vermögen erarbeitet hatten, trugen ein blühendes, friedvolles und wohlhabendes Aussehen zur Schau, wie Menschen, die reich, gesund und ruhigen

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Gewissens sind. Sie schauten den Vater mit einem liebevollen, dankbaren Lächeln an, in dem sich Demut, aber auch die strahlende Freude darüber widerspiegelten, dem Vater und der Familie Ehre gemacht zu haben und gute Söhne, Bürger und Gläubige gewesen zu sein.

Die, die in ihrer Trägheit und Lasterhaftigkeit ihre Güter verschwendet hatten, standen gedemütigt, niedergeschlagen und kleinlaut da, dürftig in Aussehen und Gewand, und die Zeichen ihrer Völlerei oder ihres Hungers waren deutlich auf ihren Gesichtern zu erkennen.

Jene, die mit verbrecherischen Mitteln ihr Glück gemacht hatten, trugen Angriffslust und Härte auf ihrem Antlitz zur Schau und blickten wie grausame, verstörte Tiere drein, die ihren Bändiger fürchten und sich darauf vorbereiten, loszuschlagen...

Der Vater begann seine Befragung bei diesen letzteren: "Wie kommt es, daß ihr, die ihr so heiter ausgesehen habt, als ihr aufgebrochen seid, nun wilden Tieren gleicht, die bereit sind, andere zu zerfleischen? Woher kommt dieses Aussehen?"

"Das Leben hat es mit sich gebracht. Es ist die Folge deiner Härte, uns aus dem Haus fortgeschickt zu haben. Du hast uns mit der Welt in Berührung gebracht."

"Nun gut, und was habt ihr in der Welt gemacht?"

"Das was wir konnten, um deinen Befehl auszuführen und uns den Lebensunterhalt zu erwerben mit dem Nichts, das du uns gegeben hast."

"Das genügt; stellt euch in diese Ecke... Nun ihr, die ihr mager, krank und schlecht gekleidet seid. Ihr wart doch gesund und gut gekleidet, als ihr fortgingt."

"In zehn Jahren haben sich unsere Gewänder abgenutzt..." entgegneten die Faulpelze.

"Gibt es denn keine Webstühle mehr in der Welt, auf denen Stoffe für die Gewänder der Menschen hergestellt werden?"

"Ja, aber man muß Geld haben, um diese Stoffe kaufen zu können..."

"Das habt ihr doch gehabt."

"In zehn Jahren haben wir alles aufgebraucht. Alles, was einen Anfang hat, hat auch ein Ende."

"Ja, wenn man alles aufbraucht, ohne sich neues zu verschaffen. Aber warum habt ihr nur ausgegeben? Wenn ihr gearbeitet hättet, hättet ihr Geld verbrauchen können, ohne daß es euch ausgegangen wäre; ja, ihr hättet es sogar vermehren können. Seid ihr vielleicht krank gewesen?"

"Nein, Vater."

"Was dann?"

"Wir fühlten uns einsam und verloren... Wir wußten nicht, was wir tun sollten, was gut gewesen wäre... Wir fürchteten, Fehler zu begehen, und so sind wir, um nichts Böses zu tun, untätig gewesen."

"Aber war denn der Vater nicht da, an den ihr euch hättet wenden

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können, um euch Rat zu holen? Bin ich vielleicht jemals ein unerbittlicher und furchteinflößender Vater gewesen?"

"Oh, nein. Aber wir schämten uns, zugeben zu müssen, daß wir nicht imstande waren, etwas zu unternehmen. Du bist immer so aktiv gewesen... Wir haben uns aus Scham versteckt!"

"Gut. Stellt euch mitten in den Raum. Und ihr? Was sagt ihr mir, die ihr nicht nur hungrig, sondern auch krank ausseht? Hat euch vielleicht zu viel Arbeit krank gemacht? Seid aufrichtig, dann werde ich euch nicht tadeln."

Einige der Angeredeten warfen sich auf die Knie, schlugen sich an die Brust und sagten: "Verzeih uns, Vater! Gott hat uns schon gestraft, und wir haben es verdient. Aber du, der du unser Vater bist, verzeih uns! ... Wir haben gut begonnen, aber nicht durchgehalten. Nachdem wir ohne Mühe reich geworden sind, haben wir uns gesagt: 'Nun wollen wir das Leben ein wenig genießen, wie unsere Freunde es uns geraten haben. Später werden wir dann zur Arbeit zurückkehren und wieder verdienen, was wir ausgegeben haben.' So wollten wir es auch wirklich machen. Sobald wir nur noch zwei Goldstücke gehabt hätten, hätten wir das Kapital Zinsen tragen lassen, wie im Spiel. Zweimal (sagen zwei) dreimal (sagt einer) ist uns dies gelungen. Aber dann hat uns das Glück verlassen... und wir haben alles verloren."

"Warum habt ihr euch nicht zusammengenommen nach dem ersten Mal?"

"Weil das mit dem Laster gewürzte Brot den Geschmack verdirbt und man nicht mehr ohne es auskommen kann..."

"Aber ihr hättet doch zu eurem Vater kommen können..."

"Das ist wahr. Und wir hatten auch Heimweh und sehnten uns nach dir. Aber wir hatten dich beleidigt... Wir haben den Himmel angefleht, daß es dir eingebe, uns zurückzurufen, um deinen Tadel zu vernehmen und deine Verzeihung zu erlangen. Darum haben wir gebetet und darum bitten wir auch jetzt, mehr als um Reichtum; diesen wollen wir nicht mehr, denn durch ihn sind wir auf Abwege geraten."

"Das genügt. Stellt euch zu den anderen in die Mitte des Raumes. Und ihr, die ihr krank und arm seid wie diese, aber schweigt und keine Reue zeigt, was sagt ihr?"

"Dasselbe, was die ersten gesagt haben. Daß wir dich hassen, weil du uns durch dein unkluges Handeln ins Unglück gestürzt hast. Du, der du uns gekannt hast, hättest uns nicht Versuchungen aussetzen sollen. Du hast uns gehaßt, und darum hassen auch wir dich. Du hast uns diese Falle gestellt, um dich unser zu entledigen. Sei verflucht."

"Gut. Stellt euch zu den ersten in die Ecke. Und nun zu euch, meine blühenden, heiteren und reichen Söhne. Sagt, wie habt ihr euer Leben gestaltet, wie seid ihr zu all dem gekommen?"

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"Wir haben deine Lehren, Beispiele, Ratschläge und Befehle in die Tat umgesetzt. Wir haben aus Liebe zu dir den Versuchern widerstanden, du gesegneter Vater, der du uns das Leben und die Weisheit gegeben hast."

"Gut so. Kommt zu meiner Rechten, und hört alle mein Urteil und meine Verteidigung. Ich habe allen in gleicher Weise Geld, Beispiel und Weisheit gegeben. Meine Söhne haben dem in unterschiedlicher Weise entsprochen. Von einem arbeitsamen, ehrenhaften und sittsamen Vaters sind Söhne seinesgleichen ausgegangen; ferner träge, schwache, der Versuchung leichtsinnig ergebene und grausame Söhne, die den Vater, die Brüder und ihren Nächsten hassen und an letzterem Wucher getrieben und andere Verbrechen begangen haben, die sie zwar nicht erwähnt haben, die mir jedoch zu Ohren gekommen sind. Unter den Schwachen und Trägen sind Reumütige und Unbußfertige. Nun werde ich richten. Die Vollkommenen sind schon zu meiner Rechten, mir gleich, was Ehre und Werke betrifft. Die Reumütigen müssen noch wie Kinder unterwiesen werden und so lange büßen bis sie wieder eine Stufe der Fähigkeit erreicht haben, die aus ihnen Erwachsene macht. Die Unbußfertigen und Schuldbeladenen werden aus meinem Land verjagt und verfolgt vom Fluch dessen, der nicht mehr ihr Vater ist, da ihr Haß auf mich die Vater-Kind-Beziehung zwischen uns zerstört hat. Aber ich erinnere euch alle daran, daß ihr euch selbst euer Los bereitet habt, denn ich habe allen das Gleiche gegeben, während die Empfänger verschieden damit umgegangen sind. Niemand kann mich daher anklagen, daß ich ihm übelgewollt hätte."

Das Gleichnis ist zu Ende. Nun werde ich es euch erklären und Vergleiche anstellen.

Der himmlische Vater ist in der Gestalt des Vaters der zahlreichen Familie dargestellt. Die zwei Goldstücke, die der Vater allen seinen Söhnen gibt, bevor er sie in die Welt hinausschickt, bedeuten die Zeit und den freien Willen, die Gott jedem Menschen gibt, damit er sie nutzt, wie er es für am Besten hält, nachdem er im Gesetz und durch das Beispiel der Gerechten unterrichtet worden ist.

Allen werden die gleichen Gaben gegeben. Aber jeder Mensch nutzt sie, wie es seinem Willen behagt. Der eine benützt seinen Schatz an Zeit, seine Erziehung, sein Vermögen und Einkommen zum Guten, bewahrt sich gesund und heilig und vermehrt seinen Reichtum. Der andere fängt gut an, ermüdet dann aber und wird zum Verschwender. Ein anderer tut selbst nichts und will, daß andere für ihn arbeiten. Wieder ein anderer klagt seinen Vater irrtümlichen Handelns an. Einer bereut seine Fehler und ist bereit, alles wiedergutzumachen. Andere bereuen nicht und werden statt dessen zu Anklägern und Lästerern, als ob andere ihren Ruin herbeigeführt hätten.

Gott belohnt die Gerechten sofort. Den Reumütigen gewährt er Barmherzigkeit und Zeit zur Sühne, damit sie sich durch Reue und Buße neue

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Verdienste erwerben können. Sein Fluch und seine Strafe treffen jene, die nach dem Sündigen durch ihre Unbußfertigkeit die Liebe mit Füßen treten. Jedem gibt er, was ihm zukommt.

Vergeudet daher nicht diese beiden kostbaren Geldstücke, die Zeit und den freien Willen, sondern gebraucht sie mit Fug und Recht, um zur Rechten des Vaters gestellt zu werden. Wenn ihr gefehlt habt, bereut es und habt Vertrauen auf die barmherzige Liebe Gottes.

Geht nun. Der Friede sei mit euch!»

Er segnet sie und sieht sie fortgehen unter der den Platz und den Weg überflutenden Sonne. Aber die Sklaven sind noch geblieben...

«Seid ihr noch hier, ihr armen Freunde? Werdet ihr nicht bestraft werden?»

«Nein, Herr; wenn wir sagen, daß wir dir zugehört haben, dann nicht. Die Damen, unsere Vorgesetzten, verehren dich. Wo gehst du jetzt hin, Herr? Sie sehnen sich seit langer Zeit nach dir...»

«Zum Seiler am Hafen. Aber ich breche heute abend wieder auf, und eure Herrinnen werden bei dem Fest sein ...»

«Wir werden es ihnen dennoch sagen. Sie haben uns schon vor Monaten befohlen, ihnen jede deiner Durchreisen mitzuteilen.»

«Dann ist es recht. Geht. Nützt auch ihr die Zeit und euren Verstand gut und bedenkt, daß der Geist immer frei ist, auch wenn der Mensch in Ketten liegt.»

Die Sklaven verbeugen sich bis zur Erde und begeben sich dann ins römische Stadtviertel. Jesus und die Seinen gehen auf einem bescheidenen Weg dem Hafen zu.

474. «DIE WEISHEIT, ALS EINE ART DER HEILIGKEIT, VERLEIHT KLARHEIT IM URTEIL»

Jesus ist bei der einfachen Familie eines Seilers zu Gast. Alles riecht hier nach Salzwasser, da das niedrige Häuschen nicht weit vom Meer entfernt liegt. Hinter dem Haus befinden sich die Lager, die nicht gerade angenehm riechen und in denen die Waren jeweils abgeladen werden, bevor die verschiedenen Käufer sie abholen. An der Vorderseite führt eine von schweren Wagenrädern durchfurchte staubige Straße vorbei, auf der Lastträger, Eseltreiber, Fuhr- und Seeleute, die ohne Unterlaß kommen und gehen, einen großen Lärm erzeugen. Jenseits der Straße liegt ein kleines Hafenbecken, dessen Wasser durch die hineingeworfenen Abfälle und wegen seiner Unbeweglichkeit ganz ölig ist. Von diesem Becken geht ein kleiner Kanal aus, der im eigentlichen großen Hafen endet, wo mächtige Seeschiffe anlegen. Auf der Westseite liegt ein sandiger Platz, auf dem, begleitet vom

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lauten Gequietsche der handbetriebenen Haspeln, Seile hergestellt werden. Auf der östlichen Seite ist noch ein anderes Plätzchen, zwar viel kleiner, aber auch geräuschvoller und unordentlicher, auf dem Männer und Frauen Netze und Segel ausbessern. Dort sind niedrige, mit Salzwasser bespritzte Hütten voll halbnackter Kinder.

Man kann wirklich nicht sagen, Jesus habe sich eine herrschaftliche Unterkunft ausgesucht. Mücken, Staub, Lärm, Geruch von abgestandenem Meerwasser und von Hanf, der vor dem Gebrauch eingeweicht wird, herrschen hier vor. Der König der Könige hat sich mit seinen Aposteln auf Haufen von Hanf, der noch bearbeitet werden muß, ausgestreckt und schläft, von Müdigkeit übermannt, in dieser armseligen Umgebung, die halb Abstellraum, halb Warenlager ist und sich hinter dem kleinen Haus befindet. Durch eine pechschwarze Tür gelangt man in die Küche, die ebenfalls schwarz ist; und durch eine weitere wurmstichige, von Staub und Salzluft zernagte bimssteinfarbene Tür auf den Platz, auf dem die Seile angefertigt werden und von dem der Geruch verrottenden Hanfs aufsteigt.

Die Sonne brennt auf den Platz trotz der gewaltigen Platanen, die an den vier Ecken zum Himmel ragen und unter denen sich die Haspeln zum Drehen des Hanfs befinden. Ich weiß nicht, ob ich die Werkzeuge richtig bezeichne, die hier im Gebrauch sind. Den Männern, deren Bekleidung sich auf das Wesentlichste beschränkt, was zur dezenten Bedeckung des menschlichen Körpers vonnöten ist, läuft der Schweiß herab, als ob sie unter einer Dusche stünden. Sie drehen und drehen an ihrer Haspel und sind in ständiger Bewegung, als wären sie Galeerensträflinge... Siesagen einander nur das Allernotwendigste, was die Arbeit betrifft. Abgesehen vom Quietschen der Räder der Haspeln und dem Ächzen des gezogenen Hanfs ist daher kein Geräusch auf dem Platz zu vernehmen, ein eigenartiger Gegensatz zu dem Lärm, der an den anderen Orten herrscht, die das Haus des Seilers umgeben.

Überraschung ruft der unerwartete Ausruf eines Seilers hervor: «Frauen?! In dieser schrecklichen Hitze?! Schaut! Sie kommen hierher ...»

«Sie brauchen Seile, um ihre Männer anzubinden...» spottet ein junger Seiler.

«Vielleicht benötigen sie Hanf für ihre Arbeiten.»

«Uh! Unseren rohen? Wenn es doch Läden gibt, wo man gekämmten haben kann?»

«Unser Hanf ist billiger. Siehst du? Sie sind arm.»

«Aber es sind keine Jüdinnen. Siehst du, daß sie andere Mäntel tragen? ...»

«Dann sind es halt keine Jüdinnen. In Caesarea gibt es ein wenig von allem...»

«Vielleicht suchen sie den Rabbi. Es werden Kranke sein... Siehst du, wie sie trotz der Hitze alle bedeckt sind?»

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«Wenn es nur keine Aussätzigen sind... Elend schon, aber keinen Aussatz; nein, den ertrage ich nicht bei aller Gottergebenheit», sagt der Seiler, dem alle gehorchen.

«Aber hast du ihn nicht gehört, den Meister? "Man muß alles annehmen, was Gott schickt."»

«Aber den Aussatz, den schickt Gott nicht; den schicken Sünde, Laster und Ansteckung...»

Die Frauen sind bei ihnen angekommen; nicht die, die sprechen und am äußersten Ende des Hofes stehen, sondern die, die sich in der Nähe des Hauses befinden. Eine beugt sich vor, um einem der Seiler etwas zu sagen, und dieser dreht sich erstaunt um und bleibt sprachlos stehen.

«Gehen wir mal hören, was sie sagen... So eingehüllt... Aussatz würde mir im Hause gerade noch fehlen bei all den Kindern, die ich habe...» sagt der Seilermeister, der nun aufhört, seine Haspel zu drehen und sich den Frauen nähert. Seine Kameraden folgen ihm...

«Simon, diese Frau will etwas; aber sie spricht eine fremde Sprache. Höre du sie an, der du überall herumgesegelt bist», sagt der, an den sich die Frau gewandt hat.

«Was willst du?» fragt der Seiler rauh, während er versucht, ihr Gesicht durch den dunkelfarbenen Schleier zu sehen.

Die Frau antwortet in einem reinen Griechisch: «Den König von Israel. Den Meister.»

«Ah! Ich habe verstanden. Aber... seid ihr vielleicht aussätzig?»

«Nein.»

«Wer garantiert mir das?»

«Er selbst. Frage ihn.»

Der Mann ist noch unschlüssig... Dann sagt er: «Gut. Ich werde einen Akt des Glaubens machen, und Gott wird mich beschützen. Ich werde ihn holen gehen. Bleibt hier.»

Die Frauen, vier an der Zahl, bewegen sich nicht. Die Seiler, die sich in einer Entfernung von einigen Schritten versammelt haben, schauen mit Erstaunen und offensichtlicher Furcht auf die graue, stumme Gruppe.

Der Mann geht in den Lagerraum und weckt Jesus, «Meister... Komm heraus. Man sucht dich.»

Jesus erwacht und erhebt sich sofort, indem er fragt: «Wer?»

«Ja... Griechische Frauen... ganz verhüllt... Sie behaupten, nicht aussätzig zu sein, und sagen, daß du mich dessen versichern kannst...»

«Ich komme sofort», sagt Jesus und schnürt seine Sandalen, die er abgelegt hatte. Er befestigt auch das Gewand am Hals und legt den Gürtel um, den er entfernt hatte, um bequemer ruhen zu können. Dann geht er mit dem Seiler hinaus. Die Frauen schicken sich an, ihm entgegenzukommen.

«Bleibt stehen, sage ich euch! Ich will nicht, daß ihr eure Füße dorthin

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setzt, wo meine Kinder spielen... Zuerst muß er mir sagen, daß ihr gesund seid.»

Die Frauen bleiben stehen. Jesus geht ihnen entgegen. Die größte, nicht die, die zuerst griechisch gesprochen hat, sagt ihm leise ein Wort. Jesus wendet sich an den Seiler: «Simon, du kannst beruhigt sein. Die Frauen sind gesund, und ich muß sie in Ruhe anhören. Darf ich ins Haus hineingehen? ...»

«Nein. Da ist eine Alte, geschwätziger und neugieriger als eine Elster. Geh dort hinten unter das Schutzdach der Wasserbecken. Dort ist auch eine kleine Kammer, in der du allein und ungestört sein wirst.»

«Kommt...» sagt Jesus zu den Frauen; und er geht mit ihnen nach hinten in den Hof unter das übelriechende Wetterdach und in das Kämmerlein, das eng wie eine Klosterzelle und voll zerbrochener Werkzeuge, Lappen, Hanfabfälle und riesiger Spinnweben ist. Der Geruch des muffigen Abfalls ist so scharf, daß er im Hals kratzt. Jesus, der sehr ernst und bleich ist, sagt nun lächelnd: «Dieser Ort ist nicht eurem Geschmack angepaßt... aber ich habe nichts anderes...»

«Wir schauen nicht auf den Ort, denn wir sehen den, der ihn in diesem Augenblick bewohnt», antwortet Plautina, während sie Schleier und Mantel ablegt. Lydia, Valeria und die freigelassene Albula Domitilla tun es ebenfalls.

«Daraus schließe ich, daß ihr mich trotz allem noch für einen Gerechten haltet.»

«Für mehr als einen Gerechten. Claudia schickt uns gerade deswegen, weil sie dich für mehr als einen Gerechten hält, und sie gibt auch nichts auf das, was sie gehört hat. Sie möchte jedoch eine Bestätigung von dir, um dir doppelte Ehre zu erweisen.»

«Oder sie mir zu nehmen, wenn ich ihr so vorkomme, wie man mich darstellen wollte. Aber versichert ihr nur: Ich habe keine menschlichen Ziele. Meine Aufgabe und mein Verlangen sind vollkommen übernatürlicher Art. Ich will allerdings alle Menschen in einem einzigen Reich vereinen. Aber was vom Menschen? Fleisch und Blut? Nein, das überlasse ich als hinfällige Materie den hinfälligen Monarchien, den vergänglichen Reichen. Ich will unter meinem Szepter nur die Seelen der Menschen vereinen, die unsterblichen Seelen in einem unvergänglichen Reich. Ich weise jede andere Auslegung meines Willens zurück, mag sie gegeben werden von wem auch immer. Und ich bitte euch, mir zu glauben und der, die euch schickt, zu sagen, daß es nur eine Wahrheit gibt ...»

«Dein Apostel sprach mit solcher Sicherheit...»

«Es ist ein exaltierter Jüngling, und als solcher soll er auch angehört werden.»

«Aber er schadet dir. Tadle ihn... Jage ihn fort ...»

«Und wo wäre dann meine Barmherzigkeit? Er tut das in seiner

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abwegigen Liebe. Soll ich deshalb nicht Mitleid mit ihm haben? Was würde sich ändern, wenn ich ihn fortjagen würde? Er würde nur sich selbst und mir doppelten Schaden zufügen.»

«Dann ist er für dich ein Klotz am Bein! ...»

«Er ist für mich ein zu erlösender Unglücksmensch ...»

Plautina fällt auf die Knie, breitet ihre Arme aus und spricht: «Ach, Meister, du bist größer als jeder andere. Wie leicht ist es, dich für heilig zu halten, wenn man dein Herz in deinen Worten fühlt! Wie leicht ist es, dich zu lieben und dir zu folgen, um dieser deiner Liebe willen, die noch größer ist als deine Intelligenz!»

«Nicht größer, sondern begreiflicher für euch... deren Verstand noch von allzu vielen Irrtümern verschleiert ist und die ihr nicht hochherzig genug seid, um euch all dieser Irrtümer zu entäußern und die Wahrheit aufzunehmen.»

«Du hast recht. Du bist ebenso hellsichtig wie weise.»

«Die Weisheit, als eine Art der Heiligkeit, verleiht Klarheit im Urteil, ob es sich nun um vergangene oder gegenwärtige Dinge oder gar um Warnungen vor künftigen Ereignissen handelt.»

«Deshalb waren eure Propheten...»

«Sie waren Heilige. Gott teilte sich ihnen in großer Fülle mit.»

«Waren sie heilig, weil sie von Israel waren?»

«Sie waren heilig, weil sie von Israel waren und weil sie in ihren Handlungen gerecht waren. Denn nicht ganz Israel ist und war heilig, obwohl es Israel ist. Nicht die zufällige Zugehörigkeit zu einem Volk oder zu einer Religion ist es, die heilig macht. Diese beiden Faktoren können eine Hülle sein; sie bedeuten nicht unbedingte Heiligkeit.»

«Wo hat die Heiligkeit dann ihren Ursprung?»

«Im Willen des Menschen. Im Willen, der den Menschen in seinen Handlungen zur Heiligkeit führt, wenn er gut ist, und zur Bosheit, wenn er schlecht ist.»

«Dann ist es also nicht gesagt... daß es nicht auch unter uns Gerechte geben kann.»

«Es ist nicht gesagt. Im Gegenteil, sicherlich sind auch unter euren Vorfahren Gerechte, und gewiß sind solche auch unter den Lebenden. Denn es wäre zu schrecklich, wenn die ganze heidnische Welt aus Dämonen bestünde. Diejenigen unter euch, die sich zum Guten, zur Wahrheit hingezogen und vom Laster abgestoßen fühlen, die, die die schlechten Handlungen fliehen, da sie den Menschen erniedrigen, glaubt mir, diese sind auf dem Weg der Gerechtigkeit.»

«Also Claudia...»

«Ja, und auch ihr. Harrt aus.»

«Aber wenn man sterben sollte, bevor man sich zu dir bekehrt hat? ... Was würde es dann nützen, tugendhaft gewesen zu sein? ...»

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«Gott ist gerecht in seinem Urteil. Aber warum zögert ihr, zum wahren Gott zu kommen?»

Die drei Damen senken den Kopf... Es folgt ein Schweigen... und dann das große Bekenntnis, das eine Erklärung gibt für so viele Grausamkeiten und den Widerstand Roms gegen das Christentum... «Es würde uns scheinen, daß wir dadurch das Vaterland verraten...»

«Vielmehr würdet ihr dem Vaterland dienen; denn ihr würdet es sittlich und geistig viel stärker werden lassen durch den Besitz Gottes und den Schutz Gottes über seinem Heer und seinen Reichtümern. Rom, die Stadt der Welt, als Stadt der universellen Religion! ... Denkt darüber nach! ...»

Wieder ein Schweigen...

Dann sagt Lydia, wie eine Flamme errötend: «Meister, vor einiger Zeit haben wir auch in den Büchern unseres Vergil etwas über dich gesucht. Denn für uns haben die mit dem israelitischen Glauben nicht zusammenhängenden Prophezeiungen mehr Wert als die eurer Propheten, in denen wir den Einfluß tausendjähriger Auffassungen verspüren... Wir haben miteinander darüber gesprochen... indem wir die Texte der verschiedenen Weisen aller Zeiten, Nationen und Religionen, die dich vorausgeahnt haben, miteinander verglichen haben. Aber niemand hat dich so klar vorausgesehen wie unser Vergil... Wieviel haben wir an jenem Tag auch mit Diomedes, dem griechischen Freigelassenen und Astrologen, gesprochen, den Claudia so hoch schätzt. Er meinte, die Dinge stünden so, weil die Zeiten näher gerückt sind und die Sterne mit ihren Konstellationen davon sprechen... Zur Unterstützung seiner Meinung führte er das Beispiel der drei Weisen an, die aus drei Ländern des Orients gekommen waren, um dir als Kind zu huldigen, was einen Kindermord heraufbeschwor, der Rom erschaudern ließ... Aber wir waren nicht überzeugt... denn seit mehr als fünfzig Jahren hat keiner der Weisen der Welt mehr durch die Stimme der Gestirne von dir gesprochen, obwohl die Stunde deines Kommens ja immer näher rückte. Claudia rief aus: "Hier bräuchten wir den Meister! Er würde uns das Wort der Wahrheit geben, und wir wüßten den Aufenthaltsort und die ewige Bestimmung unseres größten Dichters." Willst du uns das sagen... für Claudia... Ein Geschenk, um uns zu zeigen, daß sie dir nicht unlieb ist wegen ihres Zweifels an dir...»

«Ich habe ihre Reaktion als Römerin verstanden und habe es ihr nicht nachgetragen. Versichert sie dessen und hört. Vergil war nicht nur als Dichter groß, nicht wahr?»

«O ja! Auch als Mensch. Inmitten einer schon verkommenen und lasterhaften Gesellschaft erstrahlte er durch die Reinheit seines Geistes. Niemand kann sagen, daß er ihn je als Wüstling, der Orgien und Ausgelassenheit liebt, gesehen hat. Seine Schriften sind keusch,... aber noch keuscher war sein Herz, so daß er in seiner Heimat "das Jungfräulein" genannt wurde, von den Lasterhaften mit Spott, von den Guten mit Verehrung.»

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«Nun, hätte Gott sich nicht in der Seele eines so keuschen Menschen widerspiegeln sollen, obwohl dieser Mann ein Heide war? Wird die vollkommene Tugend nicht den Tugendhaften geliebt haben? Wenn ihm also Liebe und Schau des Wahren verliehen wurden um der reinen Schönheit seines Geistes willen, hätte er da nicht auch eine prophetische Erleuchtung haben können? Eine prophetische Erleuchtung, die nichts anderes ist als die Wahrheit, die sich dem enthüllt, der es verdient, das Wahre zu erkennen als Lohn und Ansporn zu immer vollkommenerer Tugend ?»

«So hat er dich also wirklich vorausgesehen?»

«Sein von Reinheit und Geist entflammter Verstand schwang sich so hoch empor, um einen Aspekt zu schauen, der mich betrifft. Und er kann der gerechte heidnische Dichter genannt werden, ein prophetischer vorchristlicher Geist dank seiner Tugenden.»

«Oh! Unser Vergil! Hat er wohl seinen Lohn erhalten?»

«Ich habe schon gesagt: Gott ist gerecht. Ihr jedoch sollt nicht diesen Dichter nachahmen, und euch an den Grenzen seiner Erkenntnis aufhalten. Schreitet voran, denn euch hat sich die Wahrheit nicht durch Schauung und Eingebung geoffenbart, sondern vollständig; sie selbst hat zu euch gesprochen.»

«Danke, Meister... Wir ziehen uns zurück. Claudia hat uns aufgetragen, dich zu fragen, ob sie dir in moralischer Hinsicht nützlich sein kann», sagt Plautina, ohne etwas auf die Worte Jesu zu erwidern.

«Sie hat euch auch beauftragt, mich zu fragen, ob ich nicht kein Thronräuber sei ...»

«Oh, Meister! Woher weißt du das?»

«Weil ich mehr bin als euer Vergil und die Propheten...»

«Das ist wahr! Alles ist wahr! Wie können wir dir dienen? ...»

«Was mich angeht, so bedarf es von eurer Seite nur des Glaubens und der Liebe. Aber es gibt ein Geschöpf, das in großer Gefahr ist und dessen Seele heute abend ermordet werden soll. Claudia könnte sie retten.»

«Hier? Wer? Eine Seele töten?»

«Einer eurer Patrizier gibt heute abend ein Gastmahl und...»

«Ah, ja! Ennius Cassius. Auch mein Gemahl ist dazu eingeladen», sagt Lydia.

«Und auch der meine... und wir natürlich auch. Aber da Claudia sich fernhält, werden auch wir nicht hingehen. Wir hatten beschlossen, uns nach der Mahlzeit sofort zurückzuziehen falls wir hingegangen wären... denn diese Abendmahlzeiten enden in Orgien... die wir nicht mehr länger ertragen können... und mit dem Unmut vernachlässigter Gattinnen lassen wir unsere Männer dort zurück...» sagt Valeria streng.

«Nicht mit Unmut... sondern indem ihr ihr sittliches Elend bemitleidet ...» verbessert Jesus.

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«Das ist schwierig, Meister... Wir wissen, was sich dort drinnen zuträgt...»

«Auch ich weiß viele Dinge, die sich in den Herzen ereignen... und dennoch verzeihe ich ...»

«Du bist heilig ...»

«Ihr müßt es werden; weil ich es wünsche und aus dem Antrieb eures eigenen Willens heraus...»

«Meister! ...»

«Ja. Könnt ihr vielleicht behaupten, daß ihr glücklich seid wie zu der Zeit, bevor ihr mich kanntet; glücklich über die armen, tierischen, sinnlichen Freuden von Heidinnen, die nicht wissen, daß sie mehr sind als nur Fleisch, jetzt da ihr etwas von der Weisheit erfahren habt? ...»

«Nein, Meister, wir bekennen es. Wir sind unzufrieden und unruhig wie einer, der einen Schatz sucht und ihn nicht findet.»

«Und er liegt vor euch! Was euch unruhig macht, ist die Sehnsucht eures Geistes nach dem Licht; der Unmut eures Geistes über euer Zögern... dem Geist das zu geben, wonach er verlangt ...»

Ein Schweigen... Dann sagt wiederum Plautina, ohne etwas auf die Worte Jesu zu erwidern: «Und was könnte Claudia tun?»

«Dieses Mädchen retten. Ein Geschöpf, das der Lust eines Römers verkauft worden ist. Eine Jungfrau, die morgen keine mehr sein wird.»

«Wenn er sie gekauft hat... gehört sie ihm.»

«Sie ist kein Möbelstück. In ihrem Körper wohnt eine Seele...»

«Meister... unsere Gesetze...»

«Frauen: das Gesetz Gottes! ...»

«Claudia geht nicht zum Fest ...»

«Ich fordere sie nicht auf, hinzugehen. Ich möchte, daß ihr zu ihr sagt: "Um die Gewißheit zu haben, daß Claudia ihn nicht beschuldigt, bittet der Meister sie um Hilfe für diese Mädchenseele"...»

«Wir werden es ihr sagen. Aber sie wird nichts tun können... Eine gekaufte Sklavin... ist ein Gegenstand, über den man verfügen kann...»

«Das Christentum wird lehren, daß der Sklave eine Seele hat wie Caesar, eine bessere sogar in vielen Fällen, daß diese Seele Gott angehört, und daß verflucht ist, wer sie verdirbt.» Jesus wird majestätisch bei diesen Worten.

Die Frauen bemerken den gebieterischen und strengen Ton. Sie verneigen sich, ohne etwas einzuwenden. Dann legen sie ihre Mäntel um und bedecken sich mit ihren Schleiern mit den Worten: «Wir werden Bericht erstatten. Sei gegrüßt, Meister!»

Die Frauen gehen hinaus auf den heißen Hof. Aber Plautina wendet sich noch einmal um und sagt: «Wenn jemand fragen sollte, waren wir griechische Frauen. Verstehst du?»

«Ich habe verstanden. Geht nur beruhigt.»

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Jesus bleibt unter dem niedrigen Säulengang, und sie kehren auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen sind.

Die Seiler gehen wieder an ihre Arbeit...

Jesus kehrt langsam und nachdenklich zum Lager zurück. Er legt sich nicht wieder hin. Auf einem Haufen zusammengerollter Stricke sitzend, betet er inständig... Die Elf schlafen noch immer tief...

So vergeht einige Zeit... etwa eine Stunde. Dann steckt der Seilermeister den Kopf herein und gibt Jesus ein Zeichen, zum Eingang zu kommen. «Es ist ein Sklave da, der dich sprechen möchte.»

Der Sklave, ein Numidier, steht draußen auf dem noch sonnenbeschienenen Platz. Er verneigt sich und übergibt Jesus, ohne ein Wort zu sagen, ein Wachstäfelchen. Jesus liest und sagt dann: «Richte aus, daß ich bis zum Morgengrauen warten werde. Hast du verstanden?» Der Mann nickt, und um verständlich zu machen, weshalb er nicht spricht, öffnet er seinen Mund und zeigt seine verstümmelte Zunge. «Unglücklicher», sagt Jesus und streichelt ihn.

Dem Sklaven rollen zwei Tränen über die schwarzen Wangen herunter. Er nimmt die weiße Hand Jesu zwischen seine schwarzen, affenähnlichen Hände und fährt sich damit über das Gesicht. Er küßt sie, legt sie sich aufs Herz und wirft sich dann zu Boden. Nun nimmt er den Fuß Jesu und setzt ihn sich aufs Haupt... Alle diese Gesten sind ein Ausdruck der Dankbarkeit für die ihm erwiesene mitleidsvolle Liebe... Jesus wiederholt: «Unglücklicher!»; aber er macht nicht die Handbewegung, mit der er zu heilen pflegt.

Der Sklave erhebt sich und verlangt das Wachstäfelchen zurück ... Claudia will keine Spuren ihres brieflichen Verkehrs hinterlassen... Jesus lächelt und gibt das Täfelchen zurück. Der Numidier macht sich auf den Weg, und Jesus begibt sich zum Seilermeister.

«Ich muß bis zum Morgengrauen bleiben... Gestattest du es?» «Alles, was du willst. Es tut mir leid, daß ich arm bin ...»«Es gefällt mir, daß du ehrlich bist.» «Wer waren diese Frauen?»«Fremde, die des Rates bedurften.» «Waren sie gesund?» «Wie ich und du.»«Ah, gut! ... Sieh, da sind deine Apostel...»

Tatsächlich kommen die Elf noch schlaftrunken aus dem Lager auf den Meister zu, reiben sich die Augen und strecken sich.

«Meister, wir müssen unsere Mahlzeit einnehmen, wenn du noch heute abend abreisen willst», sagt Petrus.

«Nein. Ich werde erst im Morgengrauen aufbrechen.» «Warum?» «Man hat mich darum gebeten.»

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«Aber warum? Wer hat dich denn gebeten? Es wäre besser, nachts zu wandern. Wir haben schon Neumond ...»

«Ich hoffe, ein Geschöpf zu retten ... und dies ist für mich leuchtender als der Mond und erquickender als die Frische der Nacht...»

Petrus zieht ihn beiseite: «Was ist denn geschehen? Hast du die Römerinnen gesehen? In welcher Stimmung sind sie? Wollen sie sich bekehren? Sage es mir ...»

Jesus lächelt: «Wenn du mich antworten läßt, werde ich es dir sagen, du neugieriger Mensch. Ich habe die Römerinnen gesehen. Sie gelangen nur langsam zur Wahrheit. Aber sie machen keine Rückschritte. Das ist schon viel.»

«Und... betreffs der Dinge, die Judas erwähnte... Was gibt es da?»

«Daß sie mich weiterhin als einen weisen Mann verehren.»

«Aber... was Judas angeht? Ist er nicht mit im Spiel? ...»

«Sie sind gekommen, mich zu suchen, nicht ihn...»

«Aber warum hat er Angst gehabt, ihnen zu begegnen? Warum wollte er dich nicht nach Caesarea gehen lassen?»

«Simon, es ist nicht das erste Mal, daß Judas eigenartige Wünsche hat.»

«Das ist wahr. Und... kommen die Römerinnen heute nacht?»

«Sie sind schon gekommen.»

«Warum warten wir dann bis zum Morgengrauen?»

«Und warum bist du so neugierig?»

«Meister, sei so gut... sage mir alles.»

«Ja, um dir jeglichen Zweifel zu nehmen... Du hast doch die Reden der drei Römer gehört ...»

«Ja, dieser Unreinen! Dieser Dämonen! Dieser Pest! Aber was haben denn wir damit zu tun? ... Ah! Ich verstehe. Die Römerinnen nehmen an dem Gastmahl teil und kommen danach zu dir, um sich ihre Ausgelassenheit verzeihen zu lassen... Es wundert mich, daß du dich darauf einläßt.»

«Es wundert mich, daß du so verwegene Urteile fällst.»

«Verzeih mir, Meister!»

«Ja, aber du sollst wissen, daß die Römerinnen nicht zu dem Gastmahl gehen werden und daß ich Claudia gebeten habe, sich für jenes Mädchen einzusetzen ...»

«Oh! Aber Claudia ist doch machtlos in diesem Fall! Der Römer hat das Mädchen gekauft, und er kann mit ihm machen, was er will!»

«Claudia hat einen großen Einfluß auf diesen Römer und hat mir ausrichten lassen, daß ich mit der Abreise bis zum Morgengrauen warten soll. Weiter nichts. Bist du zufrieden?»

«Ja, Meister. Aber du hast dich ja nun gar nicht ausgeruht... Komm jetzt... Du bist so müde! Ich werde darüber wachen, daß man dich in

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Ruhe läßt... Komm, komm.» Und mit liebevoller Gewalt zieht und schiebt er ihn und zwingt ihn schließlich, sich wieder niederzulegen...

Stunden vergehen. Die Sonne geht unter, die Arbeit ist beendet, und das Geschrei der Kinder auf den Straßen und Plätzen und das Zwitschern der Schwalben am Himmel wird lauter. Dann sinken die ersten Schatten herab. Die Schwalben begeben sich in ihre Nester, und die Kinder gehen zu Bett. Die Geräusche nehmen ab, bis nur noch das leise Klatschen der Wellen am Kanal und das stärkere Rauschen des Seeganges am Gestade zu hören sind. Die Häuser werden geschlossen, die Häuser dieser müden Arbeiter, und die Lichter gehen aus. Der Schlaf läßt alle stumm und blind werden... fern von den alltäglichen Mühen und Sorgen. Dann geht der Mond auf und veredelt selbst den schmutzigen Wasserspiegel des Hafenbeckens, der jetzt wie eine Silberplatte aussieht...

Die Apostel schlafen wieder auf dem Hanf... Jesus sitzt auf einer der nun ruhenden Hebewinden und betet, denkt nach und wartet... Er verliert die Straße von der Stadt nicht aus den Augen.

Der Mond steigt höher und höher. Nun steht er senkrecht über den Häuptern. Das Meer rauscht stärker, und die Seeluft duftet intensiver. Der Lichtkegel des Mondes im Meer dehnt sich aus, bis er vor Jesus den ganzen Meeresspiegel umfaßt, um sich dann in der Ferne zu verlieren: eine Lichtstraße, die von den Enden der Welt auf Jesus zuzukommen scheint, in den Kanal einmündet und schließlich im Dock endigt.

Auf dieser Straße nähert sich ein kleines weißes Boot. Es kommt näher und näher, ohne Spuren auf dem Wasserweg zu hinterlassen... Nun fährt es in den Kanal ein und erreicht das ruhige Hafenbecken. Es legt an und steht still. Drei Schatten steigen herauf: der eines kräftigen Mannes, der einer Frau und der eines zarten Figürchens zwischen ihnen. Diese drei Menschen nähern sich dem Haus des Seilers. Jesus erhebt sich und geht ihnen entgegen.

«Der Friede sei mit euch. Wen sucht ihr?»

«Dich, Meister», sagt Lydia, indem sie sich entschleiert und allein auf Jesus zugeht. Dann fährt sie fort: «Claudia hat dir gedient, denn es war recht so und eine moralische Pflicht. Dort ist das Mädchen. Valeria wird sie bald als Kindermädchen für die kleine Fausta nehmen. Aber sie bittet dich, sie vorerst bei dir zu behalten, das heißt, sie deiner Mutter oder der Mutter deiner Vettern anzuvertrauen. Sie ist ganz Heidin, sogar mehr als Heidin. Ihr Besitzer, der sie aufgezogen hat, hat das absolute Nichts in sie hineingelegt. Sie weiß weder etwas vom Olymp noch sonst etwas. Sie hat nur furchtbare Angst vor den Männern, denn das Leben hat sich ihr seit einigen Stunden in seiner ganzen Brutalität enthüllt...»

«Oh, welch traurige Worte! Ist es zu spät?»

«Nein, nicht eigentlich... Aber er hat sie für sein... sagen wir... Sakrileg vorbereitet, und das Kind ist ganz verstört... Claudia mußte es die ganze

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Mahlzeit über bei diesem Lüstling lassen. Sie konnte erst handeln, als der Wein ihn schon benebelt hatte. Ich brauche dir nicht zu erklären, daß ein Mann, der in seinen sinnlichen Liebeleien immer schlüpfrig ist, dies besonders in der Trunkenheit ist... doch erst dann wird er zum Spielzeug eines Stärkeren, das sich seines Schatzes berauben läßt. Claudia hat dies ausgenützt. Ennius möchte nach Italien zurückkehren, von wo er, da er in Ungnade gefallen ist, ausgewiesen wurde. Claudia hat ihm die Rückkehr versprochen, wenn er ihr das Mädchen gibt, und Ennius ist in die Falle gegangen... Morgen, wenn er wieder nüchtern ist, wird er sich auflehnen, das Mädchen suchen und Lärm schlagen, aber Claudia hat Mittel, ihn zum Schweigen zu bringen.»

«Gewalt? Nein! ...»

«Oh! Gewalt zu einem guten Zweck anzuwenden, schadet nicht! Aber es wird nicht geschehen... Pilatus, noch benebelt vom vielen Wein, den er heute abend getrunken hat, wird den Befehl unterzeichnen, der Ennius zu einer Berichterstattung nach Rom schickt... Ha! Ha! ... und mit dem ersten Kriegsschiff wird er abreisen. Inzwischen aber wäre es gut, wenn sich das Mädchen anderswo aufhalten würde, denn es ist zu befürchten, daß Pilatus den Beschluß bereut und den Befehl zurücknimmt... Er ist so wankelmütig. Es wäre auch gut, wenn das Kind, falls das möglich ist, die menschlichen Unflätigkeiten vergißt. Oh! Meister! ... Wir waren bei dem Gastmahl, weil wir einen Auftrag ausführen mußten. Aber wie konnten wir noch bis vor wenigen Monaten an solchen Orgien teilnehmen, ohne Ekel zu empfinden? Heute haben wir uns davongemacht, sobald wir unser Ziel erreicht hatten... Dort wetteifern unsere Männer immer noch mit diesen Unmenschen... Welch ein Abscheu, Meister! Und wir müssen sie aufnehmen, nachdem... nachdem...»

«Führt ein sittenstrenges Leben und seid geduldig. Durch euer Beispiel werdet ihr eure Gatten bessern.»

«Oh! Das ist unmöglich! ... Du weißt nicht ...» Die Frau weint mehr aus Entrüstung als aus Schmerz. Jesus seufzt. Lydia fährt fort: «Claudia läßt dir sagen, daß sie dies getan hat, um dir zu zeigen, daß sie dich verehrt als den einzigen Menschen, der Verehrung verdient. Sie läßt dir auch ausrichten, daß sie dir dankbar ist, weil du ihr den Wert der Seele und der Reinheit zu erkennen gegeben hast. Sie wird dies nie vergessen. Willst du das Mädchen sehen?»

«Ja. Und wer ist der Mann?»

«Der stumme Numidier, dessen sich Claudia bei geheimen Aufträgen bedient. Es besteht keine Gefahr des Verrats... Er hat keine Zunge ...»

Jesus wiederholt wie am Nachmittag: «Der Unglückliche!» Aber auch jetzt wirkt er kein Wunder.

Lydia nimmt das Mädchen bei der Hand und schleift es fast vor Jesus hin. Dann erklärt sie: «Es spricht nur wenige lateinische Worte und noch

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weniger hebräische... Ein kleines wildes Tierchen... Einzig ein Gegenstand des männlichen Vergnügens.» Nun gebietet sie dem Mädchen: «Fürchte dich nicht. Sage ihm: "Danke." Er ist es, der dich gerettet hat... Knie nieder. Küsse ihm die Füße. Auf! Zittere nicht! ... Verzeih, Meister! Die letzten Schmeicheleien des betrunkenen Ennius haben sie erschreckt ...»

«Armes Kind!» sagt Jesus und legt seine Hand auf das verschleierte Haupt des Mädchens. «Fürchte dich nicht! Ich bringe dich für einige Zeit zu meiner Mutter. Zu einer Mutter, verstehst du? Und du wirst um dich herum viele gute Geschwister haben... Fürchte dich nicht, meine Tochter!»

Was liegt nicht alles in der Stimme Jesu und in seinem Blick! Alles liegt darin: Friede, Sicherheit, Reinheit, heilige Liebe. Das Mädchen fühlt es. Es wirft den Mantel mit der Kopfbedeckung zurück, um ihn besser betrachten zu können. Die kleine, zierliche Gestalt, kaum an der Schwelle der Pubertät angelangt, fast noch ein Kind, herb in ihrer Anmut und unschuldig in ihrem Aussehen, scheint in einem für sie zu weiten Gewand zu stecken...

«Sie war halb nackt... Ich habe die ersten besten Kleider, die ich gefunden habe, in den Sack gesteckt und sie damit bekleidet», erklärt Lydia.

«Ein Kind!» sagt Jesus mitleidsvoll, und während er es an der Hand hält, fragt er: «Willst du mit mir kommen, ohne dich zu fürchten?»

«Ja, Herr und Besitzer.»

«Nein, nenne mich nicht Herr und Besitzer. Nenne mich Meister.»

«Ja, Meister», sagt das Mädchen schon etwas sicherer, und ein zartes Lächeln tritt an die Stelle des furchtsamen Ausdruckes, der zuvor auf dem schneeweißen Antlitz lag.

«Bist du fähig, einen weiten Weg zurückzulegen?»

«Ja, Meister.»

«Dann wirst du dich bei meiner Mutter, in meinem Hause, ausruhen bis Fausta kommt... ein kleines Mädchen, das du sehr lieben wirst... Gefällt dir das?»

«O ja!» Das Mädchen erhebt zuversichtlich seine klaren Augen von einem herrlichen Graublau unter den goldfarbenen Wimpern und wagt zu fragen: «Nicht mehr jenen Herrn und Besitzer?» und Angst trübt für einen Augenblick wieder ihren Blick.

«Nie mehr», verspricht Jesus nochmals und legt seine Hand auf das füllige, honigblonde Haar des Mädchens.

«Leb wohl, Lydia. Sage Claudia, daß dies die Eroberungen sind, auf die ich aus bin, auf keine anderen. Komm, Kind! Wir brechen sofort auf...»

Während er es noch an der Hand hält, ruft er, an der Türe des Lagers stehend, die Apostel.

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Das Boot kehrt inzwischen, ohne eine Spur seines Kommens hinterlassen zu haben, auf die offene See zurück. Jesus und die Apostel gehen, das in seinen Mantel gehüllte Mädchen in ihrer Mitte, auf verlassenen Seitenstraßen dem offenen Felde zu...

475. RELIGION IST LIEBE UND LEBENDIGES VERLANGEN, ZU DEM ZU GEHEN, AN DEN WIR GLAUBEN

Das sommerliche Morgengrauen beginnt so früh, daß die Zeit zwischen dem Untergang des Mondes und der Ankunft der ersten Sonnenstrahlen sehr kurz ist.

So kommt es, daß sie trotz des schnellen Marsches noch in der Nähe der Stadt Caesarea von der dunkelsten Stunde der Nacht überrascht werden. Ein brennender Ast eines Pflaumenbaumes liefert kaum hinreichendes Licht. Sie müssen einen kurzen Halt machen, denn das Mädchen, das nicht gewohnt ist, nachts zu wandern, stolpert häufig über Steine, die im Erdreich versteckt liegen.

«Es ist besser, ein wenig haltzumachen. Das Mädchen sieht nicht, wohin es die Füße setzt, und ist müde», sagt Jesus.

«Nein, nein, ich kann... Gehen wir weit, weit weg von hier... Er könnte kommen. Hier sind wir vorbeigekommen, um zu jenem Haus zu gelangen», sagt das Mädchen zähneklappernd und halb hebräisch, halb lateinisch, um sich verständlich zu machen.

«Wir werden hinter die Bäume dort gehen, so daß uns niemand sieht. Fürchte dich nicht», antwortet Jesus.

«Ja, fürchte dich nicht. Jener... Römer liegt um diese Stunde schwer betrunken unter einem Tisch...» sagt Bartholomäus, um das Mädchen zu beruhigen.

«Zudem bist du ja bei uns. Wir meinen es gut mit dir und werden nicht zulassen, daß dir etwas Böses zustößt. Oha! Wir sind zwölf starke Männer», sagt Petrus, der nur wenig größer ist als sie, aber gedrungen, während sie schlank ist, und von der Sonne verbrannt, während sie weiß ist wie Schnee, diese arme Blume, die man im Schatten hat aufwachsen lassen, damit sie schöner und kostbarer erscheint.

«Du bist uns eine kleine Schwester, und die Brüder verteidigen die Schwestern», sagt Johannes.

Das Mädchen erhebt beim letzten Aufflammen der improvisierten Fackel ihre klaren Augen, deren Stahlgrau leicht ins Bläuliche geht und die noch leuchten von den kurz zuvor vergossenen Tränen, zu ihren Tröstern... Man liest Verdacht in diesen Augen, und doch vertraut sie der apostolischen Gruppe. Sie schreitet mit den andern durch ein trockenes

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Bachbett jenseits des Weges, um ein Besitztum zu betreten, das in einem dichten Obstgarten endet.

Sie setzen sich im dunkeln nieder und warten. Die Männer würden vielleicht schlafen, aber jedes Geräusch läßt das Mädchen einen Seufzer ausstoßen, und als ein Pferd vorbeigaloppiert, hängt es sich verzweifelt an den Hals des Bartholomäus, der wahrscheinlich des Alters wegen sein besonderes Vertrauen genießt. So ist es denn unmöglich zu schlafen.

«Aber hab doch keine Angst! Wenn man bei Jesus ist, kann einem nichts Böses geschehen», sagt Bartholomäus.

«Warum?» fragt das Mädchen zitternd und noch immer an den Hals des Apostels geklammert.

«Weil Jesus Gott auf Erden ist, und Gott ist stärker als die Menschen.»

«Gott? Was ist Gott?»

«Armes Geschöpf! Aber wie hat man dich denn erzogen? Hat man dich gar nichts gelehrt?»

«Die Haut weiß und die Haare glänzend zu bewahren, dem Herrn zu gehorchen, immer "Ja" zu sagen... Aber ich konnte zu dem Römer nicht "Ja" sagen... Er war häßlich und flößte mir Furcht ein... Den ganzen Tag Furcht... Immer da... Im Bad, beim Anziehen... welche Augen... die Hände... und wer nicht "Ja" sagt, wird mit der Rute gezüchtigt...»

«Du wirst nicht geschlagen werden. Hier sind weder der Römer noch seine Hände... Hier ist Frieden ...» antwortet ihm Jesus.

Die anderen machen ihre Bemerkungen: «Aber das ist ja schauderhaft! So werden Zugtiere behandelt... und nicht einmal Tiere... Ein Tier weiß wenigstens, daß man ihm beibringt, zu pflügen, den Sattel zu tragen oder dem Zügel zu folgen, weil dies seine Aufgabe ist. Aber dieses Kind hat man in die Welt geworfen, ohne ihm zu sagen, was es erwartet...»

«Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich mich ins Meer gestürzt. Er hat immer gesagt: "Ich werde dich glücklich machen"...»

«Tatsächlich hat er dich glücklich gemacht, aber auf eine Art, an die er nicht im entferntesten gedacht hätte. Glücklich auf Erden und im Himmel. Denn Jesus zu kennen, ist Glückseligkeit», sagt der Zelote.

Es folgt ein Schweigen, in dem jeder über die Greuel in der Welt nachsinnt. Dann fragt das Mädchen leise Bartholomäus: «Sagst du mir, was Gott ist? Und warum er Gott ist? Weil er schön und gut ist?»

«Gott... Wie soll ich dir das erklären, die du keine Vorstellung von Religion hast?»

«Religion, was ist das?»

«Höchste Weisheit. Ich bin wie einer, der in einem großen Meer versinkt. Was soll ich vor einem solchen Abgrund machen?»

«Es ist so einfach, Bartholomäus, das, was dir so schwierig erscheint. Es ist ein Abgrund, das stimmt, aber ein leerer, und du kannst ihn mit der

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Wahrheit füllen. Schlimmer ist es, wenn die Abgründe voll Schmutz, Gift und Schlangen sind. Sprich mit denselben einfachen Worten, wie wenn du mit einem kleinen Kind reden würdest. Dann wird sie dich verstehen, und kein Erwachsener könnte dich besser verstehen.»

«Oh! Meister! Könntest nicht du es an meiner Stelle tun?»

«Ich könnte. Aber das Mädchen wird die Worte von einem seinesgleichen leichter annehmen als die meinen, der ich Gott bin. Außerdem... in Zukunft werdet ihr oft vor solchen Abgründen stehen und sie mit mir ausfüllen müssen. Ihr müßt also lernen, wie man es macht.»

«Das ist wahr. Ich werde es versuchen. Höre Kind... Erinnerst du dich an deine Mutter?»

«Ja, Herr. Seit sieben Jahren blühen die Blumen ohne sie. Aber vorher war ich bei ihr.»

«Gut, und erinnerst du dich noch an sie? Hast du sie gern?»

«Oh!» Ein mit diesem Ausruf verbundener Seufzer sagt alles.

«Weine nicht, armes Kind... Höre... Die Liebe zur Mutter...»

«... und zum Vater... und den Brüderchen...» sagt das Mädchen schluchzend.

«Ja... die Liebe zu deiner Familie, die Erinnerung, die du an sie hast, das Verlangen, das du hast, zu ihr zurückzukehren...»

«Nie mehr!! ...»

«Ja... All das ist etwas, was die Religion der Familie genannt werden kann. Die Religionen, die religiösen Ideen sind daher die Liebe, die Erinnerung und das Verlangen, zu dem oder zu denen zu gehen, denen wir glauben, die wir lieben und nach denen wir uns sehnen.»

«Ah! Und wenn ich an den Gott dort glaube, dann habe ich eine Religion... Das ist leicht!»

«Gut. Aber was ist leichter? Eine Religion zu haben oder an den Gott dort zu glauben?»

«Beides. Denn es ist leicht, an einen Gott zu glauben, der gut ist wie dieser dort. Der Römer nannte so viele Götter und schwur bei ihnen... Er sagte: "Bei der Göttin Venus", "beim Gott Cupido." Aber es können keine guten Götter gewesen sein, denn er tat schlechte Dinge, während er sie anrief.»

«Das Mädchen ist nicht dumm», bemerkte Petrus leise.

«Aber ich weiß noch nicht, was Gott ist. Ich sehe ihn als einen Menschen vor mir, wie dich... Ist Gott also ein Mensch? Wie kann man ihn begreifen? Und worin ist er stärker als alle anderen? Er hat weder Schwert noch Diener...»

«Meister, hilf mir...»

«Aber nein! Du unterrichtest so gut...»

«Das sagst du, weil du gütig bist... Schauen wir also, daß wir weiterkommen. Höre, Mädchen... Gott ist kein Mensch. Er ist wie ein Licht, ein

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Blick, ein Laut, aber so groß, daß er Himmel und Erde erfüllt und alles erleuchtet, alles sieht, alles belehrt und allem gebietet...»

«Auch dem Römer? Dann ist er kein guter Gott. Ich habe Angst!»

«Gott ist gut und gibt gute Befehle, und den Menschen hat er befohlen, keine Kriege zu führen, keine Sklaven zu machen, die Kinder bei ihren Müttern zu lassen und die Mädchen nicht zu erschrecken. Aber die Menschen hören nicht immer auf die Befehle Gottes.»

«Du schon...»

«Ich, ja.»

«Aber wenn er stärker als alle anderen ist, warum zwingt er sie dann nicht zum Gehorsam? Und wie spricht er, wenn er kein Mensch ist?»

«Ach Gott! ... Meister! ...»

«Nur weiter, Bartholomäus. Du bist ein so weiser Meister und verstehst es, die erhabensten Gedanken mit solcher Einfachheit auszudrücken, und du hast Angst? Weißt du nicht, daß der Heilige Geist auf den Lippen derer ist, die die Gerechtigkeit lehren?»

«Es scheint so leicht zu sein, wenn man dich hört... und alle deine Worte sind hier drinnen ... Aber um sie wieder hervorzuholen, wenn man das tun soll, was du tust! ... Oh, wir armseligen Menschen! Welch untaugliche Lehrmeister sind wir doch!»

«Die Erkenntnis des eigenen Nichts bereitet den Geist darauf vor, die Lehre des Heiligen Geistes zu verbreiten...»

«Gut. Höre, Kind. Gott ist stark, sehr stark, stärker als Caesar, als alle Menschen zusammengenommen mit ihren Heeren und Kriegsmaschinen. Aber er ist kein erbarmungsloser Herrscher, der dazu zwingt, immer "Ja" zu sagen, und züchtigt, wenn man es nicht tut. Gott ist ein Vater. Hat dein Vater dich geliebt?»

«Sehr! Er hat mir den Namen "Aurea Galla" gegeben, weil das Gold kostbar ist und Gallien sein Vaterland war; und er hat mir gesagt, daß er mich mehr liebt als alles Gold, das er einst besessen hat, und als sein Vaterland...»

«Hat dein Vater dich geschlagen?»

«Nein, nie. Auch wenn ich böse war, hat er nur gesagt: "Mein armes Kind!" und hat geweint ...»

«Siehst du? Ebenso handelt Gott. Er ist unser Vater. Er liebt uns und weint, wenn wir böse sind. Aber er zwingt uns nicht zum Gehorsam. Wer jedoch böse ist, wird eines Tages mit schrecklichen Qualen bestraft werden ...»

«Oh, schön! Der Herr und Besitzer, der mich meiner Mutter entrissen und auf die Insel gebracht hat, und der Römer werden bestraft werden! Und ich werde das sehen?»

«Du wirst in der Nähe Gottes sein und es sehen, wenn du an ihn glaubst und gut bist. Aber um gut zu sein, darfst du niemanden hassen, nicht einmal den Römer.»

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«Nein? Wie mache ich das?! ...»

«Indem du für ihn betest oder ...»

«Was ist das: beten?»

«Mit Gott sprechen und ihm sagen, was wir uns wünschen...»

«Aber ich wünsche den Herren einen schrecklichen Tod», sagt die Kleine mit wilder Heftigkeit.

«Nein, das darfst du nicht. Jesus liebt dich nicht, wenn du so sprichst...»

«Warum?»

«Weil man jene nicht hassen darf, die uns Böses angetan haben.»

«Aber, ich kann sie doch nicht lieben...»

«So vergiß sie vorerst... Versuche sie zu vergessen. Später, wenn du dann mehr über Gott weißt, wirst du für sie beten... Also, wir haben gesagt, daß Gott mächtig ist, seinen Kindern aber die Freiheit läßt.»

«Ich, ein Kind Gottes? Habe ich zwei Väter? Wie viele Kinder hat er denn?»

«Alle Menschen sind Kinder Gottes, weil er sie erschaffen hat. Siehst du die Sterne dort oben? Er hat sie erschaffen. Und diese Bäume? Er hat sie erschaffen. Auch die Erde, auf der wir sitzen, und den Singvogel dort, und das Meer, das so groß ist, alles und alle Menschen hat er erschaffen. Die Menschen aber sind mehr als alles andere seine Kinder, durch das, was man die Seele nennt und die Licht, Laut, Blick ist; sie ist nicht so groß wie Gott, der den ganzen Himmel und die Erde erfüllt, aber ebenfalls schön und unsterblich, so wie auch er nie stirbt.»

«Wo ist die Seele? Habe auch ich eine?»

«Ja, in deinem Herzen ist sie, und sie ist es, die dir zu verstehen gegeben hat, daß der Römer schlecht war, und sie wird dir sicher nie den Wunsch einflößen, so zu sein wie er. Ist es nicht so?»

«Ja ...» Das Mädchen denkt nach ihrem unsicheren "Ja" nach... Dann sagt es bestimmt: «Ja! Es war wie eine innere Stimme und ein Bedürfnis nach Hilfe... und dann war da noch eine andere Stimme, aber das war die meine, die nach der Mutter rief... denn ich wußte nicht, daß es einen Gott gibt, daß es Jesus gibt... Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich ihn mit dieser inneren Stimme angerufen ...»

«Du hast es gut verstanden, Kind, und wirst im Licht wachsen. Das kann ich dir versichern. Glaube an den wahren Gott, höre auf die Stimme deiner unberührten Seele, die frei von erlernter Weisheit, aber auch frei von bösem Willen ist, und du wirst in Gott einen Vater haben; und nach dem Tod, der für jene, die an den wahren Gott glauben und gut sind, ein Übergang von der Erde zum Himmel ist, wirst du im Himmel einen Platz nahe bei deinem Herrn haben», sagt Jesus, indem er die Hand auf das Haupt des Mädchens legt, das nun niederkniet und spricht: «Bei dir. Es ist schön, bei dir zu sein. Trenne dich nicht mehr von mir, Jesus. Jetzt

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weiß ich, wer du bist und werfe mich vor dir nieder. In Caesarea fürchtete ich mich, dies zu tun ... Du schienst mir nur ein Mensch zu sein. Jetzt aber weiß ich, daß du ein im Menschen verborgener Gott und mir ein Vater und Beschützer bist.»

«Und ein Erlöser, Aurea Galla.»

«Und ein Erlöser. Du hast mich gerettet.»

«Und ich werde dich auch weiterhin retten. Du wirst einen neuen Namen erhalten...»

«Willst du mir den Namen nehmen, den mir mein Vater gegeben hat? Der Herr der Insel nannte mich Aurea Quintilia; denn wir wurden nach Farbe und Zahl eingeteilt, und ich war die fünfte Blonde... Aber warum läßt du mir nicht den Namen, den mir mein Vater gegeben hat?»

«Ich nehme ihn dir nicht. Aber ihm kannst du deinen neuen ewigen Namen hinzufügen.»

«Welchen?»

«Christin, weil Christus dich gerettet hat. Aber sieh, der Tag beginnt. Laßt uns aufbrechen... Siehst du, Nathanael, daß es leicht ist, von Gott zu den leeren Abgründen zu sprechen... Du hast sehr gut gesprochen, und das Mädchen wird rasch Fortschritte machen... Geh nun mit meinen Brüdern voraus, Aurea.»

Das Mädchen gehorcht, aber noch sehr scheu. Es würde lieber bei Bartholomäus bleiben.

Dieser merkt es und verspricht: «Ich komme auch gleich. Gehorche, geh...» Und als er mit Jesus, Petrus, Simon und Matthäus allein geblieben ist, bemerkt er: «Schade, daß Valeria sie bekommt. Sie ist immerhin noch eine Heidin...»

«Ich kann sie nicht Lazarus aufdrängen...»

«Es gibt doch auch Nike, Meister», schlägt Matthäus vor.

«Und Elisa ...» sagt Petrus.

«Und Johanna... Sie ist eine Freundin der Valeria, und Valeria übergibt sie ihr sicher gern. Da wäre sie in einem guten Haus», sagt der Zelote.

Jesus denkt nach und schweigt ...

«Du wirst wissen, was zu tun ist ... Ich gehe zu dem Mädchen, da es sich ständig nach mir umdreht. Sie vertraut mir wegen meines Alters... Ich würde sie zu mir nehmen... Eine Tochter mehr... Aber sie ist nicht von Israel...» und er geht, der gute, aber allzu israelitisch gesinnte Nathanael.

Jesus sieht ihm nach und schüttelt den Kopf.

«Warum schüttelst du den Kopf, Meister?» fragt der Zelote.

«Weil... es mir leid tut, sehen zu müssen, daß auch die Weisen Sklaven der Voreingenommenheit sind...»

«Aber ... unter uns gesagt... Bartholomäus hat recht ... und du solltest vorsorgen ... Erinnere dich an Syntyche und Johannes ... Geben wir acht, daß nicht wieder etwas Ähnliches geschieht... Schicke sie zu Syntyche...»

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sagt Petrus, der befürchtet, daß sie wegen der kleinen Heidin Unannehmlichkeiten bekommen könnten.

«Johannes wird bald sterben... Syntyche ist noch zu wenig ausgebildet, um Lehrerin eines Mädchens wie dieses sein zu können... Es wäre nicht die richtige Umgebung für sie...»

«Aber du kannst sie doch nicht bei dir behalten. Bedenke, daß Judas bald wieder bei uns sein wird. Und Judas – das laß mich dir sagen, ist ein genußsüchtiger Mensch und einer ... der leicht zum Reden geneigt ist, wenn er Nutzen daraus ziehen kann ... Zudem hat er zu viele Freunde unter den Pharisäern», drängt der Zelote.

«Ja! Simon hat recht! Genau das dachte ich auch», ruft Petrus aus. «Höre auf ihn, Meister! ...»

Jesus denkt nach und schweigt ... Dann sagt er: «Beten wir und der Vater wird uns helfen...» und während sie hinter den anderen hergehen, beten sie inbrünstig.

Das Morgengrauen geht über ins Morgenrot ... Sie kommen an einem Dörflein vorbei und gehen dann weiter durch die Felder... Die Sonne scheint immer heißer, und sie halten an, um im Schatten eines riesigen Nußbaumes etwas zu essen.

«Bist du müde?» fragt Jesus das Mädchen, das nur widerwillig ißt. «Sage es nur, dann machen wir hier eine längere Pause.»

«Nein, nein, gehen wir weiter...»

«Wir haben sie schon mehrmals gefragt. Aber sie sagt immer "Nein"...» bemerkt Jakobus des Alphäus.

«Ich schaffe es. Gehen wir weit fort...»

Wieder machen sie sich auf den Weg, und plötzlich erinnert sich Aurea an etwas. «Ich habe eine Börse. Die Frauen haben mir gesagt: "Du sollst sie ihm übergeben, wenn die Berge beginnen." Die Berge sind da, und ich gebe sie dir.» Sie kramt in dem Beutel, in den Lydia einige Kleidungsstücke für sie gesteckt hat... zieht die Börse hervor und übergibt sie Jesus.

«Die Liebesgabe... Sie wollten keine Dankesworte. Sie sind besser als viele von uns... Nimm es, Matthäus, und bewahre dieses Geld auf. Wir werden es für heimliche Almosen gebrauchen.»

«Soll ich Judas von Kerioth nichts davon sagen?»

«Nein.»

«Er wird das Mädchen sehen...»

Jesus antwortet nicht. Sie nehmen erneut den Marsch auf, der wegen der großen Hitze, des Staubes und des blendenden Lichtes sehr mühsam ist. Dann beginnt der Anstieg auf den ersten Vorläufer des Karmel, glaube ich, und obwohl es hier schattiger und frischer ist, geht Aurea langsam und stolpert oft.

Bartholomäus kehrt zum Meister zurück. «Meister, das Kind ist erschöpft und fiebert. Was sollen wir tun?»

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Sie beraten miteinander. Anhalten? Es tragen und weitergehen? Ja. Nein. Am Ende beschließen sie, wenigstens bis zur Hauptstraße zu gehen, die nach Sycaminon führt, und dort einen Reisenden anzuhalten, der es auf sein Pferd oder in seinen Wagen nehmen kann. Sie wollen das Kind auf den Arm nehmen, doch, heroisch in seinem Willen, immer noch weiter fortzukommen, wiederholt es: «Ich schaffe es! Es geht noch!» und will allein gehen. Es ist rot, hat fiebrige Augen und ist wirklich erschöpft. Aber es gibt nicht nach... Es geht langsam und läßt sich von Bartholomäus und Philippus stützen... Alle sind wirklich müde, aber sie verstehen, daß man weitergehen muß, und sie gehen...

Der Hügel liegt hinter ihnen und die Küste auf der anderen Seite kommt in Sicht... Die Ebene Esdrelon breitet sich unter ihnen aus, und jenseits davon die Hügel, zwischen denen Nazareth liegt...

«Wenn wir nichts finden, werden wir bei einem Bauern haltmachen...»sagt Jesus.

Sie gehen und gehen... Als sie schon fast die Ebene erreicht haben, begegnen sie einer Gruppe von Jüngern. Isaak, Johannes von Ephesus mit seiner Mutter und Abel von Bethlehem mit der seinen sind unter ihnen, und andere, deren Namen ich nicht kenne. Die Frauen sitzen auf einem einfachen Karren, der von einem starken Maultier gezogen wird. Dann sind noch Daniel und Benjamin, die Hirten, Joseph, der Fährmann, und andere da.

«Das ist die Vorsehung, die uns zu Hilfe kommt!» ruft Jesus aus und befiehlt den Aposteln, stehenzubleiben, während er zu den Jüngern geht, um mit ihnen und besonders mit den beiden Frauen zu sprechen. Er nimmt sie zusammen mit Isaak zur Seite und erzählt ihnen teilweise das Geschick der Aurea: «Wir haben sie einem unreinen Herrn weggenommen... Ich möchte sie nach Nazareth bringen und sie dort pflegen lassen, denn sie ist aus Furcht und Erschöpfung krank geworden, aber ich habe kein Fahrzeug. Wo wolltet ihr hinfahren?»

«Zu Myrtha nach Bethlehem in Galiläa. Es ist unmöglich, diese Hitze in der Ebene zu ertragen», antwortet Isaak.

«Fahrt zuerst nach Nazareth, ich bitte euch darum. Bringt das Mädchen zu meiner Mutter und sagt ihr, daß ich in zwei bis drei Tagen bei ihnen sein werde. Das Kind hat Fieber. Achtet daher nicht auf das, was es im Fieberwahn redet. Ich werde euch später erklären ...»

«Ja, Meister. Wie du willst. Wir machen uns sofort auf den Weg. Armes Kind! Hat er es geschlagen?» fragen die drei.

«Er wollte es schänden.»

«Wie alt ist es denn?»

«Kaum dreizehn ...»

«Dieser gemeine Kerl! Dieser Unreine! Aber wir werden es liebhaben. Nicht umsonst sind wir Mütter, nicht wahr, Noemi?»

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«Gewiß, Myrtha. Herr, nimmst du sie als Jüngerin an?»

«Ich weiß es noch nicht...»

«Wenn ja, dann stehen wir dir zur Verfügung. Ich kehre nicht nach Ephesus zurück. Ich habe Freunde hingeschickt, um alles erledigen zu lassen. Ich bleibe bei Myrtha... Erinnere dich unser des Mädchens wegen. Du hast uns die Kinder gerettet. Wir wollen nun dieses Mädchen retten.»

«Wir werden später sehen ...»

«Meister, die beiden Jüngerinnen leisten genügend Gewähr für ihre Heiligkeit», sagt Isaak.

«Es hängt nicht von mir ab... Betet viel und schweigt gegenüber allen. Habt ihr verstanden? Gegenüber allen.»

«Wir werden schweigen.»

«Kommt mit dem Wagen.» Jesus kehrt zurück, gefolgt von Isaak, der den Wagen lenkt, und von den beiden Frauen.

Das Mädchen hat sich ins Gras gelegt und sucht in seinem hohen Fieber die kühlende Frische der Grashalme...

«Armes Kind! Es wird doch nicht sterben, nicht wahr?»

«Welch ein schönes Mädchen!»

«Liebes Kind, fürchte dich nicht. Ich bin eine Mutter, weißt du? Komm... Stütze sie, Myrtha... Sie wankt... Hilf uns, Isaak... Hier wird sie am wenigsten die Räder spüren... Den Beutel unter den Kopf... Legen wir ihr unsere Mäntel unter... Isaak, tränke diese Tüchlein mit Wasser, damit wir sie ihr auf die Stirn legen können... Welch ein Fieber, armes Kind! ...»

Die beiden Frauen bemühen sich um sie wie Mütter. Aurea, von Fieber geschüttelt, ist fast gänzlich abwesend...

Alles ist in Ordnung... Der Wagen kann abfahren. Doch bevor Isaak die Peitsche zur Hand nimmt, erinnert er sich an etwas: «Meister, wenn du zur Brücke kommst, wirst du Judas von Kerioth treffen. Er wartet auf dich wie ein Bettler... Er ist es, der uns gesagt hat, daß du hier vorbeikommen würdest. Lebe wohl, Meister! Bei Einbruch der Nacht werden wir in Nazareth sein!»

«Der Friede sei mit dir, Meister», sagen die Jüngerinnen.

«Der Friede sei mit euch!»

Der Wagen fährt im Trab davon...

«Dem Herrn sei gedankt», sagt Jesus.

«Ja. Es ist gut für das Mädchen und auch gut wegen Judas... Es ist besser, wenn er nichts von ihr erfährt...»

«Ja, es ist besser. So viel besser, daß ich nun von euren Herzen ein Opfer fordere. Wir werden uns vor Nazareth trennen, und ihr vom See geht mit Judas nach Kapharnaum, während ich mich mit den Brüdern und Thomas und Simon nach Nazareth begebe.»

«So werden wir es machen, Meister. Und was sollen wir denen sagen, die auf dich warten?»

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«Daß wir es eilig hatten, meiner Mutter mitzuteilen, daß ich komme... Gehen wir...» Und er holt die Jünger ein, die aus lauter Freude, den Meister bei sich zu haben, keinerlei Fragen stellen.

476. DAS GLEICHNIS VOM WEINBERG UND VOM FREIEN WILLEN

«Der Friede sei mit euch, meine Freunde! Der Herr ist gut. Er gewährt uns, daß wir uns zu einem brüderlichen Mahl zusammenfinden. Wohin wolltet ihr gehen?» fragt Jesus die einstigen Hirten, während er in ein Wäldchen geht, um sich vor der Sonne zu schützen.

«Die einen zum Meer, die andern in die Berge; aber bis hierher sind wir zusammen gegangen und immer zahlreicher geworden, da wir unterwegs anderen Gruppen begegnet sind», sagt Daniel, der einstige Hirte vom Libanon.

«Ja, und wir beide wollen sogar weiter bis zum großen Hermon, wo wir einst die Herden geweidet haben, um nun die Herzen zu weiden», sagt Benjamin, sein Begleiter.

«Das ist eine gute Idee. Ich werde für einige Zeit nach Nazareth gehen, und dann bis zum Neumond des Elul zwischen Kapharnaum und Bethsaida sein. Das sage ich euch, damit ihr mich finden könnt, wenn ihr mich brauchen solltet. Setzt euch. Legen wir unseren Reisevorrat zusammen, um ihn gerecht miteinander zu teilen.»

So breiten sie also auf einem Tuch ihre... Schätze aus: Fladenbrote, Käse, gesalzenen Fisch, Oliven, Eier und die ersten Äpfel. So wie sie freudig gegeben haben, so verteilen sie auch frohen Herzens, was Jesus aufgeopfert und gesegnet hat.

Wie sehr sie sich über dieses unverhoffte Liebesmahl freuen! Müdigkeit und Hitze haben sie vergessen in ihrem Glück, Jesus zu hören, der sie befragt über das, was sie getan haben, ihnen Ratschläge erteilt oder erzählt, was er selbst gewirkt hat. Und wenn sie auch in dieser heißesten Stunde dieses dunstigen Tages die Schläfrigkeit fast übermannt, so ist das Interesse doch so groß, daß niemand sich dem Schlaf hingibt. Vielmehr stecken sie den übriggebliebenen, wiederum redlich verteilten Proviant ein, ziehen sich noch tiefer ins Dickicht des Hügels zurück, setzen sich im Schatten der Bäume um Jesus herum und bitten ihn um ein schönes Gleichnis, das ihnen als Lebensregel und zur Unterweisung dienen kann.

Jesus sitzt so, daß er die Ebene Esdrelon vor sich hat, auf der man zwar kein Getreide mehr, dafür aber fruchtbare Weingärten und Obstbäume sehen kann. Er läßt seinen Blick über die Landschaft schweifen, wie um in dem, was er vor sich sieht, ein Thema zu suchen. Dann lächelt er. Er hat

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es gefunden und beginnt mit einer allgemeinen Frage: «Nicht wahr, die Weingärten dieser Ebene sind schön?»

«Sehr. Sie sind außergewöhnlich schwer mit reifenden Trauben behangen. Sie werden sehr gut gepflegt und bringen daher viel Frucht.»

«Es sind sicher edle Gewächse...» bemerkt Jesus und fügt hinzu: «Da fast die ganze Ebene reichen Pharisäern gehört, werden sie sich gute Pflanzen angeschafft haben, ohne die Kosten zu scheuen.»

«Oh! Es würde nichts nützen, die besten Pflanzen erworben zu haben, wenn man nicht fortfahren würde, sie beständig zu pflegen! Ich verstehe etwas davon, denn auf meinen Besitzungen sind nur Weingärten. Hätte ich selbst nicht darin gearbeitet und geschwitzt, wie es jetzt meine Brüder weiterhin tun, glaube mir, Meister, ich könnte dir bei der Weinlese nicht diese Trauben anbieten wie im vergangenen Jahr», sagt ein kräftiger Mann von etwa vierzig Jahren, den ich schon einmal gesehen habe, dessen Name mir aber entfallen ist.

«Du hast recht, Kleophas. Das ganze Geheimnis, um gute Früchte zu ernten, liegt in der Pflege, die man seinen Gütern angedeihen läßt», sagt ein anderer.

«Gute Früchte und guten Gewinn. Denn wenn der Boden nur das geben würde, was man hineingesteckt hat, wäre es immer eine schlechte Geldanlage. Der Boden muß als Frucht zunächst das Kapital einbringen, das er uns gekostet hat; und ferner einen Gewinn, der es uns erlaubt, unseren Reichtum zu vermehren. Denn man muß bedenken, daß ein Vater sein Gut eines Tages unter die Söhne aufteilen muß, und aus einem Besitz an Landgütern oder Geld muß er so viele Teile machen, als er Söhne hat, damit alle zu leben haben. Ich glaube nicht, daß diese Vervielfachung des Besitzes für die Söhne zu verwerfen ist», stellt Kleophas fest.

«Es ist nicht verwerflich, wenn er durch ehrliche Arbeit und auf redliehe Weise erworben wurde. Du sagst also, daß trotz der Güte der gepflanzten Setzlinge noch viel gearbeitet werden muß?»

«Und wie! Noch bevor sie die ersten Trauben bringen... Denn es braucht Zeit! Daher heißt es, Geduld haben und arbeiten, auch wenn die Weinstöcke zunächst einmal nur Blätter tragen. Dann, später, wenn sie schon Frucht bringen und stark sind, heißt es achtgeben, daß sie keine unnützen Triebe bekommen, daß keine schädlichen Insekten auftauchen, daß das Unkraut nicht dem Erdreich die Nahrung entzieht oder Brombeersträucher und Zaunwinden die Reben ersticken; ferner heißt es, das Erdreich über den Wurzeln locker zu halten und Gräben zu ziehen, damit der Tau eindringen kann und das Wasser dort etwas länger bleibt, wo es die Pflanze nährt. Man muß auch düngen, eine unangenehme Arbeit, die aber erforderlich ist, obschon sie schwerfällt; denn die so süßen und schönen Traubenbeeren, von denen jede einer kostbaren Perle gleicht, bilden sich, indem sie gerade diesen dunklen, übelriechenden Mist aufsaugen. Es

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scheint unmöglich, aber er ist so. Dann folgt das Entblättern, damit die Sonne auf die Trauben scheinen kann. Nach der Weinlese müssen die Pflanzen wieder in Ordnung gebracht werden durch Aufbinden, Beschneiden und Bedecken der Wurzeln mit Stroh und Mist, um sie vor dem Frost zu schützen. Auch im Winter muß man hingehen und schauen, ob nicht etwa der Wind oder ein Bösewicht die Pfähle ausgerissen hat... Oh! Es gibt immer Arbeit, bis der Weinstock irgendwann einmal gänzlich abgestorben ist... und selbst dann geht es weiter, denn der Wurzelstock muß ausgegraben werden, um die Erde für einen neuen Setzling vorzubereiten. Du weißt, daß man eine leichte und geduldige Hand und ein gutes Auge haben muß, um die Reben der abgestorbenen Pflanze von denen der noch lebenden zu trennen. Wenn man unklug und mit ungeschickter Hand vorginge, würde man großen Schaden anrichten! Man muß also von dieser Arbeit etwas verstehen... Und die Weinstöcke? Sie sind wie die Kinder! Bevor der Sohn erwachsen ist, wieviel Mühe hat man da, um ihn an Leib und Seele gesund zu erhalten! ... Aber ich rede und rede und lasse dich nicht zu Wort kommen... Du hast uns ein Gleichnis versprochen...»

«Eigentlich hast du es schon erzählt. Es würde genügen, Folgerungen daraus abzuleiten und zu erklären, daß die Seelen wie die Weinstöcke sind...»

«Nein, Meister, sprich du. Ich... Ich habe nur Unsinn geredet, und wir können nicht selbst Schlüsse daraus ziehen...»

«Gut. So hört.

Als wir animalisches Fleisch im Schosse unserer Mutter waren, schuf Gott im Himmel die Seele, um den künftigen Menschen nach seinem Ebenbild zu gestalten, und senkte sie in das Fleisch, das sich in einem Mutterschoß heranbildete. Als die Zeit der Geburt kam, wurde der Mensch mit seiner Seele geboren, die sich bis zum Gebrauch der Vernunft im Zustand eines unbebauten Ackers befand. Als der Mensch das Alter Vernunft erreicht hatte, begann er zu denken und das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Da bemerkte er, daß er einen Weinberg besaß, den er nach Belieben bebauen konnte. Er erkannte auch, das ihm ein Winzer zur Verfügung stand, der die Aufsicht über diesen Weinberg führt: sein freier Wille.

Tatsächlich ist die Entscheidungsfreiheit, die Gott dem Menschen, seinem Sohn, gewährt hat, ein erfahrener Knecht, der ihm hilft, den Weinberg, d.h. die Seele, fruchtbar zu machen.

Wenn der Mensch sich nicht selbst abmühen müßte, um reich zu werden, um sich ein ewiges übernatürliches Vermögen zu schaffen, und ihm alles von Gott gleichsam in den Schoß gelegt würde, welches Verdienst hätte er dann, wenn er sich die Heiligkeit wieder erwirbt, nachdem er durch Luzifer die ursprüngliche Heiligkeit verloren hat, die den ersten Menschen von Gott umsonst gewährt wurde? Es ist schon viel, daß Gott

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den Menschen mit ihrer Erbschuld die Möglichkeit bietet, sich den Lohn zu verdienen und heilig und wiedergeboren zu werden, mit Hilfe des eigenen Willens zur ursprünglichen Vollkommenheit zurückzukehren, die der Schöpfer Adam und Eva für sich und ihre Nachkommen geschenkt hatte, falls sie treu und sündenlos geblieben wären.

Der gefallene Mensch muß durch seinen freien Willen wieder ein auserwählter Mensch werden. Was geschieht indessen in den Seelen?

Der Mensch vertraut seine Seele seinem Willen und seiner Entscheidungsfreiheit an, die beginnt, ihren Weinberg zu bearbeiten, der bis dahin ein Erdreich ohne dauerhafte Bepflanzung gewesen ist. Nur zarte Kräuter und hinfällige Blumen sind in den ersten Jahren auf ihm gewachsen: die instinktive Güte des Kindes, weil es noch ein Engelchen ist, ohne Kenntnis des Guten und des Bösen.

Ihr werdet fragen: "Wie lange bleibt es so?" Gewöhnlich sagt man: "Die ersten sechs Jahre." Jedoch sind manche Kinder schon früher vor ihrem Gewissen verantwortlich, da sie Gutes und Böses schon mit drei oder vier Jahren unterscheiden können. Von diesem Zeitpunkt an, da der Mensch die gute Tat von der bösen Tat zu unterscheiden vermag, trägt er die Verantwortung, vorher nicht. So ist ein Schwachsinniger, selbst wenn er hundert Jahre alt wäre, nicht verantwortlich, doch trägt in diesem Fall sein Vormund die Verantwortung, und dieser muß darauf achten, daß weder sein Schützling noch andere seinetwegen Schaden erleiden. Gott rechnet also dem Irren oder dem Schwachsinnigen keine Schuld an, da er zu seinem Unglück seines Verstandes beraubt ist.

Wir aber sprechen von körperlich und geistig gesunden Menschen.

Der Mensch vertraut also seinen brachliegenden Weinberg seinem Arbeiter, dem freien Willen, an, und dieser beginnt, ihn zu bearbeiten. Die Seele: der Weinberg, hat jedoch eine Stimme und läßt sie den freien Willen hören. Eine übernatürliche Stimme, die sich aus übernatürlichen Stimmen zusammensetzt, welche Gott den Seelen nie verweigert: die des Schutzengels, die der von Gott gesandten Geister, die der Weisheit, die der übernatürlichen Erinnerungen, die jeder Seele geliehen sind, selbst wenn sie nicht klar zum Bewußtsein kommen. Die Stimme mahnt den freien Willen sanft, wohl auch flehentlich, den Weinberg mit guten Pflanzen auszustatten, fleißig und weise zu sein, damit aus ihm nicht ein wildes, bösartiges und giftiges Dorngestrüpp werde, in dem sich Schlangen und Skorpione einnisten und das dem Wolf, dem Steinmarder und anderen niederträchtigen Tieren Unterschlupf bietet. Nicht immer ist der freie Wille ein guter Winzer. Nicht immer umhegt er den Weinberg mit einem unüberwindlichen Zaun, d.h. mit einem festen und guten Willen, um die Seele vor Räubern zu schützen, vor Parasiten und anderen schädlichen Dingen: vor heftigen Winden, die die Blüten der guten Entschlüsse zum Abfallen bringen, kaum daß der Wunsch sie gebildet hat. Oh! Mit welch

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einer starken und hohen Hecke muß man das Herz umgeben, um es vor dem Bösen zu retten! Wie sehr muß man darüber wachen, daß diese Umzäunung nicht durchbrochen wird, daß sich keine großen Lücken darin finden, durch die Leichtsinn und Vergeudung eindringen können, oder kleine, versteckte Löcher, durch die sich die Schlangen einschleichen: die sieben Hauptlaster. Wie notwendig ist es, das Unkraut auszumerzen und zu verbrennen, den Boden zu bewässern und umzugraben, zu düngen durch Abtötung, die Seele zu pflegen durch Liebe zu Gott und dem Nächsten. Mit klarem aufmerksamen Auge wache man darüber, daß anscheinend gute Triebe sich später nicht als schädlich erweisen; und sollte dies geschehen, so muß man sie ohne Erbarmen ausreißen. Lieber eine einzige, aber vollkommene Pflanze als viele unnütze oder schädliche.

Es gibt Herzen, also Weinberge, die von unordentlichen Winzern bearbeitet und bepflanzt werden; diese verrichten Arbeiten, haben Ideen und Wünsche, die nicht immer schlecht sein müssen, die aber, wenn man sich nicht um sie kümmert, schlecht werden können, zu Boden fallen, entarten und absterben. Wie viele Tugenden gehen zugrunde, weil sie mit Sinnlichkeit gemischt sind, weil sie nicht gepflegt werden, weil schließlich der freie Wille nicht von der Liebe unterstützt wird! Wie viele Diebe schleichen sich ein, um zu rauben, herumzuwühlen, auszureißen, weil das Gewissen schläft, anstatt zu wachen; weil der Wille seine Kraft verliert und sich bestechen läßt, weil sich der freie Wille in seinen Entscheidungen vom Bösen verführen und versklaven läßt.

Bedenkt also: Gott gibt ihm die Freiheit, und der Wille macht sich selbst zum Sklaven der Leidenschaften, der Sünde, der Begierden, allgemein gesagt: des Bösen. Hochmut, Zorn, Geiz und Wollust sind anfänglich nur unter die guten Pflanzen gemischt, werden aber dann vorherrschend. Welch ein Elend! Welche Dürre kommt dann über die Pflanzen, weil nicht mehr gebetet wird, und doch ist das Gebet Vereinigung mit Gott und deshalb wohltuender Tau für die Seele. Oft läßt der Rauhreif aus mangelnder Gottes- und Nächstenliebe die Wurzeln erfrieren! Oft wird das Erdreich kraftlos, weil man sich weigert, den Dünger der Abtötungen, der Demut anzuwenden! Oft gibt es Verstrickungen guter und schlechter Zweige, weil man nicht den Mut hat, zu beschneiden, was schadhaft ist! Das ist der Zustand einer Seele, die als Heger und Pfleger einen ungeordneten, zum Bösen neigenden Willen hat.

Wenn hingegen die Seele einen Willen besitzt, der im Einklang mit der Ordnung lebt, also im Gehorsam gegen das Gesetz, das gegeben wurde, damit der Mensch wisse, was er ist, wie er ist und wie man Ordnung bewahrt; wenn sie heldenhaft dem Guten treu ist, weil das Gute den Menschen erhebt und ihn Gott ähnlich macht, während das Böse ihn verunstaltet und ihn dem Teufel ähnlich macht, dann ist sie ein von reinen, reichlichen, nutzbringenden Wassern des Glaubens bewässerter Weinberg; dann

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ist sie gebührend beschattet von den Pflanzen der Hoffnung, bestrahlt von der Sonne der Liebe, ausgestattet mit einem starken Willen, gedüngt durch die Selbstverleugnung, gebunden durch den Gehorsam, beschnitten durch die Festigkeit, geleitet von der Gerechtigkeit, bewacht von Klugheit und Gewissenhaftigkeit. Mit Hilfe alles dessen wächst die Gnade, die Heiligkeit nimmt zu, und der Weinberg wird zu einem wunderbaren Garten, in den Gott herabsteigt, um sich an ihm zu erfreuen und dafür zu sorgen, auf daß dieser vollkommene Garten sich erhalte bis zum Tode seines Geschöpfes. Und dann läßt er durch seine Engel diese Arbeit eines freien, guten Willens in den großen, ewigen Garten der Himmel hinübertragen.

Sicherlich sehnt auch ihr euch nach einem solchen Schicksal. Wacht also darüber, daß der Dämon, die Welt und das Fleisch nicht euren freien Willen verführen und eure Seele verwüsten. Wacht darüber, daß in euch immer die Liebe sei, aber nicht die Eigenliebe, die die echte Liebe auslöscht und die Seele zum Spielball aller Arten von Sinnenlust und Unordnung macht. Wacht bis zum Ende, dann werden die Unwetter euch wohl durchnässen, aber sie werden euch nicht schaden können, und reich beladen mit Früchten werdet ihr vor euren Herrn treten, um den ewigen Lohn zu empfangen.

Ich habe meine Lehre beendet. Denkt nun darüber nach und ruht euch aus bis zum Sonnenuntergang, während ich mich zum Gebet zurückziehe.»

«Nein, Meister. Wir dürfen uns nicht mit Verspätung auf den Weg machen, um die Häuser zu erreichen», sagt Petrus.

«Warum? Es ist doch noch Zeit bis zum Sonnenuntergang», sagen viele.

«Ich denke weder an den Sonnenuntergang noch an den Sabbat. Ich bin sicher, es wird kaum eine Stunde vergehen, bis ein furchtbares Unwetter über uns hereinbricht. Seht ihr nicht, welch schwarze Wolken am Himmel hinter den Bergen von Samaria aufsteigen? Und die weißen, die so schnell von Westen her kommen? Ein Höhenwind treibt die einen, ein Talwind die anderen. Aber wenn sie hier sind, wird der Höhenwind dem Schirokko weichen, die schwarzen Wolken, alles Hagelwolken, werden heruntersinken und auf die weißen stoßen, die mit Blitzen geladen sind, und dann werdet ihr eine schöne Musik hören! Auf! Schnell! Ich bin ein Fischer und lese vom Himmel ab.»

Jesus ist der erste, der gehorcht, und alle machen sich schleunigst auf den Weg zu den Gehöften in der Ebene.

An der Brücke begegnen sie Judas, der ruft: «Oh! Mein Meister! Wie habe ich doch gelitten ohne dich! Gott sei gelobt, daß er meine Ausdauer, mit der ich hier auf dich gewartet habe, belohnt hat! Wie ist es in Caesarea gegangen?»

«Der Friede sei mit dir, Judas», antwortet Jesus kurz und fügt an: «Wir

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werden darüber sprechen, wenn wir in den Häusern sind. Komm, denn ein Gewitter droht.»

Tatsächlich beginnen Windstöße Staubwolken von den trockenen Straßen aufzuwirbeln, und der Himmel bedeckt sich mit Wolken aller Formen und Farben. Die Luft wird gelb und fahl... Schon fallen vereinzelt dicke warme Tropfen und die ersten Blitze fahren über den Himmel, der fast so schwarz wie die Nacht wird... Sie beginnen zu laufen, und ihre geübten Beine, beflügelt von dem Verlangen, nicht von einem Wolkenbruch durchnäßt zu werden, lassen sie gerade das erste Haus erreichen, als nach einem Blitz und einem nahen Donner ein mit Hagel vermischter Platzregen herunterprasselt. Die ganze Gegend riecht nach nasser Erde und nach dem Ozon, das die rasch aufeinanderfolgenden Blitze erzeugen...

Sie gehen hinein, und zum Glück ist das Haus mit Säulengängen ausgestattet und von Bauern bewohnt, die an den Messias glauben. Voller Ehrfurcht laden sie den Meister ein, mit seinen Begleitern bei ihnen einzukehren und das Haus als sein Eigentum zu betrachten. «Aber erhebe deine Hand, daß sie den Hagel in die Flucht schlage, aus Erbarmen mit unserer Arbeit», sagen sie, während sie sich um Jesus scharen.

Jesus erhebt die Hand und segnet nach allen vier Himmelsrichtungen, und nun fällt nur noch der Regen vom Himmel, tränkt Obstgärten, Weinberge und Wiesen und reinigt die so drückende Atmosphäre.

«Sei gesegnet, o Herr», sagt das Familienoberhaupt. «Tritt ein, mein Herr!»

Und während das Rauschen noch andauert, betritt Jesus einen großen Raum, sicher ein Warenlager, und setzt sich müde nieder, umgeben von den Seinen.

477. UNTERWEGS IN DER EBENE VON ESDRELON

Es muß gestern den ganzen Tag und auch in der Nacht geregnet haben, denn die Erde ist sehr naß, und die Wege sind fast etwas schlammig. Aber dafür ist die Atmosphäre klar, ohne Staub in jeglicher Höhenlage. Der Himmel dort oben strahlt fast frühlingshaft, wie verjüngt durch das Gewitter, das die Luft gereinigt hat. Auch die nasse, frische, reine Erde lacht und erinnert in dieser Morgenfrische nach dem Unwetter an den Frühling. Die letzten Tropfen, die auf dem Laub zurückgeblieben sind oder an den Rebschossen hängen, leuchten wie sonnenbeschienene Diamanten, während die vom Regen gewaschenen Früchte nun die wahren Farben ihrer Schalen zeigen, deren Pastellfärbung von Tag zu Tag bis zur Reife immer vollendeter wird. Nur die Weintrauben und die Oliven, noch herb und hart, verstecken sich im Grün der Blätter. Aber jede Olive hat ihr

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Tröpflein an der Spitze hängen, und die prallen Trauben bilden ein ganzes Netz von Tröpflein, die sich an den Stielen der Beerchen festhalten.

«Wie leicht läßt es sich heute wandern!» sagt Petrus, der freudig auf den Boden stampft, von dem kein Staub mehr aufsteigt, der nicht mehr brennend heiß ist und auf dem man nicht einmal ausgleitet.

«Man hat das Gefühl, Reinheit einzuatmen. Schau doch, welch eine Farbe der Himmel hat!» erwidert Judas Thaddäus.

«Und diese Äpfel! Besonders diese Ansammlung von Äpfeln um den einen Zweig, der, ich weiß nicht wie, ihrer Last standhält und mit seinem Blätterschopf zwischen den Früchten herausschaut! Wie viele Farben! Diese verborgenen hier sind gelbgrünlich, andere schon rosig, und zwei, die der Sonne am stärksten ausgesetzt waren, sind schon ganz rot, wie wenn sie mit Siegellack bestrichen wären!» sagt der Zelote.

So gehen sie freudig weiter, vertieft in die Betrachtung der Schönheiten alles Erschaffenen, bis Thaddäus einen Psalm anstimmt, in dem die Herrlichkeiten der Schöpfung Gottes gepriesen werden, und Thomas und dann auch die anderen singen mit.

Jesus lächelt, da er sie so zufrieden singen hört, und vereinigt seine schöne Stimme mit denen des Chores. Doch kann er nicht mit ihnen bis zu Ende singen, weil Iskariot sich ihm nähert und sagt: «Meister, während die andern mit Singen beschäftigt und abgelenkt sind, sage mir: Was hast du in Caesarea getan? Du hast mir noch nichts davon erzählt... und dies ist das erste Mal, daß wir unter vier Augen sprechen können. Zuerst waren die Kameraden, die Jünger und die Bauersleute, die uns aufgenommen haben, da, dann haben dich wieder die Jünger und die Gefährten umringt; erst jetzt, da die Jünger und Kameraden uns vorausgehen, habe ich Gelegenheit, dich zu fragen ...»

«Es scheint dich sehr zu interessieren... Aber in Caesarea habe ich nichts anderes getan als das, was ich auch jetzt in den Gefilden des Jochanan tun werde. Ich habe über das Gesetz und vom Himmelreich gesprochen.»

«Zu wem?»

«Zu den Stadtbewohnern auf den Märkten.»

«Ah! Zu den Römern nicht! ? Hast du sie nicht gesehen?»

«Wie wäre es möglich, in Caesarea, dem Sitz des Prokonsuls, zu sein und keine Römer zu sehen?»

«Ich weiß. Aber ich meine... Nun... Eigens für sie hast du nicht gesprochen?»

«Ich wiederhole: Es scheint dich sehr zu interessieren!»

«Nein, Meister. Es ist einfach Neugierde.»

«Nun gut. Ich habe mit den Römerinnen gesprochen.»

«Auch mit Claudia? Was hat sie dir gesagt?»

«Nichts, denn Claudia hat sich nicht gezeigt. Im Gegenteil, sie hat mir

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zu verstehen gegeben, daß die Öffentlichkeit nichts von ihren Beziehungen zu uns erfahren darf.» Jesus betont diesen letzten Satz besonders und beobachtet Judas genau, der, obschon er ein frecher Kerl ist, die Farbe wechselt und nach einem leichten Erröten blaß wird.

Aber er faßt sich schnell wieder und sagt: «Sie will es nicht? Schätzt sie dich nicht mehr? Sie ist eine Närrin!»

«Nein, sie ist keine Närrin. Sie ist ausgeglichen und weiß genau ihre Pflichten als Römerin und ihre Pflichten sich selbst gegenüber auseinanderzuhalten; denn wenn sie auch ihrem eigenen Ich Licht und Luft verschafft, indem sie zum Licht und zur Reinheit kommt, da sie ein Wesen ist, das instinktiv die Wahrheit sucht und sich nicht von der Lüge des Heidentums unterdrücken läßt, so will sie doch andererseits ihrem Vaterland nicht schaden, indem sie den Gedanken aufkommen läßt, daß sie für einen möglichen Rivalen Roms Partei ergreift...»

«Oh! Aber... du bist doch König im Reich des Geistes!»

«Und selbst unter euch, die ihr das wißt, gibt es solche, die sich nicht davon überzeugen wollen. Kannst du es leugnen?»

Judas wird wieder rot und dann bleich. Er kann es nicht leugnen und sagt: «Nein! Aber es ist die allzu große Liebe, die ...»

«Noch mehr Grund hat jemand, der mich nicht kennt, d.h. Rom, in mir einen Rivalen zu befürchten. Claudia handelt als rechtschaffener Mensch, sowohl Gott als auch ihrem Vaterland gegenüber, indem sie mir Ehre erweist, wenn auch nicht als Gott, so doch als König und Meister des Geistes, und ihrem Vaterland die Treue hält. Ich bewundere die treuen Seelen, die gerecht und nicht eigensinnig sind, und ich wollte, auch meine Apostel verdienten das Lob, das ich der Heidin zolle.»

Judas weiß nicht, was er sagen soll. Er ist daran, den Meister allein weitergehen zu lassen. Aber dann treibt ihn die Neugierde zu einer weiteren Frage – mehr als die Neugierde – das Verlangen zu wissen, inwieweit der Meister informiert ist: «Hat man nach mir gefragt?»

«Weder nach dir noch nach sonst einem Apostel!»

«Aber worüber habt ihr denn gesprochen?»

«Über das keusche und tugendhafte Leben und über ihren Dichter Vergil. Du siehst, daß dies ein Gesprächsgegenstand war, der weder Petrus, noch Johannes, noch die anderen interessiert.»

«Aber... was hat das mit ihnen zu tun? Unnütze Gespräche ...»

«Nein. Es hat mir dazu gedient, sie darüber nachdenken zu machen, daß der keusche Mensch einen erleuchteten Geist und ein rechtschaffenes Herz hat. Das ist für die Heidinnen sehr interessant... und nicht nur für sie allein.»

«Du hast recht... Ich will dich nicht länger aufhalten, Meister», und er eilt fast im Laufschritt davon, um die anderen einzuholen, die aufgehört haben zu singen und auf die beiden Zurückgebliebenen warten...

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Jesus nähert sich ihnen langsamer und schließt sich ihnen an mit den Worten: «Schlagen wir diesen Pfad durch den Wald ein. So kürzen wir den Weg ab und sind vor der Sonne geschützt, die schon wieder heißer wird. Im Wald werden wir dann haltmachen und in Ruhe einen Imbiß zu uns nehmen können.»

Sie gehen also nach Nordwesten, wohl auf die Besitzungen des Jochanan zu, denn ich höre sie von den Landarbeitern dieses Pharisäers reden ...

Jesus sagt: «Und hier werdet ihr die Vision vom 16. Juni 1944 einfügen: "Jesus, das herabgefallene Nest und der Pharisäer."»

478. JESUS UND DAS HERABGEFALLENE NEST

Ich sehe Jesus, weiß gekleidet, den dunkelblauen Mantel über die Schultern geworfen, auf einem Waldweg gehen. Ich sage Waldweg, weil da und dort Bäume und Sträucher stehen. Pfade durchschneiden das ungeordnete Grün. Aber es kann wohl keine sehr einsame Gegend sein, denn man begegnet oft anderen Menschen. Wahrscheinlich verbindet diese Straße zwei benachbarte Dörfer und führt durch die Besitzungen der Dorfbewohner. Die Umgebung ist recht eben, nur in der Ferne sieht man Berge. Ich weiß aber nicht, was für ein Ort es ist.

Jesus, der gerade mit seinen Jüngern gesprochen hat, bleibt stehen und lauscht. Er läßt seinen Blick umherschweifen, schlägt dann einen Pfad ein, der ins Dickicht führt, und geht auf eine Gruppe kleiner Bäume und Sträucher zu. Er bückt sich und sucht nach etwas. Nun findet er, was er sucht. Im Gras liegt ein Vogelnest. Ich weiß nicht, ob es von einem Gewitter heruntergerissen worden ist, worauf der feuchte Boden und die wie nach einem Regenguß tropfenden Äste der Bäume schließen lassen, oder ob es das Werk eines Menschen ist, der es dann dort hingelegt hat, um nicht mit der Brut in der Hand überrascht zu werden. Ich sehe nur ein kleines Nest aus ineinandergeflochtenem Heu voll verdorrter Blättchen, kleiner Fetzen Baumrinde und Wolle, in dem sich piepsend fünf kleine Vöglein bewegen. Sie sind nur wenige Tage alt, rosig, kahl und häßlich, mit ihren weit geöffneten Schnäbeln und den hervorstehenden Äuglein. Oben, auf einem hohen Ast, schreien verzweifelt die Eltern.

Jesus hebt das kleine Nest vorsichtig auf, hält es in der Höhlung der einen Hand und sucht die Stelle, an der es gewesen ist, oder eine, an der es sicher aufgehoben wäre. Er findet ein Dorngestrüpp, so dicht verflochten, daß es einem Korb gleichkommt, und so verborgen, daß es Sicherheit bietet. Ohne auf die Dornen zu achten, die ihm die Arme zerkratzen, und nachdem er das Nest Petrus gegeben hat, schlägt er seine beiden langen,

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weiten Ärmel zurück und bemüht sich, das Plätzchen unter dem Dornengeflecht noch schützender und geräumiger zu gestalten. Der nicht mehr junge, untersetzte Apostel sieht etwas seltsam aus mit dem Nestlein in den schwieligen, breiten Händen. Jesus hat sein Werk beendet. Er nimmt das Nest, legt es dort mitten ins Gestrüpp und befestigt es noch mit langen Grashalmen, die wie zarte Binsen ausschauen.

Nun ist es in Sicherheit. Lächelnd entfernt sich der Meister. Dann läßt er sich ein Stückchen Brot geben von einem Jünger, der einen Beutel umhängen hat, und bröselt Brotkrumen auf einen Felsen. Nun ist Jesus zufrieden. Er dreht sich um und geht wieder auf die Hauptstraße, während sich die Vogeleltern mit Freudengeschrei auf das gerettete Nest stürzen.

Eine kleine Gruppe Menschen steht am Straßenrand. Jesus hat sie vor sich und blickt sie an. Das Lächeln verschwindet von seinem Antlitz, das nun sehr ernst, fast finster wird, während es mitleidsvoll war, als er das Nest aufhob, und so glücklich, als er das Nest im Gestrüpp untergebracht hatte!

Jesus bleibt stehen. Er blickt diese unerwarteten Zeugen weiterhin an. Es scheint, als dringe sein Blick durch die Herzen mit ihren verborgenen Gedanken. Er kann nicht weitergehen, weil die kleine Gruppe ihm den Weg versperrt. Doch er schweigt.

Petrus aber schweigt nicht. «Laßt den Meister durch», sagt er.

«Schweig, Nazarener», antwortet einer aus der Gruppe. «Wie konnte sich dein Meister erlauben, in meinen Wald einzudringen und dort am Sabbat eine Handarbeit zu verrichten?»

Jesu Gesichtsausdruck ist eigenartig, während er ihm direkt ins Gesicht schaut. Es ist ein Lächeln und doch keines, und wenn es ein Lächeln wäre, so gewiß kein zustimmendes. Petrus will antworten, aber Jesus ergreift selbst das Wort: «Wer bist du?»

«Der Besitzer dieser Gegend, Jochanan ben Zachai.»

«Ein bekannter Schriftgelehrter. Und was wirfst du mir vor?»

«Du hast das Sabbatgebot übertreten.»

«Jochanan ben Zachai, kennst du das Deuteronomium?»

«Das fragst du mich, der ich ein wahrer Rabbi Israels bin?»

«Ich weiß, was du mir sagen willst: daß ich, weil ich kein Schriftgelehrter, sondern nur ein armer Galiläer bin, kein "Rabbi" sein kann. Aber ich frage dich ein zweites Mal: Kennst du das Deuteronomium?»

«Gewiß besser als du.»

«Dem Buchstaben nach... wenn du so daran glauben willst. Aber kennst du es dem wahren Sinn nach?»

«Was geschrieben steht, steht geschrieben. Es gibt nur einen Sinn.»

«Tatsächlich gibt es nur einen Sinn, und das ist der der Liebe; oder, wenn du es nicht Liebe nennen willst, nenne es Barmherzigkeit; oder, wenn du dich an diesem Wort stößt, sage Menschlichkeit.

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Im Deuteronomium steht geschrieben: "Siehst du, daß das Rind oder das Schaf deines Bruders sich verlaufen hat, so verweigere ihm nicht deine Hilfe, bringe es vielmehr deinem Volksgenossen zurück! Ist dein Volksgenosse nicht in der Nähe, oder ist er dir unbekannt, so nimm es zu dir ins Haus! Es bleibe bei dir, bis dein Bruder es sucht! Dann erstatte es ihm zurück!"

Es steht auch geschrieben: "Siehst du den Esel oder den Ochsen deines Volksgenossen zusammengebrochen am Wege liegen, so tue nicht, als ob du nichts gesehen hättest, sondern hilf ihm, sie wieder aufzurichten!" Ferner steht geschrieben: "Findest du zufällig auf dem Wege, auf irgendeinem Baum oder am Boden ein Vogelnest mit Jungen oder mit Eiern, und sitzt die Vogelmutter auf den Jungen oder den Eiern, dann darfst du die Mutter nicht nehmen (denn sie ist der Fortpflanzung geweiht), sondern nur die Kleinen."

Ich habe auf dem Boden ein Nest gesehen und auf dem Baum eine Mutter, die darüber klagte. Ich habe Erbarmen gehabt, weil es eine Mutter war, und habe ihr die Kleinen wiedergegeben. Es war nicht meine Absicht, den Sabbat zu verletzen, als ich eine Mutter getröstet habe. Man darf nicht zulassen, daß das Schaf des Volksgenossen sich verirre. Im Gesetz steht nicht, daß es Sünde sei, am Sabbat einem Esel zu helfen, sich aufzurichten. Es verlangt nur, daß man dem Bruder Barmherzigkeit erweisen und dem Esel Menschlichkeit bezeigen soll, da sie Geschöpfe Gottes sind. Ich habe gedacht, daß Gott diese Mutter geschaffen hat, damit sie Junge hervorbringt, und daß sie dem Befehl Gottes gehorcht hat. Sie daran zu hindern, ihre Kleinen aufzuziehen, hätte bedeutet, sie am Gehorsam einem göttlichen Gebot gegenüber zu hindern. Aber das verstehst du nicht, denn du und die Deinen, ihr beachtet nur den Buchstaben, nicht aber den Geist. Du und die Deinen, ihr denkt nicht daran, daß ihr doppelt und dreifach den Sabbat entweiht, indem ihr das göttliche Wort auf die Kleinheit menschlicher Denkweise herabwürdigt, indem ihr eine göttliche Ordnung verhindert und gegen die Nächstenliebe fehlt. Um mit einem Vorwurf verletzen zu können, erachtet ihr es nicht für böse, eure Zunge unnötig zu bewegen. Diese nutzlose, unnötige, ungute "Arbeit" haltet ihr nicht für eine Schändung des Sabbat.

Jochanan ben Zachai, höre mich an. So wie du heute kein Erbarmen mit einer Grasmücke hast und sie pharisäischer Vorgehensweise entsprechend vor Schmerz umkommen lassen würdest, wie du ihre Jungen sterben lassen würdest, indem du sie Schlangen und Bösewichtern aussetzest, so wirst du morgen auch mit einer Mutter kein Erbarmen haben und sie vor Qual sterben lassen, da du ihre Kinder umbringen läßt und dabei behauptest, daß dies in Befolgung deines Gesetzes gut ist. Ja, in Befolgung deines Gesetzes, nicht des Gesetzes Gottes, eines Gesetzes das ihr, du und deinesgleichen, erlassen habt, mit dem ihr die Schwachen unterdrücken,

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und ihr selbst, die Starken, triumphieren könnt. Aber siehst du? Die Kleinen finden immer einen Erlöser, während die nach dem weltlichen Gesetz Stolzen und Starken durch das Gewicht ihres eigenen schweren Gesetzes zermalmt werden. Lebe wohl, Jochanan ben Zachai. Erinnere dich dieser Stunde und gib acht, daß du nicht einen anderen Sabbat durch die Freude über ein verübtes Verbrechen schändest.»

Jesus blickt mit seinen blitzenden Augen von oben auf das zornentbrannte Gesicht des Alten – denn der Schriftgelehrte ist untersetzt und dick, während Jesus im Vergleich zu ihm einer Palme gleicht – und geht weiter, indem er das hohe Gras niedertritt, da der Schriftgelehrte ihm den Weg nicht freigibt.

479. «SELIG JENE, DIE IN ALLEN DINGEN

GOTT ZU ERKENNEN VERMÖGEN»

Jesus sagt:

«Ich habe deinen Geist durch eine wahre Vision erheben wollen, wenngleich im Evangelium nichts darüber berichtet wird. Für dich besteht die Lehre darin: daß ich großes Mitleid habe mit den Vöglein ohne Nest, selbst wenn sie statt Grasmücke, Maria oder Johannes heißen, und ich bemühe mich, ihnen wieder ein Nestchen zu beschaffen, wenn ein Unglück sie dessen beraubt hat.

Alle anderen soll es folgendes lehren:

Sehr viele kennen den Wortlaut des Gesetzes, sehr viele, obwohl es auch wieder wenige sind – denn alle sollten das Gesetz kennen. Sie wissen jedoch einzig und allein die "Worte", sie leben nicht danach, und hier liegt der Irrtum.

Das Deuteronomium hat Gesetze der Menschlichkeit erlassen, da die Menschen von damals in der Kindheit ihres Geistes noch animalisch und halbe Wilde waren. Sie mußten an der Hand geführt werden auf den blumigen Pfaden des Erbarmens, der Achtung und der Liebe zum Bruder, der ein Tier verliert, der Liebe zum Tier, das gestrauchelt ist, zum Vogel, der brütet. Auf diese Weise mußte ihnen beigebracht werden, Erbarmen, Achtung und Liebe edelmütigerer Art zu erlangen.

Aber seit meinen Kommen habe ich die mosaischen Vorschriften vervollkommnet und den Menschen weitere Horizonte eröffnet. Der Buchstabe ist nicht mehr "alles". Der Geist ist nun "alles" geworden. Jenseits des geringen menschlichen Tuns mit einem Nest und seinen Bewohnern muß man die tiefere, darin verborgene Bedeutung meiner Geste sehen: Ich, der Sohn des Schöpfers, verneige mich vor dem Werk des Schöpfers. Auch diese Brut ist sein Werk.

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Oh! Selig jene, die in allen Dingen Gott zu erkennen vermögen und ihm mit ehrfurchtsvoller Liebe dienen! Wehe aber jenen, die, wie die Schlange, nicht fähig sind, das Haupt aus ihrem Schlamm zu erheben und Gott, der sich in den Werken der Brüder offenbart, kein Loblied singen können, sondern vielmehr diese Brüder beißen, da das Gift in ihnen überquillt. Zu viele sind es, die die Besten quälen und ihre Verderbtheit rechtfertigen, indem sie behaupten, daß sie in Befolgung des Gesetzes richtig gehandelt hätten, ihres Gesetzes, nicht des Gesetzes Gottes! Gott, der ihre bösen Werke nicht verhindern kann, kann aber seine "Kleinen" rächen.

Das möge sich jeder merken, den es angeht.

Mein Friede wache über dich.»

480. WEITERHIN UNTERWEGS IN DER EBENE VON ESDRELON

Sie sind nach dem kleinen Zwischenfall eine Weile schweigend weitergegangen. Doch als sie eine Wegkreuzung zwischen den Äckern erreichen, sagt Jakobus des Zebedäus: «Sieh, hier geht es zu Michäa... Aber... sollen wir wirklich noch hingehen? Dieser Mensch erwartet uns gewiß auf seinen Besitzungen, um uns zu mißhandeln...»

«Und um dich daran zu hindern, zu den Bauern zu sprechen. Jakobus hat recht. Gehen wir lieber nicht dorthin», rät Judas Iskariot.

«Sie erwarten mich. Ich habe einen Boten hingeschickt, um sie benachrichtigen zu lassen, daß ich komme. Ihr Herz ist in festlicher Stimmung. Ich bin der Freund, der kommt, sie zu trösten ...»

«Du kannst ein anderes Mal hingehen. Sie werden sich ergeben müssen», sagt Judas achselzuckend.

«Du ergibst dich nicht so leicht, wenn dir etwas verweigert wird, was du erhofft hast.»

«Meine Angelegenheiten sind wichtig. Die ihrigen...»

«Was ist wichtiger für ein Herz als Bildung und Trost? Alles wirkt darauf hin, ihre Herzen dem Frieden und der Hoffnung zu entziehen... und sie haben nur eine Hoffnung: die eines zukünftigen Lebens, und nur ein Mittel, um es zu erlangen: meine Hilfe. Nein, ich werde zu ihnen gehen, selbst wenn man mit Steinen nach mir werfen sollte ...»

«Nein, Bruder! Nein, Herr!» sagen gleichzeitig der Zelote und Jakobus des Alphäus.» Es würde nur dazu führen, daß diese armen Knechte noch strenger bestraft werden. Du hast es nicht gehört, aber Jochanan hat gesagt: "Bisher habe ich es ertragen; doch nun ist Schluß. Wehe dem Knecht, der zu ihm geht oder ihn aufnimmt. Er ist ein Verworfener, ein

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Dämon. Ich dulde keine Verderbnis in meinem Hause." Zu einem Amtsbruder hat er gesagt: "Selbst wenn ich sie töten müßte, ich werde sie heilen von ihrer Verhexung durch diesen Verfluchten."»

Jesus neigt sein Haupt ganz nachdenklich... und leidet. Man sieht ihm seinen Schmerz an... Die andern bedrückt es, aber was sollen sie tun? Thomas mit seiner immerwährenden Heiterkeit findet eine Lösung: «Machen wir es so. Bleiben wir bis Sonnenuntergang hier, um nicht gegen das Sabbatgebot zu verstoßen. Inzwischen schleicht sich einer von uns zu den Häusern und hinterläßt die Nachricht: "In tiefer Nacht bei der Quelle vor Sephoris." Wir gehen nach Sonnenuntergang dorthin und erwarten sie im Wäldchen am Fuß des Berges, auf dem Sephoris liegt. Der Meister spricht zu diesen Armen, tröstet sie, und im Morgengrauen kehren sie zu ihren Häusern zurück, und wir gehen über die Hügel in Richtung Nazareth.»

«Thomas hat recht. Bravo, Thomas», sagen mehrere Apostel. Doch Philippus bemerkt: «Wer wird sie benachrichtigen? Er kennt uns alle und könnte uns sehen...»

«Vielleicht könnte Judas des Simon hingehen, er kennt ja die Pharisäer gut ...» sagt Andreas ganz unschuldig.

«Was willst du damit andeuten?» fährt Judas ihn an.

«Ich? Nichts. Ich sage nur, daß du sie kennst, weil du so lange im Tempel warst und dort gute Freunde hast. Du rühmst dich dessen ja immer. Einem Freund werden sie nichts antun...» sagt der sanftmütige Andreas.

«Glaube das nur nicht! Keiner von euch soll das denken. Wenn wir noch von Claudia beschützt würden, vielleicht... aber so nicht mehr. Denn nun will sie ja schließlich nichts mehr mit uns zu tun haben, nicht wahr, Meister?»

«Claudia bewundert den Weisen noch immer. Sie hat nie etwas anderes oder mehr als dies getan. Von dieser Bewunderung wird sie vielleicht eines Tages zum Glauben an den wahren Gott übergehen. Nur ein exaltierter Mensch könnte sich der Illusion hingeben, daß sie andere Gefühle für mich hat, und wenn dies auch der Fall wäre, so wollte ich sie nicht. Ich kann ihr Heidentum noch akzeptieren weil ich hoffe, es in Christentum umzuwandeln. Aber ich könnte nicht akzeptieren, was für sie nur Götzendienst wäre: die Anbetung eines Menschen, eines armen Idols auf einem menschlichen Thron.»

Jesus sagt dies in so ruhigem Ton, als würde er seine Apostel unterweisen. Aber er sagt es auch mit so großer Bestimmtheit, daß er keine Zweifel läßt hinsichtlich seiner Absicht, jede mögliche Entgleisung in diesem Sinne bei den Aposteln zu unterdrücken. Niemand erwidert etwas darauf. Doch fragen sie: «Was machen wir also mit den Bauern?»

«Ich gehe. Ich habe es vorgeschlagen und gehe, wenn der Meister einverstanden ist. Die Pharisäer werden mich bestimmt nicht auffressen.»

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«Geh nur, und deine Güte sei gesegnet.»

«Oh, es ist nichts, Meister!»

«Es ist viel, Thomas. Du fühlst das Verlangen deiner Brüder, Jesu und der Landarbeiter, und hast Mitleid mit ihnen. Und dein Bruder dem Fleische nach segnet dich auch für sie», sagt Jesus und legt seine Hände auf das geneigte Haupt des Thomas, der gerührt flüstert: «Ich... dein Bruder?! Das ist zuviel der Ehre, mein Herr. Ich bin dein Knecht, Du bist mein Gott ... Das ja. Nun gehe ich.»

«Gehst du allein? Ich komme mit», sagen Thaddäus und Petrus.

«Nein. Ihr seid zu hitzig. Ich weiß alles ins Lächerliche zu ziehen... Das ist das beste Mittel, um gewisse Leute... zu entwaffnen. Ihr geratet sofort in Harnisch... Ich gehe allein.»

«Ich komme mit», sagen Johannes und Andreas.

«Oh! Ja! Einer von euch, und auch einer wie Simon der Zelote oder Jakobus des Alphäus.»

«Nein, nein. Ich! Ich reagiere nie heftig. Ich schweige und handle», drängt Andreas.

«Komm», und sie entfernen sich, während Jesus und die Zurückgebliebenen ihren Weg fortsetzen...

481. MIT DEN BAUERN DES JOCHANAN

«Werden sie kommen?» fragt Matthäus seine Kameraden, die in einem Eichenwald auf den ersten Hängen des Hügels sitzen, auf dem sich Sephoris erhebt. Die Ebene von Esdrelon ist nicht mehr zu sehen, da sie jenseits des Hügels liegt. Aber eine viel kleinere Ebene, die man im hellen Mondschein deutlich erkennt, erstreckt sich zwischen diesem Hügel und denen in der Umgebung von Nazareth.

«Sie haben es versprochen, und sie werden kommen», antwortet Andreas.

«Wenigstens einige von ihnen. Sie wollen um die Mitte der ersten Nachtwache aufbrechen und werden zu Beginn der zweiten hier sein», sagt Thomas.

«Später», meint Thaddäus.

«Wir haben weniger als drei Stunden gebraucht», entgegnet Andreas.

«Wir sind Männer und bei Kräften. Sie sind müde und werden auch Frauen bei sich haben», sagt wiederum Thaddäus.

«Vorausgesetzt, daß es der Gutsherr nicht bemerkt!» seufzt Matthäus.

«Da besteht keine Gefahr. Er ist nach Jezrael gereist und dort bei einem Freund zu Gast. Es ist nur der Verwalter da. Aber auch er wird kommen, denn er haßt den Meister nicht», sagt Thomas.

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«Ist dieser Mann auch aufrichtig?» fragt Philippus.

«Ja, denn er hätte keinen Grund, es nicht zu sein.»

«Er könnte versuchen, sich die Gunst des Gutsherrn zu erwerben und...»

«Nein, Philippus. Nach der Weinlese wird er von Jochanan entlassen, und zwar gerade deshalb, weil er den Meister nicht haßt», antwortet Andreas.

«Wer hat euch das gesagt?» fragen einige.

«Er selbst und die Bauern... unabhängig voneinander. Und wenn zwei von so unterschiedlichem Stand dasselbe behaupten, ist es ein Zeichen dafür, daß sie die Wahrheit sagen. Die Bauern sind traurig, daß der Verwalter weggeht. Er ist in letzter Zeit sehr menschlich geworden. Er hat uns gesagt: "Ich bin ein Mensch und keine Tonpuppe. Im vergangenen Jahr sagte Jochanan zu mir: 'Ehre den Meister, geh zu ihm und werde sein Getreuer.' Ich habe ihm gehorcht. Jetzt sagt er mir: 'Wehe dir, wenn du meinen Feind liebst und erlaubst, daß die Knechte ihn lieben. Ich will keinen Fluch auf meine Felder herabbeschwören, indem ich diesen Verfluchten aufnehme.' Aber wie kann ich jetzt, da ich ihn kennengelernt habe, diesen Befehl als gerecht ansehen? Ich habe daher zu meinem Herrn gesagt: 'Letztes Jahr hast du anders gesprochen, und er ist immer derselbe geblieben.' Da hat er mich zum ersten Mal geschlagen. Und ich habe zu ihm gesagt: 'Ich bin kein Sklave, und selbst wenn ich einer wäre, hättest du keine Macht über meine Gedanken. Meiner Meinung nach ist der, den du verfluchst, heilig.' Daraufhin hat er mich nocheinmal geschlagen. Heute morgen hat er zu mir gesagt: 'Der Fluch Israels liegt auf meinem Gebiet. Wehe dir, wenn du meinem Befehl zuwiderhandelst, dann bist du nicht mehr mein Diener.' Ich habe ihm geantwortet: 'Du hast die Wahrheit gesagt: Ich werde nicht mehr dein Knecht sein. Suche dir einen anderen, der ein Herz wie das deine hat und so räuberisch mit deinen Gütern umgeht, wie du mit den Seelen der anderen.' Da hat er mich zu Boden geworfen und getreten... Aber die Arbeit dieses Jahres ist bald beendet, und im Monat Tischri bin ich frei. Es tut mit nur leid wegen dieser hier..." und er wies auf die Landarbeiter», erzählt Thomas.

«Aber wo habt ihr ihn getroffen? ...»

«Im Wald, als ob wir Räuber wären. Michäa, mit dem wir gesprochen hatten, hat ihm Bescheid gesagt, und er ist noch blutend gekommen, und nach ihm sind einzeln die Diener und die Mägde gekommen ...» sagt Andreas.

«Hm! Dann hat Judas recht gehabt. Er kennt die Launen des Pharisäers...» bemerkt Bartholomäus.

«Allzu viele Dinge weiß Judas!» bemerkt Jakobus des Zebedäus.

«Schweig! Er könnte dich hören», rät Matthäus.

«Nein, er ist weggegangen mit der Begründung, er habe Schlaf und Kopfschmerzen», antwortet Jakobus.

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«Der Mond! Der Mond am Himmel und der Mond in seinem Kopf! Er ist wirklich wechselhafter als der Wind», meint Petrus, der bisher geschwiegen hat.

«Ach ja! Ein wahres Unheil unter uns», seufzt Bartholomäus.

«Nein, redet nicht so! Er ist kein Unheil! Vielmehr eine Gelegenheit, sich zu heiligen ...» sagt der Zelote.

«Oder auf Abwege zu geraten, weil er einem die Tugend raubt ...» sagt Thaddäus entschieden.

«Er ist wirklich ein unglücklicher Mensch!» bemerkt Andreas traurig.

Alle schweigen. Dann fragt Petrus: «Aber betet der Meister immer noch?»

«Nein. Während ich im Halbschlaf lag, ging er zu Johannes und seinem Bruder Jakobus, die am Weg Wache halten. Er will sofort bei den armen Bauern sein. Vielleicht ist es das letzte Mal, daß er sie sieht», antwortet der Zelote.

«Warum das letzte Mal? Warum? Sag dieses Wort nicht, es ist, als brächte es Unglück», sagt Thaddäus aufgeregt.

«Aber du siehst es doch... Immer mehr werden wir verfolgt...» Ich weiß nicht, was wir in Zukunft machen sollen...»

«Simon hat recht... Es ist ja schön, immer ganz geistig zu sein... Aber... Wenn es erlaubt gewesen wäre, etwas Menschlichkeit zu erfahren... ein wenig Schutz durch Claudia, so wäre das gar nicht schlecht», sagt Matthäus.

«Nein, es ist besser, allein zu sein... als mit Heiden in Berührung zu kommen. Ich bin nicht mit ihnen einverstanden», sagt Barholomäus entschieden.

«Ich auch nicht sehr... Aber... der Meister sagt, daß seine Lehre sich über die ganze Welt verbreiten muß, und dies wird unsere Aufgabe sein... Überall werden wir sein Wort aussäen... und so werden wir uns daran gewöhnen müssen, mit Heiden und Götzendienern zusammenzukommen...» sagt Thaddäus.

«Mit Unreinen. Mir kommt es vor, als würden wir ein Sakrileg begehen. Die Weisheit den Schweinen vorwerfen! ...»

«Auch sie haben eine Seele, Nathanael. Gestern hast du noch Erbarmen mit dem Mädchen gehabt...»

«Weil... es ein Nichts ist, das noch geformt werden muß. Sie ist wie ein Neugeborenes... Aber die anderen! ... Und außerdem ist sie keine Römerin...»

«Glaubst du, daß die Gallier keine Götzendiener sind? Auch sie haben ihre grausamen Götter. Du wirst es merken, wenn du zu ihnen gehen solltest, um sie zu bekehren! ...» sagt der Zelote, der gebildeter, oder sagen wir: kosmopolitischer ist als die anderen.

«Aber sie stammt nicht von denen ab, die Israel entheiligen. Ich werde

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nie den Feinden Israels predigen, weder den jetzigen noch denen der Vergangenheit.»

«Dann wirst du aber sehr weit weggehen müssen, bis zu den Völkern des Nordens, denn, auch wenn es nicht so scheinen mag, Israel ist von allen seinen Nachbarvölkern unterdrückt worden...» sagt Thomas.

«Ich werde weit fortgehen... Doch da kommt schon der Meister. Gehen wir ihm entgegen. Wie viele Menschen! Es sind ja alle gekommen, sogar die Kinder...»

«Der Meister wird glücklich sein...»

Sie schließen sich dem Meister an, der nur mühsam auf der Wiese vorwärtskommt, da sich so viele Menschen um ihn drängen.

«Ist Judas immer noch nicht zurück?» fragt Jesus.

«Nein, Meister. Aber wenn du willst, rufen wir ihn ...»

«Das ist nicht nötig. Meine Stimme wird ihn dort erreichen, wo er ist, und sein freies Gewissen spricht mit seiner eigenen Stimme zu ihm. Es ist nicht erforderlich, daß ihr auch eure Stimmen vereint und ihn so zwingt. Kommt, setzen wir uns mit diesen unseren Brüdern hierher. Und verzeiht, daß ich nicht bei einem Liebesmahl mit euch das Brot habe brechen können.»

Sie setzen sich im Kreis um Jesus herum, und Jesus will in seiner nächsten Nähe die Kinder haben, die sich auch tatsächlich liebevoll und vertrauend um ihn drängen.

«Segne sie, Herr! Damit sie das erleben, wonach wir seufzen: die Freiheit, dich zu lieben!» ruft eine Frau aus.

«Ja, sie nehmen uns auch diese. Sie wollen nicht, daß deine Worte sich unserem Geist einprägen. Nun hindern sie uns daran, dich zu sehen, indem sie dir verbieten, zu uns zu kommen... So werden wir keine heiligen Worte mehr hören!» jammert ein Greis.

«Wir werden verlassene Sünder sein. Du hast uns gelehrt, zu verzeihen... Du hast uns so viel Liebe gegeben, daß wir unseren Herrn mit seiner Unzufriedenheit ertragen konnten... Aber jetzt ...» sagt ein Jüngling. Es ist nicht leicht, ihre Gesichter zu erkennen, und ich weiß meist nicht, wer spricht. Ich schließe es aus dem Klang der Stimmen.

«Weint nicht! Ich werde euch mein Wort nicht fehlen lassen. Ich werde wiederkommen, solange ich es tun kann ...»

«Nein, Meister und Herr. Er ist böse, und seine Freunde sind es ebenfalls. Sie könnten dir unseretwegen Böses antun. Wir bringen das Opfer, dich zu verlieren; aber tue uns nicht das Leid an, daß es einmal heißen wird: "Um unseretwillen haben sie ihn gefangengenommen."»

«Ja, rette dich, Meister.»

«Fürchtet euch nicht. Wir lesen bei Jeremias, daß er seinen Schreiber Baruch beauftragte, das niederzuschreiben, was der Herr ihm diktierte, und es dann den im Hause des Herrn Versammelten vorzulesen, da der

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Prophet sich verstecken mußte und nicht hingehen konnte. So werde ich es machen. Ich habe viele getreue Baruchs unter meinen Aposteln und Jüngern. Sie werden kommen, um euch das Wort des Herrn zu verkünden, und eure Seelen werden nicht zugrundegehen. Ich werde nicht euretwegen gefangengenommen werden, denn der Allerhöchste wird mich vor ihren Augen verborgen halten, bis die Stunde gekommen ist, da der König von Israel der Menge gezeigt wird, damit er von aller Welt erkannt werde.

Fürchtet auch nicht, die Worte zu verlieren, die in euch sind. Denn ebenso liest man bei Jeremias, daß auch nach der Zerstörung der Schriftrollen durch Jojakim, den König von Juda, der durch die Verbrennung derselben die ewigen und wahrhaftigen Worte des Herrn vernichten wollte, diese Worte erhalten blieben; denn der Herr befahl dem Propheten: "Nimm ein anderes Buch und schreibe darin alles nieder, was in dem vom König verbrannten Buch geschrieben stand", und Jeremias übergab Baruch ein Buch, ein unbeschriebenes Buch, und diktierte ihm von neuem die ewigen Worte und noch weitere zur Ergänzung der ersteren; denn Gott ersetzt das vom Menschen Zerstörte, wenn es zum Heil der Seelen ist, und erlaubt nicht, daß der Haß vernichte, was die Liebe geschaffen hat.

Nun, wenn ich, der ich mich mit einem Buch voll heiliger Weisheiten vergleiche, getötet werden sollte, glaubt ihr, daß der Herr euch dann ohne die Hilfe anderer Bücher zugrundegehen lassen würde? Ohne die Hilfe der Bücher, in denen meine Worte und die meiner Zeugen niedergeschrieben sein werden? Der Zeugen, die das berichten werden, was ich selbst nicht sagen kann, da ich ein Gefangener und ein Opfer der Gewalt sein werde? Glaubt ihr, daß das, was im Buch eurer Herzen geschrieben steht, im Lauf der Zeit ausgelöscht werden könnte? Nein, der Engel des Herrn wird euch diese Worte wiederholen und sie in euren Seelen, die sich nach Weisheit sehnen, lebendig erhalten. Und nicht nur das. Er wird sie euch auch erklären, und ihr werdet weise sein im Wort eures Meisters. Ihr siegelt die Liebe zu mir mit eurem Schmerz. Kann je zugrunde gehen, was selbst der Verfolgung widersteht? Nein, es kann nicht zugrunde gehen, das versichere ich euch.

Das Geschenk Gottes läßt sich nicht vertilgen. Nur die Sünde kann es auslöschen. Aber ihr wollt gewiß nicht sündigen, nicht wahr, meine Freunde?»

«Nein, Herr. Das hieße ja, dich auch im anderen Leben zu verlieren», sagen viele.

«Aber sie werden uns zur Sünde zwingen. Man hat uns befohlen, am Sabbat nicht mehr die Besitzungen zu verlassen... und so wird es kein Passah mehr für uns geben. Wir werden also sündigen...» sagen andere.

«Nein, ihr werdet nicht sündigen. Er wird sündigen, nur er, der das Recht Gottes und der Kinder Gottes, sich am Tag des Herrn zu umarmen, sich in liebevollem und lehrreichem Gespräch zu vereinen, verletzt.»

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«Aber er sühnt durch häufiges Fasten und Opfergaben. Wir können das nicht, denn unsere Nahrung reicht noch nicht einmal aus für die Arbeit, die wir leisten müssen, und wir haben nichts, um Opfer zu bringen... Wir sind arm.»

«Ihr opfert das, was Gott schätzt: euer Herz. Isaias spricht im Namen Gottes zu den falschen Büßern: "Seht, am Tage eures Fastens offenbart sich euer Wille, denn ihr treibt eure Schuldner in die Enge. Zu Streit und Hader fastet ihr und zum Schlagen mit ruchloser Faust. Ihr fastet zur Zeit nicht so, daß man in den Himmelshöhen euren Gebetsruf hört! Ist das denn ein Fasten, wie ich es wünsche? Daß der Mensch sich darauf beschränkt, einen Tag seine Seele zu bedrängen, seinen Körper zu kasteien und in Asche sich bettet? Soll dieses Fasten ein dem Herrn wohlgefälliger Tag sein? Das mir wohlgefällige Fasten ist etwas ganz anderes. Zerbrich die Ketten der Sünde, beende die Bedrückung deiner Schuldner, befreie von den Schulden den, der in Armut gefallen ist, laß ab von jeglicher Unterdrückung! Teile dein Brot mit dem Hungrigen, nimm Arme und Pilger auf, bekleide die Nackten und verachte nicht deinen Nächsten."

Aber all das tut Jochanan nicht. Ihr, die ihr ihn durch eure Arbeit bereichert, seid seine Gläubiger, und er behandelt euch schlechter als säumige Schuldner. Er erhebt seine Stimme, um euch zu bedrohen, seine Hand, um euch zu schlagen. Er ist unbarmherzig gegen euch und verachtet euch, weil ihr Knechte seid. Aber der Knecht ist ebenso Mensch wie der Gutsherr. Zwar habt ihr die Pflicht zu dienen, aber ihr habt auch das Recht, das zu erhalten, was ein Mensch für Leib und Seele braucht. Der Sabbat wird nicht dadurch geheiligt, daß man in die Synagoge geht, wenn man gleichzeitig seine Brüder in Ketten legt und mit Aloe tränkt. Ihr haltet euren Sabbat, indem ihr miteinander vom Herrn sprecht, und der Herr wird mitten unter euch sein. Ihr verzeiht, und der Herr wird euch verherrlichen.

Ich bin der Gute Hirte und habe Erbarmen mit all meinen Schafen. Doch gilt meine besondere Liebe jenen, die von falschen Hirten geschlagen werden, auf daß sie sich von meinen Wegen fernhalten... Für diese bin ich mehr als für die anderen gekommen. Denn mein Vater und der euere hat mir befohlen: "Weide diese Schlachtschafe, die ohne Mitleid von ihren Besitzern getötet und mit den Worten verkauft werden: 'Wir sind durch sie reich geworden!' und deren Hirten kein Erbarmen mit ihnen haben."

Nun gut, so werde ich die Herde der Schlachtschafe weiden, o ihr Armen in der Herde, und jene ihrer Bosheit überlassen, die euch bedrücken und den Vater in seinen Kindern betrüben. Ich werde meine Hände den Kleinen unter den Kindern Gottes entgegenstrecken und sie an mich ziehen, damit sie an meiner Herrlichkeit teilhaben.

Der Herr verspricht es durch den Mund der Propheten, die meine Güte

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und Macht als Hirte preisen, und ich verspreche es euch direkt, die ihr mich liebt. Ich werde für meine Herde Sorge tragen. Wer die guten Schafe anklagt, daß sie das Wasser trüben und die Weiden verderben, wenn sie zu mir kommen, dem werde ich sagen: "Weg von mir! Ihr seid diejenigen, die die Quellen vertrocknen und die Weiden meiner Söhne öde werden lassen. Aber ich habe sie zu anderen Weiden geführt und werde sie führen: zu den Weiden, die den Geist erquicken. Behaltet eure Weiden für eure dicken Bäuche. Ich überlasse euch eure bittere Quelle, die ihr habt hervorsprudeln lassen. Ich werde mit diesen fortgehen und die wahren Schafe Gottes von den falschen trennen, und nichts mehr wird sie quälen, diese meine Lämmer, sondern sie werden in Ewigkeit auf den Weiden des Himmels frohlocken."

Harrt aus, geliebte Kinder! Ertragt es noch ein wenig in Geduld, wie auch ich es ertrage. Seid getreu, indem ihr das tut, was euch von euren ungerechten Gutsherren zugestanden wird. Gott wird bestätigen, daß ihr alles getan habt, und euch dafür belohnen. Haßt nicht, wenn auch alles sich verschwört, um euch Haß zu lehren. Habt Vertrauen auf Gott. Ihr seht es: Jonas wurde von seinem Leiden erlöst, und Jabe hat liebende Menschen gefunden. Und wie der Herr mit dem Alten und mit dem Knaben verfahren ist, so wird der Herr auch mit euch verfahren, teils in diesem Leben, vollständig im jenseitigen.

Ich kann euch nur einige Geldstücke geben, um eure materielle Lage etwas zu erleichtern. Gib sie ihnen, Matthäus, damit sie sie untereinander verteilen! Es sind zwar viele Geldstücke, und doch verhältnismäßig wenige, da ihr so zahlreich und so bedürftig seid... aber ich habe sonst nichts an materiellen Werten. Jedoch habe ich meine Liebe, die Macht, die mir daher kommt, daß ich der Sohn des himmlischen Vaters bin, und mit ihr erbitte ich für euch die unendlichen übernatürlichen Schätze, um eure Tränen zu trocknen und euch in eurer Dunkelheit Licht zu geben. Oh! Traurig ist das Leben; doch Gott kann es euch lichtvoll gestalten! Er allein! Er allein! ...

Und ich sage: "Vater, für diese bitte ich dich. Ich bitte dich nicht für die Glücklichen und die Reichen dieser Welt, sondern für die, die nichts haben als dich und mich. Gib, daß sie so weit auf den Wegen des Geistes emporsteigen, daß sie allen Trost in unserer Liebe finden; und geben wir uns ihnen mit Liebe, mit unserer ganzen unendlichen Liebe, um sie in ihren Tagen und bei ihren Arbeiten mit Frieden, Heiterkeit, Mut, Freude und übernatürlicher Kraft zu erfüllen, damit sie durch unsere Liebe von den Leiden der Welt abgelenkt werden, ihre Qualen ertragen können und nach dem Tode dich, uns, die unendliche Glückseligkeit besitzen."»

Jesus hat sich bei diesem Gebet aufgerichtet, nachdem er sich sanft von den Kindern befreit hat, die auf ihm eingeschlafen waren. Er wirkt majestätisch und mild zugleich bei seinem Gebet.

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Dann schlägt er die Augen nieder und spricht: «Es ist Zeit, daß ihr euch aufmacht, um rechtzeitig zu euren Häusern zurückzukehren. Wir werden uns wiedersehen, und ich werde Margziam mitbringen. Aber auch wenn ich einmal nicht mehr kommen kann, wird mein Geist immer bei euch sein, und diese meine Apostel werden euch lieben, wie ich euch geliebt habe. Der Herr segne euch. Geht nun!» Dann beugt er sich nieder, um die schlafenden Kinder zu liebkosen und überläßt sich den Liebesbezeugungen des armen Volkes, das sich nicht von ihm trennen will...

Aber schließlich geht ein jeder in Richtung seines Heimes. Die beiden Gruppen trennen sich, während der Mond sinkt und sie mit brennenden Zweigen den Weg zu finden suchen. Der beißende Rauch der noch etwas feuchten Zweige ist eine guter Vorwand für das Glänzen ihrer Augen.

Judas beobachtet sie, an einen Baumstumpf gelehnt. Jesus blickt ihn an, schweigt aber, selbst als Judas sagt: «Es geht mir besser.»

So gut sie können, schreiten sie durch die Nacht; dann, als der Tag anbricht, kommen sie schneller vorwärts.

An einer Wegkreuzung bleibt Jesus stehen und sagt: «Trennen wir uns hier. Mit mir kommen Thomas, Simon der Zelote und meine Brüder. Die andern sollen zum See gehen und mich dort erwarten.»

«Danke, Meister... Ich habe nicht gewagt, dich darum zu bitten. Aber du kommst mir entgegen. Ich bin wirklich müde, und wenn du es mir erlaubst, werde ich mich in Tiberias aufhalten...»

Jakobus des Zebedäus kann es nicht unterlassen zu sagen: «Bei einem Freund.»

Judas sperrt die Augen auf... weiter nichts.

Jesus aber beeilt sich zu sagen: «Es genügt mir, wenn du am Sabbat mit den Gefährten nach Kapharnaum gehst. Kommt, daß ich euch einen Abschiedskuß gebe», und er küßt die Scheidenden herzlich und flüstert dabei jedem einen Rat zu...

Niemand hat etwas zu erwidern. Nur Petrus sagt noch im Weggehen: «Komm bald, Meister!»

«Ja, komm bald», sagen die anderen, und Johannes schließt mit den Worten: «Der See wird recht traurig sein ohne dich.»

Jesus segnet sie noch einmal und sagt: «Auf bald!» Dann geht jeder in seine Richtung.

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Gepriesen sei Gott unser Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,

Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.

 

 

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