Kirche Weitental

†  Gott ist die Liebe - Er liebt dich  †

 Gott ist der beste und liebste Vater, immer bereit zu verzeihen, Er sehnt sich nach dir, wende dich an Ihn
nähere dich deinem Vater, der nichts als Liebe ist. Bei Ihm findest du wahren und echten Frieden, der alles Irdische überstrahlt

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Maria Valtorta - Der Gottmensch

Band 5

 

Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte. Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.

Das Werk kann man hier in Buchform erwerben:

Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch

Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
 



Nur zu Testzwecken!

Inhalt
 

Band V:
Zweites Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)

296. Syntyce die griechische Sklavin. S. 9
297. Der Abschied von Martha, Magdalena und Syntyche. S. 16
298. Jesus spricht über die Hoffnung. S. 23
299. Jesus begibt sich mit Jakobus des Alphäus auf den Karmel. S. 29
300. «Auf vollkommene Weise lieben, um heiligmässig Vorgesetzer zu sein». S. 32
301. «Nenne ihn Sohn, der dir Schmerzen verursacht». S. 41
302. Petrus predigt in Esdrelon: «Die Liebe ist das Heil. S. 50
303. Jesus spricht zu den Landarbeitern Jochanans:«Liebe ist Gehorsam». S. 57
304. Maria, die Hochheilige.«Mein Erbarmen ist stärker als alles». S. 61
305. «Das Gute tun ist ein stärkeres Gebet als die Psalmen». S. 71
306. Ein Tag Judas Iskarios in Nazareth. S. 74
307. Unterweisungen der Apostel zu Beginn des Apostolats. S. 84
308. «Bist Du der Messias?» fragen die Gesandten des Täufers. S. 95
309. Jesus arbeitet als Schreiner für eine Witwe von Chorazim. S. 104
310. «Die Liebe ist ein Geheimnis und das Gebot der Herrlichkeit». S. 107
311. «Das Herz ist nicht mehr beschnitten». S. 115
312. Der Tod Johannes des Täufers. S. 125
313. «Gehen wir nach Tarichäa». S. 132
314. Unterredung mit einem Schriftgelehrter. S. 137
315. Die erste Brotvermehrung. S. 141
316. Jesus wandelt auf dem Wasser. S. 146
317. «Wenn ihr Glauben habt, komme ich und bringe euch ausser Gefahr». S. 148
318. Begegnung mit den Jüngern. S. 152
319. Der Geiz und der törichte Reiche. S. 167
320. Im Garten Maria Magdalenas. S. 177
321. Jesus sendet die Zweiundsiebzig aus, ihn zu verkündigen. S. 182
322. Die Begegnung mit Lazarus im Lager der Galiläer. S. 186
323. Die Zweiundsiebzig Jünger berichten Jesus, was sie getan haben. S. 189
324. Im Tempel am Laubhüttenfest. S. 193
325. Joseph und Nikodemus berichten: Im Tempel weiss man von Johannes und Syntyche. S. 208
326. Syntyche spricht im Haus des Lazarus. S. 214
327. Die Mission der vier Apostel in Judäa. S. 219
328. Jesus verlässt Bethanien, um sich auf die andere Seite des Jordan zu begeben. S. 222
329. Der Kaufmann von jenseits des Euphrats. S. 229
330. Von Ramot nach Gerasa. S. 235
331. Die Predigt in Gerasa. S. 240
332. Der Sabbat in Gerasa. S. 246
333. Der Aufbruch von Gerasa. S. 252
334. Auf dem Weg nach Bozrah. S. 260
335. In Bozrah. S. 265
336. Die Predigt und die Wunder in Bozrah. S. 269
337. Der Abschied von den Jüngerinnen. S. 277
338. In Arbela. S. 280
339. Auf dem Weg nach Aera. S. 286
340. Jesus predigt in Aera. S. 293
341. Maria und Matthias. S. 296
342. «Nutzlos ist der Empfang der Sakramente, wenn die Liebe fehlt». S. 301
343. «Es gibt kein Elend, das Jesus nicht in Reichtum verwandeln könnte». S. 304
344. «Ich will, dass die Waisen eine Mutter haben». S. 306
345. Zu Naim im Haus des auferweckten Daniel. S. 312
346. Im Schafstall von Endor. S. 319
347. Von Endor nach Magdala. S. 322
348. Jesus am Lichtfest in Nazareth. S. 327
349. Jesus mit Johannes von Endor und Syntyche in Nazareth. S. 331
350. Jesus unterweist Margziam. S. 334
351. Simon der Zelote in Nazareth. S. 338
352. Ein Abend im Haus von Nazareth. S. 340
353. Jesus mit Salome, der Frau des Vetters Simon. S. 347
354. Vetter Simon kehrt zu Jesus zurück. S. 349
355. Simon Petrus in Nazareth; Der Grossmut Margziams. S. 355
356. «Nichts geht verloren in der heiligen Harmonie der universalen Liebe. S. 360
357. «Johannes von Endor, du wirst nach Antiochia gehen». S. 363

 

 

296. SYNTYCHE, DIE GRIECHISCHE SKLAVIN

Ich sehe die Stadt Dora nicht. Die Sonne geht unter, und die Wanderer sind auf dem Weg nach Caesarea. Den Aufenthalt in Dora habe ich nicht gesehen. Vielleicht war es ein Aufenthalt ohne ein bedeutendes Ereignis. Das Meer scheint in Flammen zu stehen. Es spiegelt die Röte des Himmels wieder, ein unwirkliches Rot, so intensiv ist es. Es sieht aus, als wäre Blut über das Himmelsgewölbe gegossen worden.

Es ist noch warm, doch die Meeresluft macht diese Wärme erträglich. Sie wandern am Ufer entlang, um der Hitze des trockenen Bodens zu entfliehen, und einige haben sich der Sandalen entledigt und die Gewänder geschürzt, um im Wasser gehen zu können. Petrus erklärt: «Wenn nicht die Jüngerinnen da wären, würde ich mich ausziehen und bis zum Hals im Wasser gehen.»

Doch er muß heraus, denn Magdalena, die mit den anderen vorausgegangen war, kehrt zurück und sagt: «Meister, ich kenne diese Gegend. Siehst du, dort, wo das Meer einen gelblichen Streifen in seinem Blau hat, mündet ein Fluß, auch in der Sommerszeit, und man muß wissen, wie man ihn durchwatet ...»

«Wir haben schon viele durchwatet! Er wird doch nicht so groß sein wie der Nil. Wir werden auch durch diesen kommen», sagt Petrus.

«Es ist nicht der Nil. Aber in seinen Gewässern und an seinen Ufern leben gefährliche Wassertiere. Man muß sehr vorsichtig sein und darf nicht barfuß gehen, um nicht verletzt zu werden.»

«Oh! Welche denn? Vielleicht Ungeheuer?»

«Ja, so ist es, Simon! Es sind Krokodile; kleine zwar, aber sie genügen, um dich für eine gute Weile am Gehen zu hindern.»

«Und was tun sie hier?»

«Sie sind für den Kult hergebracht worden, als die Phönizier hier herrschten, glaube ich. Sie sind hier geblieben und wurden immer kleiner, aber nicht weniger aggressiv, seit man sie aus den Tempeln in das schlammige Wasser brachte. Jetzt sind es große Eidechsen mit scharfen Zähnen! Die Römer kommen zu Jagdpartien und verschiedenen Belustigungen hierher... Auch ich bin mit ihnen hier gewesen. Alles dient dazu, sich die Zeit zu vertreiben. Außerdem sind die Häute schön, und sie werden für viele Zwecke verwendet. Erlaubt mir daher, daß ich meine Erfahrung nütze und euch führe.»

«Gut! Ich möchte sie aber gerne sehen ...» sagt Petrus.

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«Vielleicht werden wir eines der Tiere sehen, obgleich sie durch die Jagd fast ausgerottet sind.»

Sie verlassen das Ufer und gehen landeinwärts, bis sie auf halber Strecke zwischen Hügeln und Meer eine Hauptstraße finden. Auf dieser gelangen sie bald zu einer stark gewölbten Brücke, die über einen kleinen Fluß führt, der zwar ein breites Flußbett hat, doch zurzeit nur in der Mitte ein wenig Wasser führt. Schilf und Rohrpflanzen, die jetzt im Sommer halb verbrannt sind, bilden in anderen Jahreszeiten kleine Inselchen im Wasser. An den Ufern wachsen Sträucher und dichtbelaubte Bäume.

So sehr sie auch Ausschau halten, sie sehen kein einziges Tier, und viele sind darüber enttäuscht. Aber als sie die Brücke schon fast überschritten haben, deren einziger Bogen sehr hoch ist, vielleicht um in den Regenzeiten nicht von den Fluten überschwemmt zu werden – ein starker, möglicherweise römischer Bau – stößt Martha einen schrillen Schrei aus und fährt entsetzt zurück. Eine übergroße Eidechse, viel mehr scheint es nicht zu sein, jedoch mit dem klassischen Krokodilkopf, ist dabei, die Straße zu überqueren und stellt sich nun tot.

«Hab keine Angst!» ruft Magdalena. «Wenn man sie sieht, besteht keine Gefahr. Schlimm ist es, wenn sie verborgen sind und man unversehens auf sie tritt.»

Doch Martha hält sich vorsichtigerweise zurück. Auch Susanna scherzt nicht ... Maria des Alphäus ist mutiger bei aller Vorsicht, und da sie von ihren Söhnen begleitet wird, geht sie etwas näher heran, um das häßliche Tier zu sehen. Die Apostel sind nicht gerade ängstlich; sie schauen und machen ihre Bemerkungen über das Untier, das sich herabläßt, langsam den Kopf zu wenden, um sich von vorne ansehen zu lassen. Aber nun beginnt es sich zu bewegen und scheint auf die Störenfriede zukommen zu wollen. Ein neuer Schrei Marthas, die, von Susanna und Maria des Kleophas gefolgt, in den Hintergrund flieht. Maria Magdalena ergreift einen Stein und wirft ihn auf das Tier, das, an der Seite getroffen, auf dem Kiesweg davonläuft und im Wasser verschwindet.

«Komm her, du Angsthase. Es ist weggerannt», sagt sie zu ihrer Schwester. Die Frauen kommen näher.

«Es ist wirklich häßlich», bemerkt Petrus.

«Ist es wahr, Meister, daß man ihnen einst Menschenopfer vorgeworfen hat?» will Iskariot wissen.

«Es galt als heiliges Tier und stellte eine Gottheit dar, und so wie wir unserem Gott ein Opfer darbringen, so machten es auch die armen Götzendiener in ihrer irrigen Auffassung.»

«Aber jetzt wohl nicht mehr?» fragt Susanna.

«Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß es in heidnischen Gegenden noch geschieht», sagt Johannes von Endor.

«Mein Gott, aber sie opfern ihnen wohl Tote?»

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«Nein! Sie werden ihnen lebendig vorgeworfen. Mädchen und Kinder besonders. Die Erstlinge des Volkes! Das wenigstens habe ich gelesen», antwortet wiederum Johannes von Endor den Frauen, die sich entsetzt ansehen.

«Ich würde schon vor Schrecken sterben, wenn ich mich ihnen nähern müßte», sagt Martha.

«Wirklich? Aber dies hier ist nichts im Vergleich zu einem echten Krokodil, das mindestens dreimal länger und breiter ist.»

«Und auch hungriger. Dieses hier war sicher schon satt von Schlangen und Hasen.»

«Barmherzigkeit! Auch Schlangen! Wohin hast du uns nur geführt, Herr», jammert Martha, die so erschrocken ist, daß eine unwiderstehliche Heiterkeit alle erfaßt.

Ermastheus, der die ganze Zeit über geschwiegen hat, sagt: «Du brauchst keine Angst zu haben. Es genügt, Lärm zu machen, und sie laufen alle weg. Ich habe Erfahrung. Ich bin öfters in Unterägypten gewesen.»

Sie gehen weiter und klatschen in die Hände oder schlagen gegen die Baumstämme, bis die gefährliche Stelle überwunden ist.

Martha hat sich Jesus genähert und fragt mehrmals: «Aber gibt es nun wirklich keine mehr?»

Jesus blickt sie an und schüttelt lächelnd den Kopf, er beruhigt sie: «Die Ebene von Saron ist nur Schönheit, und wir haben sie jetzt erreicht. Aber heute haben die Jüngerinnen mich wirklich überrascht. Ich verstehe nicht, warum du so furchtsam bist.»

«Das weiß ich auch nicht. Aber alles was kriecht und schleicht erschreckt mich. Mir ist, als ob ich die Kälte dieser sicherlich schleimigen Tiere auf meiner Haut fühle. Und ich frage mich, warum es sie überhaupt gibt. Sind sie denn notwendig?»

«Das müßte man den fragen, der sie erschaffen hat. Aber glaube mir, wenn er sie gemacht hat, dann ist das ein Zeichen dafür, daß sie zu etwas gut sind, und wenn sie auch nur dazu dienten, den heldenhaften Mut der Martha zu bestätigen», sagt Jesus mit einem schelmischen Augenzwinkern.

«Oh, Herr, du scherzest mit mir und du hast recht. Aber ich habe einfach Angst und werde mich nie überwinden können.»

«Das werden wir noch sehen... Was bewegt sich dort im Gebüsch?» fragt Jesus und schaut aufmerksam nach vorne auf ein Dorngestrüpp und sonstige Sträuchern mit langen Zweigen, die an einem Mauerwerk mit Kaktuspflanzen emporklettern.

«Noch ein Krokodil, Herr ... ?» jammert Martha entsetzt.

Aber das Rascheln wird lauter, und das menschliche Gesicht einer Frau kommt zum Vorschein. Sie schaut umher. Beim Anblick der vielen Menschen ist sie unschlüssig, ob sie fliehen oder sich in diesem wilden Gebüsch

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verstecken soll. Doch der erste Gedanke siegt, und mit einem Schrei flieht sie.

«Ist sie aussätzig? Oder vielleicht wahnsinnig? Oder besessen?» fragt man sich bestürzt.

Doch die Frau kehrt zurück, denn von Caesarea kommend nähert sich ein römischer Wagen. Die Frau ist wie eine Maus in der Falle. Sie weiß nicht, wohin sie sich wenden soll, denn Jesus und die Seinen sind nunmehr bei dem Gebüsch, das ihr Unterschlupf geboten hatte und zu dem sie nicht zurückkehren kann, und in Richtung des Wagens will sie nicht gehen... In der Abenddämmerung – die Nacht bricht nach einem prachtvollen Sonnenuntergang rasch herein – kann man erkennen, daß sie noch jung und hübsch ist, obwohl ihre Kleider zerrissen sind und ihr Haar zerzaust ist.

«Frau, komm hierher», befiehlt Jesus gebieterisch.

Die Frau streckt ihm flehend die Arme entgegen: «Tue mir nichts Böses an!»

«Komm hierher. Wer bist du? Ich will dir nichts Böses antun»; Jesus sagt es so sanft, daß sie sich überzeugen läßt.

Die Frau nähert sich tiefgebeugt, wirft sich zu Boden und sagt: «Wer immer du auch sein magst, habe Erbarmen mit mir! Töte mich, doch liefere mich nicht meinem Herrn aus. Ich bin eine entflohene Sklavin...»

«Wer war dein Herr? Und du, woher kommst du? Sicher bist du keine Jüdin! Deine Art zu sprechen verrät es. Und auch dein Gewand.»

«Ich bin Griechin. Die griechische Sklavin des... Oh, Erbarmen, versteckt mich, der Wagen kommt gefahren ...»

Alle scharen sich um die Unglückliche, die am Boden kauert. Das von den Dornen zerrissene Gewand läßt die mit Striemen und Kratzern bedeckten Schultern sehen. Der Wagen fährt vorüber, ohne daß sich einer der Insassen um die Gruppe bei der Hecke kümmert.

«Sie sind weitergefahren. Rede also! Wenn wir können, wollen wir dir helfen», sagt Jesus und legt seine Fingerspitzen auf ihr zerzaustes Haar.

«Ich bin Syntyche, die griechische Sklavin eines vornehmen Römers im Gefolge des Statthalters.»

«Dann bist du also die Sklavin Valerians», ruft Maria von Magdala aus.

«Ach! Erbarmen, Erbarmen! Zeige mich nicht bei ihm an», fleht die Unglückliche.

«Fürchte dich nicht. Ich werde nie mehr mit Valerian sprechen», antwortet Magdalena. Und sie erklärt Jesus: «Er ist einer der reichsten und unflätigsten Römer, die wir hier haben. Und er ist ebenso schmutzig wie grausam!»

«Warum bist du geflohen?» fragt Jesus.

«Weil ich eine Seele habe. Ich bin keine Marktware... (Die Frau schöpft

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neuen Mut, da sie sieht, daß sie barmherzige Menschen gefunden hat.) Ich bin keine Ware. Er hat mich gekauft, das ist wahr. Aber er hat mich nur kaufen können, um sein Haus zu schmücken, damit ich ihm die Stunden durch Vorlesen verschönere und ihm diene, aber sonst nichts. Die Seele gehört mir. Sie ist nicht etwas, das man kauft. Er wollte auch sie.»

«Woher weißt du, daß du eine Seele hast?»

«Ich bin nicht ungebildet, Herr. Ich bin eine Kriegsbeute seit meiner frühesten Jugend. Aber ich bin keine Plebeierin. Valerian ist nun mein dritter Herr, und er ist ein schmutziges Tier. Aber die Worte der Philosophen sind in meinem Gedächtnis geblieben und ich weiß, daß wir nicht nur aus Fleisch bestehen; es ist auch etwas Unsterbliches in uns. Etwas, wofür wir keinen richtigen Namen haben. Aber seit einiger Zeit kenne ich auch den Namen. Eines Tages kam ein Mann nach Caesarea. Er wirkte Wunder und sprach besser als Sokrates und Plato. Man hat viel über ihn geredet in den Bädern und Palästen oder in den goldenen Säulenhallen, und man hat seinen erhabenen Namen beschmutzt, indem man ihn in den Gemächern unzüchtiger Orgien nannte. Und mein Herr hat mich, ausgerechnet mich, die ich schon fühlte, daß ich etwas Unsterbliches besitze, das nur Gott gehört und nicht als Ware auf dem Sklavenmarkt gekauft werden kann, die Werke der Philosophen wieder vorlesen lassen, um Vergleiche anzustellen und zu sehen, ob diese unbekannte Sache, die der Mann, der nach Caesarea gekommen ist, "Seele" genannt hat, dort vielleicht beschrieben wird. Mich, mich hat er dies vorlesen lassen! Mich, die er seiner Sinnlichkeit unterjochen wollte. Und so habe ich erfahren, daß dieses Unsterbliche die Seele ist. Und während Valerian und seine Gesinnungsgenossen mir zuhörten und zwischen Rülpsen und Gähnen zu verstehen, zu vergleichen und zu diskutieren versuchten, verglich ich ihre Reden, in denen sie den Unbekannten erwähnten, mit den Worten der Philosophen. Ich nahm sie mir zu Herzen und fühlte ein immer stärker werdendes Selbstbewußtsein in mir, so daß ich seine Annäherungsversuche zurückwies... Er hat mich halb totgeschlagen, bis ich ihn mit meinen Zähnen vertrieben habe... und anderentags geflohen bin...

Seit fünf Tagen lebe ich in diesem Gestrüpp und sammle in der Nacht Brombeeren und Kaktusfeigen. Doch man wird mich schließlich wieder einfangen. Man sucht mich bestimmt. Ich habe ihn viel Geld gekostet und gefalle seiner Sinnlichkeit viel zu sehr, als daß er mich laufen ließe... Habe Erbarmen! Du bist Jude und gewiß weißt du, wo er sich befindet; darum bitte ich dich, führe mich zu ihm, zum Unbekannten, der zu den Sklaven und über die Seele spricht. Man hat mir gesagt, er sei arm. Ich werde hungern müssen, aber ich möchte in seiner Nähe sein, auf daß er mich belehre und aufrichte. Wenn man unter Bestien leben muß, wird man selbst zum Tier, auch wenn man sich gegen sie wehrt. Ich möchte wieder meine menschliche Würde zurückgewinnen.»

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«Dieser Mann, der Unbekannte, den du suchst, steht vor dir!»

«Du? O unbekannter Gott der Akropolis, sei gegrüßt!» und sie verbeugt sich, bis ihre Stirn den Boden berührt.

«Hier kannst du nicht bleiben. Aber ich gehe nach Caesarea...»

«Laß mich nicht allein, Herr!»

«Ich verlasse dich nicht... Ich denke...»

«Meister, unser Wagen ist gewiß am verabredeten Ort und wartet dort. Schicke jemanden hin, um sie zu benachrichtigen. Auf dem Wagen wird sie in Sicherheit sein, wie in unserem Haus», schlägt Maria Magdalena vor.

«O ja, Herr! Zu uns! Anstelle des alten Ismael. Wir werden sie in deiner Lehre unterweisen. Sie wird dem Heidentum entrissen werden», bittet Martha.

«Willst du mit uns kommen?» fragt Jesus.

«Mit jedem von den Deinen, nur nicht mehr zu ihm. Aber... hier hat eine Frau gesagt, daß sie ihn kennt? Wird sie mich nicht verraten? Werden in ihr Haus nicht Römer kommen? Nein?»

«Habe keine Angst. Nach Bethanien kommen keine Römer, und erst recht nicht "solche"», versichert Magdalena.

«Simon und Simon Petrus, geht und sucht den Wagen. Wir warten hier auf euch. Wir werden später in die Stadt gehen», befiehlt Jesus.

Als der schwere, überdeckte Wagen sich durch den Lärm der Hufe und der Räder und die von seinem Dach baumelnde Laterne ankündigt, erheben sich die am Gestade Wartenden, wo sie ihre Abendmahlzeit eingenommen haben, und begeben sich auf die Straße.

Der Wagen hält schwankend am Rand der holperigen Straße, und Simon und Petrus steigen aus, gefolgt von einer älteren Frau, die sofort herbeieilt, um Magdalena mit den Worten zu umarmen: «Keinen Augenblick, keinen Augenblick will ich versäumen, dir zu sagen, daß ich glücklich bin; daß deine Mutter mit mir jubelt, weil du wieder die blonde Rose unseres Hauses bist wie damals, als du in der Wiege schliefst, nachdem du an meiner Brust gesogen hattest», und sie küßt und umarmt sie immer wieder.

Maria weint in ihren Armen.

«Frau, ich vertraue dir diese junge Frau an, und ich erbitte von dir das Opfer, die ganze Nacht hier zu warten. Morgen kannst du zum ersten Dorf an der Staatsstraße gehen und dort warten. Wir werden um die dritte Stunde kommen», sagt Jesus zur Amme.

«Alles geschehe nach deinem Willen! Gesegnet seist du! Erlaube mir nur, daß ich Maria die Kleider gebe, die ich für sie mitgebracht habe.»

Und sie steigt wieder auf den Wagen, gefolgt von der heiligen Jungfrau

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Maria, Maria und Martha. Als sie wegfahren, ist Magdalena so, wie wir sie in Zukunft immer sehen werden: mit einem einfachen Gewand, einem weißen, dünnen Linnen als Schleier und einem schmucklosen Mantel bekleidet.

«Geh auch du ganz beruhigt, Syntyche. Morgen werden auch wir kommen. Leb wohl», grüßt Jesus. Und er geht den Weg nach Caesarea weiter...

Am Strand ist viel Volk, das im Licht der von Sklaven getragenen Fackeln und Laternen flaniert und die kühle Luft genießt, die vom Meer kommt und die von der sommerlichen Schwüle ermüdeten Lungen erfrischt. Die Spaziergänger gehören zur Klasse der reichen Römer. Die Hebräer haben sich in ihre Häuser eingeschlossen und genießen die Frische auf den Dächern. Der Strand gleicht einem grandiosen Empfangssaal zur Besuchszeit. Wer hier wandelt, wird genau beobachtet und kritisiert.

Jesus aber geht den Strand entlang... von einem Ende zum anderen. Er kümmert sich nicht um die Bemerkungen und das Gelächter der Beobachter.

«Meister, du hier? Zu dieser Stunde?» fragt Lydia, die in einer Sänfte sitzt, die die Sklaven am Straßenrand abgestellt haben. Sie steht auf.

«Ich komme von Dora und habe mich etwas verspätet. Ich bin auf der Suche nach einer Unterkunft.»

«Ich möchte dir sagen: "Hier ist mein Haus"», und sie weist auf ein schönes Gebäude hinter ihm. «Aber ich weiß nicht, ob...»

«Nein, ich danke dir, aber ich kann nicht annehmen. Ich habe noch andere bei mir; zwei sind schon vorausgegangen, um Bekannte zu benachrichtigen. Ich denke, daß sie mich aufnehmen werden.»

Die Augen Lydias ruhen auch auf den Frauen, auf die, zusammen mit den Jüngern, Jesus gezeigt hat; sie entdecken Magdalena sofort.

«Maria? Du? Dann ist es also wahr?»

Maria von Magdala hat den angstvollen Blick einer eingekreisten gequälten Gazelle. Man kann es ihr nicht übelnehmen, denn sie hat nicht nur Lydias Augen zu ertragen, sondern noch viele, viele andere, die sie betrachten. Aber auch Jesus blickt auf sie, und das gibt ihr Mut.

«Es ist wahr!»

«So haben wir dich also verloren?»

«Nein, ihr habt mich gefunden. Wenigstens hoffe ich, euch eines Tages in einer besseren Freundschaft auf dem Weg, den ich endlich eingeschlagen habe, wiederzufinden. Sage es, bitte, allen, die mich kennen! Leb wohl, Lydia. Vergiß alles Böse, das du mich hast tun sehen. Ich bitte dich dafür um Verzeihung...»

«Aber Maria! Warum erniedrigst du dich so? Wir haben das gleiche Leben als Reiche und Müßiggänger geführt, und es gibt ...»

«Nein, ich habe ein schlimmeres Leben geführt. Aber ich habe mich davon losgesagt, und für immer.»

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«ich grüße dich, Lydia», sagt der Herr und begibt sich zu seinem Vetter Judas, der mit Thomas auf ihn zukommt.

Lydia hält Magdalena noch einen Augenblick zurück: «Sage mir die Wahrheit, jetzt, da wir unter uns sind. Bist du wirklich überzeugt?»

«Nicht nur überzeugt: glücklich, Jüngerin zu sein! Ich bedauere nur eines: daß ich das Licht nicht früher erkannt und mich von Schlamm genährt habe, anstatt von ihm. Leb wohl, Lydia ...»

Die Antwort tönt hell und klar in der Stille, die sich um die beiden Frauen gebildet hat. Keiner der vielen Anwesenden spricht mehr...

Maria wendet sich um und sucht eilends den Meister einzuholen.

Ein junger Mann stellt sich vor sie hin: «Ist das deine letzte Narretei?» fragt er und tut, als wolle er sie umarmen. Aber halbbetrunken wie er ist, gelingt ihm dies nicht, und Maria entflieht ihm und ruft aus: «Nein, es ist meine einzige Weisheit!»

Sie erreicht die anderen Jüngerinnen, die sich eingemummt haben wie Mohammedanerinnen, so sehr ekelt es sie an, von diesen lasterhaften Menschen gesehen zu werden.

«Maria», sagt Martha zaghaft, «hast du sehr gelitten?»

«Nein. Er hat recht, jetzt werde ich nicht mehr wegen dieser Sache leiden. Er hat recht...»

Alle biegen nun in eine dunkle Gasse ein, um alsdann in ein großes Haus zu gehen; gewiß eine Herberge, in der sie die Nacht verbringen.

297. DER ABSCHIED VON MARTHA, MAGDALENA UND SYNTYCHE

Sie sind wiederum unterwegs und wenden sich nach Osten der Ebene

ZU.

Jetzt sind die Apostel und die beiden Jünger mit Maria Kleophä und Susanna einige Meter hinter Jesus, der mit seiner Mutter und den beiden Schwestern des Lazarus vorausgeht. Jesus spricht ohne zu ermüden, die Apostel jedoch schweigen. Sie scheinen müde oder entmutigt zu sein. Nicht einmal die Schönheit der wirklich herrlichen Landschaft berührt sie. Diese Gegend mit ihren leichten Wellen, die auf die Ebene geworfen sind wie Polster zu Füßen eines riesigen Königs, mit ihren Hügeln, die sich da und dort nur einige Meter hoch erheben und die Gebirgskette des Karmels und Samarias ankündigen, ist wirklich voller Pracht. Sowohl in der Ebene, welche die Gegend beherrscht, als auch auf den schmucken kleinen Hügeln ist alles ein Blühen der Wiesen und ein Reifen der Früchte. Die Gärten müssen trotz der Lage und der Jahreszeit gut bewässert sein, denn alles gedeiht in einer Üppigkeit, die ohne genügend Wasser unvorstellbar

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wäre. Nun verstehe ich, weshalb die Ebene von Saron in der heiligen Schrift so oft mit Begeisterung genannt wird. Aber die Apostel teilen diese Begeisterung in keiner Weise und gehen bedrückt einher. Sie sind die einzigen, die an diesem heiteren Tag und an dieser lachenden Küste betrübte Gesichter machen.

Die sehr gut gepflegte Staatsstraße durchschneidet mit ihrem weißen Band diese äußerst fruchtbare Gegend, und da es noch früh am Morgen ist, begegnet man oft Bauern, die mit Lebensmitteln beladen sind, oder Reisenden, die sich nach Caesarea begeben. Einer, der die Apostel mit einer Reihe Packesel einholt und sie zwingt, auf die Seite zu gehen, um der Eselkarawane Platz zu machen, fragt mit Arroganz: «Ist hier der Kischon?»

«Weiter hinten», gibt Thomas trocken zur Antwort und zischt zwischen den Zähnen: «Du Grobian!»

«Er ist ein Samariter, und das sagt genug!» antwortet Philippus.

Dann verfallen sie wieder in Schweigen. Nach einigen Metern sagt Petrus, als beende er ein Selbstgespräch: «Für das, was es uns eingebracht hat, war es der Mühe wert, einen solchen Weg zurückzulegen!»

«Das stimmt! Warum sind wir eigentlich nach Caesarea gegangen, wo er doch kein einziges Wort gesprochen hat? Ich glaubte, er würde dort ein eindrucksvolles Wunder wirken, um die Römer zu überzeugen. Aber...»sagt Jakobus des Zebedäus.

«Er hat uns an den Pranger gestellt, das ist alles», erklärt Thomas, und Iskariot fügt hinzu: «Er hat uns leiden lassen. Aber ihm gefallen die Beleidigungen, und er meint, sie gefallen uns auch.»

«Wer in diesem Fall wirklich gelitten hat, ist Maria des Theophilus», bemerkt der Zelote mit ruhiger Stimme.

«Maria, Maria! Ist diese Maria denn zum Mittelpunkt des Weltalls geworden? Nur sie leidet; nur sie ist heroisch; nur sie muß unterrichtet werden. Wenn ich das gewußt hätte, dann wäre ich ein Dieb oder Mörder geworden, um Gegenstand von so viel Aufmerksamkeit zu sein», fährt Iskariot auf.

«Das letztemal, als wir in Caesarea waren und er ein Wunder gewirkt und die Botschaft verkündet hat, haben wir ihn durch unsere Unzufriedenheit über das, was er getan hatte, betrübt», bemerkt der Vetter des Herrn.

«Wir wissen eben nicht, was wir wollen... Macht er es so, dann brummen wir; tut er das Gegenteil, dann murren wir ebenfalls. Wir sind voller Fehler», sagt Johannes ernst.

«Oh, schaut ihn an, der andere Weise spricht! Sicher ist, daß wir schon seit geraumer Zeit nichts Gutes zustande bringen.»

«Nichts, Judas? Aber jene Griechin, Ermastheus, Abel, Maria und...»

«Mit diesen Nullen wird er das Reich nicht errichten können», gibt

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Judas zurück, der von der Vorstellung eines irdischen Triumphes besessen ist.

«Judas, ich bitte dich, verurteile die Werke meines Bruders nicht. Das ist eine lächerliche Anmaßung. Ein Kind, das seinen Lehrer verurteilen will, um nicht zu sagen: eine Null, die sich überheben will», sagt Judas Thaddäus, der zwar sein Namensvetter ist, aber eine unüberwindliche Abneigung gegen ihn hat.

«Ich danke dir, daß du dich damit begnügt hast, mich Kindskopf zu nennen. Wahrlich, nachdem ich so lange im Tempel gelebt habe, hoffte ich, doch wenigstens für erwachsen gehalten zu werden», antwortet Iskariot sarkastisch.

«Oh, wie unerträglich sind diese Streitereien!» seufzt Andreas.

«Wirklich! Anstatt uns bei längerem Zusammenleben näherzukommen, trennen wir uns mehr und mehr. Wenn ich bedenke, daß er in Sycaminon sagte, daß wir eine große Herde bilden müssen; wie erreichen wir das, wenn wir uns sogar unter uns Hirten streiten?» bemerkt Matthäus.

«Man darf also über nichts mehr sprechen? Nie unsere Gedanken eröffnen? Wir sind doch keine Sklaven, meine ich.»

«Nein, Judas, wir sind keine Sklaven. Aber wir sind unwürdig, ihm zu folgen, weil wir ihn nicht verstehen», sagt der Zelote ruhig.

«Ich verstehe ihn sehr gut.»

«Nein, du verstehst ihn nicht, und mit dir verstehen ihn mehr oder weniger alle nicht, die ihn kritisieren. Verstehen bedeutet, ohne Widerspruch gehorchen, weil man von der Heiligkeit dessen, der führt, überzeugt ist», sagt wieder Simon der Zelote.

«Ach so! Du beziehst dich auf seine Heiligkeit. Ich sprach von seinen Reden. Seine Heiligkeit ist unbestritten und unantastbar», sagt Iskariot rasch.

«Kannst du das eine vom anderen trennen? Ein Heiliger wird immer im Besitz der Weisheit sein, und seine Worte werden weise sein.»

«Das stimmt. Doch er macht schädliche Äußerungen. Gewiß wegen seiner allzu großen Heiligkeit. Das gebe ich zu. Doch die Welt ist nicht heilig, und er schafft sich Unannehmlichkeiten. Der Philister und die Griechin zum Beispiel, glaubst du, daß sie uns etwas nützen?»

«Aber wenn ich euch schade, ziehe ich mich zurück», sagt Ermastheus beschämt. «Ich war gekommen, um ihn zu ehren und Gutes zu tun.»

«Du würdest ihm Schmerz bereiten, wenn du ihn aus diesem Grund verlassen würdest», antwortet ihm Jakobus des Alphäus.

«Ich werde vorgeben, daß ich es mir anders überlegt habe. Ich will mich sogleich von ihm verabschieden... und weggehen.»

«Auf keinen Fall! Du darfst nicht fortgehen. Es ist nicht recht, daß der Meister wegen der Nervosität eines anderen einen guten Jünger verliert», platzt Petrus heraus.

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«Aber wenn er wegen so einer Kleinigkeit weglaufen will, ist das ein Zeichen dafür, daß er nicht weiß, was er will. Laß ihn also ruhig gehen», entgegnet Judas Iskariot.

Petrus verliert die Geduld: «Ich habe ihm versprochen, als er mir Margziam übergab, allen gegenüber väterlich zu werden, und ich bedaure, dieses Versprechen nicht einzuhalten. Aber du bringst mich dazu! Ermastheus ist hier und bleibt hier. Weißt du, was ich dir sagen muß? Daß du derjenige bist, der den Willen der anderen beeinträchtigt und sie unsicher werden läßt. Du bist einer, der Trennung und Unordnung verursacht. Das bist du. Schäme dich dessen!»

«Was bist denn du? Der Beschützer der...»

«Jawohl, mein Herr, genau das! Ich weiß schon, was du sagen willst: Der Beschützer der Verschleierten, der Beschützer des Johannes von Endor, der Beschützer des Ermastheus, der Beschützer jener Sklavin, der Beschützer vieler anderer, die Jesus gefunden hat und die keine so prächtigen und pfauenhaften Exemplare des Tempels sind; die nicht aus dem heiligen Mörtel und den Spinnweben des Tempels hervorgegangen sind; die nicht von Ölrückständen schwelende Dochte der Tempellampen sind, die dir ähnlich sind. Um das Gleichnis deutlicher zu sagen: Wenn der Tempel auch viel bedeutet, so ist der Meister – wenn ich kein Trottel bin – mehr als der Tempel, und du fehlst ihm gegenüber.» Petrus schreit so laut, daß Jesus anhält, sich umdreht und sich anschickt zurückzugehen, indem er die Frauen alleinläßt.

«Er hat es gehört! Nun wird er betrübt sein!» sagt der Apostel Johannes.

«Nein, Meister! Du brauchst nicht zu kommen. Wir haben diskutiert, um uns die Langeweile zu vertreiben», sagt Thomas prompt.

Aber Jesus bleibt stehen, so daß sie ihn einholen.

«Über was habt ihr denn diskutiert? Noch einmal muß ich euch sagen, daß die Frauen euch übertreffen!» Der sanfte Vorwurf berührt die Herzen aller. Sie schweigen und senken die Köpfe.

«Freunde, Freunde! Seid nicht Ursache des Ärgernisses für jene, die erst jetzt dem Licht geboren werden! Wißt ihr nicht, daß bei der Bekehrung eines Heiden oder Sünders eine Unvollkommenheit eurerseits mehr Schaden verursacht als alle Irrtümer des Heidentums?»

Niemand antwortet, denn sie wissen nicht, was sie sagen sollen, um sich zu rechtfertigen oder nicht anzuklagen.

An einer Brücke über einen ausgetrockneten Bach steht der Wagen der Schwestern des Lazarus. Die beiden Pferde weiden im dichten Gras am Ufer des Bachs, der wohl erst vor kurzem ausgetrocknet ist; denn die Ufer sind dicht mit Gras bewachsen. Der Diener Marthas und ein anderer, vielleicht der Wagenlenker, liegen auf dem Kies, während die Frauen im geschlossenen Wagen sind, der mit einer schweren Decke aus gegerbten Fellen

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bedeckt ist, die wie ein dicker Vorhang bis zum Boden des Wagens reicht. Die Jüngerinnen eilen auf den Wagen zu, und der Diener, der sie zuerst sieht, macht die Amme darauf aufmerksam, während der andere sich beeilt, die Pferde wieder anzuschirren.

Der Diener eilt zu seiner Herrin und verneigt sich bis zur Erde. Die alte Amme, eine schöne Frau mit olivfarbiger, aber anmutiger Haut, steigt rasch aus und geht zu den Herrinnen.

Aber Maria von Magdala flüstert ihr etwas zu, und sie wendet sich sofort zur Jungfrau und sagt: «Verzeihe... Aber die Freude, sie wiederzusehen, ist so groß, daß ich nur sie sehe. Komm, Gesegnete! Die Sonne brennt. Im Wagen ist es schattig.»

In Erwartung der Männer, die weit zurückgeblieben sind, steigen sie alle in den Wagen. Während sie warten und Syntyche, nun in dem Gewand, das gestern Magdalena trug, die Füße ihrer Herrinnen küßt – so nennt sie sie hartnäckig, obwohl ihr gesagt wurde, daß sie weder ihre Dienerin noch ihre Sklavin sei, sondern ein Gast im Namen Jesu – zeigt die Jungfrau das kostbare Purpurbündel und fragt, wie man diese kurzen Fäden spinnt, deren Beschaffenheit Feuchtigkeit und Zwirnen nicht verträgt.

«Man verwendet sie nicht so, wie sie sind, Frau. Sie werden zu Pulver zerstampft und wie jede andere Farbe verwendet. Es ist der Schleim einer Muschel, es sind nicht Haare oder Fasern. Siehst du, wie brüchig die Fäden werden, wenn sie trocken sind. Zerreibe sie zu feinem Pulver und achte darauf, daß nicht ein längeres Stück das Garn oder den Stoff fleckig macht. Am besten färbst du das Gespinst in Strähnen. Wenn du sicher bist, daß alles pulverisiert ist, löse es auf, wie man es mit der Koschenille oder dem Safran oder dem Indigopulver macht, oder mit anderen Farben von Rinden, Wurzeln oder Früchten, und verwende es so. Die Farbe machst du mit starkem Essig im letzten Spülwasser haltbar.»

«Danke, Noemi! Ich werde es so machen, wie du mich gelehrt hast. Ich habe mit Purpurfäden gestickt, aber ich habe sie schon gebrauchsfertig erhalten... Da kommt Jesus. Es wird Zeit, Abschied zu nehmen, meine Töchter! Ich segne euch alle im Namen des Herrn! Geht in Frieden und bringt Lazarus Frieden und Freude.

Leb wohl, Maria! Erinnere dich, daß du an meiner Brust die ersten seligen Tränen geweint hast. Daher bin ich dir Mutter; denn ein Kind weint seine ersten Tränen an der Brust seiner Mutter. Ich bin dir Mutter und werde es immer bleiben. Was du auch der liebsten deiner Schwestern und der liebevollsten der Ammen nicht sagen willst, komm und sage es mir! Ich werde dich immer verstehen. Was du meinem Jesus nicht zu sagen wagst, weil du noch in deinem Menschsein befangen bist, was er gerade bei dir nicht will, sage es mir! Ich werde dich immer verstehen. Und wenn du mir auch von deinen Triumphen erzählst – doch, diese schenke lieber

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ihm als duftende Rosen, denn er ist dein Erlöser, nicht ich – werde ich mich mit dir freuen.

Leb wohl, Martha! Jetzt gehst du freudig fort, und in dieser übernatürlichen Freude wirst du verbleiben. Du brauchst also nichts weiter als Fortschritte machen in der Gerechtigkeit, inmitten des Friedens, den in dir nichts mehr trüben kann. Tue es aus Liebe zu Jesus, der dich so sehr geliebt hat, um jene, die du liebst, vollkommen zu lieben.

Leb wohl, Noemi! Geh hin mit deinem wiedergefundenen Schatz. Wie du sie mit Milch genährt hast, so laß nun dich mit den Worten nähren, die sie und Martha dir sagen werden, damit du eines Tages in meinem Sohn viel mehr siehst als nur einen Exorzisten, der die Herzen vom Bösen befreit.

Leb wohl, Syntyche, Blume aus Griechenland, die du es ganz alleine in dir verspürt hast, daß es etwas Höheres als das Fleisch gibt. Jetzt wirst du in Gott erblühen, und sei du die erste der neuen Blumen Christi aus Griechenland.

Ich freue mich sehr, euch so vereint, wie ihr es seid, zu verlassen. Ich segne euch mit Liebe!»

Das Scharren der Tritte ist nun schon ganz nahe.

Sie heben das schwere Zelttuch und sehen, daß Jesus nur noch einige Meter vom Wagen entfernt ist. Sie treten in die heiße Sonnenglut auf die Straße hinaus.

Maria von Magdala kniet zu Füßen Jesu nieder und sagt: «Ich danke dir für alles! Und besonders auch dafür, daß ich diese Pilgerfahrt machen durfte. Du allein hast Weisheit. Nun reise ich ab, frei von den Überbleibseln der Maria vergangener Zeiten. Segne mich, Herr, damit ich immer stärker werde!»

«Ja, ich segne dich! Freue dich an den Brüdern, und mit den Brüdern bilde dich stets nach mir. Leb wohl, Maria! Leb wohl, Martha! Sage Lazarus, daß ich ihn segne. Ich vertraue euch diese Frau an. Ich schenke sie euch nicht. Sie ist meine Jüngerin. Doch ich möchte, daß sie durch euch ein Minimum meiner Lehre kennenlernt. Später werde ich kommen. Noemi, ich segne dich, und auch euch beide!»

Maria und Martha haben Tränen in den Augen. Der Zelote grüßt sie besonders herzlich und gibt ihnen ein Schreiben mit für seinen Diener. Die anderen werden sie alle zusammen grüßen. Dann setzt sich der Wagen in Bewegung.

«Und nun wollen wir nach Schatten suchen. Gott möge sie begleiten... Tut es dir sehr leid, Maria, daß sie fortgegangen sind?» fragt er Maria des Alphäus, die ganz leise weint.

«Ja, sie waren so gut!»

«Wir werden sie bald wieder treffen. Dann werden wir noch zahlreicher sein. Du wirst viele Schwestern haben... oder Töchter, wenn dir das besser

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gefällt. Alles ist Liebe, sowohl die mütterliche als auch die schwesterliche Liebe», tröstet sie Jesus.

«Wenn dies nur keine Schwierigkeiten bereitet», murmelt Iskariot.

«Die Liebe bereitet Unannehmlichkeiten?»

«Nein, die Personen anderer Rassen und anderer Stände sind unangenehm.»

«Meinst du Syntyche?»

«Ja, Meister. Schließlich gehörte sie einem Römer, und sie in Besitz zu nehmen ist nicht gut. Er wird gegen uns aufgebracht sein, und wir werden es mit Pontius Pilatus und seiner Härte zu tun bekommen.»

«Aber was hat denn Pilatus damit zu tun, wenn einer seiner Untertanen eine Sklavin verliert? Er wird schon wissen, welchen Wert sie hat. Und wenn er nur einigermaßen redlich ist, wie man von ihm sagt, in der Familie wenigstens, wird er finden, daß diese Frau gut daran getan hat, zu fliehen. Wenn er aber unredlich ist, wird er sagen: "Es geschieht dir recht. Aber vielleicht finde ich sie." Die Unredlichen haben kein Gefühl für den Schmerz anderer. Und außerdem, armer Pontius! Mit all dem Ärger, den wir ihm bereiten, hat er keine Zeit, sich mit den Klagen eines Mannes abzugeben, der sich eine Sklavin hat entschlüpfen lassen!» sagt Petrus. Und fast alle geben ihm recht und lachen über die Wutausbrüche des unzüchtigen Römers.

Aber Jesus leitet das Gespräch auf eine höhere Ebene. «Judas, kennst du das Deuteronomium?»

«Gewiß, Meister! Und ich zögere nicht, zu sagen, daß nur wenige es kennen.»

«Wie urteilst du darüber?»

«Ich halte es für das Sprachrohr Gottes.»

«Das Sprachrohr. Also das Echo des Wortes Gottes?»

«Genau so!»

«Du hast richtig geurteilt. Aber warum glaubst du dann nicht, daß es gut ist, das zu tun, was es gebietet?»

«Das habe ich nie gesagt. Im Gegenteil! Ich finde, wir übertreten es zu sehr, indem wir das neue Gesetz befolgen.»

«Das neue Gesetz ist die Frucht des alten, das heißt, die erreichte Vollkommenheit des Glaubensbaumes. Aber niemand unter uns vernachlässigt es. Was mich betrifft, so bin ich der erste, der es beachtet und verhindert, daß andere es außerachtlassen.» Jesus betont diese Worte ausdrücklich. Dann fährt er fort: «Das Deuteronomium ist unantastbar. Auch wenn mein Reich triumphiert, und mit meinem Reich das neue Gesetz mit seinen neuen Gesetzesbüchern und Satzungen, wird es immer auf die neuen Gebote angewandt werden, so wie man die guten Quadersteine antiker Gebäude für neue gebraucht, weil es perfekte Steine sind, die starke Mauern ergeben. Aber mein Reich ist noch nicht gekommen, und ich,

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als getreuer Israelit, verstoße nicht gegen das Buch des Moses. Es bildet die Grundlage meiner Handlungen und meiner Lehre. Auf dieser Grundlage baut der Sohn des Vaters als Mensch und Meister die himmlischen Gebäude seiner Natur und Weisheit auf.

Im Deuteronomium heißt es: "Du sollst dem Herrn den entflohenen Sklaven nicht ausliefern, der bei dir Schutz gesucht hat. Er soll bei dir wohnen, solange es ihm gefällt, und in einer deiner Städte Ruhe finden, und du sollst ihn nicht betrüben." Dies in dem Falle, daß jemand durch unmenschliche Behandlung zur Flucht veranlaßt wird. In meinem Falle, im Falle der Syntyche, ist es nicht die Flucht in eine begrenzte Freiheit, sondern die Flucht in die unbegrenzte Freiheit des Sohnes Gottes. Und du willst, daß ich der Lerche, die der Schlinge der Jäger entflohen ist, aufs neue ein Netz spanne und sie in ihr Gefängnis zurückführe, um sie nach der Freiheit auch der Hoffnung zu berauben. Nein, niemals! Ich preise Gott, denn wie die Reise nach Endor dem Vater einen Sohn eingebracht hat, so hat mir die Reise nach Caesarea dieses Geschöpf zugeführt, damit ich es dem Vater bringe.

In Sycaminon habe ich euch von der Macht des Glaubens gesprochen. Heute werde ich zu euch über das Licht der Hoffnung sprechen. Aber jetzt wollen wir in diesem dichten Obstgarten verweilen, um etwas zu essen und uns auszuruhen, denn die Sonne brennt, als ob sich die Hölle geöffnet hätte.»

298. JESUS SPRICHT ÜBER DIE HOFFNUNG

Einige Winzer kommen mit Körben voll goldgelber Trauben, die aus Bernstein gemacht scheinen, durch den Obstgarten und fragen die Apostel: «Seid ihr Pilger oder Fremde?»

«Wir sind Galiläer und pilgern zum Karmel», antwortet Jakobus des Zebedäus, der mit den Fischerfreunden die Beine reckt, um einen Rest von Schläfrigkeit zu überwinden, für alle. Iskariot und Matthäus erwachen soeben im Gras, in das sie sich gelegt hatten; die älteren hingegen sind müde und schlafen noch. Jesus spricht mit Johannes von Endor und Ermastheus, während Maria und Maria des Kleophas in der Nähe sind, aber schweigen.

Die Winzer fragen: «Kommt ihr von weit her?»

«Von Caesarea, unserem letzten Aufenthalt. Doch zuvor sind wir in Sycaminon und in noch weiter entfernten Städten gewesen. Wir kommen aus Kapharnaum.»

«Oh! Welch ein weiter Weg in dieser Jahreszeit! Warum seid ihr nicht in unser Haus gekommen? Dort ist es, seht ihr es? Wir hätten euch kühles

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Wasser zur Erfrischung eurer Glieder und Nahrung gegeben; ländliche zwar, aber gute. Kommt doch jetzt!»

«Wir sind dabei aufzubrechen. Gott möge es euch trotzdem vergelten.»

«Der Karmel flieht nicht auf einem feurigen Wagen wie sein Prophet», sagt ein Bauer halb ernst.

«Es kommt kein Wagen mehr vom Himmel, um die Propheten zu entführen. Es gibt keine Propheten mehr in Israel. Man sagt, daß Johannes schon tot sei», sagt ein anderer Bauer.

«Tot? Seit wann denn?»

«Reisende aus Transjordanien haben es uns erzählt. Habt ihr ihn verehrt?»

«Wir waren seine Jünger!»

«Warum habt ihr ihn verlassen?»

«Um dem Lamm Gottes zu folgen, dem Messias, den er angekündigt hat. Dieser ist immer noch in Israel, ihr Männer! Und mehr als ein feuriger Wagen wäre notwendig, ihn würdig in den Himmel zu führen! Glaubt ihr nicht an den Messias?»

«Und ob wir glauben! Wir haben uns vorgenommen, ihn nach der Ernte aufzusuchen. Man sagt, daß er dem Gesetz treu ergeben ist und an den vorgeschriebenen Feiertagen den Tempel aufsucht. Wir werden bald zum Laubhüttenfest reisen und dann jeden Tag im Tempel auf ihn warten, um ihn zu sehen. Wenn wir ihn nicht finden, werden wir auf die Suche gehen, bis wir ihn gefunden haben. Ihr, die ihr ihn kennt, sagt uns: ist es wahr, daß er sich fast immer in Kapharnaum aufhält? Ist es wahr, daß er hochgewachsen, jung, bleich und blond ist und eine Stimme hat, die anders ist als die aller anderen Menschen, die die Herzen rührt und die sogar Tiere und Pflanzen hören?»

«Alle mit Ausnahme der Herzen der Pharisäer, Gamala. Sie sind die verstocktesten.»

«Sie sind nicht einmal Tiere. Sie sind Dämonen, jener eingeschlossen, dessen Name ich trage. Aber sagt: Ist es wahr, daß er so gut ist und mit allen spricht, alle tröstet, die Kranken heilt und die Sünder bekehrt?»

«Glaubt ihr das?»

«Ja. Wir möchten es jedoch von euch wissen, die ihr ihm folgt. Oh, wenn ihr uns doch zu ihm führen könntet!»

«Aber müßt ihr nicht die Reben pflegen?»

«Wir müssen auch die Seele pflegen, die mehr wert ist als die Reben. Ist er jetzt in Kapharnaum? Wenn wir uns anstrengen, könnten wir in zehn Tagen hin und zurück sein ...»

«Er ist hier, den ihr sucht. Er hat sich in eurem Obstgarten ausgeruht und spricht jetzt mit dem Alten und dem Jungen. Bei ihm sind auch seine Mutter und ihre Schwester.»

«Er ist da! ... Oh! ... Was tun wir jetzt?»

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Sie sind vor Staunen wie erstarrt. Sie sind ganz Auge, um zu sehen. Ihre ganze Lebenskraft liegt in den Pupillen.

«Und nun? Ihr hattet ein so großes Verlangen, ihn zu sehen, und nun rührt ihr euch nicht? Seid ihr zur Salzsäule erstarrt?» neckt sie Petrus.

«Nein... es ist... Aber ist denn der Messias so einfach?»

«Wie meint ihr denn, daß er sein sollte? Auf einem flammenden Thron sitzend und mit einem königlichen Mantel angetan? Habt ihr ihn euch wie einen neuen Achaschwerosch vorgestellt?»

«Nein. Aber so einfach, er, der so heilig ist!»

«Gerade weil er heilig ist, ist er so einfach, Mann! Gut, machen wir es so... Meister! Hab Geduld, komm hierher und wirke ein Wunder. Hier sind Leute, die dich suchen und die wie versteinert stehen, seit sie dich gesehen haben. Komm und gib ihnen die Bewegung und die Sprache wieder!»

Jesus, der sich auf den Anruf hin umgewandt hat, erhebt sich lächelnd und kommt auf die Winzer zu, die ihn völlig entgeistert ansehen, fast als würden sie sich fürchten.

«Der Friede sei mit euch. Habt ihr nach mir verlangt? Hier bin ich!»Dann öffnet er, wie immer, seine Arme, als ob er sich anbieten wolle. Die Winzer fallen auf die Knie und sind ganz still.

«Fürchtet euch nicht! Sagt mir, was ihr wollt.»

Sie bieten ihm ihre mit Weintrauben gefüllten Körbe an, ohne ein Wort zu sagen. Jesus bewundert die herrlichen Früchte und sagt: «Danke», streckt die Hand aus, nimmt eine Traube und beginnt, die Beeren zu essen.

«O allmächtiger Gott! Er ißt wie wir!» seufzt der, welcher Gamala genannt wird.

Es ist unmöglich, über diesen Ausruf nicht zu lachen. Auch Jesu Lächeln ist ausgeprägter als gewöhnlich. Und wie um sich zu entschuldigen, sagt er: «Ich bin der Menschensohn!»

Diese Geste hat geholfen, die ekstatische Gefühllosigkeit zu überwinden, und Gamala sagt: «Würdet ihr nicht in unser Haus kommen, wenigstens bis zur Vesperzeit? Wir sind zahlreich, denn wir sind sieben Brüder mit Frauen und Kindern, sowie den Alten, die friedlich auf den Tod warten.»

«Laßt uns gehen. Ihr weckt die Gefährten und kommt uns nach. Mutter, komm mit Maria.»

Und Jesus folgt den Bauern, die aufgestanden sind und etwas seitwärts gehen, um ihn wandeln zu sehen. Der enge Pfad führt zwischen Stämmen von Bäumen hindurch, die durch Weinstöcke miteinander verbunden sind.

Sie kommen bald zum Haus, besser gesagt, zu den Häusern; denn es ist ein kleines Viereck von Häusern mit einem gemeinsamen großen Hof in der Mitte; dort befindet sich ein Brunnen, zu dem man durch einen langen

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Laubengang gelangt, der als Vorhalle dient und sicher bei Nacht mit dem schweren Tor abgeschlossen wird.

«Der Friede sei mit diesem Haus und mit denen, die darin wohnen», sagt Jesus beim Eintreten, indem er die Hand zum Segen erhebt, um sie alsbald sinken zu lassen und ein halbnacktes Kind zu liebkosen, das ihn ganz verzückt ansieht. Es ist schön in seinem ärmellosen Hemdchen, das ihm von den runden Schultern gerutscht ist, steht aufrecht auf seinen nackten Beinchen, hat ein Fingerchen im Mund und hält im anderen Händchen eine in Öl getauchte Brotkruste.

«Das ist David, das Kind meines jüngeren Bruders», erklärt Gamala, während sich ein anderer Winzer zum nächsten Haus begibt, dort Bescheid sagt und wieder herauskommt, um in das nächste zu gehen, und so weiter. Bald schauen überall neugierige Menschen aller Altersstufen heraus, ziehen sich dann zurück und kommen nach einer kurzen Toilette wieder zum Vorschein. Im Schatten eines vorspringenden Daches, an einen riesigen Feigenbaum gelehnt, sitzt ein Greis mit einem Stab in den Händen. Er hebt kaum sein Haupt, als ob ihn nichts interessieren würde.

«Das ist unser Vater», erklärt Gamala, «einer der Alten des Hauses; auch die Frau Jakobs hat ihren Vater, der allein geblieben war, mit hierher gebracht; und dann ist auch noch die alte Mutter Lias, der jüngsten Frau hier, da. Unser Vater ist blind. Über seine Augen hat sich ein Schleier gelegt. So viel Sonne in den Feldern! So viel Hitze von der Erde! Armer Vater! Er ist sehr traurig. Aber er ist sehr gut. Er wartet jetzt auf seine Enkel, denn sie sind seine einzige Freude.»

Jesus begibt sich zu dem Alten. «Gott segne dich, Vater!»

«Wer du auch sein magst, Gott möge deinen Segen erwidern», antwortet der Alte und wendet sein Haupt in die Richtung der Stimme.

«Dein Los ist hart, nicht wahr?» fragt Jesus sanft, und er gibt ein Zeichen, daß niemand verrate, wer spricht.

«Es kommt von Gott nach dem vielen Guten, das er mir in meinem langen Leben gegeben hat. Wie ich das Gute von Gott angenommen habe, so muß ich auch das Unglück mit meinen Augen hinnehmen. Es dauert ja schließlich nicht ewig. Es wird im Schoß Abrahams zu Ende sein.»

«Du hast recht! Es wäre schlimmer, wenn die Seele blind wäre.»

«Ich habe mir immer Mühe gegeben, sie wach zu halten.»

«Wie hast du das gemacht?»

«Du, der du mit mir sprichst, bist noch jung. Deine Stimme sagt es mir. Du bist wohl nicht wie die Jünglinge von heute, die alle blind sind, weil sie ohne Religion sind. Schau, es ist ein großes Unglück, nicht zu glauben und nicht zu tun, was Gott uns aufgetragen hat. Ein Greis sagt es dir, mein Junge! Wenn du das Gesetz übertrittst, wirst du blind sein auf Erden und im anderen Leben. Du wirst niemals Gott schauen. Denn der Tag wird einmal kommen, an dem der Messias, der Erlöser, uns die Tore zu

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Gott öffnet. Ich bin zu alt, um diesen Tag auf Erden zu erleben. Aber ich werde ihn im Schoß Abrahams sehen. Deswegen beklage ich mich über nichts. Denn ich hoffe, daß ich mit diesen Schatten bezahlen kann, was ich Gott aus Undankbarkeit schuldig bin, und damit das ewige Leben verdiene. Aber du bist jung. Bewahre deinen Glauben, mein Sohn, damit du den Messias sehen kannst. Denn die Zeit ist nahe. Der Täufer hat es gesagt. Du wirst ihn noch sehen. Doch wenn deine Seele blind ist, wirst du wie jene sein, von denen Isaias sagt: "Sie haben Augen und sehen nicht!"»

«Möchtest du sehen, Vater?» fragt Jesus und legt eine Hand auf das weiße Haupt.

«Ich möchte sehen, ja! Aber lieber will ich sterben, ohne ihn zu sehen, als daß ich ihn sehen kann und meine Söhne ihn nicht erkennen. Ich habe noch den alten Glauben, der mir genügt. Sie! ... Oh! Die Welt von heute... !»

«Vater, dann schau auf den Messias, und dein Abend sei gekrönt mit Freude.» Jesus läßt seine Hand von den weißen Haaren über die Stirne bis zum bärtigen Kinn gleiten, wie bei einer Liebkosung. Dann beugt er sich nieder, um auf derselben Höhe zu sein wie das Gesicht des Greises.

«O allerhöchster Herr! Aber ich sehe ja! Ich sehe... Wer bist du, mit diesem Gesicht, das mir unbekannt und doch so vertraut ist, als ob ich es schon gesehen hätte? ... Aber! ... Oh, Dummkopf, der ich bin! Du, der du mir das Augenlicht wiedergegeben hast, bist der gepriesene Messias! Oh, oh!» Der Alte weint auf die Hände Jesu, die er ergriffen hat, und bedeckt sie mit Küssen und Tränen. Die ganze Verwandtschaft ist in Aufregung.

Jesus befreit eine Hand, liebkost noch einmal den Alten und sagt: «Ja, ich bin es! Komm, damit du außer meinem Antlitz auch mein Wort kennenlernst.» Und er begibt sich zu einer Stiege, die zu einer von einer dichten Pergola beschatteten Terrasse führt. Alle folgen ihm.

«Ich hatte meinen Jüngern versprochen, von der Hoffnung zu sprechen, und ich will dazu ein Gleichnis benützen. Das Gleichnis ist dieser alte Israelit. Der Vater im Himmel gibt mir das Thema, um euch von der großen Tugend zu sprechen, die wie die Arme eines Jochs den Glauben und die Liebe stützt.

O süßes Joch! Galgen der Menschheit, wie der Querbalken des Kreuzes. Thron des Heiles, Stütze der heilbringenden Schlange, die in der Wüste aufgerichtet wurde. Galgen der Menschheit. Brücke der Seele, um den Flug ins Licht anzutreten. Sie ist gesetzt zwischen dem unerläßlichen Glauben und die vollkommenste Liebe; denn ohne Hoffnung kann es keinen Glauben geben, und ohne Hoffnung stirbt die Liebe.

Der Glaube setzt die sichere Hoffnung voraus. Wie kann man glauben, zu Gott zu gelangen, wenn man nicht auf seine Güte hofft? Wie kann man sich im Leben wieder aufrichten, wenn man nicht auf eine Ewigkeit

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hofft? Wie können wir in Gerechtigkeit ausharren, wenn uns nicht die Hoffnung belebt, daß Gott jede unserer guten Taten sieht und belohnt? Und ebenso, wie könnte die Liebe bestehen, wenn in uns keine Hoffnung wäre? Die Hoffnung bereitet der Liebe den Weg. Denn ein Mensch muß hoffen, um lieben zu können. Die Verzweifelten lieben nicht mehr. Die Treppe besteht aus Stufen und Geländer: der Glaube ist gleich den Stufen; die Hoffnung ist das Geländer; oben ist die Liebe, zu der man durch die beiden anderen aufsteigt. Der Mensch hofft, um zu glauben; er glaubt, um zu lieben.

Dieser Mann hat zu hoffen verstanden. Er wurde geboren, ein Kind Israels wie alle anderen. Er ist aufgewachsen mit derselben Lehre wie die anderen. Er ist Sohn des Gesetzes geworden wie alle anderen. Er ist Mann, Gatte, Vater und Greis geworden, immer hoffend auf die den Patriarchen gegebenen und durch die Propheten wiederholten Verheißungen. Im Alter sind Schatten auf seine Augen gefallen, aber nicht in sein Herz. In ihm ist immer die Hoffnung lebendig geblieben. Die Hoffnung, Gott zu schauen. Gott zu schauen im anderen Leben. Und in der Hoffnung auf dieses ewige Schauen, eine noch innigere und teurere Hoffnung: den Messias zu sehen. Ohne zu wissen, wer der Jüngling war, der zu ihm sprach, hat er mir gesagt: "Wenn du das Gesetz verläßt, wirst du blind sein auf Erden und im Himmel. Du wirst Gott nicht sehen und den Messias nicht erkennen."

Er hat wie ein Weiser gesprochen. Zu viele Blinde gibt es jetzt in Israel. Sie haben keine Hoffnung mehr, denn die Auflehnung gegen das Gesetz hat sie in ihnen getötet. Diese Auflehnung, die immer Auflehnung ist, auch wenn man sie in heilige Gewänder kleidet, sobald das Wort Gottes nicht voll angenommen wird. Ich sage: das Wort Gottes, nicht die Zusätze, die die Menschen gemacht haben und die wegen ihrer Unzahl und weil sie eben von Menschen stammen, sogar von denen vernachlässigt werden, die sie gemacht haben, und von den anderen nur mechanisch, gezwungenermaßen, mühsam und fruchtlos befolgt werden. Sie haben keine Hoffnung mehr und lachen über die ewigen Wahrheiten. Darum haben sie auch keinen Glauben und keine Liebe mehr. Das göttliche Joch, das dem Menschen von Gott auferlegt wurde, um sich in Gehorsam und Verdienst zu wandeln; das himmlische Kreuz, das Gott dem Menschen gegeben hat, um die Schlangen des Bösen zu besiegen und das Heil zu erlangen, hat den Querbalken verloren, der die helle und die rote Flamme trug: den Glauben und die Liebe; und so ist die Finsternis in die Herzen eingekehrt.

Der Greis hat mir gesagt: "Es ist ein großes Unglück, nicht zu glauben und nicht zu tun, was Gott geboten hat."

Das ist wahr! Ich bestätige es euch. Es ist schlimmer als die leibliche Blindheit, die noch geheilt werden kann, um einem Gerechten die Freude zu schenken, die Sonne, die Wiesen, die Früchte der Erde, die Gesichter

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der Kinder und Enkel wiederzusehen; und vor allem das zu sehen, was die Hoffnung seiner Hoffnung war: Den Messias des Herrn zu sehen. Ich wünschte, daß eine solche Tugend in den Herzen aller Israeliten lebendig wäre, besonders in jenen der Gesetzeskundigen. Es genügt nicht, im Tempel gewesen oder vom Tempel zu sein, und es genügt nicht, die Worte des Buches auswendig zu wissen. Man muß sie mittels der drei göttlichen Tugenden zum Leben des eigenen Lebens machen.

Hier habt ihr dafür ein Beispiel: wo diese lebendig sind, ist alles leicht. Auch das Ertragen von Unglück. Denn das Joch Gottes ist stets ein leichtes Joch, das nur auf dem Fleisch lastet, aber den Geist nicht niederdrückt. Geht hin in Frieden, die ihr in diesem Haus guter Israeliten verbleibt. Der Friede sei mit dir, alter Vater! Du hast die Gewißheit, daß Gott dich liebt. Beschließe deine gerechten Tage, indem du deine Weisheit in die Herzen der Kinder deines Blutes legst. Ich kann nicht hier bleiben. Aber mein Segen bleibt in diesem Haus, reich an Gnaden wie die Trauben dieses Weinstocks.»

Jesus möchte gehen. Aber er muß wenigstens so lange bleiben, bis er alle Farnilienangehörigen kennengelernt hat und alle Reisesäcke prall gefüllt sind...

Dann kann er sich auf den Weg machen; er benützt eine Abkürzung durch den Weinberg, die ihm die Winzer zeigen. Sie verlassen ihn nicht eher, als bis die Hauptstraße erreicht und ein Dorf in Sicht ist, in dem Jesus und die Seinen übernachten können.

299. JESUS BEGIBT SICH MIT JAKOBUS DES ALPHÄUS AUF DEN KARMEL

«Verkündet die Frohe Botschaft in der Ebene von Esdrelon, bis ich wieder zu euch zurückkehre», befiehlt Jesus seinen Aposteln an einem heiteren Morgen, während sie an den Ufern des Kischon etwas Nahrung verzehren: Brot und Obst.

Die Apostel scheinen nicht besonders begeistert zu sein, aber Jesus ermutigt sie, gibt ihnen Richtlinien, an die sie sich halten können, und schließt: «Ihr habt ja auch meine Mutter bei euch. Sie wird euch eine gute Ratgeberin sein. Geht zu den Bauern des Jochanan und versucht, am Sabbat mit den Leuten des Doras zu sprechen. Leistet ihnen Beistand und tröstet den alten Verwandten des Margziam mit Nachrichten über den Knaben. Sagt ihm, daß wir ihn am Laubhüttenfest zu ihm bringen werden. Gebt diesen Unglücklichen viel, 'alles was ihr habt. Alles, was ihr wißt, eure ganze Liebe und unser ganzes Geld. Habt keine Angst! Wie es ausgegeben wird, kommt es wieder herein. Wir werden nie Hungers sterben,

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selbst wenn wir nur von Brot und Obst leben. Und wenn ihr Nackten begegnet, dann gebt Kleider, auch die meinen. Ja, meine zuerst! Wir werden nie nackt bleiben. Und wenn ihr Elende seht, die nach mir verlangen, weist sie nicht zurück. Ihr habt kein Recht dazu. Leb wohl, Mutter! Gott möge euch alle durch meinen Mund segnen! Geht beruhigt! Komm, Jakobus!»

«Nimmst du nicht einmal deine Tasche mit?» fragt Thomas, da er sieht, daß der Herr von dannen geht, ohne sie zu nehmen.

«Ich brauche sie nicht. Ich werde so beim Gehen unbehindert sein.»

Auch Jakobus läßt seine Tasche zurück, obwohl seine Mutter sich beeilt, sie mit Brot, Käse und Früchten vollzustopfen.

Sie gehen und folgen eine Weile dem Ufer des Kischon; dann aber entschwinden sie an den ersten Hängen, die zum Karmel führen.

«Mutter, nimm du uns an die Hand. Führe uns... denn wir sind zu nichts fähig», bekennt Petrus demütig.

Maria lächelt beruhigend und sagt: «Es ist sehr einfach. Ihr müßt nur seinen Befehlen gehorchen, dann werdet ihr alles sehr gut machen. Laßt uns gehen.»

Jesus steigt mit Vetter Jakobus höher, ohne zu sprechen; auch sein Begleiter schweigt. Jesus konzentriert sich auf seine Gedanken. Jakobus, der sich an der Schwelle einer Offenbarung fühlt, ist ganz erfüllt von ehrfurchtsvoller Liebe, von einer geistigen Furcht, und blickt von Zeit zu Zeit auf Jesus, dessen Antlitz in seiner Sammlung bisweilen in einem strahlenden Lächeln aufleuchtet. Er sieht ihn an, als schaue er auf den noch nicht fleischgewordenen Gott, der in seiner unermeßlichen Majestät erglänzt, und sein Gesicht ähnelt sehr dem des heiligen Joseph mit seinen braunen Wangen und den Backenknochen, die sich bald röten, bald bleich werden vor Rührung. Aber er achtet immer noch das Schweigen Jesu.

Auf steilen Abkürzungen, fast ohne auf die Hirten zu blicken, die ihre Herden auf den grünen Halden weiden, zwischen Büschen von Steineichen, Eschen und anderen Bäumen, steigen sie immer höher, während ihre Mäntel die graugrünen Wacholderbüsche, die goldfarbenen Ginsterstauden, die smaragdgrünen Sträucher mit den Perlen der Myrte und die schaukelnden Vorhänge des Geißblattes und der blühenden Waldrebe streifen.

Sie gehen bergan und lassen Holzarbeiter und Hirten hinter sich, bis sie nach einem ermüdenden Aufstieg die Höhe des Berges erreichen, oder vielmehr eine kleine Ebene am Fuße einer von riesigen Eichen gekrönten Spitze. Hohe Stämme, deren Basis die weiter unten am Hang stehenden Bäume bilden, grenzen sie mit einer Art Brustwehr ab, so daß die kleine Wiese wie auf einer rauschenden Unterlage liegt und abseits von den übrigen Teilen des Berges, die zu sehen die tieferliegenden Baumkronen

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verhindern, während im Rücken der Gipfel seine Bäume zum Himmel reckt. Über allem der offene Himmel und in der Ferne der weite Horizont, der sich im Sonnenuntergang rötet und im ganz entflammten Meer versinkt. Ein Erdspalt, der nur deshalb nicht einstürzt, weil die Wurzeln der riesigen Eichen ihn mit einem Netz von Zangen halten, öffnet sich in einem Vorsprung, kaum breit genug, um einem nicht zu beleibten Mann Platz zu bieten. Ein unbändiger Strauch scheint ihn zu verlängern, denn er reckt sich horizontal von der Seite des Vorsprungs nach vorne.

Jesus öffnet nun seinen Mund und sagt: «Jakobus, mein Bruder, hier wollen wir heute nacht bleiben. Und trotz der großen körperlichen Müdigkeit bitte ich dich, die Nacht mit mir im Gebet zu verbringen; die Nacht und den ganzen morgigen Tag, bis zu dieser Stunde. Ein ganzer Tag – vierundzwanzig Stunden – ist nicht zu viel, um die Gnaden, die ich dir geben will, zu empfangen.»

«Jesus, mein Herr und Meister, ich werde immer tun, was du willst», antwortet Jakobus, der noch bleicher geworden ist, als Jesus zu sprechen begonnen hat.

«Ich weiß es. Wir wollen jetzt Brombeeren und Heidelbeeren sammeln und unseren Durst an einer Quelle stillen, die ich etwas tiefer unten gehört habe. Laß deinen Mantel hier in diesem Spalt. Niemand wird ihn nehmen.»

Und zusammen mit dem Vetter umgeht er den Vorsprung, um die wilden Früchte der Sträucher im Unterholz zu sammeln. Dann füllen sie wenige Meter weiter unten, auf der dem Weg ihres Aufstiegs gegenüberliegenden Seite, die Feldflaschen – das einzige, was sie mitgenommen haben – an einer plätschernden Quelle, die aus einem Gewirr von dicken Wurzeln entspringt; sie waschen sich, um sich zu erfrischen, da die Hitze auch hier in der Höhe noch anhält. Dann steigen sie wieder zu ihrer Hochebene hinauf, und während die im Westen untergehende rote Sonne auf den Gipfel scheint, essen sie, was sie gesammelt haben, und trinken noch etwas, und lächeln sich dabei zu wie zwei glückliche Kinder oder zwei Engel. Wenige Worte: ein Gedanke an jene, die sie in der Ebene unten zurückgelassen haben; ein Ausruf der Bewunderung über die außerordentliche Schönheit des Tages; die Namen der beiden Mütter... Sonst nichts.

Dann zieht Jesus den Vetter an sich, und dieser nimmt eine Haltung ein, die sonst Johannes eigen ist. Er lehnt sein Haupt an die Brust Jesu, läßt eine Hand im Schoß, die andere in der Hand des Vetters ruhen, und so verharren sie, während der Abend herniedersteigt unter dem lauten Gezwitscher der Vögel, die sich ins Gebüsch zurückziehen, und dem immer schwächer werdenden entfernten Gebimmel der Glocken. Das leise Rauschen des Windes, der die Wipfel kühlend streichelt und sie nach der drückenden Hitze des Tages wieder belebt und ihnen den Tau ankündigt.

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So verharren sie lange, und ich glaube, es ist nur ein Schweigen der Lippen, während die Seelen aktiver als sonst übernatürliche Gespräche führen.

300. «AUF VOLLKOMMENE WEISE LIEBEN, UM HEILIGMÄSSIG VORGESETZTER ZU SEIN»

Um die gleiche Stunde tags darauf. Jakobus sitzt noch zusammengekauert im Spalt des Berges, das Haupt auf den Knien, die er mit den Armen umschlungen hat. Es scheint, als ob er in tiefe Betrachtung versunken oder eingeschlafen sei. Ich kann es nicht recht erkennen. Immerhin ist er unempfindlich gegen alles, was um ihn herum vorgeht, zum Beispiel gegenüber dem Streit zweier großer Vögel, die sich aus irgendeinem Grund auf der Wiese bekämpfen. Ich glaube, es sind Gebirgshähne oder Auerhähne oder Fasane, denn sie haben die Größe eines Hahns, bunte Federn, aber keine Kämme, sondern nur einen Helm aus rotem Fleisch und etwas wie Korallen auf dem Kopf und an den Wangen. Und wenn ihr Kopf auch klein ist, so muß der Schnabel doch hart wie ein Stahl sein. Federn fliegen durch die Luft und Blut spritzt auf die Erde, und alles wird von einem solchen Geschrei begleitet, daß das Gezwitscher und Gepiepse in den Zweigen verstummt. Vielleicht beobachten die kleinen Vögel diesen wilden Zweikampf...

Jakobus hört nichts. Jesus hingegen hört es und kommt von der Höhe herunter, auf die er gestiegen war. Er klatscht in die Hände und trennt die beiden Kampfhähne, die blutend davonstieben, der eine zur Küste hin, der andere auf den Wipfel einer Eiche, wo er sich die ganz zerzausten Federn ordnet. Jakobus hebt auch nach dem von Jesus verursachten Geräusch nicht das Haupt. Jesus macht noch einige Schritte und bleibt dann lächelnd mitten auf der kleinen Wiese stehen. Sein weißes Gewand färbt sich auf der rechten Seite rot, so stark ist die Abendröte. Es scheint, als ob der Himmel in Flammen stehe. Jakobus schläft offensichtlich nicht, denn als Jesus kaum flüstert, wirklich nur flüstert: «Jakobus, komm her», hebt er sein Haupt, löst die verschlungenen Arme, springt auf und geht zu Jesus hin.

Er bleibt in einer Entfernung von nur zwei Schritten vor ihm stehen und schaut ihn an. Auch Jesus schaut ihn an, ernst und doch ermutigend durch ein Lächeln, das weder auf den Lippen noch im Blick liegt, aber trotzdem zu erkennen ist. Er blickt ihn fest an, als wolle er die geringsten Bewegungen und Regungen im Herzen des Vetters und Apostels lesen. Dieser, der sich an der Schwelle einer Offenbarung fühlt, wird wie gestern immer bleicher, bis er die gleiche Farbe hat wie sein Leinengewand. Jesus

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legt ihm die Hände auf die Schultern und bleibt so mit ausgestreckten Armen stehen. Jakobus scheint jetzt wirklich eine Hostie zu sein. Nur die sanften, dunkelbraunen Augen und der kastanienbraune Bart verleihen dem erwartungsvollen Antlitz Farbe.

«Jakobus, mein Bruder, weißt du, weshalb ich nach Stunden des Gebetes und der Betrachtung unter vier Augen mit dir sprechen will?»

Jakobus bringt keine Antwort heraus, so bewegt ist er. Endlich öffnet er die Lippen, um leise zu antworten: «Um mir eine besondere Unterweisung zu erteilen, die die Zukunft betrifft, oder weil ich der Unfähigste von allen bin. Ich danke dir jetzt schon dafür, auch wenn es sich um einen Tadel handelt. Aber glaube mir, Meister und Herr, wenn ich schwerfällig oder unfähig bin, dann nur, weil ich schwach bin, und nicht aus Mangel an gutem Willen.»

«Es soll kein Tadel sein, sondern eine Unterweisung für die Zeit, in der ich nicht mehr unter euch sein werde. In diesen Monaten hast du in deinem Herzen viel nachgedacht über das, was ich eines Tages am Fuße dieses Berges sagte, als ich dir versprach, mit dir hierher zu kommen; nicht allein, um über den Propheten Elias zu reden und das Meer zu betrachten, das dort in unendlicher Weite erglänzt, sondern um dir von einem anderen Meer zu erzählen, das noch größer, veränderlicher und unberechenbarer ist als dieses, das heute dem friedlichsten Becken gleicht und vielleicht in wenigen Stunden mit gierigem Hunger Schiffe und Menschen verschlingt. Du hast dich nie von dem Gedanken gelöst, seit ich dir gesagt habe, daß dein Hierherkommen sich auf deine künftige Bestimmung beziehen würde. Und so bist du jetzt noch bleicher, da du ahnst, daß es eine schwere Aufgabe, eine verantwortungsvolle Erbschaft sein wird, die auch einen Helden erzittern lassen könnte. Eine Verantwortung und eine Sendung, die mit der größtmöglichen Heiligkeit eines Menschen wahrgenommen werden muß, um den Willen Gottes nicht zu enttäuschen. Fürchte dich nicht, Jakobus! Ich will nicht dein Verderben. Wenn ich dich dazu bestimme, so bedeutet dies, daß ich weiß, daß es dir nicht zum Schaden, sondern zu übernatürlicher Freude gereichen wird.

Höre mir zu, Jakobus! Schaffe Frieden in dir durch einen schönen Akt der Hingabe an mich, damit du meine Worte hören und behalten kannst.

Nie mehr werden wir so allein und geistig so vorbereitet sein, um uns zu verstehen. Ich werde eines Tages fortgehen, wie alle Menschen, die sich nur eine Zeitlang auf Erden aufhalten. Mein Aufenthalt wird auf andere Art und Weise als der der übrigen Menschen enden, aber auch er wird enden, und ihr werdet mich nur noch im Geist bei euch haben; doch ich versichere dir, er wird euch niemals verlassen.

Ich werde weggehen, nachdem ich euch gegeben habe, was nötig ist, um meine Lehre auf der Welt zu verbreiten, nachdem ich mein Opfer vollbracht und euch die Gnade erlangt habe. Mit ihr und mit dem siebenfachen Feuer

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der Weisheit werdet ihr Dinge vollbringen, die euch nur als Wahnsinn und Anmaßung erschienen, würde man euch heute auffordern, sie zu tun.

Ich werde von euch gehen, und ihr werdet zurückbleiben. Und die Welt, die Christus nicht verstanden hat, wird auch die Apostel Christi nicht verstehen; daher werdet ihr verfolgt und vertrieben werden, als ob ihr die gefährlichsten Leute für das Wohlergehen Israels wäret. Aber da ihr meine Jünger seid, sollt ihr glücklich sein, dieselben Bedrängnisse zu erleiden, die euer Meister erduldet hat.

Ich habe dir eines Tages im Nisan gesagt: "Du wirst es sein, der von den Propheten des Herrn übrigbleibt." Deine Mutter hat auf geistige Eingebung hin die Bedeutung dieser Worte schon halb verstanden. Doch bevor sich diese Worte an meinen Aposteln bewahrheiten, werden sie sich an dir und durch dich bewahrheitet haben.

Jakobus, alle außer dir werden vertrieben werden, und das bis zum Ruf Gottes in seinen Himmel. Du wirst auf dem Posten bleiben, für den Gott dich durch den Mund der Brüder bestimmt hat, du Nachkomme des königlichen Geschlechtes, in der königlichen Stadt, um mein Szepter zu tragen und vom wahren König zu sprechen. Vom König Israels und der Welt und seinem erhabenen Königtum, das nur jene begreifen, denen es geoffenbart wird. Es werden Zeiten sein, in denen du Kraft, Ausdauer, Geduld und unbegrenzten Scharfsinn benötigen wirst.

Du wirst gerecht sein müssen, voll Liebe, mit dem schlichten, reinen Glauben eines Kindes, und gleichzeitig gelehrt wie ein wahrer Meister, um den vom Feind bekämpften Glauben in vielen Herzen zu stärken; um die Irrtümer der falschen Christen zu bekämpfen; um die Spitzfindigkeiten zu berichtigen in der Lehre des alten Israel, das schon heute blind ist und nach der Tötung des Lichtes noch blinder sein wird, und das die prophetischen Worte und selbst die Gebote des Vaters, aus dem ich hervorgehe, entstellen wird, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen und die Welt zu überzeugen, daß ich nicht der von den Patriarchen und Propheten Angekündigte bin; daß ich nichts anderes war als ein armer Mensch, ein Verblendeter, ein Tor für die Besseren und ein besessener Häretiker für die weniger Guten des alten Israel.

Ich bitte dich, dann mein anderes Ich zu sein. Nein, das ist nicht unmöglich! Du mußt dir deinen Jesus vergegenwärtigen, seine Taten, seine Worte, seine Werke. So als ob du dich in die irdene Form legtest, die der Metallgießer verwendet, so mußt du dich in mich versenken. Ich werde immer gegenwärtig sein, so gegenwärtig und lebendig in euch, meine Getreuen, daß ihr euch mit mir vereinigen und ein anderes Ich, mein Ich, werden könnt, wenn ihr es nur wollt.

Du aber, der du seit deiner frühesten Jugend mit mir zusammen gewesen bist und die Speise der Weisheit aus den Händen Marias empfangen hast, noch bevor du sie aus meinen Händen erhieltest, der du ein Neffe

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des gerechtesten Menschen bist, der je in Israel gelebt hat, du mußt ein vollkommener Christus sein...»

«Ich kann nicht, ich kann nicht, Herr! Gib diesen Auftrag meinem Bruder. Gib ihn Johannes, Simon Petrus, gib ihn dem anderen Simon. Aber nicht mir, Herr! Warum mir? Was habe ich getan, um ihn zu verdienen? Siehst du denn nicht, daß ich ein ganz armer Mensch bin, der nur die einzige Fähigkeit besitzt, dich mit ganzem Herzen zu lieben und fest an alles zu glauben, was du sagst?»

«Judas hat ein zu heftiges Temperament. Er wird dort sehr gute Dienste leisten, wo es das Heidentum auszumerzen gilt. Aber nicht hier, wo man die zum Christentum bekehren muß, die sich schon allein deshalb für gerecht halten, weil sie das Volk Gottes sind. Nicht hier, wo alle jene zu überzeugen sind, die zwar an mich glauben, aber über den Verlauf der Dinge enttäuscht sein werden. Man muß sie davon überzeugen, daß mein Reich nicht von dieser Welt, sondern ein ganz geistiges Reich der Himmel ist, dessen Vorbereitung ein christliches Leben bildet, also ein Leben, in dem die geistigen Werte vorherrschen.

Überzeugen kann man nur durch ausdauernde Milde. Wehe dem, der den Menschen an der Gurgel packt, um ihn zu überzeugen. Der Angegriffene wird "ja" sagen, um sich aus der Umklammerung zu befreien, und wenn er nicht verdorben, sondern nur unwillig ist, wird er sich auf kein Gespräch mehr einlassen wollen. Ist er aber böswillig oder auch nur fanatisch, wird er fliehen und sich bewaffnen, um den zu töten, der anmaßend neue Lehren vertritt.

Du wirst von Fanatikern umgeben sein, von Fanatikern unter den Christen und unter den Israeliten. Die Ersteren werden von dir Gewaltakte oder wenigstens die Erlaubnis dazu verlangen; denn das alte Israel mit seiner Unerbittlichkeit und seinen Vorbehalten wird in ihnen noch seinen Giftstachel erheben. Die anderen werden gegen dich und deine Brüder auftreten wie zu einem heiligen Krieg zur Verteidigung des alten Glaubens, seiner Symbole und seiner Zeremonien. Und du wirst inmitten dieses sturmgepeitschten Meeres stehen.

Das ist das Los der Vorsteher, und du wirst das Haupt aller sein, die in Jerusalern von deinem Christus zum Glauben an ihn geführt worden sind. Du mußt in vollkommener Weise lieben, um ein heiligmäßiges Oberhaupt zu sein. Nicht Waffen und Verfluchungen, sondern dein Herz mußt du den Waffen und Flüchen der Juden entgegenhalten. Bemühe dich, es nie den Pharisäern nachzutun, die die Heiden als Mist und Abfall betrachten. Auch für sie bin ich gekommen; denn wahrlich, wäre ich nur für Israel gekommen, so wäre die Erniedrigung Gottes zum Fleisch, das dem Tod anheimfällt, unverhältnismäßig groß. Wenn es auch wahr ist, daß meine Liebe sich mit Freuden sogar für eine einzige Seele zur Menschwerdung herabgelassen hätte, so verlangt doch die Gerechtigkeit, die gleichfalls

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eine göttliche Vollkommenheit ist, daß die Erniedrigung des Unendlichen für eine unendliche Menge geschehe: für das Menschengeschlecht!

Und um sie nicht zu vertreiben, mußt du also sanft mit ihnen umgehen und dich darauf beschränken, in bezug auf das Dogma unnachgiebig zu sein; doch allen anderen Lebensformen gegenüber, die nur verschieden von den unsrigen und materieller Art sind, darfst du den Geist nicht verletzen; du sollst vielmehr nachgiebig sein. Viel wirst du um dieser Dinge willen mit den Brüdern zu kämpfen haben, denn Israel ist in Bräuchen befangen, lauter äußerlichen, unnützen Bräuchen, denn sie verändern nicht den Geist. Du jedoch sei einzig und allein um den Geist besorgt, und lehre auch die anderen, es zu sein. Verlange nicht, daß die Heiden plötzlich ihre Gebräuche ändern, auch du änderst die deinen nicht plötzlich. Bleibe nicht an deiner Klippe hängen, denn man muß rudern und darf nicht still sitzen, will man die Wracks auf dem Meer bergen, sie zur Werkstatt bringen und sie erneuern. Und du mußt ausziehen und Wracks suchen! Es gibt sie unter den Heiden und auch in Israel. Am Ende des weiten Meeres ist Gott, der allen seinen Geschöpfen die Arme öffnet, ob sie nun, wie die Israeliten, wegen ihres heiligen Ursprungs reich sind, oder arm wegen ihres Heidentums.

Ich habe gesagt: "Ihr sollt euren Nächsten lieben!" Der Nächste ist nicht nur der Verwandte oder der eigene Landsmann. Der Nächste ist auch der Mann aus dem hohen Norden, dessen Aussehen ihr nicht kennt. Der Nächste ist auch der, der zu dieser Stunde einen Sonnenaufgang bewundert in Zonen, die euch unbekannt sind, oder über die Schneefelder der märchenhaften Bergketten Asiens eilt, oder der aus einem Fluß trinkt, der durch unbekannte Wälder im Inneren Afrikas fließt.

Und wenn ein Sonnenanbeter zu dir kommt, oder einer, der das gefräßige Krokodil als seinen Gott verehrt, oder einer, der sich für den wiedergeborenen Weisen hält, der die Wahrheit erahnt hat, ihre Vollkommenheit aber weder erfaßt noch sie seinen Anhängern zu ihrem Heil weitergeben kann; oder wenn ein angewiderter Bürger von Rom oder Athen mit der Bitte kommt: "Gib mir die Erkenntnis Gottes", dann kannst und darfst du nicht sagen: "Fort mit euch, denn es wäre Profanierung, euch zu Gott zu führen!"

Halte dir vor Augen, daß sie nicht wissen, Israel aber weiß. Und trotzdem gibt es wahrhaftig in Israel viele Götzendiener. Sie sind schlimmer und grausamer als der grausamste Götzendiener der Welt und bringen nicht diesem oder jenem Götzen, sondern sich selbst, ihrem Hochmut, Menschenopfer dar, sobald in ihnen das unstillbare Verlangen nach Blut erwacht, das bis zum Ende der Zeiten andauern wird. Nur wenn sie das Neue glaubensvoll in sich aufnehmen, kann dieses Verlangen gestillt werden. Aber dann wird auch schon das Ende der Welt gekommen sein; denn die letzten, die sagen werden: "Wir glauben, daß du Gott und der Messias

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bist", werden die Israeliten sein, entgegen allen Beweisen meiner Gottheit, die ich gegeben habe und noch geben werde.

Sei wachsam und achte darauf, daß der Glaube der Christen nicht eitel sei. Eitel wäre er, wenn er nur aus Worten oder heuchlerischen Förmlichkeiten bestünde. Der Geist ist es, der lebendig macht. Der Geist fehlt in der mechanischen oder pharisäischen Ausübung, die nur eine Vortäuschung des Glaubens, aber kein echter Glaube ist. Was würde es dem Menschen nützen, in der Versammlung der Gläubigen das Lob Gottes zu singen, wenn alsdann alle seine Handlungen Schmähungen Gottes wären? Gott läßt seiner nicht spotten, sondern macht in seiner Vaterschaft immer auch seine Ansprüche als Gott und König geltend.

Wache und achte darauf, daß niemand sich einen Platz anmaßt, der ihm nicht gebührt. Das Licht wird von Gott gegeben werden entsprechend dem Rang, den ihr einnehmt. Gott wird euch das Licht nicht vorenthalten, solange die Sünde die Gnade in euch nicht zum Verlöschen bringt. Viele werden sich gerne "Meister" nennen lassen. Einer nur ist Meister: Der, der zu dir spricht. Und eine nur ist Lehrerin: die Kirche, seine Nachfolgerin. In der Kirche werden jene Lehrmeister sein, die geweiht sind für den besonderen Auftrag, zu unterweisen. Jedoch wird es unter den Gläubigen einige geben, die durch den Willen Gottes und durch ihre eigene Heiligkeit, das heißt, durch ihren guten Willen, vom Sturmwind der Weisheit erfaßt, predigen werden. Es wird solche geben, die aus sich selbst nicht weise sind, aber gefügige Werkzeuge in den Händen des Handwerkers bleiben und im Namen des Handwerkers sprechen; und wie gute Kinder wiederholen sie, was der Vater sie zu sagen lehrt, ohne selbst alles in seiner ganzen Tragweite zu verstehen. Ferner wird es Leute geben, die sprechen, als wären sie Meister, und durch ihre glänzende Beredsamkeit die Einfältigen betören, im Grunde aber stolz, hartherzig, eifersüchtig, jähzornig, lügenhaft und unzüchtig sind.

Ich beauftrage dich, die Worte der Weisen im Herrn und der heiligen Kinder des Heiligen Geistes in dich aufzunehmen und ihnen zu helfen, die Tiefgründigkeit dieser göttlichen Worte zu erfassen. Denn wenn sie die Träger der göttlichen Stimme sind, so seid ihr, meine Apostel, immer die Lehrer meiner Kirche und müßt den Müden im übernatürlichen Sinn zu Hilfe eilen, die unter der Last dieses großartigen, schweren Reichtums seufzen, den Gott in sie gelegt hat, damit sie ihn an die Brüder weitergeben. Aber ich sage dir auch: Weise die Lügenworte der falschen Propheten, deren Leben nicht mit meiner Lehre übereinstimmt, zurück! Güte, Sanftmut, Reinheit, Liebe und Demut werden den leisen und weisen Stimmen Gottes nie fehlen. Immer aber den anderen.

Wache und achte darauf, daß nicht Eifersucht und Verleumdung in der Gemeinschaft der Gläubigen aufkommen; daß niemand grollt und rachsüchtig ist. Wache und achte darauf, daß nicht das Fleisch die Oberhand

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über den Geist gewinnt. Keiner vermöchte Verfolgungen zu ertragen, dessen Geist das Fleisch nicht beherrscht.

Jakobus, ich weiß, daß du es tun wirst, aber gib mir, deinem Bruder, das Versprechen, daß du mich nicht enttäuschen wirst.»

«Aber Herr, Herr! Ich habe nur eine Angst: die Angst, dazu nicht fähig zu sein. Mein Herr, ich bitte dich, gib einem anderen diesen Auftrag.»

«Nein! Das geht nicht ...»

«Simon des Jonas liebt dich, und du liebst ihn...»

«Simon des Jonas ist nicht Jakobus aus dem Haus Davids!»

«Johannes! Johannes, der gelehrte Engel, mach ihn zu deinem Diener hier.»

«Nein! Ich kann nicht! Weder Simon noch Johannes besitzt dieses Nichts, das jedoch viel bei den Menschen gilt: die verwandtschaftliche Beziehung. Du bist mein Verwandter. Nachdem sie mich verkannt haben, werden sich die Besseren in Israel bemühen, vor Gott und sich selbst Verzeihung zu finden, indem sie versuchen, den Herrn zu erkennen, den sie in der Stunde Satans verflucht haben. Und sie werden glauben, diese Verzeihung und mit ihr die Kraft, mir auf meinem Weg nachzufolgen, zu erlangen, wenn ein Mann meines Blutes meine Stelle einnimmt. Jakobus, auf diesem Berg haben sich sehr große Dinge ereignet. Hier verzehrte das Feuer Gottes nicht nur das Brandopfer, das Holz und die Steine, sondern auch den Staub und sogar das Wasser im Graben. Jakobus, glaubst du, daß Gott etwas Ähnliches nicht mehr vollbringen kann, wenn er alles Materielle im Menschen Jakobus verbrennt, um einen Jakobus göttlichen Feuers zu gewinnen? Wir haben gesprochen, während der Sonnenuntergang Flammen sogar auf unsere Gewänder geworfen hat. Glaubst du, daß der Glanz des Wagens, der Elias entführt hat, ebenso feurig oder noch feuriger gewesen ist?»

«Viel feuriger, weil es ein himmlisches Feuer war!»

«Bedenke also, was aus dem Herzen wird, wenn es sich durch die Gegenwart Gottes in ihm in Feuer gewandelt hat, weil Gott in ihm einen Nachfolger des Wortes haben will, der die Heilsbotschaft verkündigt.»

«Doch du, du, Wort Gottes, ewiges Wort, warum bleibst du nicht unter uns?»

«Weil ich Wort und Fleisch bin. Durch das Wort muß ich belehren und durch das Fleisch erlösen.»

«O mein Jesus! Aber wie wirst du erlösen? Was erwartet dich?»

«Jakobus, denke an die Propheten!»

«Aber ist denn ihre Sprache nicht sinnbildlich? Kannst denn du, Wort Gottes, von den Menschen mißhandelt werden? Wollen sie nicht vielleicht sagen, daß deine Gottheit, deine Vollkommenheit ein Martyrium erleiden wird, aber sonst nichts, weiter nichts? Meine Mutter macht sich Sorgen um mich und Judas. Aber ich sorge mich auch um dich und Maria und

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ebenso auch um uns, die wir so schwach sind. Jesus, Jesus, wenn der Mensch dich überwindet, glaubst du nicht, daß viele von uns dich dann für schuldig erachten und sich enttäuscht von dir abwenden werden?»

«Ich bin dessen gewiß. Alle meine Jünger werden erschüttert sein. Aber dann wird der Friede zurückkehren; dann werden sich die besten meiner Jünger zusammenschließen, und nach meinem Opfer und meinem Triumph wird der Geist der Stärke und Weisheit über sie kommen: der göttliche Geist.»

«Jesus, damit ich nicht abfalle und kein Ärgernis nehme in der furchtbaren Stunde, sage mir: was werden sie dir antun?»

«Es ist etwas Großes, um das du mich bittest.»

«Sage es mir, Herr!»

«Es wäre ein Schrecken für dich, wenn du es genau erfahren würdest.»

«Das macht nichts. Durch die Liebe, die uns vereint hat...»

«Es darf aber nicht bekannt werden.»

«Sage es mir; dann wollen wir es vergessen bis zu der Stunde, in der es sich erfüllen wird. Dann rufe es wieder in mein Gedächtnis zurück, zusammen mit dieser Stunde. So werde ich an nichts Anstoß nehmen und dir nicht im Grunde meines Herzens zum Feind werden.»

«Es wird dir nichts nützen, denn auch du wirst dem Druck des Sturmes nachgeben.»

«Sag es mir, Herr!»

«Ich werde angeklagt, verraten, gefangengenommen und dem Kreuzestode überliefert werden.»

«Nein! Nein!» Jakobus schreit auf und windet sich, als ob er zu Tode getroffen wäre. «Nein», wiederholt er. «Wenn sie dir das antun, was werden sie dann uns antun? Wie können wir so dein Werk fortsetzen? Ich kann meine Aufgabe... meine Aufgabe nicht annehmen... Ich kann nicht ... Ich kann nicht! Wenn du stirbst, werde auch ich wie tot sein. Ich werde keine Kraft mehr haben. Jesus, Jesus, höre mich an! Laß mich nicht allein! Versprich es mir... Versprich mir wenigstens dies!»

«Ich verspreche dir, daß ich kommen werde, dich durch meinen Geist zu führen, nachdem die glorreiche Auferstehung mich aus den Beschränkungen der Materie befreit hat. Ich und du, wir werden eins sein, so wie jetzt, da du in meinen Armen liegst.»

Jakobus hat sich weinend an die Brust Jesu geworfen.

«Weine nicht mehr. Wir gehen aus dieser so licht- und zugleich qualvollen Stunde der Verzückung hervor, wie einer, der aus dem Schatten des Todes tritt und sich an alles erinnert, außer an den schrecklichen Moment des Todes, der zwar nur von kurzer Dauer ist, aber doch über Jahrhunderte entscheidet. Komm, ich küsse dich, um dir zu helfen, die Schrecken meines menschlichen Schicksals zu vergessen. Du wirst dich daran erinnern, wenn die Zeit gekommen ist, wie du es gewünscht hast. Komm, ich

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küsse dich auf den Mund, dich, der du dem Volk Israels meine Worte wiederholen sollst, und auf das Herz, das lieben wird, wie ich es gesagt habe, und hier auf die Schläfe, aus der das Leben entweichen wird, zusammen mit dem letzten Wort liebevollen Glaubens an mich. Ich werde, geliebter Bruder, bei dir sein in den Versammlungen der Gläubigen, in den Stunden der Betrachtung, in der Gefahr und in der Stunde des Todes! Niemand, auch nicht dein Engel, wird deinen Geist aufnehmen, sondern ich selbst werde ihn mit einem Kuß empfangen, so...»

Sie verbleiben eine Weile in der Umarmung, und es scheint, daß sich Jakobus in der Freude über die Küsse Gottes beruhigt hat, die ihn sein Leid vergessen lassen.

Als er sein Haupt erhebt, ist er wieder Jakobus des Alphäus, gelassen und gut wie Joseph, der Bräutigam Marias. Er lächelt Jesus zu mit einem reiferen Lächeln, ein wenig traurig, aber sehr sanft.

«Wir wollen jetzt etwas essen, Jakobus, und dann unter den Sternen schlafen. Beim ersten Licht werden wir ins Tal hinabsteigen und zu den Menschen zurückkehren...» Und Jesus seufzt... endet jedoch mit einem Lächeln: «... und zu Maria!»

«Und was werde ich zu meiner Mutter sagen, Jesus? Und was zu den Gefährten? Sie werden mich mit Fragen nicht verschonen ...»

«Du kannst ihnen alles sagen, was ich dir gesagt habe; aber erinnere dich der Antworten des Elias an Achab, an das Volk auf dem Berg, an die Macht eines von Gott Geliebten, die Völker und Elemente gehorchen macht; an seinen Eifer, der ihn für den Herrn verzehrte und an das, was ich dir über den Frieden sagte: daß man durch den Frieden und im Frieden Gott begreift und ihm dient. Du kannst ihnen sagen, damit sie meinem Beispiel folgen: "Kommt" auf daß ihr, wie Elias mit seinem Mantel den Elisäus gewann, mit dem Mantel der Liebe neue Diener Gottes für den Herrn gewinnt. Und jenen, die sich immer sorgen, sage, wie ich dich auf die beglückende Freiheit von den Dingen der Vergangenheit hingewiesen habe, gleich der, die Elisäus bezeigte, als er Ochsen und Pflug verließ. Sage ihnen, daß ich dich ferner daran erinnert habe, daß dem, der durch Beelzebub Wunder wirken will, Böses und nicht Gutes widerfahren wird, wie es Ochozias nach den Worten des Elias ergangen ist. Sag ihnen schließlich, daß ich dir versprochen habe, daß das reinigende Feuer der Liebe die Unvollkommenheiten eines jeden, der bis in den Tod getreu ist, verbrennt und ihn direkt in den Himmel führt. Das Übrige ist nur für dich allein.»

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301. «NENNE IHN SOHN, DER DIR SCHMERZEN BEREITET»

Jesus verläßt die Hochebene des Karmel und steigt auf staubbedeckten Wegen zur Ebene hinab. Die Büsche beleben sich immer mehr mit dem Gezwitscher der Vögel, und die erste Sonne vergoldet den östlichen Hang des Berges. Nachdem sich der leichte Nebel durch die Wärme der Sonne verflüchtigt hat, zeigt sich die Ebene von Esdrelon in ihrer ganzen Schönheit mit ihren um die Häuser umgebenden Obstbäumen und Weingärten. Sie gleicht einem überwiegend grünen Teppich mit wenigen gelblichen Oasen, die Spuren von Rot aufweisen; denn auf den abgemähten Kornfeldern blüht nun der Klatschmohn. Die Ebene liegt in dem Dreieck zwischen Karmelgebirge, Tabor und Kleinem Hermon. In einiger Entfernung sieht man noch weitere Berge, deren Namen ich nicht kenne. Sie verbergen den Jordan und vereinigen sich im Südosten mit den Bergen von Samaria.

Jesus bleibt stehen, um nachdenklich diesen Teil von Palästina zu betrachten. Jakobus blickt ihn an und fragt: «Betrachtest du die Schönheit dieses Gebietes?»

«Ja, auch das. Doch mehr noch denke ich an die zukünftigen Wanderungen und an die Notwendigkeit, euch, und ohne Verzögerung auch die Jünger auszusenden. Und es wird sich nicht um die jetzige, noch begrenzte Arbeit handeln, sondern um eine wirklich missionarische Tätigkeit. Es gibt viele Gegenden, die mich noch nicht kennen; ich will aber kein Gebiet ohne mich lassen. Diese Sorge beschäftigt mich stets: ist mir stets gegenwärtig: ausziehen und arbeiten, solange ich kann, und alles tun ...»

«Immer wieder kommen Dinge dazwischen, die dich aufhalten.»

«Mehr als Verzögerungen bringen sie Änderungen in meinem Reiseplan mit sich; aber die Reisen, die wir machen, sind nie unnütz. Doch es gibt noch so sehr viel zu tun... Auch weil ich nach längerer Abwesenheit von einem Ort viele Herzen vorfinde, die zum Ausgangspunkt zurückgekehrt sind und bei denen ich wieder von vorne anfangen muß.»

«Ja, sie ermattet und ist abstoßend, diese Teilnahmslosigkeit der Seelen, die Unbeständigkeit und der Hang zum Bösen!»

«Niederschmetternd! Sage nicht abstoßend! Die Arbeit Gottes ist nie

abstoßend. Die armen Seelen müssen uns Mitleid einflößen, nicht Ab

scheu. Wir müssen immer das Herz eines Vaters, eines guten Vaters ha

ben. Ein guter Vater betrachtet die Krankheiten sein ' er Kinder nie mit

Abscheu. Und wir dürfen keinen Abscheu vor Menschen haben!

«Jesus, erlaubst du mir, dir einige Fragen zu stellen? Ich habe auch diese Nacht nicht schlafen können. Ich habe viel nachgedacht, während ich dich schlafen sah. Im Schlaf scheinst du so jung zu sein, Bruder! Du hast gelächelt, den Kopf auf einen Arm gelegt, wie ein Kind. Ich konnte

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dich gut sehen, denn der Mond leuchtete hell diese Nacht. Ich habe nachgedacht, und viele Fragen sind mir aus dem Herzen aufgestiegen...»

«Sage sie mir.»

«Ich sagte mir: ich muß Jesus fragen, wie wir mit unserer Unfähigkeit zu jener Gemeinschaft gelangen, die du Kirche nennst, in der, wenn ich recht verstanden habe, gewisse Hierarchien bestehen. Wirst du uns alles sagen, was wir zu tun haben, oder müssen wir selbst handeln?»

«Wenn die Stunde gekommen ist, werde ich euch das Haupt der Kirche bezeichnen. Während ich unter euch weile, teile ich euch schon die verschiedenen Kategorien samt den Unterschieden zwischen Aposteln, Jüngern und Jüngerinnen mit; denn sie sind unvermeidlich. Aber ich will, daß, ebenso wie die Jünger den Aposteln Ehrfurcht und Gehorsam erweisen müssen, auch die Apostel Liebe und Geduld ihnen gegenüber zeigen.»

«Und was sollen wir tun? Immer und nur dich verkündigen?»

«Das ist die Hauptsache. Dann müßt ihr in meinem Namen Sünden nachlassen und segnen, zur Gnade zurückführen und die Sakramente spenden, die ich einsetzen werde.»

«Was sind das für Dinge?»

«Das sind übernatürliche und geistige Mittel, die auch mit natürlichen Mitteln verbunden sind und eingesetzt werden, um die Menschen zu überzeugen, daß der Priester tatsächlich etwas wirkt. Du weißt ja, daß der Mensch nicht glaubt, wenn er nicht sieht. Er braucht immer etwas, was ihm sagt, daß es etwas gibt. Wenn ich Wunder wirke, lege ich daher die Hände auf, netze mit Speichel oder gebe einen Bissen eingetauchten Brotes. Ich könnte auch ganz einfach in meinen Gedanken Wunder wirken. Aber glaubst du, daß die Welt dann sagen würde: "Gott hat ein Wunder gewirkt?" Sie würde sagen: "Er ist geheilt geworden, weil die Zeit der Heilung gekommen war", und sie würden das Verdienst dem Arzt, der Arznei und der körperlichen Widerstandskraft des Kranken zuschreiben. Das gleiche gilt für die Sakramente: Formen des Kultes, die Gnaden zu verwalten, sie zu spenden oder in den Gläubigen zu festigen. Johannes, zum Beispiel, benützte das Untertauchen im Wasser, um die Reinigung von den Sünden zu veranschaulichen. In Wirklichkeit war, mehr als das Wasser zur Reinigung der Glieder, der Akt der Buße notwendig, sich wegen der begangenen Sünden als unrein zu bekennen. Auch ich werde meine Taufe haben, meine Taufe, die nicht nur ein Zeichen sein wird, sondern die wirkliche Reinigung vom Makel der Erbsünde. Die Seele wird durch die Taufe denselben geistigen Stand der Gnade erwerben, den Adam und Eva vor ihrem Sündenfall besaßen, und sie wird sogar noch heller erstrahlen, da sie ihre Reinheit durch die Verdienste des Gottmenschen wiedererlangt hat.»

«Aber... das Wasser fließt doch nicht über die Seele! Die Seele ist etwas

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Geistiges. Wer kann sie berühren im Neugeborenen, im Erwachsenen oder im Greis? Niemand!»

«Siehst du, du gibst also zu, daß das Wasser ein materielles Mittel ist und keine geistige Wirkung haben kann? Es wird daher nicht das Wasser, sondern das Wort des Priesters, eines Gliedes der Kirche Christi, das für seinen Dienst geweiht ist, oder in Ausnahmefällen das Wort eines wahren Gläubigen sein, welches das Wunder der Erlösung von der Erbsünde im Getauften wirkt.»

«Ja, gut. Aber jeder Mensch sündigt auch selbst noch... Und diese anderen Sünden, wer wird sie wegnehmen?»

«Immer der Priester, Jakobus! Wird ein Erwachsener getauft, dann werden zusammen mit der Erbschuld auch die anderen Sünden nachgelassen. Wenn der Mensch schon getauft ist und wieder sündigt, dann wird der Priester ihn im Namen des Einen und Dreieinigen Gottes und durch das Verdienst des menschgewordenen Wortes freisprechen, so wie ich es bei den Sündern tue.»

«Aber du bist heilig! Wir ...»

«Ihr müßt heilig sein, denn ihr berührt heilige Dinge und verwaltet das, was Gottes ist.»

«Dann werden wir also den gleichen Menschen öfters taufen, wie Johannes es macht, der das Untertauchen im Wasser vornimmt, sooft einer zu ihm kommt?»

«Johannes reinigt bei seiner Taufe nur durch die Demut dessen, den er untertaucht. Ich habe es dir schon gesagt. Ihr werdet den schon Getauften nicht ein zweites Mal taufen; es sei denn, er wäre nicht mit einer apostolischen, sondern einer schismatischen Formel getauft worden. In diesem Fall wäre eine zweite Taufe vorzunehmen, wenn der zu taufende Erwachsene entscheidet, daß er die Taufe und damit Teilhabe an der wahren Kirche wünscht. In den anderen Fällen, wenn es sich darum handelt, Freundschaft und Frieden mit Gott wiederherzustellen, verbindet ihr die Worte der Vergebung mit den Verdiensten Christi, und die Seele, die mit wahrer Reue und demütiger Anklage zu euch gekommen ist, wird losgesprochen sein.»

«Und wenn jemand nicht kommen kann, weil er so krank ist, daß er nicht an den Ort getragen werden kann? Wird dieser in der Sünde sterben? Zum Schmerz der Todesangst kommt auch noch die Furcht vor dem Gericht Gottes?»

«Nein. Der Priester wird zu dem Sterbenden gehen und wird ihn lossprechen. Er wird ihm sogar eine umfassendere Art von Absolution erteilen, die sich auf jedes einzelne Sinnesorgan bezieht, durch welches der Mensch im allgemeinen zur Sünde veranlaßt wird.

Wir haben in Israel das heilige Öl, das nach der Vorschrift des Allerhöchsten zusammengesetzt ist, und mit dem man den Altar, den Oberhirten, die Priester und die Könige weiht. Der Mensch ist ein wahrer Altar.

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Und König wird er durch seine Erwählung für den Sitz im Himmel; er kann deshalb mit dem Öl der Salbung geweiht werden. Das heilige Öl wird zusammen mit anderen Teilen des israelitischen Kultes übernommen und meiner Kirche einverleibt werden, wenn auch für andere Zwecke. Denn nicht alles in Israel ist schlecht und muß verworfen werden. Vielmehr werden viele Erinnerungen an den alten Wurzelstock in meiner Kirche erhalten bleiben. Eine davon wird das Öl der Salbung sein, das auch in der Kirche zur Salbung des Altares, des Oberhirten, der kirchlichen Hierarchien sowie der Könige und der Gläubigen benützt werden wird, wenn sie Erbprinzen des Reiches Gottes werden oder besonderer Hilfe bedürfen, um vor Gott mit von ihren Sünden gereinigten Gliedern und Sinnen erscheinen zu können. Die Gnade des Herrn wird der Seele und auch dem Leib zu Hilfe kommen, wenn es Gott so gefällt, zum Wohl des Kranken.

Oft wehrt sich der Körper nicht gegen die Krankheit, auch weil die Gewissensbisse ihm den Frieden rauben und weil Satan eingreift, der durch einen solchen Tod eine Seele für sein Reich zu gewinnen hofft und die Hinterbliebenen zur Verzweiflung treiben möchte. Der Kranke wird von der Umklammerung Satans und von der inneren Verwirrung frei, wenn er die Gewißheit hat, daß Gott ihm verzeiht. Und da das Geschenk der Gnade in den Stammeltern auch die Freiheit von Krankheiten und jeder Art des Schmerzes beinhaltete, so kann der, dem die Gnade wiedergeschenkt ist, wie ein neugeborenes, mit meiner Taufe getauftes Kind, auch den Sieg über die Krankheit davontragen. Hierbei kann ihm des weiteren das Gebet seiner Glaubensbrüder helfen, die zum Mitleid mit dem Kranken verpflichtet sind, und zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern vor allem in geistiger. Das Gebet ist schon eine Form des Wunders, Jakobus. Das Gebet eines Gerechten, du hast es bei Elias gesehen, kann Großes bewirken.»

«Ich verstehe dich nur wenig, aber das, was ich verstehe, erfüllt mich mit Ehrfurcht vor der geistlichen Würde deiner Priester. Wenn ich dich richtig verstehe, werden wir viel mit dir gemeinsam haben: die Verkündigung, die Lossprechung, das Wunder. Drei Sakramente also.»

«Nein, Jakobus! Die Verkündigung und die Wunder sind keine Sakramente. Aber die Sakramente werden zahlreicher sein. Sieben, wie die Arme des heiligen Leuchters im Tempel und die Gaben des Geistes der Liebe. Und wahrlich, die Sakramente sind Gaben und Flammen, eingesetzt, damit der Mensch in alle Ewigkeit vor dem Herrn leuchte. Es wird auch ein Sakrament der Ehe für die Menschen geben, das angedeutet ist im Symbol der heiligen Ehe der Sara des Raguel, die vom Dämon befreit wurde. Es gibt dem Ehepaar alle notwendige Hilfe für ein heiliges Zusammenleben gemäß dem Gesetz und den Forderungen Gottes. Auch Bräutigam und Braut werden zu Dienern eines Ritus: jenem des Zeugens. Auch Ehemann und Ehefrau werden Priester einer kleinen Kirche: der Familie.

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Sie müssen daher geweiht werden, um mit dem Segen Gottes zu zeugen und eine Nachkommenschaft zu erziehen, die den heiligsten Namen Gottes preist.»

«Und uns, die Priester, wer wird uns weihen?»

«Ich, bevor ich euch verlasse. Ihr werdet dann eure Nachfolger weihen und jene, die ihr zu Hilfe nehmt, um den christlichen Glauben zu verbreiten.»

«Wirst du uns noch darin unterweisen?»

«Ich und der, den ich euch senden werde. Auch diese Herabkunft wird ein Sakrament und bei seiner Einsetzung von Gott gewollt sein; danach wird es von jenen gespendet werden, die die Fülle des Priestertums erhalten haben. Es wird Kraft und Erkenntnis verleihen; es wird im Glauben bestärken; es wird heilige Frömmigkeit und heilige Furcht erwecken; es wird Rat und übernatürliche Weisheit schenken und zudem eine Gerechtigkeit, die durch ihre Natur und Macht das Kind, das es empfängt, zum Erwachsenen macht. Aber das kannst du vorläufig noch nicht verstehen. Er selbst wird es dir zu verstehen geben. Er, der göttliche Tröster, die ewige Liebe, sobald ihr bereit seid, ihn zu empfangen. Ebenso könnt ihr jetzt ein anderes Sakrament noch nicht verstehen. Es ist selbst für die Engel fast unbegreiflich. Und doch werdet ihr, einfache Menschen, es im Glauben und in der Liebe begreifen. Wahrlich, ich sage dir, wer es liebt und sich geistig damit nährt, kann den Dämon zertreten, ohne Schaden zu erleiden. Denn ich werde alsdann in ihm sein. Versuche, dich an diese Dinge zu erinnern, Bruder! Deine Aufgabe wird es sein, sie deinen Gefährten und den Gläubigen mitzuteilen, immer und immer wieder. Ihr werdet sie dann schon als Priester Gottes betrachten, aber du wirst sagen können: "Er hat es mir eines Tages beim Abstieg vom Karmel gesagt. Alles hat er mir gesagt, weil ich schon damals dazu bestimmt war, Haupt der Kirche in Israel zu sein."»

«Noch etwas möchte ich dich fragen. Ich habe diese Nacht daran gedacht. Muß ich selbst meinen Gefährten sagen: Ich werde hier das Haupt sein? Das gefällt mir nicht. Ich tue es, wenn du es befiehlst. Aber es gefällt mir nicht.»

«Fürchte dich nicht! Der Heilige Geist wird auf alle herabsteigen und euch heilige Gedanken eingeben. Alle werdet ihr die gleichen Gedanken hegen zur Ehre Gottes in seiner Kirche.»

«Wird es dann nie mehr die jetzigen unangenehmen Streitigkeiten geben... ? Wird dann Judas des Simon nicht mehr Ursache des Anstoßes sein?»

«Er wird es nicht mehr sein. Sei beruhigt. Aber Schwierigkeiten wird es immer wieder geben. Deswegen habe ich dir gesagt: Wache und überwache, ohne zu ermüden, und erfülle deine Pflicht bis zum Äußersten.»

«Noch eine Frage, Herr! Wie soll ich mich in Zeiten der Verfolgung

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verhalten? Demnach, was du sagst, scheint es, daß ich von den Zwölfen als einziger zurückbleiben werde. Somit werden sich die anderen durch die Flucht der Verfolgung entziehen. Und ich?»

«Du bleibst an deinem Platz. Denn wenn es auch notwendig ist, daß ihr am Leben bleibt, bis die Kirche gefestigt ist, und dies die Flucht vieler Jünger und fast aller Apostel rechtfertigt, so würde nichts dein Davonlaufen und das Verlassen der Kirche von Jerusalern rechtfertigen. Im Gegenteil! Je mehr sie in Gefahr ist, desto mehr mußt du über sie wachen, als wäre sie dein eigenes Kind in Lebensgefahr. Dein Beispiel wird den Geist der Gläubigen stärken. Sie werden es nötig haben, um die Prüfung zu bestehen. Je schwächer du sie siehst, um so mehr mußt du ihnen durch Mitleid und Weisheit helfen. Wenn du selbst auch stark bist, so sei doch nicht ohne Mitleid für die Schwachen. Stärke sie im Gedanken: "Ich habe alles von Gott erhalten, um diese meine Kraft zu erlangen. Demütig muß ich es bekennen und liebevoll muß ich alle behandeln, die weniger mit den Gaben Gottes gesegnet sind." Gib ihnen deine Kraft durch das Wort, durch tätige Hilfe, Ruhe und das Beispiel.»

«Und wenn es Schlechte unter den Gläubigen gäbe, die für andere zur Ursache des Ärgernisses werden und eine Gefahr bilden: was soll ich dann tun?»

«Sei vorsichtig, bevor du sie annimmst; denn besser ist es, wenige und Gute als viele und Schlechte zu haben. Du kennst die alte Lehrfabel von den gesunden und kranken Äpfeln. Sorge dafür, daß sie sich nicht in deiner Kirche wiederholt. Aber wenn du auch Verräter entdeckst, so versuche mit allen Mitteln, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen und sei nur im äußersten Falle streng. Handelt es sich jedoch nur um kleine persönliche Fehler, dann erschrecke sie nicht durch allzu große Strenge. Verzeihe! Verzeihe! ... Eine von Tränen und Worten der Liebe begleitete Vergebung ist wirkungsvoller als ein Fluch, wenn man ein Herz erlösen will. Ist die Schuld schwerwiegend, jedoch Frucht eines plötzlichen Angriffs Satans und so schwer, daß der Schuldige vor deinem Angesicht flieht, so mache dich auf die Suche nach dem Schuldigen. Denn er ist das verirrte Lamm, und du bist der Hirte! Fürchte nicht, dich zu erniedrigen, wenn du auf schlammbedeckten Straßen gehst und in Sümpfen und Abfall wühlen mußt. Deine Stirne wird sich bekränzen mit der Krone des Märtyrers der Liebe, und sie wird die erste deiner drei Kronen sein... Und selbst wenn du verraten wirst, wie der Täufer und viele andere – denn jeder Heilige hat seinen Verräter – verzeihe! Deinem Verräter mehr als allen anderen. Verzeihe, wie Gott den Menschen verziehen hat und verzeihen wird. Nenne ihn, der dir Schmerz bereitet hat, wieder "Sohn", weil der Vater euch durch meinen Mund so nennt; und wahrlich, es gibt keinen Menschen, der dem Vater im Himmel noch keinen Schmerz zugefügt hätte ...»

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Ein langes Schweigen herrscht, während sie über die Wiesen gehen, auf denen Schafe weiden.

Schließlich fragt Jesus: «Hast du sonst noch Fragen?»

«Nein, Jesus! Und heute morgen habe ich meine beängstigende Mission besser verstanden...»

«Weil du nicht mehr so verwirrt bist wie gestern. Wenn deine Stunde gekommen ist, wirst du noch friedvoller sein und alles noch besser verstehen...»

«Ich werde mich an alles erinnern... an alles... mit Ausnahme von...»

«Was, Jakobus?»

«Ausgenommen das, was mich dich heute nacht nicht ohne Tränen betrachten ließ und von dem ich nicht weiß, ob du es mir wirklich gesagt hast und ich es glauben soll, weil du es gesagt hast, oder ob es eine Einflüsterung des Dämons war. Wie kannst du so ruhig sein, wenn diese Dinge dir wirklich bevorstehen sollten?»

«Und wärest du beruhigt, wenn ich dir sagen würde: "Dort ist ein Hirte, der sich mit Mühe auf seinem verkrüppelten Bein dahinschleppt. Schau, daß du ihn im Namen Gottes heilst?"»

«Nein, mein Herr! Ich müßte von Sinnen sein, wenn ich von mir dächte, daß ich versucht sein könnte, deine Stelle unberechtigterweise einnehmen zu wollen.»

«Und wenn ich es dir befehlen würde?»

«Dann würde ich es aus Gehorsam tun und wäre keineswegs erschrocken, denn ich wüßte, daß du es willst; und ich hätte keine Angst, es nicht zu können, denn ganz gewiß würdest du mir die Kraft geben, deinen Willen zu erfüllen.»

«Du sagst es, und du sagst es gut! Du siehst also, daß ich, wenn ich dem Vater gehorche, immer im Frieden bin.»

Jakobus weint und senkt das Haupt.

«Willst du wirklich vergessen?»

«Wenn du willst, Herr ...»

«Du hast zwischen zwei Dingen zu wählen: du kannst vergessen oder dich erinnern. Das Vergessen wird dich von Schmerz und absolutem Schweigen deinen Gefährten gegenüber befreien; aber es wird dich unvorbereitet lassen. Die Erinnerung wird dich auf deine Aufgabe vorbereiten; denn man braucht sich nur an alles zu erinnern, was der Menschensohn auf seinem irdischen Lebenswege erdulden muß, um sich nie zu beklagen und sich geistig zu stärken, indem man diesen Lebensweg Christi im hellsten Licht schaut. Wähle!»

«Glauben, sich erinnern, lieben! Das möchte ich. Und so bald als möglich sterben, Herr...» Jakobus weint noch immer lautlos. Nur die Tränen, die auf seinem braunen Barte glänzen, zeigen an, daß er weint.

Jesus läßt ihn gewähren... Endlich sagt Jakobus: «Solltest du in Zukunft

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wieder Andeutungen hinsichtlich... hinsichtlich deines Martyriums machen, muß ich dann sagen, daß ich davon weiß?»

«Nein, schweige! Joseph wußte zu schweigen über seinen Schmerz als Bräutigam, der sich verraten glaubte, und über das Geheimnis der jungfräulichen Empfängnis und meine Natur. Ahme ihn nach! Auch dies war ein schreckliches Geheimnis. Und doch wurde es bewahrt; denn hätte er es aus Hochmut oder Leichtsinn nicht bewahrt, wäre die ganze Erlösung in Gefahr geraten. Satan ist ausdauernd im Wachen und Handeln. Denk daran! Dein Reden würde jetzt vielen, zu vielen Dingen zum Schaden gereichen. Schweige!»

«Ich werde schweigen... Es wird eine doppelte Last sein ...»

Jesus antwortet nicht. Er läßt es geschehen, daß Jakobus unter seiner leinenen Kopfbedeckung ungehemmt weint.

Sie begegnen einem Mann, der ein mißbildetes Kind auf dem Rücken trägt.

«Ist es dein Kind?» fragt Jesus.

«Ja! Es wurde mir geboren und hat dabei die Mutter getötet. Nun ist auch meine Mutter gestorben, und ich muß es mit zur Arbeit nehmen und auf es achten. Ich bin Waldarbeiter. Ich lege es auf die Wiese, auf den Mantel, und während ich Bäume säge, vergnügt mein elendes Bübchen sich mit den Blumen.»

«Du bist von einem großen Unglück heimgesucht worden.»

«Nun ja. Doch was Gott will, das muß man im Frieden annehmen.»

«Leb wohl, Mann, der Friede sei mit dir!»

Der Mann geht bergaufwärts, und Jesus und Jakobus gehen bergabwärts.

«Wieviel Unglück! Ich habe gehofft, daß du es heilen würdest», seufzt Jakobus.

Jesus tut, als hätte er nichts gehört.

«Meister, wüßte der Mann, daß du der Messias bist, so hätte er dich vielleicht um ein Wunder gebeten...»

Jesus antwortet nicht.

«Jesus, darf ich dem Mann nachgehen und es ihm sagen? Ich habe Mitleid mit dem Kind. Mein Herz ist schon voller Schmerz. Mache mir doch wenigstens die Freude, dieses Kind geheilt zu sehen.»

«Geh nur, ich werde hier auf dich warten.»

Jakobus eilt davon. Er holt den Mann ein und ruft ihm zu: «Mann, bleib stehen und höre zu! Der, der mit mir war, ist der Messias! Gib mir dein Kind, damit ich es zu ihm bringe. Komm auch du, wenn du willst, und sieh, ob der Meister es dir heilt.»

«Geh du, Mann! Ich muß all dies Holz sägen. Ich habe mich verspätet wegen des Kindes. Wenn ich nicht arbeite, habe ich nichts zu essen. Ich bin arm, und das Kind kostet mich viel. Ich glaube an den Messias, aber es ist besser, wenn du für mich redest.»

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Jakobus bückt sich, um das auf dem Gras liegende Kind aufzunehmen. «Sei vorsichtig», mahnt der Holzfäller, «alles tut ihm weh!»

Tatsächlich weint das Kind jämmerlich, als Jakobus es ein wenig hochhebt.

«Oh, welch ein Elend!» seufzt Jakobus.

«Ein großes Leid», sagt der Holzfäller, der an einem harten Stamm weitersägt, und fährt fort: «Könntest du es nicht heilen?»

«Ich bin nicht der Messias. Ich bin nur einer seiner Jünger...»

«Nun, die Ärzte lernen von den anderen Ärzten. Die Jünger vom Meister. Sei so gut und laß es nicht noch mehr leiden. Versuche du es! Wenn der Meister es gewollt hätte, dann wäre er hierhergekommen. Er hat dich gesandt, weil er nicht helfen will oder weil er will, daß du das Kind heilst.»

Jakobus ist erstaunt. Dann entscheidet er sich. Er reckt sich auf und betet, wie er es bei Jesus gesehen hat, und sagt: «Im Namen Jesu Christi, des Messias von Israel und des Sohnes Gottes, werde gesund!» Und gleich darauf kniet er nieder mit den Worten: «O mein Herr! Verzeihung! Ich habe ohne deine Erlaubnis gehandelt! Aber das Mitleid für dieses Geschöpf Israels hat mich dazu getrieben. Erbarmen, mein Gott! Erbarme dich seiner und meiner, des Sünders!» Und er weint hemmungslos, über das liegende Kind gebeugt. Die Tränen fallen auf die verkrüppelten, reglosen Beinchen.

Jesus kommt auf dem Waldweg daher, aber niemand bemerkt ihn, weil der Holzfäller arbeitet. Jakobus weint, und das Kind schaut ihn neugierig an und fragt mit lieblicher Stimme: «Warum weinst du?» Und es streckt sein Händchen aus, um Jakobus zu streicheln, und unversehens setzt es sich allein auf und umarmt Jakobus, um ihn zu trösten. Der Ausruf des Jakobus veranlaßt den Holzfäller, sich umzuwenden, und er sieht, daß sein Kind nun aufrecht auf seinen nicht mehr leblosen und verkrüppelten Beinchen steht. Als er sich vollends umdreht, bemerkt er auch Jesus.

«Da ist er! Da ist er!» schreit er und deutet auf den Meister. Jakobus, der sich ebenfalls umgewendet hat, sieht Jesus, der ihn mit einem Blick strahlender Freude anschaut.

«Meister, Meister! Ich weiß nicht, wie es geschehen ist... Das Mitleid, dieser Mann... dieses Kind... Verzeih!»

«Steh auf! Die Jünger sind nicht mehr als der Meister, aber sie können tun, was der Meister tut, wenn sie aus einem heiligen Beweggrund handeln. Steh auf und komm mit mir! Seid gesegnet, ihr beiden, und vergeßt nicht, daß auch die Diener Gottes die Werke des Sohnes Gottes vollbringen können»; er geht, Jakobus hinter sich herziehend, der immer wieder sagt: «Aber wie konnte ich nur? Ich verstehe es nicht. Womit habe ich in deinem Namen ein Wunder gewirkt?»

«Mit deinem Mitleid, Jakobus! Mit deinem Verlangen, daß ich von diesem Unschuldigen und von dem Mann geliebt werde, der zugleich glaubte

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und zweifelte. Johannes wirkte bei Jabnia ein Wunder aus Liebe; er salbte einen Sterbenden und betete dabei. Du hast hier durch deine Tränen und dein Mitleid geheilt; und durch dein Vertrauen auf meinen Namen. Schau, wie friedvoll es ist, dem Herrn zu dienen, wenn der Jünger in rechter Absicht handelt. Jetzt wollen wir rasch gehen, denn der Mann folgt uns. Es ist nicht gut, wenn die Gefährten es jetzt schon erfahren. Bald werde ich euch in meinem Namen aussenden... (ein tiefer Seufzer Jesu), wie Judas des Simon es brennend wünscht (ein weiterer tiefer Seufzer). Und ihr werdet Wunder wirken... Aber nicht für alle wird es gut sein. Schnell, Jakobus! Simon Petrus, dein Bruder, und auch die anderen würden leiden, wenn sie es hörten; sie sähen es als eine Bevorzugung an. Es ist aber keine! Es ist nur geschehen, um einen von euch Zwölfen darauf vorzubereiten, die anderen zu leiten. Wir wollen am Ufer dieses von Sträuchern überwachsenen Baches weitergehen. So werden sich unsere Spuren verwischen. Bedauerst du es wegen des Kindes? Oh, wir werden es wiederfinden...»

302. PETRUS PREDIGT IN ESDRELON: «DIE LIEBE IST DAS HEIL»

«Was macht ihr bei diesem Feuer, Freunde?» fragt Jesus, als er die Jünger bei einem wohlgeschürten Feuer vorfindet, das an einer Wegkreuzung in der Ebene von Esdrelon brennt und die ersten Schatten des Abends erhellt.

Die Apostel, die den Meister nicht kommen gesehen haben, springen auf und vergessen das Feuer, um ihm zuzujubeln. Es scheint, als hätten sie ihn seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen. Dann erklären sie: «Wir haben einen Streit zwischen zwei Brüdern Jezraels geschlichtet; sie sind so glücklich darüber gewesen, daß jeder von ihnen uns ein Lämmlein hat schenken wollen. Wir haben die Absicht, sie zu braten und den Arbeitern des Doras zu schenken. Michäas des Jochanan hat sie enthäutet und zubereitet; jetzt wollen wir sie braten. Deine Mutter ist mit Susanna und Maria die Leute des Doras benachrichtigen gegangen, damit sie am späten Abend kommen, wenn der Aufseher sich in sein Haus eingeschlossen hat, um dort zu zechen. Die Frauen fallen weniger auf... Wir haben versucht, wie Wanderer in die Felder zu gehen und mit ihnen zu sprechen. Doch wir hatten wenig Erfolg. Heute abend wollten wir uns hier versammeln und... ihnen etwas mehr für die Seele sagen; und auch für ihr leibliches Wohl sorgen, wie du es schon andere Male getan hast. Aber jetzt bist du ja da, und es wird noch viel schöner werden.»

«Wer hätte gesprochen?»

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«Hm... Jeder ein wenig... Nur so... wie es sich eben ergeben hätte. Zu mehr sind wir ja nicht fähig. Außerdem wollen Johannes, der Zelote und dein Bruder nicht sprechen, und Judas des Simon und Bartholomäus diesmal auch nicht... Wir haben uns sogar darüber gezankt ...» sagt Petrus.

«Und warum wollen die Fünf nicht reden?»

«Johannes und Simon sagen, daß es nicht recht ist, wenn sie immer reden... Dein Bruder meint, daß ich reden soll, weil ich sonst nie damit anfange... Bartholomäus, weil... weil er sich fürchtet, zu lehrhaft zu reden und nicht zu überzeugen. Du siehst, daß es nur Ausreden sind ...»

«Und du, Judas des Simon, warum willst du nicht reden?»

«Nun, aus denselben Gründen wie die anderen. Aus allen genannten Gründen, denn alle sind berechtigt ...»

«Viele Gründe, und einer wurde nicht erwähnt. So will ich entscheiden, und meine Entscheidung ist unanfechtbar. Du, Simon des Jonas, wirst sprechen, wie der weise Thaddäus sagt. Und du, Judas des Simon, wirst ebenfalls reden. So wird einer der vielen Gründe, der nur Gott und dir bekannt sind, aufhören zu existieren.»

«Meister, glaube mir, es gibt keinen anderen...» versucht Judas zu entgegnen.

Doch Petrus übertönt ihn mit den Worten: «O Herr! Ich soll in deiner Gegenwart reden? Das wird mir nicht gelingen. Ich fürchte, daß du mich auslachst ...»

«Du willst nicht allein sein; du willst nicht bei mir sein... Was willst du denn also?»

«Du hast recht. Aber... Was soll ich sagen?»

«Schau, da kommt dein Bruder mit den Lämmlein. Hilf ihm, und während du sie bratest, denke darüber nach. Alles kann dazu dienen, Argumente zu finden.»

«Auch ein Lämmlein über der Flamme?» fragt Petrus ungläubig.

«Auch das. Gehorche!»

Petrus stößt einen tiefen Seufzer aus, aber er widerspricht nicht mehr. Er geht Andreas entgegen und hilft ihm, die Tiere auf einen zugespitzten Stock, der als Bratspieß dienen soll, zu spießen, und überwacht das Braten mit einem solchen Ausdruck der Sammlung im Gesicht, daß man meinen könnte, einen Richter im Augenblick des Urteilspruchs vor sich zu haben.

«Wir wollen den Frauen entgegengehen, Judas des Simon», befiehlt Jesus, und geht auf die verlassenen Felder des Doras zu.

«Ein guter Jünger verachtet nicht, was der Meister nicht verachtet, Judas», sagt er nach einiger Zeit und ohne Einleitung.

«Meister, ich verachte nicht. Doch wie Bartholomäus fühle ich, daß ich nicht verstanden würde, und ziehe es vor, zu schweigen.»

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«Nathanael fürchtet, meinen Wunsch, die Herzen zu erleuchten und zu erheben, nicht erfüllen zu können. Auch er handelt nicht gut, weil es ihm an Vertrauen auf den Herrn mangelt. Aber du handelst noch viel weniger richtig, denn du hast nicht Angst, nicht verstanden zu werden, sondern du verschmähst es, die armen Bauern zu belehren, die unwissend in allem sind, außer in der Tugend. An Tugend übertreffen sie viele von euch. Du hast immer noch nichts begriffen, Judas! Das Evangelium ist wirklich die Frohe Botschaft, die den Armen, den Kranken, den Sklaven und den Verlassenen gebracht werden muß. Danach werden sie auch die anderen erhalten. Aber sie ist vor allem bestimmt für die Unglücklichen, damit sie in ihrem Unglück Hilfe und Trost finden.»

Judas neigt den Kopf; er antwortet nicht.

Aus einem dichten Gebüsch treten Maria, Maria des Kleophas und Susanna hervor.

«Mutter, ich grüße dich! Der Friede sei mit euch, ihr Frauen!»

«Mein Sohn! Ich bin zu den... Gequälten gegangen. Doch ich habe eine gute Nachricht erhalten, die mir keine übermäßigen Schmerzen bereitet: Doras hat sich dieser Ländereien entledigt, und Jochanan hat sie übernommen. Es ist kein Paradies, aber es ist nicht mehr jene Hölle. Heute hat der Verwalter den Landarbeitern die Entscheidung mitgeteilt. Doras ist schon weggezogen und hat auf seinem Wagen alles bis auf das letzte Körnchen mitgeschleppt und alle ohne Nahrung zurückgelassen. Da der Aufseher Jochanans heute nur Lebensmittel für seine Leute hat, wären die des Doras ohne Essen geblieben. Es ist wirklich eine Vorsehung, daß wir diese Lämmchen haben.

«Es ist auch eine Vorsehung, daß die Arbeiter nicht mehr Doras gehören. Wir haben ihre Häuser gesehen... Schweineställe... !» sagt Susanna entrüstet.

«Sie sind überglücklich, die Ärmsten!» fügt Maria des Kleophas bei.

«Auch ich bin glücklich. Es wird ihnen immerhin besser gehen als zuvor», antwortet Jesus, der zu den Aposteln zurückkehrt.

Johannes von Endor holt ihn. Er trägt zusammen mit Ermastheus Wasserkrüge. «Die Leute Jochanans haben sie uns gegeben», erklärt er, nachdem er Jesus begrüßt hat.

Alle kehren zum Platz zurück, an dem die beiden Lämmer inmitten dichter Rauchwolken geröstet werden. Petrus dreht unablässig seinen Bratspieß und hängt seinen Gedanken nach. Judas Thaddäus hingegen, der seinen Bruder an der Hüfte umfangen hält, geht mit ihm auf und ab und redet eifrig. Von den übrigen bringt der eine neues Holz herbei, der andere deckt den Tisch, der wie die Sitzgelegenheiten aus großen Steinen zu bestehen scheint. Ich weiß es nicht.

Da kommen die Landarbeiter des Doras. Sie scheinen mir noch magerer und zerlumpter als früher zu sein. Aber sie sind überglücklich! Es sind

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etwa zwanzig; und weder ein Kind noch eine Frau ist bei ihnen. Nur arme Männer...

«Der Friede sei mit euch allen! Wir wollen zusammen den Herrn preisen, daß er euch einen besseren Vorgesetzten geschenkt hat. Wir wollen Ihn preisen und ihn um die Bekehrung dessen bitten, der euch so sehr hat leiden lassen. Nicht wahr? Bist du glücklich, alter Vater? Ich auch! Ich werde jetzt öfters mit dem Knaben kommen können. Haben sie dir das gesagt? Du weinst vor Freude, nicht wahr? Komm, komm ohne Furcht ...»sagt er zum Großvater Margziams, der ihm ganz gebeugt und weinend die Hand küßt und flüstert: «Ich werde den Allerhöchsten nun um nichts mehr bitten. Er hat mir mehr gegeben, als ich erbeten habe. Jetzt möchte ich sterben, aus Furcht, noch lange genug leben, um wiederum in mein Leid zurückzufallen.»

Die anfangs etwas schüchternen Arbeiter fassen bald Mut, und als man auf den mit breiten Blättern bedeckten Steinen die beiden Lämmer zerlegt und die Portionen auf große Brotfladen, die als Teller dienen, legt, haben sich schon alle in ihrer Einfalt beruhigt und essen mit Appetit; sie stillen ihren Hunger und berichten von den letzten Ereignissen.

Einer sagt: «Ich habe immer die Heuschrecken, die Maulwürfe und die Ameisen verwünscht. Aber von jetzt an werden sie mir alle Botschafter des Herrn sein. Denn ihretwegen verlassen wir die Hölle.» Und wenn auch der Vergleich von Ameisen und Heuschrecken mit den himmlischen Heerscharen etwas unpassend ist, so lacht doch niemand, denn alle fühlen die Tragik, die in diesen Worten steckt.

Die Flamme beleuchtet die kleine Versammlung, aber die Gesichter sind nicht auf das Feuer gerichtet, und die Augen schauen nur wenig auf das, was sie vor sich haben. Aller Augen sind dem Antlitz Jesu zugewandt; sie werden nur einen Augenblick von ihm abgelenkt, wenn Maria des Alphäus, die damit beschäftigt ist, die Tiere zu zerlegen, neue Fleischstücke auf die Brotfladen für die hungrigen Arbeiter legt. Sie beendet ihre Arbeit, indem sie zwei geröstete Keulen in Blätter wickelt und sie dem Großvater Margziams gibt mit den Worten: «Nimm! Damit jeder auch morgen noch einen Bissen hat. Inzwischen wird der Aufseher Jochanans Vorsorge treffen.»

«Aber ihr...»

«Wir essen nicht viel. Nimm, nimm, Mann!»

Von den beiden Lämmern bleibt nichts übrig als abgenagte Knochen und der durchdringende Geruch von geronnenem Fett, das noch immer an den verlöschenden Holzscheiten brennt, deren schwaches Licht nun die Helligkeit des Mondes ersetzt. Auch die Arbeiter Jochanans gesellen sich zu den anderen. Es ist Zeit, mit den Reden zu beginnen. Die blauen Augen Jesu schauen auf und suchen Judas Iskariot, der sich in der Nähe eines Baumes ein wenig ins Dunkel gesetzt hat.

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Und da Jesus sieht, daß Judas so tut, als hätte er seinen Blick nicht verstanden, ruft er laut: «Judas!» Jetzt erhebt er sich augenblicklich und tritt hervor.

«Sondere dich nicht ab. Ich bitte dich, an meiner Statt die Frohe Botschaft zu verkünden. Ich bin sehr müde. Und wenn ich heute abend nicht zurückgekommen wäre, dann hättet ihr sowieso sprechen müssen.»

«Meister, ich weiß nicht, was ich sagen soll... Stelle mir wenigstens Fragen!»

«Nicht ich habe die Fragen zu stellen. Ihr Leute, was wollt ihr hören oder erklärt haben?» fragt er dann die Landarbeiter.

Die Männer blicken sich gegenseitig an... sie sind unschlüssig... Endlich fragt ein Bauer: «Wir haben die Macht des Herrn und seine Güte erfahren. Aber wir wissen noch sehr wenig von seiner Lehre. Vielleicht werden wir jetzt mehr davon erfahren, da wir Jochanan gehören. Aber wir haben den lebhaften Wunsch zu erfahren, welches die unentbehrlichsten Dinge sind, die man tun muß, um das Reich zu erlangen, das der Messias verspricht. Ist es uns möglich, es mit dem Wenigen, das wir tun können, verdienen?»

Judas antwortet: «Gewiß, ihr lebt in sehr widrigen Verhältnissen. Alles um euch verschwört sich gegen euch, um euch vom Himmelreich fernzuhalten. Die Tatsache, daß ihr nicht frei seid, zum Meister zu gehen, wann ihr wollt; eure Lage als Knechte eines Herrn, der zwar keine Hyäne ist wie Doras, aber anscheinend dennoch eine Dogge, da er seine Diener gefangen hält; die Leiden und Verdemütigungen, die euch zuteil werden; all diese Dinge sind ebenso viele ungünstige Vorbedingungen für eure Erwählung in das Reich. Denn schwerlich hegt ihr nicht Gefühle des Grolls und der Rache, der Kritik und des Hasses gegen den, der euch so hart behandelt. Das grundlegend Notwendige ist aber die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Ohne sie gibt es keine Rettung. Ihr müßt darüber wachen, daß euer Herz sich jederzeit gefügig dem Willen Gottes unterwirft, der sich in eurem Schicksal äußert und das geduldige Ertragen eures Herrn verlangt. Ihr dürft euren Gedanken nicht die Freiheit eines Urteils erlauben, das weder dem Gutsbesitzer gegenüber wohlwollend wäre, noch dankbar eurem... eurem... ich will damit sagen, ihr sollt nicht nachdenken, damit sich in euch keine rebellischen Gedanken regen, die die Liebe töten. Denn wer keine Liebe hat, wird nicht gerettet, da er dem ersten und wichtigsten Gebot zuwiderhandelt. Ich bin aber fast sicher, daß ihr euch retten könnt; denn ich sehe in euch guten Willen vereint mit Sanftmut des Herzens. Dies läßt mich hoffen, daß ihr Haß und Rachsucht von euch fernhaltet... Im übrigen ist die Barmherzigkeit Gottes so groß, daß sie euch euren Mangel an Vollkommenheit verzeihen wird.»

Schweigen. Jesus steht mit tief gesenktem Haupt da; man kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen; aber die anderen Gesichter kann man

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wohl sehen. Und es sind nicht gerade selige Gesichter. Die Bauern sind noch beschämter als zuvor, die Gesichter der Apostel und der Frauen sind erstaunt, ich möchte fast sagen erschrocken.

«Wir werden versuchen, in uns keine Gedanken aufkommen zu lassen, die nicht auf Geduld und Verzeihung gegründet sind», antwortet demütig der Alte.

Ein anderer Bauer seufzt: «Es wird sicher schwierig sein, zur Vollkommenheit der Liebe zu gelangen, für uns, für die es schon viel bedeutet, daß wir nicht zu Mördern unserer Henkersknechte geworden sind. Das Gemüt leidet, leidet, leidet, und wenn es auch nicht haßt, so hat es doch Mühe zu lieben, wie zurückgebliebene Kinder, denen es nicht gelingt, zu wachsen...»

«Aber nein, mein Lieber. Ich glaube vielmehr, daß ihr, gerade weil ihr so gelitten habt, ohne rachsüchtige Mörder zu werden, eine viel tiefere Liebe als wir. Ihr liebt, ohne euch dessen bewußt zu sein», sagt Petrus, um sie zu trösten. Und da erst merkt er, daß er gesprochen hat, und unterbricht sich, um zu sagen: «Oh, Meister! ... Aber... du hast mir gesagt, ich soll reden... und ein Thema finden, auch im Lamm, das ich gebraten habe. Und ich habe es die ganze Zeit über betrachtet, um gute Worte zu finden für diese unsere Brüder in ihrer traurigen Lage. Aber weil ich so töricht bin, habe ich nichts Geeignetes gefunden. Ich weiß nicht, wie es geschehen ist, aber mir kamen davon weit entfernte Gedanken, von denen ich nicht weiß, ob ich sie für ungewöhnlich – dann sind sie sicher von mir – oder für heilig halten soll; in letzterem Fall würde es bedeuten, daß sie vom Himmel sind. Ich sage sie so, wie sie mir in den Sinn gekommen sind, und du, Meister, wirst mir eine Erklärung geben oder mich tadeln, und ihr alle sollt Mitleid mit mir haben.

Ich habe also zunächst auf die Flamme geschaut, und dabei ist mir dieser Gedanke gekommen: "Nun, woraus entsteht die Flamme? Aus dem Holz. Das Holz kann aber aus sich nicht in Flammen aufgehen. Im Gegenteil, wenn es nicht recht trocken ist, brennt es nicht; denn das Wasser beschwert und hindert es, sich zu entzünden. Ist das Holz tot, kann es auch verfaulen oder von Holzwürmern zerfressen werden und zu Staub zerfallen; doch aus sich selbst wird es nie in Flammen aufgehen. Aber siehe, wenn es jemand geschickt aufschichtet und ihm mit Feuerstein und Zunder nahe kommt, um einen Funken zu entfachen, und wenn er noch bläst, um das Flämmchen zu schüren, und zuerst mit dünnen Hölzern beginnt, dann steigt die Flamme auf, wird immer schöner und nützlicher und erfaßt alles, selbst die großen Holzblöcke." Und ich sagte mir: "Wir sind das Holz. Von selbst entzünden wir uns nicht. Aber wir müssen dafür sorgen, daß unser Holz nicht zu sehr von der Feuchtigkeit des Fleisches und Blutes durchtränkt wird, um dem Funken des Zunders zu ermöglichen, es zu erfassen. Und wir müssen danach verlangen, verbrannt zu werden, da wir, wenn wir tatenlos bleiben, von Unwettern und Würmern

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vernichtet; das heißt, vom Menschlichen und vom Dämon erfaßt werden. Überlassen wir uns hingegen dem Feuer der Liebe, fängt dieses an, die kleinen Zweige zu entzünden und zerstört sie – für mich sind die Zweiglein die Unvollkommenheiten. Dann wird es größer und verzehrt die stärkeren Hölzer, das heißt die stärkeren Leidenschaften. Und wir harten, klotzigen, ja häßlichen Hölzer werden dann zu jenem schönen, körperlosen, flinken, leuchtenden Etwas: zur Flamme. Und dies geschieht, wenn wir uns der Liebe hingeben, die Feuerstein und Zunder zugleich ist und aus dem in diesem elenden Leben sündigen Menschen den Engel der künftigen Zeiten, den Bürger des himmlischen Reiches, macht."

Das war mein Gedanke.»

Jesus hat ein wenig das Haupt erhoben und hört mit geschlossenen Augen und der Spur eines Lächelns auf den Lippen zu. Die anderen schauen auf Petrus, etwas erstaunt, doch nicht mehr erschrocken. Ruhig fährt er fort:

«Noch etwas ist mir in den Sinn gekommen, als ich die Tiere während des Bratens beobachtete. Sagt nur nicht, ich sei kindisch in meinem Denken. Der Meister hat mich aufgefordert, in dem zu suchen, was vor mir war... und ich habe ihm gehorcht.

Ich habe auf die Tiere geschaut und mir gesagt: "Siehe, es sind zwei unschuldige, zwei sanfte Geschöpfe. Unsere Schrift ist voll zarter Anspielungen auf das Lamm, sowohl um an den zu erinnern, der der verheißene Messias und Erlöser sein wird, seit das mosaische Lamm sein Symbol wurde, als auch um auszudrücken, daß Gott auch mit uns Erbarmen hat. So sagen die Propheten. Er kommt, um seine Schafe zu sammeln, um die Wunden zu heilen und die Verletzten zu tragen. Welche Güte!" sagte ich mir. "Wie kann man einen Gott fürchten, der uns Armseligen so viel Barmherzigkeit verspricht!" Aber ich sagte mir auch: "Wir müssen mild sein, wenigstens mild, da wir schon nicht schuldlos sind. Mild sein und danach verlangen, von der Liebe verzehrt zu werden. Denn was wird aus dem schönsten und reinsten Lämmlein, was wird aus ihm, wenn es getötet, aber von der Flamme nicht geröstet wird? Ein faulendes Aas. Doch wenn das Feuer es umhüllt, wird es zur gesunden und gesegneten Speise!"

Und ich kam zur Folgerung: "Kurzum, alles Gute entspringt der Liebe. Sie enthebt uns der Schwere des Menschlichen; sie macht uns leuchtend und nützlich; sie läßt uns brüderlich und Gott dankbar werden; sie verfeinert unsere natürlichen guten Eigenschaften und trägt sie zu einer Höhe, auf der man sie als übernatürliche Tugenden bezeichnet. Und wer tugendhaft ist, ist heilig, und wer heilig ist, besitzt das Himmelreich. Daher sind es nicht Wissenschaft noch Furcht, die uns die Wege der Vollkommenheit öffnen, sondern die Liebe. Sie hält uns mehr als die Furcht vor der Strafe vom Bösen ab, denn sie verlangt danach, Gott nicht zu betrüben. Sie lehrt uns, Mitleid mit den Brüdern zu haben und sie zu lieben,

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da sie von Gott kommen. Deswegen ist die Liebe das Heil und die Heiligung des Menschen."

Das waren die Dinge, an die ich, während ich auf den Braten achtete, dachte und damit meinem Jesus gehorchte. Verzeiht mir, daß das alles ist. Aber mir hat es gut getan! Ich gebe diese Gedanken an euch weiter in der Hoffnung, daß auch ihr aus ihnen Nutzen zieht 1»

Jesus öffnet die Augen; sie strahlen. Er streckt einen Arm aus und legt die Hand auf die Schulter des Petrus: «Wahrlich, du hast die richtigen Worte gefunden. Gehorsam und Liebe haben sie dich finden lassen. Und die Demut und das Verlangen, den Brüdern Trost zu geben, werden sie ebenso viele Sterne an ihrem dunklen Himmel sein lassen. Gott segne dich, Simon des Jonas!»

«Gott segne dich, mein Meister! Und du sagst nichts?»

«Morgen werden sie in den Dienst eines neuen Herrn treten. Ich will diese neue Arbeit mit meinem Wort segnen. Jetzt geht in Frieden, und Gott sei mit euch!»

303. JESUS SPRICHT ZU DEN LANDARBEITERN JOCHANANS: «LIEBE IST GEHORSAM»

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Jesus steht inmitten eines verwüsteten Obstgartens des Doras. Reihen von abgestorbenen oder sterbenden Bäumen umgeben ihn, und viele von diesen sind schon gefällt oder ausgegraben worden. Die Arbeiter des Doras und Jochanan und die Apostel sind um Jesus versammelt, teils stehend, teils auf umgestürzten Baumstämmen sitzend.

Jesus beginnt zu reden: «Ein neuer Morgen und eine neue Abreise. Und ich bin nicht der einzige, der abreist; auch ihr reist ab, wenn nicht in materieller, so doch in moralischer Hinsicht, indem ihr in die Dienste eines neuen Gutsherrn tretet. Ihr kommt so mit anderen guten und frommen Arbeitern zusammen und werdet eine Familie bilden, in der ihr von Gott und seinem Wort reden könnt, ohne dazu Verstecke aufsuchen zu müssen. Stärkt euch gegenseitig im Glauben, helft einander, und jeder ertrage die Fehler des anderen und diene ihm zur Erbauung.

Das ist Liebe. Ihr habt gestern abend gehört, wenn auch in anderer Form, daß in der Liebe Rettung ist. Simon Petrus hat euch mit einfachen Worten erklärt, wie die Liebe die bedrückende Natur (das tägliche Leben) in eine übernatürliche verwandelt und aus einem Individuum (das ohne Liebe verdorben und schädlich und wie ein geschlachtetes und nicht über dem Feuer gebratenes Tier unnützer wird als ein Stück Holz, das im Wasser vermodert und zum Feuern nicht mehr gut ist) einen Menschen machen

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kann, der schon in der Atmosphäre Gottes lebt und daher ein Wesen ist, das der Verderbnis entrinnt und seinem Nächsten nützt.

Daher glaubt mir, Söhne, die große Kraft des Universums ist die Liebe. Ich werde nie müde werden, dies zu wiederholen. Alles Unglück auf der Erde kommt von der Lieblosigkeit, angefangen vom Tod und den Krankheiten, die aus Mangel an Liebe zum Allerhöchsten Herrn in Adam und Eva geboren wurden.

Denn die Liebe ist Gehorsam. Wer nicht gehorcht, ist ein Rebell. Wer ein Rebell ist, liebt den nicht, gegen den er rebelliert. Aber auch die allgemeinen und die persönlichen Unglücksfälle wie Kriege oder Streitigkeiten in den Familien, woher stammen sie? Vom Egoismus, der nichts anderes ist als Lieblosigkeit. Und mit dem Ruin der Familien kommt auch der Ruin der Güter als Strafe Gottes. Denn Gott straft früher oder später jeden, der ohne Liebe lebt. Ich weiß, daß hier eine Geschichte umgeht, um derentwillen ich von einigen gehaßt und von anderen mit ängstlichem Herzen beobachtet werde; oder man bezeichnet mich als neue Strafe und duldet mich nur aus Angst vor dieser Strafe. Es ist die Fabel, wonach mein Blick die Felder verwüstet hat. Nicht mein Blick: es war der bestrafte Egoismus eines ungerechten und grausamen Menschen. Würden meine Blicke allen Grund und Boden derer, die mich hassen, verbrennen, dann gäbe es wahrlich wenig Grünland in Palästina!

Ich räche mich nie an denen, die mich beleidigen, sondern überlasse dem Vater all jene, die hartnäckig in ihrer Sünde der Selbstsucht gegenüber dem Nächsten verharren, auf lästerliche Weise die Gebote verspotten und um so grausamer werden, je mehr Worte sie hören und Handlungen sehen, die sie von der Liebe überzeugen wollen. Ich bin immer bereit, die Hand zu erheben und dem Reumütigen zu sagen: "Ich spreche dich los. Geh in Frieden!" Aber ich beleidige die Liebe nicht dadurch, daß ich mich mit unbußfertigen Herzen einverstanden erkläre. Habt dies immer vor Augen, um die Dinge im rechten Licht zu sehen und die Fabeln Lügen zu strafen, die – ob sie nun aus großer Verehrung oder aus haßerfüllter Angst hervorgehen – immer von der Wahrheit abweichen.

Ihr wechselt jetzt den Herrn, doch ohne diese Felder zu verlassen. Und wenn es auch Torheit zu sein scheint, sie zu pflegen, so sage ich euch dennoch: tut eure Pflicht hier! Ihr habt sie bisher aus Furcht vor unmenschlichen Strafen erfüllt. Erfüllt sie weiterhin, auch wenn ihr nun anders behandelt werdet. Ja, ich sage euch sogar, je menschlicher ihr behandelt werdet, desto mehr müßt ihr euch bemühen, mit freudigem Fleiß zu arbeiten, um mit eurer Arbeit jenen zu danken, die euch mit Menschlichkeit behandeln. Gewiß ist es richtig, daß die Herren die Pflicht haben, menschlich mit ihren Untergebenen zu verfahren – indem sie bedenken, daß wir alle vom gleichen Stamm sind; daß jeder Mensch nackt geboren wird und ebenso stirbt und verwest, sowohl der Arme als auch der Reiche;

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daß die Reichtümer nicht das Werk derjenigen sind, die sie besitzen, sondern jener, die sie ihnen mit ehrlicher oder unehrlicher Arbeit angehäuft haben; und daß man sich ihrer nicht rühmen, sondern sie ohne Aufsehen und in Gerechtigkeit für gute Werke verwenden soll, damit man ohne Strenge vom wahren Herrn, nämlich Gott, beurteilt werde, von Gott, der sich nicht mit Edelsteinen und Goldstücken bestechen läßt, sondern um unserer guten Werke willen unser Freund ist – wenn also all dies richtig ist, so haben auch die Diener die Pflicht, gut zu ihren Herren zu sein.

Erfüllt mit Einfalt und gutem Willen den Willen Gottes, der euch in diesen bescheidenen Verhältnissen haben will. Ihr kennt das Gleichnis vom reichen Prasser und ihr könnt daraus schließen, daß im Himmel nicht das Gold, sondern die Tugend Lohn einbringt. Die Tugend und die Unterwerfung unter den Willen Gottes machen Gott zum Freund des Menschen. Ich weiß, daß es sehr schwer ist, in den Werken der Menschen immer Gott zu erkennen. So leicht es auch ist, im Guten das Wirken Gottes zu sehen, so schwer ist es doch, es im Bösen zu erkennen, da der Mensch sich dann leicht zu dem Gedanken verleiten läßt, daß Gott nicht gut sei. Doch ihr werdet das Böse überwinden, das euch der von Satan versuchte Menschen zufügt, und jenseits dieser Schranke, und obwohl sie euch Tränen kostet, erkennt ihr die Wahrheit des Schmerzes und seine Schönheit. Der Schmerz stammt vom Bösen. Aber Gott, der ihn nicht abschaffen will, da diese Kraft nun einmal existiert und ein Ausdruck des geistlichen Goldes der Kinder Gottes ist, zwingt ihn, sein Gift in ein Elixier zu verwandeln, das ewiges Leben verleiht. Denn der Schmerz mit seinem Stachel hinterläßt in den Guten Kräfte, die sie immer mehr vergeistigen und heiligen.

Seid daher gut, respektvoll, untertänig. Urteilt nicht über die Herren. Einen gibt es, der urteilt. Ich wünschte, daß euer jetziger Herr ein Gerechter werde; so wäre euer Leben leichter, und er gewänne das ewige Leben. Aber bedenkt, je mühseliger die Pflicht zu erfüllen ist, um so größer ist das Verdienst in den Augen Gottes. Versucht nicht, den Herrn zu betrügen. Geld oder Gewinn, die durch Betrug erworben werden, machen nicht reich und auch nicht satt. Bewahrt eure Hände, eure Lippen und euer Herz rein. Dann werdet ihr euren Sabbat und eure vorgeschriebenen Feste in der Gnade unter den Augen des Herrn feiern, auch wenn ihr an die Scholle gebunden seid.

Wahrlich, eure mühevolle Arbeit ist mehr wert als das scheinheilige Gebet jener, die das Gebot nur erfüllen, um von der Welt gelobt zu werden, in Wirklichkeit aber das Gesetz nicht achten, das gebietet, selbst und zusammen mit den Hausgenossen das Gebot des Sabbats und der Feste Israels zu erfüllen. Denn das Gebet besteht nicht in der äußeren Haltung, sondern kommt aus dem Gemüte. Wenn euer Herz Gott in Heiligkeit und

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unter allen Umständen liebt, begeht es den Sabbat und die Feste besser als die anderen, die euch daran hindern wollen.

Ich segne euch und verlasse euch nun, da die Sonne aufgeht und ich die Hügel erreichen möchte, bevor die Hitze zu stark wird. Wir werden uns bald wiedersehen, denn der Herbst ist nicht mehr fern. Der Friede sei mit euch allen, den alten und den neuen Knechten Jochanans, und erfülle eure Herzen!»

Jesus entfernt sich, indem er an den Bauern vorbeigeht und einen nach dem anderen segnet.

Hinter einem großen verdorrten Apfelbaum verborgen steht ein Mann. Doch als Jesus vorübergeht und so tut, als ob er ihn nicht bemerke, springt er hervor und sagt: «Ich bin der Verwalter Jochanans. Er hat mir gesagt: "Wenn der Rabbi von Israel kommt, dann lasse ihn auf meinen Gütern Aufenthalt nehmen und zu den Arbeitern sprechen. Sie werden dann besser für uns arbeiten, denn er lehrt nur gute Dinge." Und gestern, als er mir mitgeteilt hat, daß von heute an diese (er deutet auf die Leute des Doras) bei mir sind und die Güter Jochanan gehören, hat er auch geschrieben: "Wenn der Rabbi kommt, höre, was er sagt, und richte dich danach, damit uns kein Unheil befalle. Überhäufe ihn mit Ehren, doch sorge dafür, daß er den Fluch von den Ländereien nimmt." Denn du mußt wissen, daß sie Jochanan aus Eigensinn erworben hat. Doch ich glaube, daß es ihn bereits reut. Es wird schon viel sein, wenn wir aus dem Boden Weiden machen können.»

«Hast du mich reden gehört?»

«Ja, Meister!»

«Dann wißt ihr, wie ihr euch zu verhalten habt, du und dein Herr, um den Segen Gottes zu erlangen. Teile dies deinem Herrn mit. Was dich angeht, mäßige seine Befehle, da du aus Erfahrung weißt, mit welcher Mühe der Mensch das Land bestellt und du in der Gunst deines Herrn stehst. Doch ist es besser, die Gunst des Herrn zu verlieren als die Seele. Leb wohl!»

«Aber ich muß dir Ehren erweisen.»

«Ich bin kein Götzenbild. Ich brauche keine Ehrenbezeugungen aus Berechnung, um Gnaden zu schenken. Ehre mich in deinem Geist und setze in die Tat um, was du gehört hast; dann wirst du Gott und deinem Herrn gleichzeitig dienen.»

Gefolgt von den Jüngern, den Frauen und allen Landarbeitern geht Jesus durch die Felder und schlägt den Weg zu den Hügeln ein, während ihn alle noch einmal grüßen.

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304. MARIA, DIE HOCHHEILIGE: «MEIN ERBARMEN IST STÄRKER ALS ALLES»

Jesus kehrt, hügelauf- hügelabgehend, in Richtung Nazareth zurück und nützt dabei den Schatten der verstreut liegenden Olivenhaine und Obstgärten in dieser fruchtbaren und gut bebauten Gegend.

Als er jedoch eine Straßenkreuzung erreicht, wo der Weg nach Ptolemais abzweigt, bleibt er stehen und sagt: «Wir wollen bei diesem Haus, in dem ich mich schon öfters aufgehalten habe, anhalten und etwas Nahrung zu uns nehmen. Während die Sonne ihre Bahn zieht, wollen wir noch ein wenig beisammen bleiben, bevor wir uns von neuem trennen. Wir wollen nach Ptolemais gehen, meine Mutter und Maria nach Nazareth, und Johannes mit Ermastheus nach Sycaminon.»

Sie begeben sich durch einen Olivenhain zu einem breiten und niedrigen Bauernhaus, das der überall gegenwärtigen Feigenbaum beschattet und das die Reben eines Weinstocks umranken, die an der Treppe emporklettern und sich dann über der Terrasse ausbreiten.

«Der Friede sei mit euch! Ich bin wieder hier!»

«Komm, Meister! Deine Anwesenheit ist immer willkommen. Gott möge dir und den Deinen Frieden schenken», entgegnet ein alter Mann, der mit einem Armvoll Reisig den Hof überquert. Dann ruft er: «Sara, Sara! Der Meister mit seinen Jüngern ist da. Gib mehr Mehl in den Teig!»

Aus einem Raum tritt eine ganz mit Mehl bestäubte Frau, die unzweifelhaft Mehl gesiebt hat, da sie das Sieb noch in der Hand hält. Sie kniet lächelnd vor Jesus nieder.

«Der Friede sei mit dir, Frau! Ich habe die Mutter zu dir gebracht, wie ich dir versprochen hatte. Hier ist sie! Und das ist ihre Schwägerin, die Mutter des Jakobus und des Judas. Wo sind Dina und Philippus?»

Nachdem die Frau die beiden Marien begrüßt hat, antwortet sie: «Dina hat gestern ihr drittes Mädchen geboren. Wir sind etwas traurig, weil uns kein Enkel geschenkt worden ist. Doch wollen wir zufrieden sein, nicht wahr, Mattathias?»

«Ja, denn es ist ein schönes Mädchen, und es ist ja immerhin unser Blut. Wir werden es dir zeigen. Philippus ist weggegangen, um Anna und Noemi bei seinen Eltern abzuholen. Er wird bald zurück sein.»

Die Frau kehrt zu ihrem Teig zurück, während der Mann, der sein Holz beim Herd niedergelegt hat, sich um die Gäste kümmert und ihnen Hocker und frischgemolkene Milch anbietet oder Obst und Oliven, wenn ihnen das lieber ist.

Der ebenerdige Raum ist kühl und schattig, denn er ist sehr weit und nach beiden Seiten des Hauses geöffnet. Die eine der Türen ist von dem Feigenbaum und die andere von einer Hecke mit sternförmigen Blumen, die Sonnenblumen ähneln, aber nicht so groß sind wie diese, beschattet.

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Das smaragdfarbene Licht, das in den Raum dringt, tut den von der grellen Sonne müden Augen wohl. Im großen Raum befinden sich Bänke und Tische; vielleicht arbeiten und weben hier die Frauen, und die Männer reparieren die landwirtschaftlichen Geräte; oder vielleicht werden hier die Vorräte an Mehl und Früchten aufbewahrt, worauf die mit Haken versehenen Stangen und die Regale über den Truhen längs der Wände hinweisen. Flockige Stränge von Flachs und Hanf hängen gleich aufgelösten Zöpfen an der weißgekalkten Mauer, und ein feuerrotes Gewebe ist über einen unbedeckten Webstuhl gebreitet und scheint mit seiner frohen, prächtigen Farbe die ganze Umgebung aufzuheitern.

Die Herrin des Hauses kehrt zurück. Sie ist mit der Brotteigvorbereitung fertig und fragt die Gäste, ob sie das neugeborene Kindlein sehen wollen. Jesus antwortet: «Ich will es segnen!»

Maria erhebt sich jedoch und sagt: «Ich will gehen und die Mutter begrüßen.»

Alle Frauen verlassen den Raum.

«Hier ist es angenehm», sagt Bartholomäus; er ist sichtlich müde.

«Ja, in diesem Schatten und dieser Ruhe werden wir einschlafen», bemerkt Petrus, der schon ganz schläfrig ist.

«In drei Tagen werden wir für längere Zeit in unseren Häusern sein. Ihr werdet euch ausruhen können und nur in der näheren Umgebung die Frohbotschaft verkünden», sagt Jesus.

«Und du?»

«Ich will in Kapharnaum bleiben und mich gelegentlich nach Bethsaida begeben. Ich werde jenen predigen, die dorthin kommen. Wenn der Mond des Tiari gekommen ist, werden wir uns wieder auf den Weg machen. Gegen Abend werde ich fortfahren, euch zu belehren ...»

Jesus schweigt, denn er sieht, daß die Müdigkeit seine Worte nutzlos macht. Er lächelt kopfschüttelnd und betrachtet die Apostel, die, von Müdigkeit übermannt, in mehr oder weniger bequemen Stellungen einschlafen. Im Haus und auf den der Sonne ausgesetzten Feldern herrscht vollkommenes Schweigen. Es scheint ein verzauberter Ort zu sein. Jesus begibt sich zur Türe bei der Blumenhecke und betrachtet durch die Zweige die sanften galiläischen Hügel, welche die reglosen Olivenbäume grau erscheinen lassen.

Leichte Schritte und das unsichere Wimmern eines Neugeborenen werden über seinem Haupt hörbar. Jesus blickt auf und lächelt seiner Mutter zu, die heruntersteigt und in den Armen ein weißes Bündel trägt, aus dem drei rosige Dinge herausschauen: ein Köpfchen und zwei tastende Fäustchen.

«Schau, Jesus, welch ein schönes Mädchen. Du sahst ihm ein wenig ähnlich, als du einen Tag alt warst. Auch du warst so blond, und man hätte denken können, daß du keine Haare hast, wenn sie nicht schon

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damals so gelockt wie ein Wolkenflöckchen gewesen wären. Du warst wie eine aufblühende Rose! Und schau, schau, jetzt öffnet es hier im Schatten die Äuglein und sucht die Brust; es hat deine dunkelblauen Augen... O Liebes! Aber ich habe keine Milch für dich, Kleines, Röschen, mein Täubchen!» Die Mutter Gottes wiegt das Kind, das aufhört zu wimmern und mit dem gurrenden Laut eines Turteltäubchens einschläft.

«Mama, hast du es mit mir auch so gemacht?» fragt Jesus, der seine Mutter beobachtet, wie sie das Kind wiegt und ihre Wange an das blonde Köpflein legt.

«Ja, mein Sohn! Aber zu dir habe ich gesagt: "Mein Lämmlein!" Es ist schön, nicht wahr?»

«Sehr schön und kräftig. Die Mutter kann zufrieden sein», bestätigt Jesus, der sich nun ebenfalls über das unschuldige Kind beugt, um seinen Schlaf zu betrachten.

«Und doch, es ist nicht... Der Mann ist enttäuscht, weil er nur Mädchen hat. Gewiß, wir brauchen Knaben für unsere Äcker. Doch es ist nicht die Schuld unserer Tochter...» seufzt die Hausherrin, die hinzugekommen ist.

«Sie sind noch jung. Sie lieben sich und werden auch noch Knaben bekommen», sagt der Herr bestimmt.

«Da kommt Philippus... Nun wird er finster werden...» murmelt die Frau ängstlich. Dann sagt sie lauter: «Philippus, der Rabbi von Nazareth ist hier.»

«Es freut mich, dich zu sehen. Der Friede sei mit dir, Meister!»

«Und mit dir, Philippus! Ich habe dein schönes Mädchen gesehen. Ich betrachte es immer noch, denn es ist wirklich bewundernswert. Gott segnet dich mit schönen, gesunden und guten Kindern. Du mußt ihm dafür dankbar sein... Du antwortest nicht? Du scheinst betrübt ...»

«Ich habe mit einem Knaben gerechnet!»

«Du willst ihr doch nicht sagen, daß du das unschuldige Kind anklagst, weil es ein Mädchen ist, und du willst doch nicht mit deiner Frau hart sein?» fragt Jesus streng.

«Ich wollte einen Knaben, für den Herrn und für mich!» ruft Philippus erregt aus.

«Glaubst du, daß du dies durch Ungerechtigkeit und Auflehnung erreichen kannst? Hast du etwa die Gedanken Gottes gelesen? Bist du denn mehr als er, daß du sagen kannst: "Mach es so, denn ich bin ein Gerechter" ? Diese Frau hier, meine Jüngerin, hat zum Beispiel keine Kinder. Sie bringt es nun fertig zu sagen: "Gesegnet sei meine Kinderlosigkeit, die mir Flügel gibt, dir zu folgen." Und hier eine Mutter von vier Söhnen, die sich danach sehnt, daß alle vier nicht mehr ihr gehören mögen. Ist es wahr, Susanna und Maria? Hörst du es? Und du, der du erst seit wenigen Jahren mit einer fruchtbaren Frau verheiratet und mit drei Rosenknospen gesegnet bist, die deiner Liebe bedürfen, du bist verärgert? Über wen?

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Warum? Du kannst es nicht sagen? Dann sage ich es: weil du ein Egoist bist! Lege sofort deinen Groll ab. Öffne deine Arme diesem Geschöpf, das aus deinem Samen geboren wurde, und liebe es. Auf, nimm es!» Jesus nimmt das Bündel Windeln und legt es in die Arme des jungen Vaters. Dann spricht Jesus weiter: «Geh zu deiner Frau, die weint, und sage ihr, daß du sie liebst. Sonst wird Gott dir wahrlich niemals einen Knaben schenken. Ich sage es dir! Geh!»

Der Mann geht in die Kammer, in der die Frau liegt.

«Danke, Meister!» flüstert die Schwiegermutter. «Er war seit gestern sehr grausam...»

Der Mann kommt nach einigen Minuten wieder und sagt: «Ich habe es getan, Herr. Die Frau dankt dir dafür. Und sie sagt, daß sie dich bittet, dem Kind einen Namen zu geben... denn ich wollte ihm in meinem ungerechten Haß einen zu häßlichen Namen geben ...»

«Nenne das Kind Maria! Es hat die bitteren Tränen zusammen mit dem ersten Milchtropfen gesogen, der ebenfalls bitter war wegen deiner Härte; daher soll es Maria heißen, und Maria wird es lieben. Ist es nicht so, Mutter?»

«Ja, arme Kleine! Sie ist so süß. Sie wird bestimmt gut werden und ein Sternlein des Himmels sein.»

Sie kehren in den Saal zurück, wo die müden Apostel in tiefem Schlaf liegen, mit Ausnahme Iskariots, der auf Nadeln zu sitzen scheint.

«Brauchst du mich, Judas ?» fragt Jesus.

«Nein, Meister! Aber ich kann nicht schlafen und möchte gerne hinausgehen.»

«Wer verbietet es dir? Auch ich gehe hinaus. Ich werde zu dem kleinen Hügelchen gehen. Dort ist es schattig... Ich werde mich im Gebet ausruhen. Willst du mit mir kommen?»

«Nein, Meister! Ich würde dich nur stören, denn ich bin nicht in der Verfassung zu beten. Wahrscheinlich, wahrscheinlich fühle ich mich nicht wohl, und das verwirrt mich ...»

«Dann bleibe hier! Ich zwinge niemand. Leb wohl! Lebt wohl, ihr Frauen. Mutter, wenn Johannes von Endor erwacht, dann schicke ihn zu mir, allein ...»

«Ja, Sohn. Der Friede sei mit dir!»

Jesus geht hinaus. Maria und Susanna beugen sich nieder, um das Gewebe auf dem Webstuhl zu betrachten. Maria setzt sich, legt die Hände in den Schoß und neigt sich etwas nach vorne. Vielleicht betet sie auch.

Maria des Alphäus ist es bald müde, die Arbeit zu betrachten. Sie setzt sich in die dunkelste Ecke und schläft sofort ein. Susanna gedenkt es ihr nachzutun. So bleiben nur Maria und Judas wach. Die eine ganz in sich versenkt, der andere mit aufgerissenen Augen. Er wendet den Blick nicht von ihr ab.

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Endlich steht er auf und nähert sich ihr langsam und geräuschlos. Ich weiß nicht warum, aber trotz seiner unzweifelhaften Schönheit erinnert er mich an eine Katze oder eine Schlange, die sich der Beute nähert. Vielleicht ist es die Abneigung, die ich gegen ihn empfinde, die mir selbst seinen Gang trügerisch und grausam erscheinen läßt... Er ruft leise: «Maria...»

«Was willst du von mir, Judas?» fragt Maria sanft und schaut ihn mit ihren gütigen Augen an.

«Ich möchte mit dir sprechen.»

«Sprich, ich werde dir zuhören.»

«Nicht hier... Ich möchte nicht, daß man mich hört... Würdest du nicht ein wenig mit mir hinausgehen? Es gibt auch draußen Schatten...»

«Wir können gehen. Aber du siehst ja, alle schlafen... Du könntest auch hier sprechen», sagt die Jungfrau. Sie steht jedoch auf und geht als erste hinaus zu der hohen blühenden Hecke.

«Was willst du von mir, Judas?» fragt sie erneut, während sie den etwas erregten Apostel, der Mühe hat, Worte zu finden, genau ansieht. «Fühlst du dich nicht wohl? Oder hast du ein Unrecht begangen und weißt nicht, wie du es bekennen sollst? Oder bist du im Begriff, etwas Böses zu tun und es bedrückt dich, zu bekennen, daß du versucht wirst? Sprich, mein Sohn! Wie ich dich körperlich gepflegt habe, so will ich auch deine Seele pflegen. Sage mir, was dich bedrückt, und ich werde dich trösten, wenn ich kann. Wenn ich es allein nicht kann, will ich es Jesus sagen. Auch wenn du schwer gesündigt hast, wird er dir verzeihen, wenn ich ihn darum bitte. Aber auch so würde dir Jesus sofort verzeihen. Doch vielleicht schämst du dich vor ihm, dem Meister. Ich bin eine Mutter, und du brauchst dich nicht zu schämen...»

«Ja, ich brauche mich nicht zu schämen, denn du bist eine Mutter und sehr gut. Du bist wirklich unser Friede. Ich... ich bin sehr beunruhigt. Ich habe einen schlechten Charakter. Ich weiß nicht, was ich im Blut und im Herzen habe... Manchmal bin ich nicht mehr Herr darüber... dann könnte ich die eigenartigsten Dinge tun... und die schlimmsten.»

«Gelingt es dir auch in der Nähe Jesu nicht, dem zu widerstehen, der dich versucht?»

«Auch da nicht. Ich leide deswegen. Glaube es mir! Ich bin ein Unglücklicher.»

«Ich werde für dich beten, Judas.»

«Das genügt nicht!»

«Ich werde für dich beten lassen, ohne den Gerechten, die beten werden, zu sagen, für wen es ist.»

«Das genügt nicht!»

«Ich will die Kinder beten lassen. Viele kommen zu mir in meinen Garten, wie die Vöglein auf der Suche nach Körnern. Die Körner sind die Liebkosungen und Worte, die ich ihnen schenke. Ich spreche von Gott...

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Und sie, die Unschuldigen, ziehen dies den Spielen und den Märchen vor. Das Gebet der Kinder ist Gott wohlgefällig!»

«Doch nie so sehr wie deines. Aber es genügt immer noch nicht.»

«Ich will Jesus bitten, daß er den Vater für dich bitte.»

«Auch das würde nicht genügen.»

«Mehr als dies gibt es nicht. Das Gebet Jesu besiegt auch die Dämonen ...»

«Ja! Doch Jesus würde nicht immer beten, und ich werde immer wieder rückfällig... Jesus, er sagt es selbst, wird eines Tages von uns gehen. Ich frage mich, was sein wird, wenn er nicht mehr unter uns ist. Nun will uns Jesus zur Verkündigung aussenden. Ich habe Angst, mit diesem meinem Feind zu gehen, der ich selbst bin, um das Wort Gottes zu verkünden. Ich möchte für diese Stunde in mir gefestigt sein.»

«Aber mein Sohn, wenn es Jesus nicht möglich ist, wem soll es dann möglich sein?»

«Dir, Mutter! Laß mich eine Weile bei dir bleiben. Heiden und Dirnen waren bei dir; so kann auch ich bei dir sein. Wenn du nicht willst, daß ich mich nachts in deinem Haus aufhalte, kann ich zum Schlafen zu Alphäus und Maria Kleophä gehen; aber den Tag werde ich mit dir und den Kindern verbringen. Bisher habe ich versucht, es allein zu schaffen, aber es ist immer schlimmer geworden. Wenn ich nach Jerusalern gehe, treffe ich dort zu viele schlechte Freunde, und in meiner jetzigen Verfassung würden sie mich sofort aufs Korn nehmen...

Gehe ich in eine andere Stadt, ist es ebenso. Die Versuchung der Straße verbindet sich mit jener, die ich schon in mir habe. Gehe ich nach Kerioth zu meiner Mutter, macht mich der Stolz zum Sklaven. Gehe ich in die Einsamkeit, zerreißt mich das Schweigen mit den Stimmen Satans. Aber bei dir... Oh, bei dir würde ich mich anders fühlen! ... Laß mich mit dir gehen! Bitte Jesus, daß er es mir erlaubt! Willst du, daß ich verlorengehe? Hast du Angst vor mir? Du betrachtest mich mit dem Blick einer verwundeten Gazelle, die keine Kraft mehr hat, ihren Angreifern zu entfliehen. Aber ich werde dich nicht beleidigen. Auch ich habe eine Mutter... Und ich liebe dich mehr als meine eigene Mutter. Hab Erbarmen mit einem Sünder, Maria! Schau, ich weine zu deinen Füßen... Wenn du mich abweist, kann dies mein geistiger Tod sein ...» Und Judas weint wirklich zu Füßen Marias, die ihn mit einem Blick des Erbarmens und der Furcht anschaut. Sie ist sehr blaß.

Doch sie macht einen Schritt vorwärts – denn sie hat sich ganz in die Ecke gedrückt, um Judas auszuweichen, der sich ihr zu sehr genähert hatte – und legt eine Hand auf die dunklen Haare Iskariots. «Schweig, damit sie dich nicht hören. Ich werde mit Jesus reden. Und wenn er will... dann kannst du in mein Haus kommen. Das Urteil der Welt kümmert mich nicht. Es verletzt meine Seele nicht. Ich fürchte nur, vor Gott schuldig zu

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werden. Die Verleumdung berührt mich nicht. Aber ich werde nicht verleumdet, denn Nazareth weiß, daß seine Tochter kein Ärgernis für die Stadt sein kann. Und dann, komme was will, es drängt mich, daß dein Geist geheilt werde. Ich gehe zu Jesus. Sei beruhigt.» Sie hüllt sich in ihren Schleier, der weiß ist wie ihr Gewand, und geht rasch auf dem schmalen Weg den kleinen, mit Olivenbäumen bewachsenen Hügel hinauf.

Sie sucht ihren Jesus und findet ihn in Betrachtung versunken. «Sohn, ich bin es... Höre mich an.»

«Oh, Mama! Kommst du, mit mir zu beten? Welche Freude, welche Erleichterung bereitest du mir!»

«Was ist, mein Sohn? Bist du müde? Traurig? Sage es mir!»

«Müde und betrübt, du sagst es. Nicht so sehr wegen des Elends, das ich in den Herzen sehe, sondern vielmehr wegen der Unwandelbarkeit jener, die meine Freunde sind. Aber ich will ihnen gegenüber nicht ungerecht sein. Ein einziger nur macht mir Sorge. Es ist Judas des Simon...»

«Sohn! Seinetwegen komme ich, um mit dir zu reden.»

«Hat er etwas Böses getan? Hat er dich gekränkt?»

«Nein, aber er hat mir Qualen verursacht, wie ich sie empfinde, wenn ich einen sehr fehlerhaften Menschen sehe... Oh, Sohn, wie krank ist doch seine Seele!»

«Und du hast Mitleid mit ihm? Hast du keine Furcht vor ihm? Einmal hattest du doch...»

«Mein Sohn, mein Erbarmen ist viel größer als meine Furcht. Ich möchte dir und ihm helfen, seine Seele zu retten. Du vermagst alles, du brauchst mich nicht! Aber du sagst, daß alle mit Christus mitarbeiten sollen bei der Erlösung... Und dieser Sohn braucht die Erlösung so sehr!»

«Was soll ich denn noch für ihn tun, was ich nicht schon tue?»

«Du kannst nicht mehr tun. Aber du könntest mich etwas tun lassen. Er hat mich gebeten, sich in unserem Haus aufhalten zu dürfen, denn er meint, dort könnte er von seinem Ungeist befreit werden... Du schüttelst das Haupt? Du willst es nicht? Ich werde es ihm sagen...»

«Nein, Mutter! Ich schüttle den Kopf, weil ich weiß, daß es nutzlos ist. Judas ist wie ein Ertrinkender, der, obgleich er weiß, daß er am Ertrinken ist, stolz die Stricke zurückweist, die man ihm zuwirft, um ihn an Land zu ziehen. Manchmal, von Angst ergriffen, sucht und ruft er nach Hilfe und klammert sich fest... Doch dann übermannt ihn wieder der Hochmut, er läßt die Hilfe fallen, weist sie zurück und will es allein schaffen... Und er wird immer schwerfälliger durch das schlammige Wasser, das er schluckt. Damit man aber nicht sagen kann, daß ich etwas unversucht gelassen habe, soll auch dies geschehen, arme Mutter... Ja, arme Mama, die du dich aus Liebe zu einer Seele der Qual aussetzest, jemanden in deiner Nähe zu haben, der dich ängstigt.»

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«Nein, Jesus! Sag dies nicht! Ich bin eine arme Frau, denn ich unterliege noch dem Gefühl der Antipathie. Tadle mich! Ich verdiene es. Aus Liebe zu dir darf ich keine Abneigung empfinden. Doch anderen gegenüber bin ich nicht arm. Oh, könnte ich dir doch Judas geistig geheilt zurückbringen! Dir eine Seele bringen bedeutet, dir einen Schatz geben. Wer einen Schatz hat, der ist nicht arm! ... Ich will zu Judas gehen und ihm deine Zusage bringen. Du hast gesagt: "Die Zeit wird kommen, da du sagen wirst: 'Wie schwer ist es, die Mutter des Erlösers zu sein"' Einmal habe ich es schon gesagt... als Aglaia bei mir war. Aber was ist schon einmal? Die Menschheit ist so zahlreich! Und du bist der Erlöser aller. Sohn! ... Sohn! ... So wie ich das Kind in meinen Armen getragen habe, um es dir zum Segnen zu bringen, laß mich nun auch Judas in den Armen halten, um ihn dir zu bringen, damit du ihn segnen kannst...»

«Mama, Mama, er verdient dich nicht!»

«Mein Jesus, als du gezögert hast, Margziam dem Petrus zu geben, habe ich dir gesagt, daß ihm das helfen könnte. Du kannst nicht leugnen, daß Petrus sich seit jenem Augenblick verändert hat... Laß mich nur machen mit Judas.»

«Handle, wie du es für richtig hältst. Und sei gesegnet für deine liebevolle Absicht mir und Judas gegenüber! Nun wollen wir zusammen beten, Mutter. Es ist so schön, mit dir zu beten...»

Der Sonnenuntergang hat noch nicht recht begonnen, als ich auch schon die Abreise von dem gastlichen Haus beobachte.

Johannes von Endor und Ermastheus verabschieden sich von Jesus, sobald sie auf der Strasse angelangt sind. Maria mit den Frauen und ihrem Sohn schlagen einen Weg unter den Olivenbäumen des Hügels ein. Sie reden miteinander. Natürlich auch über die Tagesereignisse. Petrus sagt: «Ein schöner Narr, dieser Philippus! Er hätte beinahe Frau und Tochter verstoßen, wenn du ihm nicht Vernunft beigebracht hättest !»

«Hoffen wir, daß seine augenblickliche Reue anhält und ihn nicht wieder seine Laune des Frauenhasses packt. Im Grunde... ist es nur das Verdienst der Frauen, wenn die Welt weiterexistiert», sagt Thomas, und viele lachen über diese Äußerung.

«Gewiß, das ist wahr. Aber sie sind viel unreiner als wir und ...» antwortet Bartholomäus.

«Ach was! Was die Unreinheit betrifft... Auch wir sind keine Engel. Immerhin würde ich gerne wissen, ob sich nach der Erlösung für die Frau etwas ändert. Man lehrt uns, die Mutter zu ehren und die größte Ehrfurcht vor Schwestern, Tanten, Schwägerinnen und Schwiegertöchtern zu haben, und dann... Fluch hier und Verwünschung dort! Im Tempel dürfen sie nicht sein. Sich ihnen sehr oft zu nähern, ist nicht erlaubt... Hat

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Eva gesündigt?... Jawohl! Aber auch Adam hat gesündigt. Gott hat Eva ihre Strafe gegeben, und sie ist hart. Genügt das nicht?»

«Aber Thomas. Die Frau wird auch bei Moses unrein erachtet.»

«Er wäre ohne die Frauen ertrunken... Aber nur Geduld, Bartholomäus! Auch wenn ich nicht so gelehrt bin wie du, sondern nur ein Goldschmied, möchte ich dich daran erinnern, daß Moses die körperliche Unreinheit der Frau erwähnt, damit wir sie respektieren, und nicht, um sie zu verfluchen.»

Die Diskussion wird immer lebhafter. Jesus, der mit den Frauen, Johannes und Judas Iskariot vorausgegangen ist, bleibt stehen, wendet sich um und erklärt: «Gott hatte ein Volk vor sich, das moralisch und geistig unreif und durch die Berührung mit Götzendienern angesteckt worden war. Er wollte aus ihm ein körperlich und geistig starkes Volk machen. Er gab ihm gesunde Normen für die körperliche Kräftigung und die Rechtschaffenheit der Sitten. Er konnte nicht anders handeln, um die männliche Begierlichkeit zu bändigen und die Sünden, derentwegen die Erde überschwemmt und Sodom und Gomorrha verbrannt wurden, zu verhindern. Aber in Zukunft wird die erlöste Frau nicht mehr so unterdrückt sein wie bisher. Die Verbote, die vor der körperlichen Sünde bewahren, werden bestehen bleiben; aber die Hindernisse für sie auf dem Weg zu Gott werden weggeräumt. Ich bin dabei, sie wegzuräumen, um die ersten Priesterinnen der Zukunft vorzubereiten.»

«Oh! Wird es weibliche Priester geben?» fragt Philippus entsetzt.

«Versteht mich nicht falsch. Es wird nicht Priesterinnen geben wie die Männer, die die Gnaden Gottes verwalten und spenden. Ihr könnt dies jetzt noch nicht verstehen, aber Frauen werden dennoch ein priesterliches Geschlecht bilden und den Priestern zum Wohl der Seelen auf viele Arten helfen.»

«Werden sie auch predigen?» fragt Bartholomäus ungläubig.

«So wie auch meine Mutter schon predigt.»

«Werden sie apostolische Reisen machen?» fragt Matthäus.

«Ja, sie werden den Glauben sehr weit verbreiten, und ich muß sagen, mit noch mehr Heldenmut als die Männer.»

«Werden sie Wunder wirken?» fragt Iskariot lachend.

«Einige werden auch Wunder wirken. Aber haltet das Wunder nicht für etwas Wesentliches. Sie, die heiligen Frauen, werden durch ihre Gebete jedoch viele Wunder der Bekehrung wirken.»

«Hm! Die Frauen... so sehr beten, daß sie ein Wunder wirken?» brummt Nathanael.

«Sei nicht hartherzig wie ein Schriftgelehrter, Bartholomäus. Was meinst du denn, was das Gebet ist?»

«Sich mit den uns bekannten Formeln an Gott wenden.»

«Das und noch mehr. Das Gebet ist das Gespräch des Herzens mit Gott

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und sollte der gewohnte Zustand des Menschen sein. Die Frau lebt zurückgezogener als wir und ist zu diesem Gespräch mit Gott befähigter als der Mann. In ihm findet sie Trost in ihren Leiden, Erleichterung in ihren Mühseligkeiten, nicht nur in denen des Hauses und des Gebärens, sondern auch im Ertragen der Männer; im Gebet findet sie, was ihre Tränen trocknet und ihr ein Lächeln ins Herz zurückbringt. Denn sie versteht es, mit Gott zu reden, und mehr noch wird sie es in Zukunft verstehen. Die Männer werden die Riesen der Lehre sein; immer aber werden es die Frauen sein, die mit ihren Gebeten die Riesen und auch die Welt stützen; denn viel Unglück wird durch ihre Gebete verhindert und viele Strafen erlassen werden. Daher wirken sie Wunder, die zwar unsichtbar und nur Gott bekannt, jedoch nicht unwirklich sind.»

«Auch du hast heute ein unsichtbares, jedoch wirkliches Wunder gewirkt. Nicht wahr, Meister?» fragt Thaddäus.

«Ja, Bruder!»

«Du hättest es besser sichtbar machen sollen», bemerkt Philippus.

«Hätte ich die Kleine in ein Knäblein verwandeln sollen? Das Wunder ist eine Umwandlung bestimmter Dinge, eine wohltuende Umordnung, welche Gott dem Menschen als Erhörung des Gebetes gewährt, um ihm zu zeigen, daß er ihn liebt, oder um ihn davon zu überzeugen, daß er es ist, der da ist. Doch da Gott Ordnung ist, vergewaltigt er die Ordnung nicht in übertriebenem Maß. Das Kind wurde weiblich geboren und weiblich wird es bleiben.»

«Ich war heute morgen so betrübt», seufzt die Jungfrau.

«Warum? Das ungeliebte Mädchen war nicht deines», sagt Susanna und fügt hinzu: «Wenn ich bei einem Kind irgendeine Mißbildung sehe, sage ich mir: "Gut für mich, daß es nicht meines ist."»

«Sag das nicht, Susanna! Das ist nicht Liebe! Auch ich könnte es sagen, denn meine einzige Mutterschaft stand über den Naturgesetzen. Doch ich sage es nicht, denn ich denke immer: "Hätte Gott mich nicht zur Jungfrau bestimmt, wäre jener Same vielleicht in mir aufgegangen und ich wäre die Mutter jenes Unglücklichen geworden." Und so habe ich Mitleid mit allen... Denn ich sage mir: "Es könnte mein Kind sein", und als Mutter möchte ich alle gut, gesund, geliebt und liebenswert wissen, denn das wünschen die Mütter für ihre Kinder», antwortet sanft Maria. Und Jesus scheint sie wie mit Licht zu umkleiden, so intensiv blickt er sie mit seinen freudestrahlenden Augen an.

«Und deshalb hast du Mitleid mit mir...» sagt Iskariot leise.

«Mit allen! Vielleicht auch mit dem Mörder meines Sohnes. Denn ich glaube, daß er der Verzeihung und der Liebe am meisten bedürfte. Denn gewiß würde ihn die ganze Welt hassen.»

«Frau, da müßtest du dich sehr anstrengen, um ihn zu verteidigen und ihm Zeit zu geben, sich zu bekehren... Ich würde ihn als erster sofort umbringen...» sagt Petrus.

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«Wir haben den Ort des Abschieds erreicht, Mutter. Gott sei mit dir! Und mit dir, Maria! Und auch mit dir, Judas!»

Sie küssen sich, und Jesus fügt noch hinzu: «Vergiß nicht, daß ich dir etwas Großes zugestanden habe, Judas! Mache daraus etwas Gutes und nicht etwas Schlechtes. Leb wohl!»

Und Jesus entfernt sich mit den übrigen Elf und Susanna eilends in östlicher Richtung, während Maria, die Schwägerin und Iskariot geradeaus gehen.

305. «DAS GUTE TUN IST EIN STÄRKERES GEBET ALS DIE PSALMEN»

Jesus betritt die Synagoge von Kapharnaum, die sich langsam mit Gläubigen füllt, da es Sabbat ist. Das Erstaunen, ihn zu sehen, ist sehr groß. Alle weisen flüsternd auf ihn hin, und der eine oder andere zieht diesen oder jenen Apostel am Gewand, um zu erfahren, wann sie in die Stadt zurückgekehrt sind, da niemand wußte, daß sie kommen würden.

«Wir sind soeben am Brunnen des Feigenbaumes eingetroffen. Wir sind von Bethsaida gekommen, um keinen Schritt mehr machen zu müssen, als das Gesetz erlaubt, Freund», antwortet Petrus dem Urias, dem Pharisäer, und dieser, beleidigt, von einem Fischer als Freund angeredet zu werden, geht verärgert weg, um die Seinen einzuholen und sich in die erste Reihe zu begeben.

«Ärgere ihn nicht, Simon», bemerkt Andreas.

«Ihn ärgern? Er hat mich gefragt, und ich habe ihm geantwortet, daß auch wir das Gehen vermeiden, um den Sabbat zu heiligen.»

«Sie werden sagen, daß wir uns mit dem Boot abgemüht haben...»

«Sie werden eines Tages noch sagen, daß wir uns mit Atmen abgemüht haben! Blödsinn! Das Boot, der Wind und die Wellen haben die Mühe, nicht wir, die wir im Boot fahren.»

Andreas nimmt die Antwort hin und schweigt.

Nach den einleitenden Gebeten kommt der Augenblick der Lesung eines Abschnittes und der Auslegung desselben. Der Synagogenvorsteher bittet Jesus darum; doch Jesus deutet auf die Pharisäer und sagt: «Sie sollen es tun!» Doch da sie es nicht tun wollen, muß er reden.

Jesus liest aus dem dreiundzwanzigsten Kapitel des ersten Buches Samuel, wo berichtet wird, wie David von den Syphitern verraten und dem Saul ausgeliefert wurde, der in Gibea war. Er gibt die Schriftrolle zurück und beginnt zu sprechen.

«Die Übertretung des Gebotes der Liebe, der Gastfreundschaft, der Redlichkeit ist immer etwas Schlechtes. Doch der Mensch scheut sich

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nicht, es mit der größten Leichtfertigkeit zu tun. Hier haben wir eine Episode, die sowohl von dieser Übertretung, als auch von der darauffolgenden Strafe Gottes berichtet.

Die Handlungsweise der Syphiter war schädlich, die des Saul nicht weniger. Die ersteren waren niederträchtig in der Absicht, sich beim Stärkeren einzuschmeicheln und daraus Nutzen zu ziehen. Der andere war es in der Absicht, den Gesalbten des Herrn aus dem Weg zu räumen. Der Egoismus führte sie zusammen. Und auf den unwürdigen Vorschlag wagte der falsche und sündhafte König Israels eine Antwort zu geben, in welcher der Name Gottes genannt wurde: "Der Herr segne euch dafür! "

Das war eine Verhöhnung der Gerechtigkeit Gottes! Eine gewohnheitsmäßige Verhöhnung! Denn die Bosheit des Menschen ruft gar zu oft den Namen des Herrn als Zeugen und seinen Segen an. Es wird heißen: "Du sollst den Namen des Herrn nicht vergeblich aussprechen!" Und kann es einen schlimmeren Mißbrauch geben als den Namen des Herrn anzurufen, um ein Verbrechen gegen den Nächsten zu begeben? Und doch ist das eine weiter verbreitete Sünde als alle anderen; und sie wird gleichgültig auch von jenen begangen, die immer die ersten bei den Versammlungen des Herrn, bei den Zeremonien und bei der Unterweisung sind. Bedenkt, daß es sündhaft ist, alles zu erforschen, sich zu merken und vorzubereiten, um dadurch dem Nächsten zu schaden. Es ist sündhaft, andere dazu zu verleiten, den Nächsten auszuforschen und alles zu seinem Schaden zu lenken, sie zu diesem Zweck mit Geld zu bestechen oder ihnen Schwierigkeiten anzudrohen, damit sie jemandem schaden.

Ich mache euch darauf aufmerksam, daß es Sünde ist. Ich mache euch darauf aufmerksam, daß es Egoismus und Haß ist, wenn man sich so verhält. Und ihr wißt, daß Haß und Egoismus die Feinde der Liebe sind. Ich mache euch darauf aufmerksam, denn es geht mir um eure Seelen. Ich liebe euch und möchte euch nicht in Sünde sehen. Ich will nicht, daß Gott euch strafen muß, wie dies bei Saul der Fall war; denn zur gleichen Zeit, da er David verfolgte, um ihn gefangenzunehmen und zu töten, ließ Gott sein Land durch die Philister verwüsten. Wahrlich, dies wird immer dem geschehen, der dem Nächsten schadet. Sein Sieg währt nicht länger als das Gras auf der Wiese. Rasch wird es wachsen, aber auch rasch verdorren und unter dem unachtsamen Schritt des Vorübergehenden zertreten werden. Dagegen ist das anständige Verhalten, das ehrsame Leben, mühsam zu verwirklichen und durchzuhalten. Doch zur Gewohnheit geworden, wird es zu einem mächtigen und blätterreichen Baum, den der Sturm nicht zerzaust und die Sonnenhitze nicht verbrennt. Wahrlich, wer dem Gesetz treu bleibt, wirklich treu, wird zu einem mächtigen Baum werden, der von den Leidenschaften nicht gebeugt und vom Feuer Satans nicht verbrannt werden kann.

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Ich habe gesprochen. Wenn jemand noch etwas zu sagen hat, soll er es tun.»

«Wir möchten dich fragen, ob du für uns, die Pharisäer, gesprochen hast ?»

«Ist denn die Synagoge voller Pharisäer? Ihr seid nur vier; die Menge besteht aus Hunderten von Personen. Das Wort ist für alle.»

«Die Anspielung jedoch war ganz klar.»

«In der Tat ist es aber noch nie vorgekommen, daß sich jemand nach einer Andeutung selbst angeklagt hat. Ihr tut dies. Aber warum klagt ihr euch an, da ich es nicht tue? Glaubt ihr, ihr verhaltet euch, wie ich gesagt habe? Ich weiß es nicht. Wenn es aber so ist, dann richtet euch nach meinen Worten. Denn der Mensch ist schwach und kann sündigen. Doch Gott verzeiht ihm, wenn er seine aufrichtige Reue und den Willen, nicht mehr zu sündigen, sieht. Das Verharren-Wollen im Bösen aber ist eine doppelte Sünde, und für sie gibt es keine Verzeihung.»

«Wir haben diese Sünde nicht.»

«Dann braucht ihr meiner Worte wegen nicht betrübt zu sein.»

Der Zwischenfall ist beendet, und in der Synagoge ertönt der Gesang der Hymnen. Dann scheint die Versammlung bis zu ihrem Ende ohne weitere Zwischenfälle abzulaufen. Doch der Pharisäer Joachim entdeckt in der Menge einen Menschen und fordert ihn durch Zeichen und Blicke auf, nach vorne zu kommen.

Es ist ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit einem verkrüppelten Arm, dessen eine Hand auch kleiner als die andere ist, da er an Muskelschwund leidet.

Jesus sieht es. Er sieht auch das Getue, mit dem man ihn darauf aufmerksam machen will. Widerwillen und Mitleid spiegeln sich auf seinem Gesicht; doch er wehrt den Angriff nicht ab und begegnet der Lage mit Bestimmtheit.

«Komm hierher, in die Mitte», befiehlt er dem Mann.

Als er vor ihm steht, wendet er sich an die Pharisäer und sagt: «Warum versucht ihr mich? Habe ich nicht soeben gegen die Arglist und den Haß gesprochen? Und habt ihr nicht soeben behauptet, diesen Fehler nicht zu haben? Ihr antwortet nicht? Antwortet wenigstens auf diese Frage: Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes oder Böses zu tun? Ist es erlaubt, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Ihr antwortet nicht? So werde ich für euch antworten, und vor dem ganzen Volk, das besser urteilen kann als ihr, da es einfach und ohne Haß und Hochmut ist. Es ist nicht erlaubt, am Sabbat zu arbeiten. Aber es ist erlaubt, am Sabbat zu beten; wie aber das Beten erlaubt ist, so ist es auch erlaubt, Gutes zu tun, denn Gutes tun ist ein höheres Gebet als die Hymnen und die Psalmen, die wir gesungen haben. Dagegen ist es weder am Sabbat noch an einem anderen Tag erlaubt, Böses zu tun. Und ihr habt es getan, da ihr diesen Menschen hierher beordert

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habt, der nicht einmal von Kapharnaum ist und den ihr vor zwei Tagen habt kommen lassen, weil ihr wußtet, daß ich in Bethsaida war und in meine Stadt kommen würde. Und ihr habt es getan, um mich anklagen zu können. So begeht ihr auch die Sünde, eure Seele zu töten, anstatt sie zu retten. Doch soweit es mich betrifft, will ich euch verzeihen und den Glauben dieses Menschen nicht enttäuschen, dem ihr gesagt habt, wenn er hierher käme, würde ich ihm helfen und ihn heilen, obwohl ihr mir damit eine Falle stellen wolltet. Er ist unschuldig, denn er ist gekommen ohne andere Absicht als die, geheilt zu werden. Und so soll es sein! Mann, strecke deine Hand aus und geh in Frieden!»

Der Mann gehorcht, und seine Hand ist geheilt und sieht aus wie die andere. Er benützt sie sofort, um damit einen Zipfel des Mantels Jesu zu ergreifen und zu küssen, indem er sagt: «Du weißt, daß mir die Absicht dieser Menschen nicht bekannt war. Hätte ich sie gekannt, wäre ich nicht gekommen und hätte eine vertrocknete Hand vorgezogen, anstatt ihnen gegen dich zu dienen. Darum bitte ich dich, sei mir nicht böse!»

«Geh in Frieden, Mann! Ich kenne die Wahrheit und habe für dich nur Wohlwollen.»

Die Menschen gehen, während sie den Vorfall besprechen, hinaus, gefolgt von Jesus mit den elf Aposteln.

306. EIN TAG JUDAS ISKARIOTS IN NAZARETH

Das Haus von Nazareth wäre geeignet wie kein anderes, den Geist zu erheben. In ihm herrscht Friede, Stille, Ordnung. Heiligkeit scheint aus jedem seiner Steine zu strahlen, aus den Pflanzen des Gartens aufzusteigen und vom heiteren Firmament zu regnen, das sich als himmlische Kuppel darüber wölbt. In Wirklichkeit geht sie von ihr aus, die darin wohnt; die sich behende und leise mit jugendlichen, untadeligen Bewegungen darin ergeht, mit demselben leichten Schritt, mit dem sie als Braut hier eintrat, und demselben sanften Lächeln, das beruhigt und liebkost.

Die Sonne scheint zu dieser Morgenstunde auf die rechte Seite des Hauses, die sich an die erste Welle des Hügels schmiegt. Nur die Wipfel der Bäume nützen sie aus; als erste die Ölbäume, die dazu dienen, das Erdreich mit ihren Wurzeln zusammenzuhalten; die übriggebliebenen, knorrigen, mächtigen Ölbäume, deren größere Äste sich zum Himmel recken, als wollten sie dessen Segen herabrufen oder als beteten sie ebenfalls an diesem Ort des Friedens. Es sind die letzten Bäume des Ölgartens Joachims, die einst zahlreich waren und, betenden Pilgern gleich, ihren Bittgang bis zu den fernen Äckern ausdehnten, wo die Olivenhaine und die

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Äcker in Weiden übergehen, und von denen nun in dem stark verkleinerten Eigentum Joachims nur wenige geblieben sind.

Dann erfreuen sich der Sonnenstrahlen der Mandelbaum und die Apfelbäume, die hoch und mächtig den Schirm ihrer Zweige über den Gemüsegarten ausbreiten. Als dritter trinkt der Granatapfelbaum die Strahlen und als letzter der Feigenbaum am Haus, wenn die Sonne schon die wohlgepflegten Blumen und das Gemüse in den viereckigen Beeten und längs der Hecken unter dem Laubengang voller Trauben streichelt. Die summenden Bienen fliegen wie goldene Tropfen auf alles, was ihnen süßen, duftenden Seim bieten kann. Da ist ein kleiner Zweig Geißblatt, den sie überfallen, und auch die Hecke mit ihren glockenförmigen Blüten, die ein Büschel bilden und einen starken Duft verbreiten; ich kenne ihren Namen nicht, doch muß es ein Nachtgewächs sein, da sich die Blüten gerade schließen. Die Bienen haben es eilig, an diesen Blüten zu nippen, bevor sich die Blütenblätter zum Schlaf zusammenfalten.

Maria geht eilends von den Taubennestern zu dem Brünnchen, das bei der kleinen Grotte plätschert, und von dort ins Haus zu ihrer Arbeit; und selbst bei der Arbeit findet sich noch Gelegenheit, die Blumen und die Tauben, die auf den Wegen einhertrippeln oder einen Rundflug über das Haus und den Garten machen, zu bewundern.

Judas Iskariot kommt mit Pflanzen, Wurzeln und Knollen beladen zurück. «Ich grüße dich, Mutter! Man hat mir alles gegeben, was ich verlangt habe. Ich bin rasch gegangen, damit sie nicht leiden; und ich hoffe, daß sie wachsen wie das Geißblatt. Im kommenden Jahre wirst du dich des armen Judas und seines Aufenthaltes hier erinnern», sagt er, indem er aus einer Tasche vorsichtig Pflanzen mit Wurzelballen, deren Erde in feuchte Blätter gehüllt ist, herausnimmt, und aus einer anderen Tasche Wurzeln und Knollen.

«Ich danke dir sehr, Judas, wirklich! Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, diese Geißblattstaude bei der Grotte zu haben. Als ich noch klein war, befand sich dort im Hintergrund bei den Feldern, die damals noch uns gehörten, eine noch viel schönere Grotte, und Efeu und Geißblatt umrankten sie mit Zweigen und Blüten und bildeten einen Vorhang zum Schutz der winzigen Lilien, die bis in die Grotte hinein wuchsen, die ganz grün war vom zarten Gewebe des Venusstrauches. Denn gerade dort entspringt eine Quelle... Im Tempel dachte ich immer an diese Quelle, und ich sage dir, wenn ich als Tempeljungfrau vor dem heiligen Vorhang betete, fühlte ich Gott nicht näher. Vielmehr träumte ich dort von süßen Zwiegesprächen meiner Seele mit dem Herrn...

Mein Joseph ließ mich diese hier vorfinden, mit einem kleinen Rinnsal zum Nutzen des Gartens, aber mehr noch, um mir eine Freude mit einer kleinen Grotte zu machen, die der früheren nachgebildet war... Joseph war gut, selbst in den kleinsten Dingen. Er hatte mir Geißblatt und Efeu

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angepflanzt; der Efeu lebt heute noch, während das Geißblatt in den Jahren des Exils eingegangen ist... Ich habe später wieder eines gepflanzt, das vor drei Jahren auch einging. Nun hast du es wieder angepflanzt. Es hat Wurzeln geschlagen, siehst du? Du bist ein sehr guter Gärtner.»

«Ja, als kleiner Junge liebte ich die Pflanzen sehr, und meine Mutter lehrte mich, sie zu pflegen... Nun werde ich an deiner Seite wieder zum Knaben, Mutter, und suche die früheren Kenntnisse wieder hervor, um dir Freude zu bereiten. Du bist so gut zu mir... !» antwortet Judas und arbeitet wie ein Fachmann, indem er die Pflanzen an den geeignetsten Stellen einsetzt. Dann geht er zur Hecke der Nachtgewächse und pflanzt dort ein Gewirr von Wurzeln, von denen ich nicht weiß, ob es Maiglöckchen oder andere Blumen sind. «Hier passen sie gut hin», sagt er, während er mit einer Hacke die Erde über den eingegrabenen Wurzeln festdrückt. «Sie brauchen nicht viel Sonne. Der Diener Eleazars wollte sie mir nicht geben; doch ich habe so darauf bestanden, daß ich sie schließlich doch bekam.»

«Auch diesen indischen Jasmin wollten sie Joseph nicht geben. Er machte einige Arbeiten ohne Lohn, um ihn mir zu verschaffen. Die Pflanzen haben sich von Jahr zu Jahr besser entwickelt.»

«Ich bin fertig, Mutter. Nun werde ich alles gießen, und es wird gut gedeihen.» Er begießt die Pflanzen und wäscht sich dann am Brunnen die Hände.

Maria betrachtet ihn; er ist so verschieden von ihrem Sohn, aber auch so verschieden von dem Judas gewisser stürmischer Stunden. Sie blickt ihn forschend an, denkt nach, geht auf ihn zu, legt ihm die Hand auf den Arm und fragt ihn sanft: «Geht es dir nun besser, Judas; in deinem Gemüte, meine ich?»

«Oh, Mutter! Viel besser! Ich bin im Frieden. Und du siehst es. Deine Gegenwart und die kleinen Dinge tun mir wohl und helfen mir. Ich dürfte diesen Frieden, diese innere Sammlung nie verlassen! Hier... Wie fern ist die Welt von diesem Haus... !» Judas betrachtet den Garten, die Pflanzen, das Haus... Er schließt: «Aber wenn ich hierbleibe, würde ich nie ein Apostel werden. Und ich will einer werden ...»

«Indessen, glaube es mir, eine rechtschaffene Seele zu bewahren ist besser als kein wahrer Apostel zu sein. Wenn du spürst, daß die Berührung mit der Welt dich verwirrt; wenn du begreifst, daß dir Ehrungen und Lob, die dem Apostel gezollt werden, schaden, dann verzichte lieber darauf, Judas! Es ist besser für dich, ein einfacher, aber heiliger Jünger meines Jesus zu sein, als ein sündhafter Apostel.»

Judas neigt gedankenvoll das Haupt. Maria überläßt ihn seinen Betrachtungen und kehrt ins Haus zu ihren Arbeiten zurück.

Judas steht zunächst einige Zeit ruhig da. Dann geht er in dem Laubengang auf und ab. Er hat die Arme verschränkt und das Haupt geneigt. Er

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denkt nach und geht auf und ab, wobei er von Gesten begleitete Selbstgespräche führt ... Ein unverständliches Selbstgespräch. Aber die Gesten sind die eines Menschen, der voller Widersprüche steckt. Es scheint, daß er jemanden anfleht oder ihn zurückweist, oder sich beklagt, oder etwas verwünscht, und sein Gesichtsausdruck wechselt von dem eines fragenden zu dem eines erschrockenen und schließlich eines angstvollen Menschen, bis er die Züge der schlimmsten Augenblicke trägt. Judas bleibt plötzlich auf halbem Weg stehen und verharrt so eine Weile mit einem wahrhaft dämonischen Ausdruck... Dann schlägt er die Hände vors Gesicht und flieht auf den Vorsprung des Ölgartens, außerhalb des Gesichtskreises Marias; er weint, das Gesicht in den Händen verborgen, bis er sich beruhigt und mit dem Rücken gegen einen Ölbaum gelehnt wie erschrocken sitzenbleibt...

Jetzt ist es nicht mehr Morgen, sondern ein herrlicher Sonnenuntergang geht seinem Ende zu. Nazareth öffnet die Türen seiner Häuser, die tagsüber der furchtbaren orientalischen Sommerhitze wegen verschlossen waren. Frauen, Männer und Kinder gehen in die Gärten oder auf die Straßen, die noch heiß, aber nicht mehr sonnenbeschienen sind, um am Brunnen beim Spiel oder bei Gesprächen in Erwartung des Abendessens etwas frische Luft zu schöpfen... Feierliche Begrüßungsszenen, Geschwätz, Gelächter und Geschrei, je nachdem, ob es Männer, Frauen oder Kinder sind.

Auch Judas kommt heraus und begibt sich mit den kupfernen Kannen zur Quelle. Als die Nazarener ihn sehen, deuten sie auf ihn und reden ihn mit dem Beinamen "Jünger vom Tempel" an. In den Ohren des Judas klingt das wie Musik. Er geht liebenswürdig grüßend vorüber, legt aber auch eine gewisse Zurückhaltung an den Tag, die eine nahe Verwandte des Hochmuts ist.

«Du bist sehr gut zu Maria, Judas», sagt ein bärtiger Nazarener.

«Sie verdient es, und noch weit mehr. Sie ist wirklich eine große Frau Israels. Ihr könnt euch glücklich schätzen, sie als Mitbürgerin zu besitzen.»

Das Lob für die Frau von Nazareth ist sehr schmeichelhaft für die Nazarener, die einander mitteilen, was Judas gesagt hat.

Dieser ist inzwischen beim Brunnen angelangt und wartet, bis die Reihe an ihm ist; er treibt seine Höflichkeit so weit, daß er die Krüge einer Greisin trägt, die nicht aufhört, ihn dafür zu loben und ihn schließlich segnet. Er holt auch noch Wasser für zwei Frauen, die durch ihre Säuglinge auf den Armen behindert sind. Den Schleier etwas lüftend, flüstern diese: «Gott möge es dir vergelten!»

«Die Nächstenliebe ist die erste Pflicht eines Freundes Jesu», antwortet Judas mit einer Verneigung. Und er füllt seine Krüge und geht dann zum Haus zurück.

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Auf dem Weg wird er vom Synagogenvorsteher von Nazareth und von anderen eingeladen, am folgenden Sabbat zu sprechen.

«Nun bist du schon zwei Wochen bei uns und hast uns noch keine andere Unterweisung zuteil werden lassen als die einer großen Höflichkeit uns allen gegenüber», beklagt sich der Synagogenvorsteher, der von anderen Greisen des Ortes begleitet wird.

«Wenn euch die Predigt eures größten Sohnes nicht genehm ist, wie kann euch meine Predigt gefallen, der ich nur sein Schüler und obendrein noch Judäer bin?» entgegnet Judas.

«Dein Verdacht ist ungerecht und betrübt uns. Wir meinen es ehrlich mit unserer Einladung. Du bist Jünger und Jude, das ist wahr; aber du bist vom Tempel. Du kannst daher reden; denn im Tempel wird gelehrt. Der Sohn Josephs ist nur ein Zimmermann ...»

«Aber er ist der Messias!»

«Das sagt er... Ob es aber wahr ist! Ist es vielleicht nicht nur Einbildung?»

«Aber seine Heiligkeit, Nazarener! Seine Heiligkeit!» Judas ist verärgert über die Ungläubigkeit der Nazarener.

«Er ist groß, das ist wahr! Aber von da bis zum Messias ist es noch weit! ... Und dann... Warum spricht er so harte Worte?»

«Hart? Nein! Mir scheint er nicht hart zu sein. Vielmehr... nun ja, das schon, er ist zu ehrlich und streng. Er läßt keine Sünde zu; er unterläßt es nicht, einen Mißbrauch zu tadeln... und das mißfällt. Er legt den Finger direkt auf die Wunde. Und das tut weh. Aber er tut es aus Heiligkeit. Oh, gewiß! Nur aus diesem Grund handelt er so. Ich habe ihm schon oft gesagt: "Jesus, du schadest dir!" Aber er will nicht auf mich hören...»

«Du liebst ihn sehr. Und da du gelehrt bist, könntest du ihn anleiten.»

«Oh! Gelehrt... nein. Aber praktisch veranlagt, das ja. Vom Tempel, wißt ihr! Ich kenne die Gebräuche. Ich habe Freunde. Der Sohn des Annas ist wie ein Bruder zu mir. Übrigens, wenn ihr etwas vom Synedrium benötigt, dann sagt es nur... Doch nun laßt mich Maria das Wasser bringen. Sie erwartet mich zu Hause mit der Abendmahlzeit.»

«Komm nachher zurück. Auf meiner Terrasse ist es kühl. Wir werden unter Freunden sein und miteinander reden...»

«Ja. Auf Wiedersehen», und Judas geht nach Hause, wo er sich bei Maria für die Verspätung entschuldigt und erzählt, daß ihn der Synagogenvorsteher und einige der Ältesten des Ortes aufgehalten haben. Und er schließt: «Sie möchten, daß ich am Sabbat rede. Der Meister hat es mir aufgetragen. Was meinst du, Mutter? Rate du mir!»

«Mit dem Synagogenvorsteher reden... oder in der Synagoge reden?»

«Beides. Ich möchte mit niemandem und zu niemandem reden, denn ich weiß, daß sie gegen Jesus sind, und es scheint mir auch, daß es ein Sakrileg ist, dort zu reden, wo nur er, der Meister, ein Recht hat zu reden.

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Doch sie haben sehr darauf bestanden! Sie wollen mich nach dem Abendessen bei sich haben... Ich habe beinahe zugesagt. Und wenn du glaubst, daß ich fähig bin, mit meinen Reden ihren Widerstand gegen den Meister zu brechen, werde ich hingehen und sprechen, wenn es mir auch noch so schwer fällt. Ich werde mich bemühen recht langmütig mit ihrer Hartnäckigkeit sein. Denn ich habe endlich verstanden, daß man mit Härte nichts erreicht. Ich werde nicht mehr in den gleichen Fehler verfallen wie in Esdrelon. Es mißfiel dem Meister sehr! Er hat mir nichts gesagt, aber ich habe es von selbst begriffen. Ich werde es nicht mehr tun. Aber ich will Nazareth erst verlassen, nachdem ich es überzeugt habe, daß der Meister der Messias ist und daß man an den Messias glauben und ihn lieben muß.»

Judas spricht, während er am Tisch, am Platz Jesu sitzt und ißt, was Maria ihm zubereitet hat. Es tut mir weh, sehen zu müssen, daß er an diesem Platz sitzt, Maria gegenüber, die ihm zuhört und ihn wie eine Mutter bedient.

Nun antwortet sie: «Es wäre wirklich gut, wenn Nazareth die Wahrheit erfahren und annehmen würde. Ich werde dich nicht davon abhalten. Geh nur. Niemand weiß besser als du, daß Jesus Liebe verdient. Bedenke, wie sehr er dich liebt und wie er es dir beweist, indem er dich immer entschuldigt und dich so weit als möglich zufriedenstellt... Diese Überlegung soll dich zu heiligen Worten und Taten befähigen.»

Das Abendessen ist rasch beendet. Judas geht, um die Blumen des Gartens zu gießen, bevor das Tageslicht endgültig schwindet; darauf macht er sich auf den Weg, während Maria auf der Terrasse zurückbleibt, wo sie sich damit beschäftigt, die Wäschestücke zu falten, die sie zum Trocknen aufgehängt hatte.

Nachdem Judas Alphäus der Sara und Maria Kleophä begrüßt hat, die an der Haustüre der letzteren miteinander reden, geht er direkt zum Haus des Synagogenvorstehers. Auch die beiden Vettern des Herrn und sechs andere ältere Männer befinden sich dort.

Nach umständlichen Begrüßungen setzen sich alle würdevoll auf die mit Kissen gepolsterten Sitze und erquicken sich mit Anis- und Pfefferminzwasser, das angenehm kühl sein muß, da die Metallkannen in der immer noch warmen Luft schwitzen; und dies trotz der Brise, die von den Hügeln im Norden von Nazareth kommt und die Wipfel der Bäume bewegt.

«Ich freue mich, daß du unsere Einladung angenommen hast. Du bist noch jung. Ein bißchen Ablenkung tut gut», sagt der Vorsteher, der Judas gegenüber sehr aufmerksam ist.

«Ich fürchtete, euch zu belästigen, wenn ich früher gekommen wäre. Ich weiß, daß ihr Jesus und seine Jünger verachtet...»

«Verachten? Nein, wir sind nur mißtrauisch... und, geben wir es nur

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zu, durch sein zu offenes Wort verletzt. Wir dachten, daß du uns verachtest, und haben dich deshalb nicht früher eingeladen.»

«Ich? Verachten? Im Gegenteil! Ich verstehe euch sehr gut... Ja, ja! Ich bin davon überzeugt, daß es zwischen ihm und euch schließlich doch Frieden geben wird. Das ist besser für ihn, aber auch für euch. Für ihn, weil er alle braucht; für euch, weil es sich nicht lohnt, Feinde des Messias genannt zu werden.»

«Und du glaubst also wirklich, daß er der Messias ist?» fragt Joseph des Alphäus. «Er hat nichts von der königlichen Gestalt, die uns prophezeit worden ist. Vielleicht sehen wir ihn so, weil wir ihn als Zimmermann gekannt haben... Aber... Wo steckt in ihm der Befreierkönig?»

«Auch David schien nur ein Hirtenjunge zu sein. Aber ihr wißt, daß kein König größer war als er. Nicht einmal Salomon in all seiner Pracht war wie er. Denn schließlich hat er nur das Erbe Davids übernommen und war nie so erleuchtet wie dieser. Aber denkt an die Gestalt Davids! Sie ist riesenhaft. Von einer königlichen Würde, die schon den Himmel berührt. Betrachtet also nicht die Herkunft des Christus, um an seinem Königtum zu zweifeln. David war König und Hirte. Oder besser, Hirtenjunge und dann König. Jesus ist König und Zimmermann. Oder besser, Zimmermann und dann König.»

«Du sprichst wie ein Rabbi. Man merkt, daß du im Tempel erzogen worden bist», sagt der Synagogenvorsteher. «Könntest du das Synedrium wissen lassen, daß ich, der Synagogenvorsteher, für eine private Angelegenheit der Hilfe des Tempels bedarf?»

«Aber gewiß! Selbstverständlich! Eleazar! Kein Problem. Oder Joseph, der Älteste? Kennst du ihn? Den Reichen in Arimathäa? Vielleicht der Schriftgelehrte Sadok... und dann... Oh, du brauchst nur zu reden!»

«Dann sei morgen mein Gast. Wir werden bei dieser Gelegenheit darüber reden.»

«Dein Gast? Nein! Ich verlasse diese heilige und betrübte Frau Maria nicht. Ich bin gekommen, um ihr Gesellschaft zu leisten ...»

«Was ist mit unserer Schwägerin? Wir wissen, daß sie gesund und in ihrer Armut glücklich ist», sagt Simon des Alphäus.

«Ja. Und wir lassen sie nie allein. Meine Mutter ist immer in ihrer Nähe. Und ebenso ich und meine Frau. Wenn... Auch wenn ich ihr die Schwäche dem Sohn gegenüber nicht verzeihen kann. Und auch nicht den Schmerz meines Vaters, der Jesu wegen nur zwei seiner Söhne an seinem Sterbebett sehen konnte. Und noch einiges mehr... Aber die Mißstände in der Verwandtschaft ruft man nicht von den Dächern!» seufzt Joseph des Alphäus.

«Du hast recht! Man flüstert sie im tiefen Keller, wenn man einem Freund sein Herz ausschüttet. Aber so ist es mit vielen Schmerzen! Auch ich habe die meinigen als Jünger... Doch wir wollen nicht darüber reden.»

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«Im Gegenteil! Gerade darüber wollen wir sprechen. Was gibt es? Schlimmes für Jesus? Wir billigen sein Verhalten nicht; doch wir sind immer noch Verwandte und bereit, mit ihm gegen die Feinde zu kämpfen. Sprich!» sagt Joseph.

«Schlimmes? Nein! Ich sagte nur so... Aber der Schmerzen eines Jüngers sind viele! Man leidet nicht nur wegen der Art und Weise, wie der Meister seine Freunde und Feinde behandelt, wodurch er sich selbst schadet, sondern auch, weil man sehen muß, daß er nicht geliebt wird. Ich wollte, daß ihr ihn alle liebt...»

«Aber wie kann man ihn lieben? Du sagst es selbst! Er hat eine Art, mit den Leuten umzugehen... Er war nicht so, bevor er die Mutter verließ», entschuldigt sich der Synagogenvorsteher. «Ist das nicht wahr, ihr alle?»

Alle stimmen feierlich zu und preisen den schweigsamen, sanftmütigen, zurückhaltenden Jesus früherer Zeiten.

«Wer hätte gedacht, daß er so werden könnte, wie er nun ist? Vorher nur Haus und Verwandte! Und jetzt?» sagt ein sehr alter Nazarener.

Judas seufzt: «Arme Frau!»

«Sag doch endlich, was du weißt! Sprich!» schreit Joseph.

«Nicht mehr, als auch dir bekannt ist. Glaubst du, es ist ihr angenehm, allein zu sein?»

«Wenn Joseph so lange gelebt hätte wie euer Vater, wäre es nicht dazu gekommen», bemerkt ein anderer Nazarener, der auch schon sehr alt ist.

«Glaube das nicht, Mann! Dasselbe wäre geschehen. Wenn man... gewisse Ideen hat!» sagt Judas.

Ein Diener bringt einige Lampen und stellt sie auf den Tisch; denn die Nacht ist mondlos, wenn auch der Himmel im Schein der Sterne strahlt. Mit den Lampen werden auch neue Getränke gebracht, die der Synagogenvorsteher sofort Judas anbietet.

«Danke! Ich will mich nicht länger aufhalten. Ich habe Maria gegenüber Pflichten», sagt er und steht auf. Auch die beiden Söhne des Alphäus erheben sich und sagen: «Wir werden dich begleiten. Wir haben denselben Weg...» Und mit großen Gesten verabschieden sie sich von der Versammlung, die jetzt nur noch aus dem Synagogenvorsteher und den sechs Greisen besteht.

Die Straßen sind schon verlassen und ruhig. Von den Dächern der Häuser kommt schwaches Gemurmel tiefer Stimmen. Die Kinder schlafen schon in ihren Bettchen und es fehlt ihr Gezwitscher, das dem fröhlicher Vögel gleicht. Mit den Stimmen kommt von den Dächern der reichen Häuser auch der schwache Lichtschimmer der Öllampen.

Die beiden Söhne des Alphäus und Judas legen schweigsam ein Stück Weges zurück; dann bleibt Joseph stehen, nimmt Judas am Arm und sagt: «Höre, ich habe verstanden, daß du etwas weißt, aber in Gegenwart von Fremden nicht darüber reden wolltest. Doch mir mußt du es nun

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sagen. Ich bin der Älteste der Familie und habe das Recht und die Pflicht, alles zu erfahren.»

«Und ich bin hierher gekommen in der Absicht, es euch zu sagen und den Meister, Maria, eure Brüder und euren Namen zu schützen. Es ist eine sehr peinliche Angelegenheit. Es ist schwer, es anzuhören und es zu sagen, denn es sieht nach Verrat aus. Aber ich bitte euch, mich recht zu verstehen. Das ist es nicht. Es ist nur Liebe und Klugheit. Ich weiß viele Dinge, die euch übrigens auch nicht neu sind. Ich weiß sie von meinen Freunden im Tempel. Ich weiß, daß sie für Jesus gefährlich sind, und auch für den guten Namen der Familie. Ich habe versucht, es dem Meister verständlich zu machen. Aber es ist mir nicht gelungen! Im Gegenteil! Je mehr Ratschläge ich ihm gebe, desto schlimmer handelt er und bewirkt dadurch, daß er immer mehr kritisiert und immer verhaßter wird. Das kommt daher, daß er so heilig ist und die Welt nicht versteht. Es ist aber traurig, wenn man mitansehen muß, wie eine heilige Sache wegen der Unklugheit ihres Gründers zugrunde geht.»

«Nun, was gibt es? Sag alles! Und wir werden Vorsorge treffen. Nicht wahr, Simon?»

«Ganz gewiß! Aber mir scheint es unmöglich, daß Jesus Unklugheiten begeht und gegen seine Sendung handelt ...»

«Aber wenn es dieser gute Jüngling, der Jesus doch liebt, sagt?! Siehst du, wie du bist? Immer der gleiche! Unsicher, zaghaft. Du läßt mich immer im wichtigsten Augenblick allein. Ich allein gegen die ganze Verwandtschaft. Du sorgst dich nicht einmal um unseren guten Namen und unseren armen Bruder, der sich selbst ins Unglück stürzt!»

«Nein! Er stürzt sich nicht ins Unglück! Aber er schadet sich, das ist es.»

«Sprich, sprich!» drängt Joseph, während Simon verwirrt schweigt.

«Ich möchte sprechen... aber ich will sicher sein, daß ihr Jesus meinen Namen nicht nennt... Schwört es!»

«Wir schwören es beim heiligen Vorhang. Rede!»

«Auch nicht eurer Mutter, und noch weniger den Brüdern dürft ihr mitteilen, was ich euch nun sage.»

«Sei unseres Schweigens versichert!»

«Und werdet ihr auch Maria gegenüber schweigen? Um sie nicht zu kränken... Wie ich schweigen kann, so ist es auch eure Pflicht, auf den Frieden dieser armen Mutter bedacht zu sein...»

«Wir werden allen gegenüber schweigen. Wir schwören es dir!»

«Dann hört... Jesus beschränkt sich nicht mehr darauf, sich Heiden, Zöllnern und Dirnen zu nähern, dafür aber die Pharisäer und andere Persönlichkeiten zu beleidigen; er tut wirklich absurde Dinge. Denkt einmal, im Land der Philister ließ er uns umherwandern und zog einen schwarzen Ziegenbock hinter sich her. Dann hat er einen Philister in die Schar seiner Jünger aufgenommen. Und zuvor ein Kind, das er angenommen hatte.

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Wißt ihr, welche Bemerkungen darüber gefallen sind? Und erst vor einigen Tagen hat er eine Griechin, die als Sklavin einem römischen Herrn entflohen war, aufgenommen. Und dann seine Reden, die ganz im Widerspruch zu den bekannten Weisheitslehren stehen. Nun ja, er scheint verrückt geworden zu sein. Und er schadet sich selbst. Im Land der Philister hat er sich sogar in eine Zauberzeremonie eingemischt und sich mit ihnen auf einen Wettstreit eingelassen, als wäre er ihresgleichen. Er hat sie besiegt, aber... Die Schriftgelehrten und Pharisäer hassen ihn schon; wenn ihnen nun diese Dinge zu Ohren kommen, was wird dann erst geschehen? Ihr habt die Pflicht, einzugreifen und dies zu verhindern.»

«Das ist sehr schlimm. Sehr schlimm! Aber wie konnten wir das wissen? Wir sind hier... Und in Zukunft? Wer wird uns auf dem laufenden halten?»

«Und doch, es geht euch an, es ist eure Pflicht, einzugreifen und es zu verhindern. Die Mutter ist die Mutter, sie ist zu gut. Ihr dürft sie nicht allein lassen; weder seinetwegen noch aus Furcht vor der Welt. Auch diese beständige Jagd auf die Dämonen... Man sagt, daß er sich des Beelzebub bedient hat. Sagt mir, ob ihm das nützlich sein kann. Und dann, was für ein König kann er je werden, wenn das Volk ihn jetzt schon auslacht und sich über ihn ärgert?»

«Aber... macht er wirklich solche Sachen?» fragt Simon ungläubig.

«Fragt ihn nur selbst. Er wird es zugeben. Er rühmt sich dessen sogar.»

«Du müßtest uns darüber berichten...»

«Ja, das werde ich tun! Sollte ich etwas Neues beobachten, werde ich es euch mitteilen. Aber ich bitte euch: schweigt, jetzt und immer allen gegenüber!»

«Wir haben es geschworen. Wann wirst du abreisen?»

«Nach dem Sabbat. Jetzt habe ich keinen Grund mehr, hier zu bleiben. Ich habe meine Pflicht getan.»

«Und wir danken dir dafür. Ach! Ich habe es ja immer gesagt, daß er ein anderer geworden ist! Du, Bruder, wolltest es mir nicht glauben... Siehst du nun, daß ich richtig urteilte?» sagt Joseph des Alphäus.

«Ich zögere immer noch, es zu glauben. Judas und Jakobus sind schließlich keine Dummköpfe. Warum haben sie uns nichts gesagt? Warum treffen sie nicht Vorsorge, wenn solche Dinge wirklich vorkommen?» sagt Simon des Alphäus.

«Mensch, du wirst mir nicht die Unehre antun, meinen Worten nicht zu glauben?» fährt Judas beleidigt auf.

«Nein... Aber... Genug! Verzeih mir, wenn ich dir sage: ich werde glauben, wenn ich sehe!»

«Nun gut! Du wirst bald sehen und mir sagen: "Du hast richtig geurteilt." Wir sind bei eurem Haus angelangt. Ich verlasse euch. Gott sei mit euch!»

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«Gott sei mit dir, Judas! Und... höre! Sprich auch du nicht mit anderen darüber. Um unserer Ehre willen...»

«Ich werde es nicht einmal der Luft sagen. Lebt wohl!»

Er geht eilends davon, betritt leise das Haus und steigt auf die Terrasse, wo Maria, die Hände im Schoß, den mit unzähligen Sternen besäten Himmel betrachtet. Beim Schein der kleinen Lampe, die Judas angezündet hat, um die Stufen hinaufzugehen, sieht man zwei Tränenspuren auf den Wangen Marias glänzen.

«Warum weinst du, Maria?» fragt Judas ängstlich.

«Weil mir scheint, daß in der Welt mehr Gefahren sind als Sterne am Himmel. Gefahren für meinen Jesus...» Judas betrachtet sie aufmerksam und besorgt. Doch sie schließt sanft: «Aber mich tröstet die Liebe der Jünger... Liebt ihn sehr, meinen Jesus... Liebt ihn... Willst du noch hier bleiben, Judas? Ich will in meine Kammer hinuntergehen. Maria Kleophä hat sich auch schon zur Ruhe begeben, nachdem sie den Sauerteig für morgen bereitet hat.»

«Ja, ich bleibe. Es ist so schön hier.»

«Der Friede sei mit dir, Judas!»

«Der Friede sei auch mit dir, Maria!»

307. UNTERWEISUNGEN DER APOSTEL ZU BEGINN DES APOSTOLATES

Jesus und die Apostel – es sind alle da, ein Zeichen dafür, daß Judas Iskariot nach vollbrachter Tat zu den Gefährten zurückgekehrt ist – sitzen im Haus von Kapharnaum bei Tisch.

Es ist Abend. Das abnehmende Tageslicht dringt durch die Tür und die weitgeöffneten Fenster herein, durch die man den Übergang des Sonnenuntergangs von Purpur zu einem unwirklichen, schillernden Rot, das sich an den Rändern in Violett und schließlich in Grau wandelt. Es läßt mich an ein Stück Papier denken, das, wenn man es ins Feuer wirft, wie die Kohle, an der es sich entzündet, verbrennt und sich dabei nach einem kurzen Aufflammen an den Rändern rollt, um dann in einer bleiernblauen Farbe zu erlöschen, die schließlich in ein fast perlweißes Grau übergeht.

«Es ist warm», sagt Petrus und zeigt auf eine große Wolke, die den Westen in letztere Farben kleidet. «Es ist warm und wird keinen Regen geben. Das ist Nebel, keine Wolke. Heute nacht werde ich im Boot schlafen; dort ist es etwas kühler.»

«Nein! Heute nacht wollen wir in den Ölgarten gehen. Ich muß mit euch reden. Jetzt ist ja auch Judas zurück. Es ist Zeit, euch einiges zu

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sagen. Ich kenne einen luftigen Platz. Dort werden wir uns wohlfühlen. Steht auf und laßt uns gehen.»

«Ist es weit?» fragen sie und nehmen ihre Mäntel.

«Nein, ganz in der Nähe. Nur ein Steinwurf vom letzten Haus entfernt. Ihr könnt die Mäntel zurücklassen. Nehmt jedoch Zunder und Feuerstein mit, damit wir bei der Rückkehr Licht machen können.»

Sie verlassen den oberen Raum und gehen die Stufen hinunter, nachdem sie den Herrn des Hauses und seine Frau, die sich auf der kühlen Terrasse erholen, gegrüßt haben.

Jesus wendet dem See den Rücken zu, geht durch das Dorf und dann etwa zweihundert oder dreihundert Meter durch den Olivenhain eines ersten kleinen Hügels. Er hält auf einer Anhöhe, die wegen ihrer vorspringenden und freien Lage bei dieser Schwüle einen luftigen Aufenthalt bietet.

«Setzt euch und hört mir aufmerksam zu! Die Stunde ist gekommen, da auch ihr die Frohe Botschaft verkünden sollt. Ich habe nun ungefähr die Hälfte meines öffentlichen Lebens hinter mir, die der Vorbereitung der Herzen auf mein Reich dient. Jetzt ist es Zeit, daß auch meine Apostel an der Vorbereitung dieses Reiches teilnehmen. Die Könige machen es so, wenn sie die Eroberung eines Reiches beschlossen haben. Zuerst prüfen sie und beraten sich mit anderen, um deren Meinung zu erfahren und sie auf das Ziel vorzubereiten, das sie verfolgen. Dann ziehen sie bei ihrer vorbereitenden Arbeit zuverlässige Personen ins Vertrauen und senden sie in das Land, das sie erobern wollen. Und immer mehr Boten schicken sie aus, bis das Land in all seinen geographischen und ethischen Eigenheiten bekannt ist. Nachdem dies geschehen ist, vollendet der König sein Werk, indem er sich zum König dieses Landes erklärt und krönt. Und das kostet Blut. Denn Siege kosten immer Blut...»

«Wir sind bereit, für dich zu kämpfen und unser Blut zu vergießen», erklären die Apostel einstimmig.

«Ich will kein anderes Blut vergießen als das des Heiligen und der Heiligen.»

«Willst du die Eroberung beim Tempel beginnen und ihn zur Stunde der Opfer überfallen? ...»

«Wir wollen uns nicht weiter darüber auslassen, Freunde. Die Zukunft werdet ihr zur rechten Zeit erfahren. Aber zittert nicht vor Schrecken. Ich versichere euch, daß ich die Zeremonien nicht durch einen Überfall unterbrechen will. Dennoch wird es Verwirrung geben, und ein Abend wird kommen, an dem der Schrecken das rituelle Gebet verhindert. Der Schrecken der Sünder. Ich aber werde an jenem Abend im Frieden sein. Im Frieden dem Geist und dem Leib nach. In einem vollkommenen, seligen Frieden...»

Jesus blickt einen nach dem anderen seiner zwölf Apostel an, und es

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scheint, als betrachte er zwölfmal die gleiche Buchseite und müßte zwölfmal das Wort lesen, das darauf geschrieben steht: Verständnislosigkeit. Er lächelt und fährt dann fort: «Ich habe mich also entschlossen, euch auszusenden, um weiter vorzudringen, als ich dies allein zu tun vermag. Doch wird es zwischen meiner Art zu verkündigen und der eurigen vorsichtshalber Unterschiede geben, die ich festlege, um euch nicht in allzugroße Schwierigkeiten zu bringen – in Schwierigkeiten, die große Gefahren für eure Seele und euren Leib darstellen könnten – und um meinem Werk nicht zu schaden. Ihr seid noch nicht ausreichend vorbereitet, um euch jedwedem nähern zu können, ohne Schaden zu nehmen oder anzurichten; und noch weniger seid ihr heroisch genug, um der Welt geistig die Stirn bieten und ihrer Rachsucht entgegentreten zu können.

Daher geht auf euren Predigtreisen nicht zu den Heiden und nicht in die Städte der Samariter, sondern zu den verirrten Schafen des Hauses Israel. Es gibt auch unter diesen noch so viel zu tun; denn ich sage euch, die Menge um mich herum, die euch so zahlreich erscheint, stellt nur den hundertsten Teil von allen dar, die in Israel den Messias erwarten und ihn weder kennen noch wissen, daß er bereits unter ihnen weilt. Bringt ihnen den Glauben an mich und die Erkenntnis meiner Gegenwart. Auf euren Wegen predigt also: "Das Himmelreich ist nahe." Diese Verkündigung diene als Grundlage. Darauf baut eure ganze Predigt auf. Ihr habt über dieses Reich so viel von mir erfahren! Ihr braucht nur zu wiederholen, was ich euch gesagt habe. Aber der Mensch bedarf, um von den geistigen Wahrheiten angezogen und überzeugt zu werden, materieller Süßigkeiten, so als wäre er ein ewiges Kind, das seine Aufgaben nicht macht und sein Handwerk nicht erlernt, wenn es nicht durch das Zuckerwerk der Mutter oder durch eine Belohnung des Lehrers oder des Meisters ermuntert wird. Damit ihr nun ein Mittel habt, dessentwegen man euch glaubt und euch aufsucht, übergebe ich euch das Geschenk des Wunderwirkens...»

Die Apostel, außer Jakobus des Alphäus und Johannes, springen in die Höhe, schreien, protestieren und sind begeistert, jeder nach seinem Temperament.

In Wirklichkeit ist nur Judas Iskariot von dem Gedanken geschmeichelt, daß er nun Wunder wirken kann. Er, der seiner Seele keine Rechenschaft gibt über den falschen und eigennützigen Vorwurf, ruft aus: «Es war Zeit, daß auch wir dies tun können, um ein Mindestmaß an Autorität über die Menge zu haben!»

Jesus schaut ihn fest an, sagt aber nichts. Petrus und der Zelote, die soeben sagen: «Nein, Herr, wir sind dessen nicht würdig! Das ist Sache der Heiligen!» tadeln Judas, und der Zelote sagt: «Wie kannst du dir erlauben, dem Meister einen Vorwurf zu machen, du törichter und hochmütiger Mensch!» während Petrus auffährt: «Das Mindestmaß? Was

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willst du denn noch mehr tun als Wunder wirken? Willst du vielleicht Gott werden? Hast du die gleichen Gelüste wie Luzifer?»

«Ruhe!» gebietet Jesus. Dann fährt er fort: «Es gibt etwas, was noch mehr wert ist als ein Wunder und was die Menge ebenfalls, und zwar gründlicher und dauerhafter überzeugt: ein heiliges Leben! Aber davon seid ihr noch weit entfernt, und du, Judas, am weitesten von allen. Doch laßt mich nun weiterreden, denn es ist eine lange Unterweisung.

Geht also hin und heilt die Kranken, reinigt die Aussätzigen, erweckt die körperlich oder seelisch Toten; denn Körper und Geist können gleicherweise krank, aussätzig oder tot sein. Und ihr wißt auch, wie man Wunder wirken kann: durch ein Leben der Buße, inbrünstiges Gebet und das aufrichtige Verlangen, die Allmacht Gottes aufleuchten zu lassen; durch tiefe Demut, lebhafte Liebe, flammenden Glauben und die Hoffnung, die sich durch keinerlei Schwierigkeiten entmutigen läßt. In Wahrheit sage ich euch, alles ist dem möglich, der diese Elemente in sich vereint.

Auch die Dämonen werden fliehen vor dem von euch ausgesprochenen Namen des Herrn, wenn ihr in euch besitzt, was ich gesagt habe. Diese Macht ist euch von mir und unserem Vater gegeben. Man kann sie mit keiner Münze kaufen. Nur unser Wollen kann sie gewähren, und nur ein gerechtes Leben kann sie verdienen. Aber, so wie sie euch umsonst gegeben wird, so sollt ihr sie auch anderen, die ihrer bedürfen, umsonst zugutekommen lassen. Wehe euch, wenn ihr die Gabe Gottes entehrt, indem ihr sie dazu benützt, euren Beutel zu füllen. Sie ist nicht eure Kraft, sie ist die Macht Gottes. Benützt sie, doch eignet sie euch nicht an und sagt nicht: "Sie gehört mir!" So, wie sie euch gegeben wird, kann sie euch auch genommen werden. Simon des Jonas hat gerade zu Judas des Simon gesagt: "Hast du die gleichen Gelüste wie Luzifer?" Er hat es gut ausgedrückt. Wer sagt: "Ich tue, was Gott tut, denn ich bin Gott", macht es Luzifer nach. Seine Bestrafung ist bekannt. Bekannt ist auch, was jenen geschah, die im irdischen Paradiese von der verborgenen Frucht aßen infolge der Verführung durch den Neid Satans, der außer den rebellischen Engeln, die schon dort waren, noch andere Unglückliche in seiner Hölle haben wollte, aber auch infolge der Verlockung durch den eigenen vollkommenen Hochmut. Die einzige Frucht, die ihr ernten dürft, sind die Seelen, die ihr durch das Wunder für den Herrn gewinnt und die ihr dem Herrn geben müßt. Das sind eure Münzen. Sonst nichts. Im anderen Leben werdet ihr euch eures Schatzes erfreuen.

Geht ohne Reichtümer. Tragt weder Gold, noch Silber, noch Münzen in eurem Gürtel. Nehmt auch keinen Reisesack mit zwei oder mehr Kleidern und doppelter Fußbekleidung mit, keinen Wanderstab und keine von Menschen gemachten Waffen; denn eure apostolischen Besuche werden jetzt kurz sein, und an jedem Vorabend des Sabbats werden wir uns wieder

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zusammenfinden; dann könnt ihr eure schmutzigen Gewänder ablegen und müßt keine Kleider zum Wechseln mitnehmen. Auch braucht ihr keinen Wanderstab, denn der Weg ist angenehm, und auf Hügeln und Ebenen benötigt man andere Dinge als auf hohen Bergen und in der Wüste. Waffen sind überflüssig. Sie sind gut für einen Menschen, der die heilige Armut und die göttliche Vergebung nicht kennt. Aber ihr habt keine Schätze zu bewachen oder vor den Dieben zu schützen. Der einzige, den ihr fürchten müßt, der einzige Dieb für euch ist Satan. Und ihn besiegt man mit Beharrlichkeit und Gebet, nicht mit Schwert und Keulen. Wer euch beleidigt, dem verzeiht. Nehmen sie euch den Mantel weg, dann gebt ihnen auch das Kleid. Selbst wenn ihr wegen eurer Sanftmut und eurer Loslösung von den Reichtümern nackt dasteht, so seid ihr den Engeln des Herrn und auch der unendlichen Reinheit Gottes nicht anstößig; denn eure Liebe würde euren nackten Körper mit Gold bedecken, die Sanftmut würde euch mit einem Gürtel zieren und die Vergebung gegenüber dem Dieb würde euch Mantel und königliche Krone sein. Ihr wäret also besser gekleidet als ein König; und zudem mit unvergänglichen Stoffen.

Seid nicht besorgt um eure Nahrung. Ihr werdet immer haben, was euren Bedürfnissen angepaßt und eurer Sendung dienlich ist; denn der Arbeiter ist der Nahrung wert, die ihm seine Arbeit einbringen muß. Immer! Und wenn die Menschen nicht dafür sorgen, wird Gott für seinen Arbeiter sorgen. Ich habe euch schon gezeigt, daß es zum Leben und Predigen nicht eines mit gierig verschlungener Nahrung vollgestopften Leibes bedarf. Ein solcher ist gut für das unreine Tier, dessen Lebenszweck darin besteht, fett zu werden, um dann nach der Schlachtung auch die Menschen fett zu machen. Ihr aber sollt nur euren Geist und den der anderen gut nähren mit der Speise der Weisheit. Ein Geist, den die Völlerei nicht stumpfsinnig macht, und ein Herz, das sich von der Übernatur ernährt, entzündet sich an der Weisheit. Ihr seid nie so redselig gewesen, wie nach der Rückkehr von dem Berg. Damals habt ihr nur gegessen, was nötig war um nicht zu sterben. Und doch wart ihr am Ende der Zurückgezogenheit stark und fröhlich wie nie zuvor. Stimmt das vielleicht nicht?

In jeder Stadt oder Ortschaft, in der ihr einkehrt, erkundigt euch, ob dort jemand lebt, der würdig ist, euch aufzunehmen. Nicht weil ihr Simon, Judas, Bartholomäus, Jakobus oder Johannes seid, sondern weil ihr die Gesandten des Herrn seid. Selbst wenn ihr verachtet gewesen wäret, Mörder, Diebe oder Zöllner, die nun aber bereuen und in meinem Dienst stehen, verdientet ihr Achtung, weil ihr meine Gesandten seid. Ich sage noch mehr: Wehe euch, wenn ihr euch nur als meine Gesandten ausgebt, innerlich aber verworfen und vom Teufel seid! Wehe euch! Die Hölle wäre noch wenig im Vergleich zu dem, was ihr durch euren Betrug verdient. Solltet ihr jedoch gleichzeitig Gesandte Gottes und im Verborgenen auch Verworfene, Zöllner, Räuber oder Mörder sein, oder sollte auch nur

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ein Verdacht gegen euch in den Herzen aufkeimen, so müßte euch dennoch Ehre und Achtung erwiesen werden, weil ihr meine Gesandten seid. Das Auge des Menschen muß über das Werkzeug hinaussehen, muß den Gesandten und den Zweck, Gott und sein Werk, über das oft fehlerhafte Werkzeug hinaus erkennen. Nur in Fällen schwerer Schuld, die dem Glauben der Herzen schaden könnte, werde ich jetzt, und später mein Nachfolger, dafür sorgen, daß das verdorbene Glied abgetrennt wird. Denn es ist nicht recht, daß durch einen dem Teufel anheimgefallenen Priester Seelen von Gläubigen verlorengehen. Nie wird es erlaubt sein, daß, um die am apostolischen Körper entstandenen Wunden zu bedecken, solch angefaulte Körperteile erhalten bleiben, die mit ihrer abstoßenden Erscheinung und ihrem dämonischen Gestank Seelen vertreiben oder vergiften.

Ihr sollt euch daher erkundigen, welche Familie ein rechtschaffenes Leben führt, wo die Frauen zurückhaltend sind und züchtige Sitten herrschen. Dort werdet ihr eintreten und verweilen, bis ihr den Ort wieder verlaßt. Macht es nicht wie die Drohnen, die, nachdem sie an einer Blüte gesaugt haben, zu einer anderen fliegen, die ihnen reichlicher Nektar bietet. Bleibt, wo ihr seid, sei es, daß ihr zu Menschen kommt, die gute Betten und reiche Tische haben, sei es, daß ihr zu Menschen kommt, die einer bescheidenen Familie angehören, aber reich an Tugenden sind. Sucht nie das "Bessere" für den Körper, der vergänglich ist, sondern gebt diesem immer das Schlechtere, behaltet aber alle Rechte dem Geist vor. Und das sage ich euch, weil es gut ist, wenn ihr so handelt: gebt bei der Wahl eines Aufenthaltes soweit als möglich den Armen den Vorzug, um sie nicht zu demütigen und in Erinnerung an mich, der ich arm bin, arm bleibe und mich dessen rühme, und auch, weil die Armen oft besser sind als die Reichen. Ihr findet immer gerechte Arme, während es schwer ist, Reiche anzutreffen, die nicht ungerecht sind. Sagt also nicht zu eurer Entschuldigung: "Ich habe nur bei den Reichen Güte gefunden", um euren Hang zum Wohlleben zu rechtfertigen!

Wenn ihr ein Haus betretet, dann grüßt mit meinem Gruß, dem schönsten Gruß, den es gibt. Sagt: "Der Friede sei mit euch! Der Friede sei in diesem Haus", oder "Der Friede komme in dieses Haus!" Denn ihr, Gesandte Jesu und Verkünder der Frohen Botschaft, tragt den Frieden bei euch, und euer Kommen an einen Ort bringe ihm Frieden. Ist er des Friedens unwürdig, kehrt er zu euch zurück; ist er des Friedens würdig, kommt er und bleibt in ihm. Achtet jedoch darauf, daß ihr friedfertig seid, damit ihr Gott zum Vater habt. Ein Vater hilft immer. Und wenn euch Gott hilft, vermögt ihr alles zu tun und alles gut zu tun.

Es kann auch sein, und es wird sicher vorkommen, daß eine Stadt oder ein Haus euch nicht aufnimmt und euch nicht anhören will; daß man euch verjagen, verspotten oder auch mit Steinwürfen verfolgen wird wie lästige Propheten. Dort ist es mehr als anderswo nötig, friedfertig, demütig

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und sanftmütig zu sein. Denn sonst wird euch der Zorn übermannen und ihr werdet sündigen, indem ihr die zu Bekehrenden verwirrt und ihren Unglauben noch vermehrt. Wenn ihr aber Beleidigung, Verfolgung und Spott ruhig hinnehmt, dann bekehrt ihr mit der schönsten Predigt: mit der stillen Predigt wahrer Tugend. Ihr werdet dann eines Tages den Feinden von heute auf eurem Weg begegnen, und sie werden euch sagen: "Wir haben euch gesucht, denn eure Art zu handeln hat uns von der Wahrheit, die ihr verkündet, überzeugt. Verzeiht uns und nehmt uns als Jünger an, denn wir haben euch verkannt. Jetzt erkennen wir euch als Heilige. Und da ihr Heilige seid, müßt ihr die Gesandten eines Heiligen sein, und wir glauben jetzt an ihn." Doch beim Verlassen der Stadt oder des Hauses, die euch nicht aufgenommen haben, schüttelt den Staub von euren Schuhen, damit der Hochmut und die Härte dieses Ortes nicht einmal an euren Sohlen haften bleiben. Wahrlich, ich sage euch: Am Tag des Gerichtes wird es Sodom und Gomorrha weniger schlimm ergehen als dieser Stadt.

Seht, ich sende euch wie Lämmer unter die Wölfe. Seid daher klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben. Denn ihr wißt, wie die Welt, in der es wahrlich mehr Wölfe als Schafe gibt, mich behandelt, der ich Christus bin. Ich kann mich mit meiner Macht verteidigen, und ich werde es auch tun, bis die Stunde des vorübergehenden Triumphes der Welt gekommen ist. Ihr aber habt diese Macht nicht und bedürft daher größerer Klugheit und Einfalt; und größerer Vorsicht, um vorerst dem Kerker und der Geißelung zu entgehen. Denn ihr vertragt jetzt noch nicht einmal einen spöttischen oder gehässigen Blick, obgleich ihr behauptet, euer Leben für mich hingeben zu wollen. Später wird eine Zeit kommen, in der ihr stark sein werdet wie Helden gegen alle Verfolgungen, ja stärker noch als Helden, mit einem für die Welt so unbegreiflichen Heldenmut, daß sie ihn Torheit nennen wird. Nein, es wird nicht Torheit sein: Ihr werdet durch die Liebe in vollkommener Weise an die Stelle des Gottmenschen treten und vollbringen, was ich schon getan habe. Um diesen Heldenmut verstehen zu können, muß man ihn sehen, studieren und vom überirdischen Standpunkt aus beurteilen. Denn er ist etwas Übernatürliches, das alle Grenzen der menschlichen Natur übersteigt. Könige, Könige des Geistes werden meine Helden sein, in Ewigkeit Könige und Helden...

Zu dieser Zeit wird man Hand an euch legen und euch gefangennehmen; man wird euch vor die Gerichte schleppen, vor die Vorsteher und die Könige, damit diese euch richten und verurteilen wegen der großen Sünde in den Augen der Welt, Knechte Gottes, Diener und Verwalter des Guten, Lehrer der Tugenden zu sein. Und ihr werdet gegeißelt und auf tausenderlei Arten bis zum Tod gequält werden. Und ihr werdet Zeugnis von mir ablegen vor Königen, Herrschern und Nationen und mit eurem Blut bekennen, daß ihr Christus, den wahren Sohn des wahren Gottes, liebt.

Wenn ihr in ihren Händen seid, dann macht euch keine Sorgen darüber,

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was ihr antworten und was ihr sagen sollt. Eure einzige Sorge sei, euren Richtern und Anklägern nicht zu zürnen, da Satan sie so sehr auf Abwege führt, daß sie blind sind für die Wahrheit. Die Worte, die ihr sagen müßt, werden euch in diesem Augenblick eingegeben. Euer Vater wird sie euch auf die Lippen legen, so daß nicht ihr redet, um zum Glauben zu bekehren und die Wahrheit zu bekennen, sondern der Geist des Vaters wird es sein, der aus euch spricht.

Der Bruder wird den Bruder, der Vater den Sohn töten, und die Söhne werden sich auflehnen gegen ihre Eltern und sie dem Tod überliefern. Nein, verliert dann nicht den Mut und nehmt keinen Anstoß. Antwortet mir, welches ist für euch das größte Verbrechen: einen Vater, einen Bruder, einen Sohn oder Gott selbst zu töten?»

«Gott kann man nicht töten», sagt Judas Iskariot trocken.

«Das ist wahr. Er ist der unfaßbare Geist», bestätigt Bartholomäus. Und die anderen sind, obwohl sie schweigen, der gleichen Ansicht.

«Ich bin Gott und Fleisch», sagt Jesus ruhig.

«Niemand denkt daran, dich zu töten», entgegnet Iskariot.

«Ich bitte euch: beantwortet meine Frage.»

«Aber es ist selbstverständlich eine größere Sünde, Gott zu töten!»

«Nun gut: Gott wird vom Menschen getötet im Fleisch des Gottmenschen und in der Seele der Mörder des Gottmenschen. Und wie man ohne zu zaudern dieses Verbrechen begeht, werden ebenso auch die Verbrechen der Väter, der Brüder und der Söhne gegen die Söhne, die Brüder und die Väter geschehen. Ihr werdet wegen meines Namens von allen gehaßt werden. Doch wer bis zum Tod ausharrt, wird gerettet werden. Wenn man euch in der einen Stadt verfolgt, dann flieht in eine andere, nicht aus Feigheit, sondern um der neugeborenen Kirche Christi Zeit zu lassen, heranzuwachsen; damit aus dem schwachen und unfähigen Säugling ein Erwachsener werde, der dem Leben und auch dem Tod furchtlos die Stirn bietet. Wem der Geist es eingeben wird zu fliehen, soll fliehen. So, wie ich geflohen bin, als ich noch Kind war. Wahrlich, im Leben meiner Kirche werden sich alle Ereignisse meines menschlichen Lebens wiederholen. Alle! Angefangen vom Geheimnis seiner Entwicklung in der Demut der ersten Zeit, bis zu den Stürmen und Nachstellungen der Bösen und der Notwendigkeit zu fliehen, um weiter zu existieren; von der Armut und der unermüdlichen Arbeit bis zu vielen anderen Dingen, die ich augenblicklich durchlebe und die ich noch zu erdulden habe, bevor ich auf ewig triumphiere. Wem der Geist rät zu bleiben, soll bleiben. Denn wenn er auch getötet würde, lebte er und würde der Kirche nützen. Denn was der Geist Gottes rät, ist immer gut.

Wahrlich, ich sage euch, ihr und eure Nachfolger werdet nicht aufhören, die Städte und Wege Israels zu durchwandern bis zur Wiederkunft des Menschensohnes. Denn Israel wird wegen einer schrecklichen Sünde

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wie Spreu von einem Wirbelwind erfaßt und über die ganze Welt zerstreut werden, und Jahrhunderte und Jahrtausende werden vergehen, bevor es wiederum auf der Tenne des Jebusiters Arauna vereint sein wird. Jedesmal, wenn es versucht, sich vor der dazu bestimmten Stunde zu sammeln, wird es wieder vom Sturmwind erfaßt und zerstreut; denn Israel muß seine Sünde so viele Jahrhunderte lang beweinen, als Blutstropfen aus den Adern des Lammes Gottes fließen, das für die Sünden der Welt geschlachtet werden wird. Und meine Kirche, die in mir und meinen Aposteln geschlagen wird, wird dennoch ihre mütterlichen Arme öffnen und versuchen müssen, Israel unter ihrem Mantel zu versammeln, wie eine Glucke ihre verirrten Küklein. Wenn ganz Israel sich unter dem Mantel der Kirche Christi birgt, dann werde ich kommen.

Doch das sind die Zukunft betreffende Dinge. Wir wollen von den nun bevorstehenden reden.

Denkt immer daran, daß der Jünger nicht mehr ist als der Meister, und der Diener nicht mehr als sein Herr. Daher soll sich der Jünger damit begnügen, wie sein Meister zu sein, und das ist schon eine unverdiente Ehre; und der Diener damit, wie der Herr zu sein, und es ist schon übernatürliche Güte, wenn euch dies gewährt wird.

Wenn sie den Herrn des Hauses Beelzebub genannt haben, wie werden sie dann seine Knechte nennen? Und können die Knechte aufbegehren, wenn der Herr nicht aufbegehrt, weder haßt noch verflucht, sondern ruhig in seiner Gerechtigkeit sein Werk fortsetzt und sein Gericht auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt: wenn er nämlich alles versucht haben wird, um zu überzeugen, und das hartnäckige Verharren in der Sünde gesehen hat? Nein, die Knechte dürfen nicht tun, was der Herr nicht getan hat. Sie sollen ihn vielmehr nachahmen und bedenken, daß auch sie Sünder sind, während er ohne Sünde war.

Fürchtet daher die nicht, die euch "Dämonen" nennen. Die Wahrheit wird eines Tages erkannt werden, und dann wird man sehen, wer die Dämonen gewesen sind: ihr oder sie. Es ist nichts so verborgen, daß es nicht aufgedeckt, und nichts so geheim, daß es nicht bekannt werden würde.

Das sage ich euch jetzt, bei Nacht und im geheimen, denn die Welt ist nicht würdig, alle Worte des Wortes zu hören, und die Stunde ist noch nicht gekommen, da auch die Unwürdigen sie erfahren werden. Wenn aber die Stunde gekommen ist, da alles bekannt sein soll, müßt ihr alles, was ich euch jetzt mehr in die Seele als ins Ohr flüstere, im Licht und von den Dächern verkünden. Denn dann wird die Welt mit dem Blut getauft sein, und dieser Schild gegen Satan wird es der Welt ermöglichen – wenn sie will – die Geheimnisse Gottes zu begreifen; Satan wird nur jenen schaden können, die nach dem Bisse Satans verlangen und ihn meinem Kuß vorziehen. Aber acht von zehn Teilen der Welt wollen nicht begreifen; nur Minderheiten sind wißbegierig, um alles befolgen zu können,

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was zu meiner Lehre gehört. Das spielt keine Rolle. Da man die beiden heiligen Teile nicht von der Masse der Ungerechten trennen kann, predigt meine Lehre selbst von den Dächern, predigt sie von den Höhen der Berge, auf den grenzenlosen Meeren und in den Eingeweiden der Erde. Wenn die Menschen nicht hören wollen, werden die Vögel und die Winde, die Fische und die Wellen die göttlichen Worte vernehmen; und die Eingeweide der Erde werden das Echo an die unterirdischen Quellen, an die Mineralien, an die Metalle weitergeben, und alle werden sich daran erfreuen, denn auch sie sind von Gott erschaffen, um der Schemel meiner Füße und die Freude meines Herzens zu sein.

Fürchtet jene nicht, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können; fürchtet nur ihn, der euere Seele ins Verderben stürzen und sie beim Letzten Gericht dem auferstandenen Körper wieder einverleiben kann, um sie ins höllische Feuer zu werfen. Fürchtet euch nicht! Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Pfennig? Und doch, wenn der Vater es nicht erlaubt, wird keiner von ihnen trotz aller Nachstellungen der Menschen gefangen. Fürchtet euch daher nicht! Der Vater kennt euch. Auch die Haare eures Hauptes hat er gezählt. Und ihr bedeutet ihm viel mehr als viele Sperlinge!

Und ich sage euch, wer mich vor den Menschen bekennen wird, den werde auch ich vor dem Vater, der im Himmel ist, bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater verleugnen. Bekennen heißt: meine Lehre befolgen und in die Tat umsetzen; verleugnen heißt: meinen Weg verlassen aus Feigheit, aus dreifacher Begierde, aus niedriger Berechnung oder aus menschlicher Rücksicht auf einen der eurigen, der gegen mich ist. So wird es kommen.

Denkt nicht, daß ich gekommen sei, um Eintracht auf die Erde und für die Erde zu bringen. Mein Friede ist viel erhabener als der berechnende Friede, mit dem man das tägliche Leben meistert. Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Das scharfe Schwert, das die Schlingpflanzen durchtrennt, die im Schlamm zurückhalten, um so den Weg für die Flüge zum Übernatürlichen freizumachen. Ich bin gekommen, den Sohn mit dem Vater, die Tochter mit der Mutter und die Schwiegertochter mit der Schwiegermutter zu entzweien. Denn ich bin der, der herrscht und alle Rechte über seine Untertanen besitzt. Niemand hat größere Rechte auf die Liebe der Menschen als ich. Denn in mir vereinen und vervollkommnen sich alle Zuneigungen, und ich bin Vater, Mutter, Bräutigam, Bruder und Freund und liebe euch wie sie, und wie sie, will ich geliebt werden. Wenn ich sage: "Ich will" ' dann vermag keine Bindung zu widerstehen, und das Geschöpf gehört mir. Ich habe es mit dem Vater erschaffen. Durch mich wird es gerettet. Ich habe das Recht, es zu besitzen.

Wahrlich, die Feinde des Menschen sind, neben den Dämonen, die

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Menschen selbst; und die Feinde des neuen Menschen, des Christen, werden die seines Hauses sein mit ihren Klagen, Drohungen und Bitten. Wer also von jetzt an Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Wer den Sohn oder die Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Wer sein tägliches Kreuz nicht auf sich nimmt, so wie es ist -bestehend aus Verzicht, Ergebenheit, Gehorsam, Heroismus, Schmerzen, Krankheiten, Kämpfen und aus allem, was der Wille Gottes schickt -und mir damit nicht folgt, ist meiner nicht wert. Wer mehr an seinem irdischen Leben als an dem seiner Seele hängt, wird das wahre Leben verlieren. Wer aber sein irdisches Leben aus Liebe zu mir verloren hat, wird das ewige, glückselige Leben dafür empfangen.

Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf. Wer mich aufnimmt, der nimmt ihn auf, der mich gesandt hat. Wer einen Propheten als Propheten aufnimmt, wird eine Belohnung erhalten, die der Liebe angemessen ist, die er dem Propheten entgegengebracht hat; und wer einen Gerechten als Gerechten aufnimmt, wird den Lohn erhalten, der einem Gerechten entspricht. Denn wenn jemand einen Propheten als Propheten erkennt, beweist er damit, daß auch er ein Prophet, also sehr heilig ist, weil ihn der Geist Gottes in seinen Armen hält; und wer einen Gerechten als Gerechten betrachtet, beweist damit, daß er selbst ein Gerechter ist; denn sich ähnliche Seelen erkennen sich gegenseitig. Einem jeden wird somit nach Gerechtigkeit vergolten werden. Wer aber einem meiner Diener, selbst wenn es der geringste ist, auch nur einen Becher Wasser gibt, wird belohnt werden. Und Diener Jesu sind alle, die ihn mit einem heiligen Leben predigen; sie können Könige oder Bettler, Weise oder Unwissende, Greise oder Kinder sein, denn in jedem Lebensalter und in allen Schichten kann man mein Jünger sein. In Wahrheit sage ich euch: Wer einem meiner Jünger, weil er mein Jünger ist, einen Becher Wasser in meinem Namen gibt, der wird seine Belohnung nicht verlieren.

Ich habe gesprochen. Nun wollen wir beten und dann nach Hause gehen. Beim Morgengrauen müßt ihr aufbrechen und zwar so: Simon des Jonas mit Johannes, Simon der Zelote mit Judas Iskariot, Andreas mit Matthäus, Jakobus des Alphäus mit Thomas, Philippus mit Jakobus des Zebedäus und Judas, mein Bruder, mit Bartholomäus. Das gilt für diese Woche. Danach gebe ich neue Anweisungen. Nun laßt uns beten!»

Sie beten mit lauter Stimme.

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308. «BIST DU DER MESSIAS?»FRAGEN DIE GESANDTEN DES TÄUFERS

Jesus ist mit Matthäus allein, der wegen einer Verletzung am Fuß, nicht mit den anderen predigen gehen konnte! Doch Kranke und solche, die nach der Frohen Botschaft verlangen, füllen die Terrasse und den freien Platz im Garten, um ihm zuzuhören und Hilfe von ihm zu erhalten.

Jesus beendet seine Predigt und sagt: «Nachdem wir zusammen das große Wort Salomons erwogen haben: "Im Überfluß der Gerechtigkeit liegt die höchste Stärke", fordere ich euch auf, euch diesen Reichtum anzueignen; denn er ist die Münze für den Eintritt in das Himmelreich. Bleibt in meinem Frieden, und Gott sei mit euch!»

Dann wendet er sich den Armen und den Kranken zu – in vielen Fällen sind sie beides zusammen – und hört gütig ihre Berichte an, hilft mit Geld, gibt gute Ratschläge, heilt durch Auflegen der Hände und mit dem Wort. Matthäus an seiner Seite verteilt das Geld.

Jesus hört gerade aufmerksam einer armen Witwe zu, die ihm unter Tränen vom unvorhergesehenen Tod ihres Mannes, eines Schreiners, erzählt, der vor wenigen Tagen an seiner Hobelbank eingetreten ist. «Ich bin hierher gekommen, um dich zu suchen, und die ganze Verwandtschaft des Toten klagt mich an, unordentlich und hartherzig zu sein; sie verflucht mich jetzt. Aber ich bin gekommen, da ich weiß, daß du auferwecken kannst; wenn ich dich rechtzeitig gefunden hätte, wäre mein Mann auferweckt worden. Du warst nicht da ... Nun ist er im Grab, seit zwei Wochen... ich bin hier mit fünf Kindern ... Die Verwandten hassen mich und helfen mir nicht. Ich habe Ölbäume und Weinreben. Wenige zwar, doch sie würden mir das Brot für den Winter einbringen, wenn ich sie bis zur Ernte behalten könnte. Aber ich habe kein Geld, denn mein Mann hatte eine schwache Gesundheit und konnte nur wenig arbeiten, und um auf den Beinen zu bleiben, aß und trank er auch zuviel. Er sagte, der Wein täte ihm gut. Doch er brachte nur ein doppeltes Übel mit sich: er tötete ihn und verzehrte die Ersparnisse, die wegen seiner Schwäche sehr gering waren. Er war gerade dabei, einen Karren und einen Schrank anzufertigen, und er hatte einen Auftrag für zwei Betten, für Tische und Regale. Aber nun... sind sie nicht fertig geworden, und mein Sohn ist noch nicht acht Jahre alt. Das Geld dafür wird mir fehlen. Ich werde die Werkzeuge und das Holz verkaufen müssen. Den Wagen und den Schrank kann ich nicht verkaufen, da sie ja noch nicht fertig sind; so werde ich sie als Brennholz hergeben müssen. Das Geld wird nicht reichen, denn ich, meine alte und kranke Mutter und fünf Kinder, wir sind sieben Personen... Ich werde den Weinberg und die Ölbäume verkaufen müssen... Aber du weißt ja, wie die Welt ist... Sie saugt jeden aus, der in Not ist. Sage mir, was soll ich tun? Ich wollte die Hobelbank und die Werkzeuge

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für den Sohn aufbewahren, der schon etwas vom Handwerk versteht... und möchte das Land behalten, um davon leben zu können... und um für die Mädchen eine Aussteuer zu haben...»

Jesus hört sich all dies an, als die Unruhe im Volk ihn darauf aufmerksam macht, daß etwas Neues vor sich geht. Er wendet sich um und sieht drei Männer, die sich einen Weg durch die Menge bahnen. Dann wendet er sich wieder der Witwe zu und sagt: «Wo wohnst du?»

«In Chorazim, an der Straße, die zu der warmen Quelle führt. Ein niedriges Haus zwischen zwei Feigenbäumen.»

«Gut. Ich werde kommen und den Wagen und den Schrank fertigstellen; dann kannst du sie an die Auftraggeber verkaufen. Erwarte mich morgen bei Sonnenaufgang.»

«Du? Du willst für mich arbeiten?!» Die Frau ist außer sich vor Staunen.

«Ich werde wieder einmal mein Handwerk ausüben und dir Frieden schenken. Darüberhinaus will ich den herzlosen Menschen von Chorazim eine Lehre der Nächstenliebe erteilen.»

«O ja! Herzlos sind sie! Wenn doch der alte Isaak noch da wäre! Er ließe mich nicht Hungers sterben. Doch er ist zurückgekehrt zu Abraham...»

«Weine nicht! Geh beruhigt! Hier etwas, das für heute genügt. Morgen werde ich kommen. Geh in Frieden!»

Die Frau wirft sich nieder, um sein Gewand zu küssen und geht erleichtert von dannen.

«Dreimal heiliger Meister, darf ich dich grüßen?» fragt einer der neu Angekommenen, die sich voll Ehrfurcht hinter Jesus gestellt und gewartet haben, bis er die Frau verabschiedet, und so sein Versprechen gehört haben. Der Mann, der grüßte, heißt Manaen.

Jesus wendet sich um und sagt lächelnd: «Der Friede sei mit dir, Manaen! Du hast dich also meiner erinnert?»

«Immer, Meister! Ich hatte die Absicht, ins Haus des Lazarus oder zum Ölgarten zu gehen, um bei dir zu sein. Doch vor Ostern wurde der Täufer gefangengenommen. Er wurde durch Verrat wieder gefangengenommen und ich fürchtete, daß in Abwesenheit des Herodes, der für das Osterfest nach Jerusalern gegangen war, Herodias befehlen würde, den Heiligen zu töten. Sie wollte nicht zum Fest nach Sion gehen, weil sie angeblich krank war. Krank, ja, wegen ihres Hasses und ihrer Ausschweifungen... Ich bin in Machaerus gewesen, um sie zu überwachen... und um die treulose Frau zu zügeln, die imstande wäre, ihn eigenhändig umzubringen... Sie tut es nicht, weil sie fürchtet, die Gunst des Herodes zu verlieren, der aus Furcht oder aus Überzeugung Johannes verteidigt und sich darauf beschränkt, ihn gefangenzuhalten. Nun ist Herodias vor der drückenden Hitze nach Machaerus geflohen und hat sich auf eine Burg,

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die sie dort besitzt, zurückgezogen. Ich bin mit diesen meinen Freunden und Jüngern des Johannes gekommen. Er hat sie gesandt, damit sie dir einige Fragen stellen. Und ich habe mich ihnen angeschlossen.»

Die Leute, die von Herodes reden hören und erkennen, wer da spricht, drängen sich neugierig um die Gruppe, die aus Jesus und den drei Männern besteht.

«Was wollt ihr mich fragen?» fragt Jesus, nachdem er die beiden ernsten Männer begrüßt hat.

«Rede du, Manaen; du weißt ja alles und bist befreundet mit ihm», sagt einer der beiden.

«Siehe, Meister, du mußt sie entschuldigen, wenn sie aus übergroßer Liebe als Jünger mißtrauisch werden gegen jemand, den sie für einen Gegner oder Rivalen ihres Meisters halten. So machen es die Deinen, so die des Johannes. Es ist eine begreifliche Eifersucht, weiche die ganze Liebe der Jünger für ihren Meister ausdrückt. Ich... bin unparteiisch, und sie, die bei mir sind, können es bestätigen; denn ich kenne dich und Johannes, und ich liebe euch in Gerechtigkeit, und wenn ich dich auch als den liebe, der du bist, so habe ich es doch vorgezogen, das Opfer zu bringen und bei Johannes zu bleiben, weil ich auch ihn als den verehre, der er ist, und er augenblicklich in größerer Gefahr ist als du. Wegen dieser Liebe, die die Pharisäer mit ihrem Haß nur vergrößern, haben sie angefangen zu bezweifeln, daß du der Messias bist. Sie haben dies Johannes bekannt, im Glauben, ihm eine Freude zu bereiten; sie sagten: "Für uns bist du der Messias. Niemand kann heiliger sein als du." Aber Johannes hat sie getadelt und Gotteslästerer genannt, und nach dem Tadel hat er ihnen mit etwas sanfterer Stimme erklärt, was alles darauf hinweist, daß du der wahre Messias bist. Schließlich, als er sie immer noch nicht überzeugt sah, hat er zwei von ihnen genommen, diese hier, und zu ihnen gesagt: "Geht zu ihm und fragt ihn in meinem Namen: 'Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir einen anderen erwarten?'" Er hat nicht die Hirten gesandt, die früher seine Jünger waren, denn sie glauben an dich, und so hätte es nicht viel geholfen. Er hat diese beiden ausgewählt, die im Zweifel waren, damit sie dir näherkommen und ihr Wort die Zweifel der Gesinnungsgenossen vertreibt. Ich habe sie begleitet, um dich sehen zu können. So, das Meinige habe ich gesagt. Nun beruhige sie und behebe ihre Zweifel.»

«Aber glaube nicht, daß wir feindlich gesinnt sind, Meister! Die Worte Manaens könnten dich das vermuten lassen. Wir... wir... wir kennen den Täufer seit Jahren und haben ihn immer für einen Heiligen, einen Büßer und einen Erleuchteten gehalten. Dich... kennen wir nur durch die Aussagen der anderen. Und du weißt, was das Wort der Menschen wert ist... Es schafft und zerstört den Ruf und die Lobsprüche im Streit zwischen dem Lobredner und dem Widersacher, so wie eine Wolke sich bildet und sich wieder auflöst durch zwei entgegengesetzte Winde.»

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«Ich weiß, ich weiß. Ich lese in eurem Geist, und eure Augen lesen die Wahrheit in dem, was euch umgibt, so wie eure Ohren mein Gespräch mit der Witwe vernommen haben. Das sollte genügen, euch zu überzeugen. Aber ich sage euch: betrachtet, wer mich umgibt. Hier sind keine Reichen und Genießer, hier sind keine anstoßerregenden Personen. Vielmehr arme, kranke, ehrbare Israeliten, die das Wort Gottes hören wollen. Und nichts anderes. Dieser hier, jener dort, diese Frau, jenes Mädchen und der Greis, sie sind krank hierhergekommen und nun sind sie gesund. Fragt sie, und sie werden euch sagen, was ihnen fehlte, wie sie geheilt wurden und wie es ihnen jetzt geht. Tut es, tut es! Ich will inzwischen mit Manaen sprechen», und Jesus zieht sich zurück.

«Nein, Meister! Wir zweifeln nicht an deinen Worten. Gib uns nur eine Antwort, die wir Johannes überbringen können, damit er sieht, daß wir hierhergekommen sind und damit er mit Hilfe deiner Worte unsere Freunde überzeugen kann.»

«Geht und berichtet dem Johannes folgendes: "Die Tauben hören; dieses Mädchen war taubstumm. Die Stummen reden; jener Mann war von Geburt an stumm. Die Blinden sehen." Mann, komm her und sage diesen hier, was du hattest», sagt Jesus und nimmt einen Geheilten beim Arm.

Dieser erklärt: «Ich bin Maurer, und mir fiel ein Eimer mit ungelöschtem Kalk auf das Gesicht. Der Kalk hat mir die Augen verbrannt. Seit vier Jahren lebte ich in Finsternis. Der Messias hat mir die vertrockneten Augen mit seinem Speichel angefeuchtet, und jetzt sind sie frischer, als sie in meinem zwanzigsten Lebensjahr waren. Er sei dafür gepriesen!»

Jesus fährt fort: «Und mit den Blinden, Tauben und Stummen richten sich die Lahmen auf, und die Krüppel gehen wieder. Seht dort den Greis, der zuvor noch hinkte; nun geht er aufrecht wie eine Palme in der Wüste und flink wie eine Gazelle. Die schlimmsten Krankheiten werden geheilt. Du, Frau, was hattest du?»

«Ein Übel an meiner Brust, weil ich vielen gierigen Mündern Milch geben mußte. Und dieses Übel an der Brust hat an meinem Leben gezehrt. Aber nun, seht her», und sie öffnet die Tunika, zeigt die unversehrte Brust und fügt hinzu: «Sie war eine einzige Wunde.» Sie weist auf das Kleid, das noch von Eiter getränkt ist. «Jetzt gehe ich nach Hause, lege ein reines Gewand an und bin wieder stark und glücklich. Gestern bin ich von Mitleidigen sterbenskrank hierhergebracht worden, und ich war so unglücklich... wegen der Kinder, die bald ohne Mutter gewesen wären. Ewiges Lob dem Erlöser!»

«Hört ihr? Ihr könnt auch den Synagogenvorsteher dieser Stadt über seine Tochter und deren Auferweckung befragen. Und auf dem Weg nach Jericho geht an Naim vorbei und fragt nach dem Jüngling, der in Anwesenheit der ganzen Stadt ins Leben zurückkehrte, als man gerade dabei war ihn ins Grab zu senken. So könnt ihr berichten, daß die Toten aufstehen,

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daß viele Aussätzige geheilt werden; das könnt ihr an vielen Orten Israels erfahren; aber wenn ihr wollt, dann geht nach Sycaminon und sucht nach den Jüngern; und ihr werdet ihrer viele finden. Sagt also zu Johannes, daß die Aussätzigen rein werden. Und sagt auch, denn ihr könnt es sehen, daß den Armen die Frohe Botschaft verkündet wird. Selig, der kein Ärgernis an mir nimmt! Erzählt dies Johannes. Und sagt ihm, daß ich ihn mit meiner ganzen Liebe segne!»

«Danke, Meister. Segne auch uns vor unserer Abreise.»

«Ihr könnt nicht während dieser heißen Stunden aufbrechen. Bleibt darum bis zum Abend meine Gäste. Ihr werdet so für einen Tag das Leben des Meisters teilen, der zwar nicht Johannes ist, den Johannes aber liebt, weil er weiß, wer er ist. Kommt ins Haus! Dort ist es kühl, und ihr könnt euch erquicken. Lebt wohl, meine Zuhörer! Der Friede sei mit euch!»Nachdem er die Leute entlassen hat, geht er mit den drei Gästen ins Haus...

... Was in diesen schwülen Stunden geredet wird, weiß ich nicht. Was ich jetzt sehe, ist die Vorbereitung der Abreise der beiden Jünger nach Jericho. Manaen scheint zu bleiben, denn sein Pferd wird nicht mit den beiden starken Mauleseln vor das Tor der Hofmauer geführt. Die beiden Abgesandten des Johannes besteigen nach vielen Verbeugungen vor dem Meister und Manaen ihre Tiere und wenden sich immer wieder um und grüßen, bis eine Wegbiegung sie den Blicken entzieht.

Viele Leute von Kapharnaum sind herbeigeeilt, um dieser Abreise beiwohnen zu können; denn die Nachricht von der Ankunft der Jünger des Johannes und die Antwort Jesu haben bereits die Runde in der Ortschaft, und ich glaube, auch in der ganzen Nachbarschaft, gemacht. Ich sehe Leute aus Bethsaida und Chorazim, die sich an die Abgesandten des Johannes gewandt haben, um sich nach ihm zu erkundigen und Grüße an ihn aufzutragen – vielleicht sind es ehemalige Jünger des Johannes -und die nun mit denen von Kapharnaum reden. Jesus, an dessen Seite Manaen geht, will sich wieder ins Haus begeben. Doch das Volk drängt sich neugierig um ihn, um den Milchbruder des Herodes und seine ehrfurchtsvollen Gesten Jesus gegenüber zu beobachten und um mit dem Meister zu sprechen.

Auch Jairus, der Synagogenvorsteher, ist unter ihnen. Aber Gott sei Dank ist kein Pharisäer zugegen. Jairus sagt gerade: «Johannes wird zufrieden sein. Du läßt ihm nicht nur eine erschöpfende Antwort zukommen, sondern hast den beiden während ihres Aufenthalts auch gute Lehren erteilt und ein Wunder gewirkt.»

«Und noch dazu kein kleines!» sagt ein Mann.

«Ich habe absichtlich meine Tochter gebracht, damit alle sie heute sehen können. Nie ist es ihr so gut gegangen, und für sie ist es eine Freude,

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zum Meister zu kommen. Habt ihr ihre Antwort gehört? "Ich weiß nicht mehr, was der Tod ist. Aber ich erinnere mich, daß ein Engel mich gerufen und durch ein immer heller werdendes Licht geführt hat, an dessen Ende Jesus war. Und wie ich ihn da in meinem Geist sah, der in mich zurückgekehrt war, sehe ich ihn nicht einmal jetzt; ihr und ich, wir sehen jetzt nur den Menschen. Aber mein Geist hat Gott gesehen, der im Menschen eingeschlossen ist." Und so gut ist sie seitdem geworden. Sie war schon vorher gut, aber nun ist sie ein wahrer Engel. Ach, meinetwegen können die anderen sagen, was sie wollen: du allein bist heilig!»

«Aber auch Johannes ist heilig», sagt einer von Bethsaida.

«Ja. Aber er ist zu streng.»

«Er ist nicht strenger mit den anderen als mit sich selbst.»

«Aber er wirkt keine Wunder, und man sagt, daß er fastet wie ein Magier.»

«Und doch ist er heilig!» Der Wortwechsel in der Menge wird immer heftiger.

Jesus erhebt die Hand und streckt sie mit der gewohnten Geste aus, die er macht, wenn er Ruhe und Aufmerksamkeit verlangt, weil er reden will. Es tritt sofort Schweigen ein.

Jesus sagt: «Johannes ist heilig und groß. Schaut weder auf seine Handlungsweise noch auf das Fehlen von Wundern. Wahrlich, ich sage euch: "Er ist ein Großer des Reiches Gottes." Dort wird er in seiner ganzen Größe erscheinen.»

Viele klagen, daß er so streng war und ist, daß er manchmal sogar etwas rauh zu sein scheint. Wahrlich, ich sage euch, er hat ja schon wie ein Riese gearbeitet, um die Wege des Herrn zu bereiten. Und wer so arbeitet, hat keine Zeit, sich in Weichlichkeiten zu verlieren. Hat er nicht am Jordan die Worte des Isaias erwähnt, die ihn und den Messias vorhersagten: "Jedes Tal wird ausgefüllt, jeder Berg wird abgetragen werden; was krumm ist, soll gerade, und was rauh ist, soll geglättet werden", um so die Wege des Herrn und Königs vorzubereiten? Doch in Wahrheit hat er mehr getan als ganz Israel, um mir den Weg zu bereiten! Wer Berge abtragen und Täler ausfüllen, Wege ebnen und schwierige Aufstiege leicht machen soll, muß hart arbeiten. Denn er war der Vorläufer und mir nur um wenige Monde voraus; alles mußte geschehen, bevor die Sonne am Tag der Erlösung hoch am Himmel stand. Die Zeit ist da, die Sonne steigt empor, um über Sion und von dort aus über die ganze Welt zu strahlen. Johannes hat den Weg bereitet, wie es seine Aufgabe war. Was habt ihr in der Wüste gesucht? Ein Schilfrohr, das jeder Wind hin- und herbewegt? Was seid ihr hingegangen, zu sehen? Einen Menschen in weichlichen Kleidern? Aber diese wohnen in den Palästen der Könige, eingehüllt in weiche Gewänder, von tausend Dienern und Schmeichlern umgeben, und sind selbst nur Schmeichler eines armen Menschen. Hier ist einer von diesen. Fragt ihn,

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ob er nicht Abscheu vor dem Leben am Hof empfindet und Bewunderung für den rauhen und einsamen Felsen, auf den Blitze und Hagelkörner fallen und um die Winde brausen, die ihn zerschmettern wollen, während er aufrecht dasteht und sich mit allen seinen Kräften zum Himmel erhebt und die Freude der Höhe predigt, erhaben und aufstrebend wie eine Flamme, die zum Himmel steigt.

Das ist Johannes! So sieht ihn Manaen; denn er hat die Wahrheit des Lebens und des Todes begriffen und sieht die Größe dort, wo sie wirklich ist, auch wenn sie sich unter dem Anschein der Rauheit verbirgt.

Und ihr, was habt ihr in Johannes gesehen, als ihr ihn aufgesucht habt? Einen Propheten? Einen Heiligen? Ich sage es euch: er ist mehr als ein Prophet. Er ist mehr als viele Heilige; denn er ist es, von dem geschrieben steht: "Siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, damit er deinen Weg dir bereite."

Engel! Bedenkt dies! Ihr wißt, daß die Engel reine Geister sind – von Gott geschaffen nach seinem geistigen Bild – als eine Verbindung zwischen dem Menschen: der Vollkommenheit des sichtbaren und materiellen Geschaffenen, und Gott: der Vollkommenheit des Himmels und der Erde, dem Schöpfer des geistigen und irdischen Reiches. Im Menschen, auch im heiligsten, sind es immer Fleisch und Blut, die einen Abgrund zwischen ihm und Gott schaffen. Und der Abgrund wird immer tiefer durch die Sünde, die auch belastet, was geistig im Menschen ist. Da erschafft Gott die Engel, Geschöpfe, die die höchste Stufe der Schöpfungsleiter erreichen, so wie die Mineralien ihre Grundlage bilden; die Mineralien, der Staub, aus dem die Erde besteht, die anorganische Materie im allgemeinen. Reine Spiegel des göttlichen Gedankens, willensbegabte Flammen, wirkend durch die Liebe, bereit zu verstehen und zu handeln, frei im Wollen wie wir, aber in einer ganz heiligen Weise, die keine Auflehnung und keine Sünde kennt: das sind die Engel, die Anbeter Gottes, seine Boten bei den Menschen, unsere Beschützer, die Spender des Lichtes, das sie umkleidet, und des Feuers, das sie anbetend aufnehmen.

Johannes wird in der Sprache der Propheten "Engel" genannt. Ich aber sage euch: Unter den von der Frau Geborenen ist keiner größer als Johannes der Täufer. Und doch wird der Kleinste im Himmelreich größer sein als er, der Mensch. Denn ein jeder im Reich des Himmels ist Sohn Gottes und nicht Sohn einer Frau. Strebt daher alle danach, Bewohner des Reiches zu werden.

Was habt ihr einander zu fragen?»

«Wir sagten: Aber wird Johannes im Reich sein? Und wie wird er dort sein?»

«Mit seinem Geist gehört er schon zum Reich; er wird auch nach dem Tod dort sein – eine der herrlichsten Sonnen des ewigen Jerusalern. Und dies durch die Gnade, die ohne Makel in ihm ist, und durch sein eigenes

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Wollen. Denn aus heiligen Gründen war und ist er auch gegen sich selbst streng. Seit dem Täufer und zukünftig gehört das Himmelreich jenen, die es sich erobern mit der Kraft, die gegen das Böse kämpft, und nur die Starken werden es an sich reißen. Denn jetzt ist bekannt, was man tun muß, um dieses Reich zu erwerben. Es ist nicht mehr die Zeit, in der nur das Gesetz und die Propheten sprachen. Sie haben gesprochen bis zu Johannes.

Jetzt spricht das Wort Gottes, und es verbirgt nicht ein Jota von dem, was zu wissen notwendig ist für diese Eroberung. Wenn ihr an mich glaubt, müßt ihr auch Johannes ansehen als den, der wie Elias kommen mußte. Wer Ohren hat zu hören, der höre.

Aber womit soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es ist jenem ähnlich, das die Knaben beschreiben, die auf dem Marktplatz sitzen und ihren Kameraden zurufen: "Wir haben die Flöte geblasen, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Trauerlieder angestimmt, und ihr habt nicht geweint." Und in der Tat, Johannes, der nicht ißt und trinkt, ist gekommen, und dieses Geschlecht sagt: "Er kann es tun, weil ihm der Teufel hilft." Der Menschensohn ist gekommen, der ißt und trinkt, und sie sagen: "Er ist ein Prasser und ein Trinker, ein Freund der Zöllner und der Sünder." So wird der Weisheit von ihren Söhnen Gerechtigkeit erwiesen! ... Wahrlich, ich sage euch, nur Kinder können die Wahrheit erfassen, denn in ihnen ist keine Bosheit.»

«Das hast du gut gesagt, Meister», sagt der Synagogenvorsteher. «Dies ist der Grund, weshalb meine Tochter, die noch ohne Bosheit ist, dich so sieht, wie wir dich zu sehen nicht imstande sind. Und doch überströmen diese Stadt und die benachbarten Orte von deiner Macht, Weisheit und Güte, und ich muß bekennen: sie machen keine anderen Fortschritte als die Fortschritte in der Bosheit gegen dich. Sie bessern sich nicht. Und das Gute, das du für sie wirkst, wandelt sich bei ihnen in Haß gegen dich.»

«Wie redest du, Jairus? Du verleumdest uns! Wir sind hier, weil wir Christus treu sind», sagt einer von Bethsaida.

«Ja! Wir! Aber wie viele sind wir? Weniger als hundert aus drei Städten, die zu Jesu Füßen liegen müßten. Unter den Fehlenden, ich rede von den Männern, ist die Hälfte feindselig gesinnt, ein Viertel gleichgültig, und vom Rest will ich annehmen, daß er nicht kommen konnte. Ist das nicht Schuld in den Augen Gottes? Wird dieser Haß und diese Hartnäckigkeit im Bösen nicht bestraft? Rede du, Meister, der du es weißt; und wenn du schweigst, dann tust du es nur aus Güte, und nicht, weil du es nicht weißt. Du bist langmütig, und dies wird als Unkenntnis und Schwäche ausgelegt. Sprich also; möge deine Rede wenigstens die Gleichgültigen aufrütteln, wenn schon die Böswilligen sich wahrscheinlich nicht bekehren, sondern immer noch bösartiger werden.»

«Ja. Es ist Sünde und wird bestraft. Denn die Gabe Gottes darf nie

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verachtet oder zum Bösen benützt werden. Wehe dir, Chorazim, wehe dir, Bethsaida, die ihr schlechten Gebrauch macht von den Gaben Gottes! Wenn in Tyrus und in Sidon jene Wunder geschehen wären, die in eurer Mitte geschehen sind, hätten sie schon längst mit Bußgürteln und Asche auf den Häuptern Buße getan und wären zu mir gekommen. Daher sage ich euch, daß Tyrus und Sidon am Tag des Gerichtes mehr Barmherzigkeit zuteil werden wird als euch. Und du, Kapharnaum, glaubst du, daß du wegen der Gastfreundschaft, die du mir gewährt hast, in den Himmel erhoben wirst? Du wirst bis zur Hölle hinabsteigen. Denn wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, die ich bei euch gewirkt habe, würde es heute noch blühen; man hätte an mich geglaubt und hätte sich bekehrt. Daher wird Sodom am Tag des Gerichtes mehr Barmherzigkeit erfahren, denn es hat den Erlöser und sein Wort nicht gekannt, und seine Schuld ist daher weniger groß als die deine, da du den Messias gekannt, sein Wort gehört und dennoch dein Unrecht nicht eingesehen hast.

Da Gott aber gerecht ist, wird jenen von Kapharnaum, Bethsaida und Chorazim, die geglaubt haben und sich heiligen, indem sie meinem Wort gehorchen, große Barmherzigkeit zuteil werden. Denn es ist nicht recht, daß die Gerechten mit hineingezogen werden in das Verderben der Bösen. Was deine Tochter betrifft, Jairus, und dein Kind, Zacharias, und deine Enkel, Benjamin, sage ich euch, daß sie, weil sie ohne Bosheit sind, Gott schon sehen. Ihr selbst erkennt, welch reiner und fruchtbarer Glaube in ihnen lebt, vereint mit himmlischer Weisheit und einem Verlangen nach Liebe, das die Erwachsenen nicht besitzen.»

Und Jesus, die Augen zum Himmel erhebend, der sich in der Abenddämmerung verdunkelt, ruft aus: «Ich danke dir, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du diese Dinge den Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen aber geoffenbart hast. Denn du hast dein Wohlgefallen daran, o Vater. Alles ist mir vom Vater anvertraut, und niemand erkennt ihn, außer der Sohn und jene, welchen der Sohn ihn hat offenbaren wollen. Und ich habe dich den Kleinen, den Demütigen und den Reinen geoffenbart; denn Gott teilt sich diesen mit, und die Wahrheit senkt sich wie der Same in das nackte Erdreich, und der Vater läßt seine Strahlen darauf regnen, damit er Wurzel fasse und zum Baum werde.

Wahrlich, der Vater bereitet die Geister der Kinder, der Kinder dem Alter nach oder dem Wollen nach, vor, auf daß sie die Wahrheit erkennen und ich Freude an ihrem Glauben habe...»

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309. JESUS ARBEITET ALS SCHREINER FÜR EINE WITWE VON CHORAZIM

Jesus arbeitet sichtlich mit Freude in einer Schreinerwerkstatt. Er ist dabei, ein Rad fertigzustellen. Ein schmächtiger, trauriger Knabe hilft ihm, indem er ihm dieses oder jenes Werkzeug reicht. Manaen sitzt als untätiger, doch bewundernder Zeuge auf einer Bank an der Mauer. Jesus hat das schöne Linnengewand abgelegt und trägt ein dunkles Kleid, das nicht ihm gehört und nur bis zur Wadenmitte reicht. Ein sauberes, doch geflicktes Arbeitsgewand des verstorbenen Zimmermanns. Jesus ermutigt den Knaben durch sein Lächeln und gute Worte und bringt ihm bei, wie man den Leim zubereitet und die Wände des Schrankes poliert.

«Du hast ihn schnell fertiggemacht, Meister», sagt Manaen, indem er sich erhebt und mit einem Finger über den vollendeten Schrank fährt, den der Knabe mit einer Flüssigkeit poliert.

«Er war beinahe fertig... !»

«Diese deine Arbeit möchte ich gerne haben. Aber der Auftraggeber ist schon gekommen und ich glaube, er hat Anspruch darauf... Du hast ihn enttäuscht. Er hatte schon gehofft, alles nehmen und gegen das wenige Geld, das er geliehen hatte, eintauschen zu können. So nimmt er nur, was er bestellt hat. Wenn es wenigstens einer wäre, der an dich glaubt... Dann hätten diese Arbeiten einen unermeßlichen Wert für ihn. Aber hast du ihn gehört ... ?»

«Laß ihn nur! Übrigens gibt es hier Holz, und die Frau wäre bestimmt glücklich, wenn es Verwendung fände und sie einen Nutzen davon hätte. Bestelle einen Schrank, und ich werde ihn dir machen...»

«Wirklich, Meister? Aber gedenkst du denn, noch weiterzuarbeiten?»

«So lange, bis kein Holz mehr da ist. Ich bin ein gewissenhafter Arbeiter», sagt Jesus herzlich lächelnd.

«Ein Schrank von dir angefertigt! Oh, welche Reliquie! Aber was soll ich hineintun?»

«Was du willst, Manaen. Es wird nur ein Kasten sein!»

«Aber du hast ihn gemacht!»

«Nun ja! Auch der Vater hat den Menschen, alle Menschen erschaffen. Und doch, was legen die Menschen in sich hinein?» Jesus redet und arbeitet; er geht auf die Suche nach den notwendigen Werkzeugen hin und her, zieht den Schraubstock an, bohrt, hobelt und drechselt, je nach Bedarf.

«Die Sünde haben wir in uns hineingelegt, das ist wahr.»

«Siehst du? Und glaube nur, daß der von Gott erschaffene Mensch mehr als ein von mir gemachter Schrank ist. Verwechsle nie den Gegenstand mit der Handlung. Meine Arbeit soll für dich nur eine Reliquie für den Geist sein.»

«Was bedeutet das?»

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«Das bedeutet, daß sie deinem Geist eine Lehre gibt durch das, was ich tue.»

«Über deine Liebe, deine Demut, deine Arbeitsamkeit, also... über diese Tugenden, nicht wahr?»

«Ja. Und tue du in Zukunft dasselbe.»

«Ja, Meister! Aber machst du mir den Schrank?»

«Ich will ihn dir machen. Aber schau, da du ihn immer als Reliquie betrachten wirst, lasse ich dich dafür bezahlen. Wenigstens kann man dann sagen, daß auch ich einmal geldgierig war. Aber du weißt, für wen das Geld ist... Für diese Waisenkinder ...»

«Verlange von mir, was du willst, ich will es dir geben. Dann wird mein Müßiggang, während du, Sohn Gottes, arbeitest, gerechtfertigt sein.»

«Es steht geschrieben: "Du sollst dein Brot im Schweiße deines Angesichts essen."»

«Aber das gilt für den sündigen Menschen, nicht für dich!»

«Oh! Eines Tages werde ich der Schuldbeladene sein, und die Sünden der ganzen Welt auf mir lasten. Ich will sie mit mir nehmen bei meinem ersten Abschied.»

«Glaubst du, daß die Welt dann nicht mehr sündigen wird?»

«So müßte es sein... Doch sie wird immer sündigen. Deswegen wird die Last, die auf mir liegt, so groß werden, daß sie mir das Herz bricht; denn die Sünden, die von Adam bis zu jener Stunde begangen worden sind, und alle, die von da an bis an das Ende der Zeiten begangen werden, werden auf mir lasten. Ich werde alles für den Menschen bezahlen!»

«Und der Mensch wird dich nicht verstehen und dich immer noch nicht lieben... Glaubst du, daß Chorazim sich bekehren wird durch diese stille, heilige Unterweisung? Durch diese Arbeit, die du verrichtest, um einer Familie zu helfen?»

«Es wird sich nicht bekehren. Es wird sagen: "Er wollte arbeiten, um sich die Zeit zu vertreiben und um Geld zu haben." Aber ich habe kein Geld mehr. Ich gebe alles weg. Ich gebe immer alles, was ich habe, bis zum letzten Pfennig; ich habe gearbeitet, um Geld geben zu können.»

«Und das Essen für dich und Matthäus?»

«Gott wird dafür sorgen.»

«Aber uns hast du zu essen gegeben.»

«Ja.»

«Wie hast du das gemacht?»

«Frage den Hausherrn.»

«Ich will ihn danach fragen, sobald wir nach Kapharnaum zurückgekehrt sind.»

Jesus lächelt friedlich in seinen blonden Bart.

Ein Schweigen, in dem nur das Knirschen des Schraubstocks, in den zwei Stücke eines Rades gespannt sind, zu hören ist.

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Dann fragt Manaen: «Was gedenkst du vor dem Sabbat zu tun?»

«Ich gehe nach Kapharnaum, um auf die Apostel zu warten. Wir haben ausgemacht, uns jeden Freitagabend zu treffen und den ganzen Sabbat zusammen zu verbringen. Dann werde ich Aufträge erteilen, und wenn Matthäus wieder gesund ist, sind wir sechs Paare, die ausziehen, um die Frohe Botschaft zu verkünden, außer... Willst du mit ihnen gehen?»

«Ich ziehe es vor, bei dir zu bleiben, Meister... Darf ich dir jedoch einen Rat geben?»

«Sprich! Wenn er gut ist, will ich ihn befolgen.»

«Bleibe niemals ganz allein. Du hast viele Feinde, Meister!»

«Ich weiß es. Aber glaubst du, daß die Apostel viel helfen könnten im Falle einer Gefahr?»

«Sie lieben dich, glaube ich!»

«Gewiß, aber das würde nichts nützen. Wenn die Feinde die Absicht hätten, mich gefangenzunehmen, würden sie mit einer Mannschaft kommen, die zahlreicher ist als die Gruppe der Apostel.»

«Bleibe aber trotzdem nicht allein.»

«In zwei Wochen werde ich viele Jünger um mich haben. Ich will sie vorbereiten, um sie auszusenden, die Frohe Botschaft zu verkünden. Dann werde ich nicht mehr allein sein. Sei beruhigt!»

Während sie so reden, kommen viele Neugierige aus Chorazim und blicken verstohlen nach ihnen; dann gehen sie wieder weg, ohne etwas zu sagen.

«Sie sind erstaunt, dich bei der Arbeit zu sehen.»

«Ja. Aber sie sind nicht demütig genug, um zu sagen: "Er belehrt uns auf diese Weise." Die Besten, die ich hier hatte, gehören jetzt zu den Jüngern, abgesehen von einem Alten, der gestorben ist. Das hat keine Bedeutung. Unterweisung ist immer Unterweisung.»

«Was werden die Apostel sagen, wenn sie erfahren, daß du so arbeitest?»

«Es sind elf, denn Matthäus hat sich schon darüber geäußert. Also werden es elf verschiedene Ansichten sein. Die meisten werden nicht damit einverstanden sein; aber es wird mir dazu dienen, sie zu belehren.»

«Darf ich bei dieser Belehrung anwesend sein?»

«Wenn du bei mir bleiben willst...»

«Aber ich bin nur ein Jünger, und sie sind Apostel!»

«Was für den Apostel gut ist, wird auch dem Jünger nicht schaden.»

«Es wird sie stören, wenn sie in meiner Gegenwart zur Gerechtigkeit ermahnt werden.»

«Das soll ihrer Demut dienen. Bleibe, bleibe, Manaen! Ich behalte dich gerne bei mir.»

«Und ich bleibe gerne bei dir.»

Die Witwe erscheint und sagt: «Die Mahlzeit ist bereit, Meister. Aber du arbeitest zuviel ...»

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«Ich verdiene mein Brot, Frau! Und dann... Hier ist ein neuer Kunde. Auch er möchte einen Schrank haben. Er wird gut dafür bezahlen. Der Platz für das Holz wird leer», sagt Jesus, während er eine zerrissene Arbeitsschürze ablegt, die er sich vorgebunden hatte, und aus dem Raum geht, um sich an einem Becken zu waschen, das die Frau für ihn in den Garten gestellt hat.

Und sie sagt mit einem scheuen Lächeln, das sich nach so langer Zeit der Trauer wieder auf ihrem Gesicht zeigt: «Der Platz für das Holz ist leer, das Haus ist erfüllt von deiner Gegenwart und das Herz von Frieden! Ich fürchte mich nicht mehr vor der Zukunft, Meister. Und du sollst keine Angst haben, daß wir dich jemals vergessen.»

Sie gehen in die Küche, und alles ist zu Ende.

310. «DIE LIEBE IST DAS GEHEIMNIS UND DAS GEBOT DER HERRLICHKEIT»

Jesus, an dessen Seite Manaen geht, verläßt das Haus der Witwe und sagt: «Der Friede sei mit dir und den deinen. Nach dem Sabbat werden wir uns wiedersehen. Leb wohl, kleiner Joseph! Morgen sollst du dich ausruhen und spielen. Danach kannst du mir wieder helfen. Warum weinst du?»

«Ich fürchte, daß du nicht wiederkommen wirst.»

«Ich sage immer die Wahrheit. Aber tut es dir denn so leid, daß ich fortgehe?»

Der Knabe bejaht mit einem Kopfnicken.

Jesus streichelt ihn und sagt: «Ein Tag geht schnell vorüber. Morgen bleibst du bei der Mama und den Geschwistern. Ich bin bei meinen Aposteln und spreche zu ihnen. In diesen Tagen habe ich mit dir gesprochen und dich arbeiten gelehrt; nun gehe ich zu ihnen, um ihnen beizubringen, wie man predigt und wie man gut wird. Du hättest nicht viel von mir, Kind, allein unter so vielen Männern.»

«Oh, ich würde mich trotzdem freuen, denn ich wäre bei dir.»

«Ich habe verstanden. Frau, dein Sohn macht es wie viele, und zwar wie die Besten. Er will mich nicht verlassen. Hast du genug Vertrauen, um ihn mir bis übermorgen zu überlassen?»

«Oh, Herr! Alle würde ich dir geben! Bei dir sind sie sicher wie im Himmel... Dieser Knabe, der am meisten mit dem Vater zusammen war, hat zu viel gelitten. Nun kommt es ihm wieder zum Bewußtsein... Siehst du? ... Er weint nur dauernd und leidet. Weine nicht, mein Kind! Frag den Herrn, ob es wahr ist, was ich sage. Meister, um ihn zu trösten, sage ich ihm immer, daß er den Vater nicht verloren hat, sondern daß er nur vorübergehend von uns fortgegangen ist.»

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«Das ist die Wahrheit, kleiner Joseph. Es ist so, wie deine Mutter es sagt!»

«Aber solange ich nicht sterbe, werde ich ihn nicht wiederfinden. Ich bin noch klein. Und wenn ich alt werde wie Isaak, wie lange muß ich dann noch warten?»

«Armes Kind! Aber die Zeit vergeht geschwind.»

«Nein, Herr! Seit drei Wochen fehlt mir der Vater, und es kommt mir schon so lange vor! ... Ich kann nicht ohne ihn leben...» und er weint lautlos, doch mit tiefem Schmerz.

«Siehst du? So macht er es immer. Und besonders, wenn er nicht beschäftigt ist mit Dingen, die ihn ganz in Anspruch nehmen. Der Sabbat ist eine Qual. Ich befürchte, daß er sterben wird...»

«Nein! Ich habe einen anderen Knaben ohne Vater und ohne Mutter. Er war abgemagert und traurig. Nun, da er bei einer guten Frau in Bethsaida ist und die Gewißheit hat, nicht von seinen Eltern getrennt zu sein, ist er körperlich und seelisch aufgeblüht. So wird es auch deinem Sohn ergehen. Nachdem, was ich ihm sagen werde, und weil die Zeit ein großer Arzt ist, und nicht zuletzt, wenn er dich ruhiger sehen wird in bezug auf das tägliche Brot, wird auch er ruhiger werden. Auf Wiedersehen, Frau! Die Sonne sinkt, und ich muß gehen. Komm, Joseph. Verabschiede dich von der Mutter, den Geschwistern und der Großmutter und dann folge mir geschwind nach.»

Jesus geht.

«Was wirst du nun deinen Aposteln sagen?»

«Daß ich einen alten Jünger und einen neuen habe.»

Sie gehen nach Chorazim, das sich mit Menschen belebt. Eine Gruppe von Männern hält Jesus auf: «Gehst du fort? Bleibst du nicht über den Sabbat hier?»

«Nein, ich gehe nach Kapharnaum.»

«Ohne die ganze Woche ein Wort gesagt zu haben? Sind wir deines Wortes nicht würdig?»

«Habe ich euch nicht sechs Tage lang die besten Worte gesagt?»

«Wann denn? Und wem?»

«Allen. An der Hobelbank des Zimmermanns! Tagelang habe ich gepredigt, daß man den Nächsten lieben und ihm in jeder Weise helfen muß, und besonders schwachen Menschen wie Witwen und Waisenkindern. Auf Wiedersehen, ihr Leute von Chorazim. Betrachtet am Sabbat diese meine Lektion.» Und Jesus geht seines Weges und läßt die Bürger sprachlos zurück.

Doch der Knabe, der ihn nun im Laufschritt einholt, veranlaßt die Bürger aufs neue, Jesus aufzuhalten und neugierig zu fragen: «Nimmst du den Knaben der Witwe mit? Warum?»

«Um ihn zu lehren, daß Gott Vater ist und daß er in Gott auch den

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verlorenen Vater wiederfinden wird. Und auch, damit es hier einen gibt, der anstelle des alten Isaak glaubt.»

«Bei deinen Jüngern sind drei aus Chorazim.»

«Bei meinen Jüngern, aber nicht hier. Dieser wird hierbleiben. Lebt wohl.» Und indem er den Knaben zwischen sich und Manaen nimmt, geht er schnell durch die Felder nach Kapharnaum, wo die Apostel schon eingetroffen sind.

Die Apostel sitzen auf der Terrasse im Schatten der Pergola um Matthäus herum und berichten dem Kameraden, der noch nicht geheilt ist, von ihren Erlebnissen. Sie drehen sich beim leisen Geräusch, das die Sandalen auf der Treppe verursachen, um und sehen das blonde Haupt Jesu, das hinter der Mauer der Terrasse auftaucht. Sie eilen ihm entgegen, er lächelt ihnen zu... und sie bleiben überrascht stehen, weil sie hinter Jesus einen kleinen Knaben erblicken. Manaen kommt würdevoll in seinem weißen Linnengewand herauf, das nun noch viel schöner wirkt mit dem kostbaren Gürtel und dem feuerroten Mantel aus gefärbter Leinwand, der wie Seide glänzt, ihm lässig über die Schultern herabfällt und beinahe eine Schleppe bildet; mit der Kopfbedeckung aus Byssus, die von einem goldenen Diadem gehalten wird und der verzierten Scheibe, welche die hohe Stirne schmückt und ihm das Aussehen eines ägyptischen Königs verleiht. Seine Anwesenheit verhindert eine Lawine von Fragen, die ihre Augen aber sehr deutlich ausdrücken.

Doch nach gegenseitiger Begrüßung setzen sich die Apostel um Jesus herum und fragen: «Und dieses Kind?» Sie deuten dabei auf den Knaben.

«Es ist meine letzte Eroberung. Ein kleiner Joseph; Zimmermann wie der große Joseph, der mein Vater gewesen ist. Deswegen ist er mir so lieb, wie auch ich ihm lieb bin. Nicht wahr, Kind? Komm her, daß ich dich mit meinen Freunden bekanntmache, von denen du schon so viel gehört hast. Dies hier ist Simon Petrus, der Mann, der am liebsten von allen zu den Kindern ist. Und dies ist Johannes, ein großer Knabe, der dir auch beim Spielen von Gott erzählen wird. Dies ist Jakobus, sein Bruder, ernst und gut wie ein älterer Bruder. Und dies ist Andreas, der Bruder des Simon Petrus; du wirst dich gleich mit ihm vertragen, denn er ist sanft wie ein Lamm. Und dann hier Simon, der Zelote; er liebt die vaterlosen Kinder sehr und würde bestimmt durch die ganze Welt ziehen, um sie zu suchen, wenn er nicht bei mir wäre. Und dieser hier ist Judas des Simon und neben ihm sind Philippus von Bethsaida und Nathanael. Schau nur, wie sie dich ansehen! Sie haben auch Kinder und lieben die Kinder. Das sind meine Brüder Jakobus und Judas. Sie lieben alles, was ich liebe, also werden sie auch dich lieben. Nun gehen wir zu Matthäus, der an einer Wunde am Fuß leidet und nicht böse auf die Kinder ist, die ihn bei ihrem ausgelassenen Spiel versehentlich mit einem spitzen Stein getroffen haben. Nicht wahr, Matthäus?»

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«O nein, Meister! Ist er der Sohn der Witwe?»

«Ja! Er ist sehr gut, aber immer noch sehr traurig.»

«Oh, armes Kind! Ich werde den kleinen Jakob rufen lassen, und du wirst mit ihm spielen.» Matthäus streichelt ihn und zieht ihn mit einer Hand zu sich hin.

Jesus beendet die Vorstellung mit Thomas, der, praktisch wie er ist, dem Kind eine Weintraube anbietet, die er vom Weinstock genommen hat.

«Nun seid ihr Freunde», schließt Jesus und setzt sich wieder hin, während das Kind an seinen Trauben lutscht und Matthäus antwortet, der es in seiner Nähe behält.

«Aber wo bist du denn die ganze Woche allein gewesen?»

«In Chorazim, Simon des Jonas.»

«Das weiß ich. Aber was hast du dort getan? Bist du bei Isaak gewesen?»

«Isaak, der Alte, ist gestorben.»

«Was hast du dann getan?»

«Hat es dir Matthäus nicht gesagt?»

«Nein! Er hat nur gesagt, daß du dich vom Tag unserer Abreise an in Chorazim aufgehalten hättest.»

«Matthäus ist viel tüchtiger als du. Er kann schweigen, du aber kannst deine Neugier nicht beherrschen.»

«Nicht die meinige allein, sondern die von uns allen.»

«Nun ja, ich bin nach Chorazim gegangen, um die in die Tat umgesetzte Nächstenliebe zu predigen.»

«Die in die Tat umgesetzte Nächstenliebe? Was willst du damit sagen?» fragen viele.

«In Chorazim lebt eine Witwe mit fünf Kindern und einer alten kranken Frau. Der Mann ist unversehens an der Hobelbank gestorben und hat viel Elend und unfertige Arbeit zurückgelassen. Chorazim hat kein bißchen Mitleid mit dieser unglücklichen Familie. Ich bin hingegangen, um die Arbeiten zu vollenden und...»

Es kommt zu einem großen Durcheinander. Die einen fragen, die anderen protestieren. Einer tadelt Matthäus, weil er es zugelassen hat; ein anderer bewundert Jesus und wieder ein anderer tadelt ihn. Doch Kritik und Proteste sind leider in der Überzahl.

Jesus läßt sich den Sturm legen, so wie er entstanden ist, und sagt nur: «Übermorgen will ich dorthin zurückkehren und auch in den folgenden Tagen, so lange, bis ich alle Arbeiten beendet habe. Ich hoffe, daß wenigstens ihr dafür Verständnis habt. Chorazim ist eine harte Nuß ohne Kern. Seid wenigstens ihr keine tauben Nüsse. Du, Kind, reiche mir die Nuß, die Simon dir gegeben hat, und höre auch du gut zu.

Seht ihr diese Nuß? Ich nehme sie, da ich kein anderes Schalenobst zur Verfügung habe; aber, um das Gleichnis besser zu verstehen, denkt an die

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Kerne der Pinien oder der Palmen, an die härtesten, an jene der Oliven zum Beispiel. Es sind verschlossene Behältnisse, ohne Fugen, steinhart und aus kompaktem Holz. Sie gleichen magischen Schreinen, die nur mit Gewalt geöffnet werden können. Doch wenn einer auf den Boden fällt und ein Vorübergehender ihn in die Erde stampft, was geschieht? Der Schrein öffnet sich und bildet Wurzeln und Blätter. Wie kann das von allein geschehen? Uns kostet es Mühe, ihn mit dem Hammer aufzuschlagen, und doch öffnet sich dieser Kern von selbst. Hat der Same vielleicht magische Kräfte? Nein! Er enthält ein Mark. Oh, etwas sehr Weiches im Vergleich zur harten Schale! Und das Mark nährt etwas noch viel kleineres: den Keim. Das ist der Trieb, der die Schale sprengt und eine Pflanze mit Blättern, Krone und Wurzeln bildet. Versucht, die Nüsse einzugraben, und dann wartet ab. Ihr werdet sehen, daß einige sich öffnen, andere nicht. Grabt jene, die sich nicht öffnen, wieder aus. Zerschlagt sie mit dem Hammer, und ihr werdet sehen, daß es leere Schalen sind. Es ist daher weder die Feuchtigkeit des Bodens noch die Wärme, welche die Nuß öffnet, sondern das Mark, vielmehr die Seele des Marks: der Keim, der anschwillt, die Schale sprengt und öffnet.

Dies ist das Gleichnis. Doch wir wollen es auf uns anwenden.

Was habe ich getan, das nicht gut sein soll? Verstehen wir uns noch so wenig, daß ihr nicht begreift, daß Heuchelei eine Sünde und das Wort Wind ist, wenn es nicht in die Tat umgesetzt wird? Habe ich euch nicht immer wieder gesagt: "Liebet einander! Die Liebe ist das Gebot und das Geheimnis der Herrlichkeit?" Und ich, der ich dies predige, sollte ohne Liebe sein? Soll ich euch das Beispiel eines Meisters der Lüge geben? Nein, niemals!

O meine Freunde! Unser Körper ist wie eine harte Nuß. In der harten Schale ist das Mark eingeschlossen: die Seele, und in ihr befindet sich der Keim, den ich hineingelegt habe. Er besteht aus vielen Elementen. Doch das wichtigste ist die Liebe. Sie sprengt die Schale, um den Geist aus der Umklammerung der Materie zu befreien und ihn wieder mit Gott zu vereinigen, der die Liebe ist. Die Liebe übt man nicht nur mit Worten oder Geld. Man übt Liebe nur mit Liebe. Das soll kein Wortspiel sein. Ich hatte kein Geld, und Worte genügten nicht in diesem Fall. Hier waren sieben Personen an der Schwelle des Hungers und der Bedrängnis. Die Verzweiflung streckte ihre schwarzen Fangarme aus, um zu erfassen und zu ersticken. Die Welt zog sich hart und egoistisch vor diesem Unglück zurück. Die Welt hat damit bewiesen, daß sie die Worte des Meisters nicht begreift. So hat der Meister eben durch die Tat gepredigt. Ich war fähig und frei, es zu tun. Und ich hatte die Pflicht, diese Elenden, die die Welt nicht liebt, für die ganze Welt zu lieben. All das habe ich getan. Wollt ihr mich immer noch tadeln? Oder muß nicht vielmehr ich euch in Gegenwart eines Jüngers tadeln, der es nicht für unter seiner Würde gehalten hat, sich

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zwischen Sägemehl und Hobelspänen aufzuhalten, um den Meister nicht zu verlassen, und der sich, dessen bin ich gewiß, mehr von mir überzeugen ließ, als er mich über Bretter gebeugt sah, als wenn er mich auf einem Thron gesehen hätte? Muß nicht vielmehr ich euch in Gegenwart eines Kindes tadeln, das mich als den erkannt hat, der ich bin, trotz seiner absoluten Unkenntnis des Messias und trotz des Unglücks, das es bedrückt?

Ihr schweigt? Bereut nicht nur, solange ich die Stimme erhebe, um eure falschen Ansichten zu berichtigen. Ich tue es aus Liebe. Legt deshalb in euch den Keim, der heiligt und die Schale sprengt, sonst bleibt ihr immer unnütze Wesen. Ihr müßt zu dem bereit sein, was ich getan habe. Aus Liebe zum Nächsten und um die Seele zu Gott zu führen darf euch keine Mühe abschrecken. Die Arbeit, welcherart auch immer sie sei, demütigt nie. Demütigend sind jedoch die niedrigen Handlungen: Falschheit, falsche Anschuldigungen, Härte, Übergriffe, Ausbeutung, Verleumdungen und Wollust. Diese erniedrigen den Menschen. Und doch werden sie ohne Scham begangen, auch von jenen, die sich für vollkommen halten und sich ganz sicher geärgert haben, als sie mich mit Säge und Hammer arbeiten sahen. Oh! Oh! Der Hammer! Der unwürdige Hammer, wie edel wird er, wenn man mit ihm Nägel ins Holz schlägt, um einen Gegenstand herzustellen, mit dem man den Waisenkindern Nahrung verschaffen kann. Wie erscheint doch der gewöhnliche Hammer, den meine Hände zu einem guten Zweck verwenden, nicht mehr als unedel, und alle jene werden ihn haben wollen, die jetzt noch Ärgernis daran nehmen!

O Mensch, Geschöpf, das du Licht und Wahrheit sein solltest, wie bist du doch Finsternis und Lüge! Aber begreift wenigstens ihr, was das Gute ist! Was die Liebe ist! Was der Gehorsam ist! Wahrlich, ich sage euch, daß es viele Pharisäer gibt. Und sie fehlen auch nicht unter denen, die mich umgeben.»

«Nein, Meister, sag das nicht! Nein... Nur weil wir dich lieben, wollen wir gewisse Dinge nicht... !»

«Eben weil ihr bis heute noch nichts begriffen habt. Ich habe vom Glauben und von der Hoffnung gesprochen und gedacht, daß keine neuen Worte notwendig wären, um von der Liebe zu reden; denn ich ströme so viel Liebe aus, daß ihr davon durchdrungen sein müßtet. Aber ich sehe, daß ihr sie nur dem Namen nach kennt, ohne ihre wahre Natur und Gestalt erkannt zu haben. So wie ihr den Mond kennt.

Erinnert ihr euch, daß ich gesagt habe, daß die Hoffnung der Querbalken des süßen Joches ist, das den Glauben und die Liebe trägt, und daß sie das Kreuz der Menschheit und der Thron des Heiles ist? Aber ihr habt den Sinn meiner Worte nicht verstanden. Warum habt ihr mich nicht um eine Erklärung gebeten? Jetzt will ich sie euch geben. Die Hoffnung ist ein Joch, weil sie den Menschen zwingt, seinen törichten Hochmut unter der Last der ewigen Wahrheiten zu beugen. Und sie ist das Kreuz dieses

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Hochmuts. Ein Mensch, der auf Gott, seinen Herrn, hofft, demütigt notwendigerweise seinen Stolz, der sich "Gott" nennen möchte, und erkennt, daß er nichts ist und Gott alles ist; daß er nichts kann, Gott aber alles vermag; daß er vergänglicher Staub ist, während Gott Ewigkeit ist und den Staub auf eine höhere Stufe erhebt, indem er ihm den Lohn der Ewigkeit zuteil werden läßt. Der Mensch nagelt sich an sein heiliges Kreuz, um das wahre Leben zu erlangen. Und es heften ihn die Flammen des Glaubens und der Liebe daran, während die Hoffnung, die zwischen beiden steht, ihn zum Himmel erhebt.

Daher merkt euch diese Lehre: wenn die Liebe fehlt, ist der Thron ohne Licht, und der Körper, nur an einer Seite angenagelt, hängt in den Schlamm und kann den Himmel nicht mehr sehen. Dadurch werden auch die heilsamen Wirkungen der Hoffnung zunichte gemacht, und es endet damit, daß der Glaube ebenfalls unfruchtbar wird; denn losgelöst von zwei der drei göttlichen Tugenden, verfällt er in Siechtum und tödliche Kälte.

Lehnt Gott auch nicht in den geringsten Dingen ab. Denn es ist eine Ablehnung Gottes, wenn man dem Nächsten aus heidnischem Stolz die Hilfe versagt.

Meine Lehre ist ein Joch, das die schuldige Menschheit niederdrückt; sie ist ein großer Hammer, der die harte Schale zerschlägt, um den Geist zu befreien. Sie ist ein Joch und ein Hammer, ja; doch wer sie annimmt, spürt die Müdigkeit, die alle anderen menschlichen Lehren und alle anderen menschlichen Dinge erzeugen, nicht. Und auch wer sich von dem Hammer schlagen läßt, spürt nicht den Schmerz, in seinem menschlichen Ich zerschmettert zu werden, sondern er empfindet ein Gefühl der Befreiung. Warum sucht ihr euch davon zu befreien, um es durch all das, was Blei und Schmerz ist, zu ersetzen? Ihr habt alle eure Schmerzen und Mühen. Die ganze Menschheit hat Schmerzen und Mühen, die manchmal die menschlichen Kräfte übersteigen. Angefangen vom Kind, das wie dieses schon eine große Bürde auf seinen kleinen Schultern trägt, die es niederdrückt und ihm das Lächeln von den Lippen und die Sorglosigkeit aus seinem Geist reißt, bis hin zum Greis, der mit all den Enttäuschungen, Mühen, Lasten und Wunden seines langen Lebens auf das Grab zugeht. Aber meine Lehre und mein Glaube sind eine Erleichterung dieser niederdrückenden Lasten. Daher werden sie die "Frohe Botschaft" genannt. Und wer sie annimmt und ihr gehorcht, wird schon auf Erden selig sein; denn Gott wird ihn trösten und die Tugenden werden ihm den Weg leicht und hell machen, als wären sie gute Schwestern, die ihn an der Hand nehmen, mit brennenden Lampen den Weg und das Leben erhellen und ihm die ewigen Verheißungen Gottes singen, bis er im Frieden den müden Körper der Erde zum irdischen Schlaf überläßt und im Paradies wieder erwacht.

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Warum wollt ihr Menschen belastet, trostlos, müde, angeekelt und verzweifelt sein, wenn ihr erleichtert und gestärkt sein könntet? Warum wollt auch ihr, meine Apostel, die Last, die Schwierigkeit und die Strenge der Mission spüren, während ihr mit dem Vertrauen eines Kindes nur heiteren Fleiß und lichtvolle Leichtigkeit in ihrer Ausführung kennen und begreifen würdet, daß sie nur für die Unbußfertigen, die Gott nicht kennen, streng ist, für die Getreuen Gottes aber wie eine Mutter, die beim Gehen hilft und dem Kind Steine, Dornen, Schlangennester und Gräben aufzeigt, damit es sie erkenne und nicht ihrer Gefahr ausgesetzt sei ?

Jetzt seid ihr betrübt. Eure Betrübnis hatte einen elenden Anfang! Ihr wart zuerst untröstlich über meine Demut, als wäre sie ein Verbrechen gegen mich selbst. Nun seid ihr traurig, weil ihr begriffen habt, daß ihr mich betrübt habt und noch so weit von der Vollkommenheit entfernt seid. Doch nur bei wenigen ist diese zweite Traurigkeit frei von Stolz; vom Stolz, der verletzt ist durch die Feststellung, daß ihr noch ein Nichts seid, während ihr aus Hochmut vollkommen sein möchtet. Habt wenigstens die willige Demut, den Vorwurf anzunehmen und zu bekennen, daß ihr gefehlt habt, und versprecht in eurem Herzen, daß ihr die Vollkommenheit für ein übermenschliches Ziel anstreben wollt. Dann kommt zu mir. Ich weise euch zurecht, aber ich verstehe euch und habe Mitleid.

Kommt zu mir, ihr Apostel, und kommt zu mir alle, ihr Menschen, die ihr an materiellen, an moralischen Schmerzen und an seelischen Schmerzen leidet. Diese letzteren verursacht der Kummer darüber, daß ihr noch nicht fähig seid, euch zu heiligen, wie ihr es aus Liebe zu Gott und mit Eifer und ohne Rückfälle ins Böse tun möchtet. Der Weg der Heiligung ist lang und geheimnisvoll, und manchmal erfüllt er sich ohne Wissen des Wanderers, der im Dunkeln weitergeht, mit dem Geschmack des Giftes im Mund, und glaubt, nicht voranzukommen und den himmlischen Trank nicht trinken zu können, und nicht weiß, daß auch diese geistige Blindheit ein Teil der Vollkommenheit ist.

Selig jene, dreimal selig, welche ihren Weg fortsetzen, ohne die Freuden des Lichtes und der Süßigkeiten zu verspüren, und nicht aufgeben, weil sie nichts sehen und hören, und nicht stehenbleiben und sagen: "Solange Gott mir keine Freuden gewährt, gehe ich nicht weiter." Ich sage euch: die dunkelste Straße wird plötzlich ganz leuchtend und öffnet sich himmlischen Gefilden. Das Gift, das den Geschmack für menschliche Dinge verdorben hat, wandelt sich in paradiesische Süßigkeit für jene Mutigen, die erstaunt sagen werden: "Wie dies? Warum wird mir so viel Süßigkeit und Freude zuteil?" Weil sie ausgeharrt haben und Gott sie schon auf Erden über das jubeln läßt, was im Himmel auf sie wartet.

Aber vorerst, um standzuhalten, kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ihr Apostel, und mit euch alle Menschen, die Gott suchen,

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die über die Schmerzen der Erde weinen, die sich allein dahinschleppen, ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch. Es ist keine Last. Es ist eine Stütze. Umfangt meine Lehre, als wäre sie eine geliebte Braut. Ahmt euren Meister nach, der sich nicht damit begnügt, euch zu segnen, sondern auch tut, was er euch lehrt. Lernt von mir, der ich sanft und demütig von Herzen bin. Ihr werdet die Ruhe eurer Seelen finden; denn Sanftmut und Demut gewähren das Reich auf Erden und im Himmel. Ich habe euch schon gesagt, daß die wahren Sieger unter den Menschen jene sind, die mit Liebe erobern, und Liebe ist immer Sanftmut und Demut. Ich werde euch niemals auftragen, Dinge zu tun, die über eure Kräfte gehen, denn ich liebe euch und will euch bei mir in meinem Reich haben. Nehmt daher meine Grundsätze und meine Lehre an und bemüht euch, mir und dem, was meine Glaubenslehre euch sagt, ähnlich zu werden. Habt keine Angst, denn mein Joch ist süß und meine Bürde ist leicht, die Herrlichkeit aber, die ihr genießen werdet, wenn ihr mir treu bleibt, ohnegleichen. Unendlich und ewig...

Ich lasse euch nun eine Weile allein. Ich gehe mit dem Kind zum See. Es wird dort Freunde finden... Dann werden wir zusammen das Brot brechen. Komm, Joseph! Ich werde dich mit den Kindern bekanntmachen, die mich lieben.»

311. «DAS HERZ IST NICHT MEHR BESCHNITTEN»

Der gleiche Schauplatz wie bei der vorhergehenden Vision. Jesus verabschiedet sich von der Witwe, hat jedoch schon den kleinen Joseph an der Hand und sagt zur Frau: «Es wird niemand kommen vor meiner Rückkehr, außer einem Heiden. Doch wer auch kommen mag, halte ihn bis übermorgen auf und sage ihm, daß ich gewiß kommen werde.»

«Ich werde es sagen, Meister. Wenn Kranke kommen sollten, dann will ich sie beherbergen, wie du es mich gelehrt hast.»

«Auf Wiedersehen also, und der Friede sei mit euch! Komm, Manaen!»

Aus dieser kurzen Bemerkung entnehme ich, daß Kranke und Unglückliche Jesus in Chorazim aufgesucht haben und daß Jesus der Evangelisierung durch die Arbeit auch die durch das Wunder hinzugefügt hat. Und wenn Chorazim immer noch gleichgültig bleibt, ist dies ein Zeichen dafür, daß es sich um wilden und unkultivierbaren Boden handelt. Und dennoch geht Jesus durch die Stadt und grüßt jene, die ihn grüßen, als ob nichts vorgefallen wäre. Dann nimmt er das Gespräch mit Manaen wieder auf, der noch nicht weiß, ob er nach Machaerus abreisen oder eine Woche länger bleiben soll...

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Im Haus von Kapharnaum bereitet man sich unterdessen auf den Sabbat vor. Matthäus empfängt, noch etwas hinkend, die Gefährten, versorgt sie mit Wasser und frischem Obst und befragt sie über ihre Missionen.

Petrus rümpft die Nase, als er sieht, daß schon Pharisäer auf das Haus zuschlendern: «Sie wollen uns den Sabbat vergiften. Ich schlage vor, daß wir dem Meister entgegengehen und ihm sagen, daß er nach Bethsaida gehen soll, um diese zu enttäuschen.»

«Und meinst du, daß der Meister es tun würde?» fragt sein Bruder.

«Außerdem ist im unteren Raum der arme Unglückliche, der auf ihn wartet», bemerkt Matthäus.

«Man könnte ihn mit dem Boot nach Bethsaida bringen, und ich oder ein anderer könnte dem Meister entgegengehen», sagt Petrus.

«Ich hätte nichts dagegen ...» sagt Philippus, der seine Familie in Bethsaida hat und deshalb gerne dorthin gehen würde.

«Schaut, schaut! Die Wache ist heute durch Schriftgelehrte verstärkt worden. Laßt uns gehen, ohne Zeit zu verlieren. Ihr geht mit dem Kranken durch den Garten und verschwindet hinter dem Haus. Ich bringe das Boot zum "Feigenbrunnen", und Jakobus hilft mir dabei. Simon der Zelote und die Brüder Jesu gehen dem Meister entgegen.»

«Ich gehe nicht weg mit dem Besessenen», ruft Iskariot aus.

«Warum? Hast du Angst, daß Satan sich an dich hängt?»

«Beunruhige mich nicht, Simon des Jonas. Ich habe gesagt, daß ich nicht gehe, und ich gehe nicht!»

«So geh mit den Vettern Jesus entgegen.»

«Nein.»

«Los! Dann komm mit zum Boot.»

«Nein!»

«Aber was willst du denn? Du findest immer Hindernisse...»

«Ich will bleiben, wo ich bin: hier! Ich habe vor niemand Angst und laufe nicht davon. Außerdem wäre der Meister mit dieser Lösung nicht zufrieden. Es gäbe eine weitere vorwurfsvolle Predigt, und ich will sie nicht durch eure Schuld zu hören bekommen. Ihr könnt gehen. Ich bleibe hier und berichte ...»

«Auf keinen Fall! Entweder alle oder keiner», schreit Petrus.

«Dann also keiner, denn der Meister ist schon hier. Da kommt er», sagt der Zelote, der auf den Weg geschaut hatte, ernst.

Petrus murmelt unzufrieden in seinen Bart. Aber er geht mit den anderen Jesus entgegen. Nach den ersten Begrüßungen sagen sie ihm, daß ein Besessener, der blind und taub ist, seit vielen Stunden mit den Angehörigen auf seine Ankunft wartet.

Matthäus erklärt: «Er ist wie leblos. Er hat sich auf leere Säcke geworfen und sich dann nicht mehr bewegt. Die Angehörigen hoffen auf dich. Komm und erquicke dich; danach kannst du ihm helfen.»

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«Nein, ich gehe sofort zu ihm. Wo ist er?»

«Im unteren Raum beim Herd. Ich habe ihn mit den Angehörigen dorthin gebracht, denn es sind viele Pharisäer und Schriftgelehrte da, die auf der Lauer zu liegen scheinen.»

«Ja, es wäre besser, ihnen diese Befriedigung nicht zu geben», brummt Petrus.

«Ist Judas des Simon nicht da?» fragt Jesus.

«Er ist im Haus geblieben. Er muß immer das tun, was die anderen nicht tun», murrt Petrus wieder.

Jesus schaut ihn an, tadelt ihn aber nicht. Er eilt zum Haus und überläßt den Knaben Petrus, der ihn liebkost, aus seinem breiten Gürtel ein Pfeifchen zieht und sagt: «Eines für dich und das andere für meinen Sohn. Morgen abend werde ich dich zu ihm bringen. Ich habe sie mir von einem Hirten anfertigen lassen, dem ich von Jesus erzählt habe.»

Jesus geht in das Haus, grüßt Judas, der gerade damit beschäftigt ist, das Geschirr in Ordnung zu bringen, und geht dann direkt auf eine Art dunklen, niedrigen Vorratsschrank zu, der sich neben dem Ofen befindet.

«Laßt den Kranken herauskommen», befiehlt Jesus.

Ein Pharisäer, der nicht aus Kapharnaum ist, aber eine noch saurere Miene als die Pharisäer des Ortes macht, sagt: «Es ist kein Kranker, es ist ein Besessener!»

«Das ist stets eine Krankheit des Geistes...»

«Aber er kann weder sehen noch sprechen...»

«Es ist immer eine Krankheit des Geistes, die sich auf die Glieder und Organe ausdehnt. Hättest du mich ausreden lassen, so hättest du erfahren, daß ich dies sagen wollte. Auch das Fieber ist im Blut, wenn man krank ist; aber durch das Blut greift es bald diesen, bald jenen Teil des Körpers an.»

Der Pharisäer weiß nichts darauf zu entgegnen und schweigt.

Der Besessene wird vor Jesus geführt. Er bewegt sich nicht. Matthäus hat recht. Er wird vom Dämon stark behindert. Die Menge der Neugierigen nimmt ständig zu. Es ist unglaublich, wie die Leute, besonders in der Stunde einer Sensation, schnell zusammenlaufen an dem Ort, wo irgendetwas geschieht. Die Vornehmen von Kapharnaum sind nun da, und unter ihnen die vier Pharisäer; Jairus ist gekommen, und in einer Ecke, mit der Ausrede, die Ordnung zu überwachen, steht der römische Zenturio, und mit ihm Bürger von anderen Städten.

«Im Namen Gottes, verlasse die Augen und die Zunge dieses Menschen. Ich will es! Befreie dieses Geschöpf von dir! Es ist dir nicht erlaubt, es zu besitzen. Fahre aus!» ruft Jesus und streckt gebietend die Hände aus.

Das Wunder beginnt mit einem Wutausbruch des Dämons und endet mit einem Freudenschrei des Befreiten, der ruft: «Sohn Davids! Sohn Davids, Heiliger und König!»

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«Wie kann er denn wissen, wer es ist, der ihn geheilt hat?» fragt ein Schriftgelehrter.

«Aber das ist doch alles nur eine Komödie! Diese Leute werden bezahlt, damit sie dies tun!» sagt ein Pharisäer mit Achselzucken.

«Aber von wem, wenn es erlaubt ist zu fragen?» fragt Jairus.

«Auch von dir!»

«Und zu welchem Zweck?»

«Um Kapharnaum berühmt zu machen!»

«Setze deine Intelligenz nicht zu sehr herunter, indem du Dummheiten sagst, und beschmutze deine Zunge nicht mit Lügen. Du weißt, daß es nicht wahr ist, und solltest begreifen, daß du eine Dummheit sagst. Was hier geschehen ist, ist schon in vielen Teilen Israels geschehen. So ist also überall jemand, der bezahlt? Wahrlich, ich wußte nicht, daß das Volk in Israel so reich ist! Denn ihr, und mit euch alle Großen, zahlt ganz gewiß nicht dafür. Also zahlt das Volk, das allein den Meister liebt.»

«Du bist Synagogenvorsteher und liebst ihn. Dort ist Manaen. Und in Bethanien ist Lazarus des Theophilus. Das sind keine Plebejer.»

«Aber sie und ich sind ehrenhafte Menschen. Wir betrügen niemand in irgendeiner Weise. Und erst recht nicht in Sachen des Glaubens. Wir erlauben es uns nicht, weil wir Gott fürchten und begriffen haben, was Gott wohlgefällig ist: die Ehrlichkeit.»

Die Pharisäer wenden sich von Jairus ab und fallen über die Verwandten des Geheilten her: «Wer hat euch gesagt, daß ihr hierherkommen sollt?»

«Wer? Viele! Bereits Geheilte und Verwandte von Geheilten.»

«Aber was haben sie euch gegeben?»

«Gegeben? Die Zusicherung, daß er ihn heilen würde.»

«Aber war er wirklich krank?»

«O ihr arglistigen Menschen! Glaubt ihr denn, daß alles nur vorgetäuscht ist? Geht nach Gadara, wenn ihr uns nicht glaubt, und fragt nach dem Unglück der Familie Annas des Ismael.»

Die Leute von Kapharnaum fühlen sich beleidigt und regen sich auf, während die Galiläer aus der Umgebung Nazareths erklären: «Er ist doch der Sohn des Zimmermanns Joseph!»

Die Bürger von Kapharnaum, die an Jesus glauben, schreien: «Nein! Er ist das, was er selber sagt, und das, was der Geheilte von ihm gesagt hat: Sohn Gottes und Sohn Davids.»

«Aber steigert doch nicht noch die Schwärmerei des Volkes mit euren Behauptungen», sagt ein Schriftgelehrter verächtlich.

«Wer ist er denn eurer Meinung nach?»

«Ein Beelzebub!»

«Uh! Natternzungen! Ihr Lästerer! Ihr Besessenen! Ihr mit Blindheit des Herzens Geschlagenen! Unser Verderben. Auch die Freude am Messias

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möchtet ihr uns stehlen, he? Ihr Wucherer! Ihr Geizkragen!» Ein schönes Durcheinander!

Jesus, der sich in die Küche zurückgezogen hatte, um einen Schluck Wasser zu trinken, kehrt gerade rechtzeitig auf die Schwelle zurück, um noch einmal die bösartige und dumme Anklage der Pharisäer zu hören: «Er ist nichts anderes als ein Beelzebub, da die Dämonen ihm gehorchen. Sein Vater, der große Beelzebub, hilft ihm, und er vertreibt die Dämonen mit nichts anderem als mit Hilfe Beelzebubs, des Fürsten der Dämonen.»

Jesus steigt die zwei kleinen Stufen der Schwelle hinunter, schreitet aufrecht, ernst und ruhig vorwärts und bleibt vor der Gruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten stehen. Er schaut sie scharf an und sagt dann: «Auch auf Erden sehen wir, daß ein Reich, das in zwei sich bekämpfende Parteien geteilt ist, von innen her schwach wird und leicht von den Nachbarstaaten angegriffen, verwüstet und unterjocht werden kann, die es dann zu ihrem Sklaven machen. Auch auf der Erde sehen wir, daß eine in feindliche Parteien gespaltene Stadt keinen Wohlstand mehr aufweist. Und so ist es auch in einer Familie, deren Mitglieder durch den Haß voneinander getrennt sind; sie löst sich auf und zerbröckelt, ist zu nichts mehr nütze und wird zum Gespött der Mitbürger. Die Eintracht ist nicht nur Pflicht, sondern auch Klugheit. Denn sie erhält unabhängig, stark und liebend. Dies sollten die Patrioten, die Bürger und die Familienmitglieder bedenken, wenn sie sich, von der Selbstsucht getrieben, für Trennungen und Gewalttätigkeiten entscheiden, die immer gefährlich sind, da sie zum Verfall der Einigkeit führen und die gegenseitige Zuneigung zerstören.

Und diese Klugheit wenden jene an, die die Herren der Welt sind. Betrachtet Rom in seiner unleugbaren Macht, die uns so bedrückt. Es beherrscht die ganze Welt. Aber die Römer sind sich einig im gemeinsamen Wunsch und Willen, zu herrschen. Auch unter ihnen gibt es gewisse Gegensätze, Antipathien, Aufstände. Aber das tritt in den Hintergrund. Nach außen sind sie ein einziger Block, ohne Risse, ohne Beschädigungen. Alle wollen dasselbe, und sie erreichen es, weil sie es wollen. Und sie werden herrschen, solange sie gemeinsam dasselbe wollen.

Betrachtet dieses Beispiel des Zusammenhaltens aus Klugheit und denkt darüber nach: wenn diese Kinder der Welt so sind, wie wird dann erst Satan sein? Sie sind für uns Teufel. Aber ihre heidnische Dämonie ist nichts im Vergleich zur vollkommenen Dämonie Satans und seiner Dämonen. Dort, in jenem ewigen Reich, ohne Zeit, ohne Ende, grenzenlos in Verschlagenheit und Boshaftigkeit; dort, wo man sich freut, Gott und den Menschen schaden zu können, und wo das einzige bittere, schmerzliche Vergnügen darin besteht, Schaden zuzufügen, hat man mit verfluchter Vollkommenheit eine geistige Einmütigkeit erreicht im alleinigen Willen: zu schaden.

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Wenn ihr nun Zweifel über meine Macht erwecken und daran festhalten wollt, daß es Satan ist, der mir hilft, weil ich ein kleiner Beelzebub bin, gerät dann Satan nicht in Widerspruch mit sich selbst und seinen Dämonen, wenn ich diese aus ihrem Besitz vertreibe? Und wenn er mit sich selbst uneinig ist, wie kann dann sein Reich fortbestehen? Nein, so ist es nicht. Satan ist sehr schlau und schadet sich nicht selbst. Er will sein Reich in den Herzen ausbreiten und nicht das Gegenteil. Sein Leben besteht darin, zu stehlen, zu schaden, zu lügen, zu beleidigen und zu beunruhigen. Gott Seelen und den Menschen den Frieden zu stehlen. Den Geschöpfen des Vaters Schaden zuzufügen und ihm selbst Schmerz zu bereiten. Zu lügen, um irrezuführen. Zu beleidigen, um Spaß daran zu haben. Zu verwirren, weil er Unordnung ist. Er kann sich nicht ändern. Er ist ewig in seinem Wesen und seinen Methoden.

Doch, antwortet auf diese Frage: wenn ich die Dämonen im Namen Beelzebubs austreibe, in welchem Namen treiben eure Söhne sie aus? Wollt ihr behaupten, daß auch sie Beelzebub sind? Wenn ihr das sagt, werden sie euch Verleumder nennen. Und ist ihre Heiligkeit so groß, daß sie auf die Anklage nicht reagieren, dann verurteilt ihr euch selbst, denn ihr bekennt damit eure Überzeugung, daß es in Israel viele Dämonen gibt, und Gott wird euch richten im Namen der Söhne Israels, die als Dämonen angeklagt wurden. Von wem auch immer das Urteil stammen mag, sie werden schließlich eure Richter sein, dort, wo das Urteil nicht mehr durch menschlichen Druck zustande kommt.

Wenn ich jedoch, wie es der Wahrheit entspricht, die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist dies der Beweis dafür, daß das Reich Gottes und der König dieses Reiches gekommen sind. Dieser König hat eine solche Macht, daß keine andere Macht seinem Reich widerstehen kann. Daher binde und zwinge ich die Räuber der Kinder meines Reiches, die von ihnen besetzten Orte zu verlassen und mir ihre Beute zurückzugeben, damit ich davon Besitz ergreifen kann. Macht es vielleicht nicht auch jener so, der in ein Haus, das ein Starker bewohnt, eindringen will, um ihm seine Habe wegzunehmen (ob diese nun auf gerechte oder ungerechte Weise erworben worden ist)? Er macht es so. Er geht hinein und fesselt ihn. Und wenn er das getan hat, kann er das Haus ausräumen. Ich binde den Engel der Finsternis, der sich angeeignet hat, was mein ist, und ich nehme ihm das Gut, das er mir geraubt hat. Und nur ich allein kann dies tun, denn ich allein bin der Starke, der Vater künftiger Zeiten, der Friedensfürst.»

«Erkläre uns, was das bedeutet: "Der Vater der künftigen Zeiten." Glaubst du denn, daß du bis zu den kommenden Zeitaltern leben wirst, und glaubst du, was noch törichter ist, daß du die Zeit erschaffen kannst, du armer Mensch? Die Zeit gehört Gott!» fragt ein Schriftgelehrter.

«Und du, Schriftgelehrter, fragst mich das? Weißt du denn nicht, daß

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ein Zeitalter kommt, das zwar einen Anfang, aber kein Ende haben und mir gehören wird? In diesem werde ich triumphieren und alle jene um mich versammeln, die dessen würdig sind; und sie werden ewig leben, wie dieses Zeitalter ewig sein wird, das ich erschaffen werde und mit dessen Erschaffung ich schon begonnen habe, indem ich den Geist über das Fleisch, die Welt und die Unterwelt setze, die ich zurückstoße, weil ich alles kann.

Deswegen sage ich euch, wer nicht für mich ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Denn ich bin der, der ich bin. Und wer nicht an das glaubt, was schon prophezeit worden ist, sündigt gegen den Heiligen Geist, dessen Wort, das weder Lüge noch Irrtum ist und ohne Widerstand geglaubt werden muß, die Propheten verkündet haben.

Denn ich sage euch: alles wird dem Menschen verziehen werden, jede seiner Sünden und Gotteslästerungen; denn Gott weiß, daß der Mensch nicht nur Geist, sondern auch Fleisch ist, und zwar ein Fleisch, das versucht wird und plötzlichen Schwächen unterliegt. Aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht verziehen werden. Wer gegen den Menschensohn gesprochen hat, dem wird noch verziehen werden, denn die Last des Fleisches, das mich und den Menschen umhüllt, der gegen mich spricht, kann noch zum Irrtum führen. Aber wer gegen den Heiligen Geist gesprochen hat, dem wird nicht verziehen werden, weder in diesem noch im zukünftigen Leben; denn die Wahrheit ist klar, heilig, unleugbar und dem Geist eingeprägt in einer Weise, die nicht zum Irrtum führen kann. Jene, die ausdrücklich den Irrtum wollen, täuschen sich. Die vom Heiligen Geist gesprochene Wahrheit leugnen heißt, das Wort Gottes und die Liebe, die dieses Wort aus Liebe zu den Menschen geschenkt hat, leugnen. Und die Sünde gegen die Liebe wird nicht verziehen.

Jeder bringt die Früchte seiner Pflanze. Ihr bringt die eurigen, und es sind keine guten Früchte. Habt ihr einen guten Baum in den Obstgarten gepflanzt, wird er gute Früchte tragen; habt ihr aber einen schlechten Baum, dann wird auch die Frucht, die ihr von ihm pflückt, schlecht sein, und alle werden sagen: "Dieser Baum ist nicht gut." Denn an der Frucht erkennt man den Baum.

Und wie glaubt ihr, gut sprechen zu können, ihr, die ihr böse seid? Denn der Mund redet von dem, wovon das Herz voll ist. Und vom Überfluß dessen, was wir in uns haben, leiten wir unsere Handlungen und Reden ab. Der gute Mensch zieht aus seinem guten Schatz gute Dinge hervor, der Böse aus seinem bösen Schatz schlechte Dinge. Und er redet und handelt seinem Innersten gemäß.

Wahrlich ich sage euch, der Müßiggang ist schlecht. Aber besser ist es, müßig zu sein, als böse Dinge zu tun. Und ich sage euch auch, es ist besser zu schweigen als unnütze und böswillige Reden zu führen. Auch wenn Schweigen Müßiggang sein kann, so schweigt eher, als daß ihr mit der

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Zunge sündigt. Ich versichere euch, am Tag des Gerichtes wird über jedes unnötig gesprochene Wort Rechenschaft gefordert werden. Nach den gesprochenen Worten werden die Menschen gerechtfertigt oder verurteilt. Seid daher vorsichtig, ihr, die ihr euch nicht darauf beschränkt, müßig zu sein, sondern Böses tut, um die Herzen von der Wahrheit zu entfernen, die zu euch spricht.»

Die Pharisäer beraten sich mit den Schriftgelehrten, und dann heucheln sie alle zusammen Höflichkeit und fragen: «Meister, man glaubt leichter an das, was man sieht. Gib uns daher ein Zeichen, damit wir glauben können, daß du der bist, der zu sein du vorgibst.»

«Ihr seht, daß in euch die Sünde gegen den Heiligen Geist ist, der mich mehrmals als das menschgewordene Wort prophezeit hat? Als das Wort und den Erlöser, der zur bestimmten Zeit gekommen ist, angekündigt und gefolgt von prophetischen Zeichen, und der das wirkt, was der Geist sagt.»

Sie antworten: «An den Geist glauben wir; aber wie können wir dir glauben, wenn wir nicht mit unseren Augen ein Zeichen sehen?»

«Wie könnt ihr denn an den Geist glauben, dessen Wirken geistig ist, wenn ihr nicht an mein Wirken glaubt, das euren Augen sichtbar ist? Mein Leben ist voll von Zeichen. Genügt es noch nicht? Nein! Ich selbst antworte: nein, es genügt noch nicht. Diesem ehebrecherischen und bösen Geschlechte, das ein Zeichen verlangt, wird nur ein Zeichen gegeben werden: das des Propheten Jonas. So wie Jonas drei Tage im Bauch des Walfisches war, so wird der Menschensohn drei Tage im Schoß der Erde sein. In Wahrheit sage ich euch, die Niniviten werden am Tag des Gerichtes wie alle Menschen auferstehen, und sie werden sich gegen dieses Geschlecht erheben und es verurteilen. Denn sie taten Buße nach der Predigt des Jonas, ihr aber nicht. Und hier ist einer, der mehr ist als Jonas. Die Königin des Südens wird auferstehen und sich erheben gegen euch, und sie wird euch verdammen, denn sie kam von den äußersten Enden der Erde, um die Wahrheit Salomons zu vernehmen. Und hier ist einer, der mehr ist als Salomon.»

«Warum sagst du, daß dieses Geschlecht ehebrecherisch und schlecht sei? Es wird nicht schlimmer sein als die anderen. In ihm gibt es ebenso Heilige, wie es sie bei den anderen gegeben hat. Die Gesellschaft Israels hat sich nicht verändert. Du beleidigst uns.»

«Ihr beleidigt euch selbst, indem ihr euren Seelen schadet und sie von der Wahrheit entfernt und damit von der Erlösung. Ich antworte euch dennoch. Dieses Geschlecht ist nur äußerlich und in seiner Bekleidung heilig, innerlich ist es nicht heilig. Es gibt in Israel die gleichen Wörter, um die gleichen Dinge zu bezeichnen. Aber das entspricht nicht der Wirklichkeit der Dinge. Es gibt die gleichen Gebräuche, Gewänder und Riten. Doch es fehlt ihnen der Geist. Ihr seid ehebrecherisch, weil ihr die übernatürliche

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Ehe mit dem göttlichen Gesetz verworfen und in zweiter, ehebrecherischer Vereinigung den Bund mit dem Gesetz Satans geschlossen habt. Ihr seid nur an einem hinfälligen Glied beschnitten. Das Herz ist nicht beschnitten. Und böse seid ihr, weil ihr euch verkauft habt an den Bösen. Ich habe gesprochen.»

«Du beleidigst uns allzusehr. Wenn es aber so ist, warum befreist du Israel nicht vom Dämon, damit es heilig werde?»

«Will Israel das denn? Nein! Die Armen, die kommen, wollen vom Dämon erlöst werden, den sie in sich fühlen wie eine Last und eine Schande. Ihr fühlt ihn nicht. Und es ist unnötig, euch davon zu befreien, denn da ihr nicht den Willen habt, befreit zu werden, würdet ihr sogleich wieder und in noch stärkerem Maß von ihm erfaßt werden. Denn wenn ein unreiner Geist einen Menschen verlassen hat, dann treibt er sich in öden Gegenden herum und sucht nach Ruhe, findet sie aber nicht. Nicht materiell öde Gegenden, versteht ihr! Öde, weil sie ihm feindlich gesinnt sind und ihn nicht aufnehmen, wie die trockene Erde den Samen nicht aufnimmt. Da sagt er sich: "Ich will in mein Haus zurückkehren, aus dem ich gegen meinen Willen vertrieben worden bin. Ich bin gewiß, daß es mich aufnehmen und mir eine Ruhestätte gewähren wird."

So kehrt er zurück zu dem, der sein war, und oft findet er ihn bereit, ihn aufzunehmen; denn wahrlich, ich sage euch, der Mensch hat mehr Heimweh nach Satan als nach Gott, und wenn Satan ihm keine körperliche Krankheit bringt, wird er sich über keine andere Art der Besitzergreifung beklagen. Der Dämon kehrt also zurück und findet das Haus leer, ausgefegt, geschmückt und nach Sauberkeit duftend vor. Da geht er noch sieben andere Dämonen holen, denn er will es nun nicht mehr verlieren, und mit diesen sieben Dämonen, die schlimmer sind als er, kehrt er zurück, und alle richten sich ein. Dieser zweite Zustand eines Bekehrten, der rückfällig wird, ist schlimmer als der erste. Denn der Dämon weiß, wie sehr dieser Mensch Liebhaber Satans und Gott undankbar ist, und Gott kehrt nicht dorthin zurück, wo man seine Gnaden mit Füßen tritt. Ein Rückfall in die Fänge Satans ist schlimmer als ein Rückfall in eine schon einmal geheilte tödliche Schwindsucht. Eine Besserung oder Heilung ist ausgeschlossen. So wird es auch dieser Generation ergehen, die, vom Täufer bekehrt, wieder Sünderin sein wollte, da sie den Bösen liebt und nicht mich.»

Ein Gemurmel, das weder Billigung noch Protest ausdrückt, geht durch die Menschenmenge, die nun schon so zahlreich ist, daß sie sogar auf der Straße außerhalb des Gartens steht. Viele Menschen sitzen auf der Mauer, auf dem Feigenbaum des Gartens und auf den Bäumen der Nachbargärten; denn alle wollen den Disput zwischen Jesus und seinen Feinden hören. Das Gemurmel geht, wie eine Welle, die sich zum Strand wälzt, von Mund zu Mund bis zu den Aposteln, die Jesus am nächsten

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stehen. Es sind Petrus, Johannes, der Zelote und die Söhne des Alphäus; denn die anderen befinden sich teils auf der Terrasse, teils in der Küche. Nur Judas Iskariot hat sich unter die Menschen auf der Straße gemischt.

Und Petrus, Johannes, der Zelote und die Söhne des Alphäus greifen dieses Gemurmel auf und sagen zu Jesus: «Meister, deine Mutter und deine Brüder sind da. Sie sind auf der Straße und suchen dich, denn sie möchten mit dir reden. Gebiete den Leuten, Platz zu machen, damit sie zu dir gelangen können; denn sicher hat sie ein triftiger Grund veranlaßt, dich hier aufzusuchen.»

Jesus hebt das Haupt und sieht hinter der Menschenmenge das angsterfüllte Antlitz seiner Mutter, die gegen die Tränen ankämpft, während Joseph des Alphäus aufgeregt mit ihr spricht; er sieht, wie sie trotz des Drängens von Joseph immer wieder energisch Zeichen der Verneinung macht. Er sieht auch das verlegene Gesicht Simons, der sichtlich betrübt und angeekelt ist ... Aber Jesus lächelt nicht und gebietet nichts. Er läßt die Betrübte in ihrem Schmerz und die Vettern dort, wo sie sind.

Er richtet die Augen auf die Volksmenge, und indem er den Aposteln in seiner Nähe antwortet, antwortet er auch den weiter entfernt Stehenden, die versuchen, der Blutsverwandtschaft Vorrang gegenüber der Pflicht zu verschaffen.

«Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?»

Er läßt seinen Blick über die Menge schweifen, mit ernstem, bleichem Gesicht wegen der Gewalt, die er sich antun muß, um die Pflicht über die Gefühle und das Blut zu stellen, um seine Bindung an die Mutter zu verleugnen, um dem Vater zu dienen, und sagt, indem er mit einer ausladenden Geste auf die Menge weist, die sich im roten Schein der Fackeln und im silbernen Mondlicht um ihn drängt: «Hier ist meine Mutter, hier sind meine Brüder. Jene, die den Willen Gottes tun, sind meine Brüder, meine Schwestern und meine Mutter. Andere habe ich nicht. Auch die Meinen werden es sein, wenn sie als erste und mit größerer Vollkommenheit als die anderen den Willen Gottes erfüllen bis zur gänzlichen Aufopferung jedes anderen Willens oder der Stimme des Blutes und der Zuneigung.»

Das Stimmengewirr in der Menge wird lauter, wie ein von einem plötzlichen Wind gepeitschtes Meer.

Die Schriftgelehrten beginnen zu fliehen und sagen: «Er ist ein Dämon! Er verleugnet sogar sein eigenes Blut!»

Die Verwandten drängen sich vor und rufen: «Er ist wahnsinnig! Er quält sogar seine Mutter!»

Die Apostel sagen: «Wahrlich, in diesen Worten liegt sein ganzer Heroismus.»

Die Menge sagt: «Wie sehr er uns liebt!»

Mit Mühe bahnen sich Maria, Simon und Joseph einen Weg durch die

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Menge. Maria ist ganz Sanftmut, Joseph ganz Wut, Simon ganz verlegen. Sie gelangen zu Jesus.

Und Joseph stellt ihn sofort zur Rede: «Bist du wahnsinnig? Du beleidigst alle. Du hast nicht einmal Respekt vor deiner Mutter. Aber nun bin ich hier und will es dir verwehren. Ist es wahr, daß du als Arbeiter da- und dorthin ziehst? Wenn dies wahr ist, warum arbeitest du nicht in deiner Werkstatt, um deine Mutter zu ernähren? Warum lügst du und sagst, daß deine Arbeit die Verkündigung ist, du Müßiggänger und undankbarer Mensch, wenn du doch zur Lohnarbeit in ein fremdes Haus gehst? Wahrlich, du scheinst von einem Dämon besessen zu sein, der dich verführt. Antworte!»

Jesus wendet sich um und nimmt den Knaben Joseph bei der Hand, zieht ihn zu sich, greift ihm unter die Achseln, hebt ihn hoch und sagt: «Meine Arbeit war, dieses hungrige Kind und seine Angehörigen zu ernähren und sie davon zu überzeugen, daß Gott gut ist. In Chorazim habe ich auf diese Weise Liebe und Demut gepredigt. Und nicht nur in Chorazim. Das gilt auch für dich, Joseph, ungerechter Bruder. Aber ich verzeihe dir, denn ich weiß dich von den Zähnen der Schlange gebissen. Und ich verzeihe auch dir, Simon, der du wankelmütig bist. Meiner Mutter habe ich nichts zu verzeihen, noch hat sie mir etwas zu verzeihen, denn sie richtet mit Gerechtigkeit. Die Welt kann tun, was sie will. Ich tue, was Gott will! Und mit dem Segen des Vaters und meiner Mutter bin ich glücklicher, als wenn mich die ganze Welt auf weltliche Art als ihren König ausrufen würde. Komm, Mutter. Weine nicht! Sie wissen nicht, was sie tun. Verzeihe ihnen.»

«Oh, mein Sohn! Ich weiß. Du weißt. Es gibt nichts weiter hinzuzufügen...»

«Es gibt nichts weiter zu tun, als den Menschen zu sagen: Geht hin in Frieden!»

Und Jesus segnet die Menge und begibt sich dann, an der rechten Hand Maria und an der linken Hand das Kind führend, zur Treppe und steigt als erster hinauf.

312. DER TOD JOHANNES DES TÄUFERS

Jesus heilt soeben Kranke; nur Manaen ist bei ihm. Sie sind in dieser Morgenstunde im Haus von Kapharnaum, im schattigen Garten. Manaen trägt nicht mehr den kostbaren Gürtel noch die Goldplatte an seiner Stirne. Das Gewand wird von einer Wollkordel und die Kopfbedeckung von einem gewobenen Band gehalten. Jesu Haupt ist unbedeckt, wie üblich, wenn er sich im Haus aufhält.

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Nach Heilung und Tröstung der Kranken steigt Jesus mit Manaen in den oberen Raum hinauf. Sie setzen sich beide auf das Fensterbrett auf der Seite zum Gebirge, denn die Seeseite ist ganz von der Sonne beschienen, die noch immer sehr heiß brennt, obwohl die Hundstage schon längst vorüber sein müßten.

«Bald beginnt die Weinlese», sagt Manaen.

«Ja. Dann wird das Laubhüttenfest folgen... und bald wird der Winter da sein. Wann gedenkst du abzureisen?»

«Hin! ... Ich würde nie abreisen... Aber ich denke an den Täufer. Herodes ist ein Schwächling. Wenn man einen guten Einfluß auf ihn ausübt, wird er zwar nicht gut... aber wenigstens nicht blutdürstig. Doch es gibt nur wenige, die ihn gut beraten. Und dieses Weib! ... Dieses Weib! ... Ich möchte hierbleiben, bis die Apostel zurückkehren. Ich bilde mir nichts ein... doch etwas zähle ich noch... obgleich mein Ansehen sich sehr verringert hat, seit sie begriffen haben, daß ich die Wege des Guten wandle. Doch das macht mir nichts aus. Ich möchte den wahren Mut haben, alles zu verlassen, um dir vollkommen nachfolgen zu können wie die Jünger, die du erwartest. Aber werde ich es wohl je fertigbringen? Uns, die wir nicht aus dem Volk stammen, fällt es schwerer, dir zu folgen. Warum nur?»

«Weil ihr an die armen Reichtümer gefesselt seid, die euch zurückhalten.»

«Ich kenne jedoch auch einige, die nicht eigentlich reich, dafür aber gelehrt sind, oder auf dem Weg, es zu werden; auch sie kommen nicht!»

«Auch sie haben die Fangarme der armseligen Reichtümer, die sie zurückhalten. Man ist nicht nur reich, wenn man Geld hat. Es gibt auch den Reichtum des Wissens. Nur wenige begreifen das Bekenntnis Salomons: "O Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit." Kohelet hat es wiederholt und erweitert, nicht so sehr dem Umfang, sondern vielmehr dem tiefen Sinn nach. Erinnerst du dich? Die menschliche Wissenschaft ist Eitelkeit, denn sie vermehrt nur das menschliche Wissen und ist "Angst und Betrübnis des Geistes, und wer die Wissenschaft vermehrt, vermehrt auch die Ängste." Wahrlich, ich sage dir, so ist es! Und ich sage dir auch, daß es nicht so wäre, wenn die menschliche Wissenschaft gestützt und gezügelt würde durch die übernatürliche Weisheit und die heilige Liebe Gottes. Der Genuß ist Eitelkeit, weil er nicht andauert, sondern schnell vergeht und nach dem Aufflackern Asche und Leere hinterläßt.

Die unter allen möglichen Anstrengungen angehäuften Güter sind Eitelkeit für den Menschen, der sterben und sie anderen hinterlassen muß und mit seinen Gütern den Tod nicht fernhalten kann. Die Frau, in der nur das Weibliche betrachtet und begehrt wird, ist Eitelkeit. Daraus kann man schließen, daß das einzige, das nicht Eitelkeit ist, in der heiligen Furcht Gottes und dem Gehorsam seinen Geboten gegenüber besteht;

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also in der Weisheit des Menschen, der nicht nur Fleisch ist, sondern auch eine zweite Natur besitzt: die geistige. Wer so zu entscheiden und zu wollen versteht, weiß sich loszulösen von allen Fallstricken armseligen Besitzes um unbeschwert der Sonne entgegenzugehen.»

«Ich will mir diese Worte gut merken. Wieviel hast du mir in diesen Tagen gegeben! Jetzt kann ich wieder den Tändeleien des Hofes entgegengehen, der nur den Törichten glanzvoll, mächtig und frei erscheint, während er in Wirklichkeit nichts anderes ist als Elend, Kerker und Finsternis. Ich will zurückkehren mit einem Schatz, der es mir erlauben wird, in Erwartung des Besseren besser zu leben. Aber werde ich je dieses Bessere erreichen, das darin besteht, dir ganz anzugehören ?»

«Du wirst es erreichen!»

«Wann? Im kommenden Jahre? Oder später? Oder wenn das Alter mich weise gemacht hat?»

«Du wirst dorthin gelangen, wenn du im Lauf von wenigen Stunden die Reife des Geistes und die Vollkommenheit des Wollens erreichen wirst.»

Manaen betrachtet ihn nachdenklich und forschend... Doch er fragt nicht weiter.

Es folgt ein Schweigen. Dann sagt Jesus: «Bist du schon Lazarus von Bethanien begegnet?»

«Nein, Meister! Ich kann sagen, nein. Denn wenn eine Begegnung stattgefunden hat, so ist daraus keine Freundschaft entsprungen. Weißt du... Ich bin bei Herodes, und Herodes ist gegen ihn... Deshalb ...»

«Lazarus würde dich jetzt über den Dingen sehen, in Gott. Du mußt versuchen, dich ihm als Mitjünger zu nähern.»

«Ich will es tun, wenn du es willst.»

Vom Garten dringen aufgeregte Stimmen herauf. Sie fragen ängstlich: «Der Meister! Der Meister! Ist er hier?»

Die singende Stimme der Herrin des Hauses antwortet: «Im oberen Saal ist er. Wer seid ihr? Kranke?»

«Nein, Jünger des Johannes; wir wollen zu Jesus von Nazareth.»

Jesus schaut aus dem Fenster und sagt: «Der Friede sei mit euch! Oh, ihr seid es! Kommt, kommt!»

Es sind die drei Hirten Johannes, Matthias und Simeon. «Oh, Meister!» sagen sie und schauen mit schmerzerfüllten Gesichtern nach oben. Nicht einmal der Anblick Jesu kann sie aufheitern.

Jesus verläßt den Raum, um ihnen auf der Terrasse entgegenzugehen. Manaen folgt ihm. Sie begegnen sich gerade dort, wo die Treppe auf der sonnigen Terrasse endet.

Die drei knien nieder und küssen den Boden. Dann sagt Johannes für alle: «Nun nimm du uns auf, Herr, denn wir sind deine Erbschaft.» Tränen rinnen über das Gesicht des Jüngers und über die Gesichter seiner Begleiter.

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Jesus und Manaen rufen gleichzeitig aus: «Johannes?»

«Er ist getötet worden ...»

Das Wort fällt wie ein mächtiges Getöse, das jedes Geräusch auf Erden übertönt. Und doch ist es sehr leise gesagt worden. Aber es versteinert den, der es ausspricht, und den, der es hört. Es scheint, daß die Erde, um es aufzunehmen und zu bewältigen, jeden anderen Laut unterdrückt. Es scheint, daß die Erde all ihre Geräusche verstummen läßt, um in schauernder Erregung zu horchen, so tief ist die herrschende Stille und die völlige Reglosigkeit der Tiere in den Gewässern und in der Luft. Das Gurren der Tauben, das Flöten der Amsel und die Chöre der Sperlinge sind verstummt, eine zirpende Grille schweigt plötzlich, wie von einem Hammerschlag getroffen, und auch der Wind, der mit dem Weinlaub und den Blättern gespielt und ihnen ein leises Seidenrauschen entlockt hatte, steht still.

Jesus wird bleich wie Elfenbein, während seine Augen sich weiten und mit glänzenden Tränen füllen. Er breitet die Arme aus und sagt mühsam mit tiefer Stimme: «Friede dem Märtyrer der Gerechtigkeit und meinem Vorläufer!» Dann verschränkt er die Arme, sammelt sich im Geist -gewiß betet er – und vereinigt sich mit dem Geist Gottes und des Täufers.

Manaen wagt nicht, sich zu rühren. Im Gegensatz zu Jesus ist er sichtlich errötet, als befinde er sich kurz vor einem Zornausbruch. Darin ist er wie erstarrt, und die mechanische Bewegung der Rechten, die den Gürtel seines Gewandes erfaßt, und der Linken, die unbewußt nach dem Dolch sucht, verrät seine Verwirrung... Manaen schüttelt den Kopf im Bedauern über seine Vergeßlichkeit, da er sich nicht daran erinnert hat, daß er waffenlos ist, um "der Jünger des Sanftmütigen in der Nähe des Sanften" zu sein.

Jesus öffnet wieder Mund und Augen. Sein Antlitz, sein Blick und seine Stimme haben wieder den Ausdruck göttlicher Majestät, den man bei ihm für üblich hält. Es bleibt nur eine große, von Frieden gemäßigte Traurigkeit zurück.

«Kommt und berichtet mir! Von heute an seid ihr die Meinen.»

Er geleitet sie ins Zimmer, schließt die Türe, zieht die Vorhänge zu, um sich angesichts des Schmerzes und der Schönheit des Todes des Täufers zu sammeln und eine Trennung zu vollziehen zwischen der Vollkommenheit dieses Lebens und der verdorbenen Welt.

«Sprecht!» gebietet er.

Manaen scheint immer noch wie versteinert zu sein. Er ist nahe bei der Gruppe. Doch er sagt kein Wort.

«Es war am Abend des Festes... Ein unvorhergesehenes Ereignis... Nur zwei Stunden zuvor hatte Herodes sich mit Johannes beraten und sich von ihm wohlwollend verabschiedet... Und ganz kurz bevor es geschehen ist... der Mord, das Martyrium, das Verbrechen, die Verherrlichung, hatte er

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einen Diener mit gekühlten Früchten und erlesenen Weinen zu dem Gefangenen entsandt. Johannes hat diese Dinge unter uns verteilt... Er hat nie von seiner Strenge abgelassen... Wir waren allein bei ihm... denn Manaen hatte dafür gesorgt, daß wir als Küchendiener und Stallknechte im Palast arbeiten konnten. Es war eine Gnade, die uns erlaubte, zu jeder Zeit unseren Johannes sehen zu können... Wir waren in den Küchen, ich und Johannes, während Simeon die Stallknechte überwachte, damit sie die Pferde der Gäste gut betreuten... Der Palast war voll von Offizieren und hohen Herren aus Galiläa. Herodias hatte sich nach einem heftigen Streit am Morgen mit Herodes in ihre Gemächer eingeschlossen...»

Manaen unterbricht ihn: «Aber wann ist diese Hyäne gekommen?»

«Zwei Tage zuvor. Ganz unvermutet... Sie sagte dem Monarchen, sie könne nicht länger ohne ihn leben und wolle an seinem Festtag anwesend sein. Schlange und Zauberin wie immer, hat sie ihn zu ihrem Spielball gemacht... Aber Herodes hatte sich am Morgen dieses Tages, obschon trunken von Wein und Wollust, geweigert, dem Weib zu gewähren, was es mit lautem Geschrei verlangte. Und niemand ahnte, daß es sich um das Leben des Johannes handelte...

Sie hatte sich beleidigt in ihre Gemächer zurückgezogen. Sie hatte die königliche Speise verschmäht, die ihr Herodes auf einem kostbaren Tablett gesandt hatte. Sie behielt nur eine erlesene Schale voll Früchte zurück und sandte Herodes dafür einen Krug Wein, der mit Drogen vermischt war. Das genügte, um seine trunksüchtige und lasterhafte Natur zum Verbrechen zu verleiten!

Von den Tafeldienern erfuhren wir, daß nach dem Tanz der Hofschauspielerinnen, oder vielmehr während desselben, auch Salome tanzend im Festsaal erschienen war. Und die Schauspielerinnen hatten sich vor der Königstochter an die Wand zurückgezogen. Der Tanz war vollkommen, haben sie uns gesagt, anstößig und vollkommen. Der Gäste würdig... Herodes ... Vielleicht hat er neuen Geschmack an seiner Blutschande gefunden ... Am Schluß dieses Tanzes sagte er voller Begeisterung zu Salome: "Du hast gut getanzt! Ich schwöre dir, daß du dafür eine Belohnung erhältst. Ich schwöre dir, daß ich dir alles geben werde, um was du mich bittest. In Gegenwart aller schwöre ich es dir. Es ist das Wort des Königs und gilt selbst ohne Schwüre. Verlange also, was du willst."

Und Salome, die nun Verwirrung, Unschuld und Bescheidenheit vortäuschte, hüllte sich nach so viel Schamlosigkeit mit keuscher Gebärde in ihre Schleier und sagte: "Erlaube mir, o Großer, daß ich einen Augenblick nachdenke. Ich will mich zurückziehen und wiederkommen, denn deine große Gunst hat mich verwirrt"; und sie zog sich zurück, um zu ihrer Mutter zu gehen.

Selma hat mir berichtet, daß sie lachend zurückgekommen sei und gesagt habe: "Mutter, du hast gesiegt! Gib mir die Schale." Und Herodias

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befahl der Sklavin mit einem Ausruf des Triumphes, dem Mädchen die zurückbehaltene Schale zu übergeben und sagte: "Geh und kehre mit dem verhaßten Kopf zurück, und ich will dich in Perlen und Gold kleiden." Selma hat voller Entsetzen gehorcht.

Salome kam tanzend in den Saal zurück, und tanzend kniete sie zu Füßen des Königs nieder und sagte: "Hier bin ich! Auf dieser Schale, die du meiner Mutter gesandt hast als Unterpfand, daß du sie liebst und mich liebst, will ich das Haupt des Johannes erhalten. Dann werde ich nochmals tanzen, wenn es dir gefällt. Ich werde den Tanz des Sieges tanzen, denn ich habe gesiegt. Ich habe dich besiegt, König! Ich habe das Leben besiegt, ich bin glücklich!» Das sagte sie, und uns teilte es ein befreundeter Mundschenk mit.

Herodes fühlte sich zwischen zwei Wünschen hin- und hergerissen: er wollte einerseits seinem Wort treu und andererseits gerecht sein. Doch er verstand es nicht, gerecht zu sein, da er ein Ungerechter ist. Er gab dem Henker, der hinter dem Königsthron stand, ein Zeichen, und dieser nahm die Schüssel aus den Händen Salomes und verließ den Saal des Gastmahls und begab sich zu den unteren Gemächern. Wir sahen ihn den Hof überqueren, ich und Johannes; und kurz darauf hörten wir den Schrei Simeons: "Mörder!" Und dann sahen wir ihn mit dem Haupt in der Schale zurückkommen... Johannes, dein Vorläufer, war tot ...»

«Simeon, kannst du mir sagen, wie er gestorben ist?» fragt Jesus nach einer Weile.

«Ja. Er betete... Er hatte mir zuvor gesagt: "Bald werden die beiden Abgesandten zurückkehren, und wer nicht glaubt, wird glauben. Aber denke daran, wenn ich bei ihrer Rückkehr nicht mehr leben sollte, sage ihnen, was ich, einer, der dem Tod nahe ist, noch einmal zu dir sage, damit du es ihnen sagst: Jesus von Nazareth ist der wahre Messias!" Er dachte immer an dich... Der Henker trat ein... Ich schrie laut. Johannes erhob das Haupt und sah ihn. Er stand auf und sagte: "Nur das Leben kannst du mir nehmen. Aber die Wahrheit bleibt und daß es nicht statthaft ist, Böses zu tun." Er wollte mir gerade noch etwas sagen, als der Henker das große, schwere Schwert schwang. Johannes stand noch auf seinen Füßen, als das Haupt von seinem Rumpf fiel mit einem großen Blutstrahl, der seine behaarte Haut rötete und sein mageres Gesicht, in dem die Augen wie Ankläger offen und lebendig blieben, wachsbleich werden ließ. Das Haupt rollte mir zu Füßen... Zusammen mit seinem Körper fiel ich aus Schwäche und Schmerz zu Boden... Dann... Dann... nachdem Herodias das Haupt mißhandelt hatte, wurde es den Hunden vorgeworfen. Doch wir standen schon bereit, es aufzuheben, hüllten es in einen kostbaren Schleier und fügten es dem Rumpf wieder an. Wir verließen mit dem Leichnam bei Nacht Machaerus und balsamierten ihn dann bei Sonnenaufgang mit Hilfe anderer Jünger im Grün eines

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Akaziengebüsches ein. Doch er wurde uns für weitere Entstellungen entrissen... Denn sie kann ihn nicht vernichten und kann ihm nicht verzeihen... Und ihre Sklaven waren aus Furcht vor dem Tod wilder als Schakale und rissen ihm das Haupt ab. Wenn du nur dort gewesen wärest, Manaen...»

«Wenn ich dort gewesen wäre... Aber dieses Haupt wird ihr Fluch sein. Die Herrlichkeit des Vorläufers wird um nichts vermindert, auch wenn sein Körper unvollständig ist. Nicht wahr, Meister?»

«Das ist wahr! Auch wenn die Hunde ihn vernichtet hätten, es hätte nichts an seiner Herrlichkeit geändert.»

«Und das Wort bleibt unverändert, Meister. Seine Augen, obwohl verunstaltet durch eine große Wunde, sagen immer noch: "Es ist dir nicht erlaubt." Doch wir haben ihn verloren!» sagt Matthias.

«Jetzt gehören wir dir, denn so hat er gesagt und uns auch versichert, daß du es schon weißt.»

«Ja! Seit Monaten schon gehört ihr mir. Wie seid ihr gekommen?»

«Zu Fuß, in Etappen. Ein langer, beschwerlicher Weg war es auf heißem Sand, unter glühender Sonne und von Schmerz gequält. Ungefähr zwanzig Tage sind wir unterwegs gewesen...»

«Jetzt werdet ihr euch ausruhen!»

Manaen fragt: «Sagt mir, war Herodes nicht erstaunt über meine Abwesenheit ?»

«Ja. Zuerst war er beunruhigt, dann wurde er wütend. Aber nachdem der Wutanfall vorüber war, sagte er: "Ein Richter weniger!" So hat es uns der befreundete Mundschenk berichtet.»

Jesus fügt hinzu: «Ein Richter weniger! Er hat Gott als Richter und das genügt. Kommt hierher, wo wir schlafen. Ihr seid müde und mit Staub bedeckt. Ihr werdet hier Kleider und Sandalen eurer Gefährten finden. Nehmt sie und erfrischt euch. Was dem einen gehört, gehört allen. Du, Matthias, der du groß bist, kannst eines von meinen Kleidern nehmen. Dann werden wir sehen. Gegen Abend, denn es ist der Vorabend des Sabbats, werden meine Apostel zurückkommen. In der nächsten Woche wird Isaak mit den Jüngern kommen, und dann werden auch Benjamin und Daniel, und nach dem Laubhüttenfest sogar Elias, Joseph und Levi hier sein. Es ist Zeit, daß sich zu den Zwölfen noch andere gesellen. Geht nun und ruht euch aus!»

Manaen begleitet sie und kehrt dann zurück. Jesus bleibt zusammen mit Manaen. Er setzt sich nachdenklich nieder, sichtlich traurig, und stützt sein Haupt mit der Hand und den Ellbogen auf das Knie. Manaen sitzt am Tisch und rührt sich nicht. Doch er macht ein finsteres Gesicht.

Nach geraumer Zeit hebt Jesus das Haupt, schaut ihn an und fragt: «Und du? Was willst du jetzt tun?»

«Ich weiß es noch nicht... Es gibt keinen Grund mehr, in Machaerus zu

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bleiben. Doch möchte ich noch am Hof bleiben, um zu erfahren... und um dich durch mein Wissen beschützen zu können.»

«Es wäre besser für dich, wenn du mir ohne Verzögerung folgen würdest. Aber ich zwinge dich nicht. Du wirst kommen, wenn der alte Manaen sich ganz aufgelöst haben wird.»

«Ich möchte auch dieser Frau den Kopf entreißen... Sie ist nicht wert, ihn zu besitzen ...»

Jesus sagt mit einem leichten Anflug von Lächeln trocken: «So bist du also noch nicht dem menschlichen Reichtum abgestorben. Aber du bist mir trotzdem teuer. Ich weiß, daß ich dich nicht verliere, selbst wenn ich warte. Und ich kann warten ...»

«Meister, ich möchte dir meine Hochherzigkeit schenken, um dich zu trösten; denn du leidest, ich sehe es!»

«Das ist wahr! Ich leide. Sehr sogar! Sehr... !»

«Nur wegen Johannes? Das glaube ich nicht. Du weißt ihn im Frieden.»

«Ich weiß ihn im Frieden und fühle ihn nahe!»

«Was ist es dann?»

«Was dann? ... Manaen, wem geht die Morgendämmerung voraus?»

«Dem Tag, Meister! Warum fragst du das?»

«Weil der Tod des Johannes dem Tag vorausgeht, an dem ich der Erlöser sein werde. Und das Menschliche in mir zittert bei diesem Gedanken... Manaen, ich steige auf den Berg. Bleib du hier. Empfange die Ankommenden und hilf denen, die schon da sind. Bleibe bis zu meiner Rückkehr. Dann kannst du tun, was du willst. Leb wohl!»

Jesus geht aus dem Saal. Er geht langsam die Treppe hinunter und durch den Garten und verschwindet auf einem kleinen Pfad zwischen zerzausten Gärten und Olivenhainen, Apfelbäumen, Weinstöcken und Feigenbäumen. Er steigt den Hang eines kleinen Hügels hinauf; und ich sehe ihn nicht mehr.

313. «GEHEN WIR NACH TARICHÄA»

Es ist schon Nacht, als Jesus ins Haus zurückkehrt. Er betritt es, ohne im Garten ein Geräusch zu machen, und blickt in die dunkle Küche, die aber leer ist. Dann schaut er in die beiden Räume, wo Matten und Betten sind. Auch sie sind leer. Nur die gewechselten Kleider, die auf einem Haufen liegen, besagen, daß die Apostel zurück sind. Das Haus scheint unbewohnt zu sein, so ruhig ist es.

Jesus steigt, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, in der Helle des Vollmondes die Stufen hinauf und gelangt auf die Terrasse. Er

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überquert sie und gleicht einem Gespenst, das sich lautlos bewegt. Ein leuchtendes Gespenst. Im bleichen Weiß des Mondlichtes wirkt er schmaler und noch größer. Er hebt den Vorhang, der vor der Türe des oberen Raumes hängt. Drinnen sitzen in Gruppen oder einzeln die Apostel mit den Jüngern des Johannes und Manaen; Margziam ist, das Haupt auf den Knien des Petrus, eingeschlafen. Der Mond hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Raum zu erleuchten; sein phosphoreszierendes Licht flutet durch die offenen Fenster herein. Niemand spricht. Und niemand schläft, mit Ausnahme des Knaben, der auf einer Strohmatte sitzt.

Jesus tritt leise ein; der erste, der ihn bemerkt, ist Thomas. «Oh, Meister!» sagt er und springt auf.

Die anderen schütteln sich alle. Petrus versucht ungestüm aufzuspringen; doch er erinnert sich des Knaben, erhebt sich sanft, legt den braunen Kopf Margziams auf seinen Sitz und kommt als letzter zu Jesus, während der Meister, mit der müden Stimme eines Menschen, der viel gelitten hat, Johannes, Jakobus und Andreas antwortet, die ihm ihren Schmerz mitteilen.

«Ich verstehe es. Aber nur wer nicht glaubt, ist über einen Tod untröstlich. Nicht wir, die wir wissen und glauben, daß Johannes nicht mehr von uns getrennt ist. Früher war er von uns getrennt: entweder er von mir oder ich von ihm. Jetzt nicht mehr! Wo er ist, da bin ich. Und wo ich bin, ist auch er.»

Petrus streckt seinen grauen Kopf zwischen den jugendlichen Köpfen nach vorne, und Jesus sieht ihn. «Hast auch du geweint, Simon des Jonas?»Petrus antwortet mit einer noch rauheren Stimme als sonst: «Ja, Herr! Denn auch ich habe zu Johannes gehört... Und dann... Und... wenn ich bedenke, daß ich mich am Tag vor dem letzten Sabbat geärgert habe, weil ich meinte, daß die Anwesenheit der Pharisäer uns den Sabbat verbittern würde! Dieser Sabbat aber ist wahrhaft bitter! Ich habe den Knaben mitgebracht... um einen noch schöneren Sabbat zu haben... Und nun...»

«Laß dich nicht entmutigen, Simon des Jonas. Johannes ist nicht verloren. Ich sage es auch dir. Dafür haben wir drei Jünger, die gut ausgebildet sind. Wo ist der Knabe?»

«Dort, Meister! Er schläft.»

«Laß ihn schlafen», sagt Jesus und beugt sich über das dunkle Köpfchen. Dann fragt er: «Habt ihr schon zu Abend gegessen?»

«Nein, Meister. Wir haben auf dich gewartet und waren in Sorge wegen der Verspätung, da wir nicht wußten, wo wir dich suchen sollten; es schien uns, als hätten wir auch dich verloren.»

«Wir haben noch Zeit, beisammen zu sein. Auf, bereitet das Abendessen, denn nachher gehen wir anderswo hin. Ich habe das Bedürfnis, mich mit meinen Freunden zurückzuziehen; hier wären wir immer von Menschen umgeben.»

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«Ich schwöre dir, ich würde sie nicht ertragen; besonders diese Schlangen von pharisäischen Seelen. Und es könnte etwas passieren, wenn in der Synagoge ein spöttisches Lächeln über uns um ihren Mund spielen sollte!»

«Gut, Simon! ... Ich habe auch das eingerechnet. Daher bin ich gekommen, um euch mit mir zu nehmen.»

Im Schein der auf beiden Seiten des Tisches angezündeten Lämpchen kann man die Veränderungen der Gesichtszüge besser erkennen.

Nur Jesus ist von einer feierlichen Majestät, und Margziam lächelt im Schlaf.

«Das Kind hat schon vorher gegessen», erklärt Simon.

«So lasse es schlafen», sagt Jesus.

Inmitten der Seinen opfert er die kargen Speisen auf und verteilt sie an die Anwesenden, die sie lustlos verzehren. Das Abendessen ist bald beendet.

«Sagt mir nun, was ihr getan habt ...» ermuntert sie Jesus.

«Ich bin mit Philippus im Gebiet von Bethsaida gewesen. Wir haben deine Botschaft verkündet und ein krankes Kind gepflegt», sagt Petrus.

«Eigentlich war es Petrus, der es geheilt hat», sagt Philippus, der nicht für etwas gelobt werden möchte, was er nicht getan hat.

«Oh, Herr, ich weiß nicht, wie ich es gemacht habe. Ich habe viel gebetet, mit meinem ganzen Herzen, denn ich hatte Mitleid mit dem kranken Kind. Dann salbte ich es mit Öl und rieb es mit meinen rauhen Händen ein... und es wurde gesund. Als ich sah, daß seine Gesichtsfarbe wiederkehrte und es die Augen öffnete, also wieder auflebte, bekam ich fast Angst.»

Jesus legt ihm wortlos die Hand aufs Haupt.

«Johannes hat die Leute in Staunen versetzt, als er einen Dämon ausgetrieben hat. Aber das Reden war dann meine Sache», sagt Thomas.

«Auch dein Bruder Judas hat dasselbe getan», sagt Matthäus.

«Ebenso auch Andreas», fügt Jakobus des Alphäus bei.

«Simon der Zelote hingegen heilte einen Aussätzigen. Oh, er hatte keine Angst, ihn zu berühren! Und zu mir sagte er dann: "Aber habe doch keine Angst. Der Wille Gottes hält alle körperlichen Übel von uns fern"», berichtet Bartholomäus.

«Das hast du gut gesagt, Simon! Und ihr beiden?» fragt Jesus Jakobus des Zebedäus und Iskariot, die ein wenig abseits stehen, der erste mit den drei Jüngern des Johannes redend, der andere allein und verdrossen.

«Oh, ich habe nichts getan», sagt Jakobus. «Aber Judas hat drei mächtige Wunder gewirkt: einen Blinden, einen Lahmen und einen Besessenen hat er geheilt; mir schien, daß es ein Verrückter war. Aber die Leute sagten so...»

«Und du stehst da mit einem solchen Gesicht, obwohl dir Gott so geholfen hat?» sagt Petrus.

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«Auch ich kann demütig sein», antwortet Iskariot.

«Daraufhin sind wir von einem Pharisäer eingeladen worden. Ich habe mich nicht wohl gefühlt. Aber Judas weiß besser mit ihnen umzugehen und hat ihn wahrhaftig bezähmt. Am ersten Tag war er zurückhaltend, aber dann... nicht wahr, Judas?»

Judas nickt, ohne ein Wort zu sagen.

«Sehr gut! Ihr werdet es immer besser machen. Nächste Woche werden wir beisammen bleiben. Nun... Simon, geh und bereite die Boote vor! Auch du, Jakobus!»

«Für alle, Meister? Wir haben nicht alle Platz.»

«Kannst du nicht noch eines bekommen?»

«Ich werde meinen Schwager darum bitten. Einverstanden? Ich gehe.»

«Geh, und sobald du fertig bist, komm zurück. Gib nicht viele Erklärungen.»

Die vier Fischer brechen auf. Die anderen steigen hinunter, um ihre Reisesäcke und Mäntel zu holen. Manaen bleibt bei Jesus. Das Kind schläft ruhig weiter.

«Meister, gehst du weit fort?»

«Ich weiß es noch nicht... Sie sind müde und betrübt. Ich auch... Ich habe vor, nach Tarichäa auf die Felder zu gehen, um mich in Frieden zurückzuziehen...»

«Ich habe das Pferd, Meister. Wenn du erlaubst, werde ich dir dem Ufer entlang folgen. Wirst du lange dort bleiben?»

«Vielleicht die ganze Woche, aber nicht länger.»

«Dann werde ich kommen, Meister. Segne mich bei diesem ersten Abschied. Und nimm mir eine Last vom Herzen.»

«Welche, Manaen?»

«Ich mache mir Vorwürfe, weil ich Johannes alleingelassen habe. Wenn ich dort gewesen wäre, vielleicht...»

«Nein! Es war seine Stunde! Er hat sich gewiß gefreut, als er gesehen hat, daß du zu mir gekommen bist. Belaste dich nicht damit. Versuche im Gegenteil, dich rasch und gut von der einzigen Last, die du noch hast, zu befreien: dem Vergnügen, ein Mensch zu sein. Werde Seele, Manaen! Du kannst es. Du hast die Fähigkeit, es zu sein. Leb wohl, Manaen! Mein Friede sei mit dir! Wir werden uns bald in Judäa wiedersehen.»

Manaen kniet nieder, und Jesus segnet ihn. Dann hilft er ihm auf und küßt ihn.

Die anderen kommen wieder herein und nehmen von ihm Abschied, sowohl die Apostel als auch die Jünger des Johannes. Darauf erscheinen die Fischer: «Es ist soweit, Meister, wir können gehen.»

«Gut. Verabschiedet euch von Manaen, der bis morgen abend hier bleibt. Nehmt die Lebensmittel und Wasser; dann wollen wir gehen. Macht wenig Lärm.»

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Petrus beugt sich nieder, um Margziam zu wecken.

«Nein, laß ihn. Er könnte weinen. Ich werde ihn auf den Arm nehmen», sagt Jesus und hebt das Kind sanft auf, das ein wenig jammert, sich aber dann instinktiv in den Armen Jesu zurechtlegt.

Sie löschen die Lampen und gehen hinaus. Nachdem sie die Türe verschlossen haben, steigen alle hinunter. Am Ende des Gartens verabschieden sie sich nochmals von Manaen, und dann begeben sie sich, einer hinter dem anderen, auf der mondhellen Straße zum See: einem riesigen silbernen Spiegel unter dem im Zenit stehenden Mond. Wie drei rote Tropfen auf dem ruhigen Spiegel leuchten die drei Fackeln der Boote, die schon im Wasser sind. Sie verteilen sich auf diese, und zuletzt steigen auch die Fischer ein. Petrus und ein Bursche in das Boot Jesu, Johannes und Andreas in das zweite Boot, Jakobus und ein anderer Junge in das dritte.

«Wohin, Meister?» fragt Petrus.

«Nach Tarichäa. Dort, wo wir nach dem Wunder bei den Gerasenern gelandet sind. Jetzt wird es nicht sumpfig sein. Eine große Ruhe wird dort herrschen.»

Petrus fährt hinaus, und die anderen folgen ihm mit ihren Booten. Keiner spricht. Erst als sie auf dem See sind und Kapharnaum im Schein des Mondes, der alles mit seinem Silberstaub überschüttet, entschwindet, sagt Petrus, als spräche er mit seinem Steuerruder: «Gefällt mir. Morgen werden sie uns suchen, alte Barke, und dir haben wir es zu verdanken, wenn sie uns nicht finden.»

«Mit wem redest du, Simon?» fragt Bartholomäus.

«Mit der Barke. Weißt du denn nicht, daß sie für die Fischer wie eine Braut ist? Wie viel habe ich schon mit ihr gesprochen! Mehr als mit Porphyria. Meister! ... Ist das Kind gut zugedeckt? Es ist feucht auf dem See bei Nacht...»

«Ja! Höre Simon! Komm her, ich muß mit dir reden...»

Petrus überläßt das Steuer dem Schiffsjungen und geht zu Jesus.

«Ich habe Tarichäa gesagt. Doch es genügt, wenn wir nach dem Sabbat dort sind, um Manaen wieder begrüßen zu können. Kennst du einen Platz in der Nähe, wo wir in Frieden sein könnten?»

«Oh, Meister! In Frieden? Wir oder auch die Boote? Für diese braucht es Tarichäa oder Häfen am anderen Ufer. Aber wenn es für uns sein soll, dann genügt es, wenn du dich in die Wildnis jenseits des Jordan begibst, wo nur die Tiere dich aufspüren können... oder vielleicht der eine oder andere Fischer, der die Netze bewacht. Wir können die Boote in Tarichäa lassen. Wir werden in der Morgendämmerung dort ankommen und rasch die Furt durchqueren. Um diese Zeit ist es sehr leicht.»

«Gut, so werden wir es machen...»

«Ekelt dich die Welt auch an? Ziehst du die Fische und die Mücken vor? Du hast recht!»

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«Ich empfinde keinen Ekel. Man darf keinen empfinden. Aber ich will verhindern, daß ihr Ärgernis erregt, und will mich in diesen Stunden des Sabbats mit euch trösten.»

«Mein Meister... !» Petrus küßt ihn auf die Stirne und geht davon, indem er sich eine dicke Träne abwischt, die gerade hervorquillt und in den Bart rinnen will. Er geht zu seinem Steuer zurück und lenkt das Boot nach Süden, während das Mondlicht abnimmt und der Mond schließlich hinter einem Hügel verschwindet. Doch, obgleich er sein großes Gesicht vor den Augen der Menschen verbirgt, erhellt er immer noch den Himmel und den östlichen Strand. Der Rest ist dunkelblau und kaum erkennbar im Schein der Fackel am Bug.

314. UNTERREDUNG MIT EINEM SCHRIFTGELEHRTEN

Als Jesus seinen Fuß auf das rechte Ufer des Jordan setzt, eine gute Meile, vielleicht etwas mehr von der kleinen Halbinsel Tarichäa entfernt, dort wo schöne grüne Äcker liegen, weil die Erde in der Tiefe feucht ist und so auch die empfindlichsten Pflanzen am Leben erhält, findet er viel Volk vor, das ihn erwartet.

Die Vettern kommen ihm mit Simon dem Zeloten entgegen: «Meister, die Boote haben uns angekündigt... Vielleicht ist auch Manaen für sie zum Wegweiser geworden...»

«Meister», entschuldigt sich Manaen. «Ich bin in der Nacht abgereist, um nicht gesehen zu werden, und habe mit niemandem gesprochen. Glaube es mir! Viele haben mich gefragt, wo du hingegangen bist. Aber ich habe allen nur gesagt: "Er ist abgereist." Doch ich glaube, ein Fischer hat den Schaden angerichtet, als er sagte, er habe dir ein Boot gegeben...»

«Dieser Dummkopf von einem Schwager!» ruft Petrus aus. «Ich habe ihm doch gesagt, daß er nichts verraten darf! Ich habe ihm auch gesagt, daß wir nach Bethsaida gehen und ihm den Bart ausreißen würden, wenn er etwas verrät. Ich werde es tun! Oh, ich werde es tun! Und jetzt? Lebt wohl, Friede, Abgeschiedenheit und Ruhe!»

«Beruhige dich, Simon. Wir haben ja schon unsere friedlichen Tage gehabt. Übrigens habe ich bereits das Ziel, den ich verfolge, teilweise erreicht: euch zu belehren, zu trösten und zu beruhigen, um Beleidigungen und Reibereien zwischen euch und den Pharisäern von Kapharnaum zu vermeiden. Jetzt gehen wir zu denen, die auf uns warten, um ihren Glauben und ihre Liebe zu belohnen. Ist diese Liebe nicht auch etwas, was uns erhebt? Wir leiden unter dem Haß. Hier ist Liebe, darum ist es Freude!»

Petrus beruhigt sich wie ein Wind, der schlagartig aufhört zu blasen,

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und Jesus geht zu der Menge der Kranken, die ihn mit sehnsuchtsvollen Gesichtern erwarten; er heilt einen nach dem anderen, gütig und geduldig auch einem Schriftgelehrten gegenüber, der ihm sein krankes Kind vorstellt.

Dieser Schriftgelehrte sagt ihm: «Siehst du? Du fliehst. Aber es ist unnütz. Haß und Liebe sind klug im finden. Hier hat dich die Liebe gefunden, wie es im Hohenlied geschrieben steht. Du bist ja schon für viele wie der Bräutigam des Hohenliedes. Und man kommt zu dir, wie Sulamith dem Bräutigam trotz der Runden der Wächter und der Viergespanne des Amminadab entgegengeht.»

«Warum sagst du das? Warum?»

«Weil es wahr ist! Es ist gefahrvoll, zu dir zu kommen, denn du bist verhaßt. Weißt du denn nicht, daß du in der Gunst Roms stehst, und der Tempel dich haßt?»

«Warum versuchst du mich, Mann! Du legst Arglist in deine Worte, um dem Tempel und Rom meine Antworten zu bringen. Ich habe deinen Sohn nicht aus Arglist geheilt...»

Der Schriftgelehrte neigt, durch den sanften Vorwurf verwirrt, das Haupt und bekennt: «Ich sehe, daß du wirklich die Herzen der Menschen kennst. Verzeih... Ich sehe, daß du wirklich heilig bist. Verzeih! Ich bin hierher gekommen, um in mir die Hefe gären zu lassen, die andere in mich gestreut haben...»

«Und die in dir die geeignete Wärme gefunden hat, um aufzugehen.»

«Ja, das ist wahr... Aber jetzt gehe ich ohne Hefe im Herzen weg. Oder besser gesagt, mit einer neuen Hefe.»

«Ich weiß es. Ich trage dir nichts nach. Viele sind durch eigenen Willen schuldig, viele durch den Willen anderer. Und der gerechte Richter wird verschiedene Maßstäbe anlegen, wenn er über sie urteilen wird. Du, Schriftgelehrter, sei gerecht und verführe in Zukunft nicht, wie du verführt worden bist. Wenn die Welt Druck auf dich ausübt, dann betrachte die lebendige Gnade, die dein Sohn ist, der vom Tod errettet wurde, und sei Gott dankbar!»

«Dir!»

«Gott! Ihm gebührt alle Ehre und Preis. Ich bin sein Messias und lobe und preise ihn als erster. Ich gehorche ihm als erster. Denn der Mensch erniedrigt sich nicht, wenn er Gott in Wahrheit verehrt, aber er entwürdigt sich, wenn er der Sünde dient.»

«Du sagst es gut. Sprichst du immer so? Für alle?»

«Für alle! Ob ich zu Annas, zu Gamaliel oder zu einem bettelnden Aussätzigen auf einer Bahre rede, die Worte sind immer dieselben, weil es nur eine Wahrheit gibt.»

«Rede also, da wir alle hier sind, um ein Wort oder eine Gunst von dir zu erbitten.»

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«Ich werde reden. Damit man nicht sagen kann, daß ich voreingenommen bin gegen den, der ehrlich in seinen Überzeugungen ist.»

«Die ich gehabt habe, sind schon dahin. Aber es ist wahr, ich war ehrlich in ihnen. Ich glaubte, Gott einen Dienst zu erweisen, als ich dich bekämpfte.»

«Du bist aufrichtig. Und deshalb verdienst du, Gott zu verstehen, der niemals Lüge ist. Doch deine Überzeugungen sind noch nicht gestorben, ich sage es dir. Nur oberflächlich gesehen scheinen sie abgestorben zu sein; denn sie sind wie verbranntes Unkraut, dessen Wurzeln noch leben und vom Erdreich genährt werden. Der Tau lädt sie ein, neue Triebe zu bilden und diese wiederum, neue Blätter. Du mußt darüber wachen, daß dies nicht geschieht, sonst wirst du aufs neue vom Unkraut überwuchert. Israel stirbt sehr schwer.»

«Muß Israel also sterben? Ist es eine schlechte Pflanze?»

«Es muß sterben, um auferstehen zu können.»

«Ein geistige Reinkarnation?»

«Eine geistige Entfaltung! Es gibt keine Reinkarnationen, bei keiner Art.»

«Manche glauben aber daran.»

«Sie sind im Irrtum!»

«Der Hellenismus hat auch in uns einen solchen Glauben aufkommen lassen. Die Gelehrten weiden sich daran und rühmen sich seiner wie einer vornehmen Speise.»

«Es handelt sich um den absurden Widerspruch derer, die den Fluch über jeden aussprechen, der eine der sechshundertdreizehn kleinen Vorschriften übertreten hat.»

«Das ist wahr. Aber... so ist es. Man macht gerne nach, was man doch im Grunde haßt.»

«Dann ahmt mich nach, da ihr mich haßt. Es wird besser für euch sein.»

Der Schriftgelehrte muß notgedrungen über diese Folgerung Jesu lachen. Das Volk steht mit offenem Mund da und hört zu, und die entfernter Stehenden lassen sich von ihren Nachbarn die Worte der beiden wiederholen.

«Aber im Vertrauen gesagt, was hältst du von der Reinkarnation?»

«Ich habe dir schon gesagt, daß es ein Irrtum ist.»

«Manche behaupten, daß die Lebenden aus den Toten hervorgehen und die Toten aus den Lebenden, denn das, was ist, kann nicht vernichtet werden.»

«Was ewig ist, kann nicht vernichtet werden, das ist wahr. Aber sage mir, glaubst du, daß dem Schöpfer selbst Grenzen gesetzt sind .»

«Nein, Meister! Dies anzunehmen hieße, ihn herabsetzen.»

«Du sagst es. Und kann man sich dann vorstellen, daß er die Reinkarnation des Geistes erlaubt, weil er nur eine beschränkte Anzahl von Seelen zur Verfügung hat?»

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«Das kann man nicht annehmen. Und doch gibt es Leute, die so denken.»

«Und was noch schlimmer ist: so denkt man auch in Israel. Dieser Gedanke einer Unsterblichkeit des Geistes, der schon bei einem Heiden groß ist, auch wenn er mit dem Irrtum eines ungerechten Werturteils über die Art dieser Unsterblichkeit verbunden ist, sollte bei den Israeliten vollkommen sein. Wer ihn jedoch im heidnischen Sinn auslegt, macht einen geschmälerten, erniedrigenden, schuldhaften Gedanken daraus. Er erniedrigt den Gedanken, der sich als bewundernswürdig erweist, wenn er beim Heiden von sich aus der Wahrheit nahekommt und damit die Zusammensetzung der menschlichen Natur bestätigt, in der Ahnung eines unvergänglichen Lebens, des geheimnisvollen Dings, das den Namen Seele trägt und uns von den Tieren unterscheidet. Es ist eine Erniedrigung des Gedankens, wenn einer die göttliche Weisheit und den wahren Gott kennt und doch in einer so hohen geistigen Angelegenheit Materialist wird. Der Geist wandert nur vom Schöpfer zum Geschöpf und vom Geschöpf zum Schöpfer, zu dem er nach dem Leben zurückkehrt, um von ihm das Urteil über Leben und Tod zu empfangen. Und dort, wo er hingesandt wird, bleibt er ewig. Das ist die Wahrheit!»

«Läßt du das Fegfeuer nicht gelten?»

«Doch. Warum fragst du das?»

«Weil du sagst: "Wohin er gesandt wird, da bleibt er." Der Aufenthalt im Fegfeuer aber ist zeitlich begrenzt.»

«Es gehört in meinen Gedanken schon zum ewigen Leben. Das Fegfeuer ist schon "Leben"! Ohnmächtig, gebunden, aber immerhin Leben. Nach Beendigung des zeitweiligen Aufenthaltes im Fegfeuer erlangt der Geist das vollkommene Leben; er erreicht es ohne Schranken und Bande. Zwei Dinge sind es, die bleiben: der Himmel und der Abgrund, das Paradies und die Hölle. Zwei Arten von Seelen bleiben: die Seligen und die Verdammten. Doch aus den drei Reichen, die nun bestehen, kehrt kein Geist mehr zurück, um Fleisch anzunehmen. Und das bis zur endgültigen Auferstehung, die für immer die Umkleidung der Geister mit dem Fleisch, des Unsterblichen mit dem Sterblichen, abschließen wird.»

«Des Ewigen, nicht wahr?»

«Ewig ist Gott. Ewig sein heißt, weder Anfang noch Ende haben. Und so ist nur Gott. Die Unsterblichkeit ist eine unendliche Fortsetzung des Lebens von dem Augenblick an, da es begonnen hat. Und so ist es mit dem Geist des Menschen. Das ist der Unterschied.»

«Du sagst aber: "Ewiges Leben".»

«Ja. Sobald einer ins Leben gerufen worden ist, kann er durch den Geist, die Gnade und den Willen das ewige Leben erlangen. Nicht die Ewigkeit. Das Leben setzt Anfang voraus. Man sagt nicht: "Das Leben Gottes", denn Gott hat keinen Anfang gehabt.»

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«Und du?»

«Ich werde leben, weil ich auch Fleisch bin und die Seele des Christus im menschlichen Fleisch mit dem göttlichen Geist vereint habe.»

«Gott heißt "der Lebendige".»

«Tatsächlich kennt er den Tod nicht. Er ist Leben. Unerschöpfliches Leben. Nicht Leben Gottes! Aber Leben! Nur das! Es sind Feinheiten, o Schriftgelehrter! Aber Weisheit und Wahrheit kleiden sich in Feinheiten.»

«Sprichst du so zu den Heiden?»

«Nein! Sie würden es nicht verstehen. Ich zeige ihnen die Sonne. Aber so, wie ich sie einem Kind zeigen würde, das bis dahin blind und töricht gewesen und nun auf wunderbare Weise sehend und klug geworden ist. Die Sonne als Gestirn, ohne auf ihr Wesen einzugehen. Aber ihr von Israel seid weder blind noch töricht. Seit Jahrhunderten hat der Finger Gottes euch die Augen geöffnet und den Geist geklärt...»

«Das ist wahr, Meister. Und doch sind wir blind und töricht.»

«Ihr habt euch selbst so gemacht und wollt das Wunder dessen nicht, der euch liebt.»

«Meister...»

«Das ist Wahrheit, Schriftgelehrter!»

Dieser senkt das Haupt und schweigt. Jesus läßt ihn stehen und geht weiter, und im Vorübergehen liebkost er Margziam und das Söhnchen des Schriftgelehrten, die zusammen mit bunten Steinchen spielen. Was folgt, die Unterhaltung mit dieser oder jener Gruppe, ist mehr als eine Predigt. Und doch ist es eine ununterbrochene Predigt, denn sie hebt jeden Zweifel auf, klärt jeden Gedanken, faßt zusammen oder erweitert das schon Gesagte und setzt sich mit den verschiedenen Anschauungen auseinander.

Und so gehen die Stunden dahin...

315. DIE ERSTE BROTVERMEHRUNG

Am selben Ort wie tags zuvor. Nur dringt die Sonne nicht mehr von Osten her durch die Waldung, welche die Ufer des Jordan an dieser verwilderten Stelle beim Ausfluß des Seewassers in das Flußbett säumt, sondern sie sendet von Westen her ihre letzte roten Strahlen über den Himmel. Unter diesem dichten Blätterwerk ist das Licht stark gedämpft und neigt schon zu den friedlichen Tönungen des Abends. Die Vögel sind wie trunken von der Sonne, die sie im Lauf des Tages genossen, und der reichlichen Nahrung, die sie auf den umliegenden Feldern gefunden haben; sie zwitschern und singen aus voller Kehle auf den Wipfeln der Bäume. Der Abend sinkt hernieder, während der Tag sich mit seiner letzten Pracht schmückt. Die Apostel machen Jesus, der immer noch

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unterweist und die ihm gestellten Fragen beantwortet, darauf aufmerksam.

«Meister, der Abend nähert sich. Der Ort ist einsam, fern von Häusern und Dörfern, dunkel und feucht. Bald wird man sich hier nicht mehr sehen und nicht einmal mehr gehen können. Der Mond geht spät auf. Entlasse die Menschen, damit sie nach Tarichäa oder in die Dörfer am Jordan gehen und sich Nahrung kaufen und ein Obdach suchen können.»

«Es ist nicht nötig, daß sie weggehen. Gebt ihr ihnen zu essen. Sie können hier schlafen, wie sie hier geschlafen haben, als sie auf mich warteten.»

«Wir haben nur noch fünf Brote und zwei Fische, Meister. Du weißt es.»

«Bringt sie mir!»

«Andreas, geh und suche den Knaben. Er hat die Aufsicht über die Tasche. Soeben war er noch mit dem Sohn des Schriftgelehrten und zwei anderen Knaben zusammen; sie haben sich Blumenkränze gemacht, weil sie König spielen.»

Andreas geht rasch weg. Auch Johannes und Philippus suchen Margziam in der Menge, die ständig in Bewegung ist. Sie finden ihn fast gleichzeitig, mit dem Sack mit den Lebensmitteln auf dem Rücken, einem blühenden Zweig um den Kopf und einem Gürtel von Waldreben, von dem als Schwert ein Schilfrohr herabhängt. Bei ihm sind sieben weitere, ebenso aufgeputzte Kinder. Sie bilden das Gefolge des Sohnes des Schriftgelehrten, eines sehr zarten Knaben mit ernstem Blick, der viel gelitten haben muß. Er ist reichlicher geschmückt als die anderen und spielt den König.

«Komm, Margziam, der Meister will dich haben!»

Margziam läßt die Freunde stehen und eilt weg, ohne seine blumigen Ehrenzeichen abzulegen. Aber die anderen folgen ihm, und bald darauf ist Jesus von einer kleinen Gruppe blumengeschmückter Knaben umgeben. Er liebkost sie, während Philippus aus dem Sack ein Bündel mit dem Brot und zwei dicken Fischen holt; etwa zwei Kilo Fisch. Sie würden nicht einmal für die siebzehn, mit Margziam eigentlich achtzehn Personen des Gefolges Jesu reichen. Sie bringen Brot und Fisch zu Jesus.

«Gut! Bringt mir jetzt Körbe. Siebzehn, so viele ihr seid. Margziam soll an die Kinder Brot und Fisch austeilen...» Jesus blickt den Schriftgelehrten scharf an, der immer noch in seiner Nähe steht, und fragt ihn: «Willst auch du unter die Hungrigen Speisen verteilen?»

«Ich würde es gerne tun, doch ich habe selbst nichts.»

«Gib von dem Meinen, ich erlaube es dir.»

«Aber... hast du denn die Absicht, fünftausend Männer und dazu noch die Frauen und die Kinder mit diesen zwei Fischen und fünf Broten zu speisen?»

«Ohne Zweifel! Sei nicht ungläubig! Wer glaubt, sieht, wie das Wunder geschieht!»

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«Oh, dann möchte ich auch helfen, die Speisen zu verteilen!»

«So laß dir einen Korb geben.»

Die Apostel kommen mit hohen, schmalen, niedrigen und breiten Körben zurück. Der Schriftgelehrte bringt einen ziemlich kleinen Brotkorb. Man sieht, daß sein Glaube oder sein Unglaube ihn diesen hat aussuchen lassen, da er meint, keinen größeren zu brauchen.

«Gut! Stellt sie alle vor mich hin. Die Leute sollen sich in Reihen hinsetzen, so gut es geht.»

Während dies geschieht, hebt Jesus das Brot mit den Fischen darauf zum Himmel, opfert beides auf, betet und segnet es. Der Schriftgelehrte läßt ihn keinen Moment aus den Augen. Dann bricht Jesus die fünf Brote in achtzehn Teile, macht auch aus den Fischen achtzehn Stücklein und legt davon je eines in jeden Korb. Aus den Brotstücken macht er je zwanzig Brocken, nicht mehr, und legt sie wieder in die Körbe.

«Nun nehmt die Körbe, verteilt, bis alle satt sind. Geh, Margziam, und teile an deine Spielgefährten aus.»

«Uh, wie schwer er ist!» sagt Margziam, als er seinen Korb nimmt und damit gleich zu seinen kleinen Freunden geht. Er geht gebeugt, als sei er schwer beladen.

Die Apostel, die Jünger, Manaen und der Schriftgelehrte sehen ihm, unsicher geworden, nach... Dann nehmen auch sie ihre Körbe, blicken sich kopfschüttelnd an und sagen: «Das Kind scherzt! Sie wiegen nicht mehr als zuvor.»

Der Schriftgelehrte schaut in seinen Korb und greift mit der Hand hinein; denn es ist bereits dunkel im Dickicht, in dem Jesus sich befindet, während es auf der Lichtung noch halbwegs hell ist. Trotz der Bestätigung ihrer Zweifel gehen sie auf das Volk zu und beginnen auszuteilen. Und sie verteilen, verteilen und verteilen. Ab und zu wenden sie sich erstaunt um, und blicken auf Jesus, der in immer größerer Entfernung und mit verschränkten Armen an einem Baum lehnt, während er über ihr Erstaunen fein lächelt.

Sie verteilen lange und reichlich... Margziam, der einzige, der nicht verblüfft ist, lacht fröhlich, während er den Schoß vieler armer Kinder mit Brot und Fischen anfüllt. Er ist auch der erste, der zu Jesus zurückkommt und sagt: «Ich habe viel, viel, sehr viel gegeben... denn ich weiß, was Hunger ist... !» Er hebt sein jetzt nicht mehr mageres Gesichtlein, erbleicht und reißt die Augen auf... Doch Jesus liebkost ihn, und das Lächeln kehrt wieder auf das Kindergesicht zurück, das sich vertrauensvoll an Jesus, seinen Lehrer und Beschützer, schmiegt.

Langsam kommen auch die Apostel und Jünger zurück, stumm vor Staunen. Der letzte ist der Schriftgelehrte, der auch nichts sagt, aber eine Geste macht, die mehr ausdrückt als eine lange Rede. Er kniet nieder und küßt den Saum des Gewandes Jesu.

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«Nehmt euren Teil und gebt auch mir ein wenig davon. Wir wollen die Speise Gottes essen.»

Sie essen Brot und Fisch, jeder entsprechend seinem Hunger... Indessen tauschen die gesättigten Menschen ihre Meinungen aus. Auch jene in der Nähe Jesu getrauen sich nun zu sprechen und betrachten dabei Margziam, der mit den Kindern lacht und seinen Fisch fertig ißt.

«Meister», fragt der Schriftgelehrte, «warum hat das Kind sofort das Gewicht gespürt und wir nicht? Ich habe auch hineingegriffen. Es waren nur ein paar Brotbrocken und ein einziges Stücklein Fisch darin. Ich habe die Schwere erst gespürt beim Gang zu den Leuten. Aber wenn es das Gewicht von dem gehabt hätte, was ich austeilte, wären zwei Maulesel nötig gewesen, um den Korb, nein, einen mit Nahrungsmitteln beladenen Wagen zu ziehen. Anfangs war ich sparsam... dann fing ich an zu geben, zu geben, und um nicht ungerecht zu sein, ging ich zu den ersten zurück und gab ihnen nochmals; denn sie hatten das erste Mal nur wenig bekommen. Und doch hat es gereicht.»

«Auch ich habe gespürt, wie der Korb schwerer wurde, während ich hinging; ich habe sofort viel gegeben, denn ich verstand, daß du ein Wunder gewirkt hattest», sagt Johannes.

«Ich hingegen habe mich zunächst hingesetzt und den Korb in den Schoß geleert, um zu sehen... Ich habe viele Brote gesehen. Da bin ich gegangen», sagt Manaen.

«Ich habe sie gezählt, denn ich wollte mich nicht blamieren. Es waren fünfzig Brotstückchen. Ich habe mir gesagt: "Ich will sie an fünfzig Personen austeilen und dann zurückkehren." Ich habe gezählt. Doch bei fünfzig angekommen, war das Gewicht immer noch das gleiche. Da habe ich nachgesehen. Es waren immer noch viele darin. So bin ich gegangen und habe an Hunderte verteilt. Doch es wurden nie weniger», sagt Bartholomäus.

«Ich, ich muß gestehen, daß ich nicht geglaubt habe. Ich habe die Brotbrocken und das Fischstück in die Hand genommen, sie angesehen und bei mir gesagt: "Was soll das? Jesus will einen Scherz machen... !" Ich stand hinter einem Baum und schaute auf ihn und auf die Stücklein und hoffte, daß sie sich vermehren würden, und zweifelte zugleich daran. Aber es blieben immer dieselben. Ich wollte schon zurückkehren, als Matthäus vorbeikam und sagte: "Hast du gesehen, wie schön sie sind?" "Was

denn?" habe ich gefragt. "Nun die Brote und die Fischlein .. Bist du

denn verrückt? Ich sehe nur Brotbrocken." Geh und teile sie mit Vertrauen aus und du wirst sehen. "Ich habe die wenigen Brocken in den Korb zurückgelegt und bin zögernd weitergegangen... Und dann... Verzeih mir, Jesus, denn ich bin ein Sünder!» sagt Thomas.

«Nein, du bist ein Weltmensch. Du denkst weltlich.»

«Auch ich, Herr. So sehr, daß ich dachte, ihnen zum Brot noch ein

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Geldstück zu geben, damit sie anderswo essen könnten. Ich glaubte, dir helfen zu können, einen besseren Eindruck zu machen», sagt Iskariot. «Wie bin ich also – wie Thomas – oder noch schlimmer?»

«Noch viel mehr als Thomas, du bist "weltlich".»

«Und doch wollte ich, um des Himmels willen, Almosen geben! Es war mein eigenes Geld...»

«Almosen für dich selbst und deinen Hochmut. Und Almosen für Gott. Doch er bedarf ihrer nicht. Almosen für deinen Hochmut sind Sünde, kein Verdienst.»

Judas neigt das Haupt und schweigt.

«Ich habe geglaubt, daß ich diesen Bissen Fisch und diese Bröcklein Brot noch kleiner machen müßte, damit sie genügen könnten. Aber ich habe nicht daran gezweifelt, daß sie ihrem Nährwert und ihrer Anzahl nach ausreichen könnten. Ein Tropfen Wasser, von dir gegeben, kann nahrhafter sein als eine volle Mahlzeit», sagt der Zelote.

«Und was habt ihr gedacht?» fragt Petrus die Vettern Jesu.

«Wir haben uns an Kana erinnert... und haben nicht gezweifelt», sagt Judas ernst.

«Und du, Jakobus, mein Bruder, dachtest du nur daran?»

«Nein! Ich dachte, es könnte eines der Sakramente sein, von denen du zu mir gesprochen hattest... Ist es so, oder irre ich mich?»

Jesus lächelt: «Es ist so, und ist doch nicht so. Mit der Wahrheit vom Nährwert eines Tropfen Wassers, von der Simon sprach, muß der Gedanke an eine spätere Gestalt verbunden werden. Doch jetzt ist es noch kein Sakrament.»

Der Schriftgelehrte betrachtet ein Brotstückchen in seiner Hand.

«Was machst du damit?»

«Ein... Andenken.»

«Auch ich behalte eines. Ich werde es in einem kleinen Säcklein Margziam an den Hals hängen», sagt Petrus.

«Ich will es meiner Mutter bringen», sagt Johannes.

«Wir, wir haben alles aufgegessen...» sagen die anderen beschämt.

«Steht auf! Geht noch einmal mit den Körben herum und sammelt die Reste ein. Sucht die Ärmsten aus dem Volk heraus und bringt sie, zusammen mit den Körben, zu mir. Dann geht ihr alle, ihr, meine Jünger, zu den Booten und fahrt auf den See hinaus, zur Ebene von Genesareth. Ich will die Leute entlassen, nachdem ich die Ärmsten beschenkt habe, und euch dann einholen.»

Die Apostel gehorchen... und kehren mit zwölf gefüllten Körben zurück. Es folgen ihnen etwa dreißig Bettler oder sehr elende Menschen.

«Gut so. Geht nun.»

Die Apostel und die Jünger des Johannes verabschieden sich von Manaen und gehen etwas widerstrebend weg, weil sie Jesus verlassen müssen.

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Doch sie gehorchen. Manaen wartet noch mit Jesus, bis die Menge sich im letzten Tageslicht nach den Dörfern aufmacht oder eine Schlafstätte im hohen trockenen Schilf sucht. Dann nimmt er Abschied. Vor ihm, ja sogar als einer der ersten, ist der Schriftgelehrte weggegangen; denn er ist mit seinem Söhnchen den Aposteln gefolgt.

Nachdem alle gegangen oder schon in Schlaf gesunken sind, erhebt sich Jesus, segnet die Schlafenden, und langsamen Schrittes geht er zum See auf die Halbinsel von Tarichäa zu, die sich einige Meter über dem Wasserspiegel erhebt, als wäre sie ein Stück eines in den See geschobenen Hügels. Und an seinem Fuß angelangt, steigt er, ohne in die Stadt hineinzugehen, sondern sie umgehend, auf die kleine Erhebung, setzt sich auf einen spitzen Felsvorsprung nieder und betet im Angesicht des Himmels und im Schein der klaren Mondnacht.

316. JESUS WANDELT AUF DEM WASSER

Es ist spät am Abend, beinahe Nacht, denn man sieht kaum etwas auf dem Weg, der sich einem Hügel emporschlängelt, auf dem vereinzelte Bäume stehen. Es scheinen Olivenbäume zu sein, doch wegen des schwachen Lichtes kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Sie sind nicht sehr hoch, dichtbelaubt und gewunden, wie es Ölbäume gewöhnlich sind.

Jesus ist allein. Er ist weißgekleidet und trägt einen dunkelblauen Mantel. Er steigt empor und geht zwischen den Bäumen durch. Er geht mit langem und sicherem Schritt. Nicht schnell, aber durch die langen Schritte kommt er doch rasch voran, ohne sich zu beeilen. Schließlich erreicht er einen balkonartigen Vorsprung, von dem aus man auf den See sieht, der ruhig unter dem Schein der Sterne liegt, die schon den Himmel mit ihren Lichtaugen bedecken. Die Stille umhüllt Jesus in ihrer ruhigen Umarmung, läßt ihm das Volk und die Erde aus dem Gedächtnis entschwinden und verbindet ihn mit dem Himmel, der herabzusteigen scheint, um das Wort Gottes anzubeten und es mit dem Licht seiner Gestirne zu liebkosen.

Jesus betet in seiner üblichen Haltung: aufrecht stehend mit ausgebreiteten Armen. Hinter seinem Rücken steht ein Olivenbaum, an dessen dunklen Stamm er gekreuzigt zu sein scheint. Das Laubwerk überragt ihn kaum, groß wie er ist, und ersetzt durch ein zu Christus passendes Wort die Aufschrift am Kreuz. Dort: «König der Juden»; hier: «König des Friedens.» Der friedliche Olivenbaum sagt dem, der es versteht, das richtige Wort. Jesus betet lange. Dann setzt er sich auf dem Vorsprung, auf dem der Baum steht, auf einen Wurzelknoten, und nimmt seine übliche Haltung ein, mit den gefalteten Händen und den auf den Knien aufgestützten

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Ellbogen. Er ist in Betrachtung versunken. Wer weiß, welch göttliches Gespräch er mit dem Vater und dem Geist in dieser Stunde führt, in der er allein ist und ganz Gott angehören kann. Gott mit Gott!

Es kommt mir vor, als ob viele Stunden so vorübergingen, denn ich sehe, daß die Sterne ihre Position gewechselt haben und viele bereits im Westen untergegangen sind.

Gerade als sich im äußersten Osten ein schwacher Schein bemerkbar macht, der noch nicht Licht genannt werden kann, schüttelt ein leichter Windstoß den Olivenbaum. Darauf herrscht wieder Stille. Bald danach wird der Wind stärker. Die in kurzen Abständen kommenden Windstöße werden heftiger. Das Licht des Morgengrauens hat Mühe, sich durch die dunklen Wolkenmassen, die den Himmel bedecken und von immer stärkeren Windstößen getrieben werden, einen Weg zu bahnen. Auch der See ist nicht mehr ruhig. Ein Sturm scheint aufzukommen, der sehr dem ähnelt, den ich schon in der Vision vom Sturm auf dem Meer gesehen habe. Das Rauschen der Blätter und das Schäumen des Wassers erfüllen nun die Luft, die noch vor kurzem so ruhig war.

Jesus erwacht aus seiner Betrachtung. Er erhebt sich und schaut auf den See. Im Licht der letzten Sterne und des ärmlichen Morgengrauens sucht er etwas und sieht die Barke des Petrus, die sich mühsam dem gegenüberliegenden Ufer nähern will, es aber nicht schafft. Jesus hüllt sich fester in seinen Mantel, zieht den Saum, der ihm beim Abstieg hinderlich wäre, wie eine Kapuze über sein Haupt und eilt, nicht auf der Straße, sondern auf einem Pfad, direkt zum See hinunter. Er geht so rasch, daß er zu fliegen scheint.

Am Ufer angelangt, das von den Wellen gepeitscht wird, die auf dem Kies einen flockigen Schaum bilden, schreitet er rasch weiter, als ob er nicht auf einem flüssigen Element, sondern auf dem glattesten und festesten Grund und Boden wandle. Jetzt wird er Licht. Es scheint, als ob das wenige Licht, das von den verblassenden Sternen und der stürmischen Dämmerung ausgeht, sich auf ihn konzentriere und sein schlanker Körper phosphoresziere. Er fliegt auf den Wellen, auf den schäumenden Wellenkronen und in den dunklen Tälern zwischen Welle und Welle dahin, mit nach vorn gestreckten Armen und dem sich um sein Antlitz blähenden Mantel, der wie ein kurzer Flügelschlag flattert, da er eng um den Leib gezogen ist.

Die Apostel sehen Jesus und stoßen einen Angstschrei aus, den der Wind zu Jesus trägt.

«Fürchtet euch nicht, ich bin es!» Die Stimme Jesu dringt mühelos über den See, obwohl Gegenwind herrscht.

«Bist du es wirklich, Meister?» fragt Petrus. «Wenn du es bist, dann laß mich zu dir kommen und mit dir auf dem Wasser wandeln.»

Jesus lächelt. «Komm!» sagt er einfach, als wäre es die einfachste Sache der Welt, auf dem Wasser zu wandeln.

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Und Petrus, nur mit der kurzen ärmellosen Tunika bekleidet, springt über Bord und geht Jesus entgegen.

Doch als er ungefähr fünfzig Meter von der Barke und ebensoweit von Jesus entfernt ist, packt ihn die Angst. Bis dahin hat ihn sein Liebesimpuls getragen. Nun überkommt ihn das Menschliche,... und er fürchtet für sein Leben. Wie einer, der sich auf schlüpfrigem Boden oder vielmehr auf Treibsand befindet, beginnt er zu wanken, zu gestikulieren und unterzugehen. Und je mehr er gestikuliert und sich fürchtet, um so mehr sinkt er ein.

Jesus ist stehengeblieben und schaut auf ihn. Ernst und erwartungsvoll. Aber er streckt nicht einmal seine Hände aus. Er hat vielmehr die Arme vor der Brust verschränkt, sagt kein Wort und macht keinen Schritt.

Petrus sinkt ein. Die Knöchel, die Waden, die Knie verschwinden. Das Wasser reicht ihm schon bis an die Lenden und ist bald beim Gürtel angelangt. Ein großer Schrecken zeichnet sein Gesicht. Ein Schrecken, der auch seine Gedanken lähmt. Er ist nur noch ein Mensch, der fürchtet, ertrinken zu müssen. Er denkt nicht einmal daran, daß er schwimmen kann. Er ist vor Furcht betäubt.

Endlich blickt er auf Jesus. Dieser Blick genügt, um ihn begreifen zu lassen, wo die Rettung zu suchen ist: «Meister, Herr, rette mich!»

Jesus löst die Arme und wie von Wind oder Wellen getragen, eilt er auf den Apostel zu, streckt ihm die Hand entgegen und sagt: «Oh, was bist du für ein kleingläubiger Mensch! Warum hast du an mir gezweifelt? Warum hast du es allein schaffen wollen?»

Petrus, der sich krampfhaft an der Hand Jesu festhält, antwortet nicht. Er schaut ihn nur mit einem Gemisch aus einem Rest von Furcht und aufkommender Reue an, um zu sehen, ob er erzürnt ist.

Doch Jesus lächelt und hält ihn am Handgelenk fest, bis sie das Boot erreicht haben und eingestiegen sind. Dann befiehlt er: «Geht ans Ufer. Dieser hier ist ganz durchnäßt.» Und er betrachtet lächelnd den gedemütigten Apostel.

Die Wellen glätten sich und erleichtern die Landung, und die Stadt, die zuvor einmal von einer Anhöhe sichtbar war, liegt nun am Gestade.

Hier endet die Vision.

317. «WENN IHR GLAUBEN HABT, KOMME ICH UND BRINGE EUCH AUSSER GEFAHR»

Jesus sagt: «Oft warte ich nicht einmal, bis ich gerufen werde, wenn ich meine Kinder in Gefahr sehe. Und oft komme ich auch dem zu Hilfe, der ein undankbarer Sohn ist.

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Ihr schlaft oder seid von den Sorgen des Lebens und den Geschäften der Welt eingenommen. Ich wache und bete für euch. Als Engel aller Menschen stehe ich schützend über euch, und nichts ist mir schmerzlicher, als euch nicht beistehen zu können, weil ihr meinen Beistand ablehnt und es vorzieht, selbst mit allem fertig zu werden, oder, was noch schlimmer ist, den Bösen um Hilfe anruft.

Wie ein Vater, der von einem Sohn hören muß: "Ich liebe dich nicht, ich will dich nicht, geh fort aus meinem Haus!", so fühle ich mich gedemütigt und schmerzlich berührt, mehr als durch meine Wunden. Aber wenn ihr mich nicht ablehnt und nicht sagt: "Geh fort!", sondern durch das Leben abgelenkt seid, dann bin ich der ewig Wachende, der bereit ist, einzugreifen, bevor ihr mich angerufen habt. Und wenn ich auf ein Wort von euch warte, wie ich es manchmal tue, so nur, um mich gerufen zu fühlen. Welche Liebkosung und wie süß ist es für mich, wenn ich mich von den Menschen angerufen höre und fühle, daß sie sich daran erinnern, daß ich der Erlöser, der Retter, bin.

Ich kann dir nicht sagen, welch unendliche Freude mich durchdringt und erhebt, wenn mich jemand liebt und anruft, noch bevor die Stunde der Not gekommen ist. Er ruft mich an, weil er mich mehr als alles in der Welt liebt und ihn eine Freude, die der meinen gleicht, erfüllt, wenn er nur ruft: "Jesus, Jesus!", wie es die Kinder tun, wenn sie "Mama, Mama!" rufen und es ihnen scheint, als ob Honig auf ihre Lippen käme, da schon allein das Wort "Mama" die Wonne des mütterlichen Kusses mit sich bringt.

Die Apostel ruderten gemäß meinem Befehl, Kapharnaum zu erreichen und mich dort zu erwarten. Ich hatte mich nach dem Wunder der Brotvermehrung von der Menge abgesondert, aber nicht aus Unwillen über sie oder aus Müdigkeit. Ich bin nie der Menschen überdrüssig geworden, nicht einmal, wenn sie mich schlecht behandelt haben. Nur wenn ich das Gesetz mit Füßen getreten und das Haus Gottes entweiht sah, überkam mich Entrüstung. Aber dann war es nicht meinetwegen, sondern wegen der Sache des Vaters, denn ich war auf Erden der erste der Diener Gottes, um dem Vater im Himmel zu dienen.

Ich bin nie müde geworden, mich dem Volk zu widmen, auch wenn ich sie so verbohrt, langsam und menschlich sah, daß selbst jene den Mut verloren hätten, die sich ihrer Sendung vollkommen gewachsen fühlten. Gerade weil ich sie so schwach sah, habe ich meine Belehrungen immer wiederholt. Ich habe sie wie zurückgebliebene Schüler behandelt und ihren Geist auch bei den einfachsten Entdeckungen und Unternehmungen geleitet, so wie ein geduldiger Lehrer die unerfahrenen Händchen seiner Schüler führt, wenn sie die ersten Buchstaben schreiben, damit sie immer fähiger werden, zu begreifen und auszuführen.

Wieviel Liebe habe ich den Menschen geschenkt! Ich faßte sie an ihrer

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Menschlichkeit, um sie zum Geist zu führen. Auch ich habe mit dem Fleisch begonnen. Aber während Satan sich des Fleisches bedient, um zur Hölle zu führen, führte ich sie durch das Fleisch zum Himmel.

Ich hatte mich zurückgezogen, um dem Vater für die Brotvermehrung zu danken. Viele Tausende hatten gegessen. Ich hatte ihnen ans Herz gelegt, zu sagen: «Dank dem Herrn.» Aber wenn der Mensch einmal Hilfe erlangt hat, dann weiß er nicht Dank zu sagen. So habe ich es für sie getan. Und danach... Und danach habe ich mich mit dem himmlischen Vater in einer unendlichen Sehnsucht der Liebe vereinigt. Ich war auf der Erde, aber wie eine Hülle ohne Leben. Mein Geist war hingezogen zu meinem Vater, den ich wie über sein Wort gebeugt verspürte, das zu ihm sagte: "Ich liebe dich, o Heiliger Vater!" Meine Freude war es, ihm zu sagen: "Ich liebe dich." Es ihm als Mensch zu sagen, nicht nur als Gott. Ihm zu huldigen mit dem Gefühl des Menschen, so wie ich ihm meinen Herzschlag als Gott anbot. Ich hatte das Gefühl, der Magnet zu sein, der alle Liebe der Menschen, die ein wenig Gott lieben, an sich zieht und sie in der Schale seines Herzens darbietet. Es schien mir, als ob ich ganz allein wäre: der Mensch, oder besser, das Menschengeschlecht, das wie in den Tagen der Unschuld wieder in der Abendfrische mit Gott sprach.

Aber obgleich meine Seligkeit, denn es war Seligkeit der Liebe, vollkommen war, machte sie mich dennoch nicht blind für die Nöte der Menschen, und ich bemerkte die Gefahr meiner Söhne auf dem See. Und ich löste mich um der Menschen willen von der Liebe. Die Liebe muß immer hilfsbereit sein!

Sie hielten mich für ein Gespenst. Oh, wie oft haltet ihr armen Kinder mich für ein Gespenst, für ein furchterregendes Wesen! Wenn ihr immer an mich dächtet, würdet ihr mich sofort wiedererkennen. Aber ihr habt so viele andere Sorgen in euren Herzen, und diese verwirren euch die Sinne. Doch ich gebe mich zu erkennen. Oh, wenn ihr mich fühlen könntet!

Warum ist Petrus eingesunken, nachdem er schon so viele Meter auf dem Wasser gewandelt war? Du hast es gesagt: weil sein Menschsein seinen Geist überwältigt hatte.

Petrus war zu sehr Mensch. Wäre Johannes an seiner Stelle gewesen, hätte er weder so viel gewagt noch wäre er so wankelmütig gewesen. Die Reinheit verleiht Klugheit und Festigkeit. Aber Petrus war "Mensch" im wahrsten Sinn des Wortes. Er hatte das Verlangen, der erste zu sein; zu zeigen, daß niemand den Meister mehr liebte als er. Er wollte sich vordrängen und glaubte sich schon über die Schwächen des Fleisches erhaben, nur weil er einer der Meinen war. Statt dessen versagte der arme Simon bei den Prüfungen in wenig erhabener Weise. Aber es war notwendig, denn er war dazu bestimmt, die Barmherzigkeit des Meisters in der entstehenden Kirche fortzusetzen.

Petrus läßt sich nicht nur von der Furcht um sein gefährdetes Leben

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übermannen, sondern wird, wie du gesagt hast, "ein zitterndes Fleisch". Er überlegt nicht mehr und schaut mich nicht mehr an.

Auch ihr macht es so. Je größer die Gefahr ist, um so mehr wollt ihr euch selbst helfen. Als ob ihr selbst etwas tun könntet! Niemals entfernt ihr euch, verschließt ihr mir euer Herz und verurteilt ihr mich sogar so sehr wie in den Stunden, in denen ihr auf mich vertrauen und mich anrufen müßtet.

Petrus verflucht mich nicht. Aber er vergißt mich, und ich muß die Macht meines Willens benützen, um seinen Geist zu mir zurückzurufen: damit er seine Augen zu seinem Meister und Erlöser erhebe. Ich spreche ihn im voraus von seiner Sünde des Zweifels los, weil ich ihn liebe, diesen impulsiven Menschen, der, einmal in der Gnade gefestigt, in der Gnade voranzuschreiten weiß, ohne je in Verwirrung oder Müdigkeit zu verfallen bis zu seinem Märtyrertod; der unermüdlich bis zu seinem Tod sein mystisches Netz auswirft, um seinem Meister Seelen zuzuführen. Und wenn er mich anruft, dann gehe ich nicht nur zu ihm: ich eile ihm zu Hilfe und halte ihn fest, um ihn in Sicherheit zu bringen.

Milde kann man mir vorwerfen, denn ich habe Verständnis für alle Milderungsgründe meines Petrus. Ich bin der beste Verteidiger und Richter, den es je gegeben hat und je geben wird. Für alle. Ich verstehe euch, meine armen Kinder! Und selbst wenn ich euch ein Wort des Tadels sage, so wird mein Lächeln es mildern. Ich liebe euch. Damit ist alles gesagt.

Ich will, daß ihr Glauben habt. Und wenn ihr ihn habt, komme ich und führe euch aus der Gefahr. Oh, wenn die Erde es verstände zu sagen: "Meister, Herr, rette mich!" Ein Schrei – aber von der gesamten Menschheit – würde genügen, und augenblicklich würde Satan mit seinen Henkersknechten besiegt zu Boden fallen! Aber ihr könnt es nicht glauben. Ich bemühe mich, immer neue Mittel zu finden, um euch zum Glauben zu bringen. Doch sie fallen in euren Schlamm wie der Stein in den Schlamm eines Sumpfes und bleiben dort begraben.

Ihr wollt die Gewässer eures Geistes nicht reinigen. Ihr liebt es, faulender Schlamm zu sein. Trotzdem werde ich als ewiger Erlöser weiterhin meine Pflicht tun. Und wenn ich auch nicht die ganze Welt retten kann, weil sie nicht gerettet werden will, so werde ich doch jene vor der Welt retten, die, um mich lieben zu können, wie ich geliebt werden soll, nicht mehr von der Welt sind.»

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318. BEGEGNUNG MIT DEN JÜNGERN

Jesus befindet sich in der Ebene von Chorazim, im oberen Jordantal, zwischen dem See Genesareth und dem Meronsee. Ein Land voller Weinberge, in denen bereits die Lese begonnen hat. Er muß schon seit einigen Tagen hier sein, denn heute morgen haben sich ihm die Jünger angeschlossen, die in Sycaminon waren, und unter ihnen befinden sich die beiden neuen Jünger Stephanus und Hermas. Isaak entschuldigt sich, daß er nicht früher kommen konnte, und sagt, daß ihn die Neuankömmlinge und die Überlegungen, ob es gut sei oder nicht, sie mitzubringen, zurückgehalten haben.

«Aber», sagt er weiter, «ich habe gedacht, daß der Weg zum Himmel allen offensteht, die guten Willens sind; mir scheint, daß sie, obwohl Schüler Gamaliels, zu uns gehören.»

«Du hast gut gesprochen und gehandelt. Führe sie zu mir.»

Isaak geht und kehrt mit den beiden zurück.

«Der Friede sei mit euch! Habt ihr euch so sehr vom apostolischen Wort überzeugen lassen, daß ihr euch uns anschließen wollt?»

«Ja! Mehr noch von deinem Wort. Weise uns nicht zurück, Meister!»

«Warum sollte ich das tun?»

«Weil wir von Gamaliel kommen.»

«Deswegen? Ich ehre den großen Gamaliel und möchte ihn bei mir haben, denn er ist dessen würdig. Nur das fehlt ihm noch, um seine Weisheit vollkommen zu machen. Was hat er euch gesagt, als ihr ihn verlassen habt? Ihr habt euch doch sicher von ihm verabschiedet?»

«Ja. Er hat uns gesagt: "Selig seid ihr, die ihr glauben könnt. Betet, damit ich vergessen kann, um mich wieder erinnern zu können!"»

Die Apostel, neugierig um Jesus geschart, blicken sich gegenseitig an und fragen leise: «Was hat er damit sagen wollen? Vergessen, um sich zu erinnern?»

Jesus hört das Flüstern und erklärt: «Er will seine Weisheit vergessen, um die meinige annehmen zu können. Er will vergessen, Rabbi Gamaliel zu sein, um sich daran zu erinnern, daß er ein Sohn Israels in Erwartung des Gesalbten ist. Er will sich selbst vergessen, um sich der Wahrheit zu erinnern.»

«Aber Gamaliel ist doch kein Lügner, Meister», entschuldigt ihn Hermas.

«Nein! Es ist das Durcheinander armer menschlicher Worte, das lügenhaft ist. Ihr setzt die Worte anstelle des Wortes! Die Worte aber muß man vergessen. Man muß sich ihrer entledigen und nackt und jungfräulich zur Wahrheit kommen, um von ihr bekleidet und befruchtet zu werden. Das verlangt Demut. Hier liegt die Schwierigkeit...»

«So müssen wohl auch wir vergessen?»

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«Ohne Zweifel! Alles vergessen, was des Menschen ist, und euch dessen erinnern, was Gottes ist. Kommt, ihr könnt es.»

«Wir wollen es tun», versichert Hermas.

«Habt ihr schon das Leben eines Jüngers gelebt?»

«Ja! Seit dem Tag, da wir erfuhren, daß der Täufer getötet worden war. Die Botschaft kam sehr rasch nach Jerusalern durch die Höflinge und Hauptleute des Herodes. Sein Tod hat uns aus der Saumseligkeit gerissen», antwortet Stephanus.

«Das Blut der Märtyrer ist immer Leben für die Lauen, Stephanus. Erinnere dich daran!»

«Ja, Meister! Wirst du heute sprechen? Ich hungere nach deinem Wort.»

«Ich habe schon gesprochen. Aber ich werde wieder und sehr oft zu euch Jüngern sprechen. Eure Gefährten, die Apostel, haben ihre Mission schon begonnen nach einer eingehenden Vorbereitung. Doch sie genügen nicht für die Bedürfnisse der Welt. Und alles muß rechtzeitig fertig sein. Ich habe sozusagen eine Frist, während welcher ich alles getan haben muß. Ich bitte euch alle um Hilfe und verspreche euch im Namen Gottes Hilfe und eine Zukunft in der Herrlichkeit.»

Das scharfe Auge Jesu entdeckt einen Mann, der gänzlich in einen leinenen Mantel eingehüllt ist.

«Bist du nicht der Priester Johannes?»

«Ja, Meister! Trockener als das Tal des Fluches ist das Herz der Juden. Ich bin geflohen, um dich zu suchen.»

«Und das Priestertum?»

«Der Aussatz hatte mich ein erstes Mal davon ausgeschlossen; die Menschen ein zweites, weil ich dich liebe. Deine Gnade zieht mich an: zu dir! Auch sie vertreibt mich von einem geschändeten Ort, um mich zu einem reinen Ort zu führen. Du hast mich gereinigt, Meister, an Leib und Seele. Und etwas Reines kann und darf sich nicht mehr dem Unreinen nähern. Das wäre eine Beleidigung für den, der es gereinigt hat.»

«Du sprichst ein strenges Urteil. Aber es ist nicht ungerecht.»

«Meister, die Fehler einer Familie sind allen bekannt, die in der Familie leben, und werden nur denen mitgeteilt, die rechtschaffenen Herzens sind. Du bist es. Und du weißt alles. Anderen werde ich es nicht sagen. Hier sind außer dir deine Apostel und zwei, die es wie du und ich wissen. Deshalb ...»

«Gut! Aber... Oh, auch du? Der Friede sei mit dir! Bist du wieder gekommen, um uns Nahrung zu bringen?»

«Nein, um von dir Nahrung zu erhalten.»

«Hattest du eine schlechte Ernte?»

«O nein! Sie war noch nie so gut wie dieses Jahr. Aber, mein Meister, ich suche ein anderes Brot und eine andere Ernte: deine! Und bei mir ist

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der Aussätzige, den du auf meinem Besitztum geheilt hast. Er ist zu seinem Herrn zurückgekehrt. Aber er und ich, wir haben jetzt einen Herrn, dem wir folgen und dienen werden: dich!»

«Kommt. Einer, zwei, drei, vier... Eine gute Ernte! Aber habt ihr über eure Stellung im Tempel nachgedacht? Ihr kennt euch aus, ich ebenfalls... Mehr brauche ich nicht zu sagen...»

«Ich bin ein freier Mensch und gehe, mit wem ich will», sagt der Priester Johannes.

«Und ich auch», erklärt der letzte Ankömmling, der Schriftgelehrte Johannes, der am Sabbat für die Verpflegung am Fuß des Berges der Seligpreisungen gesorgt hatte.

«Und wir ebenfalls», sagen Hermas und Stephanus.

Und Stephanus fügt hinzu: «Sprich zu uns, Herr! Wir wissen noch nicht, worin genau unsere Sendung besteht. Sage uns die grundlegenden Dinge, damit wir dir sofort dienen können. Alles andere werden wir lernen in deiner Nachfolge.»

«Ja. Auf dem Berg hast du von den Seligkeiten gesprochen. Und das war eine Lektion für uns. Aber was sollen wir mit der zweiten Liebe, der Nächstenliebe, tun?» fragt der Schriftgelehrte Johannes.

«Wo ist Johannes von Endor?» fragt Jesus, anstatt eine Antwort zu geben.

«Dort, Meister, bei den Geheilten.»

«Er soll hierherkommen.»

Johannes von Endor eilt herbei. Jesus legt ihm mit einem besonderen Gruß die Hand auf die Schulter und sagt: «Nun will ich reden. Ich will euch vor mir haben, euch mit dem heiligen Namen: dich, meinen Apostel; dich, den Priester; dich, den Schriftgelehrten; dich, Johannes, Jünger des Täufers; und endlich dich, um den Kranz der Gnaden, die Gott gegeben hat, zu schließen. Und wenn ich dich auch als letzten nenne, so weißt du doch, daß du in meinem Herzen nicht der letzte bist. Ich habe dir eines Tages diese Predigt versprochen. Jetzt sollst du sie hören.»

Wie gewöhnlich steigt Jesus auf eine kleine Erhöhung, damit alle ihn sehen können. Vor sich in der ersten Reihe hat er die fünf Johannes; hinter diesen ist die Menge der Jünger, die sich mit denen vermischt haben, die aus allen Teilen Palästinas gekommen sind, weil sie der Heilung oder des Wortes bedürfen.

«Der Friede sei mit euch allen, und die Weisheit sei über euch!

Hört. Eines Tages, es ist schon länger her, wurde ich von jemand gefragt, ob und bis zu welchem Punkt Gott mit den Sündern barmherzig ist. Der danach fragte, war ein Sünder, dem vergeben worden war, der sich jedoch von der vollständigen Verzeihung Gottes nicht überzeugen ließ. Ich habe ihn mit Gleichnissen beruhigt und ihm versprochen, daß ich für ihn immer über die Barmherzigkeit sprechen würde, damit sein reumütiges

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Herz, das gleich einem verirrten Kind weinte, die Gewißheit habe, sich schon auf den Besitzungen seines himmlischen Vaters zu befinden.

Gott ist Barmherzigkeit, denn Gott ist Liebe.

Der Diener Gottes muß barmherzig sein und damit Gott nachahmen.

Gott bedient sich der Barmherzigkeit als eines Mittels, um die verirrten Söhne an sich zu ziehen.

Der Diener Gottes muß sich der Barmherzigkeit bedienen als eines Mittels, um die verirrten Söhne zu Gott zurückzuführen.

Das Gebot der Liebe ist für alle verpflichtend. Aber es ist dreifach verpflichtend für die Diener Gottes.

Man kann den Himmel nicht erwerben, wenn man nicht liebt. Aber das brauche ich nur den Gläubigen zu sagen. Den Dienern Gottes sage ich: "Man kann die Gläubigen nicht für den Himmel gewinnen, wenn man nicht vollkommen liebt."

Und ihr, wer seid ihr? Ihr, die ihr euch um mich drängt? Zum größten Teil seid ihr Menschen, die nach einem vollkommenen Leben streben; nach dem gesegneten, mühevollen, erleuchteten Leben eines Dieners Gottes, eines Dieners Christi. Welche Pflichten habt ihr in diesem Leben als Diener und Werkzeug Gottes? Ihr müßt Gott und euren Nächsten in vollkommener Weise lieben. Wie? So, daß ihr Gott zurückbringt, was die Welt, das Fleisch und Satan Gott geraubt haben. Auf welche Weise? Durch die Liebe. Die Liebe hat tausend Arten, sich auszudrücken, und ein einziges Verlangen: Liebe zu lehren.

Denken wir an unseren schönen Jordan! Wie mächtig ist er in Jericho! Doch war er es schon an der Quelle? Nein! Er war nur ein Wasserfaden, und er wäre es noch, wenn er stets allein geblieben wäre. Aber von den Bergen und Hügeln, von beiden Seiten seines Tales gelangen Tausende von Zuflüssen zu ihm, die ihrerseits von Hunderten von Bächen gebildet werden und sich alle in sein Flußbett ergießen, das wächst und wächst und wächst, bis er von einem lieblichen, silberblauen Bächlein, das in seiner Kindheit noch lacht und scherzt, zu einem breiten, feierlichen, geruhsamen Fluß geworden ist, der wie ein himmelblaues Band zwischen den smaragdgrünen Ufern dahinfließt.

So ist die Liebe. Anfangs ein Faden bei den Kindern zu Beginn des Lebensweges, die sich nur aus Furcht vor Strafe gerade noch vor der schweren Sünde retten. Dann schreiten sie auf dem Weg der Vollkommenheit voran, und siehe da: auf den rauhen, trockenen, stolzen und harten Bergen der Menschheit entspringen aus dem Willen zu lieben Bäche über Bäche dieser grundlegenden Tugend, und alles dient dazu, sie entspringen und anwachsen zu lassen: die Schmerzen und die Freuden, so, wie auf dem Berg der gefrorene Schnee und die ihn schmelzende Sonne den Bach hervorbringen. Alles dient dazu, ihnen den Weg zu öffnen: die Demut wie die Reue; alles dient dazu, sie dem Hauptfluß zuzuführen. Denn die Seele,

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die es drängt, diesen Weg zu gehen, liebt den Abstieg in die Verleugnung des eigenen Ichs und trachtet danach, wieder emporzusteigen, angezogen von der göttlichen Sonne, nachdem sie zum mächtigen, schönen, wohltuenden Fluß geworden ist.

Die Bäche, die den jungen Fluß der noch scheuen Liebe nähren, sind außer den Tugenden auch die Werke, welche die Tugenden zu vollbringen anleiten. Die Werke sind, wenn sie Zuflüsse der Liebe sein sollen, Werke der Barmherzigkeit. Betrachten wir sie zusammen! Einige waren Israel schon bekannt; andere will ich euch bekanntmachen, denn mein Gesetz ist die Vervollkommnung der Liebe.

Die Hungrigen speisen!

Es ist dies eine Pflicht der Dankbarkeit und der Liebe. Eine Pflicht der Nachfolge. Die Söhne sind dem Vater dankbar für das Brot, das er ihnen verschafft, und wenn sie größer sind, tun sie es ihm nach und verschaffen ihren eigenen Kindern Brot. Auch dem Vater, der aus Altersgründen nicht mehr arbeitsfähig ist, verschaffen sie durch ihre eigene Arbeit das Brot, als liebevolle und pflichtschuldige Rückerstattung des Guten, das sie einst empfangen haben.

Das vierte Gebot sagt: "Du sollst Vater und Mutter ehren." Und ihr sollt ihre Hilflosigkeit ehren und sie nicht dazu zwingen, ihr Brot bei anderen erbetteln zu müssen.

Doch dem vierten Gebot geht das erste voraus: "Du sollst aus deinem ganzen Wesen Gott lieben", und das zweite: "Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst." Gott lieben um seiner selbst willen und ihn im Nächsten lieben, das ist Vollkommenheit.

Man liebt ihn, wenn man dem Hungrigen Brot gibt, in Erinnerung daran, daß Gott so oft des Menschen Hunger durch Wundertaten gestillt hat. Aber auch ohne das Manna und die Wachteln zu nennen, beachten wir das fortwährende Wunder des Korns, das durch die Güte Gottes keimt. Gott macht die Erde für die Bebauung geeignet, regelt die Winde, den Regen, die Wärme und die Jahreszeiten, damit der Same Ähre und die Ähre Brot werde.

Und war es nicht ein Wunder seiner Barmherzigkeit, daß er mit seinem übernatürlichen Licht den sündhaften Sohn erleuchtet und ihn gelehrt hat, daß die hohen, zarten Gräser, die unter dem Einfluß der Sonnenhitze zu goldenen, in eine harte Hülle dorniger Spelzen eingeschlossenen Körnern werden und zur Nahrung dienen, wenn sie gesammelt, gedroschen, gemahlen, gesiebt und gebacken sind? Gott hat den Menschen all dies gelehrt: wie das Korn gesammelt, gereinigt, gemahlen, vermengt und gebacken werden soll. Er legte die Steine neben die Ähren und ließ das Wasser neben den Steinen fließen; er entzündete durch die Spiegelung, den Reflex des Wassers und der Sonne, das erste Feuer auf Erden, und über das Feuer trug der Wind die Körner, so daß sie geröstet wurden und

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angenehmen Duft verbreiteten. Der Mensch sollte verstehen, daß das geröstete Korn besser schmeckt als das rohe, das die Vögel fressen, oder das zu einem klebrigen Brei mit Wasser vermengte Mehl. Ihr denkt nicht daran, wenn ihr das gute Brot, das im Haus gebacken wurde, eßt, wieviel Barmherzigkeit diese Vollkommenheit des Backens ausdrückt; welchen Weg das menschliche Wissen zurückgelegt hat, um von der ersten Ähre, die der Mensch wie das Pferd kaute, zum heutigen Brot zu gelangen. Und durch wen? Durch den Geber des Brotes. Und das gilt für jede Art von Nahrung, die der Mensch durch das wohltätige Licht des Verstandes aus Pflanzen und Tieren gewinnt, mit denen der Schöpfer die Erde, den Ort der väterlichen Strafe für den sündigen Sohn, ausgestattet hat.

Die Hungernden zu speisen ist Gebet der Dankbarkeit dem Herrn und Vater gegenüber, der unseren Hunger stillt. Es ist eine Nachahmung des Vaters, der uns ohne unser Verdienst als sein Ebenbild erschaffen hat, das wir immer mehr vervollkommnen sollen, indem wir seine Handlungen zum Vorbild nehmen.

Die Durstigen tränken!

Habt ihr darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn der Vater nicht mehr regnen ließe? Und doch, wenn er sagen würde: "Wegen eurer Herzenshärte gegen die Durstigen will ich die Wolken daran hindern, Wasser auf die Erde zu regnen": könnten wir uns ihm widersetzen und fluchen? Das Wasser kommt, mehr noch als das Korn, von Gott. Denn das Korn wird vom Menschen angebaut, aber nur Gott allein bestellt die Felder der Wolken, die als Regen oder Tau, als Nebel oder Schnee herabkommen und die Äcker tränken, die Zisternen füllen und die Flüsse und Seen anschwellen lassen, die den Fischen Aufenthalt gewähren, die wiederum den Menschen zusammen mit anderen Tieren ernähren. Könnt ihr daher jemand, der sich mit der Bitte: "Gib mir zu trinken" an euch wendet, sagen: "Nein, das Wasser gehört mir, ich gebe es dir nicht?" Lügner! Wer von euch hat auch nur eine einzige Schneeflocke oder einen Tropfen Wasser gemacht? Wer von euch hat mit seiner Sternenwärme auch nur einen einzigen Tautropfen hervorgebracht? Niemand! Gott tut es. Und wenn die Wasser vom Himmel fallen und wieder zum Himmel aufsteigen, dann geschieht dies nur, weil Gott diesen Teil der Schöpfung, wie alle anderen, regelt. Gebt daher das gute, frische Wasser der Adern des Erdbodens, das reine Wasser eures Brunnens oder das, welches eure Zisternen gefüllt hat; gebt es dem, der Durst hat. Es sind die Wasser Gottes; sie gehören allen. Gebt sie jenen, die durstig sind. Für dieses kleine Werk, das euch kein Geld kostet und keine andere Mühe erfordert als die, einen Becher oder einen Krug zu reichen, werdet ihr im Himmel eine Belohnung erhalten, ich versichere es euch. Denn nicht das Wasser, sondern die Tat der Liebe ist groß in den Augen und im Urteil Gottes.

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Die Nackten bekleiden!

Auf den Straßen der Welt geht das nackte, verschmähte, erbarmungswürdige Elend vorüber. Es sind sich selbst überlassene Greise, durch Krankheit oder Unglücksfälle arbeitsunfähig gewordene Menschen; es sind Aussätzige, die durch die Güte Gottes zum Leben zurückkehren; es sind kinderreiche Witwen, vom Unglück verfolgt und von allem beraubt, was Wohlstand bedeutet; es sind unschuldige Waisenkinder. Wenn ich das Auge über die weite Erde schweifen lasse, sehe ich überall Menschen, die nackt oder nur mit Lumpen bedeckt sind, welche gerade noch die Sittsamkeit bewahren, jedoch nicht vor der Kälte schützen; und diese Menschen betrachten mit betrübten Augen die Reichen, die in weichen Gewändern und mit weichem Schuhwerk an den Füßen vorübergehen. Eine sanfte Traurigkeit in den Guten, eine haßerfüllte Niedergeschlagenheit in den weniger Guten! Aber warum helft ihr ihnen nicht in ihrer Niedergeschlagenheit und macht sie nicht besser, wenn sie gut sind, und warum vernichtet ihr nicht durch eure Liebe ihren Haß, wenn sie weniger gut sind?

Sagt nicht: "Ich habe nur für mich." Wie bei den Broten, so ist immer etwas mehr als das absolut Notwendige auf den Tischen und in den Schränken fast aller, die nicht ganz verarmt sind. Unter meinen Zuhörern ist mehr als einer, der es verstanden hat, aus einem abgetragenen Gewand ein Kleid für ein Waisenkind oder sonst ein armes Kind zu machen; der es verstanden hat, aus einem alten Leinentuch Windeln für ein unschuldiges Kind herzustellen, dem das Nötigste fehlt. Und da ist einer, der selber betteln mußte und doch jahrelang das erbettelte Brot mit den Aussätzigen geteilt hat, die nicht betteln und die Hand an den Schwellen der Reichen nicht ausstrecken durften. Wahrlich, ich sage euch, diese Barmherzigen sind nicht unter den Reichen zu suchen, wohl aber in den Scharen der Armen, die aus eigener Erfahrung wissen, wie schmerzlich die Armut ist.

Und wie beim Wasser und beim Brot bedenkt, daß Wolle und Leinen, in die ihr euch kleidet, von Tieren und Pflanzen stammen, die der Vater nicht allein für die Reichen, sondern für alle Menschen geschaffen hat. Denn Gott hat den Menschen einen einzigen Reichtum gegeben: seinen eigenen der Gnade, der Gesundheit, des Verstandes, aber nicht den schmutzigen Reichtum des Goldes, das nicht schöner ist als andere Metalle und weniger nützlich als das Eisen, aus dem man Spaten, Pflüge, Sicheln, Sensen, Messer, Hämmer, Sägen und Hobel, die heiligen Werkzeuge der heiligen Arbeit, anfertigt; ihr aber habt das Gold zu einem edlen Metall erhoben, zu einer nutzlosen, lügenhaften Vornehmheit, durch Einflüsterung Satans, der aus euch, den Kindern Gottes, Wilde und Raubtiere macht. Den Reichtum der heiligen Dinge hat er euch gegeben, um euch immer heiliger werden zu lassen! Nicht aber den mörderischen Reichtum, der so viel Blut und Tränen vergießen läßt. Gebt, wie auch euch gegeben wurde! Gebt im

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Namen des Herrn, ohne zu befürchten, nackt bleiben zu müssen. Besser wäre es, vor Kälte zu sterben, weil man sich für einen Bettler entblößt hat, als unter weichen Gewändern aus Mangel an Liebe das Herz erfrieren zu lassen.

Die Wärme des vollbrachten guten Werkes ist wohltuender als die Wärme eines Mantels aus reinster Wolle, und die bedeckten Glieder des Armen sprechen zu Gott und bitten ihn: "Segne den, der uns bekleidet hat."

Wer Hunger und Durst stillt und Nackte bekleidet und sich selbst einschränkt, um geben zu können, vereinigt die heilige Mäßigkeit mit der heiligsten Liebe; wer von dem gibt, was er durch die Güte Gottes reichlich besitzt, und damit das Los unglücklicher Brüder, die durch die Bosheit der Menschen oder durch Krankheit das Nötigste entbehren, auf heilige Weise verändert, vereint mit der heiligen Mäßigkeit und der heiligsten Liebe noch die heilige Gerechtigkeit. Wenn ihr aber dem Pilger Gastfreundschaft gewährt, verbindet ihr die Liebe mit dem Vertrauen in den Nächsten. Auch das ist eine Tugend, wißt ihr? Eine Tugend, die bekundet, daß wer sie hat, außer der Liebe auch Rechtschaffenheit besitzt. Denn wer rechtschaffen ist, handelt recht, und wer gewohnt ist, gut zu handeln, nimmt dies auch von den anderen an und beweist damit, daß er das Vertrauen und die Einfalt hat, die Worte der anderen für wahr zu halten; er läßt erkennen, daß er selbst in großen und kleinen Dingen die Wahrheit sagt und nicht an der Ehrlichkeit anderer zweifelt.

Warum einem Fremden gegenüber, der euch um Obdach bittet, denken: "Und wenn er ein Räuber und Mörder ist?" Hängt ihr so sehr an eurem Reichtum, daß ihr bei jeder Ankunft eines Fremden um ihn bangen müßt? Hängt ihr so sehr an eurem Leben, daß ihr vor Schrecken erstarrt, wenn ihr daran denkt, daß man es euch nehmen könnte? Glaubt ihr denn nicht, daß Gott euch gegen Räuber verteidigen kann? Ihr fürchtet, daß der Wanderer ein Dieb sein könnte, und habt keine Angst vor dem finsteren Gast, der euch des Unersetzlichen beraubt? Wie viele beherbergen den Teufel in ihrem Herzen! Ich könnte sagen: alle beherbergen die Hauptsünde, doch zittert keiner deswegen. Ist etwa nur das Gut des Reichtums und des Lebens kostbar? Und ist nicht die Ewigkeit viel kostbarer, die ihr euch durch die Sünde rauben und töten laßt? Arme, arme Seelen, die ihres Schatzes beraubt und den Mördern überlassen werden, als ob sie wertlos wären, während man die Häuser verbarrikadiert, Riegel anbringt und sich Hunde und Tresore anschafft, um Dinge zu schützen, die man nicht in die Ewigkeit mitnehmen kann! Warum wollt ihr in jedem Pilger einen Dieb sehen? Wir sind Brüder und müssen den vorüberziehenden Brüdern unser Haus öffnen. Ist der Pilger nicht von unserem Blut? O ja! Er ist vom Blut Adams und Evas. Ist er nicht unser Bruder? Aber sicher! Es gibt nur einen Vater: Gott, der uns allen eine gleiche Seele gegeben hat, so wie ein Vater den Söhnen eines Ehebettes das gleiche Blut gibt. Ist der

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Pilger arm? Seht zu, daß ihr nicht noch ärmer seid als er, im Geist, ohne Freundschaft. Ist sein Kleid zerrissen? Seht zu, daß eure Seele nicht noch mehr zerrissen ist durch die Sünde! Ist sein Fuß mit Staub oder Schlamm bedeckt? Sorgt dafür, daß das Laster euer Ich nicht mehr beschmutzt hat als das weite Wandern die Sandalen. Ist sein Aussehen häßlich? Sorgt dafür, daß das eure in den Augen Gottes nicht häßlicher ist. Ist seine Sprache euch fremd? Sorgt dafür, daß eure Sprache des Herzens in der Stadt Gottes nicht unverständlich wird.

Seht im Pilger einen Bruder. Alle sind wir Pilger auf dem Weg zum Himmel, und alle pochen wir an den Türen längs des Weges, der zum Himmel führt. Die Türen sind die Patriarchen und die Gerechten, die Engel und die Erzengel, an die wir uns, um Hilfe und Schutz wenden, damit wir das Ziel erreichen, ohne im Dunkel der Nacht und in der eisigen Kälte eine Beute der Wölfe und Schakale, der Leidenschaften und Dämonen zu werden. So wie wir wollen, daß die Engel und Heiligen uns mit Liebe öffnen, uns beherbergen und uns die Kraft geben, das Leben fortzusetzen, so sollen auch wir den Pilgern dieser Erde öffnen. Und seid versichert, jedesmal, wenn wir das Haus und die Arme öffnen und einen Unbekannten mit dem süßen Ausruf "Bruder" empfangen und dabei an Gott denken, der ihn kennt, legen wir viele Meilen auf dem Weg zurück, der zum Himmel führt.

Die Kranken besuchen!

Oh, wahrlich, ebenso wie alle Menschen Pilger sind, so sind auch alle Kranke. Und die schwersten Krankheiten sind jene des Geistes, die unsichtbaren und todbringendsten. Und doch bewirken sie keinen Abscheu. Die moralische Wunde stößt nicht ab. Der Gestank des Lasters ekelt nicht an. Die dämonische Tollheit flößt keine Furcht ein. Das Geschwür des geistig Aussätzigen ruft keinen Widerwillen hervor. Man flieht nicht vor dem Grab, das voll ist vom Eiter eines an der Seele toten und verwesten Menschen. Wer sich einer solchen Unreinheit nähert, wird nicht verflucht. Armer, kurzsichtiger Mensch! Aber sagt: Was ist mehr wert, der Geist oder Fleisch und Blut? Hat die Materie die Macht, das Geistige durch ihre Berührung zu zerstören? Nein! Ich sage euch: nein! Der Geist hat einen unendlichen Wert im Vergleich zu Fleisch und Blut; aber das Fleisch hat nicht mehr Macht als der Geist. Der Geist kann nicht verdorben werden durch materielle Dinge, wohl aber durch geistige. Wenn daher jemand einen Aussätzigen pflegt, wird sein Geist dadurch nicht aussätzig, vielmehr fällt jeder Makel der Sünde von ihm ab durch die heroisch geübte Nächstenliebe, die so weit reicht, daß er sich aus Mitleid mit dem Bruder im Tal des Todes absondert. Denn die Liebe ist Freispruch von der Sünde und die erste aller Reinigungen.

Geht immer von dem Gedanken aus: "Was würde ich mir wünschen,

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wenn ich in seiner Lage wäre?" So wie ihr selbst möchtet, daß man euch tut, so sollt ihr auch eurem Nächsten tun. Jetzt hat Israel noch seine alten Gesetze. Aber der Tag wird kommen, und sein Morgengrauen ist nicht mehr fern, da man als Zeichen absoluter Schönheit das Abbild dessen verehren wird, in dem der Mann der Schmerzen des Isaias und der Gequälte des Psalms Davids wiederzuerkennen ist. Er wird, da er sich zum Aussätzigen gemacht hat, der Erlöser des Menschengeschlechtes sein; und zu seinen Wunden werden, wie die Hirsche zu den Wasserquellen, alle Dürstenden', Kranken, Erschöpften und Weinenden auf der Erde eilen, und er wird sie tränken, heilen und stärken und sie zu Getrösteten im Geist und im Fleisch machen; und die Besten werden danach verlangen, ihm ähnlich zu werden, gekreuzigt aus Liebe, um die Menschen zu erlösen und so das Werk des Königs, des Erlösers der Welt, fortzusetzen.

Ihr, die ihr noch Israel seid, aber schon die Flügelansätze zum Flug in das Himmelreich habt, beginnt von jetzt an mit der neuen Einschätzung und Bewertung der Krankheiten und lobt Gott, der euch gesund erhält, und neigt euch über den, der leidet und stirbt. Einer meiner Apostel hat einmal zu seinem Bruder gesagt: "Fürchte dich nicht, einen Aussätzigen zu berühren, denn keine Krankheit kann uns anstecken, wenn Gott es nicht will."

Er hat recht gehabt. Gott schützt seine Diener. Aber wenn ihr euch auch ansteckt beim Pflegen der Kranken, so steht ihr doch im anderen Leben auf der Liste der Märtyrer aus Liebe.

Die Gefangenen besuchen!

Glaubt ihr, daß sich auf den Galeeren nur Verbrecher befinden? Die menschliche Gerechtigkeit ist an einem Auge blind und hat an dem anderen Sehstörungen, so daß es Kamele sieht, wo nur Wolken sind, und eine Schlange mit einem blühenden Zweig verwechselt. Sie urteilt schlecht und noch schlechter, wenn der, welcher sie führt, oft vorsätzlich Nebel und Rauch erzeugt, damit sie noch unklarer sehe. Aber selbst wenn alle Gefangenen Diebe und Räuber wären, würden wir übel daran tun, uns selbst zu Räubern und Mördern zu machen, indem wir ihnen durch unsere Verachtung die Hoffnung auf Verzeihung nehmen.

Arme Gefangenen! Sie wagen nicht, die Augen zu Gott zu erheben, da sie die Last ihrer Verbrechen fühlen. Die Ketten hemmen wahrlich mehr den Geist als den Fuß. Aber wehe, wenn sie an Gott verzweifeln! Dem Verbrechen am Nächsten fügen sie noch das der Verzweiflung an der Vergebung hinzu. Die Galeere ist Sühne, wie es auch der Tod auf dem Schafott ist. Aber es genügt nicht, für das an der menschlichen Gesellschaft begangene Verbrechen zu büßen. Auch und vor allem Gott muß Genugtuung geleistet werden, wenn man das ewige Leben erlangen will. Und wer sich auflehnt und verzweifelt, sühnt nur der Gesellschaft gegenüber. Dem

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Verurteilten oder dem Gefangenen gehört die Liebe der Brüder. Sie soll ein Licht in der Finsternis sein. Sie wird zur Stimme, zur Hand, die nach oben weist, während die Stimme sagt: "Meine Liebe sagt dir, daß Gott auch dich liebt. Er hat mir diese Liebe zu dir ins Herz gelegt, mein unglücklicher Bruder." Und das Licht erlaubt es, in Gott den barmherzigen Vater zu erkennen.

Ein noch größeres Recht auf eure Liebe haben die Märtyrer der menschlichen Ungerechtigkeit; die gänzlich Unschuldigen und jene, die eine grausame Macht zu töten gezwungen hat. Urteilt nicht auch noch dort, wo das Urteil schon ausgesprochen worden ist. Ihr wißt nicht, weshalb der Mensch töten konnte. Ihr wißt nicht, daß es oftmals nur ein Toter ist, der mordet; ein der Vernunft beraubter Mensch, der nur noch mechanisch handelt, weil ein grausamer Mord, die Gemeinheit eines grausamen Verrats, ihm den Verstand genommen hat. Gott weiß es, und das genügt. Im anderen Leben wird man viele von den Galeeren, die getötet und gestohlen haben, im Himmel wiederfinden, und man wird viele, die scheinbar getötet und beraubt wurden, in der Hölle entdecken, weil sie in Wirklichkeit die wahren Räuber des Friedens, der Redlichkeit und des Vertrauens der anderen waren; weil sie die wahren Mörder eines Herzens gewesen sind: diese Pseudo-Opfer. Opfer nur, weil sie zuletzt getroffen wurden, nachdem sie jahrelang stillschweigend gemordet haben. Mord und Diebstahl sind Sünde. Aber wer tötet und raubt, weil er von anderen dazu angehalten wurde, und dann bereut, wird nicht so sehr bestraft werden wie der, der zur Sünde verleitet hat und nicht bereut.

Daher urteilt nie und seid barmherzig mit den Gefangenen. Denkt immer daran, daß, wenn alle Morde und Diebstähle bestraft würden, nur wenige Männer und Frauen nicht in den Gefängnissen oder am Kreuz sterben müßten. Die Frauen, die empfangen haben und dann nicht zulassen, daß ihre Frucht das Licht der Welt erblickt: wie wird man sie nennen? Oh, spielen wir nicht mit Worten! Sagen wir ihnen ganz offen ihren Namen: "Mörderinnen". Jene Menschen, die den anderen das Ansehen und die Stellung rauben, wie sollen wir sie nennen? Nun, einfach das, was sie sind: "Diebe". Jene Männer und Frauen, die Ehebrecher oder die Qual ihrer Familien sind und ihre Angehörigen dadurch zum Mord oder Selbstmord treiben, und die Großen der Erde, die ihre Untergebenen zur Verzweiflung treiben und mit der Verzweiflung zu Gewalttaten, welchen Namen sollen sie haben? Hier ist er: "Menschenmörder". Und? Keiner entflieht? Ihr seht, daß wir mit diesen Strafwürdigen, die der Gerechtigkeit entgangen sind und Häuser und Städte füllen, die uns auf den Straßen begegnen, in den Herbergen schlafen wie wir, und mit uns am selben Tisch sitzen, zusammenleben, ohne uns Gedanken zu machen. Und doch, wer ist ohne Sünde? Wenn der Finger Gottes an die Wand des Speisesaales die Gedanken der Geladenen schriebe; wenn er auf die Stirn der einzelnen

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Gäste schriebe, was sie sind oder waren, dann würde nur auf den wenigsten in Buchstaben des Lichtes stehen: "Unschuldig". Auf den anderen Stirnen würde mit Buchstaben, grün wie der Neid oder schwarz wie der Verrat, oder rot wie das Verbrechen, geschrieben stehen: "Ehebrecher", "Mörderin", "Dieb", "Menschenmörder"!

Seid daher ohne Überheblichkeit barmherzig gegen die, menschlich gesprochen, weniger glücklichen Brüder, die in den Gefängnissen sitzen und dort für das sühnen, wofür ihr nicht sühnt, obwohl ihr die gleichen Sünden begangen habt. Dies wird eurer Demut von Nutzen sein.

Die Toten begraben!

Die Betrachtung des Todes ist eine Schule des Lebens. Ich möchte euch allen den Tod vor Augen halten und sagen: Versteht als Heilige zu leben, damit ihr nur den einen Tod zu erdulden habt: die zeitweilige Trennung des Leibes vom Geist, um dann siegreich und wiedervereint aufzuerstehen und ewig selig zu werden.

Alle kommen wir nackt auf die Welt. Alle sterben wir und fallen der Verwesung anheim. König oder Bettler. Wie man geboren wurde, so stirbt man auch. Wenn der Reichtum der Könige auch eine längere Erhaltung des Leichnams gestattet, so kann das Fleisch doch letztlich der Zersetzung nicht entgehen. Was sind denn die Mumien? Fleisch? Nein! Vom Harz verhärtete Materie, die zu Holz geworden ist. Keine Beute der Würmer, weil entleert und von den Essenzen verbrannt, aber Beute der Holzwürmer wie altes Holz.

Der Staub kehrt zum Staub zurück, wie Gott gesagt hat. Und nur weil dieser Staub der Seele als Hülle gedient hat und von ihr belebt worden ist, ist er zu etwas geworden, das die Herrlichkeit Gottes – die Seele des Menschen – berührt hat; man kann sagen, daß er geheiligter Staub geworden ist, nicht anders als die Dinge, die mit dem heiligen Zelt in Berührung gekommen sind. Wenigstens einen Augenblick war die Seele vollkommen: als der Schöpfer sie erschuf. Dann wurde sie von der Erbsünde entstellt und ihrer Vollkommenheit beraubt, und nur durch ihren Ursprung verleiht sie der Materie Schönheit; durch diese Schönheit, die von Gott kommt, wird auch der Körper schöner und verdient Achtung. Wir sind Tempel, und als solche verdienen wir Ehre, genauso wie die Orte, an denen das heilige Zelt gestanden hat, immer geehrt worden sind.

Erweist daher den Toten die Liebe der ehrenvollen Ruhe in Erwartung der Auferstehung und seht in den wunderbaren Harmonien des menschlichen Körpers den Gedanken und den Finger Gottes, der ihn vollkommen erschaffen und geformt hat, indem ihr auch im Leichnam das Werk des Herrn verehrt.

Doch der Mensch ist nicht nur Fleisch und Blut. Er ist auch Seele und Gedanke. Auch sie leiden, und man muß ihnen Barmherzigkeit erweisen.

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Es gibt Unwissende, die Böses tun, nur weil sie das Gute nicht kennen. Wie viele kennen die Sache Gottes nicht oder nur mangelhaft, und auch nicht die Gesetze der Moral! Wie Darbende schmachten sie, weil niemand sie sättigt, und ihre Kräfte schwinden, weil es ihnen an nährender Wahrheit mangelt. Geht und belehrt sie, denn dazu habe ich euch gesammelt und sende ich euch aus. Gebt dem Hunger der Seelen das Brot des Geistes. Unwissende belehren entspricht auf geistigem Gebiet dem "Hungernde speisen"; und wenn eine Belohnung verheißen wird für ein Brot, das man einem Hungernden reicht, damit er an diesem Tag nicht sterben müsse, welcher Lohn wird dann dem gegeben werden, der einen Geist mit ewigen Wahrheiten nährt, um ihm das ewige Leben zu schenken? Behaltet nicht für euch, was ihr wißt. Umsonst und ohne Maß wurde es euch gegeben. Gebt es ohne Geiz weiter, denn es ist ein Geschenk Gottes, wie das Wasser des Himmels, und muß gegeben werden, wie es gegeben wurde.

Seid nicht geizig und seid auch nicht stolz auf euer Wissen, sondern gebt mit Demut und Hochherzigkeit. Und schenkt die klare und wohltuende Erquickung des Gebetes den Lebenden und Verstorbenen, die nach Gnade dürsten. Man darf den durstigen Mündern das Wasser nicht vorenthalten. Und wonach lechzen die Herzen der leidenden Lebenden und der büßenden Seelen der Toten? Nach Gebeten! Nach Gebeten, die durch die Liebe und den Opfergeist wirksam werden.

Das Gebet muß wahr sein, nicht mechanisch wie das Geräusch des Rades auf dem Weg. Ist es das Geräusch oder das Rad, das den Wagen fortbewegt? Es ist das Rad, das sich dreht, um den Wagen voranzubringen. Das gleiche gilt für das mechanische und das wirksame Gebet. Das erste tönt, und sonst nichts. Das zweite ist ein Werk, das Kräfte verbraucht und die Leiden vermehrt, aber den Zweck erreicht. Betet mehr durch Opfer als mit den Lippen, dann verschafft ihr den Lebenden und den Toten Erquickung, indem ihr das zweite Werk der geistlichen Barmherzigkeit vollbringt. Die Welt wird eher durch die Gebete jener gerettet werden, die zu beten verstehen, als durch geräuschvolle, unnütze und mörderische Schlachten.

Viele Menschen in der Welt haben reiches Wissen. Aber sie besitzen keinen festen Glauben. Als ob sie sich mit zwei sich gegenüberstehenden Schlachtreihen befassen müßten, pendeln sie hin und her, ohne einen Schritt vorwärts zu kommen, und mühen sich ab, ohne etwas zu erreichen. Das sind die Zweifler. Es sind jene, die beständig ein "wenn und aber" und ein "doch dann" auf den Lippen haben. Sie, die fragen: "Wird es auch so sein?" "Und wenn es mir nicht gelingt?" und so weiter. Es sind die Zaghaften, die nicht wissen, wo sie sich festhalten sollen; sie taumeln; man muß sie nicht nur stützen, sondern sie auch an jedem neuen Wendepunkt während des Tages führen.

Oh, sie brauchen viel Geduld und Liebe, mehr als ein geistig zurückgebliebenes Kind! Aber, im Namen des Herrn, laßt sie nicht im Stich! Gebt

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diesen Gefangenen ihres eigenen Ichs, ihrer nebelhaften Krankheit, euren so lichtvollen Glauben, eure feurige Kraft. Führt sie zur Sonne und zur Höhe! Seid diesen Unsicheren Meister und Väter, ohne zu ermüden und ohne die Geduld zu verlieren. Treiben sie euch zur Verzweiflung? Macht nichts! Auch ihr treibt mich oft zur Verzweiflung, und noch mehr den Vater im Himmel, der oft denken muß, daß das Wort wohl umsonst Fleisch angenommen hat, weil der Mensch auch jetzt noch zweifelt, obwohl er das Wort Gottes reden hört.

Ihr wollt euch doch nicht einbilden, daß ihr mehr als Gott, mehr als ich seid! Öffnet also diesen Gefangenen des "wenn" und "aber" die Gefängnisse. Befreit sie von den Ketten des "Kann ich es?" und "Wenn es mir nicht gelingt?" Überzeugt sie, daß es genügt, sein Bestes zu tun, um Gott zufriedenzustellen. Und wenn ihr seht, daß sie den Halt verlieren, dann geht nicht vorüber, sondern richtet sie wieder auf, wie es die Mütter tun, die nicht weitergehen, wenn ihr Kind fällt, sondern stehenbleiben, ihm aufhelfen, es sauber machen, es trösten und es schützen, bis es die Angst vor einem neuen Fall verloren hat. Und monate- und jahrelang machen sie es so mit dem Kind, wenn es schwache Beinchen hat.

Kleidet die Nackten des Geistes mit Verzeihung, wenn sie euch beleidigen.

Beleidigung ist Lieblosigkeit. Die Lieblosigkeit entfernt von Gott. Wer andere beleidigt, wird nackt, und nur die Verzeihung des Beleidigten bekleidet seine Nacktheit wieder, denn sie führt ihn zu Gott zurück. Gott wartet mit der Verzeihung, bis der Beleidigte verziehen hat. Er verzeiht sowohl dem vom Menschen Beleidigten als auch dem Beleidiger des Menschen und Gottes. Es gibt keinen, der seinen Herrn noch nie beleidigt hätte. Aber Gott verzeiht uns, wenn wir unserem Nächsten verzeihen, und er verzeiht dem Nächsten, wenn der Beleidigte ihm verziehen hat. Es wird euch geschehen, wie ihr tut. Verzeiht, wenn ihr Verzeihung wollt, und ihr werdet euch im Himmel über die Nächstenliebe, die ihr geübt habt, freuen wie über einen Sternenmantel, der auf eure heiligen Schultern gelegt wurde.

Seid barmherzig mit den Weinenden!

Sie sind die Verwundeten des Lebens, die Kranken des verletzten Herzens. Schließt euch nicht in eure Selbstzufriedenheit wie in eine Festung ein. Weint mit den Weinenden! Tröstet die Trauernden! Füllt die Leere aus, die durch den Tod eines Verwandten entstanden ist! Seid den Waisen Väter, den Eltern Kinder, und seid allen Brüder und Schwestern!

Liebt! Warum nur die Glücklichen lieben? Sie haben schon ihren Anteil an der Sonne. Liebt die Weinenden! Sie sind am wenigsten liebenswert für die Welt, denn die Welt kennt den Wert der Tränen nicht. Ihr kennt

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ihn. Liebt daher die Weinenden! Liebt sie, wenn sie sich in ihr Schicksal ergeben. Liebt sie noch mehr, wenn sie sich gegen das Leid auflehnen. Keine Vorwürfe, sondern Güte, um sie von der Wahrheit des Schmerzes zu überzeugen und sie über den Schmerz zu belehren. Sie können durch den Schleier der Tränen das Antlitz Gottes nur entstellt sehen und betrachten ihn als eine rächende Übermacht.

Nein! Nehmt keinen Anstoß an den falschen Vorstellungen, die das Fieber des Schmerzes erzeugt. Kommt ihnen zu Hilfe, um sie vom Fieber zu befreien.

Euer lebendiger Glaube soll wie das Eis sein, das man dem Fiebernden reicht. Ist das Fieber gesunken und die Niedergeschlagenheit und die Schwäche eines aus einem schrecklichen Traum Erwachten eingetreten, behandelt ihn wie ein Kind, das durch eine Krankheit geistig zurückgeblieben ist, und sprecht ihm wieder sanft und geduldig von Gott wie von etwas Neuem... Oh, welch ein schönes Märchen, um das ewige Kind, das der Mensch ist, zu zerstreuen! Dann schweigt! Seid nicht aufdringlich... Die Seele arbeitet alleine weiter. Helft ihr mit Liebkosungen und Gebet. Und wenn sie dann sagt: "Es ist also nicht Gott gewesen?" dann erwidert: "Nein! Er wollte dir nicht wehtun, denn er liebt dich auch für den, der dich nicht mehr lieben kann, weil er tot ist oder dich aus einem anderen Grund verlassen hat." Und wenn die Seele sagt: "Aber ich habe ihn angeklagt", dann antwortet: "Er hat es vergessen, denn es war im Fieber." Wenn er dann hinzufügt: "Ich verlange nach ihm", dann erklärt: "Hier ist er! Er steht an der Türe deines Herzens und wartet nur darauf, daß du ihm öffnest."

Ertragt lästige Menschen!

Sie stören die Ruhe des kleinen Hauses unseres Ichs, wie die Wanderer die Ruhe des Hauses stören, in dem wir wohnen. Aber so, wie ich euch gesagt habe, daß ihr die einen empfangen sollt, so sage ich euch auch, daß ihr die anderen empfangen sollt.

Sind sie euch lästig? Aber wenn ihr sie auch nicht liebt wegen der Störung, die sie euch verursachen, so lieben sie doch euch mehr oder weniger. Um dieser Liebe willen nehmt sie auf. Und wenn sie auch neugierig, gehässig, beleidigend werden, übt immer Geduld und Liebe! Ihr könnt sie mit eurer Geduld bessern. Ihr könnt durch eure Lieblosigkeit Ärgernis erregen. Es soll euch schmerzen, daß sie sündigen; aber noch mehr soll es euch schmerzen, wenn ihr die Ursache der Sünden seid und selbst sündigt. Nehmt sie in meinem Namen auf, wenn ihr sie nicht mit eurer Liebe aufnehmen könnt. Gott wird euch belohnen und euren Besuch erwidern, indem er die bösen Erinnerungen mit seinen übernatürlichen Liebeserweisen auslöscht.

Schließlich, bestattet die Sünder, um ihre Rückkehr zum Leben der

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Gnade vorzubereiten. Wißt ihr, wann ihr dies tut? Wenn ihr sie mit väterlicher, geduldiger und liebevoller Eindringlichkeit ermahnt. Es ist, als ob ihr die Häßlichkeiten des Körpers, eine nach der anderen, begraben würdet, bevor ihr den Körper zu Grabe tragt, in Erwartung des Befehles Gottes: "Erhebe dich und komme zu mir!"

Wir Juden reinigen die Toten aus Ehrfurcht vor der Auferstehung des Fleisches. Die Ermahnung der Sünder kommt einer Reinigung der Glieder vor dem Begräbnis gleich. Das Übrige wird die Gnade des Herrn tun. Reinigt sie mit Liebe, Tränen und Opfern. Entreißt die Seelen auf heroische Weise dem Verderben. Seid heroisch!

Ihr werdet nicht unbelohnt bleiben. Denn wenn schon für ein dem Durstigen gereichtes Glas Wasser eine Belohnung gegeben wird, was wird dem dann gegeben werden, der eine Seele vor dem höllischen Durst bewahrt?

Ich habe gesprochen. Diese Werke der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit vermehren die Liebe. Geht und tut sie! Der Friede Gottes und mein Friede seien allezeit mit euch.»

319. DER GEIZ UND DER TÖRICHTE REICHE

Jesus befindet sich auf einem Hügel am westlichen Ufer des Sees. Vor seinen Augen breiten sich die Städte und Dörfer der beiden Ufer aus, doch direkt am Fuß seines Hügels liegen Magdala und Tiberias. Ersteres hat ein ganz in Gärten verstecktes Luxusviertel, das von den armen Häusern der Fischer, Bauern und einfachen Leute durch einen zurzeit ausgetrockneten Bach getrennt ist; die andere Stadt, in all ihren Teilen herrlich, kennt weder Armut noch Verfall und erstrahlt schön und neu am See in der Sonne. Zwischen der einen und der anderen Stadt die wenigen, aber wohlgepflegten Gärten in der kleinen Ebene, dann, an den Hängen bis zu den Kuppen der Hügel, die Olivenhaine. Hinter dem Rücken Jesu sieht man den Sattel des Berges der Seligpreisungen, an dessen Fuß sich die Hauptstraße hinzieht, die vom Mittelmeer nach Tiberias führt. Vielleicht hat Jesus diese Stelle wegen der Nähe der sehr belebten Straße ausgewählt, auf der die Menschen von vielen Orten am See oder vom Inneren Galiläas kommen und am Abend auch leicht nach Hause zurückkehren oder eines der Dörfer erreichen können, um Unterkunft zu finden. Es ist hier nicht so heiß wegen der Höhenlage und der großen Bäume, die auf dem Gipfel die Ölbäume ablösen.

Tatsächlich hat sich schon viel Volk zu den Aposteln und Jüngern gesellt. Menschen, die gekommen sind, um Jesus um Gesundheit oder Rat zu bitten. Leute, die aus Neugierde gekommen oder weil sie von Freunden

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eingeladen worden sind. Eine große Volksmenge also. Die Jahreszeit, die nicht mehr so heiß ist, sondern schon zur herbstlichen Milde neigt, lädt mehr denn je dazu ein, Jesus aufzusuchen.

Jesus hat schon Kranke geheilt und zu den Menschen gesprochen, gewiß über den ungerechten Reichtum und die Loslösung von diesem, die notwendig ist für alle, um sich den Himmel zu verdienen, aber unerläßlich für jene, die Jesu Jünger sein wollen. Und nun antwortet er auf die Fragen des einen oder anderen reichen Jüngers, die darüber ein wenig beunruhigt sind.

Der Schriftgelehrte Johannes sagt: «Muß ich also vernichten, was ich habe, und die Meinen des ihrigen entledigen?»

«Nein! Gott hat dir Besitz gegeben. Mache ihn der Gerechtigkeit dienstbar und bediene dich seiner mit Redlichkeit. Das heißt: erhalte mit dem Besitz deine Familie, das ist Pflicht; behandle die Diener menschlich, das ist Liebe; tue den Armen Gutes und komme den armen Jüngern zu Hilfe. So werden dir deine Besitztümer nicht ein Hindernis, sondern eine Hilfe sein.»

Darauf wendet Jesus sich an alle: «Wahrlich, ich sage euch, daß selbst der ärmste Jünger Gefahr läuft, den Himmel zu verlieren, wenn er mein Priester geworden ist und aus Liebe zu den Reichtümern gegen die Gerechtigkeit fehlt, indem er mit den Reichen gemeinsame Sache macht. Wer reich oder böse ist, wird oft versuchen, euch mit Geschenken zu verlocken, um eure Zustimmung für seine Lebensweise und seine Sünde zu erhalten. Es wird auch unter meinen Jüngern geschehen, daß sie der Versuchung, Geschenke anzunehmen, erliegen. Das darf nicht sein! Der Täufer lehrt es euch! Wahrlich, ohne Richter zu sein, war er ein vollkommener Richter und Lehrer gemäß dem Deuteronomium: "Du sollst keine persönliche Rücksicht und keine Geschenke nehmen, denn sie blenden die Augen der Weisen und verdrehen die Worte der Gerechten." Zu oft läßt der Träger des Schwertes der Gerechtigkeit die Klinge stumpf werden durch das Gold, das ein Sünder ihm daraufschüttet.

Nein, das darf nicht sein! Versteht es, arm zu sein, seid bereit zu sterben, aber schließt nie ein Bündnis mit der Sünde. Nicht einmal mit der Entschuldigung, das Gold für die Armen zu verwenden. Es ist verfluchtes Gold und würde ihnen nur schaden. Es ist das Gold eines üblen Kompromisses.

Ihr seid als Jünger bestellt, Lehrer, Ärzte und Erlöser zu sein. Was würde aus euch werden, wenn ihr aus Eigennutz Mitläufer des Bösen würdet? Meister der schlechten Wissenschaft, Ärzte, die den Kranken töten; nicht Retter, sondern Mitschuldige am Verderben der Seelen.»

Einer aus der Menge tritt vor und sagt: «Ich bin kein Jünger. Aber ich bewundere dich. Antworte mir daher auf diese Frage: Ist es erlaubt, daß einer dem anderen Geld vorenthält?»

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«Nein, Mann! Das ist Diebstahl, genauso, wie wenn jemand einem Vorübergehenden die Tasche nimmt.»

«Auch wenn das Geld der Familie gehört?»

«Auch dann! Es ist ungerecht, wenn einer sich das Geld aller anderen aneignet.»

«Dann komm auf dem Weg nach Damaskus nach Abelmain, Meister, und befiehl meinem Bruder, mir meinen Anteil am Erbe des verstorbenen Vaters zu geben, der kein Testament hinterlassen hat. Mein Bruder hat alles an sich genommen. Es ist bekannt, daß wir Zwillinge der ersten und einzigen Geburt sind. Ich habe also die gleichen Rechte wie er.»

Jesus schaut ihn an und sagt: «Das ist eine peinliche Angelegenheit, und dein Bruder handelt sicher nicht recht. Alles, was ich tun kann, ist, für dich und mehr noch für ihn beten, damit er sich bekehre, und in dein Dorf kommen, dort predigen und dadurch sein Herz rühren. Ich scheue den Weg nicht, wenn ich den Frieden unter euch wiederherstellen kann.»

Der Mann fährt giftig auf: «Was soll ich mit deinen Worten anfangen? In diesem Fall braucht es anderes als Worte.»

«Aber hast du mich nicht gebeten, deinem Bruder zu befehlen ...»

«Befehlen ist nicht dasselbe wie predigen. Der Befehl ist immer mit einer Drohung verbunden. Drohe ihm, daß du ihn schlägst, wenn er mir nicht das Meine gibt. Du kannst es tun. Wie du Gesundheit schenkst, so kannst du auch Krankheiten geben.»

«Mann, ich bin gekommen, um zu bekehren, nicht um zu schlagen. Aber wenn du Vertrauen in meine Worte hast, wirst du Frieden finden.»

«Welche Worte?»

«Ich habe dir gesagt, daß ich für dich und deinen Bruder beten werde, damit du getröstet wirst, und er sich bekehrt.»

«Märchen! Geschichten! Ich bin nicht so dumm, an sie zu glauben. Komm und befiehl.»

Jesus, der sanft und geduldig war, wird nun machtvoll und streng. Er richtet sich auf, während er sich bisher ein wenig über das korpulente und zornige Männlein geneigt hat, und sagt: «Wer hat mich zum Schiedsrichter zwischen euch bestellt? Niemand! Aber um diesen Zwist zwischen zwei Brüdern zu beheben, war ich bereit zu kommen und meine Mission als Friedensstifter und Erlöser auszuüben, und wenn du an meine Worte geglaubt hättest, hättest du bei deiner Rückkehr nach Abelmain deinen Bruder schon bekehrt vorgefunden. Du kannst nicht glauben. Und so wirst du das Wunder nicht erlangen. Wenn es dir gelungen wäre, dich dieses Schatzes zu bemächtigen, dann hättest du ihn behalten und deinen Bruder leer ausgehen lassen; denn wahrlich, so wie ihr als Zwillinge geboren seid, so habt ihr auch die gleichen Leidenschaften, und du hast, wie dein Bruder, nur eine Liebe: das Gold, und einen Glauben: das Gold. Bleib also bei deinem Glauben. Leb wohl!»

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Der Mann geht fluchend davon, ein Ärgernis für die anderen, die ihn bestrafen möchten. Doch Jesus hält sie zurück und sagt: «Laßt ihn gehen. Warum wollt ihr euch die Hände beschmutzen, indem ihr einen groben Menschen schlagt? Ich verzeihe ihm, denn er ist vom Dämon des Goldes besessen, der ihn verführt. Macht es mir nach! Wir wollen für diesen Unglücklichen beten, damit er wieder ein Mensch mit einer schönen, freien Seele wird.»

«Es ist wahr: auch sein Gesichtsausdruck ist durch seine Habgier ganz abscheulich geworden. Hast du ihn gesehen?» fragen sich die Jünger und die Leute, die in der Nähe stehen, gegenseitig.

«Es ist wahr! Es ist wahr! Er ist ein ganz anderer geworden.»

«Ja. Als er den Meister zurückwies, hätte er ihn beinahe geschlagen, während er ihn beschimpfte, und nahm den Gesichtsausdruck eines Dämons an.»

«Ein teuflischer Verführer. Er wollte den Meister zu einer Schlechtigkeit verführen ...»

«Hört», sagt Jesus. «Tatsächlich spiegelt sich der Seelenzustand eines Menschen in seinem Antlitz wieder. Es ist, als ob der Dämon sich im Äußeren des von ihm besessenen Menschen zeigte. Es gibt nur wenige von Dämonen besessene Menschen, die sich nicht durch ihre Werke und durch ihr Aussehen als das verraten, was sie sind. Und diese wenigen sind die vollkommen Bösen und vollkommen Besessenen.

Das Gesicht des Gerechten hingegen ist immer schön, selbst wenn seine Züge entstellt sind, denn es ist schön durch eine übernatürliche Schönheit, die sich vom Innern auf das Äußere überträgt. Nicht nur gewissermaßen, sondern tatsächlich können wir beobachten, wie dem von Lastern Unberührten auch Frische des Fleisches eigen ist. Die Seele ist in uns und durchdringt uns ganz. Die Fäulnis einer verkommenen Seele aber verdirbt auch das Fleisch, während die Düfte einer reinen Seele es schützen. Die verdorbene Seele treibt das Fleisch zu wüsten Sünden an, und diese machen alt und entstellen. Die reine Seele fordert das Fleisch zu einem reinen Leben auf, und so bewahrt es seine Frische und strahlt Würde aus.

Sorgt dafür, daß in euch die reine Jugend des Geistes erhalten bleibt oder daß ihr sie wiedererlangt, wenn sie verlorengegangen ist, und hütet euch vor jeder Begehrlichkeit der Sinne oder der Macht. Das Leben des Menschen hängt nicht vom Überfluß der Güter ab, die er besitzt, und weder das irdische noch das andere Leben, das ewige, hängt davon ab! Es hängt ab von der Lebensweise. Und mit dem Leben das Glück dieser Erde und des Himmels. Denn der Lasterhafte ist nie wirklich glücklich, während den Tugendhaften immer eine himmlische Freude erfüllt, auch wenn er arm und einsam ist. Nicht einmal der Tod beeindruckt ihn. Denn weder Sünden noch Gewissensbisse lassen ihn die Begegnung mit Gott fürchten; er trauert dem nicht nach, was er zurücklassen muß. Er weiß, daß sein

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Schatz im Himmel ist, und er geht wie einer, der von seinem Erbe, dem heiligen Erbe, Besitz ergreifen will, ruhig und froh dem Tod entgegen, der ihm die Tore öffnet zum Reich, wo sein Schatz ist.

Bereitet jetzt euren Schatz vor. Beginnt schon in der Jugend, ihr, die ihr noch jung seid; arbeitet unablässig, ihr Älteren, die ihr wegen eures Alters dem Tod näher seid. Und da ihr nicht wißt, wann ihr diese Welt verlaßt und der Jüngling oft vor dem Greis stirbt, verschiebt diese Arbeit nicht und schafft euch einen Schatz an Tugenden und guten Werken für das andere Leben, damit euch nicht der Tod ereilt, bevor ihr einen Schatz an Verdiensten im Himmel habt. Viele sagen: "Oh, ich bin noch jung und stark! Jetzt will ich mein Leben genießen, später will ich mich bekehren!" Großer Irrtum!

Hört dieses Gleichnis. Einem reichen Mann haben seine Ländereien eine reichliche Ernte gebracht. Wirklich eine wunderbare Ernte. Er betrachtet glücklich all seinen Reichtum, der sich in Hülle und Fülle auf seinen Feldern und seinen Tennen anhäuft; und da er keinen Platz mehr in den Scheunen hat, um ihn unterzubringen, benützt er sogar die Räume seines Hauses. Dann sagt er zu sich: "Ich habe gearbeitet wie ein Sklave, aber die Erde hat mich nicht enttäuscht. Ich habe für zehn Ernten gearbeitet, und jetzt will ich mich entsprechend ausruhen. Wie kann ich alles unterbringen? Ich will nichts verkaufen, denn ich wäre dann gezwungen, wieder zu arbeiten für eine neue Ernte im nächsten Jahre. Ich mache es so: Ich will meine Scheunen abreißen und größere bauen, in denen meine ganze Ernte, und was ich besitze, Platz hat. Dann will ich zu meiner Seele sagen: 'O meine Seele! Du hast nun Vorrat für viele Jahre. Ruhe dich aus, iß und trink und laß es dir gut gehen."' Dieser Mann verwechselt wie so viele andere den Körper mit der Seele und vermischt das Heilige mit dem Unheiligen, denn wahrlich, in der Schwelgerei und im Müßiggang erfreut sich die Seele nicht, sondern sie verkümmert; so ruht er sich wie viele andere nach der ersten großen Ernte auf den Feldern des Guten aus, da ihm scheint, daß schon alles getan ist.

Wißt ihr denn nicht, daß man, wenn man die Hand an den Pflug gelegt hat, durchhalten muß, zehn oder hundert Jahre, solange das Leben dauert; denn Aufhören ist ein Verbrechen gegen sich selbst, durch das man die Erlangung einer größeren Herrlichkeit unmöglich macht; es ist ein Rückschritt, denn wer beim Durchschnittlichen stehenbleibt, kommt nicht nur nicht mehr vorwärts, er geht vielmehr rückwärts. Der Schatz des Himmels muß sich von Jahr zu Jahr vermehren, um Wert zu haben. Denn, wenn die Barmherzigkeit auch mit dem gütig sein wird, der nur wenige Jahre Zeit hatte, so ist sie nicht Helfershelfer der Trägen, die viele Jahre haben und wenig tun. Es ist ein Schatz, der ständig anwachsen muß, sonst ist er kein gewinnbringendes, sondern totes Kapital, und dies auf Kosten des im Himmel wartenden Friedens. Gott sagte zum Törichten:

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"Du törichter Mensch, der du den Körper und die irdischen Güter mit dem, was Geist ist, verwechselst und die Gnade Gottes in Schlechtes verkehrst, wisse, daß noch heute nacht deine Seele von dir gefordert werden und der Körper leblos zurückbleiben kann. Was du vorbereitet hast, wem wird es gehören? Kannst du es mitnehmen? Du wirst ohne deine irdische Ernte und ohne Verdienste für den Himmel erworben zu haben vor mir erscheinen und im anderen Leben arm sein. Besser wäre es für dich gewesen, du hättest mit deiner Ernte Barmherzigkeit am Nächsten geübt. Denn wenn du gegen deinen Nächsten barmherzig bist, ist Gott auch dir barmherzig. Anstatt an Müßiggang zu denken, hättest du Tätigkeiten nachgehen sollen, die deinem Körper wahren Nutzen und deiner Seele Verdienste einbringen, bis ich dich rufen werde." Und der Mann starb in der Nacht und wurde streng gerichtet.

Wahrlich, ich sage euch, so geht es dem, der irdische Reichtümer sammelt, aber in den Augen Gottes arm bleibt. Nun geht und zieht einen Nutzen aus der Lehre, die ich euch gegeben habe. Der Friede sei mit euch!»

Jesus segnet das Volk und zieht sich mit den Aposteln und den Jüngern in einen dichten Hain zurück, um etwas zu essen und sich auszuruhen. Doch während der Mahlzeit fährt er mit der Belehrung fort und kommt auf ein Thema zurück, über das er schon oft zu den Aposteln gesprochen hat. Doch es ist gut, darauf wieder und wieder einzugehen, da der Mensch sich zu sehr von seinen törichten Ängsten überwältigen läßt.

«Glaubt mir», sagt er, «daß man nur darauf bedacht sein muß, an Tugend reich zu werden. Und achtet darauf, daß eure Bemühungen niemals mit Aufregung und Unruhe verbunden sind. Das Gute ist den Unruhen, den Ängsten und der Hetze, die noch an Geiz, Eifersucht und menschliches Mißtrauen erinnern, feind.

Eure Arbeit sei ausdauernd, vertrauensvoll, friedfertig. Ohne plötzlichen Beginn und plötzliche Unterbrechung. So machen es die Wildesel. Aber niemand außer einem Schwachsinnigen bedient sich ihrer, wenn er sicher reisen will. Friedfertig in Siegen, friedfertig in Niederlagen! Auch die Tränen über einen begangenen Fehler, der euch betrübt, weil ihr damit Gott mißfallen habt, müssen friedvoll sein, getröstet durch Demut und Vertrauen. Die Niedergeschlagenheit und der Zorn auf sich selbst sind immer ein Zeichen von Hochmut und Mißtrauen. Wenn einer demütig ist, weiß er, daß er ein armer Mensch und den Nöten des Fleisches unterworfen ist, das manchmal triumphiert. Wenn einer demütig ist, hat er kein zu großes Vertrauen in sich selbst, sondern er vertraut auf Gott und bleibt auch bei Fehlschlägen ruhig und sagt: "Verzeih mir, Vater. Ich weiß, daß du meine Schwächen kennst, die mich manchmal übermannen. Ich glaube, daß du Mitleid mit mir hast. Ich habe das feste Vertrauen, daß du mir in Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit helfen wirst, obwohl ich dich so wenig zufriedengestellt habe."

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Und dann, seid weder apathisch noch geizig hinsichtlich der Gaben Gottes. Gebt, was ihr an Weisheit und Tugend besitzt. Seid tätig im Geist, so wie die Menschen in den Dingen des Fleisches geschäftig sind. Und was das Fleisch betrifft, macht es nicht jenen in der Welt nach, die immer um ihre Zukunft besorgt sind und fürchten, es könnte ihnen an Überfluß fehlen, es könnten Krankheiten oder Tod kommen, es könnten ihnen Feinde Schaden zufügen und so weiter.

Gott weiß, was ihr nötig habt. Fürchtet daher nicht für eure Zukunft. Seid frei von Ängsten, die schwerer wiegen als die Ketten der Galeerensträflinge. Sorgt euch nicht um euer Leben oder um das, was ihr essen, trinken und womit ihr euch bekleiden sollt. Das Leben des Geistes ist mehr wert als das Leben des Körpers, und der Körper ist mehr wert als das Gewand; denn ihr lebt mit dem Körper und nicht mit dem Gewand, und durch die Abtötung des Körpers helft ihr dem Geist, das ewige Leben zu erlangen. Gott weiß, wie lange er die Seele in eurem Körper lassen wird; solange wird er euch das Notwendige geben. Er gibt es den Raben, unreinen Tieren, die sich von Kadavern nähren und ihre Daseinsberechtigung darin haben, daß sie die Verwesung beseitigen. Und da sollte er es euch nicht geben? Sie haben keine Vorratskammern und Scheunen, und Gott ernährt sie doch. Ihr seid Menschen und keine Raben. Gegenwärtig seid ihr die Blüte der Menschheit, denn ihr seid die Jünger des Meisters, die Verkünder des Evangeliums in dieser Welt, die Diener Gottes. Und glaubt ihr, daß Gott, der sich um die Lilien der Felder kümmert und sie wachsen läßt und schöner kleidet als Salomon gekleidet war, ohne daß sie etwas anderes tun als ihn durch ihren Duft anzubeten, es euch an Kleidung fehlen läßt?

Ihr könnt nicht einmal in einen zahnlosen Mund einen Zahn einsetzen; ihr könnt ein verkrüppeltes Bein nicht um eine Daumenbreite wachsen lassen, noch einem blinden Auge die Sehkraft wiedergeben. Und wenn ihr dazu nicht fähig seid, wie könnt ihr dann glauben, daß es euch gelingt, Elend und Krankheiten von euch fernzuhalten und den Staub in Nahrung zu verwandeln? Ihr könnt es nicht! Doch seid nicht schwach im Glauben; ihr werdet immer haben, was ihr braucht. Sorgt euch nicht wie die Menschen der Welt, die sich abrackern, um sich vergnügen zu können. Ihr habt euren Vater, der weiß, was euch fehlt. Ihr müßt allein darauf bedacht sein, und es soll eure erste Sorge sein, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen, alles übrige wird euch hinzugegeben werden.

Fürchte dich nicht, meine kleine Herde! Meinem Vater hat es gefallen, euch zum Reich zu berufen, damit ihr dieses Reich besitzt. Ihr könnt daher nach ihm streben und dem Vater mit eurem guten Willen und eurem heiligen Tun helfen. Verkauft eure Güter und gebt Almosen, wenn ihr allein seid. Laßt den Euren das Nötige, wenn ihr das Haus verlaßt, um mir zu folgen; denn es ist gerecht, den Kindern und den Frauen das Brot nicht

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vorzuenthalten. Wenn ihr euer Geld nicht opfern könnt, dann opfert den Reichtum des Mitgefühls. Auch das sind Münzen, die Gott als solche bewertet, und zwar wie reinstes Gold und Perlen, die kostbarer sind als die des Meeres; wie Rubinen, die seltener sind als die aus dem Schoß der Erde. Denn meinetwegen auf die eigene Familie verzichten bedeutet Liebe, die vollkommener ist als lauteres Gold, eine Perle aus Tränen und ein Rubin aus Blut, das aus der Wunde des Herzens quillt, das zerrissen wurde durch die Trennung von Vater und Mutter, von Frau und Kindern.

Und diese Börsen bekommen keine Löcher, dieser Schatz geht nie verloren. Diebe können nicht in den Himmel eindringen. Die Motte zerstört nicht, was dort aufgehoben ist. Habt den Himmel im Herzen und das Herz im Himmel bei eurem Schatz. Denn das Herz, sei es gut oder böse, ist immer dort, wo es glaubt, daß sich sein Schatz befindet. So wie das Herz also dort ist, wo der Schatz ist – im Himmel – so ist der Schatz dort, wo das Herz ist – also in euch -; ja, der Schatz ist im Herzen, und mit dem Schatz der Heiligen ist im Herzen der Himmel der Heiligen.

Seid immer bereit wie einer, der auf Reisen gehen will oder auf seinen Herrn wartet. Ihr seid Diener Gottes, des Herrn. Jede Stunde kann er euch zu sich rufen oder dorthin kommen, wo ihr seid. Seid daher immer bereit, aufzubrechen oder ihm mit zur Reise oder zur Arbeit gegürteten Lenden und mit brennenden Lampen Ehre zu erweisen. Beim Verlassen des Hochzeitssaales mit einem, der euch in den Himmel, oder bei der Weihe an Gott auf Erden, vorausgegangen ist, kann Gott sich euer, die ihr wartet, erinnern und sagen: "Gehen wir zu Stephanus oder Johannes, zu Jakobus oder Petrus." Gott kommt unversehens und sagt: "Komm!" Seid daher bereit, ihm die Tür zu öffnen, wenn er kommt, oder aufzubrechen, wenn er euch ruft.

Selig die Diener, die der Herr wachend findet, wenn er kommt. Wahrlich, um sie für ihre treue Erwartung zu belohnen, wird er sein Gewand schürzen und sie am Tisch Platz nehmen lassen, um sie zu bedienen. Das kann zur ersten, zur zweiten oder zur dritten Nachtwache geschehen. Ihr wißt es nicht. Seid daher immer wachsam! Selig seid ihr, wenn euch der Herr wachend findet! Täuscht euch nicht, indem ihr sagt: "Es ist noch Zeit! Heute nacht wird er nicht kommen." Es könnte schlecht ausgehen. Ihr wißt es nicht. Wenn einer wüßte, wann der Dieb kommt, würde er das Haus nicht unbewacht und den Bösewicht nicht die Türe und die Schlösser aufbrechen lassen. Seid auch ihr wachsam, denn wenn ihr am wenigsten daran denkt und darauf vorbereitet seid, wird der Menschensohn kommen und sagen: "Die Stunde ist gekommen."»

Petrus, der sogar vergessen hat, fertigzuessen, um dem Herrn zuzuhören, fragt nun: «Was du da sagst, gilt das für uns oder für alle?»

«Es gilt für euch und für alle. Doch mehr für euch, denn ihr seid wie Aufseher, die der Herr an die Spitze seiner Diener gestellt hat; ihr seid

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doppelt verpflichtet, bereit zu sein, als Aufseher und als einfache Gläubige.

Wie muß der vom Herrn an die Spitze der Diener bestellte Aufseher sein, um jedem zur rechten Zeit den gerechten Anteil zu geben? Er muß gewissenhaft und treu sein. Um seine Pflicht zu erfüllen und um die Untergebenen ihre Pflicht erfüllen zu lassen. Sonst würden die Angelegenheiten des Herrn, der dafür bezahlt, daß der Aufseher ihn vertritt und in seiner Abwesenheit die Geschäfte abwickelt, Schaden leiden. Selig der Knecht, den der Herr bei seiner Rückkehr treu, eifrig und gerecht vorfindet. Wahrlich, ich sage euch, er wird ihn auch zum Aufseher über andere Güter, alle seine Güter, machen und sich ausruhen und sich in seinem Herzen freuen über die Sicherheit, die ein solcher Diener ihm gibt.

Wenn aber dieser Knecht sich sagt: "Oh, gut! Der Herr ist weit fort und hat mir geschrieben, daß sich seine Rückkehr verzögern wird. So kann ich tun, was ich will, und wenn seine Ankunft bevorsteht, werde ich mich um alles kümmern"; wenn er dann zu essen und zu trinken beginnt, bis er betrunken ist, und betrunken Anordnungen gibt, und die guten Knechte, die ihm unterstellt sind, sich weigern, ihm zu gehorchen, um dem Herrn keinen Schaden zuzufügen; wenn er dann anfängt, Diener und Dienerinnen zu schlagen, so daß sie krank werden und dahinsiechen; wenn er glaubt, glücklich zu sein und sagen zu können: "Endlich kann ich einmal verkosten, was es heißt, Herr zu sein und von allen gefürchtet zu werden", was wird dann geschehen? Es wird geschehen, daß der Herr zurückkehrt, wenn er es am wenigsten erwartet; vielleicht in eben dem Augenblick, da er Geld einsteckt oder einen der schwächeren Knechte besticht. Dann -das sage ich euch – wird der Herr ihn von seinem Posten als Aufseher und sogar aus den Reihen seiner Diener verjagen, denn es ist nicht statthaft, Untreue und Verräter unter den Redlichen zu lassen. Und je mehr der Herr ihn zuvor geliebt und unterwiesen hatte, desto mehr wird er bestraft werden.

Denn je besser man die Absichten und den Willen des Herrn kennt, desto mehr ist man gehalten, alles mit äußerster Sorgfalt auszuführen. Wer nicht alles ausführt, was der Herr ihm ausführlich gesagt hat, wird schwer bestraft werden, während ein geringerer Diener, der wenig weiß und Fehler macht im Glauben, das Richtige zu tun, weniger bestraft werden wird. Von dem, dem viel gegeben wurde, wird auch viel verlangt werden, und wer beauftragt war, viel zu verwalten, wird viel geben müssen; denn von meinen Verwaltern wird auch die Seele des Kindes gefordert werden, das nur eine Stunde gelebt hat.

Die Auserwählung durch mich bedeutet nicht ein Ausruhen in einem kühlen, blühenden Wald. Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu bringen und was kann ich anderes verlangen, als daß es brenne! Deshalb

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mühe ich mich und will, daß ihr euch abmüht bis zum Tod und bis die Erde zu einem Scheiterhaufen des himmlischen Feuers geworden ist.

Ich muß mit einer Taufe getauft werden. Und wie sehr drängt es mich, daß es bald geschehe! Fragt ihr euch nicht, warum? Weil ich euch dadurch zu Trägern des Feuers werden lassen kann, zu Arbeitern, die in allen und gegen alle gesellschaftlichen Schichten wirken werden, um aus ihnen eine einzige Gemeinschaft zu machen: die Herde Christi.

Glaubt ihr, daß ich gekommen sei, Frieden auf die Erde zu bringen? Den Frieden, den die Welt will? Nein, vielmehr Zwietracht und Trennung. Denn von nun an und solange die ganze Erde nicht eine einzige Herde ist, werden von fünf, die in einem Haus wohnen, drei gegen zwei sein, und der Vater wird gegen den Sohn sein, und der Sohn gegen den Vater, und die Mutter gegen die Töchter, und diese gegen sie, und die Schwiegermütter und die Schwiegertöchter werden einen Grund mehr haben, sich nicht zu verstehen; denn eine neue Sprache wird auf manchen Lippen sein, und es wird ein Babel geben, denn das Reich der menschlichen und übermenschlichen Beziehungen wird eine tiefe Erschütterung erleben. Aber dann wird die Stunde kommen, in der alle durch eine neue Sprache verbunden sind: die Sprache, die von all denen gesprochen wird, die vom Nazarener erlöst sind; und der Strom der Gefühle wird gereinigt werden und aller Schmutz auf den Grund sinken, und an der Oberfläche werden die klaren Wellen der himmlischen Seen erglänzen.

Wahrlich, mir zu dienen ist kein Ausruhen, wie die Menschen den Sinn dieses Wortes auslegen. Es braucht dazu Heroismus und Beharrlichkeit. Aber ich sage euch: am Ende wird Jesus sein, immer noch Jesus, der sich gürten wird, um euch zu bedienen und sich zusammen mit euch zu einem ewigen Gastmahl niederzusetzen, und Mühe und Schmerz werden vergessen sein.

Und nun, da uns niemand mehr sucht, wollen wir zum See gehen. Wir werden uns in Magdala ausruhen. In den Gärten Marias des Lazarus ist Platz für alle, und sie hat das Haus dem Pilger und seinen Freunden zur Verfügung gestellt. Es ist nicht nötig, daß ich euch sage, daß Maria Magdalena, die Sünderin, gestorben und Maria des Lazarus durch ihre Reue als Jüngerin Jesu zu einem neuen Leben erstanden ist. Ihr wißt es schon, denn die Nachricht davon hat sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Aber das wißt ihr noch nicht: alle persönlichen Güter Marias des Lazarus sind für die Diener Gottes und für die Armen Christi bestimmt. Laßt uns gehen...»

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320. IM GARTEN MARIA MAGDALENAS

Jesus ist nicht mehr dort, wo er bei der letzten Vision war. Er befindet sich jetzt in einem großen Garten, der bis zum See reicht und in dessen Mitte ein Haus liegt. Dieser Garten dehnt sich hinter dem Haus dreimal so weit aus wie davor und an den Seiten.

Es gibt dort Blumen, aber vor allem Bäume und grüne Winkel, die teils kostbare Marmorbecken umrahmen, teils steinerne Tische und Sitze bergen. Da und dort, bei Lorbeer- und Buchsstauden und Wasserbecken, in deren klarem Wasser sie sich einst spiegelten, müssen auch Statuen gestanden haben, von denen nur noch die Sockel übriggeblieben sind. Die Anwesenheit Jesu mit den Seinen und die der Leute von Magdala, darunter auch der kleine Benjamin, der gewagt hatte, Iskariot zu sagen, daß er böse sei, läßt mich vermuten, daß es die Gärten um das Haus Magdalenas sind... gereinigt und hergerichtet für ihre neue Aufgabe; alle Dinge, die Anstoß erwecken oder an ihre Vergangenheit erinnern könnten, sind weggeräumt worden.

Das graublaue Gekräusel des Sees spiegelt den Himmel wider, an dem Wolken voll der ersten Herbstregen dahinziehen, doch ist er auch so schön, in diesem ruhigen und friedlichen Licht eines Tages, der nicht heiter, aber auch noch nicht regnerisch ist. An den Ufern des Sees gibt es nicht mehr viele Blumen, aber dafür hat sie der größte Maler, der Herbst, mit seinen ockerfarbenen und purpurnen Pinselstrichen bemalt, während das sterbende Laub der Bäume und Reben sich verfärbt, bevor sie der Erde ihre lebenden Gewänder überlassen.

Eine Stelle im Garten einer Villa, die wie diese hier am See liegt, ist von so flammendem Rot, als wolle sich Blut ins Wasser ergießen; es ist eine Hecke aus biegsamen Zweigen, die der Herbst in eine feurige Kupferfarbe getaucht zu haben scheint, während am Ufer die Weiden mit ihren schmalen, blausilbernen Blättern schimmern, die nun vor dem Sterben blasser sind als sonst.

Jesus schaut nicht auf das, was ich sehe. Er schaut auf die armen Kranken, denen er Heilung gewährt. Er schaut auf die armen Bettler, an die er Almosen verteilt. Er schaut auf die Kinder, die ihm von den Müttern entgegengehalten werden, damit er sie segne. Und er schaut auf eine Gruppe von Schwestern, die ihm von ihrem einzigen Bruder berichten, dessen Benehmen die Mutter an Herzeleid hat sterben lassen und der das ganze Vermögen verpraßt hat; sie bitten Jesus, ihnen einen Rat zu erteilen und für sie zu beten.

«Gewiß will ich beten. Ich will Gott bitten, daß er euch den Frieden gebe, daß euer Bruder sich bekehre und sich eurer erinnere; daß er euch erstatte, was recht ist, und vor allem, daß er euch wieder liebe. Denn wenn er euch liebt, wird er auch alles andere tun. Ihr aber, liebt ihr ihn oder

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empfindet ihr Groll gegen ihn? Verzeiht ihr ihm von Herzen, oder sind eure Tränen mit Haß gemischt? Auch er ist unglücklich. Mehr als ihr! Trotz der Reichtümer ist er ärmer als ihr, und man muß Mitleid mit ihm haben. Er besitzt die Liebe nicht mehr, und auch Gott liebt ihn nicht mehr. Seht ihr, wie unglücklich er ist? Ihr und eure Mutter, die schon als erste vorangegangen ist, werdet mit dem Tod jubelnd das traurige Leben beenden, zu dem er euch gezwungen hat. Er aber nicht. Einen falschen Genuß würde er für eine schreckliche, ewige Qual eintauschen. Kommt näher zu mir! Ich will zu allen sprechen, indem ich zu euch spreche.»

Und Jesus begibt sich in die Mitte einer mit Blütensträuchern bewachsenen Wiese, wo früher eine Statue stand. Ihr Sockel ist von einer niedrigen Myrthenhecke und Zwergröschen umgeben. Jesus stellt sich vor diese Hecke und gibt zu verstehen, daß er reden möchte. Alle schweigen und scharen sich um ihn.

«Der Friede sei mit euch! Hört!

Es steht geschrieben: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Aber wer ist der Nächste? Das ganze Menschengeschlecht im allgemeinen. Dann, im engeren Sinn, alle Landsleute; im noch engeren, alle Mitbürger; dann alle Verwandten, und schließlich der letzte Kreis dieses Kranzes der Liebe, der wie Rosenblätter das Innere der Blume umgibt, die Liebe zu den Brüdern dem Blut nach: den am nächsten Stehenden. Das Zentrum des Herzens der Blume der Liebe ist Gott. Die Liebe zu ihm ist die erste, die wir haben müssen. Danach kommt die Liebe zu den Eltern, denn Vater und Mutter bilden sozusagen den kleinen "Gott" auf Erden; sie haben bei unserer Erschaffung mitgewirkt und unermüdlich für uns gesorgt. Um diesen Fruchtknoten herum, dessen Blütenstempel und Staubgefäße schimmernd und die Düfte der Liebe ausströmen, schließen sich die Kreise der verschiedenen Liebesarten an. Der erste ist der Kreis der Geschwister, die aus dem gleichen Schoß stammen und vom gleichen Blut sind wie wir.

Aber warum soll man den Bruder lieben? Nur weil er vom gleichen Fleisch und Blut stammt wie wir? So machen es auch die Vöglein, die im gleichen Nest versammelt sind. Sie haben tatsächlich nichts anderes gemeinsam als dies: daß sie aus der gleichen Brut stammen und daß sie auf der Zunge den gleichen Geschmack des Speichels von Vater und Mutter verspüren. Wir Menschen sind mehr als die Vögel. Wir haben mehr als ein Fleisch und Blut. Wir haben noch einen Vater außer dem irdischen Vater und der Mutter. Wir haben eine Seele, und wir haben Gott, den Vater aller Menschen. Daher müssen wir den Bruder als Bruder lieben, dem unser Vater und unsere Mutter das Leben geschenkt haben, und als Bruder, der Gott zum Vater hat.

Wir müssen ihn also auch geistig lieben, nicht nur menschlich. Wir müssen ihn lieben nicht allein wegen des Fleisches und des Blutes, sondern wegen des Geistes, den wir gemeinsam haben. Es ist unsere Pflicht,

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unseren Bruder mehr dem Geist als dem Fleisch nach zu lieben, denn der Geist ist mehr als das Fleisch. Und der himmlische Vater ist mehr als der menschliche. Der Geist hat einen höheren Wert als das Fleisch, und unser Bruder wäre viel unglücklicher, wenn er den himmlischen Vater verlieren würde, als wenn er den irdischen entbehren müßte.

Ein irdisches Waisenkind zu sein ist herzzerreißend, aber es ist nur eine halbe Vaterlosigkeit. Sie beeinträchtigt nur das, was irdisch ist, unser Bedürfnis nach Beistand und Liebe. Wenn aber der Geist zu glauben weiß, wird er nicht durch den Tod des Vaters getrübt, sondern vielmehr steigt der Geist des Sohnes, wie von der Kraft der Liebe angezogen, empor, um sich dorthin zu begeben, wo sich der Gerechte befindet. Und ich sage euch, daß das Liebe ist, Liebe zu Gott und zum Vater, der mit seiner Seele aufgestiegen ist zum Ort der Weisheit. Auch der Sohn steigt zu diesem Ort auf, wo er näher bei Gott ist. Es fehlt ihm nicht an echter Hilfe, an den Gebeten des Vaters, der nunmehr vollkommen zu lieben versteht. Gezügelt von der Gewißheit, daß der Vater jetzt sein Tun besser als zu Lebzeiten sieht, und dem Wunsch, sich durch ein heiliges Leben wieder mit ihm zu vereinigen, führt er nun ein redlicheres Leben.

Deswegen muß man sich mehr um die Seele als um den Körper des eigenen Bruders kümmern. Armselig wäre die Liebe, die sich nur um das kümmert, was vergänglich ist, während sie vernachlässigt, was nicht verdirbt; diese Vernachlässigung zieht den Verlust der ewigen Glückseligkeit nach sich. Gar zahlreich sind jene, die sich mit unnützen Dingen abmühen und sich aufreiben für etwas, was nur relativen Wert hat, während sie aus dem Auge verlieren, was wirklich notwendig ist. Die guten Schwestern und die guten Brüder sollen nicht nur dafür sorgen, daß die Kleider in Ordnung sind, daß Speise und Trank bereitstehen, oder daß sie mit ihrer Arbeit den Brüdern helfen, sondern sie müssen sich auch über die Seelen der Brüder neigen und deren Stimmen lauschen, ihre Fehler sehen und sich mit liebevoller Geduld bemühen, ihnen einen gesunden und heiligen Geist zu vermitteln, wenn sie in ihren Reden oder Fehlern eine Gefahr für ihr ewiges Leben erkennen. Und sie müssen, wenn der Bruder gegen sie fehlt, ihm zu verzeihen suchen und die Verzeihung Gottes erbitten durch seine Rückkehr zur Liebe, ohne die Gott nicht verzeihen kann.

Im Buch Leviticus heißt es: "Du sollst deinen Bruder nicht in deinem Herzen hassen, sondern ihn öffentlich zur Rede stellen, um seinetwegen keine Schuld auf dich zu laden." Aber vom Nichthassen bis zum Lieben ist ein weiter Weg. Es könnte euch scheinen, daß Abneigung, Abkehr und Gleichgültigkeit keine Sünden sind, da sie ja nicht Haß sind. Nein! Ich komme, um die Liebe und notwendigerweise auch den Haß in ein neues Licht zu rücken; denn je mehr die erstere sich erhebt, um so tiefer fällt der andere.

Meine Lehre ist Vollkommenheit. Sie ist Feinheit des Fühlens und des

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Urteilens. Sie ist die Wahrheit, nicht Metapher und Umschreibung. Und ich sage euch, daß Abneigung, Abkehr und Gleichgültigkeit schon Haß sind, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie nicht Liebe sind. Das Gegenteil von Liebe ist Haß. Könnt ihr der Abneigung einen anderen Namen geben? Der Abkehr von einem Menschen? Der Gleichgültigkeit? Wer liebt, empfindet Zuneigung zum Geliebten; wenn er ihm also abgeneigt ist, liebt er ihn nicht mehr. Wer liebt, bleibt ihm, auch wenn das Leben ihn räumlich vom Geliebten entfernt, geistig nah. Wer sich daher geistig von jemandem trennt, liebt ihn nicht mehr. Wer liebt, kennt keine Gleichgültigkeit gegen den Geliebten, sondern er interessiert sich für alles, was ihn betrifft. Wenn daher jemand einem anderen gegenüber gleichgültig wird, so ist dies ein Zeichen dafür, daß er keine Liebe mehr für ihn empfindet. Ihr seht also, daß diese drei Dinge Äste eines einzigen Baumes sind: des Hasses. Was geschieht, sobald uns jemand, den wir lieben, beleidigt? In neunzig von hundert Fällen empfinden wir, wenn auch nicht gleich Haß, so doch Abneigung oder Gleichgültigkeit. Nein, handelt nicht so. Laßt euer Herz nicht erkalten in diesen drei Formen des Hasses. Liebt!

Aber ihr werdet euch fragen: "Wie können wir das?" Ich antworte euch: "So wie Gott es kann, der auch den liebt, der ihn beleidigt. Eine schmerzliche, aber immer gute Liebe!" Ihr fragt weiter: "Und wie sollen wir es machen?" Ich gebe euch das neue Gesetz über die Beziehungen zum schuldigen Bruder und sage: "Wenn dein Bruder dich beleidigt, dann kränke ihn nicht durch öffentlichen Tadel, sondern gehe in deiner Liebe so weit, daß sie vor den Augen der Welt den Fehler verbirgt." Denn es wird dir als großes Verdienst in den Augen Gottes angerechnet, wenn du deinem Stolz jegliche Genugtuung vorenthältst.

Oh! Wie sehr gefällt es dem Menschen, andere wissen zu lassen, daß er beleidigt wurde und darunter leidet! Wie ein törichter Bettler geht er nicht zum König, um eine Goldmünze zu erbitten, sondern zu anderen törichten Bettlern, um sich eine Handvoll Asche, Schmutz und einen giftigen, brennenden Trunk zu erbetteln. Denn das gibt die Welt dem Beleidigten, der sich beklagt und um Trost bettelt. Gott, der König, aber gibt dem pures Gold, der nach einer Beleidigung ohne Groll zu seinen Füßen weint und von ihm, der Liebe und Weisheit ist, Kraft der Liebe und Unterweisung erbittet. Wenn ihr also getröstet werden wollt, dann geht zu Gott und handelt mit Liebe.

Ich sage euch und vervollständige damit das alte Gesetz: "Wenn dein Bruder gegen dich gefehlt hat, geh und versuche, ihn unter vier Augen auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Wenn er dich anhört, hast du deinen Bruder wiedergewonnen. Und gleichzeitig hast du viele Segnungen Gottes erworben. Wenn er dich aber nicht anhört, sondern zurückweist und in seiner Schuld verharrt, dann hole, damit er nicht glaube, du seist

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mit der Beleidigung einverstanden oder der brüderlichen Liebe gegenüber gleichgültig, zwei oder drei Zeugen, die ernst, gut und vertrauenswürdig sind, und wiederhole in ihrer Gegenwart deinen Versuch, damit diese Zeugen bestätigen können, daß du alles getan hast, um deinen Bruder heiligmäßig zu bessern. Denn das ist die Pflicht eines guten Bruders, da das dir zugefügte Unrecht seiner Seele schadet und du dich um seine Seele kümmern mußt. Wenn er dann immer noch nicht hört, lasse es die Synagoge wissen, damit sie ihn im Namen Gottes zur Ordnung rufe. Wenn er sich auch jetzt nicht bessert und die Synagoge oder den Tempel zurückweist, wie er dich zurückgewiesen hat, so sei er dir wie ein Zöllner und Heide!"

Verfahrt euch so mit euren Brüdern dem Blut und der Liebe nach. Auch eure entferntesten Nächsten müßt ihr mit Heiligkeit behandeln, ohne Habsucht, ohne Unerbittlichkeit, ohne Haß. Ist es notwendig, das Gericht anzurufen und du gehst mit deinem Gegner dorthin, so versuche, o Mensch, der du dich oft durch deine eigene Schuld in schlimmeren Situationen befindest, dich noch auf dem Weg mit ihm auszusöhnen, ob du nun im Recht oder Unrecht bist. Denn die menschliche Gerechtigkeit ist immer unvollkommen, und gewöhnlich siegt die Verschlagenheit über die Gerechtigkeit; und der Schuldige kann als Unschuldiger aus dem Prozeß hervorgehen, während du, Unschuldiger, selbst für schuldig erkannt wirst. In diesem Fall würde dir nicht nur dein Recht verweigert werden, sondern du müßtest, obgleich unschuldig, infolge der Verleumdung die Rolle des Schuldigen übernehmen, und der Richter würde dich dem Vollstrecker des Urteils überliefern, der dich nicht freilassen würde, bis du den letzten Pfennig bezahlt hättest.

Sei versöhnlich. Leidet dein Stolz darunter? Sehr gut! Schrumpft dein Beutel dabei? Noch besser! Die Hauptsache ist, daß deine Heiligkeit zunimmt. Habt kein Verlangen nach Gold. Seid nicht auf Lob bedacht. Handelt so, daß Gott euch loben kann. Bereitet euch einen guten Platz im Himmel vor! Und betet für die, die euch beleidigen, damit sie bereuen. Wenn euch dies gelingt, werden sie selbst euch Ehre erweisen und euch Gutes tun. Tun sie es nicht, wird Gott daran denken!

Geht nun, denn es ist Essenszeit. Nur die Armen sollen hierbleiben und sich an den Tisch der Apostel setzen. Der Friede sei mit euch!»

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321. JESUS SENDET DIE ZWEIUNDSIEBZIG AUS, IHN ZU VERKÜNDIGEN

Jesus hat nach der Mahlzeit die Armen entlassen und ist mit den Aposteln und Jüngern im Garten Maria Magdalenas zurückgeblieben. Sie setzen sich an das Ufer des ruhigen Sees, auf dem die Fischerboote dahinsegeln.

«Sie werden einen guten Fang machen», bemerkt Petrus, der sie beobachtet.

«Auch du wirst einen guten Fang machen, Simon des Jonas!»

«Ich, Herr? Wann? Willst du, daß ich für die Mahlzeit von morgen zum Fischfang hinausfahre? Ich gehe sofort und...»

«Wir brauchen uns in diesem Haus nicht um die Nahrung zu kümmern. Den Fang, den ich meine, wirst du in Zukunft und auf geistigem Gebiet tun. Und mit dir werden gute Fischer sein, die meisten von diesen hier.»

«Nicht alle, Meister?» fragt Matthäus.

«Nicht alle! Aber sie, die ausharren und meine Priester sein werden, werden gute Fänge machen.»

«Bekehrungen, nicht wahr?» fragt Jakobus des Zebedäus.

«Bekehrungen, Vergebung, Führung zu Gott. Oh, viele Dinge!»

«Höre, Meister! Du hast vorhin gesagt, wenn einer den Bruder nicht anhört, nicht einmal in Gegenwart von Zeugen, dann soll er in die Synagoge gebracht werden. Wenn ich aber recht verstanden habe, was du uns sagst seit wir uns kennen, muß ich annehmen, daß die Synagoge durch die Kirche ersetzt werden wird, durch deine Gründung. Wohin werden wir dann gehen, wenn wir uns mit hartnäckigen Brüdern versöhnen wollen?»

«Ihr geht zu euch selbst, denn ihr werdet meine Kirche sein. Daher kommen die Gläubigen zu euch, um sich in ihren Angelegenheiten beraten zu lassen oder andere beraten zu können. Aber ich sage euch noch mehr. Ihr werdet dann nicht nur belehren können, ihr werdet auch in meinem Namen lossprechen können. Ihr werdet aus den Ketten der Sünde befreien, und zwei, die sich lieben, trauen können, damit sie ein Fleisch seien. Und was ihr getan habt, wird gültig sein in den Augen Gottes, wie wenn Gott selbst es getan hätte. Wahrlich, ich sage euch: was ihr auf Erden binden werdet, wird auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein. Ferner sage ich euch, damit ihr die Macht meines Namens, der brüderlichen Liebe und des Gebetes begreift, wenn zwei meiner Jünger, und damit meine ich alle, die an mich glauben, sich versammeln, um eine gerechte Sache in meinem Namen zu erbitten, so wird sie ihnen von meinem Vater gegeben werden, denn das Gebet ist eine große Macht, und eine große Macht ist ebenso die brüderliche Liebe; aber eine noch größere, unendliche Macht ist mein

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Name und meine Gegenwart unter euch. Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen und bete mit ihnen, und der Vater wird dem nichts verweigern, der mit mir betet. Viele erhalten nichts, weil sie allein beten, weil sie um unerlaubte Dinge beten, weil sie mit Stolz oder mit einer Sünde im Herzen beten. Schafft euch ein reines Herz, damit ich bei euch sein kann, und dann betet, und ihr werdet erhört werden.»

Petrus ist nachdenklich geworden. Jesus sieht es und fragt ihn nach dem Grund. Und Petrus erklärt: «Ich denke an die große Aufgabe, zu der wir berufen sind. Ich fürchte mich davor. Ich habe Angst, nicht fähig dazu zu sein.»

«Tatsächlich, Simon des Jonas oder Jakobus des Alphäus oder Philippus und so weiter, ihr wäret nicht fähig dazu. Doch der Priester Petrus, der Priester Jakobus, der Priester Philippus oder der Priester Thomas wird dazu fähig sein, denn er wird zusammen mit der göttlichen Weisheit wirken.»

«Und... wie oft müssen wir unseren Brüdern verzeihen? Wie oft, wenn sie gegen die Priester sündigen, und wie oft, wenn sie sich gegen Gott versündigen? Denn wenn sich nichts ändert, werden sie gegen uns sündigen, wie sie jetzt gegen dich sündigen. Sage mir, ob ich immer verzeihen muß oder nur einige Male. Siebenmal zum Beispiel, oder noch öfter?»

«Ich sage dir, nicht nur siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal, eine Zahl ohne Maß! Denn auch der Vater im Himmel verzeiht euch immer wieder, euch, die ihr vollkommen sein solltet. Und wie er mit euch tut, so sollt auch ihr tun, denn ihr vertretet Gott auf Erden. Hört! Ich will euch ein Gleichnis erzählen, das allen dienen wird.»

Und Jesus, der von den Aposteln umgeben in einem Buchsbaumrondell gewesen ist, begibt sich nun zu den Jüngern, die sich respektvoll bei einem mit klarem Wasser gefüllten Becken niedergelassen haben. Das Lächeln Jesu ist wie ein Signal, daß er nun reden wird. Während er mit seinen ruhigen, langen Schritten herankommt, mit denen er in kurzer Zeit und ohne Eile einen längeren Weg zurücklegen kann, freuen sie sich wie Kinder, die sich geliebt wissen, und bilden einen Kreis, einen Kranz aufmerksamer Gesichter. Jesus lehnt sich gegen einen hohen Baum und beginnt zu reden.

«Was ich vorher zum Volk gesagt habe, das soll jetzt für euch vervollständigt und erklärt werden, denn ihr seid die Auserwählten des Volkes. Vom Apostel Simon des Jonas wurde ich gefragt: "Wie oft soll ich verzeihen? Wem? Und warum?" Ich habe ihm geantwortet, und ich will nun meine Antwort für euch alle wiederholen, da ihr schon jetzt wissen müßt, was gerecht ist.

Hört, warum und wie oft man verzeihen soll. Man muß verzeihen, wie Gott verzeiht, der, wenn jemand auch tausendmal sündigt und es bereut,

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tausendmal verzeiht; der verzeiht, wenn er nur sieht, daß der Schuldige nicht den Willen zur Sünde hat noch das Verlangen nach dem, was zur Sünde verführt, und daß die Sünde nur die Folge einer menschlichen Schwäche ist. Nur im Fall eines freiwilligen Verharrens in der Sünde kann es für die gegen das Gesetz begangenen Sünden keine Verzeihung geben. Doch soweit euch diese Verfehlungen persönlich treffen und schmerzen, verzeiht! Verzeiht immer dem, der euch Böses zufügt. Verzeiht, damit auch euch verziehen werde; denn auch ihr habt gegen Gott und die Brüder gefehlt. Die Verzeihung öffnet das Reich des Himmels sowohl dem, der Verzeihung erlangt, als auch dem, der verziehen hat. Die Verzeihung gleicht dem, was einst zwischen einem König und seinen Dienern geschah.

Ein König wollte mit seinen Dienern Abrechnung halten. Er rief also einen nach dem anderen zu sich, angefangen bei den Höchstgestellten. Es kam einer, der ihm zehntausend Talente schuldete. Aber der Schuldner konnte den Vorschuß nicht zurückzahlen, den der König ihm gegeben hatte, damit er sich Häuser und Besitz jeder Art beschaffe, denn er hatte aus vielen mehr oder weniger berechtigten Gründen das für diese Zwecke geliehene Geld nicht sorgfältig verwendet. Der König, unwillig über seine Trägheit und Wortbrüchigkeit, befahl, ihn, seine Frau, seine Kinder und alles, was er besaß, zu verkaufen, bis er seine Schuld beglichen hätte. Doch der Diener warf sich dem König zu Füßen und flehte unter Tränen: "Laß mich gehen. Habe noch etwas Geduld, und ich will dir alles zurückgeben, was ich dir schulde, bis zum letzten Denar!" Der König erbarmte sich dieses verzweifelten Mannes – denn er war ein guter König – und gab nicht nur seinen Bitten nach, sondern erließ ihm schließlich sogar die gesamte Schuld, als er erfuhr, daß der mangelnde Fleiß auch auf Krankheiten zurückzuführen war.

Der Diener ging glücklich von dannen. Beim Hinausgehen stieß er aber auf einen anderen Diener, einen armen Untergebenen, dem er hundert Denare geliehen hatte, die er von den tausend Talenten des Königs genommen hatte. Überzeugt, in der Gunst des Königs zu stehen, glaubte er, daß ihm alles erlaubt sei; und er packte diesen Unglücklichen am Hals und sagte: "Gib mir sofort zurück, was du mir schuldig bist!" Vergeblich weinte der Mann, warf sich zu Boden und jammerte: "Habe Erbarmen mit mir, der ich so viel Unglück hatte. Habe noch ein wenig Geduld, und ich will dir alles bis zum letzten Pfennig zurückgeben!" Der erbarmungslose Knecht rief sofort die Soldaten herbei und ließ den Unglücklichen ins Gefängnis werfen, damit er sich entscheide, ob er bezahlen oder die Freiheit oder sogar das Leben verlieren wolle.

Die Angelegenheit kam den Freunden des Unglücklichen zu Ohren. Sie wurden alle traurig und berichteten ihrem Herrn, dem König, davon. Dieser ließ den unbarmherzigen Knecht vor sich führen, blickte ihn streng an und sagte: "Du böser Knecht. Ich habe dir geholfen, damit auch du

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Barmherzigkeit übest und damit du dir ein Besitztum aufbauen kannst; ich habe dir ferner geholfen, indem ich dir die Schuld nachließ, nachdem du mich so inständig um Geld gebeten hattest. Du hattest mit deinesgleichen kein Mitleid, während ich, der König, dir so viel Mitleid bezeigte. Warum hast du nicht gehandelt, wie ich gehandelt habe?" Und er überließ ihn den Gefängniswärtern, damit sie ihn gefangen hielten, bis alles bezahlt wäre, und sagte: "Weil du kein Erbarmen gehabt hast mit einem, der dir nur wenig schuldig war, während du von mir, dem König, so viel Erbarmen erfahren hast, findest du auch jetzt bei mir kein Erbarmen mehr!"

So wird auch mein Vater mit euch verfahren, wenn ihr unbarmherzig gegen die Brüder seid; denn nachdem ihr so viel von Gott erhalten habt, seid ihr ihm mehr schuldig als ein einfacher Gläubiger. Bedenkt, daß ihr mehr als alle anderen die Pflicht habt, ohne Sünde zu sein. Bedenkt, daß Gott euch eine große Summe vorstreckt, aber auch verlangt, daß ihr Rechenschaft darüber ablegt. Denkt daran, daß niemand mehr als ihr Liebe üben und verzeihen können muß.

Seid keine Knechte, die viel für sich haben wollen, aber nichts denen abgeben, die sie darum bitten. Wie ihr tut, so wird auch euch getan werden. Und es wird von euch auch Rechenschaft gefordert über die Taten derjenigen, die durch euer Beispiel zum Guten oder zum Bösen angeleitet worden sind. Oh, wahrlich, wenn ihr andere heiligt, werdet ihr eine große Herrlichkeit im Himmel besitzen! Aber wenn ihr Verderber oder träge im Heiligen seid, werdet ihr hart bestraft werden.

Ich sage es euch noch einmal! Wenn einer von euch sich nicht bereit fühlt, Opfer seiner eigenen Mission zu sein, soll er weggehen, aber nicht gegen sie fehlen. Er lasse es weder an seiner eigenen Ausbildung noch an der der anderen fehlen, wo es sich um wahrhaft schwerwiegende Dinge handelt. Er muß sich Gott zum Freund machen, indem er in seinem Herzen immer Vergebung für die Schwachen hegt. Denn seht, jeder, der dem Nächsten zu verzeihen weiß, wird auch von seinem Vater Verzeihung erlangen.

Der Aufenthalt ist zu Ende. Das Laubhüttenfest ist nahe. Jene, zu denen ich heute in der Frühe gesprochen habe, werden morgen aufbrechen, um mir vorauszugehen und mich den Menschen anzukündigen. Die, die zurückbleiben, sollen deswegen nicht betrübt sein. Ich habe einige von ihnen aus Gründen der Vorsicht zurückbehalten, nicht weil ich sie mißachte. Sie werden bei mir bleiben, und bald will ich auch sie aussenden, wie die ersten zweiundsiebzig. Die Ernte ist groß, und der Arbeiter werden immer wenige sein, gemessen am Bedarf. Es wird also immer Arbeit für alle geben. Daher bittet ohne Eifersucht den Herrn der Ernte, daß er immer neue Arbeiter in seine Ernte sende.

Nun geht! Ich und meine Apostel haben euch in diesen Tagen über die

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Arbeit, die ihr zu tun habt, unterwiesen und alles wiederholt, was ich den Zwölfen gesagt habe vor ihrer Aussendung. Einer von euch hat mich gefragt: "Aber wie werde ich in deinem Namen heilen können?" Heilt immer zuerst den Geist. Versprecht den Kranken das Reich Gottes, wenn sie an mich glauben können; und wenn ihr in ihnen Glauben seht, dann befehlt der Krankheit zu weichen; sie wird weichen. Und so macht es auch mit den Kranken im Geist! Erweckt als erstes den Glauben. Teilt ihnen mit sicherem Wort die Hoffnung mit. Ich werde alsdann das Meinige tun und in ihnen die göttliche Liebe entzünden, so wie ich sie auch euch ins Herz gelegt habe, nachdem ihr an mich geglaubt und auf meine Barmherzigkeit gehofft habt. Fürchtet weder die Menschen noch Satan. Sie werden euch nicht schaden. Hütet euch nur vor der Sinnlichkeit, dem Stolz und dem Geiz. Dann werdet ihr euch Satan und den von Satan besessenen Menschen stellen können.

Geht nun! Geht mir auf dem Weg längs des Jordan voraus. Wenn ihr Jerusalern erreicht habt, begebt euch zu den Hirten im Tal von Bethlehem und kommt mit ihnen zu dem euch bekannten Ort. Dort wollen wir zusammen das heilige Fest feiern, um dann gestärkter denn je zu unserer Mission zurückzukehren.

Geht in Frieden! Ich segne euch im heiligen Namen des Herrn!»

322. DIE BEGEGNUNG MIT LAZARUS IM LAGER DER GALILÄER

Das berühmte Lager der Galiläer – ich glaube, Jesus wollte damit den Ort bezeichnen, wo er sich mit den zweiundsiebzig vorausgesandten Jüngern treffen will – ist nichts anderes als ein Teil des Ölberges, an dem die Straße nach Bethanien vorbeiführt. Es ist genau der Ort, an dem ich in einer weit zurückliegenden Vision Joachim und Anna mit dem damals noch kleinen Alphäus habe lagern sehen, anläßlich des Laubhüttenfestes, das der Empfängnis der Jungfrau vorausging.

Der Ölberg ist eine sanfte Anhöhe. Alles ist sanft an diesem Berg: der Anstieg, der Ausblick der Gipfel. Er strahlt Frieden aus mit seinen Ölbäumen und seiner Stille. In diesem Augenblick nicht, denn jetzt wimmelt er von Menschen, die mit dem Aufstellen der Laubhütten beschäftigt sind. Doch normalerweise ist es ein Ort der Ruhe und der Betrachtung. Zur Linken – von dem aus gesehen, der nach Norden blickt – ist eine kleine Niederung und dann eine weitere Anhöhe, jedoch nicht so hoch wie der Ölberg selbst.

Und hier, auf dieser Erhebung, schlagen die Galiläer ihr Lager auf. Ich weiß nicht, ob es ein religiöser, nunmehr jahrhundertealter Brauch ist,

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oder ob es die Römer angeordnet haben, um Streitigkeiten mit den Juden oder Leuten aus anderen Gegenden, die den Galiläern nicht so gut gesinnt sind, zu vermeiden. Ich weiß nur, daß ich schon viele Galiläer sehe, und unter diesen Alphäus der Sara aus Nazareth, Judas, den alten Gutsbesitzer von Meron, den Synagogenvorsteher Jairus und andere, die von Bethsaida, Kapharnaum und sonstigen galiläischen Städten gekommen sind, deren Namen ich jedoch nicht kenne.

Jesus weist ihnen am östlichen Rand des Lagers den Platz für ihre Hütten an. Die Apostel, zusammen mit einigen Jüngern, unter denen sich auch der Schriftgelehrte Johannes, der Synagogenvorsteher Timoneus, ferner Stephanus, Ermastheus, Joseph von Emmaus und Abel von Bethlehem in Galiläa befinden, machen sich daran, die Hütten aufzubauen. Sie arbeiten, während Jesus mit den Kindern von Kapharnaum spricht, die sich um ihn geschart haben, ihn hundert Dinge fragen und ihm weitere hundert anvertrauen, als auf der Straße von Bethanien Lazarus mit dem unzertrennlichen Maximinus daherkommt. Jesus wendet ihnen den Rücken zu und sieht sie nicht kommen. Doch Iskariot sieht sie und gibt dem Meister ein Zeichen, so daß er die Kinder verläßt und lächelnd den Freunden entgegengeht. Maximinus bleibt stehen, um den beiden bei ihrer ersten Begegnung volle Freiheit zu lassen. Und Lazarus läuft die letzten hundert Meter so rasch er kann, mit einem Lächeln, in dem Schmerz auf den Lippen und Tränen in den Augen zittern. Lazarus wirft sich ihm mit einem heftigen Tränenausbruch an die Brust.

«Warum, mein Freund? Weinst du denn immer noch ... ?» fragt ihn Jesus und küßt ihn auf die Schläfe, da er einen Kopf größer als Lazarus ist und Lazarus noch dazu in seiner Umarmung der Liebe und der Hochachtung gebückt dasteht.

Endlich hebt Lazarus den Kopf und sagt: «Ich weine, ja. Ich habe dir im vergangenen Jahre die Perlen meiner Tränen der Trauer geschenkt, und es ist nur recht und billig, daß ich dir auch die Perlen meiner Freudentränen schenke. Oh, Meister! Mein Meister! Ich glaube, es gibt nichts demütigeres und heiligeres als gute Tränen... Und ich schenke sie dir, um dir zu danken für meine Maria, die jetzt wieder ein glückliches, heiteres, reines und gutes Mädchen ist... noch besser als damals, als sie noch ein Kind war. Und ich, der ich mich über sie erhaben fühlte in meinem Stolz als gesetzestreuer Israelit, fühle mich nun so klein, ein Nichts, im Vergleich zu ihr, die kein Geschöpf mehr ist, sondern eine Flamme. Eine heiligende Flamme! Ich... ich kann nicht verstehen, wo sie die Weisheit, die Worte und Taten findet, die das ganze Haus erbauen. Ich betrachte sie, wie man ein Geheimnis betrachtet. Wie konnten nur so viel Feuer und so viele Perlen unter so viel Schmutz verborgen sein und gedeihen? Weder ich noch Martha werden so hoch steigen wie sie. Wie ist sie dazu fähig, da ihr das Laster doch die Flügel zerrissen hatte? Ich kann es nicht verstehen ...»

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«Es ist auch nicht notwendig, daß du verstehst. Es genügt, daß ich verstehe. Aber ich sage dir: Maria hat die gewaltigen Energien ihres Wesens auf das Gute gerichtet. Sie hat ihr Temperament den Gesetzen der Vollkommenheit unterworfen. Und da es das Temperament einer mächtigen Unbedingtheit ist, geht sie diesen Weg ohne Vorbehalte. Sie bedient sich ihrer Erfahrung im Bösen, um im Guten so groß zu sein wie sie es im Bösen war, und ebenso wie zuvor dem Bösen, gibt sie sich jetzt Gott ganz hin. Sie hat das Gebot verstanden: liebe Gott mit deinem ganzen Sein, mit deinem ganzen Körper, mit deiner ganzen Seele und mit allen deinen Kräften! Wenn Israel aus Marien bestünde, wenn die Welt aus Marien bestünde, dann hätten wir das Reich Gottes, wie es im höchsten Himmel sein wird, schon auf Erden.»

«Oh, Meister, Meister! Und es ist Maria von Magdala, die solche Worte verdient... ?!»

«Es ist Maria des Lazarus. Die große Schwester meines großen Freundes. Wie habt ihr erfahren, daß ich hier bin, da meine Mutter noch nicht nach Bethanien gekommen ist?»

«Der Verwalter vom "Trügerischen Gewässer" hat mich nach einem Gewaltmarsch erreicht und mir mitgeteilt, daß du kommen würdest. Und ich habe jeden Tag einen Diener hierher gesandt. Vor kurzem ist er gekommen und hat gesagt: "Er ist eingetroffen und hält sich im Lager der Galiläer auf." Ich bin sofort aufgebrochen...»

«Aber du leidest ...»

«Sehr, Meister! Die Beine...»

«Und du bist gekommen! Ich hätte dich bald aufgesucht...»

«Ich hatte es zu eilig, dir meine Freude mitzuteilen. Seit Monaten fühle ich sie in mir. Ein Brief! Was ist schon ein Brief, um so etwas mitzuteilen? Ich konnte es einfach nicht mehr erwarten... Wirst du nach Bethanien kommen?»

«Gewiß! Gleich nach dem Fest.»

«Du wirst von vielen erwartet... Die Griechin... Welch ein Geist! Ich spreche viel mit ihr, da sie danach verlangt, von Gott zu erfahren. Sie ist sehr gebildet... und bringt mich in Verlegenheit, denn ich weiß viele Dinge nicht so genau. Da bist du nötig!»

«Ja, ich werde kommen. Gehen wir nun zu Maximinus, und dann bitte ich dich, mein Gast zu sein. Meine Mutter wird sich freuen, wenn sie dich sieht, und du wirst dich ausruhen. Sie wird bald mit dem Knaben ankommen.»

Und Jesus geht zu Maximinus, der niederkniet, um ihn zu begrüßen...

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323. DIE ZWEIUNDSIEBZIG JÜNGER BERICHTEN JESUS, WAS SIE GETAN HABEN

In der langen Abenddämmerung eines heiteren Oktobertages kehren die zweiundsiebzig Jünger mit Elias, Joseph und Levi zurück. Sie sind müde und staubbedeckt, aber sehr glücklich! Glücklich sind auch die drei Hirten, die nun frei sind, dem Meister zu dienen. Glücklich sind sie auch darüber, daß sie nach langen Jahren der Trennung wieder mit den einstigen Gefährten zusammensein können. Glücklich sind die zweiundsiebzig Jünger, weil sie ihre Mission gut ausgeführt haben. Die Gesichter strahlen mehr als die Lämpchen, die die Hütten beleuchten, welche für die zahlreichen Gruppen von Pilgern aufgestellt worden sind.

In der Mitte befindet sich die Hütte Jesu, und etwas weiter unten die Hütte Marias und Margziams, der ihr bei der Zubereitung des Abendessens hilft. Ringsum stehen die Hütten der Apostel. Und in der des Jakobus und des Judas ist Maria des Alphäus; in der des Johannes und Jakobus Maria Salome mit ihrem Mann; in der nächsten Susanna mit ihrem Ehemann, der offiziell weder Apostel noch Jünger ist... aber sein Recht, dort zu sein, geltend gemacht hat, weil er seiner Frau die Erlaubnis gegeben hat, Jesus nachzufolgen. Dann kommen die Hütten der Jünger, teils mit, teils ohne Familie. Jene, die allein sind – was bei den meisten der Fall ist – haben sich mit einem oder mehreren Kameraden zusammengetan. Johannes von Endor hat den Ermastheus zu sich geholt. Er hat sich jedoch auch bemüht, so nahe als möglich bei der Hütte Jesu zu sein, weshalb Margziam oft zu ihm geht, um ihm dieses oder jenes zu bringen oder ihn mit seinen intelligenten, kindlichen Aussprüchen zu erfreuen, weil er glücklich ist, bei Jesus, Maria und Petrus und bei dem Fest zu sein.

Nachdem alle ihre Abendmahlzeit beendet haben, steigt Jesus den Hang des Ölbergs hinauf; die Jünger folgen ihm in großer Zahl. Abseits von der Menge und vom Lärm berichten sie Jesus nach dem gemeinsamen Gebet ausführlicher über ihre Erfahrungen.

Mit Erregung und Freude sagen sie: «Weißt du, Meister, daß nicht nur die Kranken, sondern auch die Dämonen uns unterworfen waren durch die Kraft deines Namens? Welche Macht, Meister! Wir, wir armen Männer konnten, nur weil du uns ausgesandt hast, den Menschen aus der schrecklichen Gewalt der Dämonen befreien...» Sie erzählen von verschiedenen Fällen, die sich da und dort begeben haben. Nur von einem berichten sie: «Die Eltern, oder besser die Mutter und die Nachbarn, haben ihn gegen seinen Willen zu uns gebracht. Doch der Dämon hat uns verspottet mit den Worten: "Ich bin seinem Willen gemäß zurückgekehrt, nachdem Jesus von Nazareth mich von hier vertrieben hatte, und ich lasse ihn nicht mehr los, denn er liebt mich mehr als euren Meister und hat mich gesucht"; und plötzlich entriß er ihn mit unwiderstehlicher Kraft

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denen, die ihn hielten, und stieß ihn einen steilen Hang hinunter. Wir liefen hinzu, um zu sehen, ob er zerschmettert sei. Aber nein! Er rannte wie eine junge Gazelle und fluchte und schimpfte auf teuflische Weise ... Wir hatten Mitleid mit der Mutter... Aber er! Aber er! Oh, kann ein Dämon das tun?»

«Das und noch Schlimmeres», sagt Jesus traurig.

«Wenn du da gewesen wärest...»

«Nein! Ich hatte ihm gesagt: "Geh und falle nicht mehr in deine Sünde zurück!" Er hat es gewollt. Er wußte, daß das Böse ihn anzog, und hat sich nicht dagegen gewehrt. Er ist verloren. Es ist etwas anderes, wenn jemand wegen seiner primitiven Unkenntnis vom Teufel besessen ist, als wenn er sich in Besitz nehmen läßt, obwohl er weiß, daß er sich damit wiederum an den Teufel verkauft. Aber sprecht nicht von ihm. Er ist ein hoffnungslos abgetrenntes Glied. Er will bewußt das Böse. Loben wir lieber den Herrn für die Siege, die er euch gewährt hat. Ich kenne den Namen des Schuldigen, und ich kenne die Namen der Geretteten. Ich sah Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen durch euer Verdienst verbunden mit meinem Namen. Denn ich habe auch eure Opfer und eure Gebete gesehen; die Liebe, mit der ihr zu den Unglücklichen gegangen seid, um zu tun, was ich euch aufgetragen hatte. Ihr habt es mit Liebe getan, und Gott hat euch gesegnet. Andere werden tun, was ihr tut, aber sie werden es ohne Liebe tun. Und sie werden keine Bekehrungen erlangen... Aber freut euch nicht darüber, daß euch die Geister unterlegen sind, sondern freut euch, weil eure Namen im Himmel geschrieben stehen. Und sorgt dafür, daß sie dort nie ausgelöscht werden!»

«Meister, wann werden jene kommen, die keine Bekehrungen bewirken können? Vielleicht, wenn du nicht mehr bei uns sein wirst?» fragt ein Jünger, dessen Namen ich nicht kenne.

«Nein, Agapus. Zu jeder Zeit!»

«Wie? Auch während du uns belehrst und liebst?»

«Ja! Und was die Liebe angeht, werde ich euch immer lieben, auch wenn ihr fern von mir seid. Meine Liebe wird euch immer erreichen, und ihr werdet sie fühlen.»

«Oh, das ist wahr! Eines Abends habe ich es gefühlt, als ich in Verlegenheit war, weil ich einem, der mir Fragen stellte, nicht antworten konnte. Ich war schon dabei, beschämt zu fliehen. Doch dann habe ich mich deiner Worte erinnert: "Habt keine Angst! Im richtigen Augenblick werden euch die Worte, die ihr sagen müßt, eingegeben"; ich habe dich im Geist angerufen. Ich sagte: "Gewiß liebt Jesus mich. Ich rufe seine Liebe zu Hilfe", und Liebe wurde mir zuteil. Wie ein Feuer, wie ein Licht... eine Kraft ... Der mir gegenüberstehende Mann bemerkte meine Verlegenheit, grinste höhnisch und zwinkerte seinen Freunden zu. Er war sicher, den Disput zu gewinnen. Ich habe den Mund geöffnet, und es war fast ein

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Wortschwall, der freudig meinem törichten Mund entquoll. Meister, bist du wirklich gekommen, oder war es nur Einbildung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß am Ende der Mann – es war ein junger Schriftgelehrter – mir die Arme um den Hals schlang und sagte: "Glücklich bist du, und glücklich ist, der dich zu dieser Weisheit geführt hat", und er schien mir bereit zu sein, dich aufzusuchen. Wird er kommen?»

«Der Gedanke des Menschen ist unbeständig wie ein auf das Wasser geschriebenes Wort, und sein Wille ist unruhig wie die Flügel der Schwalbe, die umherfliegt, um sich die letzte Nahrung des Tages zu verschaffen. Doch du, bete für ihn... Und ja, ich bin zu dir gekommen. Außer mit dir bin ich auch mit Matthias und Timoneus, Johannes von Endor, Simon und Samuel des Jonas gewesen. Die einen haben mich gerufen, die anderen nicht. Doch ich war mit euch allen. Ich werde immer bei dem sein, der mir mit Liebe und in Wahrheit dient, bis ans Ende der Zeiten.»

«Meister, du hast uns noch nicht gesagt, ob unter den Anwesenden solche sind, die keine Liebe haben...»

«Das zu wissen ist nicht nötig. Es wäre Mangel an Liebe meinerseits, wenn ich euch Abneigung gegen einen Gefährten, der nicht lieben kann, einflößen würde.»

«Aber gibt es solche? Das kannst du doch sagen...»

«Es gibt solche! Die Liebe ist das Einfachste, das Süßeste und das Seltenste, was es gibt, und nicht immer blüht sie auf, wenn sie gesät wird.»

«Aber wenn wir dich nicht lieben, wer kann dich dann lieben?»

Es entsteht ein fast unwilliges Murren unter den Aposteln und Jüngern durch den Verdacht und den Schmerz.

Jesus senkt die Lider. Er verschleiert auch den Blick, damit dieser nichts verrate. Doch er nimmt eine ergebene, sanfte, traurige Haltung an, wobei sich seine Hände öffnen und die Handflächen nach oben gerichtet sind zum Zeichen einer resignierten Feststellung, und sagt: «Es müßte so sein. Aber es ist nicht so. Viele kennen sich selbst noch nicht. Ich aber kenne sie. Und ich habe Mitleid!»

«Oh, Meister, Meister! Aber ich werde es doch nicht sein?» fragt Petrus, indem er sich Jesus nähert und dabei den armen Margziam zwischen sich und den Meister stellt. Er legt seine kurzen, sehnigen Arme auf die Schultern Jesu, faßt ihn dann und schüttelt ihn wie von Sinnen aus Angst, einer von denen zu sein, die Jesus nicht lieben.

Jesus öffnet die Augen wieder, die, obwohl sie immer noch traurig sind, nun wieder strahlen, schaut dem erschrockenen Petrus in das fragende Gesicht und sagt: «Nein, Simon des Jonas! Du bist nicht einer von ihnen. Du kannst lieben und wirst immer zu lieben verstehen. Du bist mein Fels, Simon des Jonas. Ein guter Felsen! Auf ihn werde ich die mir liebsten Dinge niederlegen, und ich bin sicher, daß du sie beschützen wirst, ohne Verwirrung zu kennen.»

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«Ich vielleicht?» «Ich?» «Ich?» Die Fragen wiederholen sich wie ein Echo, das von Mund zu Mund geht.

«Beruhigt euch! Seid beruhigt und bemüht euch alle, die Liebe zu besitzen.»

«Aber wer von uns liebt am meisten?»

Jesus läßt seinen Blick über alle schweifen: eine lächelnde Liebkosung. Dann senkt er den Blick auf Margziam, der immer noch zwischen ihm und Petrus gezwängt ist, schiebt Petrus etwas beiseite und sagt, indem er das Kind der Schar zuwendet:

«Hier ist der, der unter euch am stärksten liebt. Das Kind! Doch fürchtet euch nicht, ihr, die ihr schon Bärte auf den Wangen und weiße Fäden in den Haaren habt. Jeder, der in mir wiedergeboren wird, wird ein "Kind". Oh, geht in Frieden! Lobt Gott, der euch berufen hat, denn ihr seht mit euren eigenen Augen die Wunder des Herrn. Selig jene, die sehen werden, was ihr seht. Denn ich versichere euch, viele Propheten und Könige haben sich gesehnt, zu sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen; viele Patriarchen hätten gerne gewußt, was ihr wißt, und wußten es nicht, und viele Gerechte hätten gerne gehört, was ihr hört, und konnten es nicht hören. Aber von nun an werden alle, die mich lieben, alles verstehen.»

«Und dann? Wenn du uns verlassen hast, wie du sagst?»

«Dann werdet ihr für mich reden. Und dann... Oh, große Scharen, nicht an Zahl, sondern an Gnaden, die das sehen, wissen und hören werden, was ihr jetzt seht, wißt und hört! Oh, große, geliebte Scharen meiner "Kleinen Großen"! Ewige Augen, ewige Geister, ewige Ohren! Wie kann ich euch erklären, euch, die ihr mich umringt, was dieses ewige Leben sein wird; mehr als ewig, unermeßlich, dieses ewige Leben aller, die mich lieben und die ich ewig liebe; die Bewohner Israels sein werden, auch wenn sie in Jahrhunderten leben, da Israel nichts anderes mehr sein wird als die Erinnerung an eine Nation, und die die Zeitgenossen des in Israel lebenden Jesus sein werden? Sie werden mit mir und in mir sein und sogar erkennen, was die Zeit ausgelöscht und der Hochmut widerlegt hat. Welchen Namen soll ich ihnen geben? Ihr Apostel, ihr Jünger, ihr Gläubigen werdet Christen genannt werden. Und sie? Welchen Namen werden sie haben? Einen Namen, der nur im Himmel bekannt ist. Welchen Lohn werden sie schon auf Erden erhalten? Meinen Kuß, meine Stimme, die Wärme meiner Menschheit. Alles, alles, alles! Mich selbst! Ich in ihnen, sie in mir. Die vollkommene Vereinigung...

Geht! Ich bleibe, meinen Geist zu beglücken in der Betrachtung meiner künftigen Gläubigen und vollkommen Liebenden. Der Friede sei mit euch!»

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324. IM TEMPEL AM LAUBHÜTTENFEST

Jesus ist auf dem Weg zum Tempel. Eine Gruppe von Jüngern geht ihm voraus, während die Gruppe der Jüngerinnen, bestehend aus der Mutter, Maria Kleophä, Maria Salome, Susanna, Johanna des Chuza, Elisa von Betsur, Annalia von Jerusalern, Martha und Marcella, ihm nachkommt. Magdalena ist nicht dabei. Um Jesus herum die zwölf Apostel und Margziam.

Jerusalern zeigt sich in der ganzen Pracht der festlichen Tage. Volk aller Herren Länder füllt die Straßen. Gesänge, Reden, gemurmelte Gebete, Flüche der Eseltreiber, vereinzeltes Kinderweinen... Und über dem Ganzen ein klarer Himmel, der zwischen den Häusern herunterschaut, und eine heitere Sonne, die die Farben der Gewänder belebt und die sterbenden Farben der Laubengänge und Bäume, die hinter den Mauern der verschlossenen Gärten oder Terrassen zu sehen sind, aufleuchten läßt.

Bisweilen begegnet Jesus ihm bekannten Personen, und der Gruß ist mehr oder weniger ehrerbietig, je nach Stimmung des Begegneten. So ist der Gruß Gamaliels tief, jedoch bemessen; er blickt dabei Stephanus, der ihm aus der Gruppe der Jünger zulächelt, scharf an und ruft ihn, nachdem er sich vor Jesus verbeugt hat, auf die Seite, um einige Worte an ihn zu richten, worauf Stephanus zu seiner Gruppe zurückkehrt. Ehrfurchtsvoll ist der Gruß des alten Synagogenvorstehers Kleophas von Emmaus, der ebenfalls mit seinen Mitbürgern zum Tempel geht. Schroff wie eine Verwünschung ist die Erwiderung des Grußes durch die Pharisäer aus Kapharnaum.

Ein Sich-nieder-Werfen in den Staub und ein Küssen der Füße Jesu ist der Gruß der Bauern Jochanans, die vom Verwalter angeführt werden. Die Menge bleibt erstaunt stehen, um diese Gruppe von Menschen zu beobachten, die sich an einer Wegkreuzung zu Füßen eines jungen Mannes niederwerfen, der weder ein Pharisäer noch ein berühmter Schriftgelehrter, weder ein Satrap noch ein mächtiger Höfling ist; manch einer fragt, wer er wohl sei, und ein Gemurmel wird laut: «Es ist der Rabbi von Nazareth, der, der Messias sein soll.»

Proselyten und Heiden drängen sich neugierig um die Gruppe und drücken sie an die Mauer. Sie versperren den anderen Pilgern den Weg, bis eine Schar Eseltreiber das Hindernis fluchend auseinanderjagt.

Doch die Menge schließt sich sofort wieder zusammen, wobei die Frauen von den Männern – anspruchsvoll und brutal in ihren Äußerungen, die auch von Glauben zeugen – getrennt werden. Alle wollen die Kleider Jesu berühren, ihm ein Wort sagen, ihn etwas fragen. Aber es ist verlorene Mühe, denn ihr eigenes, eiliges, ungestümes und unruhiges Gedrängel bewirkt, daß es keinem gelingt, und auch die Fragen und Antworten gehen in einem unverständlichen Lärm unter.

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Der einzige, der sich nicht an dem Durcheinander beteiligt, ist der Großvater Margziams, der mit einem Schrei auf den Schrei des Enkels geantwortet und gleich nach der Begrüßung des Meisters den Jungen an sein Herz gedrückt hat. Auf den Fersen hockend, die Knie am Boden, nimmt er ihn auf den Schoß, liebkost ihn unter Tränen und Küssen, stellt ihm Fragen und hört ihm zu. Der Alte ist so glücklich, als wäre er schon im Paradies.

Die römischen Soldaten stürzen herbei, weil sie glauben, ein Streit sei ausgebrochen. Doch als sie Jesus sehen, lächeln sie nur und ziehen sich beruhigt zurück; sie begnügen sich damit, den Anwesenden zu raten, die wichtige Straßenkreuzung freizugeben. Jesus gehorcht ihnen sofort. Er benützt den von den Römern geschaffenen freien Raum, die ihm einige Schritte vorausgehen, wie um ihm einen Weg zu bahnen, in Wirklichkeit aber um auf ihren Posten zurückzukehren; denn die römische Wache ist sehr verstärkt worden, so als ob Pilatus wüßte, daß unter den Menschen Unzufriedenheit herrscht und daher in diesen Tagen, da Jerusalern von Hebräern wimmelt, die aus allen Himmelsrichtungen gekommen sind, ein Aufstand stattfinden könnte.

Es ist schön, Jesus zu sehen, dem der römische Trupp vorausgeht und einen Weg bahnt, wie einem König, der sich zu seinen Besitztümern begibt. Er hat dem Kind und dem Alten durch eine Gebärde zu verstehen gegeben: «Bleibt beisammen und folgt mir», und zum Aufseher sagt er: «Ich bitte dich, überlasse mir deine Leute. Sie sollen bis heute abend meine Gäste sein.»

Der Verwalter antwortet ehrerbietig: «Alles, was du willst, soll geschehen», und nach einer tiefen Verneigung geht er allein von dannen.

Jesus ist nun ganz nahe beim Tempel, und das Menschengewühl gleicht sehr dem Gewimmel der Ameisen am Eingang eines Ameisenhaufens; es wird noch größer, als ein Landarbeiter Jochanans ruft: «Da ist der Gutsherr!» Er fällt auf die Knie, um ihn zu grüßen, und andere tun es ihm nach.

Jesus bleibt mitten in der Gruppe der Bauern stehen, die sich um ihn geschart und nun zu Boden geworfen haben. Er schaut in die bezeichnete Richtung und begegnet dem Blick eines Pharisäers, der mir nicht unbekannt ist; aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn gesehen habe. Der Pharisäer Jochanan ist von anderen Angehörigen seiner Kaste umgeben: ein Haufen kostbarer Stoffe, Fransen, Spangen, Gürtel und Pomp, alles reicher als bei gewöhnlichen Sterblichen. Jochanan schaut aufmerksam auf Jesus: ein Blick reiner Neugierde, jedoch nicht ehrfurchtslos. Er grüßt sogar und neigt steif und kaum merklich seinen Kopf. Es ist immerhin ein Gruß. Auch zwei oder drei andere Pharisäer grüßen, während wieder andere verächtlich auf ihn blicken oder vorgeben, anderswohin zu schauen; lediglich einer erlaubt sich eine Beleidigung. Nur darum kann es

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sich handeln, denn ich sehe, daß alle, die Jesus umgeben, zusammenzucken und selbst Jochanan dreht sich plötzlich um, um den Beleidiger mit einem vernichtenden Blick zurechtzuweisen. Dieser ist jünger als Jochanan und hat harte, ausgeprägte Gesichtszüge.

Als sie vorbei sind und die Bauern zu reden wagen, sagt einer von ihnen: «Es ist Doras, der dich verflucht hat, Meister.»

«Laß ihn nur machen. Ich habe euch, die ihr mich preist», erwidert Jesus ruhig.

An einem Torbogen steht Manaen mit einigen anderen. Als er Jesus sieht, erhebt er mit einem Freudenruf die Arme: «Glücklich der Tag, da ich dich finde!» und geht mit seinen Begleitern auf Jesus zu. Er grüßt ihn ehrfurchtsvoll unter dem schattigen Torbogen, wo ihre Stimmen wie unter einer Kuppel widerhallen.

Während er ihm Ehre erweist, kommen dicht an der Apostelgruppe die Vettern Simon und Joseph mit anderen Nazarenern vorbei; sie grüßen nicht ...

Jesus betrachtet sie schmerzlich berührt, sagt aber nichts. Judas und Jakobus sprechen erregt miteinander, und Judas rennt unwillig davon, ohne daß der Bruder ihn zurückhalten könnte. Doch Jesus ruft ihn mit so gebieterischer Stimme zurück: «Judas, komm hierher!» daß der unruhige Sohn des Alphäus kehrtmacht ...

«Laß sie nur. Sie sind Samenkörner, die den Frühling noch nicht verspürt haben. Laß sie im Dunkel der harten Scholle. Ich werde in sie eindringen, selbst wenn die Scholle zu einem geschlossenen Jaspis um den Samen würde. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich es tun.»

Aber stärker als die Antwort Judas des Alphäus ertönt das trostlose Weinen Marias des Alphäus. Das anhaltende Weinen eines gedemütigten Menschen.

Doch Jesus wendet sich ihr nicht zu, um sie zu trösten, obwohl ihr Klagen laut unter dem Gewölbe hallt. Er spricht weiter mit Manaen, der sagt: «Diese meine Begleiter sind Jünger des Johannes. Sie wollen ebenso wie ich dir angehören.»

«Der Friede sei mit den guten Jüngern! Dort vorne sind Matthias, Johannes und Simeon, die für immer bei mir sind. Ich nehme euch in die Schar meiner Jünger auf, wie ich sie aufgenommen habe, denn mir sind alle lieb und teuer, die vom heiligen Vorläufer zu mir kommen.»

Die Tempelmauern sind erreicht. Jesus gibt Iskariot und Simon dem Zeloten Anweisungen für den Kauf der liturgischen Opfergaben. Dann ruft er den Priester Johannes zu sich und sagt: «Du, der du von hier bist, lade einige Leviten ein, von denen du weißt, daß sie würdig sind, die Wahrheit kennenzulernen; denn dieses Jahr kann ich wahrlich ein Fest der Freude feiern. Nie mehr wird ein Tag so herrlich sein...»

«Warum, Meister?» fragt der Schriftgelehrte Johannes.

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«Weil ich euch alle um mich habe, entweder sichtbar gegenwärtig oder in eurem Geist.»

«Aber wir werden doch immer bei dir sein und mit uns viele andere!»versichert ungestüm der Apostel Johannes, dem alle beistimmen.

Jesus lächelt und schweigt, während der Priester Johannes zusammen mit Stephanus in den Tempel vorausgeht, um den Auftrag auszuführen. Jesus ruft ihnen nach: «Wir treffen uns im Vorhof der Heiden.»

Sie treten ein und begegnen sogleich Nikodemus, der eine tiefe Verbeugung macht, sich Jesus jedoch nicht nähert, sondern nur ein friedvolles Lächeln mit dem Meister tauscht.

Während die Frauen stehenbleiben, wo es ihnen erlaubt ist, begibt sich Jesus mit den Jüngern zum Gebet an den Ort der Hebräer. Nachdem alle Riten vollzogen sind, kommt er zurück, um mit den im Vorhof der Heiden Wartenden zusammenzutreffen.

Die sehr weiten und hohen Säulenhallen sind voller Menschen, die den Lesungen der Rabbis lauschen. Jesus begibt sich dorthin, wo er die beiden Apostel und die vorausgesandten Jünger warten sieht. Sofort bildet sich eine Gruppe um ihn; zu den Aposteln und Jüngern gesellen sich zahlreiche Personen aus der Menschenmenge im marmornen Hof. Die Neugierde ist so groß, daß auch einige Schüler der Rabbis – ich weiß nicht, ob freiwillig oder von ihren Meistern geschickt – sich der Gruppe um Jesus anschließen.

Jesus fragt ganz unvermittelt: «Warum drängt ihr euch so um mich? Sagt es. Ihr habt doch bekannte und weise Rabbis, die ein großes Ansehen genießen. Ich bin der Unbekannte, der Unerwünschte. Warum kommt ihr also zu mir?»

«Weil wir dich lieben», sagen einige, und andere: «Weil deine Worte anders sind als die der anderen», und wieder andere: «Um deine Wunder zu sehen», und: «Weil wir von dir gehört haben», und: «Nur du allein hast Worte des ewigen Lebens, und deine Werke entsprechen deinen Worten», und schließlich: «Weil wir uns deinen Jüngern anschließen wollen.»

Jesus schaut jeden einzelnen Sprecher an, als wolle er ihn mit seinem Blick durchbohren, um seine verborgensten Gefühle kennenzulernen, und mancher, der dem Blick nicht standhält, entfernt sich oder versteckt sich wenigstens hinter einer Säule oder hinter Leuten, die größer sind als er. Jesus fährt fort:

«Aber wißt ihr auch, was es heißt und was es sein soll, mir nachzufolgen? Ich antworte nur auf diese Worte, denn die Neugierde verdient keine Antwort, und wer nach meinen Worten hungert, hat folglich auch Liebe zu mir und das Verlangen, sich mir anzuschließen. Die Leute, die mit mir gesprochen haben, kann man in zwei Gruppen aufteilen: in die der Neugierigen, denen ich keine Aufmerksamkeit schenke, und in die guten Willens, die ich ohne Täuschung über das Ausmaß dieser Berufung unterrichte.

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Mir als Jünger nachzufolgen will heißen, auf jede andere Liebe zu verzichten und nur eine einzige Liebe zu haben: die Liebe zu mir. Eigenliebe, sündige Liebe zu Reichtum, Sinnlichkeit oder Macht, ehrenhafte Gattenliebe, heilige Liebe zur Mutter und zum Vater, natürliche Liebe zu den Kindern und den Geschwistern, all das muß meiner Liebe weichen, wenn einer mir angehören will. Wahrlich, ich sage euch: freier als die Vögel, die in den Lüften umherschweifen, müssen meine Jünger sein, und freier als die Winde, die am Firmament dahinziehen und von niemandem und von nichts aufgehalten werden können. Frei, ohne schwere Ketten, ohne die Bande irdischer Liebe, ohne die feinen Spinngewebe selbst der leichtesten Schranken. Der Geist ist wie ein zarter Schmetterling, der im schweren Kokon des Fleisches eingeschlossen ist, und es genügt das schillernde, feine Gewebe einer Spinne, um seinen Flug zu erschweren oder ganz zu verhindern. Diese Spinne ist die Sinnlichkeit und die Trägheit im Opferbringen. Ich will alles, ohne Rückhalt. Der Geist bedarf dieser Freiheit im Geben, dieser Hochherzigkeit im Schenken, um die Gewißheit zu haben, daß er nicht im Spinngewebe der Zuneigungen, der Gewohnheiten, der Erwägungen und der Befürchtungen hängenbleibt; im dichten Spinngewebe, das von der riesenhaften Spinne, dem Seelenräuber Satan, gewoben wird.

Wenn einer zu mir kommen will und nicht heiligmäßig seinen Vater, seine Mutter, seine Gattin, seine Kinder, seine Brüder und Schwestern, ja, sogar sein eigenes Leben haßt, kann er nicht mein Jünger sein. Ich habe gesagt: "heiligmäßig". Ihr sagt in eurem Herzen: "Haß kann nie heilig sein, er selbst lehrt es. Daher widerspricht er sich." Nein. Ich widerspreche mir nicht. Ich sage, man soll hassen, was die wahre Liebe beschwert: die leidenschaftliche, erdgebundene Liebe zu Vater und Mutter, zu Frau und Kindern, zu Brüdern und Schwestern und zum eigenen Leben. Andererseits verlange ich von euch, daß ihr eure Verwandten und das Leben mit der leichten Freiheit, die der Seele eigen ist, liebt. Liebt sie in Gott und durch Gott, doch zieht sie niemals Gott vor, und seid darum bemüht, sie zu dem Gott zu führen, bei dem der Jünger schon ist, zum Gott der Wahrheit. So werdet ihr die Verwandten und Gott heiligmäßig lieben, die beiden Arten der Liebe miteinander versöhnen, und die Bande des Blutes nicht zur Last, sondern zu Flügeln, nicht zur Schuld, sondern zur Gerechtigkeit werden lassen. Ihr sollt auch bereit sein, euer Leben zu hassen, um mir zu folgen. Derjenige haßt sein Leben, der es in meinen Dienst stellt und nicht fürchtet, es zu verlieren oder, menschlich gesprochen, es traurig zu verbringen. Aber es ist nur ein scheinbarer Haß, ein Gefühl, das irrtümlicherweise Haß genannt wird von dem Menschen, der sich nicht über sein rein irdisches Dasein erheben kann und nur wenig über dem Tier steht. In Wirklichkeit ist dieser scheinbare Haß, der im Verzicht auf sinnliche Befriedigungen besteht, um den Geist besser gedeihen zu lassen, Liebe. Liebe, und zwar die höchste und segensreichste Liebe, die es gibt.

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Dieser Verzicht auf niedrige Genugtuungen und auf die Sinnlichkeit der Zuneigung, dieses Auf-sich-Nehmen von Tadel und ungerechten Bemerkungen, diese Gefahr, bestraft, verschmäht, verflucht und vielleicht sogar verfolgt zu werden, bedeuten eine Reihe von Qualen für uns. Aber man muß sie umarmen und sie auf sich nehmen wie ein Kreuz, wie einen Schandpfahl, an dem man jede vergangene Schuld sühnt, um gerechtfertigt vor Gott zu erscheinen, von dem wir jegliche Gnade, die wahre, mächtige heilige Gnade Gottes empfangen, auch für jene, die wir lieben. Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nicht nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein.

Überlegt es euch daher sehr gut, ihr, die ihr sagt: "Wir sind gekommen, um uns deinen Jüngern anzuschließen." Es ist keine Schande, sondern Weisheit, wenn man sich prüft und dann sich selbst und den anderen bekennt: ich habe nicht das Zeug, ein Jünger zu werden. Selbst die Heiden haben als Grundlage einer ihrer Lehren die Notwendigkeit, "sich selbst zu erkennen" ' und ihr Israeliten, wäret ihr dazu nicht fähig, um den Himmel zu erringen?

Denn, erinnert euch immer: selig jene, die zu mir kommen werden. Aber besser ist es, nicht zu kommen und Sohn des Gesetzes zu bleiben wie bisher, als mich und den, der mich gesandt hat, zu verraten.

Wehe denen, die gesagt haben: "Ich komme", und dann Christus schaden, weil sie die christliche Lehre verraten, die den Kleinen und den Guten Ärgernis geben! Wehe ihnen! Dennoch wird es sie geben, und immer wird es sie geben!

Macht es daher wie der Mensch, der einen Turm bauen will. Zuerst berechnet er genau die Kosten und zählt sein Geld, um zu sehen, ob er genügend hat, um ihn fertigzustellen; damit er, wenn die Grundmauern einmal beendet sind, nicht die Arbeit einstellen muß, weil kein Geld mehr da ist. In diesem Fall würde er auch das verlieren, was er zuvor hatte, ohne Turm und ohne Geld bleiben und sich noch dazu den Spott der Menschen zuziehen, die sagen würden: "Dieser hier hat zu bauen angefangen, ohne fertigbauen zu können. Nun kann er sich den Bauch mit den Ruinen seines unvollendeten Bauwerkes füllen."

Macht es auch wie die irdischen Könige und zieht aus den nichtigen Ereignissen dieser Welt eine übernatürliche Lehre. Wenn ein König Krieg gegen einen anderen König führen will, überlegt er alles, das Für und Wider ruhig und sorgfältig. Er berechnet, ob der Nutzen, den er von der Eroberung hat, das Lebensopfer seiner Untergebenen wert ist. Er prüft, ob seine Streitkräfte, die zwar tapfer, aber auch geringer an Zahl als die des Gegners sind, einen Ort erobern können; und wenn ein König sich eingestehen muß, daß es unwahrscheinlich ist, daß zehntausend Mann zwanzigtausend besiegen, wird er, bevor er es zum Krieg kommen läßt, dem Gegner eine Gesandtschaft mit reichen Geschenken schicken, um ihn

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zu besänftigen und den Verdacht zu beseitigen, den er durch seine Kriegsvorbereitungen erweckt hat. Er wird ihn mit Freundschaftsbezeugungen entwaffnen und einen Friedensvertrag mit ihm abschließen, der tatsächlich immer noch vorteilhafter ist als Krieg, sowohl in menschlicher als auch in geistiger Hinsicht.

So müßt auch ihr es machen, bevor ihr ein neues Leben beginnt und der Welt entgegentretet. Denn dies ist die Aufgabe meiner Jünger: aufzutreten gegen die stürmischen und wilden Strömungen der Welt, des Fleisches und Satans. Wenn es euch an Mut fehlt, aus Liebe zu mir auf alles zu verzichten, dann kommt nicht zu mir, denn ihr könnt nicht meine Jünger sein.»

«Gut. Was du sagst, ist wahr», bestätigt ein Schriftgelehrter, der sich unter die Gruppe gemischt hat. «Aber wenn wir uns aller Dinge entäußern, womit können wir dir dann dienen? Das Gesetz hat Gebote, die wie Münzen sind, die Gott den Menschen gibt, damit sie sich mit ihnen das ewige Leben erkaufen. Du sagst: "Verzichtet auf alles", und nennst den Vater, die Mutter, die Reichtümer, die Ehren. Gott hat uns diese Dinge gegeben und durch den Mund Moses gesagt, man solle sie heiligmäßig benützen, um gerecht in den Augen Gottes zu erscheinen. Wenn du uns alles wegnimmst, was gibst du uns dafür?»

«Die wahre Liebe, ich habe es gesagt, o Rabbi. Ich gebe euch meine Lehre, die kein Jota vom alten Gesetz wegnimmt, sondern es noch vervollkommnet.»

«Dann sind wir alle gleicherweise Jünger, denn wir haben alle dieselben Dinge.»

«Wir haben sie alle nach dem mosaischen Gesetz. Aber nicht alle haben sie nach dem von mir im Geist der Liebe vervollkommneten Gesetz, und nicht alle erwerben durch dieses die gleichen Verdienste. Auch meine eigenen Jünger werden nicht alle die gleiche Anzahl von Verdiensten erwerben, und manch einer wird sogar seine einzige Münze verlieren: die Seele.»

«Wie? Wem mehr gegeben wird, dem wird auch mehr verbleiben. Deine Jünger, besser noch, deine Apostel, folgen dir in deiner Sendung und kennen deine Lehre. Sie haben am meisten bekommen. Auch die wirklichen Jünger haben sehr viel bekommen, weniger die, die nur dem Namen nach deine Jünger sind, und gar nichts jene, die, wie ich, dir nur zufällig zuhören. Es ist selbstverständlich, daß im Himmel die Apostel am meisten, die wirklichen Jünger viel, die Jünger dem Namen nach weniger, und die, wie ich, gar nichts erhalten werden.»

«Menschlich gesprochen ist es selbstverständlich, aber nur menschlich gesprochen. Denn nicht alle sind fähig, die erhaltenen Güter nutzbringend zu verwenden. Höre dieses Gleichnis und verzeih, wenn ich allzulange hier belehre. Aber ich bin die vorüberfliegende Schwalbe und halte

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mich nur kurz im Haus des Vaters auf, da ich für die ganze Welt gekommen bin und da diese kleine Welt des Tempels von Jerusalern nicht will, daß ich den Flug unterbreche und dort bleibe, wohin die Ehre des Herrn mich ruft.»

«Warum sprichst du so?»

«Weil es die Wahrheit ist.»

Der Schriftgelehrte blickt umher und senkt dann den Kopf. Daß es die Wahrheit ist, sieht er auf allzu vielen Gesichtern der Synedristen, Rabbis und Pharisäer geschrieben, die dazu beigetragen haben, den Auflauf um Jesus bedeutend zu vergrößern. Gesichter, die grün vor Galle oder purpurrot vor Zorn sind, und Blicke, die unausgesprochene Fluchworte und giftiger Geifer sind. Überall gärt der Groll und der Wunsch ist sichtbar, dem Heiland zu schaden, und wenn es bei dem Wunsch bleibt, dann nur aus Furcht vor den vielen, die den Meister mit Verehrung umringen und zu allem bereit wären, um ihn zu verteidigen; aus Furcht, von Rom bestraft zu werden, das Milde walten läßt gegenüber dem friedlichen Meister von Galiläa.

Jesus fährt in Ruhe fort, in einem Gleichnis seine Gedanken darzulegen:

«Ein Mann, der die Absicht hatte, eine weite Reise zu unternehmen, die eine längere Abwesenheit erforderte, rief alle seine Diener zusammen und übergab ihnen alle seine Güter. Dem einen gab er fünf Silbertalente, dem anderen zwei Silbertalente und einem dritten ein Goldtalent, einem jeden nach seinem Rang und seiner Tüchtigkeit. Dann reiste er ab.

Der Diener, der fünf Talente Silber erhalten hatte, handelte geschickt, und nach einiger Zeit brachten sie ihm fünf weitere Talente ein. Der Diener mit den zwei Silbertalenten tat dasselbe und verdoppelte die erhaltene Summe. Der aber, dem der Herr am meisten gegeben hatte, ein Talent aus echtem Gold, nahm es und machte aus Furcht vor seiner eigenen Unfähigkeit, vor Dieben und vor tausend anderen eingebildeten Dingen und vor allem aus Trägheit eine große Grube in die Erde und verbarg darin das Geld seines Herrn.

Viele, viele Monate gingen vorüber, und schließlich kehrte der Herr zurück. Er rief sofort seine Diener zu sich, damit sie Rechenschaft über das ihnen übergebene Geld ablegten. Es kam der, der die fünf Silbertalente erhalten hatte, und sagte: "Hier, mein Herr. Du hast mir fünf Talente gegeben. Es schien mir nicht recht, das von dir erhaltene Geld einfach liegen zu lassen. Ich habe mich umgetan und dir weitere fünf Talente dazuverdient. Mehr vermochte ich nicht .. Gut, sehr gut, du guter und getreuer Knecht. Du bist im kleinen treu, willig und ehrlich gewesen. Ich will dich über viele meiner Güter setzen. Nimm teil an der Freude deines Herrn!"

Dann kam der andere, der zwei Talente erhalten hatte, und sagte: "Ich habe mir erlaubt, dein Geld zu deinem Nutzen zu gebrauchen. Hier sind

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die Abrechnungen, die dir zeigen, wie ich dein Geld verwendet habe. Siehst du? Es waren zwei Silbertalente. Nun sind es vier. Bist du zufrieden, mein Herr?" Und der Herr gab diesem guten Knecht die gleiche Antwort, die er dem ersten gegeben hatte.

Zuletzt kam auch der, der das größte Vertrauen des Herrn genossen und von ihm ein Goldtalent erhalten hatte. Er nahm es aus seinem Kästchen und sagte: "Du hast mir am meisten anvertraut, denn du weißt, daß ich klug und treu bin, so wie ich weiß, daß du anspruchsvoll und streng bist und keine Verluste duldest und, wenn dir Unglück zustößt, dich an dem rächst, der dir am nächsten steht. Du erntest, wo du nicht gesät hast, sammelst in Wahrheit ein, wo du nicht ausgestreut hast. Du läßt deinem Bankier oder deinem Verwalter keinen Pfennig nach, in keinem Fall. Du willst das Geld, das du gefordert hast. So habe ich aus Furcht, deinen Besitz zu vermindern, das Geld genommen und es versteckt. Niemandem habe ich vertraut, nicht einmal mir selbst. Jetzt habe ich es ausgegraben und gebe es dir zurück! Hier ist dein Talent."

"Oh, du schlechter, fauler Knecht! Du hast mich wahrlich nicht geliebt, denn du hast mich nicht gekannt und hast nicht danach getrachtet, einen Gewinn mit dem dir anvertrauten Geld zu machen. Du hast das Vertrauen, das ich dir geschenkt habe, verraten und dich selbst Lügen gestraft, dich selbst angeklagt und verurteilt. Du hast gewußt, daß ich ernte, wo ich nicht gesät habe, daß ich sammle, wo ich nicht ausgestreut habe. Warum hast du nicht dafür gesorgt, daß ich einsammeln und ernten kann? So antwortest du auf mein Vertrauen? So wenig kennst du mich? Warum hast du das Geld nicht einem Bankier gebracht? Dann hätte ich es bei meiner Rückkehr wenigstens mit Zinsen abheben können. Ich selbst hatte dich mit besonderer Sorgfalt darin unterwiesen, und du, törichter Müßiggänger, hast nichts getan. Es seien dir daher das Talent und alle deine anderen Güter genommen. Sie sollen dem gegeben werden, der die zehn Talente hat."

"Aber er hat doch schon zehn, während dem anderen nichts mehr bleibt..." entgegnete man ihm.

"So ist es recht. Wer ein Kapital hat und es arbeiten läßt, dem wird noch mehr gegeben werden, im Überfluß. Aber wer nichts hat, weil er nichts haben wollte, dem wird auch das noch genommen, was ihm gegeben wurde. Der unnütze Knecht, der mein Vertrauen mißbraucht und die ihm verliehenen Gaben nicht benützt, soll aus meinem Besitztum entfernt werden und weinend und sich in seinem Herzen anklagend seines Weges ziehen."

Dies ist das Gleichnis. Wie du siehst, o Rabbi, ist dem, der am meisten hatte, am wenigsten geblieben, weil er die Gabe Gottes nicht zu benützen verstand. Es ist nicht gesagt, daß nicht einer von denen, die nur dem Namen nach Jünger sind oder mir nur zufällig zuhören und die als einzige Münze ihre Seele haben, das Goldtalent und auch die Zinsen dafür erhalten kann,

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die einem der am meisten Begünstigten weggenommen werden. Zahllos sind die Überraschungen des Herrn, denn unberechenbar sind die Reaktionen der Menschen. Ihr werdet sehen, daß Heiden zum ewigen Leben gelangen und Samariter den Himmel besitzen; und ihr werdet sehen, wie reine Israeliten und selbst einige meiner Nachfolger den Himmel und das ewige Leben verlieren.»

Jesus schweigt und wendet sich der Tempelmauer zu, als wolle er jede weitere Diskussion vermeiden. Aber ein Lehrer des Gesetzes, der sich unter dem Torbogen niedergesetzt hatte, um ernsthaft zuzuhören, steht auf, stellt sich vor Jesus hin und fragt: «Meister, was muß ich tun, um das ewige Leben zu erlangen? Du hast anderen geantwortet, antworte auch mir!»

«Warum willst du mich versuchen? Warum willst du lügen? Hoffst du, daß ich etwas sage, was nicht mit dem Gesetz übereinstimmt, weil ich Gedanken anfüge, die es erklären und vervollkommnen? Was steht im Gesetz geschrieben? Antworte mir! Welches ist sein wichtigstes Gebot?»

«"Du sollst den Herrn deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, mit allen deinen Kräften und deinem ganzen Gemüte! Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"»

«So ist es, du hast gut geantwortet. Tue das, und du wirst das ewige Leben erlangen.»

«Aber wer ist denn mein Nächster? Die Welt ist voll von guten und bösen Menschen, von Bekannten und Unbekannten, von Freunden und Feinden Israels. Wer ist also mein Nächster?»

«Ein Mann stieg durch die Schluchten der Gebirge von Jerusalern nach Jericho hinab. Er wurde von Räubern überfallen. Sie schlugen ihn grausam, beraubten ihn all seiner Habe, selbst seiner Gewänder, und ließen ihn mehr tot als lebendig am Rand der Straße liegen.

Kurz darauf kam ein Priester des Weges, der seinen Dienst im Tempel beendet hatte. Oh, er duftete noch nach den Räucherpfannen des Heiligtums! Auch seine Seele hätte nach übernatürlicher Güte und Liebe duften müssen, da er im Haus Gottes, sozusagen in Berührung mit dem Allerheiligsten, gewesen war. Der Priester aber hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Er schaute daher den Verletzten an, blieb aber nicht stehen, sondern ging eiligst weiter und überließ den Unglücklichen seinem Schicksal.

Dann zog ein Levit vorbei. Er, der im Tempel diente, sollte sich verunreinigen? Das kam nicht in Frage. Er raffte sein Gewand, damit es nicht vom Blut beschmutzt werde, warf einen flüchtigen Blick auf den, der jammernd in seinem Blut lag, und begab sich rasch nach Jerusalern zum Tempel.

Als dritter kam ein Samariter, der von Samaria zur Furt zog. Er sah das Blut, blieb stehen, entdeckte den Verletzten in der Dämmerung, stieg vom Esel, näherte sich ihm, labte ihn mit einem Schluck kräftigen Weines,

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zerriß seinen Mantel, um daraus Binden zu machen, und nachdem er die Wunden zuerst mit Essig gewaschen und dann mit Öl gesalbt hatte, verband er ihn liebevoll. Schließlich lud er den Verletzten auf seinen Esel und führte vorsichtig das Tier, wobei er gleichzeitig den Verletzten festhielt und ihn mit guten Worten tröstete, ohne auf die Mühe oder dessen jüdische Nationalität zu achten. In der Stadt angekommen, brachte er ihn in eine Herberge, wachte die ganze Nacht bei ihm, und am nächsten Morgen, als er sah, daß es ihm besser ging, vertraute er ihn dem Gastwirt an, zahlte im voraus und sagte: "Trage Sorge für ihn, als wäre ich es selbst. Bei meiner Rückkehr will ich dir erstatten, was du mehr ausgegeben hast, und zwar reichlich, wenn du ihn gut behandelst." Dann ging er fort.

Lehrer des Gesetzes, antworte mir: welcher von diesen dreien war dem, der von den Räubern überfallen worden war, der Nächste? Vielleicht der Priester? Vielleicht der Levit? Oder nicht vielmehr der Samariter, der nicht danach fragte, wer der Verletzte sei, warum er verletzt war und ob er gut daran tat, ihm Hilfe zu leisten, da er dadurch Geld und Zeit verlor und zudem Gefahr lief, als Schuldiger angeklagt zu werden?»

Der Gesetzeslehrer antwortet: «Letzterer war ihm der Nächste, da er Mitleid mit ihm hatte und ihm Barmherzigkeit widerfahren ließ.»

«Tue das gleiche und liebe den Nächsten und Gott im Nächsten, und du wirst das ewige Leben verdienen.»

Niemand wagt es nun, etwas zu sagen, und Jesus benützt die Gelegenheit, um die Frauen einzuholen, die bei der Umfassungsmauer auf ihn warten, und mit ihnen wieder in die Stadt zu gehen. Indessen hat sich den Jüngern auch ein Priesterpaar angeschlossen, oder besser: ein Priester und ein Levit, letzterer noch sehr jung, der andere wie ein Patriarch.

Doch Jesus spricht jetzt mit seiner Mutter, und Margziam steht zwischen ihnen. Er fragt sie: «Hast du mich gehört, Mutter?»

«Ja, mein Sohn, und zur Traurigkeit Marias des Kleophas hat sich die meinige gesellt. Sie hat geweint, kurz bevor sie den Tempel betreten hat ...»

«Ich weiß es, Mutter. Ich kenne auch den Grund. Aber sie soll nicht weinen. Nur beten!»

«Oh, sie betet viel! Alle diese Abende hat sie in ihrer Hütte neben den schlafenden Söhnen gebetet und geweint. Ich habe es gehört durch die dünne Wand aus Zweigen. Sie sah Joseph und Simon so nahe und doch so fern... ! Sie ist nicht die einzige, die weint. Bei mir hat Johanna, die dir so heiter erscheint, auch geweint...»

«Warum Mutter?»

«Weil... Chuza... ein so... unerklärliches Benehmen hat. Manchmal ist er freundlich zu ihr, und dann weist er sie wieder in allem zurück. Wenn sie allein sind und niemand sie sehen kann, ist er der vorbildliche Mann wie immer. Doch wenn andere Leute bei ihm sind, vom Hof natürlich,

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wird er herrisch und verächtlich gegen seine sanfte Frau. Sie versteht nicht, warum...»

«Ich will es dir sagen. Chuza ist ein Diener des Herodes. Verstehe mich, Mutter: "ein Diener". Ich sage es Johanna nicht, um ihr kein Leid zu bereiten. Aber es ist so. Wenn er nicht den Tadel und den Spott des Herrschers zu befürchten hat, ist er der gute Chuza. Wenn er sie jedoch zu befürchten hat, ist er es nicht mehr.»

«Es ist so, weil Herodes wegen Manaen so erzürnt ist ...»

«Es ist so, weil Herodes ganz außer sich ist wegen der nachträglichen Gewissensbisse, die ihm sein Nachgeben gegenüber Herodias verursacht. Doch Johanna hat schon so viel Gutes in ihrem Leben gehabt. Sie muß unter ihrem Diadem auch den Bußgürtel tragen.»

«Auch Annalia weint ...»

«Warum?»

«Weil ihr Bräutigam gegen dich ist.»

«Sie soll nicht weinen. Sage es ihr. Es ist ein Beschluß Gottes. Es ist göttliche Güte. Ihr Opfer wird Samuel wieder zum Guten führen. Vorerst wird er nicht auf die Eheschließung drängen. Ich habe ihr versprochen, sie mit mir zu nehmen. Sie wird mir im Tod vorangehen...»

«Sohn... !»

Maria umklammert die Hand Jesu und wird bleich.

«Liebe Mutter! Es ist für die Menschen. Du weißt es. Es geschieht aus Liebe zu den Menschen. Wir wollen unseren Kelch mit gutem Willen trinken. Nicht wahr?»

Maria schluckt ihre Tränen hinunter und antwortet: «Ja.» Ein schmerzerfülltes, herzzerreißendes «Ja».

Margziam hebt das Gesichtlein und sagt zu Jesus: «Warum sagst du so schlimme Dinge, die der Mutter Schmerz bereiten? Ich werde dich nicht sterben lassen. So wie ich die Lämmlein verteidigt habe, so will ich auch dich verteidigen.»

Jesus liebkost ihn, und um das Gemüt der beiden Betrübten zu erleichtern, fragt er das Kind: «Was werden wohl deine Schäflein machen? Trauerst du ihnen nicht nach?»

«Oh, ich bin ja bei dir! Doch denke ich immer an sie und frage mich: "Hat Porphyria sie wohl auf die Weide geführt? Hat sie auch aufgepaßt, daß Spuma nicht in den See fällt?" Weißt du, Spuma ist sehr lebhaft. Ihre Mutter ruft sie und ruft ... Aber was hilft es? Sie macht, was sie will, und Neve, der so gefräßig ist, daß er nicht weiß, wann es genug ist und krank wird? Weißt du, Meister? Ich verstehe, was es bedeutet, in deinem Namen Priester zu sein. Mehr als die anderen verstehe ich es. Sie (und er weist mit der Hand auf die Apostel, die hinterher kommen) sagen viele große Worte, machen viele Pläne... für später. Ich sage: "Ich will der Hirte sein, wie für die Schäflein, und ebenso für die Menschen. Das wird genügen." Meine

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und deine Mutter hat mir gestern so etwas Nettes von den Propheten erzählt ... Sie hat gesagt: "Genau so ist unser Jesus." Ich habe in meinem Herzen gedacht: "Ich will auch so sein." Darauf habe ich zu unserer Mutter gesagt: "Ich will auch so sein. Jetzt bin ich noch ein Lamm, bald aber werde ich ein Hirte sein. Jesus hingegen ist Hirte und wird später Lamm sein. Du aber bist immer das Lamm, nur unser Lamm, weiß, schön, lieb und mit Worten, die süßer sind als Milch. Gerade deshalb ist Jesus so sehr das Lamm: weil er aus dir, dem Lämmlein des Herrn, geboren wurde."»

Jesus neigt sich nieder und küßt ihn herzlich. Dann fragt er: «Willst du wirklich Priester werden?»

«Aber gewiß, mein Herr! Deswegen versuche ich ja, gut zu sein und viel zu lernen. Ich gehe immer zu Johannes von Endor. Er behandelt mich stets als Mann und mit viel Güte. Ich will ein Hirte der verirrten und nicht verirrten Schäflein werden und der Arzt und Hirte der Verwundeten oder Zerbrochenen, wie der Prophet sagt. Oh, wie schön!» Das Kind macht einen Freudensprung und klatscht in die Hände.

«Was hat denn diese Grasmücke, daß sie so fröhlich ist?» fragt Petrus, der näher kommt.

«Er sieht sein Leben ganz klar bis zum Ende, und ich weihe diese seine Vision mit meinem "Ja".»

Sie bleiben vor einem hohen Haus stehen, das, wenn ich nicht irre, in der Nähe des Vororts Ophel liegt, doch in einem eher herrschaftlichen Viertel.

«Werden wir hier bleiben?»

«Dies ist das Haus, das Lazarus mir für das Freudenfestmahl angeboten hat. Maria ist auch schon hier.»

«Warum ist sie nicht mit uns gekommen? Aus Furcht vor Spott?»

«O nein! Ich habe es ihr befohlen.»

«Warum, Herr?»

«Weil der Tempel empfindlicher ist als eine schwangere Frau. Solange ich kann, und nicht aus Feigheit, will ich ihn nicht reizen.»

«Das wird dir nichts nützen, Meister. Ich würde ihn an deiner Stelle nicht nur reizen, sondern ihn den Berg Moriah hinunterwerfen, mit allen, die darin sind.»

«Du bist ein Sünder, Simon! Man muß für seinesgleichen beten und sie nicht töten.»

«Ich bin ein Sünder. Aber du nicht... und du solltest es tun!»

«Einer wird es schon tun. Aber erst nachdem das Maß der Sünde voll ist.»

«Welches Maß?»

«Ein Maß, das den ganzen Tempel füllen und sogar Jerusalern überschwemmen wird. Du kannst es nicht verstehen... Oh, Martha! Öffne also dem Pilger dein Haus.»

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Martha macht sich bemerkbar und öffnet. Alle betreten einen langen Vorraum, der in einem gepflasterten Hof mit vier Bäumen in den vier Ecken endet. Ein weiter Saal öffnet sich über dem Erdgeschoß, und durch die offenen Fenster sieht man die ganze Stadt mit ihren auf- und abführenden Straßen und Gassen. Ich schließe daraus, daß das Haus an den südlichen oder südöstlichen Hängen der Stadt liegt.

Der Saal ist für sehr viele Gäste hergerichtet. Die Tische sind parallel zueinander aufgestellt. Hundert Personen können hier leicht bewirtet werden. Maria Magdalena, die in den Vorratskammern beschäftigt war, eilt herbei und wirft sich vor Jesus nieder. Dann kommt auch Lazarus mit einem seligen Lächeln auf seinem kränklichen Antlitz.

Nach und nach treten die Gäste ein, die einen leicht verlegen, die anderen etwas selbstsicherer. Doch die Liebenswürdigkeit der Frauen bewirkt, daß sich bald alle wie zu Hause fühlen.

Der Priester Johannes führt die beiden, die er aus dem Tempel geholt hat, zu Jesus. «Meister, mein guter Freund Jonathan und mein jugendlicher Freund Zacharias. Sie sind wahre Israeliten ohne Bosheit und Arglist.»

«Der Friede sei mit euch! Ich freue mich, euch hier zu haben. Der Ritus soll auch bei diesen frohen Bräuchen eingehalten werden. Es ist schön, daß der alte Glaube dem neuen, der dem gleichen Stamm entspringt, die Freundeshand reicht. Setzt euch an meine Seite, bis die Stunde der Mahlzeit kommt.»

Der Patriarch Jonathan spricht, während der junge Levit neugierig da- und dorthin schaut, erstaunt und vielleicht auch eingeschüchtert. Ich glaube, er möchte ein gewandtes Benehmen an den Tag legen, aber in Wirklichkeit ist er wie ein Fisch außerhalb des Wassers. Glücklicherweise kommt ihm Stephanus zu Hilfe und stellt ihm nacheinander die Apostel und die wichtigsten Jünger vor.

Der alte Priester streicht seinen schneeweißen Bart und sagt: «Als Johannes zu mir kam, ausgerechnet zu mir, seinem Lehrmeister, um mir seine Heilung anzuzeigen, hatte ich den Wunsch, dich kennenzulernen. Meister, ich verlasse kaum mehr meine Behausung. Ich bin alt... Ich habe jedoch gehofft, dich noch vor meinem Tod kennenzulernen, und Jahwe hat mich erhört. Ihm sei Preis dafür!

Heute habe ich dich im Tempel gehört. Du überragst Hillel, den Alten, den Weisen. Ich will und kann nicht daran zweifeln, daß du es bist, den mein Herz erwartet. Aber du weißt, was es heißt, achtzig Jahre lang den Glauben Israels eingeatmet zu haben, so wie er in Jahrhunderten... menschlicher Ausformung geworden ist. Er ist in unser Blut übergegangen. Ich bin schon so alt! Wenn man dir zuhört, ist es, als ob man dem Plätschern einer frischen Quelle lausche. O ja! Ein jungfräuliches Wasser! Aber ich... ich bin durchtränkt von abgestandenem Wasser, das von

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sehr weit herkommt ... und das mit so vielen Dingen beschwert ist. Was soll ich tun, um mich dieser Sättigung zu entledigen und dich zu kosten?»

«An mich glauben und mich lieben! Anderes ist für den gerechten Jonathan nicht erforderlich.»

«Doch ich werde bald sterben! Werde ich Zeit haben, alles zu glauben, was du sagst? Ich bin kaum mehr imstande, allen deinen Worten zu folgen oder sie durch den Mund eines anderen kennenzulernen. Was bleibt mir also zu tun?»

Du wirst sie im Himmel erlernen. Nur der Verdammte stirbt der Weisheit, während der in Gottes Gnade Sterbende das wahre Leben erlangt und in der Weisheit lebt. Was glaubst du, wer ich bin?»

«Du kannst kein anderer sein als der Erwartete, dessen Vorläufer der Sohn meines Freundes Zacharias war. Hast du ihn gekannt?»

«Er war mit mir verwandt!»

«Oh, dann bist du also ein Verwandter des Täufers?»

«Ja, Priester!»

«Er ist tot... und ich kann nicht sagen: Unglücklicher!, denn er ist nach Erfüllung seiner Sendung in Gerechtigkeit gestorben und... O schreckliche Zeiten, in denen wir leben müssen! Ist es nicht besser, in Abrahams Schoß zurückzukehren?»

«Ja, Priester! Aber es werden noch bitterere Zeiten kommen.»

«Wirklich? Wohl durch Rom?»

«Nicht durch Rom allein! Das sündhafte Israel wird die Hauptschuld tragen.»

«Es ist wahr. Gott schlägt uns. Wir verdienen es. Aber auch Rom... Hast du von den Galiläern gehört, die Pilatus, während sie ein Opfer darbrachten, töten ließ? Ihr Blut hat sich mit dem Blut des Opfertiers vermischt. Bis zum Altar sind sie gekommen!»

«Ich habe davon gehört.»

Alle Galiläer geben ihrem Zorn über diese Gewalttat durch lautes Geschrei Ausdruck: «Es ist wahr, daß er ein falscher Messias war. Aber warum seine Jünger töten, nachdem sie ihn bereits geschlagen hatten? Warum zu jener Stunde? Waren sie vielleicht größere Sünder?»

Jesus gebietet Ruhe und sagt: «Ihr fragt euch, ob sie größere Sünder als viele andere Galiläer gewesen sind und ob sie aus diesem Grund getötet wurden? Nein, das waren sie nicht. Wahrlich, ich sage euch, daß sie bezahlt haben und daß viele andere noch bezahlen werden, wenn ihr euch nicht zum Herrn bekehrt. Wenn ihr nicht alle Buße tut, geht ihr alle ebenso zugrunde, in Galiläa und anderswo. Gott ist erzürnt über sein Volk. Ich sage es euch. Man soll nicht glauben, daß die Bestraften immer die Schlimmsten sind. Jeder prüfe sich selbst, urteile über sich selbst, und nicht über andere. Auch jene achtzehn, auf welche der Turm von Siloe stürzte und sie tötete, waren nicht die größten Sünder in Jerusalern. Ich

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sage es euch. Tut Buße, wenn ihr nicht zermalmt werden wollt wie sie, auch nicht dem Geist nach. Komm, Priester Israels! Die Tafel ist gedeckt. Du sollst aufopfern und segnen, denn der Priester muß immer geehrt werden für das, was er vertritt und woran er erinnert, und du bist der Patriarch unter uns, die wir alle jünger sind.»

«Nein, Meister! Nein! In deiner Gegenwart kann ich es nicht tun. Du bist der Sohn Gottes!»

«Du opferst auch den Weihrauch vor dem Altar. Glaubst du vielleicht nicht, daß Gott auch dort zugegen ist?»

«Ja, das glaube ich! Mit all meinen Kräften!»

«Also? Wenn du nicht zitterst bei der Aufopferung vor der allerheiligsten Herrlichkeit des Allerhöchsten, weshalb willst du dann zittern vor der Barmherzigkeit, die sich in Fleisch gekleidet hat, um auch dir den Segen Gottes zu bringen, bevor es für dich Nacht wird? Oh, wißt ihr denn nicht, daß ich den Schleier des Fleisches über meine unfaßbare Gottheit gelegt habe, damit sich der Mensch Gott nähern kann, ohne sterben zu müssen? Komm, glaube und sei glücklich! In dir verehre ich alle heiligen Priester von Aaron angefangen bis zum letzten gerechten Priester Israels, der vielleicht du bist; denn wahrlich, die priesterliche Heiligkeit liegt bei uns darnieder wie eine Pflanze ohne Wasser.»

325. JOSEPH UND NIKODEMUS BERICHTEN: IM TEMPEL WEISS MAN VON JOHANNES UND SYNTYCHE

Jesus ist mit den Aposteln und den Jüngern auf dem Weg nach Bethanien. Er spricht gerade zu den Jüngern, denen er den Auftrag gibt, sich in zwei Gruppen aufzuteilen. Die Judäer sollen sich nach Judäa begeben, und die Galiläer sollen jenseits des Jordan stromaufwärts gehen, um den Messias zu verkünden. Diese Aufforderung stößt auf einigen Widerstand. Mir scheint, daß das Ostjordanland bei den Israeliten nicht in gutem Ruf steht. Sie reden davon wie von einer heidnischen Gegend. Das beleidigt aber die Jünger von jenseits des Jordan, unter ihnen besonders den Synagogenvorsteher, der wohl das größte Ansehen genießt, und einen Jungen, dessen Namen ich aber nicht kenne; beide verteidigen leidenschaftlich die Städte und ihre Bewohner.

Timoneus sagt: «Komm nach Aera, Herr, du wirst sehen, ob man dich dort nicht achtet. Du wirst in Judäa keinen so großen Glauben finden wie dort. Ich aber will nicht hingehen. Behalte mich bei dir und schicke einen Judäer oder einen Galiläer in meine Stadt. Sie werden sehen, wie sie allein auf mein Wort hin an dich glauben wird.»

Der Jüngling sagt: «Ich habe zu glauben begonnen, ohne dich je gesehen

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zu haben. Ich habe dich gesucht, nachdem meine Mutter mir verziehen hatte. Aber ich bin glücklich, dorthin zurückzukehren, obwohl es mir den Spott böser Mitbürger, wie ich einst einer war, und den Tadel der Guten wegen meiner vergangenen Lebensführung einbringen wird. Aber das macht mir nichts aus. Ich werde dich mit meinem Beispiel predigen.»

«Du sagst es gut. Tue, was du gesagt hast. Danach werde ich kommen. Auch du, Timoneus, auch du hast gut gesprochen. Hermas und Abel von Bethlehem in Galiläa werden also nach Aera gehen und mich dort verkünden, und du, Timoneus, wirst bei mir bleiben. Doch ich liebe diese Streitigkeiten nicht. Ihr seid nicht mehr Juden oder Galiläer, ihr seid Jünger. Das genügt! Der Name und die Sendung machen euch in Herkunft, Rang und in allem gleich. Nur in etwas könnt ihr euch unterscheiden: in der Heiligkeit. Sie wird individuell verschieden sein, je nach dem Grad, den jeder Jünger zu erreichen versteht. Aber ich möchte, daß ihr alle den gleichen Grad erreicht: die Vollkommenheit. Seht ihr die Apostel? Auch sie unterschieden sich voneinander durch ihre Herkunft und andere Dinge. Jetzt, nach einem Jahr und mehr der Unterweisung, sind sie einzig und allein die Apostel. Tut es ihnen nach! So wie bei euch der Priester neben dem ehemaligen Sünder, der Reiche neben dem früheren Bettler, und der Jüngling neben dem Greis steht, so sollt ihr auch die Trennung abbauen, die sich aus der unterschiedlichen Herkunft ergibt. Ihr habt eine einzige Heimat, den Himmel! Ihr habt euch alle freiwillig auf den Weg zum Himmel begeben. Erweckt nie bei den Feinden den Eindruck, daß ihr untereinander verfeindet seid. Euer Feind ist die Sünde, sonst niemand!»

Sie gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Dann macht sich Stephanus an den Meister heran und sagt: «Ich möchte dir etwas sagen. Ich habe gehofft, daß du mich danach fragen würdest, aber du hast es nicht getan. Gestern hat Gamaliel mit mir gesprochen...»

«Ich habe es gesehen.»

«Fragst du mich nicht, was er zu mir gesagt hat?»

«Ich warte darauf, daß du es mir sagst, denn der gute Jünger hat keine Geheimnisse vor dem Meister.»

«Gamaliel... Meister, gehen wir einige Meter voraus...»

«Gehen wir nur. Aber du könntest es auch in Gegenwart aller sagen ...»

Sie entfernen sich einige Schritte. Stephanus macht ein verlegenes Gesicht und sagt: «Ich möchte dir einen Rat geben, Meister. Verzeih mir...»

«Wenn er gut ist, werde ich ihn annehmen. Rede also.»

«Meister, das Synedrium erfährt früher oder später alles. Es ist eine Einrichtung mit tausend Augen und hundert Fangarmen. Es dringt überall ein, sieht alles und hört alles. Es hat mehr... Spione, als des Tempels Mauern Steine haben. Viele leben davon...»

«Vom Spionieren, sprich nur fertig. Es ist die Wahrheit, und ich kenne

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sie. Also? Was ist denn mehr oder weniger Wahres im Synedrium gesagt worden?»

«Es ist gesagt worden... Alles. Ich weiß nicht, wie sie gewisse Dinge erfahren können. Ich weiß nicht einmal, ob sie wahr sind... Aber ich wiederhole dir wörtlich, was Gamaliel mir gesagt hat: "Sag dem Meister, daß er Ermastheus beschneiden lassen oder ihn für immer wegschicken soll. Es ist nicht nötig, weiteres hinzuzufügen."»

«Tatsächlich, es ist nicht nötig. Erstens, weil ich gerade deswegen nach Bethanien gehe und dort bleiben werde, bis Ermastheus wieder reisen kann. Und dann, weil keine Rechtfertigung die Voreingenommenheit... und die Zurückhaltung Gamaliels aufheben könnte, der an der Tatsache Ärgernis nimmt, daß ich einen an einem Körperteil Unbeschnittenen bei mir habe! Oh, wenn man doch in sich und um sich schauen würde! Wie viele Unbeschnittene gibt es in Israel!»

«Aber Gamaliel...»

«Er ist der perfekte Vertreter des alten Israel. Er ist nicht böswillig, aber... Schau diesen Kieselstein an. Ich könnte ihn zertrümmern, aber nicht geschmeidig machen. So ist es auch bei ihm. Er muß zermalmt werden, um wieder neu gebildet zu werden, und ich werde es tun.»

«Willst du Gamaliel bekämpfen? Gib acht! Er ist mächtig.»

«Bekämpfen? Wie einen Feind? Nein! Anstatt ihn zu bekämpfen, will ich ihn lieben, indem ich ihn wegen seines mumifizierten Verstandes in einem seiner Wünsche zufriedenstelle und einen Balsam über ihn ausgieße, der ihn auflösen wird, damit ich ihn dann wieder neu bilden kann.»

«Auch ich werde dafür beten, daß dies geschehen möge, denn ich habe ihn gern. Tue ich recht daran?»

«Ja! Du mußt ihn lieben und für ihn beten, und du wirst es tun. Gewiß wirst du es tun. Vielmehr, du wirst mir helfen, den Balsam zu bereiten... Du wirst Gamaliel sagen, er soll sich beruhigen, denn ich habe schon für Ermastheus vorgesorgt und bin ihm für den Rat dankbar. Wir sind jetzt in Bethanien und wollen hier anhalten, damit ich euch alle segnen kann; denn dies ist der Ort der Trennung.»

Er begibt sich wieder zu der zahlreichen Gruppe der Apostel und Jünger, segnet sie und entläßt alle, mit Ausnahme von Ermastheus, Johannes von Endor und Timoneus.

Dann legt er mit den Zurückgebliebenen rasch die kurze Strecke zurück, die ihn noch vom Gittertor des Lazarus trennt, das schon zu seinem Empfang geöffnet ist. Beim Betreten des Gartens hebt er die Hand, um das gastliche Haus zu segnen, in dessen großem Park bereits die Besitzer des Hauses und die frommen Frauen warten, die über Margziam, der die mit den letzten Rosen geschmückten Wege entlangläuft, lachen. Mit den Besitzern und den Frauen kommen, nach einem Ausruf der letzteren, Joseph von Arimathäa und Nikodemus auf einem Seitenweg daher, die

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ebenfalls Gäste des Lazarus sind, um in Ruhe mit dem Meister zusammen sein zu können. Alle eilen Jesus entgegen. Maria mit ihrem sanften Lächeln, Maria von Magdala mit ihrem Ausruf der Liebe: «Rabbomi!», Lazarus hinkend, die beiden feierlichen Synedristen, und zum Schluß die frommen Frauen von Jerusalern und Galiläa. Gesichter mit Runzeln und glatte, junge Frauengesichter, zart wie ein Engelsgesicht das mädchenhafte Gesichtlein der Annalia, das bei der Begrüßung des Meisters errötet.

«Ist Syntyche nicht da?» fragt Jesus nach der ersten Begrüßung.

«Sie ist mit Sara, Marcella und Noemi beim Tischdecken. Sieh, da kommen sie schon.»

Tatsächlich erscheinen zusammen mit der alten Esther der Johanna zwei von Alter und von erlittenem Schmerz gezeichnete Gesichter zwischen zwei heiteren, und schließlich das ernste und doch friedvolle Gesicht der Griechin, die sich von den anderen durch ihre Herkunft und auch sonst durch ein gewisses Etwas unterscheidet.

Ich könnte sie nicht einmal als eine wirkliche, eigentliche Schönheit bezeichnen, und doch beeindrucken ihre Augen, deren Schwarz durch ein dunkles Indigo gemildert wird, unter der hohen, vornehmen Stirne mehr als ihr Körper, der gewiß schöner ist als ihr Gesicht, ein Körper, schlank, ohne mager zu sein, proportioniert, harmonisch im Gehen und in der Bewegung. Es ist ihr Blick, der beeindruckt, dieser intelligente, offene, tiefe Blick, der die Welt anzuziehen scheint, das Gute prüft, Nützliches und Heiliges für sich behält und ablehnt, was böse ist. Es ist dieser aufrichtige Blick, der sich erforschen läßt bis in die Tiefen und in dem sich die Seele zeigt, um den zu ergründen, der sich ihr nähert. Wenn es wahr ist, daß man einen Menschen nach den Augen beurteilen kann, dann sage ich, daß Syntyche eine Frau mit sicherem Urteilsvermögen und beständigen, rechtschaffenen Gedanken ist. Sie kniet mit den anderen nieder und erhebt sich erst, als der Meister sie dazu auffordert.

Jesus geht durch den grünen Garten bis zur Säulenhalle vor dem Haus und tritt dann in einen Saal ein, in dem die Diener bereitstehen, um Erfrischungen anzubieten und den angekommenen Gästen bei der Reinigung vor der Mahlzeit behilflich zu sein. Während sich alle Frauen zurückziehen, bleibt Jesus mit den Aposteln im Saal. Johannes von Endor geht mit Ermastheus zum Haus Simons des Zeloten, um dort die Reisesäcke abzulegen, mit denen sie beladen sind.

«Ist der Jüngling, der mit Johannes dem Einäugigen gekommen ist, der Philister, den du aufgenommen hast?» fragt Joseph.

«Ja, Joseph. Woher weißt du das?»

«Meister... Ich und Nikodemus, wir fragen uns schon seit einigen Tagen, wie wir es erfahren haben und wie es andere im Tempel wissen können ... Sicher ist, daß wir es wissen. Vor dem Laubhüttenfest, bei einer der Sitzungen, die immer den Festen vorausgehen, haben einige Pharisäer

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behauptet, genau zu wissen, daß sich unter deinen Jüngern außer den... – verzeih, Lazarus – außer den bekannten und unbekannten Sünderinnen und den Zöllnern – verzeih, Matthäus, Sohn des Alphäus – und außer den ehemaligen Galeerensträflingen auch ein unbeschnittener Philister und eine Heidin befinden. Was die Heidin angeht, mit der bestimmt Syntyche gemeint ist, so ist es selbstverständlich, daß man es weiß oder es zumindest vermutet. Das Durcheinander, das der Römer angerichtet hat, war groß und Gegenstand des Gelächters der übrigen Römer und vieler Juden; auch weil er umherging und unter Jammern und Drohen seine entflohene Sklavin da und dort suchte und sogar den König Herodes belästigte, weil er sagte, sie habe sich im Haus der Johanna versteckt und der Tetrarch müsse seinem Verwalter gebieten, sie ihrem Eigentümer zurückzugeben. Aber daß unter den vielen Männern, die dir folgen, ein Philister, ein Unbeschnittener, ein früherer Sträfling ist... Wie sie das erfahren haben, das ist seltsam! Sehr seltsam! Meinst du nicht auch?»

«Es ist seltsam und auch wieder nicht seltsam. Ich will für Syntyche und den früheren Sträfling sorgen.»

«Ja, du wirst gut daran tun, vor allem Johannes zu entfernen. Er paßt nicht in deine Reihen.»

«Joseph, bist du vielleicht ein Pharisäer geworden?» fragt Jesus streng.

«Nein... aber...»

«Soll ich etwa nur wegen der törichten Skrupel des ärgsten Pharisäertums eine Seele verletzen, die wiedergeboren wurde? Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde für seine Ruhe sorgen. Für seine. Nicht für meine. Ich werde über seine Ausbildung wachen, wie ich über die des unschuldigen Margziam wache. Wahrlich, es besteht kein Unterschied zwischen ihnen bezüglich ihrer geistigen Unwissenheit. Der eine sagt zum ersten Mal Worte der Weisheit, weil Gott ihm verziehen hat, weil er in Gott wiedergeboren ist, weil Gott den Sünder an sich gezogen hat. Der andere sagt sie, weil er nach einer armseligen Kindheit nun in das Jünglingsalter gekommen ist, über das außer der Liebe Gottes die Liebe des Menschen wacht, und die Seele öffnet wie eine Blüte unter der Sonne. Seine Sonne ist Gott. Der eine ist im Begriff, die letzten Worte zu sagen... Habt ihr denn keine Augen, um zu sehen, daß er sich in Bußübungen und in Liebe verzehrt?

Oh, wahrlich, ich möchte viele Johannes von Endor in Israel und unter meinen Dienern haben. Ich wünschte, daß auch du, Joseph und du, Nikodemus, sein Herz hättest, und vor allem, daß es der hätte, der ihn verraten hat; diese elende Schlange, die sich unter dem Gewand der Freundschaft verbirgt und den Spion spielt, bevor sie zum Mörder wird. Diese Schlange, die den Vogel um seine Flügel beneidet und ihm nachstellt, um sie ihm auszureißen und ihn in den Kerker zu werfen. Ach nein! Der Vogel ist dabei, sich in einen Engel zu verwandeln. Selbst wenn die Schlange ihm die Flügel entreißen könnte, so würden sie sich an ihrem schlüpfrigen

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Körper sogleich in Dämonenflügel verwandeln. Jeder Verräter ist schon ein Dämon.»

«Aber wo ist er? Sagt es, damit ich ihm sofort die Zunge ausreiße», ruft Petrus aus.

«Du würdest besser daran tun, ihm die Giftzähne auszureißen», sagt Judas des Alphäus.

«Nein! Am besten ist es, wir erwürgen ihn, damit er nichts mehr anstellen kann! Solche Menschen schaden immer», sagt Iskariot mit Nachdruck.

Jesus blickt ihn fest an und schließt: «... und lügen. Doch niemand soll ihm etwas antun. Er verdient es nicht. Man darf den Vogel nicht zugrundegehen lassen, um sich mit der Natter zu beschäftigen. Was Ermastheus betrifft, so will ich wegen seiner Beschneidung im Haus des Lazarus Aufenthalt nehmen. Er wird aus Liebe zu mir und um den Verfolgungen der kleinlichen Geister Israels zu entgehen, die heilige Religion unseres Volkes annehmen. Es ist nur ein Übergang aus der Finsternis zum Licht, und nicht unerläßlich, auf daß Licht in ein Herz komme. Aber ich gewähre es, um die Empfindlichkeit Israels zu besänftigen und den wahren Willen des Philisters, zu Gott zu gelangen, zu zeigen. Aber ich sage euch, in der Zeit Christi ist das nicht nötig, um Gott anzugehören. Es genügen Wille und Liebe, es genügt das reine Gewissen. Wo werden wir die Griechin beschneiden? An welcher Stelle ihres Geistes, da sie es von sich aus und besser als viele in Israel verstanden hat, die Gegenwart Gottes zu erkennen? Wahrlich, unter den Anwesenden sind viele Finsternis im Vergleich zu den von euch als Finsternis Verachteten. Auf jeden Fall könnt ihr, der Verräter und die Synedristen, die Verantwortlichen benachrichtigen, daß das Ärgernis heute noch behoben wird.»

«Für wen gilt das? Für alle drei?»

«Nein, Judas des Simon. Für Ermastheus. Für die anderen zwei werde ich sorgen. Hast du sonst noch Fragen?»

«Ich nicht, Meister!»

«Auch ich habe dir sonst nichts zu sagen. Ich möchte euch nur bitten, mir zu sagen, wenn ihr es wißt, was mit dem Herrn der Syntyche geschehen ist?»

«Pilatus hat ihn mit dem ersten Schiff nach Italien gesandt, um keine Scherereien mit Herodes und den Hebräern im allgemeinen zu haben. Pilatus macht schlimme Zeiten durch... und die genügen ihm...» sagt Nikodemus.

«Ist diese Nachricht sicher?»

«Ich kann sie prüfen lassen, wenn du meinst, Meister», sagt Lazarus.

«Ja, tue das und sage mir dann die Wahrheit.»

«Doch in meinem Haus wird Syntyche trotzdem sicher sein.»

«Ich weiß es. Auch Israel schützt eine Sklavin, die einem fremden, grausamen Herrn entflohen ist. Aber ich will es wissen.»

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«Ich jedoch möchte wissen, wer der Verräter, der Nachrichtenübermittler, der löbliche Spion der Pharisäer ist ... das kann man erfahren; und ich will erfahren, wer die anklagenden Pharisäer sind. Heraus mit den Namen der Pharisäer und ihrer Stadt! Ich spreche von den Pharisäern, die die schöne Arbeit der Spionage übernommen haben, indem sie einen von uns bestochen haben – denn bestimmte Dinge wissen nur wir, die alten und die neuen Jünger – um das Synedrium über die Handlungen des Meisters, die alle gerecht sind, unterrichten zu können. Ein Teufel ist, wer das Gegenteil sagt und denkt, und ...»

«Schweige, Simon des Jonas, ich befehle es dir!»

«Ich gehorche, auch auf die Gefahr hin, daß mir durch die Anstrengung die Herzadern platzen. Aber das Schöne des Tages ist dahin...»

«Nein! Warum denn? Hat sich zwischen uns etwas geändert? Also? Oh, mein Simon! Komm an meine Seite, wir sprechen über das, was gut ist ...»

«Man sagt mir, daß das Mahl bereit ist», sagt Lazarus.

«Dann gehen wir zu Tisch...»

326. SYNTYCHE SPRICHT IM HAUS DES LAZARUS

Jesus hat sich in dem von Säulengängen umgebenen Hof, der sich im Innern des Hauses befindet, niedergelassen, im Hof, den ich am Morgen der Auferstehung Jesu voll von Jüngern gesehen habe. Er sitzt auf einer mit Kissen bedeckten Marmorbank, den Rücken an die Wand des Hauses gelehnt, von den Besitzern des Hauses, den Aposteln, den Jüngern Johannes und Timoneus und von Joseph und Nikodemus und den frommen Frauen umgeben. Er hört gerade Syntyche zu, die aufrecht vor ihm steht und anscheinend auf eine seiner Fragen antwortet. Alle hören in den verschiedensten Stellungen mehr oder weniger aufmerksam zu, die einen auf Bänken, die anderen auf dem Boden sitzend, wieder andere aufrecht stehend oder an die Säulen oder die Wände gelehnt.

«... es war ein Bedürfnis, um nicht die ganze Last meiner Lage zu verspüren. Es ging darum, mich zu überzeugen, daß ich nicht allein bin, nicht eine von der Heimat verbannte Sklavin und daß meine Mutter und meine Brüder, der Vater und die so sanfte und gütige Ismene nicht für immer verloren sind. Wenn auch die ganze Welt sich verschworen hätte, uns zu trennen, so wie Rom uns getrennt und wie Lasttiere verkauft hat, uns, die Freien, ein Ort hätte uns doch alle wieder vereint, das Jenseits. Man muß bedenken, daß unser Leben nicht nur aus Materie besteht, die man in Ketten legen kann, sondern daß es eine freie Kraft in sich birgt, die keine Kette halten kann, außer der freiwilligen, in moralischer Unordnung und

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materieller Schwelgerei zu leben. Ihr nennt es "Sünde". Jener und jene, die im Dunkel meiner Nacht als Sklavin mein Licht waren, beschreiben es anders. Aber auch sie geben zu, daß die von bösen und fleischlichen Leidenschaften an den Körper gefesselten Seelen nicht an den Ort gelangen, den ihr das Reich Gottes nennt. Daher muß man es vermeiden, der Materie zu verfallen, und sich bemühen, Abstand zum Körper zu gewinnen und sich die Tugend zum Vermächtnis zu machen, um die selige Unsterblichkeit zu erlangen und die Wiedervereinigung mit seinen Lieben.

Man muß denken, daß die Seele der Toten nicht gehindert wird, der Seele der Lebenden beizustehen, und man deshalb die Seele der Mutter in der Nähe fühlen kann und ihren Blick und ihre Stimme wiederfindet, die zur Seele der Tochter spricht, welche sagen kann: "Ja, Mutter! Damit ich zu dir kommen kann, ja, um deinen Blick nicht zu trüben, ja, um deine Stimme nicht in Tränen zu ersticken, ja, um deinen Aufenthalt im Hades, wo du im Frieden bist, nicht zu verdunkeln, ja, für all dies halte ich meine Seele frei. Es ist der einzige Besitz, den ich habe, den mir niemand nehmen kann und den ich rein bewahren will, um tugendhaft denken und handeln zu können." So zu denken bedeutet Freiheit und Freude, und so will ich denken und handeln! Denn es ist nur eine halbe und falsche Philosophie, anders zu handeln als man denkt.

So zu denken bedeutete für mich, auch im Exil ein Vaterland zu haben, ein vertrautes Vaterland im eigenen Ich, mit seinen Altären, seinem Glauben, seinem Wissen, seinen Gefühlen... Ein großes Vaterland, ein geheimnisvolles – oder vielleicht auch nicht so geheimnisvolles – durch das Geheimnisvolle der Seele, die sich des Jenseits bewußt ist, wenn sie es auch gegenwärtig nur sieht wie ein Seemann vom weiten Meer aus an einem dunstigen Morgen die Beschaffenheit der Küste erkennt: verschwommen, skizzenhaft, nur da und dort scharf umrissene Stellen, die aber dem müden Seefahrer, den die Stürme umhergeworfen haben, genügen, um zu sagen: "Siehe, dort ist der Hafen und der Friede!" Die Heimat der Seelen, der Ort der Herkunft... der Ort des Lebens.

Denn das Leben geht aus dem Tod hervor... Oh! Das habe ich nur halb verstanden, bis ich eines deiner Worte gehört habe. Danach... danach war es, als ob ein Sonnenstrahl den Diamanten meines Gedankens getroffen hätte. Alles wurde Licht, und ich habe begriffen, wie weit die Lehrmeister Griechenlands vorgedrungen sind und sich dann doch verirrt haben, da ihnen etwas fehlte, um das Theorem des Lebens und des Todes richtig zu lösen: das Wissen um die Existenz des wahren Gottes, des Herrn und Schöpfers des Alls.

Darf ich ihn mit diesen meinen heidnischen Lippen nennen? Ja, ich darf es, denn wie alle komme auch ich von ihm. Denn er hat Fähigkeiten in die Seelen aller Menschen gelegt, und in die weisesten eine höhere Intelligenz, wodurch sie uns wie mit übermenschlicher Macht ausgestattete

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Halbgötter erscheinen. Ja, denn er hat sie jene Wahrheiten schreiben lassen, die schon Religion sind, wenn auch nicht eine göttliche wie deine, die moralisch und fähig ist, die Seelen "lebend" zu erhalten, nicht nur für diese Zeit hier auf Erden, sondern für immer.

Danach habe ich verstanden, was es heißt: "Das Leben wird aus dem Tod hervorgehen." Der dies gesagt hat, war wie ein noch nicht völlig Betrunkener, dessen Verstand aber schon etwas benebelt war.

Er sprach ein erhabenes Wort, verstand es aber selbst nicht ganz. Ich, verzeih, o Herr, meinen Hochmut, ich habe es besser als er verstanden, und seit jenem Augenblick bin ich glücklich.»

«Was hast du verstanden?»

«Daß diese Existenz nur das embryonale Stadium des Lebens ist, und daß das wahre Leben beginnt, wenn der Tod uns gebiert... dem Hades, wenn ich eine Heidin bin, und dem ewigen Leben, wenn ich an dich glaube. Habe ich es richtig gesagt?»

«Frau, du hast es gut gesagt», lobt sie Jesus.

Nikodemus unterbricht: «Aber wie hast du von den Worten des Meisters erfahren?»

«Wer Hunger hat, der sucht Nahrung, Herr. Ich habe meine Nahrung gesucht. Ich war Vorleserin, da ich gebildet war und eine schöne Stimme und Aussprache hatte; so konnte ich viel in den Bibliotheken meiner Herren lesen. Aber meine Lektüre befriedigte mich nicht. Ich fühlte, daß es noch anderes gab jenseits der mit menschlicher Weisheit gefüllten Regale, und wie eine Gefangene im goldenen Käfig klopfte ich an die Türen, brach ich die Türen auf, um hinauszugehen, um zu finden...

Als ich mit dem letzten Herrn nach Palästina kam, fürchtete ich, in die Finsternis zu fallen... statt dessen ging ich dem Licht entgegen.

Die Worte der Diener von Caesarea waren wie ebenso viele Axthiebe, die die Wände rissig machten und immer größere Öffnungen schufen, durch die dein Wort eindringen konnte. Ich sammelte alle diese Worte und Nachrichten. Dann fädelte ich wie ein Kind die Perlen auf, schmückte mich damit und schöpfte daraus Kraft, um immer reiner zu werden und zur Wahrheit zu gelangen. In der Läuterung glaubte ich sie schon auf Erden finden zu können. Selbst auf Kosten des Lebens wollte ich rein sein für die Begegnung mit der Wahrheit, der Weisheit, der Gottheit. Herr, ich sage sinnlose Worte! Man schaut erstaunt auf mich. Aber du hast mich gefragt ...»

«Sprich, sprich, es ist notwendig.»

«Mit Willenskraft und Enthaltsamkeit habe ich den äußeren Bedrängnissen widerstanden. Ich hätte nach weltlicher Auffassung frei und glücklich sein können, wenn ich es nur gewollt hätte. Aber ich wollte nicht das Wissen mit dem Genuß vertauschen, denn ohne Weisheit nützen die anderen Tugenden nichts. Er, der Philosoph, hat es gesagt: "Gerechtigkeit,

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Mäßigkeit und Willenskraft, die nicht von Wissen begleitet sind, gleichen einer gemalten Szene, einer durchaus sklavischen Tugend, ohne Halt und Wirklichkeit." Ich wollte wirkliche Dinge haben. Der törichte Herr sprach in meiner Gegenwart über dich. Da schien es mir, als würden die Wände zu Schleiern. Es genügte, den Schleier zu zerreißen und sich mit der Wahrheit zu vereinigen. Ich habe es getan.»

«Du wußtest aber nicht, daß du uns finden würdest», sagt Judas Iskariot.

«Ich verstand und glaubte, daß Gott die Tugend belohnt. Ich wollte weder Gold noch Ehren, nicht einmal die Freiheit dieser Welt. Ich wollte die Wahrheit. Ich bat Gott, mir sie oder den Tod zu geben. Ich wollte, daß mir die Erniedrigung erspart bliebe, mit meiner Zustimmung ein "Objekt" zu werden. Indem ich auf alles Körperliche verzichtete, um dich zu suchen, o Herr – denn das Suchen mittels der Sinne ist immer unvollkommen, du hast es gesehen, als ich bei deinem Anblick floh, durch die Augen in die Irre geführt – habe ich mich Gott hingegeben, der über und in uns ist, und der zur Seele spricht. Ich habe dich gefunden, denn die Seele hat mich zu dir geführt.»

«Deine ist eine heidnische Seele», sagt wiederum Iskariot.

«Aber die Seele hat immer etwas von Gott in sich, besonders wenn sie sich bemüht hat, sich vor dem Irrtum zu bewahren... und daher wendet sie sich den Dingen ihrer eigenen Natur zu.»

«Du vergleichst dich mit Gott?»

«Nein.»

«Warum sagst du dann solche Dinge?»

«Wie? Du, ein Jünger des Meisters, fragst mich das? Mich, die Griechin, die erst seit kurzem die Freiheit wiedererlangt hat? Hörst du denn nicht zu, wenn er spricht? Oder ist in dir die Gärung des Körpers so stark, daß sie dich betäubt? Sagt er denn nicht immer, daß wir Kinder Gottes sind? Also sind wir Götter, wenn wir Kinder des Vaters sind, seines und unseres Vaters, von dem er immer spricht. Du könntest mir vorwerfen, daß ich nicht demütig bin, aber nicht, daß ich ungläubig und unaufmerksam bin.»

«Du meinst also, daß du gläubiger bist als ich? Glaubst du, daß dich die Bücher deines Griechenlandes alles gelehrt haben?»

«Nein! Weder das eine noch das andere. Doch die Bücher der Gelehrten, woher sie auch stammen mögen, haben mir das Minimum gegeben, um mich aufrecht halten zu können. Ich zweifle nicht daran, daß ein Israelit mehr ist als ich. Aber ich bin zufrieden mit dem Los, das mir von Gott auferlegt worden ist. Was kann ich denn mehr wünschen? Ich habe alles gefunden, als ich den Meister fand, und ich glaube, es war eine Fügung, denn ich sehe eine Macht, die über mich wacht und mir eine große Bestimmung zugedacht hat, der ich nur gefolgt bin, da ich sie als etwas Gutes erkenne.»

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«Etwas Gutes? Du bist Sklavin gewesen, bei grausamen Herren... Wenn der letzte dich zum Beispiel zurückgeholt hätte, wie hättest du dann deiner Bestimmung folgen können, du, die du so klug bist?»

«Du nennst dich Judas, nicht wahr?»

«Ja, und?»

«Nichts! Ich will mir außer deiner Ironie auch deinen Namen merken. Schau, Ironie ist auch bei Tugendhaften nicht angebracht... Wie ich meiner Bestimmung hätte folgen können? Ich hätte mich vielleicht umgebracht, denn manchmal ist es wirklich besser, zu sterben als weiterzuleben, obwohl der Philosoph sagt, es sei nicht gut und gottlos, für sein eigenes Wohl zu sorgen, da nur die Götter das Recht haben, uns zu sich zu rufen. Jedoch hat mich dieses Warten auf ein Zeichen der Götter stets davon abgehalten, mir das Leben zu nehmen, als mich die Ketten meines traurigen Schicksals drückten. Aber in einer erneuten Gefangenschaft bei meinem lasterhaften Herrn hätte ich das göttliche Zeichen gesehen und hätte es vorgezogen zu sterben, anstatt so weiterzuleben. Auch ich habe eine Würde, Mann!»

«Und wenn er dich jetzt zurückholen würde? Wäre deine Lage dann noch immer dieselbe... ?»

«Jetzt würde ich mich nicht mehr umbringen. Jetzt weiß ich, daß die Vergewaltigung des Fleisches den Geist, der nicht mit ihr einverstanden ist, nicht verletzt. Jetzt würde ich Widerstand leisten, bis ich der Gewalt unterläge, bis ich mit Gewalt getötet würde. Denn auch das würde ich als ein Zeichen Gottes ansehen, daß er mich durch eine Gewalttat zu sich ruft. Jetzt würde ich ruhig sterben, da ich weiß, daß ich nur verlieren kann, was vergänglich ist.»

«Du hast gut geantwortet, Frau», sagt Lazarus, und auch Nikodemus stimmt zu.

«Der Selbstmord ist niemals erlaubt», sagt Iskariot.

«Viele Dinge sind verboten, und man achtet nicht auf das Verbot. Aber du, Syntyche, mußt glauben, daß Gott, so wie er dich immer geführt hat, dich auch davor bewahrt hätte, daß du dir selbst Gewalt antust. Nun geh! Ich wäre dir dankbar, wenn du das Kind suchen und es mir bringen würdest», sagt Jesus sanft.

Die Frau verneigt sich bis zur Erde und geht weg. Alle blicken ihr nach.

Lazarus flüstert: «Sie ist immer so! Ich kann nicht verstehen, wie die Dinge, die in ihr "Leben", für uns in Israel "Tod" gewesen sind. Wenn du Gelegenheit hast, sie noch einmal zu prüfen, wirst du sehen, daß gerade der Hellenismus, der uns verdorben hat, die wir schon im Besitz einer Weisheit waren, sie gerettet hat. Warum?»

«Weil die Wege des Herrn wunderbar sind und er sie denen öffnet, die sie verdienen. Jetzt, Freunde, entlasse ich euch, denn es wird Abend. Ich freue mich, daß ihr alle die Griechin habt sprechen hören. Aus der Erfahrung,

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daß Gott sich den Besten enthüllt, zieht die Uhre, daß es verwerflich und gefährlich ist, jedes Geschöpf, das nicht aus Israel stammt, aus den Scharen Gottes auszuschließen. Dies sei euch eine Regel für die Zukunft ... murre nicht, Judas des Simon, und du, Joseph, habe keine unnötigen Skrupel. Ihr seid in keiner Weise verunreinigt, wenn ihr in der Nähe einer Griechin seid. Sorgt dafür, daß ihr nicht den Dämon herankommen laßt und beherbergt. Leb wohl, Joseph! Leb wohl, Nikodemus! Werde ich euch noch einmal sehen, solange ich hier bin? Da kommt Margziam... Komm, Kind, grüße die Häupter des Synedriums. Was sagst du ihnen?»

«Der Friede sei mit euch und... ich füge hinzu: Betet für mich in der Stunde des Rauchopfers.»

«Du hast es nicht nötig, Kind. Aber warum denn ausgerechnet zu dieser Stunde?»

«Weil Jesus das erste Mal, als ich mit ihm den Tempel besuchte, vom Gebet des Abends sprach... Oh, es ist so schön...!»

«Und du, wirst du auch für uns beten? Wann?»

«Ich werde beten. Morgens und abends werde ich beten. Damit Gott euch vor der Sünde bewahren möge, bei Tag und bei Nacht!»

«Was wirst du sagen, Kind?»

«Ich werde beten: "Allmächtiger Herr, mach aus Joseph und Nikodemus wahre Freunde Jesu." Das ist genug. Denn wer ein wahrer Freund ist, fügt seinem Freund kein Leid zu, und wer Jesus kein Leid zufügt, kann gewiß sein, den Himmel zu erwerben.»

«Gott möge dich so bewahren, Kind!» sagen die beiden Synedristen und liebkosen es. Dann grüßen sie den Meister, die Jungfrau und Lazarus im besonderen und die übrigen alle zusammen und gehen fort.

327. DIE MISSION DER VIER APOSTEL IN JUDÄA

Jesus kehrt mit den Aposteln von einem apostolischen Besuch in der Umgebung von Bethanien zurück. Es muß eine kurze Reise gewesen sein, denn sie haben nicht einmal die Brotbeutel mitgenommen. Sie reden miteinander. «Es war eine gute Idee Salomons, des Fährmanns, nicht wahr, Meister?»

«Ja, ein guter Gedanke.»

Natürlich muß Iskariot den anderen widersprechen: «Ich sehe nicht viel Gutes darin. Er hat uns das gegeben, was ihm jetzt als Jünger nicht mehr dient. Da gibt es nichts zu rühmen ...»

«Ein Haus dient immer», sagt der Zelote ernst.

«Wenn es wie das deine wäre. Aber was ist es? Eine ungesunde Hütte!»

«Es ist alles, was Salomon besitzt», entgegnet der Zelote.

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«So wie er dort alt geworden ist, ohne krank zu werden, so werden auch wir ab und zu dort wohnen können. Was willst du eigentlich? Sollen alle Häuser wie das des Lazarus sein!» bemerkt Petrus.

«Ich will gar nichts. Ich sehe nur die Notwendigkeit dieses Geschenkes nicht ein. Wenn man schon dort ist, kann man auch in Jericho Aufenthalt nehmen. Es liegt nur einige Stadien davon entfernt, und für Leute wie wir, die wie Verfolgte gezwungen sind, andauernd zu wandern, bedeuten einige Stadien nichts.»

Jesus greift ein, bevor die Geduld der anderen zu Ende ist, wofür es schon deutliche Anzeichen gibt. «Salomon hat im Verhältnis zu seinem Besitz mehr als alle anderen gegeben. Er hat alles gegeben. Er hat es aus Liebe gegeben. Er hat es gegeben, um uns ein Obdach zu sichern für den Fall, daß Regengüsse oder Hochwasser uns in der unwirtlichen Gegend überraschen sollten, und vor allem für den Fall, daß die Unfreundlichkeit der Juden so groß werden sollte, daß es ratsam wäre, einen Fluß zwischen uns und ihnen zu haben. Dies, soweit es das Geschenk betrifft. Daß ein Jünger, der so arm und ungebildet, aber auch so treu und bereitwillig ist, zu einer solchen Hochherzigkeit gelangt, die seinen festen Willen kundgibt, für immer mein Jünger zu sein, bereitet mir große Freude. Wahrlich, ich sehe, daß viele Jünger trotz der wenigen Unterweisungen, die sie von mir erhalten haben, euch, die ihr so viel belehrt worden seid, übertreffen. Ihr seid noch immer nicht fähig, besonders du, mir das zu opfern, was euch gar nichts kostet: euer persönliches Urteil. Das deinige ist immer hart und unbeugsam.»

«Du sagst, daß der Kampf gegen sich selbst der schwerste ist...»

«Du willst mir damit also sagen, daß ich fehlgehe, wenn ich behaupte, daß er nichts kostet, nicht wahr? Aber du hast wohl begriffen, was ich sagen will! Für den Menschen, und du bist wahrlich ein echter Mensch, hat nur das Wert, was käuflich ist. Das Ich hat keinen Handelswert. Es sei denn, daß man sich einem anderen verkauft und dabei einen Gewinn erhofft. Das ist ein Schacher gleich dem, den die Seele mit Satan treibt, ja ein noch weitergehender. Denn außer der Seele bemächtigt er sich auch des Denkens oder des Urteilsvermögens oder der Freiheit des Menschen, du magst es nennen, wie du willst. Es gibt auch Unglückliche dieser Art... Aber jetzt wollen wir nicht an sie denken. Ich habe Salomon gelobt, weil ich den vollen Wert seiner Tat anerkenne. Das genügt!»

Eine Zeitlang herrscht Schweigen, dann beginnt Jesus wieder zu sprechen: «In einigen Tagen wird Ermastheus imstande sein zu wandern, ohne Schaden zu nehmen. Ich will nach Galiläa zurückkehren. Aber ihr sollt nicht alle mit mir kommen. Ein Teil von euch wird in Judäa bleiben, um dann mit den Jüngern aus Judäa zurückzukehren, damit wir zum Fest der Lichter alle beisammen sind.»

«Solange? Oje! Wen wird es denn treffen?»sagen die Apostel zueinander.

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Jesus bemerkt das Flüstern und antwortet: «Es trifft Judas des Simon, Thomas, Bartholomäus und Philippus. Aber ich habe nicht gesagt, daß ihr bis zum Fest der Lichter in Judäa bleiben sollt. Ich will nur, daß ihr die Jünger sammelt oder benachrichtigt, damit sie zum Fest der Lichter bei uns sein können. Ihr sucht sie also zu benachrichtigen und sammelt sie. ihr werdet sie überwachen, ihnen helfen und mir dann nachkommen. Bringt die mit, die ihr findet; den anderen hinterlaßt ihr die Nachricht, daß sie nachkommen sollen. Wir haben schon Freunde in den wichtigsten Ortschaften von Judäa. Sie werden uns den Gefallen tun, es den Jüngern mitzuteilen. Denkt daran, daß ich bei der Rückkehr nach Galiläa am jenseitigen Ufer des Jordan entlang über Gerasa, Bozrah und Arbela bis nach Aera kommen werde, und sammelt auch jene, die es bei meinem Vorbeikommen nicht gewagt haben, um Belehrung oder Wunder zu bitten und dies seither bereuen. Führt sie zu mir. Ich werde bis zu eurer Ankunft in Aera verweilen.»

«Dann wäre es besser, wenn wir gleich aufbrächen», sagt Iskariot.

« Nein! Ihr sollt am Abend vor meiner Abreise aufbrechen und euch zu Jonas im Gethsemane begeben. Am Tag darauf schlagt ihr den Weg nach Judäa ein. So wirst du deine Mutter sehen und ihr in dieser Zeit der landwirtschaftlichen Verträge helfen können.»

«Sie hat nunmehr seit Jahren gelernt, sie allein zu machen.»

«Oh, hast du vergessen, daß du letztes Jahr bei der Weinernte unentbehrlich warst?» fragt Petrus anzüglich.

Judas wird röter als Klatschmohn und häßlich durch seinen Zorn und seine Beschämung. Doch Jesus kommt jeder Antwort zuvor und sagt: «Ein Sohn ist immer Hilfe und Trost für seine Mutter. Bis Ostern und nach Ostern wird sie dich nicht mehr sehen. Daher gehe und tue, was ich dir sage!»

Judas entgegnet Petrus nichts mehr; er läßt seinen Zorn an Jesus aus: «Meister, weißt du, was ich dir sagen muß? Ich habe den Eindruck, daß du mich loswerden willst, weil du mich verdächtigst: weil du ungerechterweise glaubst, daß ich schuld an etwas bin, weil du es mir gegenüber an Liebe fehlen läßt, weil...»

«Judas! Genug! Ich könnte dir viele Worte sagen. Ich sage dir nur: "Gehorche!"» Jesus ist majestätisch bei diesen Worten. Hochaufgerichtet, mit blitzenden Augen und ernstem Antlitz... Er läßt den, der ihn anblickt, erzittern. Auch Judas zittert. Er folgt als letzter der Gruppe, während Jesus allein an der Spitze geht. Zwischen ihm und Jesus wandert die verstummte Gruppe der Apostel.

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328. JESUS VERLÄSST BETHANIEN, UM SICH AUF DIE ANDERE SEITE DES JORDAN ZU BEGEBEN

«Lazarus, mein Freund, ich bitte dich, mit mir zu kommen», sagt Jesus auf der Schwelle des Saales, wo Lazarus auf einem Lager halb ausgestreckt liegt und in einer Schriftrolle liest.

«Sofort, Meister! Wohin?» fragt Lazarus und erhebt sich unverzüglich.

«Durch die Felder. Ich möchte mit dir allein sein.»

Lazarus blickt ihn fassungslos an und sagt: «Hast du traurige Nachrichten vernommen, die du mir im geheimen mitteilen willst? Oder... Nein, ich will nicht daran denken...»

«Ich möchte mich nur mit dir beraten, und nicht einmal die Luft darf wissen, was wir besprechen werden. Laß den Wagen kommen, denn ich möchte dich nicht ermüden. Wenn wir auf dem offenen Feld angekommen sind, will ich dann mit dir reden.»

«So will ich selbst den Wagen lenken, damit auch der Diener nicht erfährt, was wir besprochen haben.»

«Ja. Genau so!»

«Ich gehe sofort, Meister. Ich werde gleich bereit sein», und er verläßt den Saal.

Auch Jesus geht hinaus, nachdem er etwas nachdenklich im reichgeschmückten Saal stehengeblieben war. Beim Nachdenken hat er mechanisch zwei oder drei Gegenstände berührt und die zur Erde gefallene Schriftrolle aufgehoben. Als er sie schließlich an ihren Platz in einem Regal zurückgelegt hat, mit dem angeborenen Ordnungssinn, der in Jesus so stark ausgeprägt ist, bleibt er mit ausgestrecktem Arm stehen, um seltsame Kunstgegenstände, die auf einem Regal aneinandergereiht stehen, zu betrachten, wenigstens solche, die sich sehr von den in Palästina vorkommenden unterscheiden. Es handelt sich um sehr alte Krüge und Becher, mit Flachreliefs und Malereien, ähnlich den Verzierungen der Tempel des alten Griechenland und der Totenurnen. Was er außer dem Gegenstand an und für sich noch sieht, weiß ich nicht... Er geht hinaus in den Innenhof, wo sich die Apostel befinden.

«Wohin gehen wir, Meister?» fragen sie, als sie sehen, daß Jesus sich den Mantel umhängt.

«Nirgendwohin. Ich gehe mit Lazarus hinaus. Ihr bleibt hier und wartet auf mich, alle zusammen. Ich werde bald wieder zurück sein.»

Die Zwölf schauen sich gegenseitig an... Sie sind nicht zufrieden... Petrus sagt: «Gehst du allein? Sei vorsichtig ...»

«Hab keine Sorge! Seid nicht müßig, während ihr wartet. Unterweist noch Ermastheus, damit er das Gesetz immer besser kennenlernt, und vermeidet Zank und Grobheiten. Ertragt einander, liebt euch!»

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Er begibt sich zum Garten, und alle folgen ihm. Bald kommt ein leichter, bedeckter Wagen, auf dem sich bereits Lazarus befindet.

«Du fährst mit dem Wagen?»

«Ja, damit Lazarus seine Beine nicht zu sehr anstrengen muß. Auf Wiedersehen. Margziam, sei brav. Der Friede sei mit euch allen!»

Er besteigt den Wagen, unter dem der Kies auf dem Weg knirscht. Sie verlassen den Garten und schlagen die Hauptstraße ein.

«Fährst du zum "Trügerischen Gewässer", Meister?» schreit Thomas ihm nach.

«Nein! Noch einmal sage ich euch: Seid gut zueinander!»

Das Pferd fällt in einen wackeren Trab. Der Weg von Bethanien nach Jericho führt durch eine Landschaft, die sich entlaubt, und je mehr es der Ebene zugeht, desto mehr bemerkt man das Absterben des Grüns.

Jesus denkt nach. Lazarus schweigt und beschäftigt sich nur mit dem Lenken des Pferdes. Als sie die Ebene erreicht haben, eine fruchtbare Ebene, schon bereit, den Samen des künftigen Getreides aufzunehmen, schlafend in ihren Weinbergen wie eine Frau, deren Frucht erst vor kurzem das Licht der Welt erblickt hat und die sich nun von der süßen Mühe ausruht, läßt Jesus anhalten. Lazarus lenkt das Pferd auf einen Seitenweg, der zu fernen Häusern führt... und erklärt: «Hier werden wir noch ungestörter sein als auf der großen Straße. Die Bäume schützen uns vor den Blicken der Vorübergehenden.» Eine Gruppe niedriger, dichter Gewächse bildet gleichsam einen Wandschirm gegen die Neugier Vorüberziehender. Lazarus steht aufrecht vor Jesus und wartet.

«Lazarus, ich muß Johannes von Endor und Syntyche entfernen. Du siehst, daß die Klugheit es rät und auch die Liebe. Für den einen und für die andere wäre es eine gefährliche Prüfung und ein unnötiger Schmerz, wenn sie von den Verfolgungen erfahren würden, die gegen sie im Gang sind; es könnten sich, wenigstens für den einen, sehr peinliche Überraschungen ergeben.»

«In meinem Haus...»

«Nein! Nicht in deinem Haus. Man würde sie vielleicht nicht physisch angreifen, aber moralisch belästigen. Die Welt ist grausam und zermalmt ihre Opfer. Ich möchte nicht, daß diese beiden schönen Seelenkräfte so verlorengehen. Daher möchte ich, wie ich eines Tages den alten Ismael mit Sara verband, jetzt den armen Johannes mit Syntyche vereinen. Ich möchte, daß er in Frieden stirbt, daß er nicht allein ist und sich nicht einbildet, weggeschickt zu werden, nicht weil er der "Exsträfling" ist, sondern weil er der Jünger und Proselyt ist, den man anderswohin entsenden kann, um den Meister zu verkünden. Syntyche wird ihm helfen... Syntyche ist eine schöne Seele und wird eine große Kraft in der zukünftigen Kirche und für sie sein. Kannst du mir raten, wo ich sie hinschicken könnte? Nach Judäa, nach Galiläa oder auch in die Dekapolis? Dorthin, wo ich

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und meine Apostel und Jünger hingehen werden, kann ich sie nicht schicken. In die heidnische Welt auch nicht. Wohin also? Wo können sie nützlich und sicher sein?»

«Meister... ich soll es dir raten?!»

«Nein, nein! Sprich nur! Du meinst es gut mit mir und wirst sie nie verraten, denn du liebst alle, die ich liebe, und du bist nicht so engherzig wie die anderen.»

«Ich... Ja... Ich würde dir raten, sie dorthin zu schicken, wo ich Freunde habe. Nach Zypern oder Syrien. Du kannst wählen. In Zypern habe ich Vertrauenspersonen, und in Syrien ebenso! Dort habe ich noch einige kleine Häuser und einen Verwalter, der treuer als ein Schäflein ist. Unser alter Philippus! Für mich würde er alles tun, was ich ihm sage. Wenn du es mir erlaubst, können alle, die Israel verfolgt und die du liebst, sich von nun ab meine Gäste nennen und sicher im Haus verweilen. Oh, es ist kein Königspalast! Es ist ein Haus, in dem Philippus mit seinem Neffen wohnt, der die Gärten von Antigonea betreut. Die geliebten Gärten meiner Mutter! Wir haben sie zu ihrem Gedächtnis erhalten. Sie hatte Pflanzen aus ihrem Garten in Judäa dorthin gebracht, seltene Gewürzkräuter... Die Mutter! ... Sie hat viel Gutes für die Armen getan... Sie waren ihr geheimes Reich... Meine Mutter... Ich werde sie bald besuchen, um ihr zu sagen: "Freue dich, o gute Mutter! Der Erlöser ist auf Erden." Sie hatte dich erwartet...» Zwei Tränenspuren sind auf dem leidvollen Antlitz des Lazarus sichtbar. Jesus blickt ihn an und lächelt. Lazarus faßt sich: «Aber sprechen wir von dir! Scheint dir der Ort geeignet zu sein?»

«Ja, und einmal mehr möchte ich dir danken, für mich und für sie. Du nimmst mir eine große Sorge ab ...»

«Wann werden sie abreisen? Ich frage, um einen Brief für Philippus vorzubereiten. Ich werde ihm sagen, es seien zwei meiner Freunde von hier, die der Ruhe bedürfen. Wird das genügen?»

«Ja, das wird genügen. Ich bitte dich, nicht einmal die Luft darf von all dem erfahren. Du siehst, man spioniert mir nach ...»

«Ich sehe es. Ich werde nicht einmal mit den Schwestern darüber reden. Aber wie wirst du sie dorthin bringen? Du hast die Apostel bei dir...»

«Jetzt will ich ohne Judas des Simon, Thomas, Philippus und Bartholomäus bis nach Aera hinaufgehen. Indessen werde ich Syntyche und Johannes gründlich unterweisen, damit sie reichlich mit der Wahrheit ausgerüstet dorthin reisen. Danach will ich nach Meron und weiter nach Kapharnaum hinab. Dort angekommen, werde ich die Vier noch einmal mit anderen Aufgaben wegschicken und schließlich die beiden nach Antiochia abreisen lassen. Ich bin dazu gezwungen...»

«Du kannst den Deinen nicht trauen, du hast recht... Meister, es schmerzt mich, dich bedrückt zu sehen ...»

«Deine wahre Freundschaft tröstet mich sehr... Lazarus, ich danke

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dir... Übermorgen werde ich abreisen und deine Schwestern mitnehmen. Ich brauche viele Jüngerinnen, um unter ihnen Syntyche verbergen zu können. Auch Johanna des Chuza wird kommen. Von Meron wird sie nach Tiberias gehen, weil sie dort den Winter verbringen will. Ihr Gatte will es so, um sie in seiner Nähe zu haben, da Herodes für einige Zeit nach Tiberias zurückkehren wird.»

«Es soll alles geschehen, wie du es willst. Meine Schwestern sind dein, so wie ich, meine Häuser, meine Diener und meine Güter es sind. Alles ist dein, Meister. Gebrauche es zum Guten. Ich will den Brief für Philippus vorbereiten. Es ist besser, wenn ich ihn dir persönlich mitgebe.»

«Danke, Lazarus.»

«Es ist alles, was ich tun kann... Wäre ich gesund, würde auch ich kommen... Heile mich, Meister, und ich werde kommen.»

«Nein, Freund! Du dienst mir so, wie du bist!»

«Auch, wenn ich nichts tue?»

«Ja. Oh, mein Lazarus!» und Jesus umarmt und küßt ihn.

Sie besteigen wieder den Wagen und kehren zurück. Nun ist Lazarus schweigsam und nachdenklich; Jesus fragt ihn nach dem Grund.

«Ich denke daran, daß ich Syntyche verliere. Ihr Wissen und ihre Güte haben mich angezogen...»

«Jesus erwirbt sie jetzt ...»

«Es ist wahr, es ist wahr. Wann werde ich dich wiedersehen, Meister?»

«Im Frühjahr.»

«Bis zum Frühling nicht mehr? Im vergangenen Jahr warst du zum Lichterfest bei mir...»

«Dieses Jahr will ich die Apostel zufriedenstellen. Aber im nächsten Jahr werde ich oft bei dir sein, ich verspreche es dir.»

Bethanien liegt in der Oktobersonne. Sie sind beinahe angekommen, als Lazarus das Pferd anhält und sagt: «Meister, du tust gut daran, den Mann von Kerioth zu entfernen. Ich fürchte ihn. Er liebt dich nicht. Er hat mir nie gefallen. Er ist ein sinnlicher und habgieriger Mensch, und deswegen zu jeder Sünde fähig. Meister, er war es, der dich angezeigt hat...»

«Hast du dafür Beweise?»

«Nein!»

«Dann darfst du auch nicht urteilen. Du bist nicht sehr erfahren im Urteilen. Erinnere dich, daß du deine Maria für hoffnungslos verloren gehalten hast. Sage nicht, es sei mein Verdienst. Sie hat mich zuerst gesucht.»

«Auch das ist wahr. Doch hüte dich vor Judas.»

Bald danach betreten sie den Garten, wo die Apostel schon voller Neugierde warten.

Die Abwesenheit von vier Aposteln, vor allem die des Judas, ist der

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Grund, daß die Gruppe der Zurückgebliebenen vertraulicher und freier wirkt: wirklich eine Familie, deren Häupter Jesus und Maria sind; Maria, die an diesem heiteren Oktobermorgen Bethanien verläßt und sich nach Jericho begibt, um an das andere Ufer des Jordan zu gelangen. Die Frauen sind um Maria versammelt, und es fehlt nur Annalia in der Gruppe der Jüngerinnen, also die drei Marien, Johanna, Susanna, Elisa, Marcella, Sara und Syntyche. Um Jesus sind Petrus, Andreas, Jakobus, Judas des Alphäus, Matthäus, Johannes, Jakobus des Zebedäus, Simon der Zelote, Johannes von Endor, Ermastheus und Timoneus geschart, während Margziam wie ein Geißböcklein hüpfend sich einmal der einen, dann wieder der anderen Gruppe anschließt, die wenig voneinander entfernt wandern. Mit schweren Taschen beladen, ziehen sie fröhlich auf der von einer milden Sonne beschienenen Straße dahin durch die feierlich ruhende Landschaft.

Johannes von Endor schreitet mühsam voran unter der Last, die er auf den Schultern trägt. Petrus merkt es und sagt: «Gib her, da du den ganzen Ballast wieder hast mitnehmen wollen. Hast du dich danach gesehnt?»

«Der Meister hat es mir aufgetragen.»

«So? Nicht zu glauben! Und warum?»

«Ich weiß es nicht. Er hat gestern abend gesagt: "Nimm deine Bücher und folge mir mit ihnen!"»

«Oh, nicht zu glauben, nicht zu glauben... Aber wenn er es gesagt hat, muß es wohl gut sein. Vielleicht tut er es für die Frau. Wie viele Dinge weiß sie doch! Weißt auch du alle diese Dinge?»

«Fast alle! Sie ist sehr gelehrt.»

«Aber du wirst uns nun nicht immer mit dieser Last folgen, oder doch?»

«Oh, ich glaube nicht. Ich weiß es nicht. Aber ich kann sie auch selbst tragen...»

«Nein, Freund! Ich möchte nicht, daß du krank wirst. Du bist in einer schlechten Verfassung, weißt du?»

«Ich weiß es. Ich fühle, daß der Tod naht.»

«Mach keine Scherze! Laß uns wenigstens Kapharnaum erreichen. Es ist so schön jetzt, da wir unter uns sind, ohne ihn... Diese verfluchte Zunge! Wieder habe ich das gegebene Versprechen gebrochen! Meister! Meister !»

«Was willst du, Simon?»

«Ich habe über Judas gemurrt, und ich hatte dir doch versprochen, es nicht mehr zu tun. Verzeihe mir!»

«Ja. Versuche doch, es nicht mehr zu tun.»

«Ich kann noch 489mal deine Verzeihung erhalten...»

«Was sagst du denn da, Bruder?» fragt Andreas erstaunt.

Petrus wendet seinen Hals unter dem Gewicht der Tasche des Johannes

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von Endor, während sein gutmütiges Gesicht in einem schalkhaften Lächeln aufleuchtet: «Erinnerst du dich nicht mehr daran, daß er gesagt hat, man solle siebzigmal siebenmal verzeihen? So habe ich noch 489mal Vergebung zugut. Ich führe genau Buch.»

Alle lachen; auch Jesus kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Doch er antwortet: «Du würdest gut daran tun, über alle deine guten Werke Buch zu führen, du großes Kind!»

Petrus geht zu ihm, legt seinen rechten Arm um Jesu Hüfte und sagt:

«Mein teurer Meister! Wie glücklich bin ich, bei dir zu sein, ohne... Ah! Auch du bist glücklich... und verstehst schon, was ich sagen möchte. Wir sind unter uns. Auch deine Mutter ist dabei. Auch das Kind ist da. Wir kommen nun nach Kapharnaum. Das Wetter ist schön ... Fünf Gründe, um glücklich zu sein. Oh, wie schön ist es, mit dir zu wandern. Wo werden wir heute abend haltmachen?»

«In Jericho.»

«Im letzten Jahr haben wir dort die Verschleierte gesehen. Wer weiß, was mit ihr geschehen ist... Ich wäre neugierig, es zu erfahren... Wir haben auch den mit den Weinbergen angetroffen...» Das Lachen des Petrus steckt an, so schallend ist es. Alle lachen bei der Erinnerung an die Szene der Begegnung mit Judas von Kerioth.

«Du bist wirklich unverbesserlich, Simon!» tadelt Jesus...

«Ich habe nichts gesagt, Meister. Aber ich mußte lachen bei der Erinnerung an sein Gesicht, als er uns dort... in seinen Weinbergen begegnet ist.» Petrus lacht so herzlich, daß er stehenbleiben muß, während die anderen lachend weitergehen.

Petrus wird von den Frauen eingeholt. Maria fragt sanft: «Was hast du, Simon?»

«Ach, ich kann es nicht sagen. Ich würde sonst wieder gegen die Liebe fehlen. Aber... Mutter, sage mir, du, die du so weise bist. Wenn ich jemanden verdächtige oder, was schlimmer ist, verleumde, dann sündige ich natürlich. Aber wenn ich über eine Sache lache, die allen bekannt ist, über einen Vorfall, der zum Lachen reizt, wie zum Beispiel die Überraschung eines Lügners, seine Verlegenheit, seine Entschuldigungen, und wieder darüber lache, wie wir damals darüber gelacht haben, sündige ich dann ebenfalls?»

«Es ist eine Unvollkommenheit in der Liebe. Es ist keine Sünde wie die Verleumdung oder die üble Nachrede und nicht einmal wie die Schmeichelei, aber es ist immerhin ein Mangel an Liebe. Es ist wie ein Faden, der aus einem Gewebe gezogen wird. Es ist kein wahrer Riß, und der Stoff ist auch nicht abgenützt, aber es ist immerhin etwas, das die Unversehrtheit des Stoffes und seine Schönheit beeinträchtigt und lichte Stellen und Löcher zur Folge haben kann. Meinst du nicht auch?»

Petrus fährt sich mit der Hand über die Stirn... und sagt etwas beschämt:

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«Ja, das glaube ich auch, habe jedoch nie daran gedacht.»

«Denke jetzt daran und tue es nicht mehr. Es gibt ein Gelächter, das beleidigender wirkt als Ohrfeigen. Hat jemand gefehlt? Haben wir ihn bei einer Lüge oder sonst etwas ertappt? Nun, warum sich daran erinnern? Warum die anderen daran erinnern? Wir wollen einen Schleier über die Fehler des Bruders breiten und immer daran denken: "Wenn ich der Schuldige wäre, hätte ich es gerne, wenn einer sich dessen erinnern und andere daran erinnern würde?" Es gibt innerliches Erröten, Simon, das sehr schmerzen kann. Schüttle nicht das Haupt! Ich weiß schon, was du sagen willst... Aber auch die Schuldigen empfinden es, glaube es mir. Du mußt immer von der Frage ausgehen: "Möchte ich, daß mir so geschieht?" Du wirst sehen, daß du dann nie mehr gegen die Liebe sündigst. Du wirst immer großen Frieden in dir haben. Schau, wie Margziam hüpft und glücklich singt. Das kommt daher, daß er ein unbelastetes Herz hat. Er braucht sich nicht um Wege und Ausgaben zu kümmern oder um das, was er zu sagen hat. Er weiß, daß andere sich um all dies kümmern. Mache du es ebenso! Überlasse alles Gott. Auch das Urteil über die Menschen. Wieso willst du dich mit der Last der Entscheidung und des Urteils beladen, solang du wie ein Kind sein kannst, das vom lieben Gott geführt wird? Es wird die Zeit kommen, da du Richter und Schiedsrichter sein mußt: dann wirst du sagen: "Oh, wieviel leichter war es früher, und wieviel ungefährlicher!" Du wirst dich einen Toren nennen, weil du dich, bevor es an der Zeit war, mit so viel Verantwortung beladen hast. Urteilen! Welch eine schwierige Sache! Hast du gehört, was Syntyche vor einigen Tagen gesagt hat? "Nachforschungen mittels der Sinne sind immer unvollkommen." Das hat sie sehr gut gesagt. Oft urteilen wir, weil ein Sinn uns dazu drängt. Also mit größter Unvollkommenheit. Laß das Urteilen beiseite ...»

«Ja, Maria! Dir verspreche ich es. Aber ich weiß nicht all die schönen Dinge, die Syntyche weiß!»

«Bedauerst du es? Weißt du nicht, daß ich mich davon befreien möchte, um nur das zu wissen, was du weißt?»

«Wirklich. Warum denn?»

«Weil man sich mit der Wissenschaft auf Erden zurechtfinden kann, aber mit der Weisheit den Himmel erwirbt. Ich besitze die Wissenschaft, du die Weisheit.»

«Aber mit deiner Wissenschaft hast du es fertiggebracht, zu Jesus zu gelangen! Also ist sie etwas Gutes.»

«Sie ist mit so vielen Irrtümern vermischt, daß ich mich ihrer entäußern möchte, um mich mit der Weisheit neu zu kleiden. Weg mit den verzierten und eitlen Gewändern. Mein Gewand soll das strenge, unauffällige Kleid der Weisheit sein, das nicht vergänglich, sondern unsterblich ist. Das Licht der Wissenschaft zittert und flackert, jenes der Weisheit strahlt gleichmäßig und beständig wie das Göttliche, dem es entstammt.»

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Jesus hat den Schritt verlangsamt, um zuzuhören. Er wendet sich um und sagt zu der Griechin: «Du brauchst nicht danach zu streben, dich von allem zu befreien, was du weißt, sondern mußt aus deinem Wissen die Körner der ewigen Weisheit herausholen, die von Geistern unleugbaren Wertes erworben wurden.»

«Dann haben also diese Köpfe in sich den Mythos des den Göttern geraubten Feuers wiederholt?»

«Ja, Frau! Jedoch nicht geraubt. Sie haben es verstanden, diese Körner zu sammeln, wenn die Gottheit sie mit ihrem Feuer streifte und liebkoste; sie sind in der gefallenen Menschheit zerstreute Beispiele für das, was der Mensch ist: ein mit Vernunft begabtes Wesen.»

«Meister, du mußt mir sagen, was ich behalten und was ich vergessen soll. Ich habe kein rechtes Urteilsvermögen. Und dann fülle die leeren Stellen mit dem Licht deiner Weisheit.»

«Das ist es, was ich zu tun beabsichtige. Ich werde dir zeigen, bis zu welchem Punkt dein Gedanke weise ist, und ihn dann fortsetzen von diesem Punkt an bis zum Ziel, der Wahrheit. Es wird auch für die gut sein, die dazu bestimmt sind, in Zukunft mit vielen Heiden in Berührung zu kommen.»

«Wir verstehen nichts davon, Herr», seufzt Jakobus des Zebedäus.

«Wenig einstweilen. Doch eines Tages werdet ihr verstehen, so wie auch die heutige Unterweisung und deren Notwendigkeit. Du, Syntyche, zähle mir die für dich dunkelsten Punkte auf, und während der Aufenthalte werde ich sie dir erklären.»

«Ja, mein Herr! Es ist der Wunsch meiner Seele, der mit deinem Wunsch verschmilzt. Ich, die Jüngerin der Wahrheit, und du, der Lehrmeister. Der Traum meines Lebens: der Besitz der Wahrheit.»

329. DER KAUFMANN VON JENSEITS DES EUPHRAT

Am Ende einer fruchtbaren Ebene, die sich jenseits des Jordan erstreckt und in dieser milden und heiteren Jahreszeit gegen Ende Oktober angenehm zu durchwandern ist, und nach einem Aufenthalt in einem Dorf, das am Fuße der ersten Hügel einer beachtlichen Gebirgskette liegt, hat Jesus sich wieder auf den Weg gemacht und sich einer langen Karawane mit zahlreichen Saumtieren und wohlbewaffneten Männern angeschlossen. Mit letzteren hat er gesprochen, während sie ihre Tiere an den Wasserbecken des Marktplatzes tränkten.

Es sind meist große, braungebrannte Männer, die schon ein asiatisches Aussehen haben. Auf einem kräftigen Maultier sitzt der Führer der Karawane, bis an die Zähne bewaffnet und zusätzlich mit Waffen, die vom

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Sattel herunterhängen, versehen. Doch er behandelt Jesus mit großer Hochachtung.

Die Apostel fragen Jesus: «Wer ist das?»

«Ein reicher Kaufmann von jenseits des Euphrat. Ich habe ihn gefragt, wohin er geht. Er war sehr höflich. Er reist durch die Städte, die ich zu besuchen beabsichtige. Dies ist Vorsehung auf diesen Bergen, da wir Frauen bei uns haben.»

«Fürchtest du irgend etwas?»

«Was Raub angeht, nicht, denn wir besitzen nichts. Aber es würde genügen, für die Frauen zu fürchten. Eine Handvoll Räuber überfällt niemals eine so starke Karawane, und sie kann uns auch nützlich sein, um die besseren Gebirgspässe ausfindig zu machen und die schwierigen zu überwinden. Er hat mich gefragt: "Bist du der Messias?" und nachdem ich es ihm bestätigt hatte, hat er gesagt: "Ich war vor einigen Tagen im Vorhof der Heiden und habe dich mehr gehört als gesehen, denn ich bin klein. Gut, ich will dich beschützen, und du wirst mich beschützen. Ich habe sehr wertvolle Waren."»

«Ist er ein Proselyt?»

«Ich glaube nicht. Aber vielleicht stammt er noch von unserem Volk ab.»

Die Karawane bewegt sich langsam voran, als wolle sie die Kräfte der Tiere nicht erschöpfen, weil sie einen langen Marsch durchhalten müssen. Daher ist es leicht, ihnen zu folgen. Ja, oft ist es sogar nötig, Halt zu machen, da die Treiber die beladenen Tiere an schwierigen Stellen einzeln passieren lassen und sie am Zaum führen.

Obwohl es sich um ein wirkliches Gebirge handelt, ist die Gegend doch sehr fruchtbar und gut bebaut. Vielleicht schützen die immer höher werdenden Berge im Nordosten vor den kalten Nordwinden und den schädlichen Ostwinden, was die Kulturen begünstigt. Die Karawane folgt dem Lauf eines Gießbaches, der sicher in den Jordan mündet. Er ist reich an Wasser, das von wer weiß welchen Gipfeln stammt. Die Aussicht ist schön und wird immer schöner, je höher man kommt. Im Westen sieht man die Jordanebene und jenseits davon undeutlich die Hügel und Berge des nördlichen Judäa, während sich im Osten und Süden die Aussicht ständig ändert; zuweilen schweift der Blick in die Ferne, zuweilen bieten sich ihm grüne Hügel oder felsige Berge dar, die die Sicht behindern wie die unvorhergesehenen Mauern eines Labyrinthes.

Die Sonne geht hinter den Bergen von Judäa unter und rötet lebhaft den Himmel und die Berge, als der reiche Kaufmann, der sein Maultier angehalten hat, um die Karawane vorüberziehen zu lassen, zu Jesus sagt: «Wir müssen den Ort vor Einbruch der Nacht erreichen. Doch viele, die bei dir sind, scheinen müde zu sein. Die heutige Wegstrecke ist anstrengend. Laß sie auf die Begleitesel steigen, es sind ruhige Tiere. Sie werden

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sich die ganze Nacht ausruhen können, und es wird für sie keine Mühe sein, eine Frau zu tragen.»

Jesus stimmt zu, und der Mann gebietet der Karawane Halt, um die Frauen auf die Tiere aufsteigen zu lassen. Jesus läßt auch Johannes von Endor ein Pferd besteigen. Die, die zu Fuß weitergehen, Jesus eingeschlossen, nehmen die Zügel, um den Ritt der Frauen zu sichern. Margziam will auch... den Mann spielen, und obwohl er vor Müdigkeit beinahe umfällt, will er absolut zu niemandem in den Sattel steigen, sondern nimmt den Zügel des Maulesels der jungfräulichen Mutter, die sich somit zwischen Jesus und dem Kind befindet, und marschiert tapfer voran.

Der Kaufmann ist in Jesus Nähe geblieben und sagt zu Maria: «Frau, siehst du das Dorf? Es ist Ramot. Dort machen wir Halt. Ich bin in der Herberge bekannt, denn ich mache zweimal im Jahre diese Reise, während ich die anderen beiden Male entlang der Küste reise, um zu verkaufen oder zu kaufen. Mein Leben ist hart. Aber ich habe zwölf Söhne; und sie sind noch klein. Ich habe spät geheiratet. Einen habe ich zurückgelassen, als er gerade neun Tage alt war, und bald werde ich ihn mit den ersten Zähnchen wiedersehen.»

«Eine schöne Familie», stimmt Maria zu und sagt: «Der Himmel möge sie dir erhalten!»

«Ich kann mich über seine Hilfe nicht beklagen, obwohl ich ihrer nicht würdig bin.»

Jesus fragt: «Bist du wenigstens ein Proselyt?»

«Ich müßte es sein... Meine Vorfahren waren echte Israeliten. Doch dann haben wir die Gebräuche unseres Wohnortes angenommen...»

«Die Seele gewöhnt sich nur an das Leben in einer Atmosphäre: in der des Himmels.»

«Du hast recht. Aber weißt du... Der Urahn heiratete keine Israelitin, und die Kinder wurden im Glauben nachlässig... Die Söhne der Söhne heirateten ebenso nicht aus Israel stammende Frauen, gaben ihren Kindern jedoch immer jüdische Namen, denn wir waren ursprünglich Juden. Jetzt bin ich, der Enkel der Enkel... nichts mehr. Im Kontakt mit allen habe ich von jedem etwas angenommen, so daß ich nun selbst nichts bin.»

«Das ist kein guter Grund, und ich werde es dir beweisen. Wenn du auf diesem Weg, den du gut kennst, fünf oder sechs Personen begegnen würdest, die zu dir sagen: "Aber nein, geh in diese Richtung." "Kehre zurück." "Bleib stehen." "Geh nach Osten." "Wende dich nach Westen." Was würdest du antworten?»

«Ich würde sagen: "Ich weiß, daß dies der kürzeste und richtige Weg ist; ich will ihn nicht verlassen."»

«Ferner: du hast zum Beispiel ein Geschäft zu erledigen und weißt, wie du es am besten tun kannst. Würdest du auf die hören, die dich aus Übermut oder berechnender Arglist anders beraten wollen?»

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«Nein, ich würde das befolgen, von dem ich aus Erfahrung weiß, daß es besser ist.»

«Sehr gut! Jahrtausende des Glaubens liegen hinter dir, der du von Israel abstammst. Du bist nicht dumm und auch nicht ungebildet. Weshalb läßt du dich, was den Glauben betrifft, durch alle beeinflussen, während du dich, was Geldwährung oder Sicherheit der Straßen anbelangt, nicht beirren läßt? Meinst du nicht, daß es dich, auch menschlich gesprochen, entehrt, Gott dem Geld und dem Weg hintanzustellen ... ?»

«Ich stelle Gott nicht an die letzte Stelle. Aber ich habe ihn aus den Augen verloren...»

«Weil Handel, Geld und Leben deine Götter sind. Aber es ist immer noch Gott, der dir den Besitz dieser Dinge gewährt... Warum bist du in den Tempel hineingegangen?»

«Aus Neugierde. Ich bin aus einem Haus gekommen, in dem ich zu tun hatte, und habe auf der Straße eine Gruppe von Männern gesehen, die dich verehrten, und da habe ich mich an das Gespräch mit einer Teppichweberin in Askalon erinnert. Ich habe mich erkundigt, wer du bist, denn ich habe vermutet, daß du es sein könntest, von dem die Frau gesprochen hatte. Als mir dies bestätigt wurde, bin ich dir nachgegangen. Ich hatte an jenem Tag gerade alle meine Geschäfte erledigt... Dann habe ich dich aus den Augen verloren. In Jericho habe ich dich wiedergesehen, doch nur einen Augenblick. Jetzt habe ich dich wiedergefunden...»

«Du siehst also, wie Gott unsere Wege zusammenführt. Ich habe nichts, was ich dir für dein Entgegenkommen schenken könnte. Doch bevor wir auseinandergehen, hoffe ich, dir ein Geschenk geben zu können, vorausgesetzt, daß du mich nicht vorher verläßt.»

«Nein, das werde ich nicht tun! Alexander Misaze zieht sich nicht zurück, wenn er sich angeboten hat! Hier, hinter dieser Biegung, beginnt das Dorf. Ich reite voraus. Wir werden uns in der Herberge wiedersehen»; und er eilt beinahe im Galopp am Wegrand davon.

«Er ist ein ehrlicher und unglücklicher Mensch, mein Sohn», sagt Maria.

«Du möchtest ihn glücklich in der Weisheit machen, nicht wahr?» Sie lächeln sich im ersten Schatten des Abends sanft zu.

... Während des langen Oktoberabends sind alle Pilger im großen Saal der Herberge versammelt. Sie sind bereit, sich zur Ruhe zu begeben. In einer Ecke, ganz allein, sitzt der Kaufmann über seinen Abrechnungen. In der gegenüberliegenden Ecke befindet sich Jesus mit den Seinen. Andere Gäste sind nicht da. Aus den Ställen dringt Eselsgeschrei, Gewieher und Gebell, was darauf schließen läßt, daß in der Herberge auch noch andere Leute zugegen sind. Vielleicht sind sie schon schlafen gegangen.

Margziam ist in den Armen der Mutter Jesu eingeschlafen und hat auf einmal vergessen, daß er "ein Mann" ist. Petrus macht ein Nickerchen,

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und er ist nicht der einzige, der dies tut. Auch die flüsternden älteren Frauen sind schläfrig und wortkarg. Ganz wach sind nur Jesus, Maria, die Schwestern des Lazarus, Syntyche, Simon der Zelote, Johannes und Judas.

Syntyche kramt in der Tasche des Johannes von Endor, als ob sie etwas suche. Dann aber zieht sie es vor, zu den anderen zu gehen, um Judas des Alphäus zuzuhören, der über die Folgen des Exils in Babylon spricht und mit den Worten schließt: «... vielleicht ist dieser Mann noch ein Resultat des Exils. Jedes Exil ist ein Ruin...»

Syntyche macht eine unwillkürliche Kopfbewegung, sagt aber nichts; und Judas des Alphäus schließt: «Es ist jedoch sehr eigenartig, daß man sich so leicht einer Sache entäußern kann, die ein Schatz vieler Jahrhunderte ist, und ganz anders wird, besonders in religiösen Dingen und bei einer Religion wie der unseren ...»

Jesus antwortet: «Du brauchst dich nicht darüber zu wundern, wenn du im Schoß Israels Samaria betrachtest.»

Schweigen... Die dunklen Augen Syntyches blicken unverwandt auf das ruhige Profil Jesu. Sie schaut ihn fest an, sagt aber nichts. Jesus spürt den Blick und wendet sich, um sie anzusehen.

«Hast du nichts nach deinem Geschmack gefunden?»

«Nein, Herr! Ich bin an jenem Punkt angelangt, wo ich die Vergangenheit nicht mehr mit der Gegenwart, die früheren Ideen nicht mehr mit den jetzigen vereinbaren kann. Es kommt mir fast wie Fahnenflucht vor, denn die früheren Ideen haben mir wirklich geholfen, zu den jetzigen zu gelangen. Dein Apostel hat es gut gesagt... Doch mein "Ruin" ist ein glücklicher.»

«Was ist bei dir ruiniert worden?»

«Der ganze Glaube an den heidnischen Olymp, Herr, und doch bin ich etwas verwirrt, denn beim Lesen eurer Schriften – Johannes hat sie mir gegeben, und ich lese sie, denn ohne Kenntnis gibt es keinen Besitz -habe ich gefunden, daß es auch in eurer Geschichte... in den Anfängen, möchte ich sagen, Tatsachen gibt, die sich von den unseren nicht sehr unterscheiden. Nun möchte ich wissen...»

«Ich habe dir gesagt: Frage, und ich werde dir antworten.»

«Ist denn alles Irrtum in der Religion der Götter?»

«Ja, Frau! Es gibt nur einen Gott, der nicht von jemand gemacht wurde und nicht dem unterworfen ist, was wir Leidenschaften und menschliche Bedürfnisse nennen: einen einzigen, ewigen, vollkommenen Gott, den Schöpfer.»

«Ich glaube es. Aber ich möchte antworten können, nicht mit einer Formel, die keinen Widerspruch duldet, sondern mit einer, die diskutiert werden kann, um zu überzeugen bei den Fragen, die andere Heiden mir vielleicht stellen. Ich habe mir selbst, und kraft dieses gütigen und väterlichen Gottes, zwar ungenaue, jedoch hinreichende Antworten geben

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können, um meinen Geist zufriedenzustellen. Aber in mir war der Wille, zur Wahrheit zu gelangen. Andere werden vielleicht weniger als ich danach streben, obwohl alle dieses Verlangen haben müßten. Ich denke nicht daran, den Seelen gegenüber tatenlos zu bleiben. Was ich empfangen habe, möchte ich weitergeben, um jedoch geben zu können, muß ich wissen. Gib mir das Wissen, und ich will dir dienen im Namen der Liebe. Heute, unterwegs, als ich das Gebirge betrachtete, riefen mir manche Ausblicke auf die Gebirgsketten Griechenlands und die Geschichte des Vaterlandes lebhaft ins Gedächtnis, und durch Gedankenassoziation fielen mir die Mythen des Prometheus und des Deukalion ein... Auch ihr habt etwas ähnliches in der Verdammung Luzifers, im Einhauchen des Lebens in den Lehm und in der Sintflut Noes. Leichte Übereinstimmungen, die jedoch eine Erinnerung sind... Nun sage mir: wie könnten wir davon wissen, wenn zwischen uns und euch keine Verbindung bestünde? Ihr habt diese Wahrheiten sicher vor uns besessen. Doch wie sind sie zu uns gekommen? Wir sind in vielen Dingen sehr unwissend. Wie konnten wir vor Tausenden von Jahren Sagen haben, die an eure Wahrheiten erinnern?»

«Frau, du solltest dies weniger mich als andere fragen. Denn du hast Werke gelesen, die allein schon auf dein Warum antworten können. Du bist heute durch eine Gedankenverbindung, durch die Erinnerung an deine heimatlichen Berge, auch an die heimatlichen Mythen erinnert worden, nicht wahr? Warum das?»

«Weil meine wiedererwachte Gedankenwelt mich daran erinnerte.»

«Sehr gut! Auch die Seelen der Urahnen, die deiner Heimat eine Religion gegeben haben, erinnerten sich unklar, wie es einem Unvollkommenen ergeht, einem von der geoffenbarten Religion Getrennten. Doch haben sie sich immer an etwas erinnert. In der Welt gibt es viele Religionen. Nun, wenn wir hier in einem klaren Bild alle ihre Einzelheiten vor uns hätten, würden wir sehen, daß sich durch all den Schlamm ein goldener Faden zieht, ein Faden, der viele Knoten hat, in denen Körnchen echter Wahrheit enthalten sind.»

«Aber kommen wir nicht alle vom gleichen Stamm? Du sagst es. Wie kommt es, daß die Ahnen der Ahnen unseres Stammbaumes es nicht verstanden haben, die Wahrheit weiterzugeben? Ist es nicht eine Ungerechtigkeit, daß sie dieser beraubt worden sind?»

«Du hast die Genesis gelesen, nicht wahr? Was hast du gefunden? Eine mehrfache Sünde an ihrem Anfang, eine Sünde, die alle drei Bereiche des Menschen umfaßt: Materie, Gedanken und Geist. Dann ein Brudermord. Dann ein Doppelmord als Gegengewicht zum Werk Enochs, das Licht in den Herzen zu bewahren. Dann die Verdorbenheit, die aus der Sinnenlust der Kinder Gottes mit den Kindern der Welt entstand. Trotz der Reinigung durch die Sintflut und der Wiederherstellung der Rasse aus gutem Samen konnte sie nicht fortbestehen, weder durch Steinblöcke, wie es eure

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Mythen berichten, noch durch den Raub des lebenswichtigen Feuers durch die Menschen, sondern nur durch das Einflößen des Lebensfeuers durch Gott, wie damals, als Gott das erstemal den nach seinem Abbild und zur Gestalt des Menschen modellierten Lehm beseelt hat. Aber von neuem zeigte sich das Ferment des Hochmuts, die Beleidigung Gottes: "Wir wollen den Himmel berühren!" Es folgte darauf der Fluch Gottes: "Ihr sollt zerstreut werden und euch nicht mehr verstehen!" Wie das Wasser, welches gegen einen Stein stößt, sich in Rinnsale teilt und sich nicht mehr vereinigt, so teilte sich das ursprüngliche Geschlecht in verschiedene Rassen auf. Durch die Sünde und die Strafe Gottes in die Flucht getrieben, hat sich die Menschheit zerstreut und nicht mehr vereinigt; sie trug die Verwirrung in sich, die der Hochmut geschaffen hatte. Aber die Seelen erinnern sich, etwas bleibt allezeit in ihnen zurück. Die Tugendhaftesten und die Weisesten erkennen immer noch einen schwachen Schein in der Dunkelheit der Mythen: das Licht der Wahrheit. Die Erinnerung an das schon vor dem Leben gesehene Licht ist es, das in ihnen Wahrheiten wachruft, in denen Teile der geoffenbarten Wahrheit enthalten sind. Hast du mich verstanden?»

«Teilweise. Aber ich will darüber nachdenken. Die Nacht ist die Freundin des Denkenden und der Sammlung.»

«Dann wollen wir hingehen und uns sammeln, jeder für sich. Gehen wir, Freunde! Der Friede sei mit euch Frauen. Der Friede mit euch, meine Jünger! Der Friede sei mit dir, Alexander Misaze!»

«Gott sei mit dir, Herr! Auf Wiedersehen!» antwortet der Kaufmann mit einer Verbeugung...

330. VON RAMOT NACH GERASA

In dem etwas harten Licht eines ziemlich windigen Morgens erscheint die Eigenheit dieser Ortschaft, die auf einer felsigen Plattform von einem Kranz von Gipfeln umgeben ist, in ihrer charakteristischen Schönheit. Sie gleicht einem Tablett aus Granit, auf dem Häuser, Häuslein, Brücken und Brunnen zum Spielen für ein Riesenkind zusammengewürfelt sind.

Die Häuser scheinen aus dem Kalkfelsen herausgeschnitten zu sein, der das Grundmaterial dieser Gegend bildet. Übereinandergelegte Blöcke, manche ohne Verputz, manche nicht einmal recht behauen, bilden die Häuslein eines Krippendorfes, das ein großes erfinderisches Kind gebaut hat.

Rings um dieses Dorf sieht man die fruchtbare, baumreiche Landschaft, verschiedenartig in ihren Kulturen. Von der Höhe aus gesehen erscheint sie wie ein Teppich mit Quadraten, Trapezen und Dreiecken, die

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einen erdbraun, frisch gepflügt, andere smaragdgrün mit dem durch den herbstlichen Regen nachgewachsenen Gras, andere rötlich durch die letzten Blätter der Reben oder Obstgärten, etwas graugrün durch die Pappeln und Weiden, emailgrün durch Eichen und Johannisbrotbäume oder braungrün durch Zypressen und Tannen. Sehr, sehr schön!

Es gibt Straßen, die wie Bänder von einem Knotenpunkt, vom Dorf, zur fernen Ebene oder auch zu den höchsten Bergen führen, sich in den Wäldern verbergen oder mit einem grauen Band das Grün der Wiesen und das Braun der gepflügten Äcker durchschneiden.

Da ist auch ein lachender Wasserlauf, der außerhalb des Ortes silbern bis zur Quelle führt, die im zarten Blau entspringt und dann die Abhänge und Schluchten hinunterrinnt, verschwindet und wieder erscheint, scherzend, immer stärker und immer blauer werdend, bis ihr Wasser so mächtig geworden ist, daß es dem Schilf und den Wasserpflanzen, die in der Zeit der Dürre wachsen, nicht mehr erlaubt, es grün zu färben, sondern den Himmel widerspiegelt, nachdem die Stengel jetzt mit dem Schleier des nun schon tiefen Wassers bedeckt sind.

Der Himmel ist von einem unwirklichen Blau: eine kostbare Emailscheibe von reinstem Blau, ohne den geringsten Makel auf ihrer bewundernswerten Fläche.

Die Karawane setzt sich wieder in Bewegung mit den Frauen im Sattel, weil, wie der Kaufmann sagt, die Straße außerhalb des Dorfes noch beschwerlich sein wird und man sich beeilen muß, Gerasa vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Eingehüllt und eilig, weil gut ausgeruht, gehen sie auf der Straße vorwärts, die durch herrliche Wälder hinaufführt, am höchsten Gipfel eines einsamen Berges vorbei, der sich wie ein enormer Block auf den Rücken der darunterliegenden Hügel erhebt. Ein wahrer Riese, wie man sie an den höchsten Stellen unseres Apennin antreffen kann.

«Galaad», sagt der Kaufmann, der bei Jesus geblieben ist, der immer noch die Zügel des Maultieres hält, das die Jungfrau trägt. Er fügt hinzu: «Danach wird die Straße besser. Bist du nie hier gewesen?»

«Nie! Ich wollte im Frühjahr herkommen. Aber man hat mich in Galgala zurückgewiesen.»

«Dich abgewiesen? Welch ein Irrtum!»

Jesus betrachtet ihn und schweigt.

Der Kaufmann hat Margziam zu sich in den Sattel genommen, denn das Kind hat sich abgemüht, mit seinen kurzen Beinen mit den Pferden Schritt zu halten. Auch Petrus merkt, daß die Pferde rasch traben. Er setzt alle seine Kräfte ein und versucht den anderen nachzukommen, bleibt aber immer etwas hinter der Karawane zurück. Er schwitzt, doch er ist zufrieden, denn er hört Margziam lachen, sieht die Mutter Maria ausgeruht und den Herrn froh. Er spricht schnaufend mit Matthäus und seinem

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Bruder Andreas, die wie er hinter den anderen herlaufen, und erheitert sie mit den Worten: «Wenn ich außer den Beinen auch Flügel hätte, wäre ich heute morgen glücklicher.» Er hat sich wie die anderen aller Lasten entledigt und die Säcke an die Sättel der Frauen gebunden; aber die Straße ist wirklich schrecklich und führt über Steine, die schlüpfrig sind von Tau. Die beiden Jakobus mit Johannes und Thaddäus sind tüchtiger und halten Schritt mit den Mauleseln der Frauen. Simon der Zelote spricht mit Johannes von Endor. Timoneus und Ermastheus führen ebenfalls Maultiere.

Endlich ist das Schlimmste überwunden, und eine ganz neue Szenerie öffnet sich dem erstaunten Auge. Das Jordantal ist endgültig verschwunden. Jetzt schweift das Auge im Osten über eine Hochebene von riesigen Ausmaßen, auf der sich kaum angedeutete Hügel erheben, um der Landschaft ihre Eintönigkeit zu nehmen. Ich hätte niemals gedacht, daß es so etwas in Palästina gibt. Es scheint, daß die Berge sich nach dem felsigen Unwetter versteinert und beruhigt haben in einer riesigen Woge, die zwischen Erde und Himmel hängengeblieben ist, und zur Erinnerung an seine ehemalige Wucht da und dort in den Einschnitten der Hügel den Schaum der verfestigten Kämme zurückgelassen hat, während sich das Wasser der Flut in eine glatte Oberfläche von wunderbarer Pracht ausgebreitet hat. Zu dieser Landschaft leuchtenden Friedens gelangt man durch eine letzte Schlucht, wild wie der Abgrund zwischen zwei Sturzwellen, in der noch ein schäumender Sturzbach fließt, der sich von Osten kommend in einem stürmischen, wütenden Lauf zwischen Felsen und Wasserfällen nach Westen ergießt, ganz im Gegensatz zum fernen Frieden der ausgedehnten Ebene.

«Nun wird die Straße gut. Wenn du erlaubst, werde ich einen Halt anordnen», sagt der Kaufmann.

«Ich lasse mich von dir führen, Mann. Du bist des Weges kundig.»

Sie steigen alle ab und verteilen sich auf dem Hang, suchen Holz, um die Mahlzeit zu kochen, und Wasser für die müden Füße und die ausgetrockneten Kehlen. Die von den Lasten befreiten Tiere weiden auf der fetten Wiese oder steigen zum klaren Wasser des Baches hinab. Düfte von verbranntem Harz und gebratenem Fleisch verbreiten sich von den kleinen Feuerstellen, die errichtet worden sind, um die Lämmer zu braten.

Die Apostel haben sich ein Feuerchen angezündet, auf dem sie den gesalzenen Fisch wärmen, nachdem sie ihn im kühlen Wasser des Baches gewaschen haben. Doch der Kaufmann sieht es und kommt mit einem enthäuteten Lämmlein oder Böcklein daher und fordert sie auf, es anzunehmen. Petrus schickt sich an, es zu braten, nachdem er es mit frischen Kräutern gewürzt hat.

Die Mahlzeit ist schnell bereitet und rasch verzehrt. Unter der hohen Mittagssonne wird der Marsch auf einer besseren Straße wieder aufgenommen, die am Sturzbach entlang in Richtung Nordost in ein Gebiet

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wunderbarer Fruchtbarkeit führt. Die Felder sind hier gut bebaut und reich an Schafherden und Schweinen, die grunzend vor der Karawane davonrennen.

«Die ummauerte Stadt ist Gerasa, Herr. Eine Stadt mit großer Zukunft. Sie wird jetzt gerade ausgebaut, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß sie bald mit Jaffa und Askalon, mit Tyrus und anderen Städten in bezug auf Schönheit, Handel und Reichtum verglichen werden kann. Die Römer erkennen ihre Bedeutung auf dem Weg, der vom Roten Meere, und daher von Ägypten, über Damaskus zum Pontischen Meere führt. Sie helfen den Gerasenern beim Ausbau. Sie haben gute Augen und einen guten Spürsinn. Zurzeit hat sie nur einen reichen Handel, aber bald... Oh, sie wird schön und reich sein! Ein kleines Rom mit Tempeln und Teichen, Theatern und Thermen. Ich hatte hier nur Handelsgeschäfte, aber jetzt habe ich schon Grundstücke erworben, um auf ihnen Warenhäuser zu errichten und sie in Kürze für teuren Preis wieder zu verkaufen. Vielleicht werde ich auch ein herrschaftliches Haus erbauen lassen, um hier meine alten Tage zu verbringen, wenn Balthasar, Nabor, Felix und Sidmia die Handelsplätze innehaben und verwalten können, die ich in Sinope, Tyrus, Joppe und Alexandrien an der Mündung des Nils besitze. Indessen wachsen die anderen drei Söhne heran, und ich will ihnen die Warenhäuser von Gerasa, von Askalon und vielleicht auch die von Jerusalern überlassen. Die Mädchen, reich und schön, werden umworben sein, gute Ehen schließen und mir viele Enkel schenken...»

Der Kaufmann erträumt mit offenen Augen die rosigste und goldigste Zukunft.

Jesus fragt ihn ruhig: «Und dann?»

Der Kaufmann schüttelt sich, schaut ihn erstaunt an und sagt schließlich: «Und dann? Dann ist es aus. Dann, ach, dann kommt der Tod... Es ist traurig, aber es ist so.»

«Dann mußt du alle Tätigkeit, allen Handel, alle Gefühle zurücklassen?»

«Herr, ich möchte es nicht! Aber so wie ich geboren wurde, so werde ich auch sterben und alles zurücklassen müssen», und er stößt einen Seufzer aus, der durch seine Stärke die ganze Karawane vorantreibt...

«Aber wer sagt dir denn, daß man beim Tod alles zurücklassen muß?»

«Wer? Aber das ist doch eine Tatsache! Wenn man stirbt, ist man... nichts mehr. Hände, Augen, Ohren, alles vergeht.»

«Aber du bist nicht nur Hände, Augen und Ohren.»

«Ich bin ein Mensch. Ich weiß es. Ich habe noch andere Dinge. Doch alles hört mit dem Tod auf. Es ist wie beim Sonnenuntergang. Der Untergang löscht alles aus ...»

«Aber der Sonnenaufgang schafft alles wieder neu, oder besser, läßt alles wieder erscheinen. Du bist ein Mensch, du hast es gesagt. Du bist kein Tier wie das, das du reitest. Es ist wirklich an seinem Ende, wenn es

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stirbt, du aber nicht. Du hast eine Seele. Weißt du es nicht? Nicht einmal dies weißt du mehr?»

Der Kaufmann fühlt den leisen Vorwurf, der traurig und sanft zugleich ist, und neigt flüsternd das Haupt: «Das weiß ich wohl noch...»

«Nun also? Weißt du nicht, daß die Seele überlebt?»

«Ich weiß es.»

«Also? Weißt du nicht, daß sie auch im anderen Leben noch eine Tätigkeit hat? Eine heilige, wenn sie heilig ist, eine schlimme, wenn sie böse ist. Sie hat ihre Gefühle. Oh, und wie sie diese hat! Gefühle der Liebe, wenn sie heilig ist, des Hasses, wenn sie verdammt ist. Haß gegen wen? Gegen die Ursachen ihrer Verdammung. In deinem Fall gegen die Geschäftigkeit, die Warenhäuser, die menschlichen Beziehungen. Liebe zu was? Zu den gleichen Dingen. Wieviel Segen über die Kinder und über die Tätigkeit der Kinder kann eine Seele vermitteln, die im Frieden des Herrn ist!»

Der Mann wird nachdenklich. Schließlich sagt er: «Es ist zu spät. Ich bin alt.» Er hält den Maulesel an.

Jesus lächelt und antwortet: «Ich zwinge dich nicht. Ich rate dir nur.» Dann wendet er sich um zu den Aposteln, die beim Halt vor dem Einzug in die Stadt den Frauen beim Absteigen helfen und ihre Taschen tragen.

Die Karawane setzt sich wieder in Bewegung und zieht rasch durch das bewachte Tor mit den beiden Türmen in die lebhafte Stadt ein.

Der Kaufmann wendet sich zu Jesus um: «Willst du noch bei mir bleiben?»

«Wenn du mich nicht fortschickst, warum nicht?»

«Wegen dem, was ich dir gesagt habe. Für dich, den Heiligen, muß ich ein Ekel sein.»

«O nein! Ich bin für die Menschen gekommen, die so sind wie du. Ich liebe euch, denn ihr seid die Bedürftigsten. Du kennst mich noch nicht. Aber ich bin die Liebe, die umhergeht, um Liebe zu erbetteln.»

«Dann empfindest du also keinen Haß gegen mich?»

«Ich liebe dich!»

Der Mann hat ein Glänzen in der Tiefe seiner Augen und sagt mit einem Lächeln: «Dann bleiben wir beisammen. Ich werde drei Tage in Gerasa bleiben, um meine Geschäfte zu erledigen. Ich tausche die Maulesel gegen Kamele ein. Ich habe in den wichtigsten Orten Tiere zum Wechseln für meine Karawanen und einen Diener, der nach den Tieren sieht, die ich dort zurücklasse. Was wirst du tun?»

«Ich werde am Sabbat predigen. Ich hätte dich verlassen, wenn du nicht angehalten hättest, denn der Sabbat ist dem Herrn heilig.»

Der Mann runzelt die Stirne, denkt nach und gibt dann zu, als ob es ihn Mühe kostete: «Ja... das ist wahr. Er ist dem Gott Israels heilig. Er ist heilig! Er ist heilig!» Er betrachtet Jesus... «Ich werde ihn dir weihen, wenn du erlaubst.»

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«Gott, nicht seinem Diener!»

«Gott und dir, indem ich dich anhöre. Ich werde heute meine Angelegenheiten erledigen, und morgen vormittag werde ich dir zuhören. Kommst du jetzt mit zur Herberge?»

«Selbstverständlich. Ich habe die Frauen bei mir und bin hier fremd.»

«Hier ist meine Herberge. Sie gehört mir, denn hier habe ich jedes Jahr meine Stallungen. Aber es sind auch große Räume für die Waren da. Wenn du meinst ...»

«Gott möge es dir vergelten. Laß uns gehen!»

331. DIE PREDIGT IN GERASA

Er glaubte unbekannt zu sein! Aber als er am folgenden Morgen den Fuß vor das Gebäude des Alexander setzt, findet er schon Menschen vor, die auf ihn warten. Jesus ist mit seinen Aposteln. Die Frauen und Jünger sind im Haus geblieben, um sich auszuruhen.

Das Volk grüßt und umringt ihn und teilt ihm mit, daß es ihn schon kennt, und zwar durch die Worte eines von den Dämonen Geheilten, der jetzt mit zwei Jüngern weggegangen ist, die vor zwei Tagen hier vorbeigekommen sind. Jesus hört gütig alle diese Reden an und geht dabei durch die Stadt, in der in vielen Vierteln der Lärm der Bauarbeiten laut widerhallt. Maurer, Steinmetzen, Schmiede und Zimmerleute arbeiten, richten auf, ebnen, füllen Vertiefungen auf, bearbeiten Steine für die Mauern, schmieden das Eisen für diesen oder jenen Zweck, sägen dicke Stämme, schneiden sie zu kräftigen Balken und hobeln.

Jesus geht vorüber und schaut zu. Dann schreitet er über eine Brücke, die über einen durch die Ortschaft plätschernden Bach führt, an dessen Seiten sich wie längs eines Flusses die Häuser erheben. Er geht dann zum höheren Stadtteil hinauf, der nicht ganz waagrecht ist, da die Südwestseite etwas höher liegt als die Nordostseite, doch sie liegen beide höher als die Stadtmitte, die der kleine Wasserlauf teilt. Von dort, wo Jesus stehengeblieben ist, hat man eine gute Aussicht. Die Stadt in ihrer gesamten Ausdehnung ist hier zu sehen, und hinter ihr bilden im Süden, im Osten und im Westen niedrige, grüne Hügel ein Hufeisen, während sich im Norden dem Auge eine weite Ebene öffnet, die am Horizont eine leichte Erhebung aufweist. Diese liegt vergoldet in der Morgensonne, die das gelbliche Laubwerk der Weinstöcke prächtig aufleuchten läßt, als wolle sie die Melancholie der sterbenden Blätter mit der Pracht eines goldenen Pinselstriches vermindern.

Jesus beobachtet, und die Leute von Gerasa schauen ihn an. Jesus gewinnt sie, als er sagt: «Diese Stadt ist sehr schön. Laßt sie auch in der

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Gerechtigkeit und Heiligkeit schön werden. Die Hügel, den Bach, die grüne Ebene hat Gott euch geschenkt. Rom hilft euch jetzt, Häuser und schöne Bauwerke zu errichten. Aber an euch allein liegt es, ihr den Namen einer heiligen und gerechten Stadt zu geben. Die Stadt ist, was die Bürger aus ihr machen. Denn die Stadt ist ein in einen Mauerring eingeschlossener Teil der Gesellschaft. Aber was die Stadt ausmacht, das sind die Bürger. Die Stadt an sich ist nicht sündig. Der Bach, die Brücke, die Häuser, die Türme können nicht sündigen. Sie sind Materie, nicht Seele. Jene, die innerhalb der Stadtmauer leben, in den Häusern, in den Werkstätten, die über die Brücke gehen und sich im Fluß baden, sie können sündigen. Man sagt von einer aufwieglerischen und grausamen Stadt: "Es ist eine böse Stadt!" Doch es ist schlecht ausgedrückt. Nicht die Stadt, sondern ihre Bürger sind böse.

Die einzelnen Menschen, die durch ihren Zusammenschluß ein Vielfaches werden und zugleich ein Einziges sind: eine Stadt. Nun hört! Wenn in einer Stadt zehntausend Einwohner gut und nur tausend nicht gut sind, kann man dann sagen, daß diese Stadt böse ist? Das könnte man nicht behaupten. Wenn in einer Stadt von zehntausend Bewohnern viele Parteien bestehen und jede auf ihr eigenes Wohl bedacht ist, kann man dann noch sagen, daß diese Stadt einig ist? Das kann man nicht. Glaubt ihr also, daß diese Stadt gut gedeihen wird? Sie wird es nicht.

Ihr von Gerasa seid euch nun alle einig in der Absicht, aus eurer Stadt etwas Großes zu machen. Es wird euch gelingen, weil ihr alle dasselbe wollt und einer mit dem anderen wetteifert, dieses Ziel zu erreichen. Wenn sich aber morgen unter euch Parteien bilden würden, und die eine sagte: "Nein, es ist besser, sich nach Westen auszubreiten", und eine andere: "Auf keinen Fall, wir werden uns nach Norden ausdehnen, der Ebene zu", und eine dritte: "Weder das eine noch das andere. Alle zusammen im Zentrum, beim Fluß, wollen wir wohnen", was würde dann geschehen? Es würde geschehen, daß die begonnenen Arbeiten eingestellt und das geliehene Kapital zurückverlangt würden; wer die Absicht gehabt hätte, sich hier niederzulassen, würde in eine andere Stadt ziehen, wo sich die Bürger einig sind. Was schon gebaut ist, würde verfallen, denn es wäre den Unwettern ausgesetzt, ohne daß es wegen der Streitigkeiten der Bürger vollendet wäre.

Ist es so oder nicht? Ihr sagt, daß es so ist, und ihr habt recht. Es muß also Einigkeit unter den Bürgern herrschen zum Wohl der Stadt und auch zum Wohl der Bürger, denn das Wohl der Gesellschaft ist das Wohlergehen aller, die sie bilden.

Aber es gibt nicht nur die Gesellschaft, wie ihr sie euch vorstellt, die Gesellschaft der Bürger und der Landsleute, oder die kleine und wertvolle Gesellschaft der Familie. Es gibt eine viel weitere, unendlichere Gemeinschaft: die der Seelen. Wir alle, die wir leben, haben eine Seele. Die Seele

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stirbt nicht mit dem Körper, sondern überlebt ihn in Ewigkeit. Die Absicht des göttlichen Schöpfers, der dem Menschen die Seele gegeben hat, war es, die Seelen der Menschen an einem einzigen Ort zu vereinigen: im Himmel, durch die Schaffung des Himmelreiches, in dem Gott der Herrscher ist und die Menschen nach einem heiligen Leben und einem friedlichen Entschlafen die seligen Untergebenen sein sollten. Satan kam, um zu trennen, zu verwirren, zu zerstören und Gott und die Seelen zu betrüben. Er legte die Sünde in die Herzen und brachte mit ihr am Ende des Lebens dem Körper den Tod, in der Hoffnung, so auch die Seele zu gewinnen. Ihr Tod ist die Verdammung. Auch das ist eine Art von Existenz, doch entbehrt man in ihr das wahre Leben und den ewigen Jubel, die beseligende Anschauung Gottes und seinen ewigen Besitz im ewigen Licht. Die Menschheit teilte sich in ihrem Wollen wie eine in sich widersprechende Parteien aufgeteilte Stadt, und so ging sie ins Verderben.

Ich habe es bereits anderswo gesagt, wo man mich anklagte, die Dämonen mit Beelzebub auszutreiben: "Jedes Reich, das in sich selbst geteilt ist, wird zugrundegehen." Tatsächlich würde Satan, wenn er sich selbst austriebe, sich selbst und sein Reich der Finsternis zerstören. Wegen der Liebe Gottes zu der von ihm erschaffenen Menschheit, bin ich gekommen, um daran zu erinnern, daß nur ein Reich heilig ist: das Himmelreich! Ich bin gekommen, um euch zu predigen, auf daß ihm die Besten zuströmen. Oh, ich wünschte, daß alle, auch die Schlimmsten, kämen, sich bekehrten und sich vom Dämon befreien ließen, der sie sichtbar in der seelischen Besessenheit, die sich auch körperlich bemerkbar macht, und verborgen in der geistigen Besessenheit als Sklaven hält. Deswegen gehe ich, die Kranken zu heilen und die Dämonen aus den besessenen Körpern zu vertreiben, die Sünder zu bekehren, ihnen im Namen des Herrn zu vergeben, sie über das Reich zu belehren und Wunder zu wirken, um euch von meiner Macht zu überzeugen und zu beweisen, daß Gott mit mir ist. Denn man kann keine Wunder wirken, wenn man Gott nicht zum Freund hat. Wenn ich daher mit dem Finger Gottes die Teufel vertreibe und die Kranken heile, die Aussätzigen reinige, die Sünder bekehre, das Reich ankündige, über das Reich belehre und im Namen Gottes zu ihm rufe, wenn das Wohlgefallen Gottes klar und unleugbar mit mir ist, dann können nur die gesetzlosen Feinde das Gegenteil behaupten, und es ist das Zeichen dafür, daß das Reich Gottes zu euch gekommen ist und errichtet werden muß, denn jetzt ist die Stunde seiner Gründung.

Wie wird das Reich Gottes in der Welt und in den Herzen errichtet? Durch die Rückkehr zum mosaischen Gesetz und die genaue Kenntnis desselben, wenn es noch unbekannt ist, und vor allem durch die unbedingte Anwendung des Gesetzes als solches bei jedem Ereignis und in jedem Augenblick des Lebens.

Welches ist dieses Gesetz? Ist es so streng, daß es nicht durchführbar

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ist? Nein! Es ist eine Reihe von zehn heiligen und leicht zu beachtenden Geboten, die der moralisch gute Mensch, der wahrhaft gute Mensch, sich selbst auferlegen würde, selbst wenn er im wirren Dickicht der unzugänglichsten Wälder des geheimnisvollen Afrika begraben wäre.

Es lautet:

"Ich bin der Herr dein Gott, und es gibt keinen anderen Gott außer mir.

Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich nennen.

Du sollst den Sabbat heiligen nach dem Gebot Gottes und dem Bedürfnis der Kreatur.

Ehre Vater und Mutter, wenn du lange leben willst und es dir gut gehen soll auf Erden und im Himmel.

1)u sollst nicht töten.

Du sollst nicht stehlen.

Du sollst nicht Ehebruch begehen.

Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten.

Du sollst die Frau deines Nächsten nicht begehren.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut."

Wo ist der Mensch mit gutem Herzen, auch wenn er ein Wilder ist, der nicht sagen müßte, wenn er seinen Blick auf das richtet, was ihn umgibt: "Dies alles kann nicht von selbst entstanden sein. Es muß daher Einer sein, der mächtiger ist als die Natur und selbst der Mensch, Einer der dies alles gemacht hat." Er betet diesen Mächtigen an, ob er nun seinen heiligsten Namen kennt oder nicht, denn er fühlt, daß es Ihn gibt. Er hat eine so große Ehrfurcht vor ihm, daß er schon beim Nennen des Namens, den er ihm gegeben hat oder der ihm genannt wurde, erzittert und gewahr wird, daß er betet, selbst wenn er nur seinen Namen mit Ehrfurcht ausspricht. Es ist tatsächlich schon Gebet, den Namen Gottes in der Absicht anzurufen, ihn anzubeten oder ihn dem Volk, das ihn nicht kennt, bekanntzumachen.

So erkennt jeder Mensch allein aus sittlicher Umsicht es als seine Pflicht, seinen Gliedern Ruhe zu gewähren, um sie für das ganze Leben zu erhalten. Um so mehr muß der Mensch, der den Gott Israels, den Schöpfer und Herrn des Weltalls, kennt, diese körperliche Ruhe dem Herrn weihen, wenn er nicht dem Pferd gleich sein will, das müde auf seinem Lager liegt und Korn zwischen seinen kräftigen Zähnen kaut.

Auch das Blut ruft nach Liebe für jene, die es gegeben haben; wir sehen es am Eselsfüllen, das jetzt schreiend dem Muttertier, das vom Markt kommt, entgegeneilt. Das Junge hat in der Herde gespielt, es hat die Mutter gesehen und sich erinnert, von ihr Milch erhalten zu haben und von ihr liebevoll abgeleckt, verteidigt und erwärmt worden zu sein. Seht ihr? Mit den weichen Nüstern reibt es den Hals des Muttertieres, es galoppiert vor Freude auf und ab und drückt den jungen Rücken gegen die Flanken, die es getragen haben. Die Eltern zu lieben ist eine Pflicht und eine Freude.

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Kein Tier liebt das Tier nicht, das es geboren hat. Sollte denn der Mensch noch weniger sein als der Wurm im Schlamm des Erdreichs?

Der sittlich gute Mensch tötet nicht. Gewaltanwendung widerstrebt ihm. Er spürt, daß es nicht erlaubt ist, irgend jemandem das Leben zu nehmen, denn nur Gott, der es gegeben hat, hat das Recht, es zu nehmen. Der Mensch schreckt vor dem Mord zurück.

Ebenso bemächtigt sich der sittlich gesunde Mensch nicht der Dinge eines anderen. Er zieht das mit reinem Gewissen an einer klaren Quelle genossene Brot dem saftigen Braten, der Frucht eines Diebstahls, vor. Er zieht es vor, auf dem Boden zu schlafen, den Kopf auf einem Stein als Kissen, die Sterne, die Frieden und Trost auf das ehrliche Gewissen träufeln, über sich, als unruhig auf einem gestohlenen Lager zu schlummern.

Wenn er moralisch gesund ist, verlangt er nicht nach Frauen, die nicht die seinen sind, und legt sich nicht in niedriger und ehrloser Weise in das Ehebett eines anderen, sondern sieht in der Frau seines Freundes eine Schwester und hat für sie keine Blicke und kein Verlangen, die sich einer Schwester gegenüber nicht geziemen.

Ein rechtschaffener Mensch, selbst wenn er nur von Natur aus gut ist, ohne andere Kenntnis des Guten als die seines guten Gewissens, erlaubt sich nicht, etwas zu bezeugen, was nicht wahr ist, denn solch ein Handeln scheint ihm einem Mord oder Diebstahl gleichzukommen, und so ist es auch. Er hat vielmehr ehrenhafte Lippen wie auch ein ehrenhaftes Herz, darum hat er auch ehrbare Blicke, die nicht die Frau eines anderen begehren. Er sehnt sich nicht einmal danach, denn er fühlt, daß das Verlangen der erste Antrieb zur Sünde ist; und er ist auch nicht neidisch, weil er gut ist. Der Gute ist nie neidisch. Er ist zufrieden mit seinem Los.

Glaubt ihr, daß dieses Gesetz so viel von euch verlangt, daß es nicht zu halten ist? Tut euch selbst nicht Unrecht! Ich bin überzeugt, ihr tut es nicht. Wenn ihr es nicht tut, errichtet ihr das Reich Gottes in euch und in eurer Stadt. Denn in ihm werdet ihr euch eines Tages wiederfinden, glücklich vereint mit allen, die ihr geliebt habt und die, wie ihr, das ewige Reich in der unendlichen Freude des Himmels erworben haben.

Aber in unserem Innersten wohnen die Leidenschaften wie Bürger innerhalb der Stadtmauer. Es ist daher erforderlich, daß alle Kräfte des Menschen dasselbe erstreben, nämlich die Heiligkeit. Sonst strebt ein Teil vergeblich nach dem Himmel, während ein anderer Teil die Tore unbewacht und den Verführer, den Verräter, eindringen läßt oder durch unnützes Gerede und Trägheit das Wirken eines Teiles der im Geist lebenden Bürger zunichte macht und so die innerliche Stadt zugrunde gehen läßt und sie der Herrschaft der Disteln, der Giftpflanzen, des Unkrauts, der Schlangen, der Skorpione, der Mäuse, der Schakale und Eulen, das heißt, den bösen Leidenschaften und den Engeln Satans, überläßt. Man muß ohne Unterlaß wachen wie Wachtposten auf den

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Mauern, um zu verhindern, daß der Böse dort eintrete, wo wir das Reich Gottes errichten wollen.

. Wahrlich ich sage euch: solange der Starke bewaffnet den Eingang eines Hauses bewacht, kann er alles dessen sicher sein, was sich darin befindet. Wenn aber ein Stärkerer kommt oder wenn er das Tor unbewacht läßt, wird ihn der Stärkere besiegen und entwaffnen, und er, nunmehr der Waffen beraubt, in die er sein Vertrauen setzte, wird sich demütigen lassen und ergeben müssen, während der Starke ihn gefangennimmt und die Beute des Besiegten an sich reißt. Wenn der Mensch aber in Gott lebt, in der Treue zum Gesetz und in heiligmäßig geübter Gerechtigkeit, ist Gott mit ihm, ich bin mit ihm, und nichts Böses kann ihm widerfahren. Die Vereinigung mit Gott ist die Waffe, die kein Starker besiegen kann. Die Verbindung mit mir ist die Sicherheit des Sieges und der Erringung der ewigen Tugenden, für die auf ewig ein Platz im Reich Gottes gegeben wird. Aber wer sich von mir loslöst oder mich zu seinem Feind macht, wirft damit die Waffen und die Sicherheit meines Wortes weg. Wer das Wort zurückweist, weist Gott zurück. Wer Gott zurückweist, ruft Satan herbei. Wer Satan anruft, zerstört, was er für die Eroberung des Reiches besitzt.

Wer daher nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht pflegt, was ich gesät habe, wird ernten, was der Feind gesät hat. Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut, und arm und nackt wird er vor den höchsten Richter kommen, der ihn zu seinem Herrn schickt, an den er sich verkauft hat, da er Beelzebub dem Gesalbten vorzog.

Bürger von Gerasa! Errichtet in euch und in eurer Stadt das Reich Gottes.»

Eine trillernde Frauenstimme erhebt sich wie der Gesang einer Lerche über dem Gemurmel der bewundernden Menge und besingt die neue Glückseligkeit, das heißt, die Herrlichkeit Marias: «Selig der Schoß, der dich getragen hat, und die Brust, die dich genährt hat.»

Jesus wendet sich der Frau zu, die in Bewunderung des Sohnes seine Mutter preist. Er lächelt, denn süß ist für ihn der Lobpreis seiner Mutter. Aber dann sagt er: «Noch viel seliger jene, die das Wort Gottes hören und es befolgen. Tue du es, o Frau!»

Dann segnet er und begibt sich ins Freie, gefolgt von seinen Aposteln, die ihn fragen: «Warum hast du das gesagt?»

«Wahrlich, ich sage euch, daß im Himmel nicht mit dem gleichen Maß gemessen wird wie auf Erden. Meine Mutter selbst wird nicht so sehr wegen ihrer unbefleckten Seele selig sein, sondern weil sie auf das Wort Gottes gehört und es gehorsam in Tat umgesetzt hat. Das "Es sei die Seele Marias ohne Sünde" ist ein Wunder des Schöpfers. Ihm gebührt daher das Lob. Aber das "Mir geschehe nach deinem Worte" ist das Wunderbare meiner Mutter. Deswegen ist ihr Verdienst so groß. So groß, daß nur

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dank dieser ihrer Bereitschaft, auf das Wort Gottes zu lauschen, der durch den Mund Gabriels gesprochen hat, und durch ihren Willen, das Wort Gottes in Tat umzusetzen, ohne Schwierigkeiten und unmittelbare und künftige Leiden, die aus dieser Hingabe herrühren, abzuwägen, der Erlöser auf die Welt gekommen ist. Ihr seht also, daß sie meine selige Mutter ist, nicht nur, weil sie mich geboren und aufgezogen hat, sondern weil sie das Wort Gottes gehört und in ihrem Gehorsam verwirklicht hat. Aber jetzt wollen wir nach Hause zurückkehren. Meine Mutter weiß, daß ich nur kurze Zeit draußen bleibe, und sie könnte in Sorge geraten, wenn sie sieht, daß ich mich verspäte. Wir sind in einem halbheidnischen Land. Aber in Wirklichkeit ist es besser als andere. Dennoch, laßt uns gehen. Gehen wir hinten an der Mauer entlang, um der Menge zu entfliehen, die mich noch einmal aufhalten würde. Schnell hinunter, hinter dieses dichte Wäldchen ...»

332. DER SABBAT IN GERASA

Lang sind die Stunden des Tages, wenn man nicht weiß, was man tun soll. Die Begleiter Jesu wissen wirklich nicht, was sie an diesem Sabbat anfangen sollen, in einem Land, in dem sie keine Bekannten haben, und in einem Haus, in dem die Verschiedenheit der Sprache und der Gebräuche eine Trennung bildet; als ob die Vorurteile der Juden nicht genügten, um sie von den Kameltreibern und Knechten in der Karawane Alexander Misazes fernzuhalten. Daher sind viele im Bett geblieben oder stehen schläfrig in der Sonne, die den weiten viereckigen Hof des Hauses erwärmt. Der Hof ist eingerichtet, um Karawanen zu beherbergen, mit Wasserbecken und Ringen an den Mauern und den Säulen eines schlichten Ganges, der längs der vier Seiten verläuft, mit zahlreichen Ställen und Scheunen für Heu und Stroh an drei Seiten. Die Frauen haben sich in ihre Räume zurückgezogen. Man sieht keine von ihnen.

Margziam unterhält sich auch im geschlossenen Hof und beobachtet die Arbeiten der Stallknechte, die die Maultiere striegeln, ausmisten, die Hufe kontrollieren und die losen Hufeisen befestigen. Noch interessanter ist es – da es sich um etwas Neues handelt – zu sehen, wie die Kameltreiber mit ihren Kamelen umgehen, jetzt schon die Ladung für jedes einzelne Tier vorbereiten und die Tiere niederknien und wieder aufstehen lassen, um festzustellen, ob die Lasten richtig verteilt sind. Nach jeder dieser Proben werden die Kamele mit einer Handvoll trockenem Gemüse – anscheinend Bohnen – belohnt, und schließlich erhalten sie noch Johannisbrotschoten, die auch die Männer mit Genuß kauen.

Margziam staunt wirklich und schaut, ob er nicht jemand findet, mit

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dem er sein Staunen teilen kann. Doch zu seiner Enttäuschung muß er feststellen, daß die Erwachsenen sich nicht um die Kamele kümmern. Entweder reden sie miteinander oder sie schlafen. Er geht zu Petrus, der selig schläft und seinen Kopf auf dem weichen Heu liegen hat, und zieht ihn am Ärmel. Petrus öffnet halb die Augen und fragt: «Was ist los? Wer will etwas von mir?»

«Ich. Komm die Kamele ansehen.»

«Laß mich schlafen! Ich habe schon viele gesehen... Sie sind so häßlich.»

Das Kind geht zu Matthäus, der die Kasse prüft, da er auf dieser Reise der Schatzmeister ist: «Ich bin bei den Kamelen gewesen, weißt du? Sie fressen wie die Schafe, weißt du? Sie knien sich nieder wie die Menschen und gleichen Schiffen, die auf- und abgehen. Hast du sie gesehen?»

Matthäus, der sich wegen der Unterbrechung verrechnet hat, antwortet trocken: «Ja», und wendet sich wieder seinen Münzen zu.

Eine weitere Enttäuschung... Margziam schaut sich um... Siehe da, Simon der Zelote und Judas Thaddäus, die miteinander reden...

«Wie schön sind die Kamele und wie gut! Sie wurden beladen und von ihrer Last befreit, und sie sind auf den Boden niedergegangen, damit der Mann sich nicht bemühen mußte. Dann haben sie Johannisbrotschoten gefressen. Auch die Männer haben davon gegessen. Ich hätte gerne welche... Aber ich kann mich nicht verständlich machen. Komm mit...», und er nimmt Simon bei der Hand.

Dieser, noch vertieft in das friedliche Gespräch mit Thaddäus, antwortet zerstreut: «Ja, mein Lieber... Geh, geh und paß auf, daß du dir nicht weh tust.»

Margziam schaut ihn erstaunt an... Simon hat nicht die richtige Antwort gegeben. Fast kommen ihm die Tränen. Er geht entmutigt fort und lehnt sich an eine Säule...

Jesus kommt aus einem Raum und sieht ihn betrübt und allein dastehn. Er geht zu ihm hin und legt ihm seine Hand aufs Haupt.

«Was machst du so allein und traurig?»

«Niemand achtet auf mich...»

«Was hast du denn von den anderen gewollt?»

«Nichts... Ich habe von den Kamelen gesprochen... Sie sind schön... Sie gefallen mir. Es muß sein wie in einem Boot, wenn man auf ihnen sitzt... Sie fressen Johannisbrot; auch die Männer essen es...»

«Du möchtest auf eines hinaufsteigen und Johannisbrot essen? Komm, gehen wir zu den Kamelen.» Jesus nimmt den Knaben, der nun getröstet ist, bei der Hand und geht mit ihm in den Hintergrund des großen Hofes. Er geht direkt auf einen Kameltreiber zu und grüßt ihn mit einem Lächeln. Dieser verbeugt sich und fährt fort, sich um sein Tier zu kümmern, dem er das Zaumzeug ordnet und die Zügel anlegt.

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«Mann, verstehst du mich?»

«Ja, Herr, seit zwanzig Jahren kenne ich euch.»

«Dieses Kind hat einen großen Wunsch: es möchte auf einem Kamel reiten... und einen kleinen Wunsch: es möchte eine Johannisbrotschote essen», und Jesus lächelt noch lebhafter.

«Ist das dein Sohn?»

«Ich habe keine Kinder, ich habe keine Frau.»

«Du, so schön und stark, hast keine Frau gefunden?»

«Ich habe keine gesucht.»

«Hast du kein Verlangen nach einer Frau?»

«Nein! Nie!»

Der Mann betrachtet ihn erstaunt. Dann sagt er: «Ich habe neun Kinder in Ischilo ... Ich gehe nach Hause zurück: ein Kind. Ich gehe wieder hin: ein Kind ... So ist es immer.»

«Liebst du deine Kinder?»

«Mein Blut! Doch harte Arbeit! Ich hier, die Kinder dort. Fern... Für ihr Brot... Verstehst du?»

«Ich verstehe. So wirst du auch den Jungen verstehen, der ein Kamel reiten und Johannisbrot essen möchte.»

«Ja. Komm! Hast du Angst? Nein? Brav. Ein schönes Kind. Auch ich habe ein solches. Auch so schwarz. Hier, faß hier an. Fest!» Er gibt ihm den eigenartigen Griff in die Hand, der vorne am Sattel ist.

«Halte dich fest! Jetzt komme ich. Auf, Kamel! Keine Angst, nicht wahr?» Der Mann schwingt sich auf den hohen Sattel, macht es sich bequem und treibt das Kamel an, das sich mit einem lauten Schrei erhoben hat. Margziam lacht vergnügt. Er ist noch glücklicher als der Kameltreiber, der ihm eine schöne Johannisbrotschote in den Mund gesteckt hat. Der Mann läßt das Kamel um den Hof herum erst im Schritt und dann im Trab gehen. Schließlich, als er sieht, daß Margziam keine Furcht hat, ruft er einem seiner Kameraden etwas zu, dieser öffnet das große Tor im Hintergrund des Hofes, und das Kamel verschwindet mit seiner Last in der grünen Landschaft.

Jesus kehrt ins Haus zurück und geht in den Raum, in dem sich die Frauen aufhalten. Er lächelt, so daß Maria ihn fragt: «Was hast du, mein Sohn, daß du so glücklich bist?»

«Ich bin glücklich darüber, daß Margziam auf einem Kamel galoppieren darf. Kommt hinaus und seht, wie er zurückkommt.»

Sie gehen alle in den Hof und setzen sich auf eine niedrige Mauer beim Wasserbecken.

Die Apostel, die nicht schlafen, kommen näher. Jene, die an den Fenstern der hohen Räume standen, kommen ebenfalls und wecken mit ihren hohen, jugendlichen Stimmen – es sind Johannes und die beiden Jakobus – auch Petrus und Andreas auf und schütteln Matthäus. Nun sind

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sie vollzählig, denn auch Johannes von Endor kommt mit zwei Jüngern herbei.

«Aber wo ist denn Margziam?» fragt Petrus.

«Er macht einen Spazierritt auf einem Kamel. Keiner von euch hat sich um ihn gekümmert... Ich sah ihn traurig und habe ihn zufriedengestellt.»

Petrus, Matthäus und Simon erinnern sich: «Ach ja! Er hat etwas von Kamelen gesagt... und von Johannisbrot. Aber ich war müde!» «Und ich mußte abrechnen, um dir Rechenschaft darüber zu geben, was ich von den Gerasenern bekommen und was ich als Almosen ausgegeben habe.»«Und ich sprach mit deinem Bruder über den Glauben.»

«Ist schon recht! Ich habe mich um ihn gekümmert. Jedoch möchte ich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß es auch Liebe ist, sich um die Spiele eines Kindes zu kümmern... Nun wollen wir von etwas anderem sprechen.»

«Draußen vor der Stadt ist alles in festlicher Stimmung. Von unserem Sabbat ist nichts mehr übrig als eine allgemeine Freude. Es ist besser, hier drinnen zu bleiben. Um so mehr, als sie uns hier finden können, wenn sie uns suchen. Sie wissen, wo wir sind. Hier ist Alexander und begutachtet seine Kamele. Ich will ihm sagen, daß eines durch meine Schuld fehlt.»

Jesus geht eilends zum Kaufmann und redet mit ihm. Sie kommen zusammen zurück. Der Kaufmann sagt: «Sehr gut! Es wird ihm Spaß machen, und ein Ritt in der Sonne wird ihm gut tun. Kalipius ist ein guter Mensch. Als Belohnung für den Ritt bitte ich dich, mir etwas zu erklären. Heute nacht habe ich über deine Worte nachgedacht... über jene, die du in Ramot mit einer Frau gewechselt hast, und über das, was ich gestern gehört habe.

Gestern schien es mir, als bestiege ich einen der hohen Berge meiner Heimat, die ihre Gipfel wirklich in den Wolken erheben. Du führtest uns in die Höhe, immer höher. Es kam mir vor, als hätte ein Adler mich in die Höhe getragen auf einen unserer höchsten Berge; den ersten, der nach der Sintflut wieder auftauchte. Ich sah vieles, woran ich nie gedacht hatte, und alles erschien mir in einem neuen Licht... ich verstand. Dann aber wurde ich verwirrt. Sage es mir noch einmal.»

«Was soll ich dir sagen?»

«Das weiß ich ja gerade nicht... Es war so schön, als du sagtest, daß man sich im Himmel wiederfindet... Ich habe verstanden, daß man sich dort anders lieben wird. Zum Beispiel: Wir werden nicht mehr die jetzigen Ängste haben und werden alle für einen und einer für alle sein, als ob wir eine einzige Familie wären. Sage ich es schlecht?»

«Nein, im Gegenteil! Wir werden auch mit den Lebenden eine Familie bilden. Die Seelen werden durch den Tod nicht getrennt. Ich rede von den Gerechten. Sie bilden eine einzige große Familie. Stelle dir einen großen Tempel vor, in dem Anbetende und Bittende sind und solche, die sich abmühen. Die ersteren beten auch für die, die sich abmühen; die anderen

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arbeiten für die Betenden. So ist es bei den Seelen. Wir mühen uns auf der Erde ab, und sie kommen uns mit ihren Gebeten zu Hilfe. Aber wir müssen unsere Leiden für ihren Frieden aufopfern. Es ist eine Kette, die nie aufhört, und es ist die Liebe, die jene, die waren, mit denen, die sind, verbindet. Die aber sind, müssen gut sein, um sich mit denen vereinigen zu können, die hier waren und sich nach ihnen sehnen.»

Syntyche macht eine unwillkürliche Bewegung, beherrscht sich aber sofort. Doch Jesus hat es bemerkt und lädt sie ein, ihre Zurückhaltung aufzugeben und sich frei zu äußern.

«Ich habe gedacht... schon mehrere Tage denke ich darüber nach, und, wenn ich ehrlich sein soll, es verwirrt mich. Mir scheint, daß der Glaube an dein Paradies zur Folge hat, daß ich meine Mutter und die Schwestern für immer verliere...» Ein Schluchzen erstickt Syntyches Stimme; sie schweigt, um nicht zu weinen.

«Was ist das für ein Gedanke, der dich so sehr beunruhigt?»

«Nun glaube ich an dich. Meine Mutter kann ich mir nur als Heidin vorstellen. Sie war so gut... Oh, so gut! Auch die Schwestern! Die kleine Ismene war das beste Geschöpf, das es auf Erden gegeben hat. Doch sie waren Heiden... Solange ich wie sie war und an den Hades glaubte, sagte ich: "Wir werden uns wiederfinden." Nun gibt es den Hades nicht mehr. Er ist dein Paradies, das Himmelreich für alle, die in Gerechtigkeit dem wahren Gott gedient haben. Oh, die armen Seelen! Es war doch nicht ihre Schuld, wenn sie als Griechinnen geboren wurden! Keiner der Priester Israels ist gekommen, um ihnen zu sagen: "Unser Gott ist der wahre Gott!" Und jetzt? Ihre Tugenden! Nichts? Ihre Leiden! Vergeblich? Ewiges Dunkel und ewige Trennung von mir? Ich sage dir, es ist eine Qual. Mir scheint, ich habe sie verleugnet. Verzeih, Herr... Ich weine...» Sie kniet untröstlich weinend nieder.

Alexander Misaze sagt: «Ist es so? Auch ich dachte, selbst wenn ich ein Gerechter bin, werde ich Vater, Mutter, Geschwister und Freunde nie wiedersehen...»

Jesus legt seine Finger auf den braunen Kopf der Syntyche und sagt: «Schuldig ist nur, wer im Irrtum verharrt, nachdem er die Wahrheit erkannt hat, und nicht, wer überzeugt ist, in der Wahrheit zu sein, da keine Stimme gekommen ist, um ihm zu sagen: "Was ich euch bringe, ist die Wahrheit. Wendet euch von euren falschen Vorstellungen ab und dieser Wahrheit zu und ihr werdet den Himmel haben." Gott ist gerecht. Sollte die Tugend, die sich ganz allein in der Verdorbenheit einer heidnischen Welt herangebildet hat, nicht belohnt werden? Sei beruhigt, Tochter!»

«Aber die Erbschuld? Der ruchlose Kult? Aber ...»

Die Israeliten würden die arme Syntyche mit weiteren "aber" noch mehr betrüben, wenn Jesus nicht mit einer Geste Schweigen geböte.

Er sagt: «Die Erbschuld haben alle in Israel und außerhalb Israels. Sie

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ist kein Vorrecht der Heiden. Der heidnische Kult wird von dem Augenblick an eine Schuld sein, da das Gesetz Christi in der Welt bekannt ist. Tugend bleibt immer Tugend in den Augen Gottes, und durch meine Vereinigung mit dem Vater sage ich, und ich sage es in seinem Namen, indem ich den heiligsten Gedanken in Worten ausdrücke, daß es viele Wege der barmherzigen Macht Gottes gibt, daß Gott darauf bedacht ist, den Tugendhaften Freude zu schenken und daß die Schranken aufgehoben werden zwischen Seele und Seele und Friede sein wird für alle, die Frieden verdient haben. Nicht nur das! Ich sage euch, daß in Zukunft alle, die überzeugt sind, in der Wahrheit zu sein und der Religion der Väter in Gerechtigkeit und Heiligkeit folgen, nicht von Gott bestraft werden. Die Bosheit, die Böswilligkeit, bewußt die erkannte Wahrheit abzulehnen und zu bekämpfen, und das lasterhafte Leben werden in Wahrheit auf ewig die Seelen der Gerechten von jenen der Sünder trennen. Erhebe deinen niedergeschlagenen Geist, Syntyche! Diese Melancholie ist ein Ansturm des höllischen Zornes, den Satan gegen dich, die für ihn für immer verlorene Beute, hegt. Es gibt keinen Hades! Es gibt mein Paradies. Aber dieses bereitet nicht Schmerz, sondern Freude. Nichts von der Wahrheit darf Anlaß zu Niedergeschlagenheit oder Zweifel sein, vielmehr soll dir die Wahrheit die Kraft verleihen, immer tiefer und mit heiterer Sicherheit zu glauben. Aber vertraue mir immer deine Überlegungen an. Ich will in dir ein sicheres und festes Licht haben, wie das der Sonne.»

Syntyche, die immer noch kniet, ergreift die Hand Jesu und küßt sie...

Das "Krrr, Krrr" des Kameltreibers gibt zu verstehen, daß das Kamel wieder in Schritt fällt. Die Hufe bewegen sich lautlos auf dem dichten Gras außerhalb des hinteren Tores, das ein Diener sofort öffnet; und Margziam kehrt glücklich zurück. Er ist vom Ritt gerötet: ein Männlein auf dem hohen Höcker, das lacht und mit den Armen in der Luft fuchtelt, während das Kamel niederkniet. Es rutscht von dem eigenartigen Sattel herunter und liebkost den braunen Kameltreiber. Dann eilt es laut rufend zu Jesus:

«Wie schön! Sind auf solchen Tieren die Weisen aus dem Morgenland gekommen, um dich anzubeten? Ich will mit den Kameltreibern gehen, um dich überall zu predigen, denn die Welt erscheint größer von oben, und sagen: "Kommt, kommt, ihr, die ihr die Frohe Botschaft kennt!" Oh, weißt du? ... Auch der Mann dort braucht sie, und auch du, Kaufmann, und alle deine Diener... Wie viele Menschen warten darauf und sterben, ohne sie gehört zu haben... Mehr Menschen als Sandkörner in einem Fluß sind. Alle ohne dich, Jesus! Oh, beeile dich, damit alle davon erfahren!»Der Kleine klammert sich an seine Seite und schaut dabei nach oben. Jesus neigt sich zu ihm nieder und küßt ihn mit dem Versprechen: «Du wirst das Reich Gottes bis zu den äußersten Grenzen Roms verkündigt sehen. Bist du zufrieden?»

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«Ich, ja! Dann werde ich zu dir kommen und dir sagen: "Siehe, dieses und dieses und dieses Land kennt dich nun." Dann werde ich die Namen jener fernen Länder kennen. Was wirst du mir dann sagen?»

«Ich werde dir sagen: "Komm her, kleiner Margziam! Empfange eine Krone für jedes Land, in dem du mich verkündigt hast, und dann komme an meine Seite wie an jenem Tag in Gerasa und ruhe dich aus von deinen Mühen, denn du bist ein treuer Knecht gewesen und darfst dich jetzt in meinem Reich freuen."»

333. DER AUFBRUCH VON GERASA

Die Karawane, geordnet wie zu einer Militärparade, verläßt den großen Hof der Herberge Alexanders. An ihrem Ende folgen Jesus und die Seinen. Die Kamele schreiten, ihre schwere Last im rhythmischen Schritt schaukelnd, voran, und die Köpfe auf den gebogenen Hälsen scheinen bei jedem Tritt zu fragen: «Warum? Warum?» in einer stummen, aber typischen Bewegung, wie die der Tauben, die bei jedem ihrer Schrittchen zu allem, was sie sehen, zu sagen scheinen: «Ja, ja.»

Die Karawane muß die Stadt durchqueren. Sie tut es in der reinen Morgenluft. Die Kameltreiber sind alle eingemummt, denn es ist kühl. Das Vorbeiziehen der Kamele, die "Krrr, Krrr" der Kameltreiber und der drängende Laut eines Kamels, das der Stallruhe nachtrauert, machen die Bewohner von Gerasa auf die Abreise Jesu aufmerksam.

Die Nachricht verbreitet sich in Blitzesschnelle und die Gerasener eilen herbei, um ihn zu grüßen und ihm Früchte und andere Lebensmittel zu schenken. Auch ein Mann mit einem kranken Kind eilt herbei.

«Segne es, damit es gesund wird. Hab Erbarmen!»

Jesus hebt die Hand und segnet mit den Worten: «Geh beruhigt! Habe Glauben!»

Und der Mann antwortet mit einem so vertrauensvollen Ja, daß eine Frau fragt: «Würdest du meinen Mann, der Geschwüre an den Augen hat, heilen?»

«Wenn ihr glauben könnt, ja!»

«Dann will ich ihn holen gehen. Warte auf mich, Herr!» und sie fliegt davon wie eine Schwalbe.

Warten? Das ist leicht gesagt! Die Kamele ziehen weiter. Alexander ist an der Spitze des Zuges und weiß nicht, was am Ende vor sich geht. Man muß dem Mann ein Zeichen geben.

«Lauf, Margziam! Geh und sag dem Kaufmann, daß er die Karawane anhalten soll, bevor sie durch das Stadttor hinausgeht», sagt Jesus.

Margziam saust wie ein Pfeil davon, um die Nachricht zu überbringen.

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Die Karawane bleibt stehen; während der Kaufmann sich Jesus nähert. «Was ist vorgefallen?»

«Warte ab, du wirst sehen.»

Die Frau von Gerasa mit dem augenkranken Mann kehrt bald zurück.

Schreckliche Geschwüre! Zwei eiternde Höhlen inmitten des Gesichtes. Die trüben, geröteten und halb erblindeten Augen sind kaum zu erkennen, und der unaufhörliche, abstoßende Tränenfluß nimmt noch zu, als die dunkle Binde entfernt wird, die einen Schutz gegen das Licht bildet.

Der Mann jammert: «Erbarmen! Ich leide so sehr!»

«Du hast auch viel gesündigt. Darüber beklagst du dich nicht? Nur der Verlust des armen, irdischen Augenlichtes betrübt dich? Weißt du nichts von Gott? Macht dir die ewige Finsternis keine Angst? Warum hast du gesündigt?»

Der Mann weint und verneigt sich, ohne zu reden. Auch die Frau weint und jammert: «Ich habe verziehen ...»

«So will auch ich verzeihen, wenn er mir schwört, daß er nicht mehr in seine Sünde zurückfallen wird.»

«Ja, ja! Verzeihung! Jetzt weiß ich, was die Sünde nach sich zieht. Verzeihung! So wie die Frau mir verziehen hat, verzeihe auch du mir. Du bist der Gütige.»

«Ich verzeihe dir. Geh zu dem Bach dort, wasche dein Gesicht in seinem Wasser, und du wirst geheilt werden.»

«Das kalte Wasser verschlimmert seinen Zustand, Herr», jammert die Frau.

Doch der Mann denkt an nichts anderes als zum Bach zu gehen und schreitet wankend voran, bis der Apostel Johannes ihn erbarmend an der Hand nimmt und ihn alleine führt, bis die Frau die andere Hand ergreift. Der Mann steigt hinab zum eiskalten Wasser, das zwischen den Steinen plätschert, beugt sich nieder, schöpft Wasser mit den Händen und wäscht sich immer wieder das Gesicht. Das kalte Wasser scheint ihm keine Schmerzen zu verursachen, sondern eher Erleichterung zu bringen.

Dann steigt er mit noch nassem Gesicht das Ufer hinauf und kehrt zu Jesus zurück, der ihn fragt: «Nun, bist du geheilt?»

«Nein, Herr, noch nicht! Aber du hast es gesagt, und ich werde gesund werden.»

«Dann verharre in deiner Hoffnung. Leb wohl!»

Die Frau bricht verzagt zusammen und weint... Sie ist enttäuscht. Jesus gibt dem Kaufmann durch ein Zeichen zu verstehen, daß man wieder aufbrechen könne. Der Kaufmann, auch er enttäuscht, läßt den Befehl zum Aufbruch weitergeben.

Die Kamele setzen sich wieder in Bewegung wie auf- und abschaukelnde Boote auf dem Meer. Sie verlassen den Mauerbezirk und schlagen die

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Karawanenstraße ein, die sich breit und staubig in südwestlicher Richtung hinzieht.

Das letzte Paar der apostolischen Gruppe, Johannes von Endor und Simon der Zelote, ist schon etwa zwanzig Meter von der Stadtmauer entfernt, als ein Schrei die Stille durchdringt. Er scheint die Welt zu erfüllen und wiederholt sich immer lauter werdend fröhlich und jubelnd: «Ich sehe! Jesus, mein Gebenedeiter! Ich sehe! Ich sehe! Ich habe geglaubt! Ich sehe! Jesus! Jesus! Mein Gebenedeiter!» Der Mann mit dem vollkommen geheilten Gesicht und seinen nunmehr wieder schön gewordenen Augen, zwei Edelsteine voller Licht und Leben, bahnt sich einen Weg durch die Reihen der Apostel, fällt Jesus zu Füßen und gerät beinahe unter die Hufe des Kamels des Kaufmanns, der es gerade noch vor dem zu Boden Geworfenen zurückreißen kann.

Der Mann küßt das Gewand Jesu und sagt immer wieder: «Ich habe geglaubt! Ich habe geglaubt, und ich sehe! Mein Gebenedeiter!»

«Steh auf und sei glücklich! Und vor allem, sei gut! Sag zu deiner Frau, daß sie einen tiefen Glauben haben soll! Leb wohl!» Jesus befreit sich aus der Umarmung des wunderbar Geheilten und schickt sich an, weiterzugehen.

Der Kaufmann streicht nachdenklich seinen Bart... Schließlich fragt er: «Und wenn er nach der enttäuschenden Waschung nicht im Glauben ausgeharrt hätte, was wäre dann geschehen?»

«Dann wäre er geblieben, wie er war.»

«Warum verlangst du einen so großen Glauben, um Wunder zu wirken?»

«Weil der Glaube das Vorhandensein von Hoffnung und Liebe bezeugt.»

«Warum hast du zuerst Reue verlangt?»

«Weil die Reue Gott zum Freund macht.»

«Ich, der ich keine Krankheiten habe, was müßte ich tun, um meinen Glauben zu bezeugen?»

«Zur Wahrheit kommen.»

«Könnte ich ohne die Freundschaft Gottes zu ihr gelangen?»

«Du könntest nicht ohne die Güte Gottes zu ihr gelangen. Der Herr gewährt, daß jemand, der ihn noch ohne Reue sucht, ihn findet, denn im allgemeinen kommt die Reue, wenn der Mensch bewußt, oder wenigstens mit einer Spur von Bewußtsein dessen, was seine Seele will, Gott erkennt. Zuerst gleicht er einem ausschließlich vom Instinkt geführten Stumpfsinnigen. Hast du nie das Verlangen verspürt zu glauben?»

«Oft! Ich war nicht zufrieden mit dem, was ich hatte. Ich fühlte, daß es noch etwas anderes geben muß. Etwas Stärkeres als Geld und die Kinder, die meine Hoffnung sind... Aber dann nahm ich mir doch nicht die Mühe, dem nachzuforschen, was ich unbewußt suchte.»

«Deine Seele suchte Gott. Die Güte Gottes hat erlaubt, daß du Gott findest. Die Reue über deine tatenlose, gottferne Vergangenheit wird dir die Freundschaft Gottes gewähren.»

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«Muß ich also... um das Wunder zu erlangen, mit der Seele die Wahrheit sehen zu können, meine Vergangenheit bereuen?»

«Gewiß! Bereuen sollst du und dich zu einer vollständigen Veränderung deines Lebens entschließen...»

Der Mann fährt sich wieder mit den Fingern durch den Bart und es scheint, als ob er die Haare am Halse des Kamels studieren und zählen wollte, so sehr starrt er darauf. Ungewollt gibt er dem Tier die Sporen, und dieses faßt den Stoß als eine Aufforderung auf, den Gang zu beschleunigen, und bringt den Kaufmann wieder an die Spitze der Karawane.

Jesus hält ihn nicht zurück. Vielmehr bleibt er stehen und läßt die Frauen und Apostel an sich vorübergehen, bis ihn Simon der Zelote und Johannes von Endor erreicht haben. Er schließt sich ihnen an.

«Worüber sprecht ihr?» fragt er.

«Wir sprachen von der Trostlosigkeit derer, die an nichts glauben oder jener, die einen Glauben, den sie hatten, verlieren. Gestern war Syntyche wirklich verängstigt, obwohl sie zu einem vollkommenen Glauben gelangt ist», antwortet der Zelote.

«Ich sagte zu Simon, wenn es schmerzlich ist, vom Guten zum Bösen überzugehen, so muß es auch bestürzend sein, vom Bösen zum Guten überzugehen. Im ersten Fall wird man gequält durch das Gewissen, das einem Vorwürfe macht. Im zweiten Fall fühlt man sich... beklommen... wie einer, der in ein fremdes Land versetzt wird, das ihm vollkommen unbekannt ist... Oder es ist die Bestürzung des Unbeholfenen und Ungebildeten, der sich plötzlich an einem Königshof unter Gelehrten und Herrschern befindet. Es ist ein Leid ... ich weiß es ... ein großer Schmerz... Man kann nicht glauben, daß es wahr ist, daß es so bleiben könnte... daß man dies verdienen könnte ... besonders, wenn man eine befleckte Seele hat... wie es die meine war ...»

«Und jetzt, Johannes?» fragt Jesus.

Das erschöpfte, traurige Gesicht des Johannes von Endor erstrahlt in einem Lächeln, das ihn weniger hager erscheinen läßt. Er antwortet: «Jetzt nicht mehr. Es bleibt die Dankbarkeit, ja sie wächst sogar, die Dankbarkeit dem Herrn gegenüber, der dies gewollt hat, es bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit, um mich demütig zu bewahren. Doch da ist auch die Sicherheit. Ich habe mich eingelebt, und fühle mich nicht mehr als Fremder in dieser lieblichen Welt der Verzeihung und der Liebe, die die deine ist. Ich bin beruhigt, heiter, glücklich.»

«Betrachtest du deine Erfahrung als gut?»

«Ja! Wenn ich nicht darüber betrübt wäre, daß ich gesündigt habe -denn mit dieser Sünde habe ich Gott beleidigt – würde ich sagen, daß meine Vergangenheit etwas Gutes gewesen ist. Sie wird mir sehr behilflich sein, bereitwillige, aber verirrte Seelen in den ersten Augenblicken ihres neuen Glaubens zu ermutigen.»

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«Simon, gehe und sage dem Knaben, er soll nicht so viel springen. Er wird sonst abends völlig erschöpft sein.»

Simon schaut Jesus an, doch er begreift den wahren Grund dieses Befehls. Verständnisvoll lächelnd entfernt er sich und läßt die beiden allein zurück.

«Nun, da wir allein sind, Johannes, höre diesen meinen Wunsch an. Du hast aus vielen Gründen ein großes Urteilsvermögen und eine Gedankentiefe, die sonst keiner unter meinen Anhängern hat, und eine vielseitigere Bildung, als es bei den Israeliten sonst üblich ist. Daher bitte ich dich, mir zu helfen...»

«Dir zu helfen? Womit denn?»

«Es betrifft Syntyche. Du bist ein so tüchtiger Erzieher. Margziam lernt schnell und gut bei dir, so daß ich beabsichtige, euch einige Monate beisammen zu lassen, denn ich möchte, daß sich Margziam ein umfangreicheres Wissen aneignet als das der kleinen Welt Israels. Dir macht es Freude, dich um ihn zu kümmern, und mir macht es Freude, euch zusammen zu sehen: dich, der du ihn unterrichtest, und ihn, der von dir lernt, dich, der du bei dieser Beschäftigung jünger wirst, und ihn, der dabei reifer wird. Aber auch um Syntyche solltest du dich kümmern wie um eine verirrte Schwester. Du hast gesagt: "Es ist eine Verwirrung..." Hilf ihr, sich an meine Umgebung zu gewöhnen. Tust du mir diesen Gefallen?»

«Aber es ist für mich eine Gnade, es zu tun, mein Herr! Ich habe mich ihr nicht genähert, weil ich glaubte, überflüssig zu sein, aber wenn du es willst! Sie liest meine Schriftrollen. Es sind heilige und auch nur lehrreiche darunter: Bücher über Rom und Athen. Ich sehe, daß sie darin blättert und nachdenkt, doch habe ich mich nie eingemischt, um ihr zu helfen. Wenn du es willst ...»

«Ja, ich will es! Ich möchte euch als Freunde sehen. Auch sie soll, wie Margziam und du, einige Zeit in Nazareth bleiben. Das wird schön sein. Meine Mutter und du als Lehrer zweier Seelen, die sich Gott öffnen. Meine Mutter, die engelgleiche Meisterin der Wissenschaft Gottes, du, der erfahrene Lehrer des menschlichen Wissens, der jetzt jedoch erklären kann, indem er sich auf übernatürliche Dinge bezieht. Das wird schön sein und gut!»

«Ja, mein gepriesener Herr! Zu schön für den armen Johannes... !»Der Mann lächelt beim Gedanken an diese künftigen Tage des Friedens mit Maria im Haus Jesu...

Die Straße führt in der immer stärker werdenden Sonnenhitze durch eine unscheinbare Landschaft, die nun nach den kleinen Hügeln bei Gerasa ganz eben wird, eine gut gepflegte Straße, auf der es angenehm zu reisen ist. Nach der Mittagsrast wird der Weg wieder aufgenommen. Es ist beinahe Abend, als ich Syntyche zum ersten Mal von ganzem Herzen lachen höre. Margziam hat ihr wer weiß was erzählt, das alle Frauen zum

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Lachen bringt. Ich sehe, wie die Griechin sich neigt, um den Knaben zu liebkosen und ihm die Stirne zu küssen. Danach beginnt der Junge wieder zu springen, als ob er keine Müdigkeit verspüre.

Alle anderen sind jedoch müde, und der Entschluß, bei der Quelle der Kameltreiber zu übernachten, wird mit Freude angenommen. Der Kaufmann sagt: «Hier übernachte ich immer. Die Wegstrecke von Gerasa nach Bozrah ist für Mensch und Tier zu lange.»

«Der Kaufmann ist menschlich», bemerken die Apostel untereinander, da sie ihn Doras gegenüberstellen.

Die Quelle der Kameltreiber ist nichts als eine kleine Häusergruppe um zahlreiche Brunnen herum. Eine Art Oase, nicht in der Öde der Wüste, denn die Landschaft hier ist nicht öde, sondern eine Oase in der unbewohnten Weite der Felder und Obstgärten, die einander über viele Meilen abwechseln und bei Einbruch des Oktoberabends dieselbe Traurigkeit ausstrahlen wie das Meer in der Abenddämmerung. Deshalb ist, dieses Bild, die Häuser, die Stimmen, das Kinderweinen, der Geruch der rauchenden Kamine und die ersten angezündeten Laternen, so schön wie ein Nach-Hause-Kommen.

Während die Kameltreiber anhalten und zuerst die Kamele tränken, folgen die Apostel und die Frauen Jesus, der mit dem Kaufmann in die vorsintflutliche Herberge eintritt, in der sie übernachten werden...

In dem verräucherten, unwohnlichen Raum, in dem sie die Mahlzeit eingenommen haben und in dem die Männer schlafen werden, richten die Diener schon die Ruhelager mit Heuhaufen vom Dachboden her. Jesus und die Seinen haben sich alle um die große Feuerstelle versammelt, welche die ganze Schmalseite des großen Raumes einnimmt. Da der Abend Feuchtigkeit und Kälte mit sich gebracht hat, hat man das Feuer angezündet.

«Wenn es nur nicht zu regnen beginnt», seufzt Petrus.

Der Kaufmann beruhigt ihn: «Vor dem schlechten Wetter kommt noch der Mondwechsel. Hier ist es immer so am Abend. Doch morgen werden wir Sonne haben.»

«Ich mache mir wegen der Frauen Sorgen, weißt du? Nicht meinetwegen. Ich bin ein Fischer und lebe im Wasser und kann dir versichern, daß ich das Wasser den Bergen und dem Staub vorziehe.»

Jesus spricht mit den Frauen und den beiden Vettern. Auch Johannes von Endor und der Zelote hören ihm zu, während Timoneus und Ermastheus mit Matthäus eine der Schriftrollen des Johannes lesen, und die beiden Israeliten Ermastheus die für ihn unverständlichen Bibelstellen erklären.

Margziam hört ihnen begeistert zu, doch sein Gesichtlein wirkt schläfrig. Maria des Alphäus sieht es und sagt: «Das Kind ist müde. Komm, mein Lieber, wir wollen schlafen gehen. Komm, Elisa, komm, Salome! Alte und Kinder sind im Bett besser aufgehoben, und es wäre gut, wenn ihr euch alle zur Ruhe legen würdet. Ihr seid müde.»

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Aber außer den Älteren, mit Ausnahme von Marcella und Johanna des Chuza, rührt sich niemand.

Als sie nach Empfang des Segens gegangen sind, murmelt Matthäus: «Wer hätte diesen Frauen vor nur kurzer Zeit gesagt, daß sie bald auf Stroh und fern der Heimat schlafen müssen!»

«Ich habe noch nie so gut geschlafen», versichert Maria von Magdala entschieden, und Martha bestätigt dasselbe.

Doch Petrus gibt dem Kameraden recht: «Matthäus hat recht, und ich frage mich, wieso der Meister sie hierhergebracht hat.»

«Weil wir Jüngerinnen sind!»

«Wenn er an einen Ort ginge... wo es Löwen gibt? Würdet ihr dorthin gehen?»

«Ja gewiß, Simon Petrus! Was ist Großes dabei, einige Schritte zu machen? Mit ihm zusammen!»

«Nun, es sind wahrlich viele Schritte, besonders für Frauen, die nicht daran gewöhnt sind ...»

Doch die Frauen protestieren, so daß Petrus die Achseln zuckt und schweigt.

Jakobus des Alphäus erhebt sein Haupt und sieht ein so strahlendes Lächeln auf dem Antlitz Jesu, daß er ihn fragt: «Willst du uns den wahren Grund für diese Reise mit uns, mit den Frauen und... mit dem geringen Erfolg im Vergleich zu der großen Mühe, sagen?»

«Kannst du verlangen, jetzt schon die Frucht des Samens zu sehen, der in den Feldern begraben liegt, durch die wir gegangen sind?»

«Nein, ich werde sie im Frühjahr sehen.»

«Auch ich sage dir: du wirst den Erfolg zu gegebener Zeit sehen.»

Die Apostel entgegnen nichts. Da erklingt die silberne Stimme Marias: «Mein Sohn, heute haben wir zusammen über das gesprochen, was du in Ramot gesagt hast, und jede von uns hatte eine andere Meinung und andere Gefühle. Möchtest du uns nicht deine Gedanken sagen? Ich sagte, es wäre besser, dich gleich zu rufen. Aber du sprachst mit Johannes von Endor.»

«In Wahrheit war ich diejenige, welche diese Fragen ausgelöst hatte, denn ich bin eine arme Heidin und habe nicht das leuchtende Licht eures Glaubens. Man muß mich entschuldigen.»

«Aber ich möchte deine Seele haben, meine Schwester!» sagt Magdalena impulsiv und, wie immer überschwenglich, umarmt sie Syntyche und drückt sie fest mit einem Arm an sich. Herrlich in ihrer Schönheit, scheint sie allein die elende Herberge zu erhellen und mit dem großen Reichtum ihres prunkvollen Hauses zu schmücken. Die Griechin, so ganz verschieden und doch einmalig in ihrem Wesen, legt eine Note der Besinnlichkeit in den Aufschrei der Liebe, der stets aus der leidenschaftlichen Maria hervorzubrechen scheint, während die Jungfrau mit ihrem lieblichen, zum

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Sohn erhobenen Antlitz und den wie zum Gebet gefalteten Händen und dem so reinen Profil, das sich von der dunklen Wand abhebt, die ewige Anbeterin ist.

Susanna schlummert im Halbdunkel der Ecke, während Martha, stets beschäftigt, trotz ihrer Müdigkeit und der Mahnungen der anderen, die Helligkeit des Feuers nützt, um die Spangen am Kleidchen Margziams zu befestigen.

Jesus sagt zu Syntyche: «Aber es war kein schmerzlicher Gedanke. Ich habe dich lachen hören.»

«Ja, wegen des Kindes, das dieses Problem gewandt gelöst hat, indem es sagte: "Ich will nur dann zurückkehren, wenn Jesus auch zurückkehrt. Aber wenn du alles wissen willst, so geh dorthin und komme nachher zurück und sage es uns, wenn du dich daran erinnerst."»

Alle lachen wieder und sagen, daß Syntyche sich an Maria gewandt hat, weil sie die Worte des Meisters nicht gut verstanden hatte, als er von der Erinnerung sprach, die die Seelen bewahren und die in gewisser Weise erklärt, wie die Heiden eine entfernte Erinnerung an die Wahrheit haben können.

«Ich sagte: "Vielleicht bestätigt dies die Theorie der von vielen Heiden erwarteten Reinkarnation"; deine Mutter, Meister, erklärte mir, daß du etwas anderes gesagt hättest. Möchtest du mir nun auch dies erklären, mein Herr!»

«Höre! Du mußt nicht glauben, daß, weil die Geister eine Erinnerung an die Wahrheit haben, damit bewiesen ist, daß wir mehrere Leben leben. Du bist schon genügend belehrt worden, um zu wissen, wie der Mensch erschaffen wurde, wie er gesündigt hat und wie er bestraft wurde. Es ist dir erklärt worden, wie Gott in jeden Menschen eine einzelne Seele legt. Diese wird von Fall zu Fall geschaffen und nie mehr wieder für nachfolgende Inkarnationen verwendet. Diese Gewißheit müßte meine Behauptung über die Erinnerungen der Seelen zunichte machen. Das Tier kann sich an nichts erinnern, da es nur einmal geboren wird. Der Mensch kann sich erinnern, obwohl er auch nur einmal geboren wird. Er kann sich erinnern, und zwar mit seinem besten Teil: der Seele. Woher kommt die Seele? Jede Menschenseele? Von Gott. Wer ist Gott? Der intelligenteste, mächtigste, vollkommenste Geist. Dieses wunderbare Wesen, die Seele, die Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat als unbestreitbares Zeichen seiner heiligsten Vaterschaft, fühlt die Gaben, die dem eigen sind, der sie geschaffen hat. Sie ist daher intelligent, geistig, frei und unsterblich wie der Vater, ihr Schöpfer. Vollkommen entspringt sie dem göttlichen Gedanken, und für ein Tausendstel eines Augenblickes sieht sie der Seele des ersten Menschen gleich: eine Vollkommenheit, die die Wahrheit als Geschenk einschließt. Ein Tausendstel eines Augenblickes. Wenn sie dann gebildet ist, wird sie durch die Erbschuld verletzt. Um es dir besser verständlich zu

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machen, sage ich dir, daß es so ist, als ob Gott schwanger wäre mit der Seele, die er erschafft, und das Geschöpf bei der Geburt durch ein unauslöschliches Zeichen verwundet würde. Verstehst du mich?»

«Ja. Solange sie gedacht ist, ist sie vollkommen. Ein Tausendstel eines Augenblickes. Dann wird der Gedanke Wirklichkeit, und diese ist dem aus der Sünde entstandenen Gesetz unterworfen.»

«Du hast gut geantwortet! Die Seele inkarniert sich im menschlichen Körper und bringt mit sich, als geheime Perle, im Geheimnis ihres geistigen Seins, die Erinnerung an das Schöpfer-Wesen, also die Wahrheit. Das Kind wird geboren. Es kann gut, sehr gut und ebenso treulos werden. Alles kann es werden, weil es frei ist in seinem Willen. Über seine "Erinnerungen" wirft der dienende Engel sein Licht und der Verführer seine Finsternis. Je nachdem der Mensch nach dem Licht verlangt und damit auch nach immer größeren Tugenden, wird die Seele Herrin seines Wesens, und es vermehrt sich in ihr das Erinnerungsvermögen, so als ob die Tugend die Wand immer dünner werden ließe, die zwischen die Seele und Gott besteht. Deshalb fühlen die Tugendhaften aller Länder die Wahrheit, zwar nicht vollkommen, weil sie getrübt wird durch gegensätzliche Lehren oder tödliche Unkenntnis, aber doch in ausreichendem Maß, um den Völkern, denen sie angehören, Anhaltspunkte für eine sittliche Bildung geben zu können. Hast du verstanden? Bist du überzeugt?»

«Ja! Zusammengefaßt: die Religion der heroisch geübten Tugenden bereitet die Seele auf die wahre Religion und die Erkenntnis Gottes vor.»

«Genau so ist es! Nun geh zur Ruhe und sei gesegnet, und auch du, Mutter, und ihr, Schwestern und Jüngerinnen. Der Friede Gottes sei über eurer Ruhe!»

334. AUF DEM WEG NACH BOZRAH

Der Kaufmann hat recht gehabt. Einen schöneren Tag hätte der Oktober den Pilgern nicht schenken können. Alle die leichten Nebel, die die Felder verhüllten, als habe die Natur in der Nacht einen Schleier über den Schlaf der Pflanzen ausbreiten wollen, haben sich aufgelöst, und die Landschaft zeigt sich in der majestätischen Ausdehnung ihrer bebauten Felder, welche die Sonne erwärmt. Es scheint, als ob sich die Nebel versammelt hätten, um die fernen Gipfel mit einem durchsichtigen Schaum zu schmücken, um sie noch undeutlicher am heiteren Himmel erscheinen zu lassen.

«Sind das Berge, die wir noch besteigen müssen?» fragt Petrus besorgt.

«Nein, nein! Es sind die Berge des Hauran. Wir bleiben in der Ebene, diesseits davon. Gegen Abend werden wir in Bozrah der Hauranitis sein.

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Eine schöne und gute Stadt. Viel Handel», tröstet der Kaufmann und lobt sie, er, für den die Grundlage der Schönheit eines Ortes immer die Blüte des Handels ist.

Jesus ist ganz allein zurückgeblieben, wie er es manchmal tut, wenn er abgeschieden sein will. Margziam wendet sich mehrmals um, um nach ihm zu sehen. Schließlich kann er nicht mehr widerstehen. Er verläßt Petrus und Johannes des Zebedäus, setzt sich am Straßenrand auf einen Markstein, der ein römisches Militärmal sein muß, und wartet. Als Jesus bei ihm angekommen ist, erhebt sich der Knabe und geht, ohne etwas zu sagen, an seiner Seite, bleibt dann ein wenig zurück, um ihm nicht einmal durch seinen Anblick lästig zu fallen, und beobachtet, beobachtet ...

Er fährt fort, still zu beobachten, bis Jesus seine Betrachtung beendet hat, sich umwendet, da er die leichten Schritte hinter seinem Rücken wahrnimmt, und lächelt. Die Hand nach dem Knaben ausgestreckt, sagt er: «Oh, Margziam! Was machst du hier so ganz allein?»

«Ich habe dich beobachtet. Seit Tagen schon beobachte ich dich. Alle haben Augen, aber nicht alle sehen das gleiche. Ich habe gesehen, daß du dich immer wieder absonderst... Die ersten Tage habe ich gedacht, irgend jemand hätte dich beleidigt. Dann habe ich gesehen, daß du es immer zur gleichen Stunde tust, und daß die Mutter, die dich immer tröstet, wenn du traurig bist, nichts zu dir sagt, wenn du diesen Gesichtsausdruck annimmst. Im Gegenteil, wenn sie gerade spricht, dann schweigt sie und sammelt sich tief. Ich sehe es, weißt du? Denn ich schaue immer auf dich und auf sie, um das zu tun, was ihr tut. Ich habe die Apostel gefragt, was du tust, denn gewiß tust du etwas. Sie haben mir gesagt: "Er betet." Und ich habe gefragt: "Was sagt er?" Niemand hat mir antworten können, denn sie wissen es nicht. Sie sind seit Jahren bei dir und wissen es nicht. Heute bin ich hinter dir hergegangen, jedesmal, wenn ich gesehen habe, daß du diesen Gesichtsausdruck angenommen hast. Ich habe dich beobachtet, als du gebetet hast. Aber es ist nicht immer das gleiche Gesicht. Heute morgen, bei Sonnenaufgang, schienst du ein Engel des Lichtes zu sein. Du hast die Dinge mit Augen betrachtet, die sie heller erstrahlen ließen, als dies die Sonne hätte tun können. Die Dinge und die Menschen. Dann hast du zum Himmel aufgeschaut und mit dem Gesicht, das du hast, wenn du bei Tisch das Brot opferst. Später, als wir durch das Dorf gingen, hast du dich abgesondert, und du schienst mir ein Vater zu sein, so eifrig warst du bemüht, im Vorübergehen den Armen des Dorfes gute Worte zu sagen. Zu einem hast du gesagt: "Ertrage es in Geduld, denn bald will ich dir und allen deinesgleichen helfen." Es war der Sklave des häßlichen Mannes, der seine Hunde auf uns gehetzt hat. Dann, während das Essen vorbereitet wurde, hast du uns mit Augen voller Güte und Liebe angeschaut. Du warst wie eine Mutter... Aber jetzt ist dein Gesicht voll Schmerz gewesen. Was denkst du in dieser Stunde, Jesus, immer wenn du

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so bist? ... Denn auch manchmal abends, wenn ich nicht schlafe, sehe ich dich sehr ernst. Sage mir, wie du betest und worum du betest?»

«Gewiß werde ich es dir sagen. Dann wirst auch du mit mir beten können. Den Tag gibt uns Gott. Den ganzen: den hellen wie den dunklen Tag, den Tag und die Nacht. Es ist ein Geschenk, zu leben und das Licht zu haben. Die Art, wie man lebt, ist eine Art der Heiligung. Nicht wahr? Daher muß man alle Augenblicke des Tages heiligen, um sich in Heiligkeit zu bewahren und im Herzen den Allerhöchsten und alle seine Güte gegenwärtig zu haben und zugleich den Dämon fernzuhalten. Beobachte die Vögel. Beim ersten Strahl der Sonne singen sie. Sie preisen das Licht. Auch wir müssen das Licht preisen, das ein Geschenk Gottes ist, und Gott preisen, der es uns schenkt und der selbst Licht ist. Wir müssen nach ihm verlangen vom ersten Licht des Morgens an, fast wie um ein Siegel des Lichtes, eine Note des Lichtes auf den ganzen kommenden, eben aufbrechenden Tag zu drücken, auf daß er lichtvoll und heilig sei, und uns mit der ganzen Schöpfung vereinigen, um dem Schöpfer zuzujubeln. Dann, wenn die Stunden vergehen und wir wahrnehmen, wieviel Schmerz und Unwissenheit in der Welt ist, müssen wir wieder beten, damit der Schmerz behoben werde, die Unwissenheit schwinde und Gott erkannt, geliebt und von allen Menschen angebetet werde, denn wenn sie Gott erkennen würden, wären sie auch in ihrem Leid immer getröstet. In der sechsten Stunde beten wir aus Liebe zur Familie. Wir erfreuen uns dieses Geschenkes, vereint zu sein mit denen, die uns lieben, denn auch das ist eine Gnade Gottes, und wir beten, daß die Nahrung sich nicht von Nutzen in Sünde wandle. Bei Sonnenuntergang beten wir und denken daran, daß der Tod der Sonnenuntergang ist, der uns alle erwartet. Beten wir, daß unser Sonnenuntergang, der jedes Tages oder der des Lebens, sich immer mit der Seele im Stand der Gnade vollende. Dann, wenn die Lichter angezündet werden, beten wir, um für den vollendeten Tag zu danken und um Schutz und Verzeihung zu erbitten, damit wir uns zur Ruhe legen können ohne Furcht vor einem unvorhergesehenen Gericht oder vor dämonischen Angriffen. Wir beten schließlich auch in der Nacht – aber das gilt nur für die, die keine Kinder mehr sind – um für die Sünden, die in der Nacht begangen werden, zu sühnen, um Satan von den Schwachen fernzuhalten, damit die Schuldigen besinnlich werden und bereuen und damit ihre guten Vorsätze beim ersten Sonnenstrahl Wirklichkeit werden. Siehst du, wie und warum ein Gerechter während des ganzen Tages betet.»

«Aber du hast mir nicht gesagt, warum du dich zur neunten Stunde so ernst und gemessen absonderst ...»

«Weil... ich sage: "Durch das Opfer dieser Stunde möge dein Reich in die Welt kommen, und alle, die an dein Wort glauben, seien erlöst." Sage auch du so!»

«Welches Opfer meinst du? Den Weihrauch? Du hast gesagt, daß man

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diesen morgens und abends opfert. Die Opfertiere werden jeden Tag zur gleichen Stunde auf dem Altar des Tempels dargebracht. Die Opfer aufgrund von Gelübden und zur Sühne werden zu jeder Stunde dargebracht. Die neunte Stunde ist nicht mit einem besonderen Ritus verbunden.»

Jesus bleibt stehen und nimmt den Knaben an beiden Händen, hält ihn vor sich hin und sagt mit erhobenem Antlitz, als ob er einen Psalm sprechen würde: «Und zwischen der sechsten und der neunten Stunde wird der, der gekommen ist als Retter und Erlöser, der, von dem die Propheten sprechen, sein Opfer vollenden, nachdem er das bittere Brot des Verrates gegessen und das süße Brot des Lebens gegeben hat; nachdem er sich selbst wie eine Weintraube in der Kelter ausgepreßt und mit sich selbst die Menschen und Pflanzen getränkt hat; nachdem er sich purpurn wie ein König mit seinem Blut bekleidet hat, sich umkränzt und das Zepter ergriffen und seinen Thron zum erhöhten Ort getragen hat, damit Sion, Israel und die Welt ihn sehe. Erhöht im Purpurgewand seiner unendlichen Wunden, in der Finsternis, um das Licht zu bringen, im Tod, um das Leben zu geben, wird er um die neunte Stunde sterben; und dann wird die Welt erlöst sein.»

Margziam blickt ihn erschrocken an. Er ist bleich geworden, seine Lippen zucken, und in seinen bestürzten Augen sind Tränen zu sehen. Mit unsicherer Stimme fragt er: «Aber der Erlöser bist doch du? Dann wirst du also zu dieser Stunde sterben?» Die Tränen beginnen über die Wangen herabzurollen, und der kleine Mund trinkt sie, während er halbgeöffnet einen Widerruf erwartet.

Doch Jesus sagt: «Ich werde es sein, kleiner Jünger. Auch für dich.» Doch, da das Kind in krampfhaftes Schluchzen ausbricht, zieht er es an sich und sagt: «Schmerzt es dich so sehr, daß ich sterben muß?»

«Oh, meine einzige Freude! Ich will es nicht! Ich... Laß mich an deiner Stelle sterben...»

«Du mußt mich in der ganzen Welt verkünden. So ist es bestimmt. Aber höre! Ich werde glücklich sterben, weil ich weiß, daß du mich liebst, und dann werde ich auferstehen. Erinnerst du dich an Jonas? Er kam schöner, ausgeruhter und stärker aus dem Bauch des Walfisches hervor. Auch bei mir wird es so sein, und ich werde sofort zu dir kommen und sagen: "Kleiner Margziam, deine Tränen haben meinen Durst gestillt. Deine Liebe hat mir im Grab Gesellschaft geleistet. Nun komme ich, um dir zu sagen: 'Sei mein Priester"', und ich werde dich küssen, während noch der Duft des Paradieses an mir haftet.»

«Aber ich, wo werde ich sein? Nicht bei Petrus? Nicht bei der Mutter?»

«Ich werde dich vor der höllischen Sturzflut dieser Tage bewahren. Die Schwächsten und die Unschuldigsten werde ich retten. Einen ausgenommen ... Margziam, kleiner Apostel, willst du mir helfen und mit mir für diese Stunde beten?»

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«O ja, Herr! Und die anderen?»

«Das ist ein Geheimnis zwischen dir und mir. Ein großes Geheimnis. Denn Gott liebt es, sich den Kleinen zu offenbaren. Weine nicht mehr! Freue dich, indem du daran denkst, daß ich nachher nie mehr leiden und mich nur noch an alle Liebe der Menschen erinnern werde. Komm, komm! Schau, wie weit entfernt die anderen sind. Wir müssen uns beeilen, um sie einzuholen», und er stellt ihn auf den Boden und beginnt, ihn an der Hand haltend, eiligst zu gehen, bis sie die Gruppe erreicht haben.

«Meister, was hast du getan?»

«Ich habe Margziam die Stunden des Tages erklärt.»

«Und der Knabe hat geweint? Er wird wohl böse gewesen sein, und du entschuldigst ihn aus Güte», sagt Petrus.

«Nein, Petrus! Er hat mich beim Beten beobachtet. Ihr habt es nicht getan. Er hat mich nach dem Grund meines Betens gefragt. Ich habe ihm alles erklärt. Das Kind war gerührt durch meine Worte. Nun laßt es in Ruhe. Geh zu meiner Mutter, Margziam, und ihr, hört mir alle zu. Die Lehre wird auch euch nicht schaden.»

Jesus erklärt aufs neue die Notwendigkeit des Gebetes in den wichtigsten Stunden des Tages, wobei er die Erklärung der neunten Stunde unterläßt und mit den Worten schließt: «Die Vereinigung mit Gott besteht darin, ihn in jedem Augenblick gegenwärtig zu haben, um ihn zu loben oder ihn anzuflehen. Tut dies, und ihr werdet im geistigen Leben Fortschritte machen.»

Bozrah ist schon nahe. Die sich über die weite Ebene ausbreitende Ortschaft mit ihren Mauern und Türmen scheint groß und schön zu sein. Der Abend sinkt hernieder und wirft über die Farben der Häuser und der Landschaft einen grauvioletten Schleier voller Sehnsucht, unter dem die Umrisse verfließen, während das Blöken der Schafe und das Grunzen der Schweine, die vor den Mauern in den Hürden eingeschlossen sind, die Stille der Landschaft unterbrechen. Eine Stille, die sofort endet, als die Karawane durch das Tor gezogen ist und sich nun in dem Gewirr von Straßen befindet, das jeden enttäuscht, der die Stadt von außen für schön gehalten hat. Stimmen, Gerüche und... Gestank erfüllen die gewundenen Gäßlein und begleiten die Pilger bis zu einem Platz, sicher ein Marktplatz, auf dem sich eine Herberge befindet.

Die Ankunft in Bozrah ist erfolgt.

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335. IN BOZRAH

Bozrah zeigt sich am Morgen in Nebel gehüllt, bedingt durch die Jahreszeit und auch durch die Enge seiner Gassen. Es ist glanzlos und sehr schmutzig. Die Apostel, die von ihren Einkäufen auf dem Marktplatz zurückkehren, sprechen untereinander darüber. Denn die Beherbergung zu jener Zeit und an manchen Orten ist derart vorsintflutlich, daß jeder selbst an seine Verproviantierung denken muß; das heißt, daß die Wirte auch nicht das geringste dazu beitragen wollen. Sie beschränken sich darauf, das zu kochen, was die Gäste selbst herbeibringen. Hoffen wir, daß sie nichts davon für sich behalten. Höchstens gehen sie für den Gast Proviant einkaufen oder verkaufen ihm diesen aus ihren Vorräten, und im Bedarfsfall schlachten sie auch selbst die armen Schäflein, die dazu bestimmt sind, gebraten zu werden.

Petrus fühlt sich vom Wirt hintergangen und streitet noch immer mit dem Mann, der ein Gaunergesicht hat, den Apostel hochfahrend behandelt und ihn "Galiläer" schimpft, so daß dieser, auf ein Schweinchen deutend, das gerade auf Kosten der Gäste geschlachtet worden ist, entgegnet: «Ich bin Galiläer, und du ein Schwein, ein Heide bist du! In deiner stinkenden Herberge würde ich nicht eine Stunde bleiben, wenn ich mein eigener Herr wäre. Dieb und... (und hier fügt er noch ein anderes Wort hinzu, das ich lieber nicht niederschreibe).»

Ich schließe daraus, daß zwischen den Leuten in Bozrah und den Galiläern eine jener vielen regionalen oder religiösen Unstimmigkeiten besteht, deren es in Israel oder besser in Palästina viele gab.

Der Wirt schreit lauter: «Wenn du nicht mit dem Nazarener wärst und ich nicht besser wäre als eure schmutzigen Pharisäer, die ihn grundlos hassen, würde ich dir dein Maul mit dem Blut des Schweines waschen, damit du von hier verschwinden müßtest, um zur Reinigung zu laufen. Doch ich achte ihn, dessen Macht gewiß ist, und ich sage dir, daß ihr trotz all eurer Geschichten nur Sünder seid. Wir sind besser als ihr. Wir legen keine Hinterhalte, wir verraten nicht, ihr ungerechten Verräter und Schurken, die ihr nicht einmal die wenigen Heiligen achtet, die unter euch sind.»

«Wir sind die Verräter? Wir? Ach! Das ist die Höhe, aber jetzt...»

Petrus ist außer sich und will sich auf ihn stürzen, während sein Bruder und Jakobus ihn zurückhalten und Simon der Zelote sich mit Matthäus zwischen beide stellt.

Aber mehr als ihr Dazwischentreten vermag die Stimme Jesu, der an einer Tür erscheint und befiehlt: «Genug jetzt, Simon, schweige! Und, Mann, schweige ebenfalls!»

«Herr, dieser Wirt hat sich aufgedrängt und mich beleidigt.»

«Nazarener, ich wurde zuerst beleidigt.»

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Ich, er, er und ich, jeder der beiden Schuldigen versucht die Schuld auf den anderen zu schieben. Jesus tritt ernst und ruhig vor.

«Ihr habt beide unrecht und du, Simon, mehr als er! Denn du kennst die Lehre der Liebe, der Vergebung, der Sanftmut, der Geduld und der Brüderlichkeit. Um nicht als Galiläer geringgeschätzt zu werden, muß man sich als Heiliger achtenswert machen, und du, Mann, wenn du glaubst, besser als die anderen zu sein, dann lobe Gott und werde noch besser. Vor allem beschmutze deine Seele nicht mit verlogenen Anklagen. Meine Jünger verraten nicht und drängen sich nicht auf.»

«Bist du dessen sicher, Nazarener? Warum sind denn die vier gekommen, um mich zu fragen, ob du hier wärest, wer mit dir sei und vieles andere mehr?»

«Wer? Was? Wer sind sie? Wo sind sie?» Die Apostel eilen herbei und vergessen, daß sie sich einem nähern, der mit dem Blut eines Schweines befleckt ist, von dem sie sich zuvor entsetzt fernhielten.

«Kehrt zu euren Aufgaben zurück! Du, Misaze, bleibe!»

Die Apostel gehen in den Raum, aus dem Jesus gekommen ist, und im Hof stehen sich nur Jesus und der Wirt gegenüber. Einige Schritte von Jesus entfernt beobachtet der Kaufmann verblüfft die Szene.

«Antworte, Mann, und sei aufrichtig! Verzeihe, wenn das Blut die Zunge eines meiner Jünger vergiftet hat. Wer sind jene vier und was haben sie gefragt?»

«Wer sie sind, weiß ich nicht genau. Aber gewiß Schriftgelehrte und Pharisäer von der anderen Seite. Wer sie hierher gebracht hat, weiß ich nicht. Ich habe sie nie gesehen. Aber sie wissen gut über dich Bescheid. Sie wissen, woher du kommst, wohin du gehst, mit wem du zusammen bist... Doch sie wollten dies von mir bestätigt haben. Nein! Man kann mich anklagen, ein Schurke zu sein, aber ich kenne mein Handwerk. Ich kenne niemanden, sehe nichts und weiß nichts, das gilt selbstverständlich für die anderen, denn für mich weiß ich alles. Aber warum soll ich den anderen sagen, was ich weiß, und besonders diesen Scheinheiligen? Schurke, ich? Ja! Im Bedarfsfall unterstütze ich auch die Diebe. Du weißt es ja... Aber ich könnte nicht entfernt daran denken, dir die Freiheit, die Ehre und das Leben zu rauben. Sie aber – ich will nicht mehr Fara des Ptolemäus sein, wenn das nicht wahr ist – sie stellen dir nach, um dir Böses anzutun. Und wer schickt sie uns? Vielleicht einer von Peräa oder von der Dekapolis? Vielleicht einer von Trachonitis oder Gaulanitis oder Hauranitis? Nein! Entweder kennen wir dich nicht, oder wenn wir dich kennen, dann achten wir dich als einen Gerechten, wenn wir nicht an dich als einen Heiligen glauben. Wer hat sie also gesandt? Einer von deinen Freunden vielleicht, denn sie wissen zuviel...»

«Meine Karawane zu kennen, ist nicht schwer...» sagt Misaze.

«Nein, Kaufmann! Ich spreche nicht von dir, sondern von den anderen,

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die mit Jesus sind. Ich weiß nichts und will nichts wissen. Ich sehe nichts und will nichts sehen. Doch ich sage dir: wenn du weißt, daß du schuldig bist, dann sorge vor; wenn du weißt, daß du verraten wirst, dann nimm dich in acht.»

«Ich bin weder schuldig, Mann, noch bin ich verraten worden. Fest steht aber, daß Israel mich nicht versteht. Doch du, woher weißt du von mir?»

«Durch einen Knaben, einen Taugenichts, der in ganz Bozrah und Arbela von sich reden machte. Hier, weil er kam, um seine Sünden zu begehen, dort, weil er seine Familie entehrte. Danach hat er sich bekehrt. Er ist ehrbarer als ein Gerechter geworden, und jetzt ist er als Jünger unter deinen Jüngern und wartet auf dich in Arbela, um dir mit Vater und Mutter zu huldigen. Er erzählt allen, daß du durch das Gebet seiner Mutter sein Herz gewandelt hast. Philippus des Jakob heißt er, und wenn diese Gegend je heilig werden sollte, so ist es sein Verdienst. Wenn in Bozrah jemand ist, der an dich glaubt, so ist es seinetwegen.»

«Wo befinden sich nun die Schriftgelehrten, die gekommen sind?»

«Ich weiß es nicht. Sie sind weggegangen, weil ich gesagt habe, daß hier kein Platz für sie sei. Ich hatte genügend Platz. Aber ich wollte keine Schlangen in der Nähe der Taube beherbergen. Sie sind bestimmt noch in der Gegend. Sei vorsichtig!»

«Ich danke dir, Mann. Wie heißt du?»

«Fara. Ich habe meine Pflicht getan, erinnere dich meiner.»

«Ja, und du, erinnere dich an Gott, und verzeih meinem Simon, denn große Liebe zu mir macht ihn manchmal blind.»

«Macht nichts, auch ich habe ihn beleidigt... Aber es tut weh, beschimpft zu werden. Du beleidigst nicht...»

Jesus seufzt... Dann sagt er: «Willst du dem Nazarener helfen?»

«Wenn ich kann...»

«Ich würde gern in diesem Hof sprechen ...»

«Ich werde dich reden lassen. Wann?»

«Zwischen der sechsten und der neunten Stunde.»

«Geh ruhig deines Weges. Bozrah wird erfahren, daß du sprechen wirst, dafür sorge ich.»

«Gott möge es dir vergelten», und Jesus schenkt ihm ein Lächeln, das schon ein Lohn ist. Dann kehrt er in den Raum zurück, in dem er sich vor dem Zwischenfall aufgehalten hatte.

Alexander Misaze sagt: «Meister, lächle auch mir so zu... Auch ich will gehen und den Bürgern sagen, daß sie kommen sollen, den anzuhören, der die Güte selbst ist. Ich kenne viele. Leb wohl!»

«Auch dir möge es Gott vergelten», sagt Jesus und lächelt ihm zu. Dann betritt er den Raum. Die Frauen sind um Maria geschart, deren Antlitz traurig ist und die sich sofort erhebt, um dem Sohn entgegenzugehen. Sie

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sagt nichts, aber alles an ihr ist eine Frage. Jesus lächelt ihr zu und antwortet ihr, indem er sich allen zuwendet: «Sorgt dafür, daß ihr um die sechste Stunde frei seid. Ich werde hier zu vielen Menschen reden. Nun geht alle, mit Ausnahme von Simon Petrus, Johannes und Ermastheus; kündigt mich an und verteilt viele Almosen.»

Die Apostel gehen fort.

Petrus nähert sich langsam Jesus, der bei den Frauen steht, und fragt: «Warum nicht auch ich?»

«Wenn man zu impulsiv ist, bleibt man zu Hause. Simon, Simon! Wann wirst du endlich deine Liebe dem Nächsten schenken können! Jetzt ist sie eine Flamme, die nur für mich brennt; sie ist eine Klinge, gerade und hart, aber nur für mich. Sei sanftmütig, Simon des Jonas!»

«Du hast recht, Herr! Deine Mutter hat mich schon zurechtgewiesen, wie nur sie es kann, ohne mir weh zu tun. Aber ihre Worte sind tief in mein Herz gedrungen. Daher... tadle auch du mich, aber schau mich nicht mehr so traurig an.»

«Sei gut, sei gut... Syntyche, ich möchte mit dir allein sprechen. Komm auf die Terrasse. Komm auch du, Mutter...»

Auf der rustikalen Terrasse, die einen Flügel des Gebäudes einnimmt, geht Jesus in der warmen Sonne zwischen Maria und der Griechin langsam auf und ab und sagt: «Morgen werden wir uns für einige Zeit trennen. Von Arbela aus geht ihr Frauen, zusammen mit Johannes von Endor, in Richtung auf das Meer von Galiläa, und dann weiter bis nach Nazareth. Aber um euch nicht mit einem fast hilflosen Mann allein gehenzulassen, werden euch auch meine Brüder und Simon Petrus begleiten. Ich weiß schon jetzt, daß es etwas Unwillen geben wird wegen der Trennung. Aber Gehorsam ist die Tugend des Gerechten. Durch die Ländereien, die Chuza im Namen des Herodes verwaltet, kann Johanna eine Begleitung für den Rest des Weges bekommen. Dann könnt ihr die Söhne des Alphäus und Simon Petrus zurückschicken. Aber der eigentliche Grund, weshalb ich dich hier heraufgebeten habe, ist dieser: Ich wollte dir sagen, Syntyche, daß ich für dich einen Aufenthalt im Haus meiner Mutter beschlossen habe. Sie weiß es schon. Mit dir werden auch Johannes von Endor und Margziam bei ihr sein. Bleibt frohen Mutes und bildet euch immer mehr in der Weisheit. Ich möchte, daß du dich viel um den armen Johannes kümmerst. Meiner Mutter sage ich das nicht, denn sie bedarf keiner Ratschläge. Du wirst Johannes verstehen und bemitleiden, und er kann dir viel Gutes tun, denn er ist ein erfahrener Lehrer. Dann werde ich kommen. Bald! Wir werden uns oft sehen, und ich hoffe, dich immer weiser in der Wahrheit zu finden. Ich segne dich ganz besonders, Syntyche. Dies ist mein Abschiedsgruß für dich. In Nazareth wirst du Liebe und Haß antreffen, wie überall. Aber in meinem Haus wirst du Frieden finden. Immer.»

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«Nazareth wird nichts wissen und ich werde nichts beachten. Ich werde mich von der Wahrheit nähren, und die Welt wird mir nichts gelten, Herr.»

«Laß es dir wohl sein, gehe nur, Syntyche, und schweige vorerst darüber. Mutter, du weißt... Ich vertraue dir diese meine teuersten Perlen an. Während wir unter uns im Frieden sind, Mutter, laß deinen Jesus sich an deinen Liebeserweisen stärken.»

«Wieviel Haß, mein Sohn!» «Wieviel Liebe!» «Wieviel Bitterkeit, mein lieber Jesus!» «Wieviel Süßigkeit!» «Wieviel Unverständnis, mein Geschöpf.» «Wieviel Verständnis, Mutter!»«Oh, mein Schatz, mein teurer Sohn!» «Mutter, Freude Gottes und meine Freude! Mutter!»

Sie küssen sich und bleiben nebeneinander auf der Steinbank am Mäuerchen der Terrasse sitzen. Jesus hat die Mutter beschützend und liebevoll umarmt, und sie hat das Haupt an seine Schulter gelegt, ihre Hände in der seinen. Sie sind glücklich... Die Welt ist fern... begraben von Wogen der Liebe und Treue...

336. DIE PREDIGT UND DIE WUNDER IN BOZRAH

Die Welt ist auch so nahe mit ihren Wellen des Hasses, des Verrates, des Schmerzes, der Nöte, der Neugier. Wie die Wellen des Meeres im Hafen auslaufen, so gelangt das Volk in den Innenhof der Herberge von Bozrah, den der Wirt, dessen Herz besser ist, als sein Gesicht es vermuten ä t, von Schmutz und Abfällen gereinigt hat. Viel Volk aus dem Ort und aus der Umgebung strömt herbei. Es sind Menschen darunter, die, nach ihrer Sprache zu schließen, von weither gekommen sind, von den Ufern des Sees oder von jenseits des Sees. Ortsnamen und Bruchstücke von schmerzlichen Begebenheiten entnehme ich den Gesprächen, die in Erwartung Jesu geführt werden: Gadara, Hippos, Gergesa, Gamala, Apheca, Naim, Endor, Jezrael, Magdala und Chorazim gehen von Mund zu Mund, und mit ihnen die Erzählungen über die Gründe dieser weiten Reisen.

«Als ich erfuhr, daß er sich jenseits des Jordan befindet, war ich entmutigt. Aber während ich dabei war, nach Jezrael zurückzukehren, sind Jünger gekommen; und sie haben uns, die wir in Kapharnaum warteten, gesagt: "Zu dieser Stunde ist er sicher jenseits von Gerasa. Verliert keine Zeit und geht nach Bozrah oder nach Arbela"; so bin ich mit ihnen gekommen...»

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«Ich hingegen komme aus Gadara. Ich habe Pharisäer vorbeigehen sehen, die fragten, ob Jesus von Nazareth in der Gegend sei. Ich habe eine kranke Frau und habe mich ihnen angeschlossen. Gestern in Arbela habe ich erfahren, daß er zuerst nach Bozrah kommen würde, und bin hierher geeilt.»

«Ich komme von Gamala dieses Kindes wegen. Eine rasende Kuh hat es mit dem Huf getroffen. Seht...», und er zeigt seinen Sohn, ganz verkrampft und unfähig, auch nur die Arme frei zu bewegen.

«Ich habe den meinigen gar nicht tragen können. Ich komme von Mageddo. Was sagt ihr? Wird er ihn mir auch von hier aus heilen?» seufzt eine Frau mit von Tränen geröteten Augen.

«Aber der Kranke sollte hier sein!»

«Nein, es genügt, Glauben zu haben!»

«Nein! Wenn er seine Hände nicht auflegt, wird man nicht geheilt. Auch seine Jünger machen es so.»

«Du hast einen langen Weg umsonst gemacht, Frau!»

Die Frau weint und sagt: «Oh, ich Unglückliche! Ich habe ihn fast sterbend zurückgelassen in der Hoffnung... Nun wird er ihn nicht heilen, und ich werde ihn in der Sterbestunde nicht trösten können ...»

Eine andere Frau tröstet sie: «Glaube das nicht, Frau. Ich komme, um ihm zu danken, denn für mich hat er ein großes Wunder gewirkt, ohne den Berg zu verlassen, auf dem er sprach.»

«An welcher Krankheit litt dein Sohn?»

«Es war nicht der Sohn. Es war mein Mann, der wahnsinnig geworden war...» und die beiden fahren fort, leise miteinander zu reden.

«Es ist wahr. Auch der Sohn der Mutter in Arbela wurde befreit, ohne daß der Meister ihn gesehen hatte», sagt einer aus Arbela, und fährt fort mit seinen Nachbarn zu reden...

«Macht Platz, habt Erbarmen! Platz!» schreien die Träger einer ganz zugedeckten Bahre.

Die Menge bahnt einen Weg, und die Bahre mit ihrer traurigen Last wird nach hinten getragen, wo man sie bei einem Strohhaufen niederlegt. Liegt wohl ein Mann oder eine Frau auf der Bahre? Wer weiß?

Es kommen zwei Pharisäer herein, aufgeblasen, gut aussehend und hochmütiger denn je. Sie bestürmen den armen Wirt wie zwei Irre und schreien ihn an: «Verfluchter Lügner! Warum hast du gesagt, daß er nicht da sei? Bist du sein Helfershelfer? Verhöhnst du uns so, die Heiligen Israels, um wem den Vorzug zu geben ... ? Was weißt du schon, wer er ist? Was bedeutet er dir?»

«Wer er ist? Er ist das, was ihr nicht seid. Aber ich habe nicht gelogen. Er traf wenige Stunden nach eurer Ankunft hier ein, und er hat sich nicht verborgen, und auch ich verberge ihn nicht. Aber da ich hier der Herr bin, sage ich euch: "Hinaus aus meinem Haus!" Man beleidigt hier den Nazarener

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nicht, habt ihr verstanden? Und wenn ihr die Worte nicht verstehen wollt, kann ich auch handgreiflich werden, ihr Schakale!»

Der kräftige Wirt scheint wirklich zur Tat übergehen zu wollen, so daß die beiden Pharisäer den Ton ändern und sich wie von einer Peitsche bedrohte Hunde benehmen.

«Aber wir suchen ihn, um ihm Ehre zu erweisen! Was glaubst du denn? Wir wurden nur wütend, weil wir dachten, ihn durch deine Schuld nicht sehen zu können. Wir wissen, wer er ist: der heilige und gesegnete Messias, zu dem den Blick zu erheben wir nicht würdig sind. Wir sind Staub, und er ist die Herrlichkeit Israels. Führe uns zu ihm. Unsere Seele brennt danach, sein Wort zu hören.»

Der Wirt versteht es wunderbar, die Pharisäer nachzumachen, und sagt: «Oh, schau! Wie konnte ich nur annehmen, daß es nicht so sei, ich, der ich doch den Ruf der Pharisäer bezüglich Gerechtigkeit vom Hörensagen kenne? Gewiß, ihr seid gekommen, ihm zu huldigen! Ihr brennt vor Sehnsucht, dies zu tun. Ich will hingehen und es ihm berichten. Ich gehe... Nein, zum Teufel! Du kommst nicht mit, und auch du nicht, sonst schleudere ich euch zu Boden, ihr alten giftigen Mumien. Ihr bleibt hier! Du hier, wo ich dich hinstelle, und du hier! Ich bedaure nur, daß ich euch nicht bis zum Hals in die Erde schlagen kann, um mich eurer als Pfahl zu bedienen und die Schweine daran festzubinden, wenn ich sie schlachte.»Er setzt seine Worte auch gleich in die Tat um, indem er zuerst den einen der eingeschüchterten Pharisäer an den Schultern packt, ihn in die Höhe hebt und dann so heftig zu Boden stellt, daß er bis zu den Knöcheln in der Erde stecken würde, wenn der Boden nicht so hart wäre. Aber der Boden ist hart, und der Pharisäer bleibt nach der gewaltigen Erschütterung so erstarrt stehen, als wäre er eine Puppe. Dann nimmt der Wirt den anderen, obwohl dieser ziemlich beleibt ist, hebt ihn in die Höhe und stellt ihn mit der gleichen Wut nieder, und da dieser reagiert und sich losreißt, läßt er ihn nicht aufrecht stehen, sondern stößt ihn nieder, daß er sitzen bleibt: ein Paket Fleisch und Stoff... Dann geht er weg und sagt ein häßliches Wort, das sich aber im Gejammer der beiden und im Gelächter der anderen verliert. Er geht durch einen Flur und über einen kleinen Hof, nimmt eine Leiter, steigt auf einen Balkon und gelangt von dort in einen großen Raum, wo Jesus mit den Seinen und dem Kaufmann das Mahl beendet.

«Zwei von den vier Pharisäern sind schon angekommen. Richte dich danach. Vorläufig habe ich mit ihnen abgerechnet. Sie wollten hinter mir herkommen, aber ich habe nicht gewollt. Sie sind jetzt unten im Hof inmitten vieler, vieler Kranker und sonstiger Leute.»

«Ich komme sofort. Danke, Fara! Geh nur.»

Alle stehen auf. Doch Jesus gebietet den Jüngern und auch den Frauen, außer seiner Mutter, Maria Kleophä, Susanna und Salome, zu bleiben, wo sie sind. Da er den Schmerz sieht, der sich auf den Gesichtern der

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Ausgeschlossenen abzeichnet, sagt er: «Geht auf die Terrasse. Dort hört ihr mich auch.»

Er geht mit den Aposteln und den vier Frauen den gleichen Weg, den der Wirt gekommen ist, hinaus und betritt den großen Hof. Die Leute recken die Hälse, um zu sehen, und die Schlauen steigen auf Strohhaufen, auf abgestellte Wagen und auf den Rand der Wasserbecken...

Die beiden Pharisäer kommen ihm mit Verbeugungen entgegen. Jesus grüßt sie mit seinem üblichen Gruß, als wären sie treue Freunde. Er bleibt jedoch nicht stehen, um ihre heuchlerischen Fragen zu beantworten: «So wenige seid ihr nur, und ohne Jünger? Haben sie dich also verlassen?»

Jesus antwortet im Vorbeigehen ernst: «Niemand hat mich verlassen. Ihr kommt von Arbela, wo ihr dem begegnet seid, der mir vorausgeht, und in Judäa seid ihr Judas des Simon, Thomas, Nathanael und Philippus begegnet.»

Der dicke Pharisäer wagt es nicht mehr, ihm zu folgen, und bleibt plötzlich, rot wie eine glühende Kohle, stehen. Der andere, etwas frecher, fährt hartnäckig fort: «Es ist wahr! Aber da wir wissen, daß du deine getreuen Jünger und die Frauen bei dir hast, waren wir erstaunt, dich mit so wenigen anzutreffen. Wir wollten deine neuen Errungenschaften sehen, um dich dazu zu beglückwünschen», und lacht höhnisch.

«Meine neuen Errungenschaften? Hier sind sie!» Jesus macht eine Geste und deutet auf die Menge, die hauptsächlich aus der Gegend von Bozrah stammt. Dann beginnt er zu reden, ohne den Pharisäern Zeit zu einer Antwort zu lassen.

«Es haben mich jene aufgesucht, die mich früher nicht suchten. "Hier bin ich! Hier bin ich!" sagte ich zu einem Volk, das meinen Namen nicht angerufen hat. Ehre sei dem Herrn, der die Wahrheit spricht durch den Mund der Propheten! Wahrlich, wenn ich diese Menge betrachte, die mich umringt, lobe ich den Herrn, denn ich sehe die Versprechen erfüllt, die der Ewige mir gemacht hat, als er mich in die Welt sandte. Die Versprechen, die ich selbst mit dem Vater und dem Geist in den Gedanken, auf den Lippen und in den Herzen der Propheten entzündet habe, jene Versprechen, die ich schon kannte, bevor ich Fleisch war, und die mich ermutigt haben, Fleisch anzunehmen. Sie stärken mich. Ja, sie trösten mich über allen Haß, Groll, Zweifel und über alle Lügen hinweg. Es haben mich die aufgesucht, die früher nicht nach mir fragten, und es haben mich die gefunden, die mich früher nicht suchten. Warum das, da doch jene, denen ich die Hand entgegengestreckt und gesagt habe: "Hier bin ich", mich zurückgewiesen haben? und doch kannten sie mich, während diese mich nicht kannten. Ja, also?

Hier ist der Schlüssel zum Geheimnis. Nichtwissen ist keine Schuld, aber Verleugnung ist Schuld. Zu viele unter denen, die von mir wissen und denen ich die Hand entgegengestreckt habe, haben mich verleugnet, als

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ob ich ein Bastard oder ein Dieb oder ein verderbenbringender Teufel wäre, denn durch ihren Stolz haben sie den Glauben ausgelöscht und sich verirrt auf den schlechten, krummen, sündhaften Wegen und haben den Weg verlassen, den ihnen meine Stimme weist. Die Sünde ist auf den Tellern, in den Betten, in den Herzen und in den Köpfen dieses Volkes, das mich zurückstößt und das überall seine eigene Unreinheit widergespiegelt sieht, selbst in mir, und sein Haß vertieft sich noch mehr, so daß es zu mir sagt: "Entferne dich, du Unreiner."

Was wird dann der sagen, der in seinem schönen, rot gefärbten Gewand kommt und in der Größe seiner Kraft einherschreitet? Wird er erfüllen, was Isaias sagt, und nicht schweigen, sondern in ihren Schoß ergießen, was sie verdienen? Nein! Zuerst muß er seine Kelter treten, ganz allein, von allen verlassen, um den Wein der Erlösung zu bereiten, den Wein, der die Gerechten berauscht, um aus ihnen Selige zu machen, den Wein, der die Schuldigen berauscht, um ihre gotteslästerliche Macht zu zerstören. Ja, mein Wein, der jetzt Stunde für Stunde an der Sonne der Ewigen Liebe heranreift, wird Verderbnis und Rettung für viele sein, wie es in einer Prophezeiung gesagt ist, die noch nicht geschrieben wurde, aber hinterlegt ist im Felsen ohne Spalt, aus dem der Weinstock, der den Wein des ewigen Lebens gibt, entsprungen ist.

Versteht ihr mich? Nein! Ihr versteht mich nicht, o ihr Gelehrten Israels, aber es ist nicht wichtig, daß ihr mich versteht. Auf euch steigt die Finsternis herab, von der Isaias spricht: "Sie haben Augen und sehen nicht. Sie haben Ohren und hören nicht." Ihr schirmt mit euerem Neid das Licht ab, auf daß man sagen kann: Das Licht ist von der Finsternis zurückgewiesen worden, und die Welt hat es nicht erkennen wollen.

Ihr aber, frohlockt! Ihr, die ihr in Finsternis weilend, an das Licht zu glauben verstanden habt, das euch angekündigt wurde, ihr, die ihr euch nach ihm gesehnt habt, die ihr es gesucht und gefunden habt. Frohlocke, o Volk der Gläubigen, das du über Berge, Flüsse, Täler und Seen zum Heil gekommen bist, ohne die Mühe des weiten Weges zu scheuen. So wirst du auch den anderen, den geistigen Weg gehen, der dich, o Volk von Bozrah, aus dem Dunkel der Unwissenheit zum Licht der Weisheit führen wird.

Frohlocke, du Volk der Hauraniter! Frohlocke in der Freude der Erkenntnis! Wahrlich, auch von dir und deinen Nachbarvölkern ist gesagt, was der Prophet singt, daß sich eure Kamele und Dromedare auf den Wegen von Nephthali und Zabulon in Massen drängen werden, um den wahren Gott anzubeten und um seine Knechte zu sein, im heiligen und süßen Gesetz, das nichts weiter auferlegt, um göttliche Vaterschaft und ewige Seligkeit zu schenken, als die zehn Gebote des Herrn: den wahren Gott mit seinem ganzen Wesen lieben und den Nächsten wie sich selbst; den Sabbat achten, ohne ihn zu entweihen; die Eltern ehren; nicht töten; nicht stehlen; keinen Ehebruch begehen; kein falsches Zeugnis ablegen;

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nicht nach des Nächsten Frau oder Hab und Gut verlangen. Oh, selig ihr, wenn ihr, von weitem kommend, jene übertreffen werdet, die im Haus des Herrn waren und es verlassen haben, angespornt von den zehn Geboten Satans: des Hasses gegen Gott, der Eigenliebe, der Verachtung des Gottesdienstes, der Härte gegen die Eltern, der Mordgier, der Seelenverderbnis, der Unzucht mit Satan, des falschen Zeugnisses, des Neides auf die Person und die Sendung des Wortes, und der schrecklichen Sünde, die in der Tiefe der Herzen, allzu vieler Herzen, gärt und heranreift.

Jubelt, ihr Dürstenden! Jubelt, ihr Hungernden! Jubelt, ihr Betrübten! Wart ihr verstoßen? Geächtet? Verachtet? Wart ihr fremd? Kommt und frohlocket! Jetzt seid ihr es nicht mehr. Ich gebe euch Haus, Güter, Vaterschaft und Vaterland. Den Himmel gebe ich euch. Folgt mir nach, der ich Retter und Erlöser bin! Folgt mir nach, der ich das Leben bin. Folgt mir nach, der ich der bin, dem der Vater keine Gnade verweigert! Frohlocket in meiner Liebe! Frohlocket! Damit ihr seht, daß ich euch liebe, euch, die ihr mich mit euren Schmerzen gesucht habt, euch, die ihr an mich geglaubt habt, noch bevor ihr mich gekannt habt; und damit dieser Tag zu einem wahren Freudentag werde, bete ich so: "Vater! Heiliger Vater! Ober alle Wunden, Krankheiten, Ängste, Qualen, Gewissensbisse, über den entstehenden, den noch wankenden und den sich festigenden Glauben komme Heil, Gnade und Friede! Friede in meinem Namen! Gnade in deinem Namen! Heil ob unserer gegenseitigen Liebe! Segne sie, o Heiligster Vater! Sammle und vereinige sie zu einer einzigen Herde, sie, die deine und meine verlorenen Söhne sind. Gib, daß wo ich sein werde, auch sie seien, eins mit dir, Heiliger Vater, mit dir, mit mir und mit dem göttlichen Geist."»

Die wie eine Silbertrompete schallende Stimme Jesu erschüttert die Menge... Mit in Kreuzesform ausgebreiteten Armen, die Handflächen nach oben gerichtet und die Augen zum Himmel erhoben, bleibt Jesus einige Minuten schweigend stehen. Dann wendet er seine saphirblauen Augen vom Himmel auf den weiten Hof voller Menschen, die bewegt seufzen oder voller Hoffnung zittern. Er faltet die Hände und streckt sie nach vorne, und mit einem Lächeln, das ihn verklärt, hebt er zum letzten Ruf an: «Frohlocket, ihr, die ihr glaubt und hofft! Volk der Leidenden, auferstehe und liebe den Herrn, deinen Gott!»

Gleichzeitig sind alle Kranken vollständig geheilt. Ein allgemeines Freudengeschrei und ein Brausen von Stimmen jubelt dem Erlöser zu. Aus dem Hintergrund des Hofes, das Leintuch, mit dem sie bedeckt war, hinter sich herziehend, drängt sich eine Frau durch die Menge und fällt Jesus zu Füßen. Das Volk stößt nun einen Schrei des Entsetzens aus: «Maria, die aussätzige Frau Joachims ...» und sie entfliehen in alle Richtungen.

«Fürchtet euch nicht! Sie ist geheilt und auch die Berührung mit ihr

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kann euch nicht mehr schaden», versichert Jesus. Dann wendet er sich zu der vor ihm Liegenden: «Erhebe dich, Frau! Deine große Hoffnung ist belohnt worden, man verzeiht dir die Unvorsichtigkeit deinen Brüdern gegenüber. Kehre nach den heilsamen Reinigungen nach Hause zurück.»

Die junge und noch schöne Frau weint, während sie sich erhebt. Jesus zeigt sie dem Volk, das nun wieder näherkommt, das Wunder bestaunt und seine Bewunderung durch Ausrufe kundgibt.

«Ihr Mann, der sie über alles liebte, hatte ihr einen Unterschlupf an der Grenze seines Besitzes erbaut und ging jeden Abend zu diesem abgelegenen Ort und brachte ihr weinend Nahrung...»

«Sie erkrankte ihrer Barmherzigkeit wegen, da sie einen Bettler pflegte, der seinen Aussatz verschwiegen hatte.»

«Aber wie ist die gute Maria denn hierhergekommen?»

«Auf der Bahre dort. Warum haben wir übersehen, daß zwei Diener Joachims sie getragen haben?»

«Sie sind auf die Gefahr hin gekommen, dafür gesteinigt zu werden.»

«Ihre Herrin! Sie lieben sie mehr als sich selbst...»

Jesus gibt ein Zeichen, und alle schweigen. «Ihr seht, wie Liebe und Güte Wunder und Freude erzeugen. Lernt also, gut zu sein. Geh nun, Frau! Niemand wird dir Böses tun. Der Friede sei mit dir und mit deinem Haus.» Die Frau verläßt den Hof, gefolgt von den Dienern, die die Bahre im Hof verbrannt haben, und von vielen anderen Menschen.

Jesus entläßt die Menge, nachdem er einige angehört hat, und zieht sich mit den Seinen ins Haus zurück.

«Welche Worte, Meister!»

«Wie warst du verklärt!»

«Welche Stimme!»

«Und welche Wunder!»

«Hast du gesehen, wie die Pharisäer geflohen sind?»

«Sie sind schon nach den ersten Worten wie zwei grüne Eidechsen davongeschlichen. Jene von Bozrah und den umliegenden Ortschaften werden ein strahlendes Andenken an dich bewahren...»

«Mutter, und was sagst du?»

«Ich segne dich, mein Sohn! Für mich und für alle.»

«Dein Segen wird mich begleiten, bis wir uns wiederfinden.»

«Warum sagst du das, Herr? Werden uns die Frauen verlassen?»

«Ja, Simon! Alexander wird in der ersten Morgendämmerung nach Aera abreisen. Wir werden ihn bis zur Straße nach Arbela begleiten und uns dann von ihm trennen. Es wird schmerzlich sein, glaube es mir, Alexander Misaze, der du ein so höflicher Führer des Pilgers gewesen bist. Ich werde deiner stets gedenken, Alexander!»

Der Alte ist gerührt. Er steht mit über der Brust gekreuzten Armen ein wenig gebeugt, in orientalischer Grußhaltung, vor Jesus. Aber auf diese

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Worte erwidert er: «Vor allem gedenke meiner, wenn du in deinem Reich sein wirst.»

«Verlangst du danach, Misaze?»

«Ja, mein Herr!»

«Auch ich möchte etwas von dir.»

«Was, Herr? Wenn ich kann, werde ich es dir geben! Selbst wenn es das Kostbarste wäre, was ich besitze.»

«Es ist das Wertvollste. Deine Seele will ich. Komm zu mir. Ich habe dir schon zu Beginn der Reise gesagt, daß ich hoffe, dir am Schluß ein Geschenk machen zu können. Das Geschenk ist der Glaube! Glaubst du an mich, Misaze?»

«Ich glaube, Herr.»

«Dann heilige deine Seele, auf daß der Glaube für dich nicht ein nutzloses Geschenk sei oder dir sogar zum Schaden gereiche.»

«Meine Seele ist alt. Aber ich will mich bemühen, sie zu erneuern. Herr, ich bin ein alter Sünder, aber sprich mich los und segne mich, damit ich von jetzt an ein neues Leben beginne. Ich werde deinen Segen mitnehmen als das beste Geleit auf meinem Weg zu deinem Reich... Werden wir uns nie wiedersehen, Herr?»

«Nie mehr auf dieser Erde. Aber du wirst von mir hören und noch tiefer glauben, denn ich werde dich nicht ohne die Frohe Botschaft lassen. Leb wohl, Misaze! Morgen werden wir wenig Zeit haben, uns zu verabschieden. Wir wollen es jetzt tun, bevor wir zum letztenmal miteinander speisen.»

Er umarmt und küßt ihn. Auch die Apostel und die Jünger tun es. Die Frauen verabschieden sich mit einem einzigen gemeinsamen Gruß. Aber Misaze kniet fast vor Maria nieder und sagt: «Dein Licht des reinen Morgensternes möge in meinen Gedanken bis zum Tod leuchten!»

«Bis zum ewigen Leben, Alexander! Liebe meinen Sohn, so wirst du mich lieben, und ich werde dich lieben!»

Simon Petrus fragt: «Gehen wir denn von Arbela nach Aera? Ich habe Angst, daß uns schlechtes Wetter überraschen wird. Es ist sehr neblig... Schon seit drei Tagen haben wir im Morgengrauen und bei Sonnenuntergang Nebel...»

«Hast du nicht gemerkt, daß wir weit hinabgestiegen sind? Aber es ist so. Von morgen an werdet ihr auf die Berge der Dekapolis steigen und keinem Nebel mehr begegnen», erklärt Misaze.

«Hinabgestiegen? Wann denn? Der Weg war doch eben...»

«Ja, so schien es. Aber es war ein stetiger Abstieg. Ein allmählicher, so daß man es nicht bemerkte. Und über viele Meilen ...»

«Wann werden wir in Arbela ankommen?»

«Du, Jakobus und Judas... in knapp einer Stunde», sagt Jesus bestimmt.

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«Ich... Jakobus und Judas in knapp einer Stunde? Wohin gehe ich denn, wenn ich nicht bei euch allen bleibe?»

«Bis zu den Ländereien, deren Verwalter Chuza ist. Du wirst meine Mutter und die Frauen mit den anderen beiden dorthin begleiten. Dann werden sie mit den Dienern Johannas weitergehen, und ihr werdet zurückkehren und mich in Aera wieder einholen.»

«Oh, Herr! Du zürnst mir und bestrafst mich... Welch einen Schmerz du mir doch bereitest, o Herr!»

«Simon, man fühlt sich bestraft, wenn man sich schuldig fühlt. Dieses Schuldbewußtsein muß schmerzen, nicht die Strafe an sich. Doch ich glaube nicht, daß es eine Strafe ist, meine Mutter und die Jüngerinnen auf dem Rückweg zu begleiten.»

«Aber wäre es nicht besser, wenn auch du mit uns kommen würdest?»

«Ich habe versprochen, dorthin zu gehen, und ich gehe.»

«Dann werde auch ich mitkommen.»

«Du gehorchst, wie dies auch meine Brüder widerspruchslos tun.»

«Und wenn du den Pharisäern begegnest?»

«Dann wärest du gewiß nicht der Geeignetste, um sie zu bekehren. Aber gerade, weil ich sie dort treffe, will ich, daß du, Jakobus und Judas uns noch vor Arbela mit den Frauen, Johannes von Endor und Margziam verläßt.»

«Ach so... Ich verstehe! Also gut.»

Jesus wendet sich den Frauen zu, segnet eine nach der anderen und gibt jeder die passenden Ratschläge.

Magdalena fragt, während sie die Füße ihres Erlösers küßt: «Werde ich dich noch vor der Rückkehr nach Bethanien wiedersehen?»

«Ohne Zweifel, Maria! Im Etanim werde ich am See sein.»

337. DER ABSCHIED VON DEN JÜNGERINNEN

Die Aufmerksamkeit Misazes offenbart sich am nächsten Morgen während der ersten Kilometer des Weges: er hat die Lasten auf den Kamelen so anordnen lassen, daß sie eine bequeme Liege für unerfahrene Reiter abgeben. Es ist lustig zu sehen, wie zwischen Bündeln und Kisten braune oder blonde Köpfe von Männern mit bis zu den Ohren reichenden Haaren und die zu Haarknäueln gebundenen Zöpfe unter den Schleiern der Frauen hervorschauen. Immer wieder weht ein Luftzug, den die schnelle Gangart der Kamele verursacht, die Schleier nach hinten, und die goldfarbenen Haare Maria Magdalenas oder die zartblonden der seligsten Jungfrau glänzen in der Sonne, während die dunklen oder fast schwarzen Köpfe Johannas, Syntyches, Marthas, Marcellas, Susannas und Saras Reflexe

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von Indigo oder dunkler Bronze annehmen. Die grauen Häupter Elisas, Salomes und Maria Kleophäs scheinen unter der hellen, wärmenden Sonne mit Silber bestäubt zu sein.

Die Männer reiten auf dem neuen Transportmittel wacker voran, und Margziam lacht glücklich. Wenn man sich umwendet und Bozrah mit seinen Türmen, den hohen Häusern und seinem Straßengewirr in der Tiefe erblickt, wird man gewahr, daß der Kaufmann recht hatte. Leichte Hügel zeigen sich in nordwestlicher Richtung, und an ihrem Fuße verläuft der Weg nach Aera. Dort hält die Karawane an, um die Pilger absteigen zu lassen und sich von ihnen zu trennen.

Die Kamele knien mit lautem Geknurre nieder, das mehr als eine Frau aufschreien läßt. Ich sehe nun, daß die Frauen zur Sicherheit mit Gurten an den Sätteln festgebunden waren. Sie steigen etwas benommen von dem Geschaukel, aber ausgeruht herunter.

Auch Misaze, der Margziam bei sich auf dem Sattel hatte, steigt ab, und während die Kameltreiber die Lasten in gewohnter Weise verteilen, nähert er sich Jesus zu einem letzten Abschiedsgruß.

«Ich danke dir, Misaze! Du hast uns viel Mühe und Zeit erspart.»

«Ja. Mehr als zwanzig Meilen haben wir in kurzer Zeit zurückgelegt. Die Kamele haben lange Beine, wenn ihr Gang auch nicht sehr angenehm ist. Ich hoffe, daß die Frauen dabei nicht zu sehr gelitten haben.»

Die Frauen versichern alle, daß sie wohl ausgeruht sind und keine Schmerzen haben.

«Nun seid ihr sechs Meilen von Arbela entfernt. Der Himmel möge euch begleiten und euch einen angenehmen Weg schenken. Auf Wiedersehen, mein Herr! Erinnere dich meiner.» Misaze küßt die Füße Jesu und besteigt dann wieder sein Kamel. Sein "Krrr, Krrr" läßt die Kamele aufstehen, und die Karawane eilt im Galopp in Staubwolken auf der ebenen Straße davon.

«Ein guter Mensch! Wir haben blaue Flecken bekommen, doch unsere Füße haben sich ausgeruht. Welche Stöße! Schlimmer als ein stürmischer Nordwind auf dem See! Ihr lacht? Ich hatte keine Kissen wie die Frauen. Es lebe mein Boot! Es ist immer noch das sauberste und sicherste Transportmittel. Nun wollen wir unsere Säcke auf den Rücken nehmen und losmarschieren.»

Es entsteht ein wahrer Wettstreit. Jeder will sich die größte Last aufladen. Aber die, die bei Jesus bleiben, gewinnen, also Matthäus, der Zelote, Jakobus, Johannes, Ermastheus und Timoneus, die alles an sich nehmen, um die drei zu schonen, die mit den Frauen gehen, oder besser die vier, denn auch Johannes von Endor ist unter ihnen. Doch seine Hilfe ist infolge seiner schwachen Gesundheit nur gering.

Einige Kilometer sind rasch zurückgelegt. Nachdem sie die Höhe des sanften Hügels erreicht haben, der nach Westen einen Windfang bildet,

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tut sich vor ihnen eine fruchtbare Ebene auf, umgeben von einem Hügelkranz, in dessen Mitte sich ein langgezogener, alleinstehender Hügel befindet. In der Ebene liegt eine Stadt: Arbela.

Sie gehen hinab und sind bald unten angelangt. Nachdem sie noch eine kurze Strecke zurückgelegt haben, bleibt Jesus stehen und sagt: «Jetzt ist die Stunde des Abschieds gekommen. Wir wollen zusammen essen und uns dann trennen. Das ist der Scheideweg nach Gadara. Ihr müßt diesen Weg einschlagen. Es ist der kürzeste, und so werdet ihr, noch bevor der Abend hereinbricht, in dem Gebiet sein, das Chuza verwaltet.»

Die Begeisterung ist nicht sehr groß... Doch sie gehorchen. Während sie essen, sagt Margziam: «Nun ist es auch Zeit, daß ich dir diese Börse gebe. Ich habe sie vom Kaufmann bekommen, als ich bei ihm im Sattel saß. Er hat mir gesagt: "Gib sie Jesus, bevor du dich von ihm trennst, und sage ihm, daß er mich lieben soll, wie er dich liebt." Da ist sie. Sie hat mich unter dem Gewand gedrückt. Sie scheint voller Steine zu sein.»

«Laß sehen, laß sehen! Geld wiegt schwer.»

Alle sind neugierig. Jesus löst die Lederriemen, die die Tasche aus Gazellenleder, wie mir scheint, zusammenhalten, und schüttet den Inhalt auf seinen Schoß. Geldstücke rollen heraus. Aber das ist das Wenigste. Viele Säckchen aus feinstem Byssus kommen zum Vorschein: kleine, mit Faden zugebundene Säckchen. Leuchtende Farben schimmern durch das feine Linnen, und die Sonne scheint ein Feuerchen in diesen Bündeln zu entzünden, als wären es glühende Kohlen unter einem Schleier von Asche.

«Was ist das? Was ist das? Mach auf, Meister!»

Alle sind über Jesus gebeugt, der sehr ruhig den Knoten des ersten Bündelchens löst: noch ungeschliffene Topase verschiedener Größe glänzen in der Sonne. Ein anderes Bündelchen ist mit Rubinen gefüllt: Tropfen geronnenen Blutes. Ein anderes enthält kostbare Strahlen grüner Smaragdsplitter, ein anderes himmelblaue Splitter reinster Saphire; ein anderes zarte Amethyste, eine anderes indigoviolette Berylle; ein weiteres schwarzglänzende Onyxe... und so weiter: zwölf Bündelchen. Im letzten, dem schwersten, das von Gold und Chrysolithen glitzert, ein kleiner Pergamentstreifen: «Für den Herrscherstab des wahren Hohepriesters und Königs.»

Der Schoß Jesu ist ein kleiner Rasen, auf dem leuchtende Blütenblätter verstreut sind... Die Apostel tauchen die Hände in dieses Licht, das zu vielfarbiger Materie geworden ist. Sie sind sprachlos... Petrus flüstert: «Wenn Judas von Kerioth hier wäre ... ?»

«Schweig! Es ist besser, daß er nicht da ist», sagt Thaddäus entschieden.

Jesus bittet um ein Stück Stoff, um mit den Edelsteinen ein einziges Bündel zu machen, und während noch Bemerkungen fallen, denkt er nach.

Die Apostel sagen: «Dieser Mann muß sehr reich sein!» Und Petrus

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bringt alle zum Lachen, als er bemerkt: «Wir sind auf einem Thron Von Edelsteinen geritten. Ich glaubte nicht, auf einem solchen Glanz zu sitzen. Wenn er nur etwas weicher gewesen wäre! Was wirst du damit tun?»

«Ich verkaufe sie für die Armen.» Er erhebt die Augen und schaut mit einem Lächeln zu den Frauen hin.

«Und wo findest du hier einen Juwelier, der dir diese Sachen abkauft?»

«Wo? Hier. Johanna, Martha und Maria, wollt ihr meinen Schatz kaufen?»

Die drei Frauen sagen ohne zu überlegen wie aus einem Mund: «Ja!»Doch Martha fügt hinzu: «Wir haben nur wenig Geld bei uns.»

«Ihr werdet es mir bei Neumond in Magdala geben.»

«Wieviel willst du haben, Herr?»

«Für mich nichts. Für meine Armen viel.»

«Gib her! Du wirst viel bekommen», sagt Magdalena, nimmt die Börse und versteckt sie am Busen.

Jesus behält nur die Münzen zurück. Er steht auf und küßt die Mutter, die Tante, die Vettern, Petrus, Johannes von Endor und Margziam. Er segnet die Frauen und entläßt sie. Diese brechen auf und wenden sich immer wieder um, bis sie hinter einer Wegbiegung verschwinden.

Jesus geht mit den übrigen nach Arbela. Die Gruppe besteht nur noch aus acht Personen. Sie gehen eilends und schweigsam auf die immer näherrückende Stadt zu.

338. IN ARBELA

Schon als sie die erste Bewohnerin nach Philippus des Jakob fragen, stellen sie fest, wieviel der jugendliche Jünger gearbeitet hat. Die Befragte, eine kleine, runzlige Greisin, die mit Mühe einen gefüllten Wasserkrug trägt, richtet ihre durch das Alter eingefallenen Äuglein auf das schöne Antlitz des Johannes. Er hat sie mit einem so freundlichen: «Der Friede sei mit dir!» begrüßt, daß die Alte sogleich fragt: «Bist du der Messias ?»

«Nein! Aber einer seiner Apostel. Der ist es, der da kommt.»

Die Alte stellt ihren Krug auf den Boden und geht mühsam in die angedeutete Richtung, um alsdann vor Jesus niederzuknien.

Johannes, der mit Simon vor dem Krug stehengeblieben ist, der beinahe umgefallen wäre und dabei fast die Hälfte seines Inhaltes verloren hat, lächelt dem Kameraden zu und sagt: «Es wäre gut, wenn wir den Krug nähmen und der Alten nachgehen würden.» Und er tut es, während sein Begleiter hinzufügt: «Ja, eine Gelegenheit, den großen Durst aller zu löschen. Wir alle sind durstig!»

Die Greisin weiß nicht recht, was sie sagen soll, als sie sie eingeholt

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haben, und immer wiederholt sie: «Schöner Sohn der heiligsten Mutter!» Auf den Knien trinkt sie mit den Augen die herrliche Gestalt Jesu, der lächelnd seinerseits wiederholt: «Steh auf, Mutter! Steh doch auf!» Johannes wendet sich der Greisin zu und sagt: «Wir haben dir deinen Krug genommen. Er ist fast umgefallen, und es ist nur noch wenig Wasser darin. Aber wenn du erlaubst, werden wir das Wasser trinken und dir den Krug aufs neue füllen.»

«Ja, Kinder, ja! Es tut mir leid, daß ich nur Wasser für euch habe. Milch, wie ich sie in meiner Brust hatte, als ich meinen Judas nährte, möchte ich haben, um euch die süßeste Gabe, die es auf der Welt gibt, zu geben: Muttermilch! Wein möchte ich haben, den auserlesensten, um euch zu laben. Aber Marianna des Elisäus ist alt und arm...»

«Dein Wasser ist für mich Wein und Milch, Mutter, denn es ist mit Liebe gegeben», antwortet Jesus und trinkt als erster aus dem Krug, den Johannes ihm reicht. Dann trinken die anderen.

Die Alte, die sich endlich erhoben hat, schaut auf sie, als ob sie das Paradies betrachte, und da sie sieht, daß man, nachdem alle getrunken haben, den Rest des Wassers ausgießen will, um zum Brunnen zu gehen, der am Straßenende plätschert, stürzt sie sich auf den Krug, verteidigt ihn und sagt: «Nein, nein! Heiliger als geweihtes Wasser ist dieses, von dem Er getrunken hat. Ich werde es sorgfältig aufbewahren, um mich nach meinem Tod damit reinigen zu lassen.» Sie ergreift ihren Krug mit den Worten: «Den nehme ich mit nach Hause. Ich habe noch andere Krüge, die ich füllen kann. Aber zuerst komme du, Heiliger, damit ich dir das Haus des Philippus zeige.» Und sie trippelt rasch, wenn auch gebückt, davon, mit einem Lächeln auf dem runzligen Gesicht und Freude in den Äuglein. Sie geht mit einem Zipfel des Mantels Jesu zwischen den Fingern, als fürchte sie, er könne entfliehen, und verteidigt ihren Krug gegen das Drängen der Apostel, die ihr diese Last abnehmen möchten. Sie trippelt selig dahin und schaut dabei mit dem Blick eines Eroberers, der glücklich über seinen Sieg ist, auf die verlassene Straße und die verschlossenen Häuser von Arbela.

Endlich, als sie aus einer Seitenstraße in eine Hauptstraße gelangen, auf der viele Menschen sind, die sich nach Hause begeben, ruft sie: «Ich habe den Messias des Philippus bei mir. Geht und sagt überall Bescheid, zuerst im Haus des Jakob, damit sich alle vorbereiten, den Heiligen zu ehren.» Sie schreit so sehr, daß sie außer Atem kommt, doch sie weiß sich Gehör zu verschaffen. Arme, einfache, einsame, unbekannte Greisin, es ist ihre Stunde des Befehlens. Nun sieht sie eine ganze Stadt in Bewegung auf ihren Aufruf hin.

Jesus, viel größer als sie, lächelt ihr zu, wenn sie ihn hin und wieder anblickt, legt ihr eine Hand aufs Haupt und streichelt sie wie ein Sohn, was die alte Frau überglücklich macht.

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Das Haus des Jakob liegt in einer Straße im Zentrum. Es ist offen und hell erleuchtet, und man sieht vom Tor aus eine lange Halle, in der sich Leute mit Lichtern bewegen, die festlich herauseilen, als sie Jesus auf der Straße entdecken: der jugendliche Jünger Philippus, dann die Mutter und der Vater, die Verwandten, die Diener und die Freunde.

Jesus bleibt stehen und beantwortet majestätisch den tiefen Gruß Jakobs, dann verneigt er sich vor der Mutter des Philippus, die ihm kniend huldigt, und läßt sie aufstehen, während er sie segnet und zu ihr sagt: «Sei immer glücklich über deinen Glauben!»

Darauf grüßt er den Jünger und einen anderen, der bei ihm ist.

Die alte Marianna läßt trotz alledem den Zipfel des Mantels nicht los und verläßt ihren Platz an der Seite Jesu nicht, bevor sie nicht die Vorhalle betreten haben. Dann seufzt sie: «Einen Segen, damit auch ich glücklich bin! Nun bist du hier... Ich werde in mein armes Haus zurückkehren, und die Freude ist zu Ende!» Wieviel Bedauern liegt in der alten Stimme!

Jakob, dem die Frau einige Worte zugeflüstert hat, sagt: «Nein, Marianna des Elisäus. Bleibe auch du in meinem Haus, als ob du eine Jüngerin wärest. Bleibe bei uns, solange der Meister da ist, und sei mit uns glücklich.»

«Gott möge dich segnen, Mann! Du hast verstanden, was Nächstenliebe ist.»

«Meister, sie hat dich in mein Haus geführt. Du hast mir Gnade und Liebe erwiesen. Ich will dies nur vergelten, wenn auch in geringerem Maß im Vergleich zu dem, was ich von dir und von ihr empfangen habe. Komm herein, kommt herein, mein Haus möge euch gastlich sein.»

Die Leute auf der Straße sehen sie eintreten und schreien: «Und wir? Wir wollen seine Worte hören.»

Jesus wendet sich um: «Es ist Nacht. Ihr seid müde. Bereitet eure Seele durch eine heilige Ruhe vor, und morgen werdet ihr die Stimme Gottes hören. Mein Friede und mein Segen seien mit euch.» Das Tor schließt sich und verbirgt das Glück dieses Hauses.

Jakobus des Zebedäus macht den Herrn auf etwas aufmerksam, während sie sich von der Reise reinigen: «Vielleicht wäre es besser, sofort zu sprechen und bei Sonnenaufgang abzureisen. Die Pharisäer sind in der Stadt. Philippus hat es mir gesagt. Sie werden dich belästigen.»

«Die, die sie belästigen könnten, sind weit entfernt. Die Unannehmlichkeiten, die sie mir bereiten können, sind belanglos. Die Liebe hebt sie auf.»

Am folgenden Morgen. Die Angehörigen des Philippus und die Apostel kommen feierlich aus dem Haus, die Alte hinterher. Die Begegnung mit den Leuten von Arbela, die geduldig warten, findet statt. Dann begeben sich alle zum Hauptplatz, wo Jesus zu sprechen beginnt.

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«im achten Kapitel des zweiten Buches Esdras lesen wir: "Als der siebte Monat gekommen war..." (Jesus sagt mir: "Füge nichts weiter hinzu. Ich wiederhole den Text des Buches.")

Wann sagt man, daß ein Volk heimkehrt? Wenn es zu den Ländereien seiner Väter zurückkehrt. Ich komme, um euch in die Ländereien eures Vaters, in das Reich des Vaters zurückzuführen. Ich kann es, denn dazu bin ich gesandt worden. Ich komme, euch in das Reich Gottes zu führen, und darum ist es recht, euch mit den durch Zorobabel nach Jerusalern, der Stadt des Herrn, Zurückgeführten zu vergleichen, und es ist recht, mit euch zu verfahren wie Esdras, der Schreiber, es mit dem Volk tat, als es von neuem in den heiligen Mauern versammelt war. Denn eine Stadt wiederaufzubauen und sie dem Herrn zu weihen, aber die Seelen nicht wiederaufzubauen, die ebenso vielen kleinen Städten Gottes gleichen, ist eine Torheit ohnegleichen.

Wie aber kann man diese kleinen geistigen Städte wiederaufbauen, die aus so vielen Gründen verfallen sind? Welche Materialien soll man verwenden, um sie fest, schön und dauerhaft zu gestalten?

Den Grundstoff bilden die Gebote des Herrn, die Zehn Gebote, und ihr kennt sie, weil Philippus, euer Sohn und mein Jünger, sie euch in Erinnerung gerufen hat. Die beiden heiligsten unter den heiligen Geboten sind: "Liebe Gott mit deinem ganzen Sein. Liebe den Nächsten wie dich selbst." Sie sind eine Zusammenfassung des Gesetzes, und sie verkündige ich, denn mit ihnen wird das Reich Gottes sicher erobert. In der Liebe findet man die Kraft, sich heilig zu bewahren oder heilig zu werden, die Kraft der Verzeihung, die Kraft des Heldenmutes in den Tugenden. Alles findet man in der Liebe.

Nicht die Furcht ist es, die rettet. Die Furcht vor dem Gericht Gottes, die Angst vor den Strafen der Menschen, die Furcht vor Krankheiten. Die Furcht ist nie aufbauend. Sie zerbröckelt, zersetzt, verwüstet und zerstört. Die Furcht führt zur Verzweiflung und zur Arglist, um das Böse zu verdecken. Sie führt dazu, daß man etwas befürchtet, obwohl die Befürchtung überflüssig ist, da man das Böse schon in sich hat. Wer denkt, solange er gesund ist daran, klug zu handeln und den Körper zu schonen? Niemand. Aber sobald uns das erste Fieber schüttelt oder ein Fleck auf der Haut erscheint, der unreine Krankheiten vermuten läßt, kommt die Furcht, um die Qual der Krankheit noch zu steigern, um noch weitere zersetzende Kräfte im Körper, den die Krankheit schon verzehrt, zu bilden.

Die Liebe hingegen ist konstruktiv. Sie baut auf, befestigt, hält zusammen, bewahrt. Die Liebe bringt Hoffnung auf Gott. Die Liebe verscheucht die Übeltaten. Die Liebe führt den Menschen zur Klugheit seinem eigenen Körper gegenüber; denn der Mensch ist nicht der Mittelpunkt des Universums, wie die Egoisten glauben und entsprechend handeln, da sie nur einen Teil ihrer selbst lieben: den unedleren, zum Nachteil

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des Unsterblichen und Heiligen; aber der Mensch soll seinen Körper gesund erhalten, bis es Gott anders gefällt, damit er sich selbst, seinen Verwandten, seiner eigenen Stadt und der ganzen Nation nützlich erweise. Es ist unvermeidlich, daß Krankheiten entstehen. Es ist auch nicht gesagt, daß jede Krankheit ein Beweis für Laster oder Strafe sei.

Es gibt heilige Krankheiten, die der Herr seinen Gerechten schickt, weil in der selbstsüchtigen Welt, die nur das Vergnügen kennt, Heilige sein müssen, die, wie die Geiseln im Krieg, zur Rettung anderer bestimmt sind. Diese müssen mit ihrer Person bezahlen, damit durch ihre Leiden die Schuld gesühnt werde, die die Welt täglich auf sich lädt und die die Menschheit schließlich zusammenbrechen lassen und unter ihrem Fluch begraben würde. Erinnert ihr euch des alten Moses, der betete, während Josue im Namen des Herrn kämpfte? Ihr müßt bedenken, daß der, der heiligmäßig leidet, dem grausamsten Krieger, der auf der Welt in der Gestalt von Menschen und Völkern verborgen ist, Satan, dem Seelenmörder, dem Ursprung alles Bösen, die größte Schlacht liefert. Doch wie verschieden sind die heiligen Krankheiten, die Gott schickt, von jenen, die das Laster einer sündhaften, sinnlichen Liebe mit sich bringt! Die ersten sind Beweise der wohlmeinenden Liebe Gottes, die zweiten Beweise der satanischen Verderbnis.

Man muß lieben, um heilig zu sein, denn die Liebe schafft, bewahrt und heiligt.

Auch ich sage euch mit der Verkündung dieser Wahrheit, wie Nehemias und Esdras: "Dieser Tag ist dem Herrn, unserem Gott, geweiht. Seid nicht traurig und weint nicht."

Denn jede Trauer schwindet, wenn man den Tag des Herrn feiert. Der Tod verliert seine Bitterkeit, denn der Verlust eines Kindes, eines Gatten, eines Vaters, einer Mutter oder eines Bruders führt nur zu einer vorübergehenden und begrenzten Trennung. Einer vorübergehenden, denn durch unseren Tod hat sie ein Ende, und begrenzt ist sie, weil die Trennung sich auf den Körper und auf die Sinne beschränkt. Die Seele verliert nichts durch den Tod des dahingeschiedenen Verwandten, denn die Seele des Verstorbenen besitzt uns sogar mehr und kann besser über uns wachen, als ihr das früher möglich war, als sie vom Gefängnis des Körpers aus liebte.

Ich sage euch wie Nehemias und Esdras: "Gehet hin und eßt fettes Fleisch und trinket süßen Wein und gebt jenen, die nichts haben, zu essen, denn der dem Herrn heilige Tag ist gekommen, und niemand soll an diesem Tag Not leiden. Seid nicht betrübt, denn die Freude des Herrn, der unter euch ist, ist die Kraft dessen, der die Gnade des Allerhöchsten, des Herrn, in den eigenen Mauern und im eigenen Herzen empfängt.»

Ihr könnt keine Zelte mehr errichten, denn ihre Zeit ist vorüber. Doch errichtet sie geistigerweise in euren Herzen. Besteigt den Berg, das heißt:

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strebt nach Vollkommenheit. Pflückt Zweige vom Ölbaum, von der Myrte, der Palme, der Eiche, vom Ysop und von jeder schönen Pflanze. Zweige der Tugenden des Friedens, der Reinheit, des Heroismus, der Abtötung, der Stärke, der Hoffnung, der Gerechtigkeit, aller Tugenden. Schmückt eure Seele und feiert das Fest des Herrn. Seine Zelte erwarten euch, und sie sind schön, heilig, ewig und allen geöffnet, die im Herrn leben. Und zusammen mit mir nehmet euch heute vor, Buße zu tun wegen der Vergangenheit und ein neues Leben zu beginnen.

Habt keine Furcht vor dem Herrn, Er ruft euch, weil er euch liebt. Fürchtet euch nicht. Ihr seid seine Söhne wie ein jeder aus Israel. Auch für euch hat er die Welt und den Himmel erschaffen, Abraham und Moses erweckt, das Meer geteilt und die Wolke als Wegweiserin gegeben, ist er vom Himmel herabgekommen, um das Gesetz zu geben, hat die Wolken geöffnet, damit es Manna regne und hat Wasser aus dem Felsen entspringen lassen. Jetzt, oh! Jetzt schickt er euch das lebendige Brot des Himmels für euren Hunger, den wahren Weinstock und die Quelle des ewigen Lebens für euren Durst, und durch meinen Mund sagt er zu euch: "Betretet das Land, über das ich die Hand ausgestreckt habe, um es euch zu geben." Mein geistiges Reich, das Reich des Himmels.»

Die Menge redet begeistert untereinander... Dann kommen die Kranken. Viele Kranke! Jesus läßt sie in zwei Reihen aufstellen, und während das geschieht, fragt er Philippus von Arbela: «Warum hast du sie nicht geheilt?»

«Damit sie erhalten, was ich erhalten habe: die Heilung durch deine Hand.»

Jesus begibt sich segnend vom einen zum anderen, und die gewohnten Wunder wiederholen sich: Blinde sehen, Lahme gehen, Stumme reden, Gebeugte richten sich auf, das Fieber fällt und die Schwäche vergeht.

Die Heilungen sind beendet. Nach dem letzten Kranken kommen die beiden Pharisäer, die nach Bozrah gegangen waren, und zwei weitere.

«Der Friede sei mit dir, Meister, und zu uns sagst du nichts?»

«Ich habe für alle gesprochen.»

«Aber wir haben diese Worte nicht nötig. Wir sind die Heiligen Israels.»

«Euch, die ihr Lehrer seid, sage ich: legt für euch das Kapitel aus, das folgt, das neunte des zweiten Buches Esdras, und denkt daran, wie oft Gott euch Barmherzigkeit erwiesen hat; schlagt an eure Brust und sprecht, als ob es ein Gebet wäre, den Abschluß des Kapitels.»

«Gut gesagt, gut gesagt, Meister; und werden das auch deine Jünger tun ?»

«Ja. Das verlange ich zuallererst.»

«Alle? Auch die Mörder, die in deinen Reihen sind?»

« Reizt euch der Geruch des Blutes?»

«Es ist eine Stimme, die zum Himmel schreit.»

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«Gebt acht, daß ihr es nicht macht wie die, die es vergießen.»

«Wir sind keine Mörder!»

Jesus blickt sie mit durchbohrenden Augen an. Sie wagen zunächst kein Wort zu sagen, sondern schließen sich der Gruppe an, die zum Haus des Philippus zurückkehrt, der sich verpflichtet fühlt, sie einzuladen, am Festmahl teilzunehmen.

«Gerne, sehr gerne! So werden wir länger in der Nähe des Meisters sein», sagen sie und verbeugen sich tief.

Doch als sie im Haus sind, benehmen sie sich wie Spione... Sie schauen umher, sie spähen, stellen hinterhältige Fragen an die Diener und sogar an die kleine Alte, die von Jesus angezogen zu sein scheint wie das Eisen vom Magnet. Doch sie antwortet flink: «Ich habe gestern nur diese gesehen. Ihr träumt! Ich habe sie hierher begleitet, und kein anderer Johannes war dabei als jener blonde Jüngling, der so gut wie ein Engel ist.»

Sie blitzen das Großmütterchen unter Verwünschungen an und wenden sich anderswohin. Doch ein Diener, der neben dem Hausherrn sitzt und mit ihm spricht, neigt sich über Jesus und fragt: «Wo ist Johannes von Endor? Dieser Herr sucht ihn.»

Der Pharisäer blickt den Diener an und schimpft ihn einen Dummkopf. Aber Jesus kennt nun ihre Absichten und sucht so gut als möglich auszuweichen.

Der Pharisäer sagt: «Es war nur, um dich zu beglückwünschen, Meister, und dich durch den Bekehrten zu ehren.»

«Johannes ist für immer fern und wird es immer mehr sein.»

«Ist er wieder in die Sünde zurückgefallen?»

«Nein, er ist daran, zum Himmel aufzusteigen. Macht es ihm nach, und ihr werdet ihn im anderen Leben wiederfinden.»

Die Vier wissen nicht mehr, was sie sagen sollen, und vorsichtig wechseln sie das Thema. Die Diener verkünden, daß die Tische gedeckt sind, und alle begeben sich in den Speiseraum.

339. AUF DEM WEG NACH AERA

Auch Arbela ist nun fern. In der Gruppe um Jesus sind jetzt Philippus von Arbela und der andere Jünger, den ich Markus nennen höre.

Die Straße ist schlammig, als hätte es stark geregnet. Der Himmel ist grau. Ein kleiner Fluß, der diesen Namen verdient, fließt über die Straße nach Aera. Er ist angeschwollen wegen des Regens, der sich auf die Gegend ergossen hat, und nicht blau, sondern eher gelbrötlich, als ob das Wasser über eisenhaltiges Erdreich geflossen wäre.

«Jetzt hat das schlechte Wetter begonnen. Du hast gut daran getan, die

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Frauen wegzuschicken», bemerkt Jakobus. Simon der Zelote, der auch in seiner Ergebenheit dem Meister gegenüber immer friedsam ist, ruft aus: « Alles, was der Meister tut, ist gut getan. Er ist nicht eigensinnig wie wir. Er sieht alles und sieht voraus, was das Beste für uns ist.»

Johannes, glücklich, an seiner Seite zu sein, schaut mit seinem strahlenden Gesicht zu ihm auf und sagt: «Du bist der beste und teuerste Meister, den die Erde je gehabt hat und haben wird, und auch der allerheiligste.»

«Diese Pharisäer... Welch eine Enttäuschung! Auch das schlechte Wetter hat dazu beigetragen, sie zu überzeugen, daß Johannes von Endor nicht bei uns war. Aber weshalb haben sie es so sehr auf ihn abgesehen?» fragt Ermastheus, der sich des Schicksals des Johannes von Endor besonders annimmt.

Jesus antwortet: «Der Haß ist nicht gegen ihn gerichtet. Er ist nur ein Mittel, das sie gegen mich gebrauchen wollen.»

Philippus von Arbela sagt: «Freilich, der Regen hat sie endgültig davon überzeugt, daß es unnütz war, auf ihn zu warten oder ihn bei uns zu vermuten. Es lebe der Regen! Er hat auch dazu beigetragen, dich fünf Tage in meinem Haus zurückzuhalten.»

«Wer weiß, wie besorgt sie in Aera sind! Es ist schon bedauerlich, daß uns mein Bruder nicht entgegengekommen ist», sagt Andreas.

«Entgegengekommen? Er wird uns nachkommen», bemerkt Matthäus.

«Nein, er hat den Weg längs des Sees genommen. Denn von Gadara ist er zum See gegangen, und von dort hat er in einem Boot Bethsaida erreicht, um seine Frau zu sehen und ihr zu sagen, daß das Kind in Nazareth ist und daß er bald zurückkehren wird. Von Bethsaida nach Meron wird er erst den Weg von Damaskus und dann den nach Aera nehmen. Er ist bestimmt in Aera.»

Eine Weile herrscht Schweigen. Dann sagt Johannes lächelnd: «Aber diese Greisin, Herr!»

«Ich dachte schon, du wolltest ihr wie dem Saul in Kerioth die Freude machen, an deiner Brust zu sterben», bemerkt Simon der Zelote.

«Ich werde ihr eine noch größere Freude machen: ich werde sie in dem Augenblick zu mir rufen, in dem der "Gesalbte" die Pforten des Himmels öffnen wird. Es wird nicht lange auf mich warten müssen, das Mütterchen. Jetzt lebt sie mit ihrer Erinnerung, und mit Hilfe deines Vaters, Philippus, wird ihr Leben weniger traurig sein. Ich segne dich und deine Angehörigen nochmals.»

Die Freude des Johannes ist nun von einem Trauerflor überschattet, der dunkler ist als die Wolken, mit denen sich der Himmel überzogen hat. Jesus sieht es und sagt: «Bist du nicht glücklich darüber, daß die Alte bald ins Paradies kommt?»

«Ja... Aber ich bin unglücklich, weil ich daran denke, daß du uns verlassen wirst... Warum mußt du sterben, Herr?»

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«Wer von der Frau geboren wurde, muß sterben.»

«Wirst du sie allein haben, o Herr?»

«O nein! Und wie festlich wird erst das Hinscheiden derer sein, die ich als Gott erlöst und als Mensch geliebt habe...»

Zwei weitere, nahe beieinanderliegende kleine Flüsse werden überquert. Es beginnt zu regnen in der Ebene, die sich nun vor den Pilgern ausdehnt, nachdem sie die Hügel an der Kreuzung mit einer Straße, die in einem Tal weiter nach Norden führt, hinter sich gelassen haben.

Im Norden, beziehungsweise in nordwestlicher Richtung, zeichnet sich eine hohe, mächtige Gebirgskette ab, über der sich Wolken zusammenballen, Wolken, die beinahe wie Felsen aussehen über den wirklichen, felsigen Höhen, die an den Hängen mit Bäumen und auf den Gipfeln mit Schnee bedeckt sind.

Aber es ist eine sehr weit entfernte Kette.

«Hier Regen, dort oben Schnee. Das ist die Bergkette des Hermon. Sie hat ihre Gipfel mit einer ausgedehnten weißen Decke überzogen. Wenn wir in Aera Sonnenschein haben, werdet ihr sehen, wie schön es ist, wenn die Sonne den höchsten Gipfel rosa färbt», sagt Timoneus, den die Liebe zur Heimat drängt, die Schönheit der Gegend zu loben.

«Doch nun regnet es. Ist Aera noch weit?» fragt Matthäus.

«Sehr weit. Bis zum Abend werden wir es noch nicht erreicht haben.»

«Gott bewahre uns vor allem Übel», endet Matthäus, wenig begeistert, bei diesem schlechten Wetter wandern zu müssen.

Alle sind in Mäntel vermummt und tragen die Reisesäcke darunter, um sie und so auch die Kleider vor Feuchtigkeit zu schützen und um sich nach der Ankunft sofort umziehen zu können, zumal sie bereits von Wasser triefen und die Säume der Gewänder mit Schlamm beschwert sind.

Jesus geht voraus, in seine Gedanken versunken. Die anderen essen ihr Brot, und Johannes sagt scherzend: «Jetzt brauchen wir keinen Brunnen zu suchen, um unseren Durst zu stillen. Wir brauchen nur den Kopf nach hinten zu legen und den Mund zu öffnen und erhalten das Wasser von den Engeln.»

Ermastheus, der auch noch jung ist und mit Philippus von Arbela und Johannes das beneidenswerte Los teilt, alles fröhlich hinzunehmen, sagt: «Simon des Jonas hat sich über die Kamele beklagt! Aber ich würde lieber auf so einem vom Erdbeben geschüttelten Turm sitzen, als in diesem Schlamm. Was meinst du?»

Johannes sagt: «Ich möchte sagen, daß ich mit allem zufrieden bin, wenn nur Jesus dabei ist...»

Die drei Jünglinge beginnen, eifrig miteinander zu reden.

Die vier Älteren beschleunigen ihre Schritte und holen Jesus ein. Das übriggebliebene Paar, Timoneus und Markus, folgt, ins Gespräch vertieft, am Ende.

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«Meister, in Area werden wir Judas des Simon antreffen...» sagt Andreas.

«Gewiß, und mit ihm Thomas, Nathanael und Philippus.»

«Meister... Ich traure diesen Tagen des Friedens nach», seufzt Jakobus.

«Das darfst du nicht sagen, Jakobus.»

«Ich weiß es... Aber ich kann nicht anders...» seufzt er wieder.

«Auch Simon Petrus wird mit meinen Brüdern dort sein, bist du nicht glücklich darüber?»

«Sehr, Meister. Aber warum ist Judas des Simon so verschieden von uns?»

«Warum wechseln sich Regen und Sonne, Wärme und Kälte, Licht und Finsternis ab?»

«Weil man nicht immer ein und dasselbe haben kann, denn das Leben auf Erden würde zugrunde gehen.»

«Gut gesagt, Jakobus.»

«Ja, aber das hat ja nichts mit Judas zu tun.»

«Antworte mir: Warum sind die Sterne nicht alle wie die Sonne, groß, warm, schön und mächtig?»

«Nun, weil die Erde unter so viel Feuer verbrennen würde.»

«Warum sind die Pflanzen nicht alle wie jene Nußbäume?»

«Weil dann die Tiere nichts zu fressen hätten.»

«Und warum sind sie nicht alle Gräser?»

«Weil wir sonst kein Holz hätten für den Ofen, die Häuser, die Werkzeuge, die Wagen, die Schiffe, die Möbel...»

«Warum sind nicht alle Vögel Adler, und nicht alle Tiere Elefanten oder Kamele?»

«Weil es uns dann schlecht erginge! «

«So scheinen dir diese Verschiedenheiten also gut zu sein?»

«Ohne Zweifel.»

«Glaubst du also... Warum hat Gott sie deiner Meinung nach erschaffen?»

«Um uns jede mögliche Hilfe zu geben.»

«Also zu einem guten Zweck. Bist du dir dessen sicher?»

«So sicher, wie ich weiß, daß ich in diesem Augenblick lebe.»

«Wenn du es für richtig hältst, daß es Unterschiede in der Welt der Tiere und der Pflanzen und unter den Gestirnen gibt, weshalb verlangst du, daß alle Menschen gleich seien? Jeder hat seine Art und seine Aufgabe. Scheint dir die unendliche Mannigfaltigkeit in der Natur ein Zeichen der Macht oder der Ohnmacht des Schöpfers zu sein?»

«Der Macht. Das eine dient dazu, das andere hervorzuheben.»

«Sehr gut. Auch Judas dient dazu, und du dienst in diesem Sinn den Kameraden, und sie dienen dir. Wir haben zweiunddreißig Zähne im Mund und sie unterscheiden sich sehr voneinander. Wenn du beim Essen

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bist, dann achte auf die Aufgabe jedes einzelnen. Nicht nur die jeder der drei Arten, sondern auch die der Arten untereinander. Du wirst sehen, daß die, die wenig nützlich zu sein und wenig zu tun scheinen, gerade diejenigen sind, die die erste Arbeit leisten, das Brot zerschneiden und es den anderen zuschieben, die es zerkleinern, um es dann wieder anderen zu überlassen, die es zu Brei zermalmen. Ist es nicht so? Scheint es dir, daß Judas nichts tut, oder alles schlecht tut? Ich erinnere dich, daß er im südlichen Judäa gepredigt hat, und zwar gut, und daß er, wie du selbst gesagt hast, mit den Pharisäern umzugehen versteht.»

«Das ist wahr.»

Matthäus bemerkt: «Er ist auch fähig, Geld für die Armen zu beschaffen. Er fordert und kann betteln, wie ich es nicht könnte... Vielleicht, weil mich das Geld nun anekelt.»

Simon der Zelote senkt den Kopf und wird beinahe rot wie ein Krebs. Andreas, der es sieht, fragt ihn: «Ist dir nicht wohl?»

«Nein, nein... die Anstrengung... Ich weiß nicht.»

Jesus schaut ihn fest an, sagt jedoch nichts, und jener wird immer röter.

Timoneus kommt nach vorne: «Meister, schau, da sieht man schon das Dorf, das vor Aera liegt. Wir können dort anhalten oder Esel mieten.»

«Es hört schon auf zu regnen. Es ist besser, wenn wir weitergehen.»

«Wie du willst. Aber dann werde ich, wenn du erlaubst, vorausgehen.»

«Geh nur!»

Timoneus läuft mit Markus davon, und Jesus bemerkt lächelnd: «Sie möchten uns einen feierlichen Einzug bereiten.»

Sie gehen nun wieder in einer Gruppe. Jesus läßt zu, daß sie sich beim Reden über die Unterschiede der Gegenden erhitzen, dann bleibt er zurück und behält den Zeloten bei sich. Als sie allein sind, fragt er: «Warum bist du so rot geworden, Simon?»

Dieser ist wieder von Glut übergossen und antwortet nicht. Jesus wiederholt die Frage, und jener wird noch röter und schweigsamer. Jesus fragt wiederum.

«Herr, aber du weißt es doch! Warum soll ich es dann sagen?» ruft Simon schmerzerfüllt aus, als würde er gemartert.

«Bist du dessen sicher?»

«Er hat es nicht geleugnet, sondern gesagt: "Ich tue dies zur Vorsorge. Ich bin vernünftig. Der Meister denkt nie an den morgigen Tag." Wenn man so will, hat er recht. Aber... es ist immer... es ist immer... Meister, sage du das rechte Wort.»

«Es ist ein Zeichen dafür, daß Judas nur "Mensch" ist. Er vermag es nicht, sich zu erheben und geistig zu werden. Doch mehr oder weniger seid ihr alle so. Ihr habt Angst vor törichten Dingen. Ihr quält euch mit unnützer Vorsorge, weil ihr nicht glauben könnt, daß die Vorsehung mächtig und allgegenwärtig ist. Das bleibt zwischen uns, verstanden?»

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«Ja, Meister.»

Ein kurzes Schweigen, dann sagt Jesus: «Bald werden wir zum See zurückkehren... Es wird schön sein, sich etwas zu sammeln nach so vielem Wandern. Wir beide werden uns für einige Zeit nach Nazareth begeben, um dort das Lichterfest zu feiern. Du bist allein, die anderen haben eine Familie, und du wirst bei mir sein.»

«Herr, auch Judas, Thomas und Matthäus sind allein.»

«Denk nicht darüber nach. Jeder wird das Fest in seiner Familie feiern. Matthäus hat die Schwester. Du bist allein. Sofern du nicht zu Lazarus gehen willst ...»

«Nein, Herr», bricht Simon hervor. «Nein. Ich liebe Lazarus, aber bei dir zu sein, ist das Paradies. Danke, Herr», und er küßt ihm die Hand.

Das Dörflein liegt schon hinter ihnen; da erscheinen unter einem neuen Regenguß auf der überschwemmten Straße Timoneus und Markus, die beide rufen: «Bleibt stehen! Simon Petrus ist da mit Eseln. Ich bin ihm begegnet. Schon seit drei Tagen ist er im Regen mit den Tieren hierher unterwegs.»

Sie bleiben unter einem dichten Dornbusch, der sie etwas gegen den Platzregen schützt, stehen, und wirklich, da kommt auch schon Petrus an der Spitze einer Reihe von Eselchen auf einem Esel dahergeritten. Unter der Decke, die er sich über Kopf und Schultern gelegt hat, sieht er aus wie ein Mönch.

«Gott segne dich, Meister! Ich habe doch gesagt, daß er naß sein würde, wie wenn er in den See gefallen wäre! Los, schnell, aufsteigen, denn Aera steht seit drei Tagen in Flammen, so sehr schüren sie die Kamine, um dich zu trocknen. Schnell! Schnell! ... Was für ein Zustand! Schaut nur her! Waret ihr denn nicht imstande, ihn zurückzuhalten? Ja, wenn ich nicht dabei bin! Ich sage es immer! Schaut her! Sein Haar hängt ihm über die Schultern herab wie einem Ertrunkenen. Du mußt ganz erfroren sein unter diesen Regengüssen! Welche Torheit! Und ihr? Und ihr? O ihr Unglücklichen! Du als erster, dummer Bruder, und dann die anderen. Hübsch seid ihr! Ihr gleicht Säcken, die in einen Graben gefallen sind. Auf, schnell! Ha, ich wage es nicht mehr, ihn euch anzuvertrauen. Ich sterbe vor Entsetzen ...»

«Vielleicht vor Schwätzen, Simon», sagt Jesus ruhig, während sein Esel an der Seite des Esels des Petrus an der Spitze der Karawane trippelt. Jesus wiederholt: «Und vor Schwätzen. Vor lauter unnützem Reden hast du mir nicht gesagt, ob die anderen angekommen sind... ob die Frauen abgereist sind... ob es deiner Frau gut geht. Nichts hast du mir erzählt.»

«Ich werde dir alles sagen. Aber warum bist du bei diesem Regen abgereist ?»

«Und warum bist du gekommen?»

«Weil ich es eilig hatte, dich zu sehen, Meister!»

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«Weil es mich drängte, wieder mit dir zusammen zu sein, mein Simon.»«Oh, mein liebster Meister! Wie gern habe ich dich! Frau, Kind, Haus? Nichts, nichts... All das ist nicht schön, wenn du nicht dabei bist. Glaubst du mir, daß ich dich sehr liebe?»

«Ich glaube es. Ich weiß, wer du bist, Simon.»

«Wer?»

«Ein großes Kind voller kleiner Fehler, und unter diesen sind viele schöne Gaben versteckt. Doch eine ist nicht darunter begraben, und das ist deine Redlichkeit in allem. Also, wer ist in Aera?»

«Judas, dein Bruder, mit Jakobus, und Judas von Kerioth mit den anderen. Es scheint, daß Judas viel Gutes getan hat. Alle loben ihn ...»

«Hat er dir Fragen gestellt?»

«Oh, viele! Ich habe nicht darauf geantwortet und habe nur gesagt, daß ich nichts weiß. Was weiß ich denn schon, außer daß ich die Frauen bis in die Nähe von Gadara gebracht habe. Weißt du... ich habe ihm nichts über Johannes von Endor gesagt, denn er glaubt, daß er bei dir ist. Du solltest dies den anderen sagen.»

«Nein. Auch sie wissen ebensowenig wie du, wo Johannes ist. Es wäre zwecklos, mehr zu sagen. Aber diese Esel! ... Für drei Tage! ... Wie viele Unkosten! Und die Armen?»

«Die Armen... Judas hat viel Geld und sorgt für sie. Diese Esel kosten mich keinen Pfennig. Die Leute von Aera hätten mir tausend umsonst gegeben. Ich mußte meine Stimme erheben, um zu verhindern, daß sie dir mit einem Heer von Eseln entgegenziehen. Timoneus hat recht. Hier glauben alle an dich. Sie sind besser als wir», und er seufzt.

«Simon, Simon! Jenseits des Jordan wurden wir geehrt: Ein Sträfling, Heidinnen, Sünderinnen und Frauen gaben euch Lehren der Vollkommenheit. Vergiß es nicht, Simon des Jonas. Denk immer daran.»

«Ich will es versuchen, Herr. Da kommen die ersten von Aera. Schau nur, wie viele Leute! Da kommt die Mutter des Timoneus. Dort in der Menge sind deine Brüder. Da sind die Jünger, die du vorausgesandt hast, und gleich dahinter die, die mit Judas Iskariot gekommen sind. Dort kommt der reichste Mann von Aera mit seinen Dienern. Er wollte dich in sein Haus einladen. Doch die Mutter des Timoneus hat ihre Rechte geltend gemacht und du wirst bei ihr Gastfreundschaft finden. Schau, schau! Sie sind verärgert, weil der Regen die Fackeln auslöscht. Es sind viele Kranke hier, weißt du? Sie sind in der Stadt geblieben, bei den Toren, um dich gleich zu sehen. Einer, der ein Holzlager besitzt, hat sie unter seine Dächer aufgenommen. Seit drei Tagen sind sie dort, die armen Leute; seit unserer Ankunft sind sie enttäuscht, weil du nicht bei uns warst.»

Das Geschrei der Menge hindert Petrus am Weiterreden, und er schweigt und steht an der Seite Jesu wie eine Schildwache.

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Die Menge, die sie nun erreicht hat, teilt sich, und Jesus reitet auf seinem Esel hindurch und segnet im Vorübergehen. Sie gehen in die Stadt hinein.

«Sofort zu den Kranken», sagt Jesus ungeachtet der Proteste derer, die ihn unter ihr Dach aufnehmen und ihm Speise und Wärme geben möchten aus Furcht, daß er zu viel leide. «Diese hier leiden mehr als ich», antwortet er.

Sie biegen rechts ein. Da ist auch schon der einfache Zaun des Holzlagers.

Das Tor ist weit aufgerissen, und ein Jammer tönt ihm entgegen: «Jesus, Sohn Davids, habe Erbarmen mit uns!»

Ein flehender, ununterbrochener Chor, wie eine Litanei. Stimmen von Kindern, Frauen, Männern und Greisen. Traurig wie das Blöken leidender Lämmer; verzweifelt wie das Jammern sterbender Mütter; demütig wie das Klagen dessen, der nur noch eine Hoffnung hat, zitternd wie die Stimme eines Menschen, der nichts mehr als weinen kann...

Jesus reitet in die Umzäunung. Er richtet sich auf seinem Steigbügel auf, so gut er kann, hebt die Rechte in die Höhe und sagt mit lauter Stimme: «Allen, die an mich glauben, Heil und Segen!»

Er läßt sich in den Sattel zurückfallen und will auf die Straße zurückkehren. Aber die Menge hält ihn auf, und die Geheilten umringen ihn. Im Licht der Fackeln, die im Schutz der Hallen brennen und die Dämmerung erhellen, sieht man die Menge, die in einem Freudentaumel dem Herrn entgegenjubelt. Der Herr verschwindet fast in einem Blütenfeld von geheilten Kindern, die von ihren Müttern in seine Arme, auf seinen Schoß und selbst auf den Hals des Esels gesetzt und festgehalten werden, damit sie nicht hinunterfallen. Jesus hat die Arme voll von Kindern, als wären es Blumen. Er lächelt selig und küßt sie, da er sie nicht segnen kann, weil seine Arme die Kinder halten. Endlich werden ihm die Kinder abgenommen. Nun sind es die geheilten Alten, die ihm das Gewand küssen, und dann die Männer und Frauen...

Es ist Nacht geworden, als er endlich in das Haus des Timoneus eintreten und sich am Feuer in trockenen Kleidern erholen kann.

340. JESUS PREDIGT IN AERA

Jesus spricht auf dem Hauptplatz von Aera: «... doch ich will nicht -wie ich es an anderen Orten getan habe – zu euch über die ersten und unentbehrlichen Dinge sprechen, die man wissen und tun muß, um sich zu retten. Ihr kennt sie schon, und sogar sehr gut, durch die Tätigkeit des Timoneus, des weisen Synagogenvorstehers und Lehrers des althergebrachten Gesetzes. Aber ich will euch auf eine Gefahr aufmerksam

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machen, die ihr in dem Geisteszustand, in dem ihr euch befindet, nicht sehen könnt: die Gefahr, euch durch Druck und Einschüchterungen vom rechten Weg und vom Glauben, den ihr nun an mich habt, abbringen zu lassen. Timoneus wird für einige Zeit hier bleiben und euch zusammen mit anderen die Worte der Schrift im neuen Licht meiner Wahrheit, die er umschlungen hat, erklären. Aber bevor ich euch verlasse, nachdem ich eure Herzen erforscht und sie aufrichtig in ihrer Liebe, bereitwillig und demütig befunden habe, will ich euch eine Stelle des vierten Buches der Könige auslegen.

Als der König von Juda, Ezechias, von Sennacherib angegriffen wurde, kamen die drei Großen des feindlichen Königs zu ihm, um ihm Schrecken einzujagen. Sie wollten ihn einschüchtern durch Hinweise auf die aufgelösten Bündnisse und die Streitmacht, die ihn schon umgab. Und auf die Worte der mächtigen Abgesandten antworteten Eliachim, Sebna und Joae: "Sprich so, daß das Volk dich nicht verstehen kann", um zu verhindern, daß das erschreckte Volk nach Frieden verlange. Aber die Abgesandten des Sennacherib wollten gerade dies und sagten mit lauter Stimme in perfektem Hebräisch: "Laßt euch nicht von Ezechias verführen... Verhaltet euch uns gegenüber so, wie es für euch am vorteilhaftesten ist, und ergebt euch. Ein jeder wird von seinem Weinberg und von seinen Feigen essen und das Wasser aus seinen Zisternen trinken können, bis wir kommen und euch in ein Land führen werden, das dem euren gleicht, in ein Land, fruchtbar und reich an Wein, in ein Land, in dem es Brot und Trauben im Überfluß gibt, in ein Land mit Oliven, Öl und Honig. Und ihr werdet leben und nicht sterben..." Weiter heißt es: "Das Volk antwortete nicht, denn es hatte vom König den Befehl erhalten, nicht zu antworten."

Seht, auch ich habe Mitleid mit euren Seelen, die von Mächten bedrängt werden, die noch schlimmer sind als jene des Sennacherib, der die Leiber verletzen, aber nicht den Seelen schaden konnte, während eure Seelen von einem feindlichen Heer angegriffen werden, das vom wütendsten und grausamsten aller Herrscher angeführt wird. Ich habe seinen Abgesandten, die mir und euch schreckliche Strafen androhten, um mich in euch zu beleidigen, geboten: "Sprechet mit mir allein und laßt jene, die gerade jetzt dem Licht geboren werden, in Frieden. Droht mir, quält mich, klagt mich an, tötet mich, aber stürzt euch nicht auf diese Kinder des Lichtes. Sie sind noch schwach. Eines Tages werden sie stark sein, doch jetzt sind sie noch schwach. Greift sie nicht an! Wütet nicht gegen die Freiheit der Geister, sich selbst einen Weg zu wählen. Wütet nicht gegen das Recht Gottes, die zu sich zu rufen, die ihn mit Einfalt und Liebe suchen."

Kann jemand, der haßt, die Bitten dessen erhören, den er haßt? Kann jemand, der von Haß erfüllt ist, die Liebe kennen? Nein, er kann es nicht. Daher werden sie mit noch größerer Härte und immer stärkerer Eindringlichkeit sagen: "Laßt euch nicht von Christus verführen. Kommt mit uns,

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und es wird euch an nichts fehlen", und weiter werden sie euch sagen: "Wehe euch, wenn ihr ihm folgt. Ihr werdet verfolgt werden." Sie werden euch selbst mit scheinbar guten Absichten drängen: "Rettet eure Seelen! Er ist ein Satan." Viele Dinge werden sie von mir sagen, um euch zu überreden, das Licht zu verlassen.

Ich sage euch: "Antwortet den Verführern mit eurem Schweigen." Wenn dann die Kraft des Herrn, des Christus, des Gesalbten, des Messias und Erlösers in den Herzen der Gläubigen wohnt, werdet ihr reden können; denn nicht ihr, sondern der Geist des Herrn wird durch euch reden, und eure Seelen werden reif geworden sein in der Gnade und stark und unbesiegbar im Glauben.

Seid beharrlich! Ich verlange nichts anderes als dies. Denkt daran, daß Gott nicht den Verschwörungen seines Feindes zustimmen kann. Eure Kranken und die, die Frieden und Stärkung erhalten haben für ihren Geist, mögen euch immer durch ihre bloße Gegenwart erinnern, wer der ist, der zu euch gekommen ist, um euch zu sagen: "Beharrt in meiner Liebe und in meiner Lehre, und ihr werdet das Himmelreich erlangen." Meine Werke sprechen noch mehr als meine Worte, und wenn die vollkommene Seligkeit auch darin besteht, glauben zu können, ohne Beweise zu brauchen, so habe ich euch doch die Wunder Gottes sehen lassen, damit ihr im Glauben bestärkt werdet. Antwortet eurem Verstand, der von den Feinden des Lichtes versucht wird, mit den Worten eures Geistes: "Ich glaube, denn ich habe Gott in seinen Werken gesehen." Antwortet dem Feind mit einem wirkungsvollen Schweigen.

Und mit diesen beiden Antworten schreitet im Licht voran. Der Friede sei immer mit euch!»

Jesus verabschiedet sich von der Menge und verläßt den Platz.

«Warum hast du so wenig gesprochen, Herr? Timoneus könnte enttäuscht sein», sagt Nathanael.

«Er wird es nicht sein, denn er ist ein Gerechter und weiß, daß es ein Beweis noch größerer Liebe ist, wenn man jemand auf eine Gefahr aufmerksam macht. Diese Gefahr ist vorhanden.»

«Immer diese Pharisäer, wie?» fragt Matthäus.

«Sie und andere.»

«Bist du betrübt, Herr?» fragt Johannes besorgt.

«Nein, nicht mehr als gewöhnlich...»

«Und doch warst du in den letzten Tagen heiterer...»

«Er wird traurig sein, weil er die Jünger nicht mehr um sich hat. Aber warum hast du sie denn entlassen? Willst du deine Reise fortsetzen?» fragt Iskariot.

«Nein! Dies ist der letzte Ort, von hier aus geht es nach Hause. Aber die Frauen konnten nicht mehr weitergehen bei diesem Wetter. Sie haben viel geleistet, mehr dürfen sie nicht tun.»

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«Und Johannes?»

«Johannes ist krank und befindet sich in einem gastlichen Haus, so wie du es gewesen bist.»

Dann verabschiedet sich Jesus von Timoneus und den anderen Jüngern, die in der Gegend bleiben, und denen er gewiß bereits Anweisungen für die Zukunft gegeben hat, denn er erteilt keine weiteren Ratschläge mehr.

Sie sind an der Haustüre des Timoneus angelangt, denn Jesus will noch einmal die Hausherrin segnen. Die Menge beobachtet ihn ehrfurchtsvoll und folgt ihm, als er den Weg wieder aufnimmt durch den Vorort, die Gemüsegärten, bis zu den offenen Feldern. Die mit der größten Ausdauer folgen ihm noch eine Weile in einer immer kleiner werdenden Gruppe, bis nur noch neun, dann fünf, dann drei und schließlich einer übrig ist. Auch dieser eine wendet sich um und kehrt nach Aera zurück, während Jesus die Richtung nach Westen einschlägt, allein mit seinen zwölf Aposteln, denn auch Ermastheus ist bei Timoneus zurückgeblieben.

Jesus spricht:

«Die Reise, die zweite große apostolische Reise, ist beendet. Nun kehren sie in die bekannten Gebiete von Galiläa zurück.

Arme Maria, du bist erschöpfter als Johannes von Endor. Ich gestatte dir, die Ortsbeschreibungen zu unterlassen. Wir haben den neugierigen Forschern schon so viel Material gegeben. Und sie werden doch immer "neugierige Forscher" bleiben. Nun genug! Die Kraft schwindet. Bewahre sie für das Wort. Mit demselben Gefühl, mit dem ich die Nutzlosigkeit so vieler meiner Bemühungen erkenne, erkenne ich auch die Nutzlosigkeit so vieler deiner Bemühungen. Daher sage ich dir: "Bewahre deine Kräfte für das Wort."

Du bist das "Sprachrohr". Oh, auch für dich wiederholt sich das Wort: "Wir haben gespielt, und ihr habt nicht gesungen; wir haben geklagt, und ihr habt nicht geweint." Du hast meine Worte wiederholt, und die schwierigen Gelehrten haben die Nase gerümpft. Du hast meinen Worten deine Beschreibungen hinzugefügt, und jetzt haben sie wieder etwas auszusetzen. Und du bist am Ende! Ich werde dir sagen, wann du die Reise beschreiben sollst. Seit fast einem Jahr bediene ich mich nun schon deiner. Aber willst du, bevor das Jahr zu Ende geht, wieder an meinem Herzen ruhen? Komm also, kleine Märtyrerin!»

341. MARIA UND MATTHIAS

Ich sehe wieder den See von Meron an einem trüben Regentag... Schlamm und Wolken, Stille und Dunkelheit. Der Horizont verschwindet im Nebel. Die Bergketten des Hermon sind von einer tiefliegenden Wolkendecke verhangen. Aber von der kleinen Hochebene sieht man gut den Wasserspiegel des kleinen, grauen und durch den Schlamm von tausend angeschwollenen Bächen gelb gefärbten Sees, der vom oberen Jordan genährt wird und sich dann in den größeren See von Genesareth entleert.

Der Abend sinkt hernieder, immer trauriger und regnerischer, während

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Jesus sich auf den Weg begibt, der den Jordan dem Meronsee zu überquert, um dann einen kleineren Weg einzuschlagen, der zu einem Haus führt...

Eine weitere liebliche Vision von Jesus und zwei Kindern.

Ich sage so, denn ich sehe, daß Jesus, der auf einem kleinen Weg zwischen den Feldern einhergeht, die erst kürzlich eingesät worden sein müssen, weil das Erdreich noch weich und dunkel ist, stehenbleibt und zwei kleine Kinder liebkost: einen Knaben, der höchstens vier Jahre alt sein kann, und ein Mädchen, das um die acht oder neun Jahre alt sein mag. Es müssen sehr arme Kinder sein, denn sie tragen verwaschene, zerrissene Kleidchen und haben ein trauriges, abgehärmtes Aussehen.

Jesus fragt nichts. Er schaut sie nur fest an, während er sie liebkost. Dann geht er rasch auf ein Haus zu, das sich am Ende des Weges befindet. Ein Bauernhaus in gutem Zustand, mit einer Außentreppe, die zur Terrasse führt, auf der sich eine Weinlaube ausbreitet, die jetzt ohne Trauben und entlaubt ist. Nur vereinzelte gelbe Blätter hängen noch an den Pflanzen und wiegen sich im feuchten Wind eines traurigen Herbsttages. Auf der Brüstung des Hauses gurren einige Tauben und warten auf den Regen, den der graue, bewölkte Himmel ankündigt.

Durch das Geräusch der Schritte herbeigerufen, kommt eine Frau an die Türe des kleinen Raumes, und als sie Jesus erkennt, begrüßt sie ihn voller Freude und eilt davon, um im Haus Bescheid zu geben.

Darauf erscheint ein alter, dicker Mann an der Türe und eilt Jesus entgegen. «Welch große Ehre, Meister, dich zu sehen!» grüßt er.

Jesus sagt seinen Gruß: «Der Friede sei mit dir», und fügt hinzu: «Der Abend bricht herein; es wird bald regnen. Ich bitte dich um Unterkunft und Brot für mich und meine Jünger.»

«Komm herein, Meister! Mein Haus ist dein Haus. Die Magd ist soeben beim Brotbacken. Es freut mich, es dir mit dem Käse meiner Schafe und den Früchten meiner Felder anbieten zu können. Komm herein, komm herein, denn der Wind ist feucht und kalt...» Zuvorkommend hält er die Türe auf und verneigt sich, als Jesus eintritt. Doch dann ändert er plötzlich den Ton, um sich jemandem zuzuwenden, den er sieht und zornig anschreit: «Bist du immer noch da? Geh fort! Ich habe nichts für dich. Geh fort! Hast du verstanden? Hier ist kein Platz für Vagabunden ...»; dann murmelt er zwischen den Zähnen: «... und vielleicht auch Diebe wie dich.»

Ein weinerliches Stimmlein antwortet: «Erbarmen, Herr, nur etwas Brot für mein Brüderchen. Wir haben Hunger...»

Jesus, der in die geräumige Küche eingetreten ist, die durch das große Feuer, das gleichzeitig als Beleuchtung dient, freundlich wirkt, steht an der Schwelle. Sein Antlitz hat sich verändert. Streng und traurig fragt er nicht den Wirt, sondern allgemein, und es scheint, als würde er die schweigende Tenne, den entlaubten Feigenbaum, den dunklen Brunnen fragen: «Wer hat hier Hunger?»

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«Ich, Herr. Ich und mein Bruder. Ein Brot nur, und dann werden wir gehen.»

Jesus ist bereits draußen an der wegen der angebrochenen Abenddämmerung und des bevorstehenden Regens immer dunstiger werdenden Luft. «Komm her», sagt er.

«Ich habe Angst, Herr!»

«Komm, sage ich dir. Habe keine Angst vor mir.»

Das arme Mädchen kommt um die Hausecke. Das Brüderchen hält sich an ihrer armseligen Tunika fest, und verängstigt nähern sie sich. Ein scheuer Blick auf Jesus, ein angstvoller Blick auf den Hausherrn, der sie mit drohenden Augen mustert und sagt: «Das sind Vagabunden, Meister, und Diebe. Gerade vorhin habe ich sie erwischt, als sie bei der Ölmühle scharrten. Gewiß wollten sie eindringen und stehlen. Wer weiß, woher sie kommen, denn sie sind nicht von hier.»

Jesus widerspricht ihm nicht. Er schaut das Mädchen mit dem eingefallenen Gesichtlein und den ungekämmten Zöpfen – zwei Schwänzlein über den Ohren, die unten mit einem Stoffetzen zusammengebunden sind – fest an. Das Antlitz Jesu ist jedoch nicht streng, solange er das elende Geschöpf betrachtet. Er ist traurig, lächelt aber, um das Kind zu ermutigen. «Ist es wahr, daß du stehlen wolltest? Sag die Wahrheit!»

«Nein, Herr. Ich habe um etwas Brot gebettelt, weil ich Hunger habe. Man hat es mir verweigert, und da habe ich eine ölige Kruste dort bei der Ölmühle auf der Erde gesehen und bin hingegangen, um sie aufzuheben. Ich habe Hunger, Herr! Gestern hat man mir nur ein Stück Brot gegeben, das ich für Matthias aufbewahrt habe... Warum hat man uns nicht mit der Mutter ins Grab gelegt?» Das Mädchen weint untröstlich, und der Knabe macht es ihm nach.

«Weine nicht!» Jesus tröstet es liebkosend und zieht es an sich. «Antworte, woher bist du?»

«Ich bin aus der Ebene von Esdrelon.»

«Und du bist bis hierher gekommen?»

«Ja, Herr!»

«Ist es schon lange her, daß deine Mutter gestorben ist? Hast du keinen Vater?»

«Der Vater ist zur Erntezeit durch die Sonne umgekommen, und die Mutter ist im vergangenen Monat gestorben... Sie und auch das Kind, das sie geboren hatte ...» Sie weint immer stärker.

«Hast du denn keine Verwandten?»

«Wir kommen von sehr weit her. Wir waren nicht arm... Dann hat der Vater dienen müssen. Jetzt ist er tot und die Mutter mit ihm.»

«Unter welchem Herrn haben sie gedient?»

«Beim Pharisäer Ismael.»

«Dem Pharisäer Ismael! ... (Die Art, wie Jesus diesen Namen

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wiederholt, läßt sich nicht wiedergeben.) Seid ihr dort freiwillig weggelaufen oder hat er euch fortgeschickt?»

«Er hat uns fortgejagt, Herr. Er hat gesagt: "Auf die Straße mit euch, hungrige Hunde!»

«Und du, Jakob, warum hast du diesen Kindern kein Brot gegeben? Ein Stück Brot, ein wenig Milch, eine Handvoll Heu als Lager für ihre müden Glieder?»

«Aber Meister... ich habe kaum genügend Brot für mich... und fast keine Milch... und sie noch ins Haus nehmen... sie sind wie herrenlose Tiere, wenn man ihnen ein freundliches Gesicht zeigt, dann gehen sie nicht mehr fort...»

«Du hast keinen Platz und keine Nahrung für diese beiden Unglücklichen? Kannst du das ehrlich behaupten, Jakob? Die reiche Ernte, der viele Wein, das viele Öl und das viele Obst, die deinen Gutshof dieses Jahr so berühmt gemacht haben, wie bist du dazu gekommen? Erinnerst du dich noch daran? Im vergangenen Jahr hätte dir der Hagel beinahe die gesamte Ernte zerstört, und du hast dich um dein Leben gesorgt... Ich bin gekommen und habe dich um dein Brot gebeten... Du hattest mich eines Tages reden gehört und warst mir treu geblieben... und in deiner Not hast du mir dein Herz und dein Haus geöffnet und Brot und Unterkunft gegeben. Was habe ich dir dann beim Weggehen am anderen Morgen gesagt? "Jakob, du hast die Wahrheit verstanden. Sei stets barmherzig, und du wirst Barmherzigkeit erfahren. Dank des Brotes, das du dem Menschensohn gegeben hast, werden dir diese Felder Getreide in Hülle und Fülle bringen, die Obstbäume werden beladen sein, als würden sie die unzähligen Körner des Sandes am Meer tragen, und die Äste deiner Apfelbäume werden sich unter der Last ihrer Früchte bis zum Boden neigen." Meine Worte haben sich erfüllt, du bist in diesem Jahr der Reichste in der Gegend und verweigerst zwei Kindern etwas Brot... !»

«Aber du warst der Rabbi ...»

«Gerade deshalb hätte ich aus Steinen Brot machen können, diese aber nicht. Nun sage ich dir: Du wirst ein neues Wunder erleben, und es wird dir Leid widerfahren, großes Leid... Dann schlage an deine Brust und sage: "Ich habe es verdient."»

Jesus wendet sich den Kindern zu: «Weint nicht. Geht zu jenem Baum und pflückt.»

«Aber er ist kahl, Herr», entgegnet das Mädchen.

«Geh!»

Das Mädchen geht und kommt mit dem Röcklein voll schöner, roter Äpfel zurück.

«Eßt und kommt mit mir», und zu den Aposteln sagt Jesus: «Wir wollen gehen und diese beiden Kinder zu Johanna des Chuza bringen. Sie ist

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dankbar für die erhaltenen Wohltaten und barmherzig aus Liebe zu dem, der ihr Barmherzigkeit erwiesen hat. Laßt uns gehen.»

Der bestürzte und beschämte Mann versucht, Vergebung zu erlangen. «Es ist Nacht, Meister. Es wird zu regnen beginnen, während du unterwegs bist. Komm in mein Haus zurück. Da kommt schon die Magd mit dem Brot ... Ich werde dir auch für diese davon geben.»

«Das ist nicht nötig, du würdest es ja doch nicht aus Liebe geben, sondern nur aus Furcht vor der angekündigten Strafe.»

«Dann war es nicht das Wunder, von dem du gesprochen hast?» Er deutet auf die von dem zuvor kahlen Baum gepflückten Äpfel, die die beiden Hungrigen nun gierig essen.

«Nein», sagt Jesus sehr streng.

«Oh, Herr, Herr! Habe Erbarmen mit mir! Ich habe verstanden! Du willst mich mit einer schlechten Getreideernte bestrafen! Erbarmen, Herr!»

«Nicht alle, die mich "Herr" nennen, werden mich besitzen, denn nicht durch Worte, sondern durch Taten beweist man Liebe und Ehrfurcht. Du wirst das Erbarmen erfahren, das du gezeigt hast.»

«Ich liebe dich, Herr.»

«Das ist nicht wahr. Mich liebt der, wer liebt, wie ich es gelehrt habe. Du liebst nur dich selbst. Wenn du mich lieben wirst, wie ich es gelehrt habe, wird der Herr zurückkehren. Jetzt gehe ich. Meine Sendung besteht aus: Gutes tun, die Betrübten trösten und die Tränen der Waisen trocknen. Wie eine Glucke ihre Flügel über die wehrlosen Küklein breitet, so breite ich meine Macht über jene aus, die leiden und gequält werden. Kommt, Kinder, bald werdet ihr Heim und Brot haben. Leb wohl, Jakob!»

Unzufrieden, fortgehen zu müssen, bittet er Andreas, das müde Mädchen auf die Arme zu nehmen, der es in seinen Mantel wickelt. Jesus nimmt den Knaben, und so gehen sie auf dem nunmehr vollkommen dunklen Sträßchen mit ihrer Bürde der Barmherzigkeit, die jetzt nicht mehr weint.

Petrus sagt: «Meister! Es war ein großes Glück für die Kleinen, daß du dazugekommen bist. Aber für Jakob! ... Was wirst du tun, Meister?»

«Gerechtigkeit walten lassen. Er wird den Hunger nicht kennenlernen, denn er hat in seinen Scheunen noch genügend Vorrat, aber er wird sich einschränken müssen, denn sein ausgestreuter Same wird keine Ähre bringen und die Oliven- und Apfelbäume werden nur Blätter tragen. Diese Unschuldigen haben nicht von mir, sondern von meinem Vater Brot und Dach erhalten, denn mein Vater ist auch der Vater der Waisen, er, der den Vöglein im Wald Nest und Nahrung gibt. Diese können sagen, und mit ihnen alle Armen, die seine "unschuldigen und liebenden Kinder" bleiben, daß Gott in ihre kleine Hand die Nahrung gelegt hat und daß er sie mit väterlicher Führung in ein gastfreundliches Haus geleitet hat.»

Die Vision endet so, und ein großer Friede bleibt in mir zurück.

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342. «NUTZLOS IST DER EMPFANG DER SAKRAMENTE, WENN DIE LIEBE FEHLT»

Jesus sagt:

«Für alle gilt die Lehre: Ich weiß, "Herr" mit Gerechtigkeit zu sein. Man hintergeht mich nicht und schmeichelt mir nicht mit lügenhaften Ehrenbezeigungen.

Wer dem Bruder sein Herz verschließt, verschließt es auch Gott, und Gott verschließt ihm das seine.

Dies ist das erste der Gebote, o Menschen: Liebe und immer wieder Liebe. Wer nicht liebt, lügt in seinem Bekenntnis, Christ zu sein. Nutzlos ist der Empfang der Sakramente und die Teilnahme an den Riten, unnütz das Gebet, wenn die Liebe fehlt. Sie werden zu Formeln und Sakrilegien. Wie könnt ihr zum ewigen Brot kommen und euch daran sättigen, wenn ihr einem Hungrigen ein Brot verweigert habt? Ist euer Brot kostbarer als das meine? Ist es heiliger?

O ihr Heuchler! Ich lege meiner Hingabe an euer Elend kein Maß an, und ihr, die ihr elend seid, habt kein Erbarmen mit dem Elend, welches in den Augen Gottes nicht so verabscheuenswert ist wie das eurige; denn jenes ist Unglück, während das eurige Sünde ist. Allzu oft sagt ihr zu mir: "Herr, Herr" ' um mich für eure Interessen wohlwollend zu stimmen, aber ihr sagt es nicht aus Nächstenliebe, denn ihr tut nichts im Namen des Herrn für den Nächsten.

Schaut: was hat euch eure verlogene Religion und wahre Unbarmherzigkeit in euerem Gemeinschaftsleben und im Leben jedes einzelnen gebracht? Die Abkehr von Gott. Gott wird zurückkehren, wenn ihr zu lieben versteht, wie ich es gelehrt habe.

Doch zu euch, kleine Herde jener, die ihr eurer Güte wegen leidet, sage ich: "Ihr werdet nie Waisen sein. Ihr werdet nie verlassen sein. Eher würde Gott aufhören, Gott zu sein, als es an Vorsehung seinen Kindern gegenüber fehlen zu lassen. Streckt die Hand aus: der Vater gibt euch alles als "Vater", also mit Liebe, die nicht demütigt. Trocknet eure Tränen. Ich nehme euch auf und trage euch, denn ich habe Erbarmen mit eurem Schmachten.

Das geliebteste unter den Geschöpfen ist der Mensch! Glaubt ihr vielleicht, daß der Vater erbarmungsvoller mit dem Vogel ist als mit dem treuen Menschen? Er, der auch mit den Sündern langmütig ist und ihnen Zeit und Möglichkeit gewährt, zu ihm zu kommen? Oh, wenn die Welt begreifen würde, was Gott ist!»

Jesus sagt:

«Wenn ich dir unbekannte Szenen meines öffentlichen Lebens enthülle, dann höre ich schon den Chor der kritischen Gelehrten sagen: "Aber dieses Geschehnis wird in den Evangelien nicht erwähnt. Wie kann sie behaupten: 'Ich habe dies gesehen?"' Diesen antworte ich mit den Worten des Evangeliums.

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"Und Jesus ging in alle Städte und Dörfer und lehrte in den Synagogen, predigte das Evangelium des Reiches und heilte alle Leiden und Krankheiten", sagt Matthäus.

Und weiter: "Geht und berichtet Johannes, was ihr seht und hört: Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf, und den Armen wird die Frohe Botschaft verkündet."

Und weiter: "Wehe dir, Chorazim! Wehe dir, Bethsaida! Wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die in eurer Mitte geschehen sind, dann hätten sie längst in Sack und Asche Buße getan... Und du, Kapharnaum, wirst du vielleicht bis zum Himmel erhoben werden? Du wirst bis zur Hölle hinabsteigen; denn wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, die in dir geschahen, so würde es heute noch bestehen."

Und Markus: "... und es folgten ihm viele aus Galiläa, Judäa, Jerusalern, Idumäa und von jenseits des Jordan. Auch aus der Gegend von Tyrus und Sidon kam viel Volk zu ihm, das von seinen Taten gehört hatte..."

Und Lukas: "Jesus ging in die Städte und Dörfer und predigte und verkündete die Frohe Botschaft und das Reich Gottes, und mit ihm waren die Zwölf und einige Frauen, die von bösen Geistern und Krankheiten befreit worden waren!"

Und mein Johannes: "Danach ging Jesus auf die andere Seite des galiläischen Meeres, und viel Volk folgte ihm, denn es sah die Wunder, die er an den Kranken gewirkt hatte."

Und da Johannes bei allen Wundern zugegen war, die ich in diesen drei Jahren gewirkt habe – welcher Art sie auch immer waren – gibt der Lieblingsjünger folgendes unbegrenztes Zeugnis: "Das ist der Jünger, der diese Dinge gesehen und sie aufgeschrieben hat, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist. Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wollte man jedoch alles im einzelnen niederschreiben, so würde – glaube ich – die ganze Welt nicht genügen, um die Bücher, die geschrieben werden müßten, aufzunehmen."

Was sagen die schwierigen Gelehrten nun?

Wenn meine Güte, um eine mich Liebende zu trösten, die für euch mein Kreuz trägt – sie hat es mir von den Schultern genommen, weil sie mich so sehr liebt, daß sie lieber sterben möchte, als mich betrübt zu sehen – wenn meine Güte, um euch aus der tödlichen Lethargie zu wecken, euch Episoden meines Wirkens enthüllt, wollt ihr dann diese Güte tadeln? Wahrlich, ihr verdient es nicht, dieses Geschenk und diese Mühe eures Erlösers, der euch aus dem Sumpf ziehen möchte, in dem ihr erstickt. Da ich euch aber das Geschenk mache, nehmt es an und erhebt euch. Es sind neue Noten im Chor, die meine Evangelien singen. Wenn sie wenigstens dazu dienten, eure Aufmerksamkeit zu wecken, denn ihr kennt die Episoden der Evangelien sehr schlecht und lest sie voller Unachtsamkeit.

Oder denkt ihr, daß ich in drei Jahren nur die wenigen berichteten Wunder gewirkt habe? Glaubt ihr vielleicht, daß nur die wenigen genannten Frauen geheilt worden sind? Wenn der Schatten des Petrus schon genügte, um zu heilen, was wird dann erst mein Schatten gewirkt haben? Und mein Atem? Und mein Blick? Denkt an die blutflüssige Frau: "Wenn es mir gelingt, den Saum seines Gewandes zu berühren, dann bin ich geheilt."

Und es war so. Unaufhörlich ging die Kraft des Wunders von mir aus. Ich war gekommen, um zu Gott zu führen und die Schleusen der Liebe zu öffnen, die seit dem Tag des Sündenfalles verschlossen waren. Jahrhunderte zurückgehaltener Liebe ergossen sich wie Flüsse über die kleine Welt von Palästina. Die ganze Liebe Gottes für den Menschen, die sich endlich entfalten konnte, wie sie es erschnte, um die Menschen zuerst mit der Liebe und dann mit dem Blut zu erlösen.

Ihr werdet mir vielleicht sagen: "Aber warum denn diese, die ein so elendes Wesen ist?" Ich werde euch antworten, wenn sie, die ihr so verachtet und die ich so liebe, weniger erschöpft ist. Ihr würdet das Schweigen verdienen, das ich für Herodes hatte. Doch es ist mein Versuch, euch zu erlösen, euch, die ihr wegen des Stolzes am schwierigsten zu überzeugen seid.»

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21. August 1944:

Jesus sagt:

«Ich will euch antworten mit den Worten des Apostels Paulus: "Die Glieder, die am schwächsten scheinen, sind die notwendigsten; jene, die wir für die niedrigsten halten, schmücken wir in besonderer Weise; was an uns unanständig ist, das behandeln wir mit aller Rücksicht, während die anständigen Teile keiner Rücksicht bedürfen. Nun hat Gott die Dinge umgekehrt und die Glieder, die bisher keine Achtung genossen, für achtenswert erklärt."

Glaubt ihr, diese "kleine Stimme" bilde sich ein, etwas Großes zu sein? Wenn ihr sie fragtet, würde sie euch antworten: "Ich bin das schwächste und geringste Glied am Leib Christi." Dies würde sie euch in wahrer Aufrichtigkeit sagen. Doch ihr würdet ihr nicht glauben, denn jeder mißt mit seinem Maßstab. Und ihr, die ihr weder demütig noch aufrichtig seid, sagt: "Ich bin böse", damit ihr hören könnt: "Aber nein, du bist gut"; ihr, die ihr dies im Obermaß von euch selbst denkt; und wenn einer aus Nächstenliebe so ehrlich ist, daß er schweigt, weil er euch als weniger gut oder schlecht erkannt hat, und euch nicht lobt, dann geratet ihr in Zorn gegen ihn und haßt ihn, weil er euch nicht lobt; aber ihr wollt nicht glauben, daß sie ehrlich ist. Doch ich, der ich ihre Gedanken lese und ins Innere ihres Herzens sehe, ich weiß, was sie über sich selbst denkt. Wie oft erklingen in den Gesprächen zwischen dieser Seele und ihrem Gott überzeugende Worte. Sie sagt: "Aber wie konntest du mich wählen, Herr, da ich nichts wert bin, oft gefehlt habe und immer wieder fehle?" Und beinahe zweifelt sie an mir, denn es scheint ihr unmöglich, daß ich sie für diese Aufgabe erwählt habe.

Schwach, äußerst schwach glaubt sie sich. Und wenn sie sich mit der Vollkommenheit vergleicht, ist sie schwächer als ein Haar eines Neugeborenen. Minderwertig glaubt sie sich. Und wenn wir sie mit ihrem Gott vergleichen, dann ist sie noch weniger als ein im Schlamm geborener Wurm. Doch sie hat eine einzige Kraft: die totale Liebe. In ihrem Geben und Sich-Hingeben denkt sie nie an sich oder an den Nutzen, der ihr von anderen kommen könnte. Sie denkt nur daran, mir allein zu gefallen, mir allein zu dienen, und sie macht sich dadurch sogar in der Welt unbeliebt. Sie hat es soweit gebracht, daß sie sich selbst als Fleisch haßt. Mit jenem heiligen Haß, den ich gelehrt habe, als ich sagte: "Wer sein (irdisches) Leben reiten will, wird es verlieren (das ewige), und wer es aus Liebe zu mir verliert, wird es finden." Heiliger Haß dessen, der das Wort verstanden hat!

Wegen dieser Liebe, die über ihre Schwäche siegt, habe ich sie erwählt. Eines Tages habe ich ein Kind geholt und es in die Mitte meiner Apostel gestellt, um ihnen ein Beispiel zu geben. Denn das Kind liebt mit allen seinen Kräften und hat keinen Gedanken des Stolzes. Im kleinen Kind aber bringt der Same Satans als erste Ähre den Stolz hervor, und dieser blüht, wenn der Same kaum den Halm aus dem Mutterschoß erhoben hat; dann setzt er die zweite Ähre der Sinnlichkeit und die dritte der Macht- und der Geldgier an. Doch die erste Ähre ist immer der Stolz, und er keimt auf den Lippen, die eben erst die Süße der Muttermilch vergessen haben.

Wie Kinder will ich meine Jünger, um ihnen die Worte des Lebens zu geben. Wie schön war es doch zu sehen, als sie, die Händchen voller Blumen, zu mir kamen, um mir zu sagen: "Nimm", um dann lächelnd davonzulaufen und mit neuen Blümchen zurückzukehren, wie in einem Spiel der Liebe, vertrauensvoll, aufrichtig und liebevoll... Ich will Kinder in der Welt, um die Welt zu heiligen. Und da die Unschuld, die vorübergeht und unter euch wohnt, nicht vermag, euch zu bessern: sie müßte es, denn die Unschuld ist ein Wesen des Himmels, ein Wesen, das Reinheit und Friede ausströmt und ohne Worte von Gott spricht, der es geschaffen hat; das, ohne zu reden, Ehrfurcht gebietet für das, was Gott gehört; das um Erbarmen und Liebe fleht für sein Kindsein; das nicht verdorben werden darf wegen seiner Schwäche, die geliebt werden muß; Blume eures Nächsten, wie der Kranke und Leidende eine Blume ist, weiß die erste, rot und violett die beiden anderen; Blumen, die ihr bevorzugen sollt unter den Nächsten, die geliebt werden müssen. Da die Unschuld des Kindesalters

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nicht genügt, erschaffe ich die geistigen Kinder, die von einer Wissenschaft durchdrungen sind, die ihr nicht habt, die zugleich demütig, einfach, vertrauensvoll und aufrichtig sind, Kinder, die lächelnd ihre ersten Schrittchen machen und wissen, daß sie ohne Mutter fallen würden, und sie deshalb nie loslassen.

Auch sie, auch sie läßt mich nicht los. Und gerade deshalb wird ihr und ihnen, die euch so schwach und wertlos erscheinen, das gegeben, was euch nicht gegeben wird.

Im mystischen Leib sind es gerade diese von der Welt der Hochmütigen verachteten Glieder, die am meisten wirken. Ein Finger ist kein Gehirn. Aber was würdet ihr ohne Finger tun? Ihr könntet die einfachsten und demütigsten Werke des Lebens nicht vollbringen; ihr wäret wie ein Neugeborenes in Windeln, das nicht einmal die Brust nehmen und daraus trinken kann, wenn die Mutter es nicht mit den Lippen an sie legt. Ihr wäret, wenn auch noch so gelehrt und intelligent, unfähig, den Gedanken eures Gehirns auf dem Papier zu verewigen.

So auch sie. Sie ist ein Finger... Aber diesem kleinen Teil habe ich die Aufgabe gegeben, euch zum Licht zu führen und euch das Licht zu zeigen. Das Licht, das euch wieder entzünden will, ihr Lampen, die ihr unter dem Rauch des Rationalismus rußig geworden oder durch das Geld, die Sinnlichkeit und die Lieblosigkeit ausgelöscht worden seid. Nieder, auf die Knie! Nicht vor der "kleinen Stimme", sondern vor dem Wort, das spricht! Die "kleine Stimme" wiederholt nur seine Worte. Sie ist das Werkzeug ihres Gottes. Betet den Herrn an, der spricht. Den Herrn! Die "kleine Stimme" ist namenlos! Ich will sie vor der Welt verbergen. Später wird sie bekannt sein. Jetzt ist sie nur "Stimme". Sie überträgt meine Stimme. Ihre Ehre ist ihr Martyrium, denn jede Auserwählung Gottes bedeutet Kreuzigung des Seins.

Ich verlange nicht einmal, daß ihr sie liebt. Ihr genüge ich, und sie verlangt nichts anderes. Aber ich will, daß ihr sie in Frieden laßt und ihr die Achtung bezeugt, die ihr einem Werkzeug Gottes schuldig seid.»

343. «ES GIBT KEIN ELEND, DAS JESUS NICHT

IN REICHTUM VERWANDELN KÖNNTE»

Maria sagt:

«Maria, jetzt spricht die Mutter. Mein Jesus hat von der geistigen Kindheit gesprochen, die notwendig ist, um das Reich zu gewinnen. Gestern hat er dir eine Seite seines Lebens als Meister gezeigt. Du hast Kinder gesehen, arme Kinder. Wäre da weiter nichts zu sagen? Doch, und ich sage es dir. Dir, der ich Jesus immer teurer machen möchte. Es ist eine Feinheit in dem Bild, das für den Geist vieler zu deinem Geist gesprochen hat. Aber es sind gerade die Feinheiten, die ein Bild schön machen und die Fähigkeit des Malers und das Verständnis des Betrachters enthüllen.

Ich möchte dich auf die Demut meines Jesu aufmerksam machen.

Das arme Mädchen behandelt in seiner unwissenden Einfalt den hartherzigen Sünder nicht anders als meinen Sohn. Es weiß nichts vom Rabbi und vom Messias. Es ist nur eine kleine Wilde, die auf den Feldern und in einem Haus gelebt hat, wo man den Meister verachtet hat, denn der Pharisäer Ismael verachtete meinen Jesus, und es hat nie von Jesus gehört oder ihn gesehen.

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Vater und Mutter, zerbrochen an der schweren Arbeit, die der grausame Herr aus Gewinnsucht auferlegte, hatten weder Zeit noch Möglichkeit, ihr Haupt von der Scholle, die sie fruchtbar machten, zu erheben. Vielleicht haben sie, während sie Gras und Korn mähten, Früchte und Weintrauben pflückten oder die Oliven in der harten Mühle zerquetschten, ein Hosannarufen gehört und dann für einen Augenblick das müde Haupt erhoben. Aber Angst und Müdigkeit ließen sie bald wieder die Häupter unter ihrem Joch senken. Sie sind gestorben mit dem Gedanken, daß die Welt nur Haß und Schmerz bedeutet, während doch die Welt lieb und gut geworden ist, seit die heiligsten Füße meines Jesu sie betreten haben. Arme Knechte eines erbarmungslosen Herrn! Sie sind gestorben, ohne auch nur ein einziges Mal dem Blick und dem Lächeln meines Jesus begegnet zu sein, ohne sein Wort gehört zu haben, das dem Geist einen Reichtum verleiht, durch den sich die Notleidenden reich, die Hungrigen gesättigt, die Kranken geheilt und die Trauernden getröstet fühlen.

Jesus sagt nicht: "Ich, der ich der Herr bin, sage dir: Tue dies!" Er bewahrt seine Anonymität.

Doch die Kleine, so unwissend, daß sie nicht einmal angesichts des Wunders aufmerksam wird, durch das ein Zweig des kahlen Apfelbaumes Äpfel trägt, um ihren Hunger zu stillen, fährt fort, ihn "Herr" zu nennen, wie sie Ismael "Herr" und Jakob "grausam" nannte. Sie fühlt sich zu dem guten Herrn hingezogen, weil Güte immer anzieht, nichts weiter. Sie folgt ihm vertrauensvoll. Sie liebt ihn sofort, instinktiv, das arme kleine Wesen, das in der Welt und in der von der Welt gewollten Unwissenheit verloren ist; in der "großen Welt der Mächtigen und der Genießer", die die Niedrigen in der Finsternis lassen will, um sie leichter quälen und ausnützen zu können. Sie wird noch erfahren, wer jener "Herr" war, der arm gewesen ist wie sie, ohne Haus und Nahrung, ohne Mutter, denn er hatte alles verlassen aus Liebe zu den Menschen, auch zu dem Menschlein, das sie war; der Herr, der ihr wunderbare Früchte geschenkt und ihr die Bitterkeit menschlicher Bosheit, die den Haß der Elenden gegen die Mächtigen bewirkt, von den Lippen und aus dem Herzen genommen hat, mit einer Frucht des Vaters, nicht mit einem Brocken Brot, der zu spät gereicht wurde und für das Kind nur den Geschmack der Härte und der Tränen gehabt hätte.

Wahrlich, jene Äpfel erinnerten an den Apfel des irdischen Paradieses. Als Frucht des Baumes des Guten und des Bösen hätten sie Erlösung von allem Elend bedeutet, vor allem Befreiung aus der Unkenntnis Gottes für diese beiden Waisenkinder und sichere Strafe für jene, die das Wort schon kannten, aber so gehandelt hatten, als ob sie es nicht kennen würden.

Das Mädchen wird später von der Guten, die sie im Namen Jesu aufgenommen hat, erfahren, wer Jesus war. Für sie war er der mehrfache Retter.

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Vor Hunger, vor Unwetter, vor den Gefahren der Welt und vor den Folgen der Erbschuld hat er sie gerettet.

Für sie stand Jesus immer im Licht jenes Tages. Er ist für immer erschienen als der gute Herr, erfüllt von einer märchenhaften Güte, der für sie Liebkosungen und Geschenke hatte, der sie vergessen ließ, daß sie ohne Vater, ohne Mutter, ohne Dach und Kleider war; denn er war gut zu ihr wie ein Vater und liebevoll wie eine Mutter; er gab ihr in ihrer Müdigkeit ein Nestlein und bedeckte ihre Nacktheit mit seiner Brust und seinem Mantel und mit dem der anderen Guten, die bei ihm waren.

Es war ein väterliches, mildes Licht, das nicht einmal von der Flut der Tränen ausgelöscht wurde, als sie erfuhr, daß er an einem Kreuz gestorben war; nicht einmal, als sie, die kleine Gläubige der ersten Kirche, sah, was aus dem Antlitz ihres "Herrn" unter den Schlägen und Dornen geworden war, und wie er nunmehr im Himmel zur Rechten des Vaters saß. Ein Licht, das ihr zulächelte in ihrer letzten Stunde auf Erden und sie frei von Ängsten ihrem Erlöser zuführte. Ein Licht, das ihr nun immer zulächelt, so unaussprechlich mild im Glanz des Paradieses.

Jesus schaut auch dich so an. Schau ihn immer an, wie das einstige gleichnamige Mädchen, und sei glücklich über seine Liebe. Sei schlicht, demütig und treu wie die arme und kleine Maria, die du kennengelernt hast. Schau, wohin sie gelangt ist, obwohl sie eine kleine, unwissende Israelitin war: zum Herzen Gottes. Die Liebe hat sich ihr wie dir geoffenbart, und sie wurde eine Gelehrte der wahren Weisheit.

Hab Vertrauen, sei im Frieden. Es gibt kein Elend, das mein Sohn nicht in Reichtum umwandeln könnte, und es gibt keine Einsamkeit, die er nicht ausfüllen könnte, wie es auch keine Fehler gibt, die er nicht auslöschen könnte. Es gibt keine Vergangenheit mehr, wenn die Liebe sie auslöscht. Nicht einmal eine schreckliche Vergangenheit. Willst du dich fürchten, wenn nicht einmal der Räuber Dismas Furcht hatte? Liebe, liebe und fürchte nichts!

Die Mama verläßt dich mit ihrem Segen.»

344. «ICH WILL, DASS DIE WAISEN EINE MUTTER HABEN»

Der See von Tiberias sieht aus wie eine Schieferplatte von der Farbe matten Quecksilbers, so schwer und unbeweglich, daß es ihm nicht gelingt, Schaum zu bilden. Er bleibt still und ruhig, nachdem er angedeutet hat, sich bewegen zu wollen, und paßt sich den übrigen glanzlosen Gewässern unter einem glanzlosen Himmel an.

Am schmalen Strand von Bethsaida machen sich Petrus und Andreas bei ihrem Boot zu schaffen, während Jakobus und Johannes das ihrige für die Abreise vorbereiten.

Geruch von Kräutern und nassen Erdschollen, leichte Nebel auf den ausgedehnten Wiesen in Richtung Chorazim. Schwermutstimmung des Novembers liegt über allen Dingen.

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Jesus verläßt das Haus des Petrus, die Kinder Matthias und Maria an der Hand, die Porphyria mit mütterlicher Sorgfalt gekleidet hat.

Das Kleidchen Marias ist nun durch ein Gewand Margziams ersetzt worden. Matthias hingegen ist zu klein, um in den Genuß einer ähnlichen Wohltat zu kommen. Er zittert noch in seinem verwaschenen Baumwollkittelchen, so daß Porphyria mitleidig ins Haus geht und mit einem Stück Decke zurückkehrt, in das sie das Kind einwickelt, als ob es ein Mantel wäre. Jesus dankt ihr, während sie beim Abschied niederkniet und sich dann nach einem letzten Kuß für die beiden Waisenkinder zurückzieht.

«Nur um Kinder zu haben, hätte sie auch diese genommen», bemerkt Petrus, der die Szene beobachtet hat und sich niederbeugt, um den beiden Kindern ein Honigbrot zu geben, das er unter einem Bootssitz aufbewahrt hatte. Andreas lacht darüber und sagt: «Kriegst du nichts? Du hast sogar deiner Frau den Honig gestohlen, um den beiden eine kleine Freude zu machen.»

«Gestohlen! Gestohlen! Das ist mein Honig!»

«Ja, aber meine Schwägerin behütet ihn, denn er gehört Margziam, und obwohl du das weißt, hast du dich heute nacht wie ein Dieb barfuß in die Küche geschlichen, um davon zu holen und das Brot herzurichten. Ich habe dich gesehen, Bruder, und gelacht, weil du dich wie ein Kind, das sich vor Mutters Ohrfeigen fürchtet, umgesehen hast.»

«Du böser Spion!» lacht Petrus und umarmt seinen Bruder, der ihn küßt und sagt: «Mein lieber Bruder!»

Jesus zwischen den beiden Kindern, die ihr Brot verschlingen, beobachtet sie lächelnd.

Von Bethsaida kommen die anderen acht Apostel, die wahrscheinlich Gäste des Philippus und Bartholomäus waren.

«Schnell!» schreit Petrus und packt mit einem Griff beide Kinder, um sie ins Boot zu setzen, ohne daß die nackten Füßchen naß werden. «Ihr habt keine Angst, nicht wahr?» fragt er, während er mit seinen kurzen, kräftigen, bis über die Knie nackten Beinen, im Wasser watet.

«Nein, Herr», sagt das Mädchen, klammert sich jedoch krampfhaft am Hals des Petrus fest und schließt die Augen, als dieser es ins Boot setzt, das unter dem Gewicht Jesu, der es besteigt, schwankt. Der kleine Junge, der mutiger oder verwunderter ist, sagt nichts. Jesus setzt sich, zieht die beiden Kleinen an sich und bedeckt sie mit seinem Mantel, der wie ein zum Schutz der Küklein ausgebreiteter Flügel aussieht.

Sechs in dem einen Boot, sechs im anderen, so sind nun alle hinein. Petrus entfernt den Landesteg, stößt das Boot mit seiner kräftigen Hand weiter ins Wasser und schwingt sich mit einem letzten Sprung an Bord, während Jakobus es mit seinem Boot ebenso macht. Der Sprung des Petrus hat die Barke in starkes Schaukeln gebracht, so daß die Kleine jammert: «Mutter!» und ihr Gesicht im Schoß Jesu verbirgt und seine

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Knie umklammert. Nun gleitet das Boot sanft dahin, obgleich Petrus, Andreas und der Schiffsjunge, denen Philippus als vierter Mann zu Hilfe kommt, mühsam rudern müssen. Das Segel hängt schlaff in der schweren, feuchten Windstille und hilft nichts, es muß gerudert werden.

«Eine schöne Ruderpartie!» ruft Petrus denen im Zwillingsboot zu, wo Iskariot den vierten Mann ersetzt und ausgezeichnet rudert, was Petrus lobt.

«Streng dich an, Simon!» entgegnet Jakobus. «Streng dich an, sonst werden wir dich überholen. Judas ist stark wie ein Galeerensträfling. Bravo, Judas!»

«Ja, wir werden dich zum Gruppenführer der Rudermannschaft ernennen», bestätigt Petrus, der für zwei rudert, und lachend fügt er an: «Aber es wird euch nicht gelingen, Simon des Jonas den ersten Platz streitig zu machen, denn mit zwanzig Jahren war ich schon der erste Ruderer bei den Wettkämpfen zwischen den verschiedenen Dörfern», und fröhlich gibt er seiner Gruppe den Takt an: «Oh... hissa! Oh... hissa!» Die Stimmen schallen durch das Schweigen des zur Morgenstunde verlassenen Sees.

Die Kinder schöpfen neuen Mut, und unter dem Mantel erheben sie die mageren Gesichtlein, das eine rechts, das andere links vom Meister, der sie umfangen hält, und lächeln kaum merklich. Sie interessieren sich für die Arbeit der Ruderer und tauschen ihre Meinungen aus.

«Das ist ja wie das Fahren auf einem Wagen ohne Räder», sagt der Knabe.

«Nein, auf einem über die Wolken gleitenden Wagen. Schau! Es ist, als würden wir über den Himmel getragen. Schau, schau, jetzt steigen wir auf eine Wolke!» sagt Maria, als sie sieht, wie das Boot seinen Bug an einer Stelle ins Wasser taucht, wo sich eine große Wolke widerspiegelt, und lacht zaghaft. Die Sonne durchdringt die Nebel, und trotz der nur blassen Novembersonne werden die Wolken golden und spiegeln sich schillernd im See.

«Oh, wie schön! Jetzt fahren wir auf Feuer. Oh, schön, schön!» und der Kleine klatscht in die Hände.

Das Mädchen jedoch schweigt und bricht plötzlich in Tränen aus. Alle wollen wissen, warum es weint. Schluchzend erklärt es: «Die Mutter erzählte uns immer ein Gedicht, einen Psalm, ich weiß nicht, um uns zum Guten zu ermuntern, damit wir auch bei so viel Leid noch beten konnten... und dieses Gedicht handelte von einem Paradies, das wie ein See von Licht, von mildem Feuer sein wird, wo es nur Gott und Freude gibt, und wo alle hingehen werden, die gut sind... nachdem der Erlöser gekommen ist... Dieser goldene See hat mich daran erinnert... an meine Mutter!»

Auch Matthias weint, und alle bemitleiden die beiden.

Doch über das Murmeln der verschiedenen Stimmen und die Klage der Kinder erhebt sich die sanfte Stimme Jesu: «Weint nicht, eure Mutter hat

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euch zu mir geführt, und sie ist hier unter uns, während ich euch zu einer Mutter ohne Kinder führe. Sie wird so glücklich sein, zwei gute Kinder anstelle des eigenen zu haben, das nun dort ist, wo eure Mutter ist. Denn auch sie hat geweint, wißt ihr? Ihr ist das Kindlein gestorben, wie euch die Mutter...»

«Oh, dann gehen wir zu ihr, und ihr Kind kann zu unserer Mutter gehen!» sagt Maria.

«Genau so wird es sein, und ihr werdet alle glücklich sein.»

«Wie ist denn diese Frau? Was tut sie? Ist sie eine Bäuerin? Hat sie einen guten Herrn?» interessieren sich die Kinder.

«Sie ist keine Bäuerin, aber sie hat einen Garten voller Rosen und ist gut wie ein Engel. Sie hat einen guten Mann, und auch er wird euch gern haben.»

«Meinst du, Meister?» fragt Matthäus ein wenig ungläubig.

«Ich bin sicher. Ihr werdet euch davon überzeugen können. Vor kurzem wollte Chuza den Margziam haben, um aus ihm einen Ritter zu machen.»

«Alles, nur das nicht!» schreit Petrus.

«Margziam wird ein Ritter Christi werden, nur das, Simon, sei beruhigt!»

Der See wird wieder grau. Ein leichter Wind weht, der die Oberfläche des Wassers kräuselt. Das Segel spannt sich und das Boot gleitet zitternd dahin. Aber die Kinder sind so in Träumen von der neuen Mutter versunken, daß sie keine Angst verspüren.

Nun kommen sie an Magdala vorbei mit seinen weißen Häusern im Grünen, dann lassen sie das Gebiet zwischen Magdala und Tiberias hinter sich und sehen die ersten Häuser von Tiberias.

«Wohin, Meister?»

«Zur kleinen Landestelle Chuzas.»

Petrus wendet und gibt dem Schiffsjungen Anweisungen. Das Segel fällt herab, während das Boot in den kleinen Hafen einfährt und, gefolgt vom anderen Boot, an der Mole anlegt. Nun stehen die beiden Barken nebeneinander still wie zwei müde Entlein. Alle steigen aus, und Johannes eilt voraus, um den Gärtnern etwas zuzurufen.

Die Kleinen klammern sich furchtsam an Jesus, und Maria fragt mit einem Seufzer, indem sie am Gewand Jesu zupft: «Aber wird sie auch wirklich gut sein?»

Johannes kommt zurück. «Meister, ein Diener öffnet soeben das Tor. Johanna ist schon aufgestanden.»

«Gut. Wartet alle hier. Ich werde vorausgehen.»

Jesus geht allein voraus. Die anderen schauen ihm nach und machen mehr oder weniger positive Bemerkungen über den Versuch, den Jesus unternimmt. Es fehlt weder an Zweifeln noch an Kritik. Doch von dem

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Ort aus, an dem sie sich befinden, sehen sie nur, wie Chuza herbeieilt und sich auf der Schwelle des Tores bis zum Boden verbeugt, um sich dann zur Linken Jesu in den Garten zu begeben. Weiter sehen sie nichts.

Aber ich sehe Jesus, der langsam an der Seite Chuzas geht, welcher seine ganze Freude zeigt, Jesus zu Gast zu haben: «Meine Johanna wird wie ich sehr glücklich sein. Es geht ihr immer besser. Sie hat mir von der Reise erzählt. Welche Triumphe, mein Herr!»

«Hast du es nicht bedauert?»

«Johanna ist glücklich, und ich bin glücklich, sie so zu sehen. Schon seit Monaten hätte ich sie vielleicht nicht mehr gehabt, Herr!»

«Du hättest... und ich habe sie dir wiedergegeben. Sei Gott dankbar dafür!»

Chuza schaut ihn verlegen an... dann flüstert er: «Soll das ein Vorwurf sein, Herr?»

«Nein, ein Rat! Sei gut, Chuza!»

«Meister, ich bin ein Diener des Herodes ...»

«Ich weiß es. Aber deine Seele ist nur Dienerin Gottes, wenn du es willst.»

«Das ist wahr, Herr. Ich werde mich bessern. Manchmal packt mich Menschenfurcht...»

«Hättest du sie auch im vergangenen Jahr gekannt, als du Johanna retten wolltest?»

«O nein! Auf Kosten jeglicher Ehrenstellen hätte ich mich an den gewandt, von dem ich glaubte, daß er sie retten könne.»

«Tue dasselbe für deine Seele, denn sie ist noch kostbarer als Johanna. Siehe, da kommt sie.»

Sie gehen ihr rasch entgegen, und sie eilt in der Allee auf sie zu.

«Mein Meister! Ich habe nicht erwartet, dich so bald wiederzusehen. Welche Güte führt dich zu deiner Dienerin?»

«Eine Not, Johanna!»

«Eine Not? Welche? Sprich, wenn wir dir helfen können, wollen wir es tun», sagen die Eheleute gleichzeitig.

«Ich habe gestern abend auf einem verlassenen Weg zwei arme Kinder gefunden... ein kleines Mädchen und einen kleinen Knaben... barfuß, mit zerfetzten Kleidern, hungrig und allein... und ich habe gesehen, wie sie von einem Mann vertrieben wurden, wie Hunde von einem herzlosen Menschen. Sie waren am Verhungern... Dem Mann habe ich im vergangenen Jahr eine reiche Ernte geschenkt, er aber hat den beiden Waisen ein Stücklein Brot verweigert. Es sind Waisenkinder, allein auf den Wegen der grausamen Welt. Jener Mann wird seine Strafe erhalten, und ihr, wollt ihr meinen Segen haben? Ich strecke meine Hand aus und bettle um Liebe für die Waisen ohne Haus, ohne Kleider, ohne Nahrung, ohne Liebe. Wollt ihr mir helfen?»

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«Aber Meister! Du fragst uns? Sage, was du willst, wieviel du willst, sage alles ...» sagt Chuza schnell.

Johanna sagt nichts, sie preßt ihre Hände an die Brust, und eine Träne an den langen Wimpern, ein sehnsüchtiges Lächeln auf den roten Lippen, sagen mehr, als wenn sie sprechen würde. Jesus schaut sie an und lächelt: «Ich wünschte, daß diese Kinder eine Mutter, einen Vater und ein Heim hätten, und daß die Mutter den Namen Johanna hätte ...»

Er hat noch nicht ausgesprochen, als schon der Aufschrei Johannas ertönt, wie der eines aus dem Gefängnis Entlassenen, während sie sich niederwirft, um die Füße ihres Herrn zu küssen.

«Chuza, was meinst du? Nimmst du in meinem Namen diese meine geliebten, teuren Kleinen auf, die meinem Herzen mehr bedeuten als Edelsteine?»

«Meister, wo sind sie? Führe mich zu ihnen, und ich schwöre dir bei meiner Ehre, daß ich sie von dem Augenblick an, da ich meine Hand auf ihr unschuldiges Haupt lege, wie ein leiblicher Vater in deinem Namen lieben werde.»

«So kommt! Ich wußte, daß ich nicht umsonst kommen würde. Kommt! Sie sind ungebildet und eingeschüchtert, jedoch gut. Vertraut mir, der ich die Herzen und die Zukunft kenne. Sie werden eurer Vereinigung Frieden und Einigkeit geben, nicht gleich, aber später. In der Liebe zu ihnen werdet ihr euch wiederfinden. Ihre unschuldigen Umarmungen werden der beste Zement sein für eure Ehe. Der Himmel wird ob dieser eurer Nächstenliebe mit seiner Güte und Barmherzigkeit über euch sein. Sie stehen vor dem Tor, wir kommen von Bethsaida...»

Johanna hört nicht mehr weiter zu. Sie eilt voraus, ergriffen von der Sehnsucht, Kinder zu liebkosen.

Sie tut es, indem sie niederkniet, die beiden Waisenkinder an ihre Brust drückt und ihre mageren Wangen küßt, während die beiden die schöne Frau in den mit Schmuck verzierten Kleidern staunend betrachten. Sie schauen Chuza an, der sie liebkost und dann Matthias in die Arme nimmt, und betrachten den herrlichen Garten und die Diener, die herbeieilen...

Sie sehen das Haus, das Jesus und den Aposteln seine Gemächer voller Reichtümer öffnet und schauen Esther an, die sie mit Küssen bedeckt.

Eine Traumwelt hat sich vor den kleinen Verlorenen aufgetan... Jesus beobachtet sie und lächelt...

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345. ZU NAIM IM HAUS DES AUFERWECKTEN DANIEL

Die Stadt Naim feiert ein großes Fest. Sie hat Jesus zu Gast. Zum ersten Mal nach der Auferweckung des Jünglings Daniel.

Von einer großen Menschenmenge umgeben, geht Jesus segnend durch die Stadt. Zu den Bewohnern von Naim haben sich auch Bewohner anderer Ortschaften gesellt, besonders aus Kapharnaum, wo sie ihn gesucht haben und von wo sie nach Kana und von dort nach Naim geschickt worden sind. Ich habe den Eindruck, daß Jesus, der nun schon viele Jünger hat, etwas wie ein Informationsnetz gebildet hat, damit Pilger, die ihn suchen, ihn finden können, obwohl er täglich einige Meilen zurücklegt, sofern es die Jahreszeit und die kurzen Tage erlauben. Unter denen, die gekommen sind, ihn zu suchen, fehlt es auch nicht an Schriftgelehrten und Pharisäern, die nach außen hin ergeben scheinen...

Jesus ist Gast im Haus des auferweckten Jünglings, wo auch die Vornehmen des Ortes zusammengekommen sind. Als die Mutter Daniels die Schriftgelehrten und Pharisäer erblickt – sieben an der Zahl, wie die sieben Hauptsünden – lädt sie sie demutsvoll ein und entschuldigt sich, ihnen kein würdigeres Haus anbieten zu können.

«Der Meister ist da. Der Meister ist da, Frau! Das macht sogar eine Höhle wertvoll. Doch dein Haus ist weit mehr als ein Höhle, und wir betreten es mit den Worten: "Der Friede sei mit dir und mit deinem Haus!"»

Tatsächlich hat die Frau, obwohl sie nicht reich ist, ihr Möglichstes getan, um Jesus mit Ehren zu empfangen. Gewiß sind in gemeinsamer Anstrengung alle Reichtümer von Naim aufgeboten worden, um Haus und Tafel zu schmücken. Die jeweiligen Eigentümer beäugen aus allen möglichen Ecken die Gesellschaft, die sich durch den Korridor am Eingang zu den beiden zur Straße hin gelegenen Räumen begibt, in denen die Herrin des Hauses die Tische gedeckt hat. Vielleicht haben die Leute, die Decken, Geschirr und Sitze geliehen und sich zum Dienst an den Kochstellen bereiterklärt haben, nur eines verlangt: den Meister aus der Nähe sehen und dort atmen zu dürfen, wo er atmet. Nun zeigen sie sich da und dort, rot, mit Mehl und Asche bestäubt oder mit tropfenden Händen, entsprechend ihren Obliegenheiten in der Küche. Sie spähen, erhaschen sich ihren Anteil an göttlichen Blicken und Worten, trinken den süßen Segen und die sanfte Gestalt mit ihren Augen und Ohren und kehren noch röter zu ihren Feuerstellen, Schüsseln und Wasserbecken zurück: glücklich!

Ganz außer sich vor Freude ist jene, die zusammen mit der Hausmutter den angesehenen Gästen die Wasserbecken reicht. Ein junges Mädchen mit braunen Haaren, dunklen Augen und rosigen Wangen, die noch roter werden, als die Hausfrau Jesus darauf aufmerksam macht, daß sie die Braut ihres Sohnes ist und daß die Hochzeit bald stattfinden wird. «Wir

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haben auf deine Ankunft gewartet, damit das ganze Haus von dir gesegnet werde. Segne auch sie, auf daß sie eine gute Ehefrau in diesem Haus sei.»

Jesus betrachtet sie, und da die Braut sich vor ihm verneigt, legt er ihr die Hände auf und sagt: «Mögen in dir die Tugenden Saras, Rebekkas und Rachels wiederaufblühen und mögen aus dir wahre Söhne Gottes hervorgehen, zu seiner Ehre und zur Freude dieses Hauses!»

Nun haben Jesus und die Vornehmen sich gereinigt und gehen mit dem jungen Hausherrn in den Speisesaal, während die Apostel mit anderen, weniger einflußreichen Männern von Naim das gegenüberliegende Zimmer betreten, und das Mahl wird eingenommen.

Ich entnehme den Gesprächen, daß Jesus vor Beginn der Vision in Naim gepredigt und geheilt hat. Doch die Pharisäer und Schriftgelehrten kümmern sich wenig darum, bestürmen aber die Leute von Naim mit Fragen, um Einzelheiten über die Krankheit Daniels zu erfahren; sie wollen wissen, wie viele Stunden zwischen dem Tod und der Auferstehung verstrichen sind, ob er schon ganz einbalsamiert war usw., usw. Jesus entzieht sich all diesen Fragen und spricht mit dem Auferstandenen, der sich nun wohl fühlt und mit einem beneidenswerten Appetit ißt.

Aber ein Pharisäer ruft Jesus, um ihn zu fragen, ob er von der Krankheit Daniels wusste.

«Ich kam zufällig von Endor, weil ich Judas von Kerioth zufriedenstellen wollte, wie ich Johannes des Zebedäus zufriedengestellt hatte. Ich wußte nicht, daß wir nach Naim kommen würden, als ich den Weg der österlichen Pilgerreise aufgenommen hatte», antwortet Jesus.

«So! Dann bist du also nicht eigens nach Endor gegangen?» fragt ein Schriftgelehrter erstaunt.

«Nein, ich hatte nicht die geringste Absicht, dorthin zu gehen.»

«Warum bist du dann doch hingegangen?»

«Ich habe es schon gesagt: Weil Judas des Simon hingehen wollte.»

«Wozu diese Laune?»

« Er wollte die Höhle der Zauberin sehen.»

«Vielleicht hattest du darüber gesprochen...»

«Nie! Ich hatte keinen Grund dazu.»

«Ich meine... vielleicht hast du mit jener Episode andere Zaubereien erklärt, um deine Jünger einzuweihen...»

«In was? Um zur Heiligkeit anzuleiten, braucht es keine Pilgerfahrten. Eine Zelle oder eine Wüste, eine Bergspitze oder ein einsames Haus dienen diesem Zweck ebensogut. Es genügt, daß der Lehrmeister streng und heilig ist und der Schüler den Willen hat, sich zu heiligen. Ich lehre dies und nichts anderes!»

«Aber die Wunder, die jetzt auch deine Jünger wirken, was sind sie anderes als Zauberei und...»

«Der Wille Gottes, dies allein! Je heiliger sie werden, desto mehr Wunder

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werden sie wirken. Mit Gebet, Opfer und ihrem Gehorsam Gott gegenüber. Mit nichts anderem!»

«Bist du dessen sicher?» fragt ein Schriftgelehrter, der sein Kinn in die Hand stützt und von unten zu Jesus hinaufschaut. Sein Ton ist spöttisch und auch mitleidig.

«Ich habe ihnen diese Waffen und diese Lehren gegeben. Sollte dann unter ihnen einer sein – und es gibt ihrer viele – der sich aus Hochmut oder aus anderen Gründen mit unwürdigen Handlungen abgibt, so war nicht ich es, der ihm das geraten hat. Ich kann beten, um zu versuchen, den Schuldigen zu bessern. Ich kann mir harte Bußübungen auferlegen, um von Gott eine besondere Erleuchtung für ihn zu erlangen, auf daß er seinen Irrtum einsehe. Ich kann mich zu seinen Füßen niederwerfen, um ihn mit meiner ganzen Liebe als Bruder, Meister und Freund anzuflehen, von der Sünde abzulassen; das würde ich nicht als Erniedrigung betrachten, denn der Wert einer Seele ist so groß, daß es sich lohnt, jede Verdemütigung auf sich zu nehmen, um diese Seele zu retten. Doch mehr kann ich nicht tun. Wenn er trotzdem in seiner Sünde verharrt, so werden dem verratenen und unverstandenen Meister und Freund Tränen und Blut aus den Augen und dem Herzen fließen.»

Welche Güte und welche Trauer sind in der Stimme und im ganzen Aussehen Jesu zu erkennen!

Schriftgelehrte und Pharisäer schauen sich gegenseitig an. Es ist ein Spiel mit Blicken. Doch sie sagen nichts weiter. Sie wenden sich nun an den jungen Daniel und fragen ihn, ob er wisse, was der Tod sei. Sie wollen wissen, was er gefühlt hat, als er ins Leben zurückgekehrt ist, und was er in der Zeit zwischen Tod und Leben gesehen hat.

«Ich weiß, daß ich sterbenskrank war und den Todeskampf durchgemacht habe. Oh, es war schrecklich! Erinnert mich nicht mehr daran! ... und doch wird der Tag kommen, da ich ihn wiederum durchstehen muß! Oh, Meister! ...» Er schaut ihn erschrocken an und wird bleich bei dem Gedanken, daß er noch einmal wird sterben müssen.

Jesus tröstet ihn sanft und sagt: «Der Tod ist an sich schon eine Sühne. Du wirst, wenn du ein zweites Mal stirbst, vollständig rein von jedem Makel sein und dich sofort des Himmels erfreuen. Aber dieser Gedanke soll dir helfen, als Heiliger zu leben, und es dürfen bei dir nur unfreiwillige und leichte Sünden vorkommen.»

Die Pharisäer gehen wieder zum Angriff über: «Aber was hast du empfunden, als du ins Leben zurückgekehrt bist?»

«Nichts. Ich fühlte mich lebendig und gesund, so als ob ich aus einem langen, schweren Schlafe erwacht sei.»

«Aber hast du dich daran erinnert, daß du tot gewesen bist?»

«Ich habe mich erinnert, daß ich schwer krank gewesen und im Todeskampf gelegen bin, das ist alles.»

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«Erinnerst du dich an die andere Welt?»

«Nein! Da ist ein schwarzes Loch, eine Lücke in meinem Leben... Nichts...»

«Dann gibt es deiner Meinung nach also keinen Limbus, kein Fegefeuer, keine Hölle?»

«Wer sagt, daß es sie nicht gibt? Gewiß gibt es sie, doch erinnere ich mich nicht daran.»

«Aber bist du sicher, daß du tot gewesen bist?»

Da fahren die von Naim in die Höhe: «Ob er tot gewesen ist? Was wollt ihr denn noch? Als wir ihn auf die Bahre legten, fing er schon an zu riechen. Mit all dem Balsam und den Binden wäre auch ein Riese gestorben.»

«Aber du erinnerst dich nicht daran, tot gewesen zu sein?»

«Ich habe euch schon gesagt, nein!» Der Jüngling wird ungeduldig und fügt hinzu: «Was wollt ihr denn mit diesen langen Befragungen erreichen? Glaubt ihr vielleicht, daß das ganze Dorf mich für tot hielt, einschließlich meiner Mutter, einschließlich meiner Braut, die vor Schmerz sterbenskrank geworden war, einschließlich meiner selbst, der ich gebunden und einbalsamiert war, während es sich in Wirklichkeit nur um Schein handelte? Was glaubt ihr denn, daß in Naim nur Kinder oder zum Scherzen aufgelegte Betrunkene sind? Meine Mutter hat in wenigen Stunden weißes Haar bekommen. Meine Braut mußte gepflegt werden, denn Schmerz und Freude hatten sie beinahe wahnsinnig gemacht. Ihr habt noch Zweifel? Wozu sollten wir das alles aufgeführt haben?»

«Wozu? Das ist wahr! Wozu sollten wir es getan haben?» fragen die Leute von Naim.

Jesus sagt nichts. Er spielt wie geistesabwesend mit der Tischdecke. Die Pharisäer wissen nicht, was sie sagen sollen... Aber Jesus öffnet unvermutet den Mund, als die Unterhaltung ins Stocken gerät, und sagt «Der Grund ist dieser (und er deutet auf die Schriftgelehrten und Pharisäer): Sie wollen feststellen, daß deine Auferweckung nichts anderes gewesen ist als ein abgekartetes Spiel, um mein Ansehen bei den Menschen zu vergrößern. Ich, der Erfinder, und ihr, die Komplizen, um Gott und die Menschen zu betrügen. Nein, ich überlasse diese Betrügereien den Unwürdigen. Ich brauche weder Hexereien noch Kniffe, weder Spielereien noch Komplotte, um das zu sein, was ich bin. Warum wollt ihr Gott die Macht absprechen, einem Körper die Seele zurückzugeben? Wenn er sie gibt, wenn sich das Fleisch bildet, und er die Seelen von Fall zu Fall erschafft, kann er sie dann nicht auch zurückgeben, auf daß durch diese Seele, die durch das Gebet ihres Messias zum Fleisch zurückkehrte, viele Menschen angespornt werden, die Wahrheit zu suchen? Könnt ihr Gott die Macht zum Wunder absprechen? Warum wollt ihr ihm das verbieten?»

«Bist du Gott?»

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«Ich bin, der ich bin. Meine Wunder und meine Lehre bezeugen, wer ich bin!»

«Aber warum erinnert sich dieser nicht, während die beschworenen Geister wissen, was das Jenseits ist?»

«Weil diese Seele, die schon durch die Buße eines ersten Todes geheiligt ist, die Wahrheit spricht, während das, was auf die Lippen der Totenbeschwörer kommt, nicht Wahrheit ist.»

«Aber Samuel ...»

«Samuel kam auf Befehl Gottes, nicht auf Befehl der Hexe, um dem treulosen Gesetzesbrecher die Rache des Herrn zu verkünden, der seiner nicht spotten läßt.»

«Warum tun es also deine Jünger?» Die hämische Stimme eines Pharisäers, der an seiner empfindlichsten Stelle getroffen ist, weckt die Aufmerksamkeit der Apostel, die sich im gegenüberliegenden Raum befinden – die beiden Räume sind nur durch einen etwas mehr als einen Meter breiten Korridor voneinander getrennt, ohne Türen oder schwere Vorhänge – und sie gehen geräuschlos in den Korridor und hören zu.

«Inwiefern tun sie das? Erkläre es mir, und wenn deine Anklage der Wahrheit entsprechen sollte, dann werde ich sie auffordern, nicht mehr gegen das Gesetz zu verstoßen.»

«Inwiefern sie das tun? Das weiß ich, und mit mir viele andere. Aber du, der du die Toten erweckst und behauptest, mehr als ein Prophet zu sein, entdecke es selbst. Wir werden es dir nicht sagen. Du hast übrigens Augen, um noch viele andere Dinge zu sehen, die von deinen Jüngern getan werden, wenn es nicht erlaubt ist, und nicht getan werden, wenn sie getan werden sollten, und du kümmerst dich nicht darum.»

«Wollt ihr mir einige nennen?»

«Warum halten sich deine Jünger nicht an die Bräuche ihrer Ahnen? Wir haben sie heute beobachtet. Gerade heute! Noch vor einer Stunde! Sie sind in ihren Speisesaal eingetreten und haben sich vorher nicht die Hände gewaschen!» Wenn die Pharisäer gesagt hätten: «Sie haben vorhin einige Bürger erdrosselt», hätten sie keinen entsetzteren Ton anschlagen können.

«Ihr habt sie beobachtet, ja. Es gibt viele Dinge zu sehen, schöne und gute Dinge, und wir wollen den Herrn preisen, daß er uns das Leben geschenkt hat, damit wir sie sehen können, und daß er sie erschaffen und erlaubt hat. Ihr aber betrachtet diese Dinge nicht, und mit euch viele andere. Ihr verliert vielmehr eure Zeit und euren Frieden damit, nach schlechten Dingen zu streben.

Ihr gleicht Schakalen, mehr noch: Hyänen, die den Spuren der Verwesung folgen und die Wellen der Wohlgerüche verachten, die der Wind von den duftenden Gärten herweht. Die Hyänen lieben weder Lilien noch Rosen, Jasmin, Kampfer, Zimt oder Nelken. Für sie haben diese abstoßende

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Gerüche. Doch der Gestank eines verwesenden Körpers im Grunde einer Schlucht, am Rand einer Straße unter dem Dornengestrüpp, wohin der Mörder ihn geworfen hat, oder an einem verlassenen Strand, wohin ihn die Sturmflut geschwemmt hat: der Gestank dieses aufgeblähten, violetten, aufgeplatzten, schrecklichen Wesens ist für die Hyänen Wohlgeruch. Sie wittern im Abendwind, der alle Gerüche mit sich trägt, welche die Sonne im Lauf des Tages hat aufsteigen lassen, diesen unbestimmten, einladenden Geruch, und nachdem sie ihn entdeckt und die Richtung festgestellt haben, aus der er kommt, eilen sie mit erhobener Schnauze davon. Mit zitternden Lefzen und entblößten Zähnen, die ihrer Fratze den Ausdruck eines hysterischen Grinsens geben, laufen sie auf den Ort der Verwesung zu. Ob es nun der Kadaver eines Menschen, eines Tieres oder einer von einem Bauern erschlagenen Natter ist, ob es ein von der Hausfrau getöteter Marder oder einfach eine Maus ist, es schmeckt, es schmeckt, es schmeckt! In diesen abstoßenden Gestank versenkt die Hyäne ihre Zähne und schmaust und leckt sich die Lippen...

Menschen, die sich Tag für Tag heiligen? Das ist uninteressant! Aber wenn ein einziger etwas Böses tut oder mehrere nicht ein göttliches Gesetz verletzen, sondern nur menschliche Handlungen unterlassen – nennt sie Bräuche, Gebote oder wie ihr wollt, es handelt sich immer um menschliche Dinge – dann geht man hin und bemerkt es. Man geht auch hinter einem Verdacht her... um sich zu ergötzen, wenn der Verdacht sich bestätigt.

Nun antwortet, antwortet, ihr, die ihr gekommen seid, aber nicht aus Liebe, nicht aus Glauben, nicht aus Redlichkeit, sondern mit böswilliger Absicht, antwortet: warum verletzt ihr das Gebot Gottes wegen einem von euren Bräuchen? Wollt ihr mir vielleicht sagen, daß ein Brauch mehr ist als ein Gebot Gottes? Und doch hat Gott gesagt: "Ehre den Vater und die Mutter, und wer Vater oder Mutter verflucht, lädt die Schuld eines Mörders auf sich." Ihr hingegen sagt: "Wer immer zu seinem Vater oder zu seiner Mutter sagt: 'Was ihr von mir fordert, ist Korban (heilige Sache)', der braucht seine Habe nicht mehr für Vater und Mutter zu verwenden." Somit habt ihr durch euren Brauch das Gebot Gottes aufgehoben.

Ihr Heuchler! Richtig hat der Prophet Isaias von euch gesagt: "Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, doch sein Herz ist fern von mir; daher ehrt es mich vergeblich, weil es menschliche Lehren und Gebote lehrt."

Während ihr die Gebote Gottes vernachlässigt, haltet ihr euch an menschliche Bräuche, an Waschungen der Krüge und Kelche, der Teller und Hände und an ähnliche Dinge. Während ihr Undankbarkeit und Geiz eines Sohnes rechtfertigt, indem ihr ihm unter dem Vorwand einer Opfergabe die Möglichkeit gebt, denen, die ihn gezeugt haben und nun einer Hilfe bedürfen, das Brot zu verweigern, regt ihr euch auf, wenn einer sich nicht die Hände wäscht. Ihr verdreht und verletzt das Wort Gottes, um

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Worten zu gehorchen, die ihr selbst geprägt habt und die von euch zum Gebot erhoben worden sind. Ihr erklärt euch damit für gerechter. als Gott. Ihr maßt euch das Recht an, Gesetze zu erlassen, während Gott allein der Gesetzgeber seines Volkes ist. Ihr...» und er würde fortfahren, doch die feindliche Gruppe verläßt das Haus unter einem Hagel von Vorwürfen; sie stößt mit den Aposteln und den Hausbewohnern, den Gästen und den Helferinnen der Hausfrau zusammen, die sich, angezogen vom hellen Klang der Stimme Jesu, im Korridor versammelt haben.

Jesus, der aufgestanden war, setzt sich wieder, fordert alle auf einzutreten und sagt: «Hört alle und vernehmt diese Wahrheit. Es gibt nichts außerhalb des Menschen, was ihn, wenn es in ihn eindringt, verunreinigen könnte. Was vom Menschen ausgeht ist es, was verunreinigt. Wer Ohren hat zu hören, der höre, nütze seinen Verstand, um zu begreifen, und seinen Willen, um zu verwirklichen. Nun laßt uns gehen. Ihr von Naim, verharrt im Guten, und mein Friede sei immer bei euch!»

Er erhebt sich, grüßt im besonderen die Besitzer des Hauses und geht durch den Korridor hinaus, wo er den befreundeten Frauen begegnet , die ihn von einer Ecke her bewundernd ansehen. Er begibt sich zu ihnen und sagt: «Der Friede sei auch mit euch! Der Himmel vergelte euch, daß ihr mir mit einer Liebe entgegengekommen seid, die mich den mütterlichen Tisch nicht vermissen ließ. Ich habe eure mütterliche Liebe in jedem Bissen Brot, im Braten, in der Süße des Honigs und im kühlen, duftenden Wein gefühlt. Bleibet mir immer wohlgesinnt, ihr guten Frauen von Naim. Doch ein anderes Mal macht euch nicht so viel Mühe meinetwegen. Es genügen Brot und eine Handvoll Oliven, gewürzt mit eurem mütterlichen Lächeln und eurem ehrlichen und guten Blick. Seid glücklich in euren Häusern, denn die Dankbarkeit des Verfolgten ist über euch, und er geht von dannen, getröstet durch eure Liebe.»

Die Frauen, glücklich, wenn auch weinend, knien alle nieder, und Jesus segnet im Vorübergehen eine nach der anderen, indem er ihre weißen oder schwarzen Haare mit der Hand berührt. Dann geht er hinaus und setzt seinen Weg fort...

Die ersten Schatten des Abends brechen herein und verbergen die Blässe Jesu, der über zu viele Dinge verbittert ist.

13. Oktober 1945:

Gestern abend, als ich versuchte, zu ruhen und zu schlafen und alle bereits schliefen, erschien mir Jesus, wie er mir immer erscheint, in einem weißen Wollgewand, Er hatte in der Rechten einen hohen, ziemlich schmalen Metallkelch. Er stellte sich an die rechte Seite des Bettes und lächelte, aber traurig. Doch sein Lächeln ermutigte mich, denn ich erkannte, daß er nicht meinetwegen traurig war, sondern daß er zu mir kam, um Erleichterung zu finden. Er legte seine linke Hand auf meine linke Schulter und zog mich näher an sich, während er mit der Rechten den Kelch an meine Lippen setzte und sagte: «Trinke!» Der Kelch war mit einer Flüssigkeit gefüllt, die klares Wasser zu sein schien. Ich sah es im Augenblick, da Jesus ihn mir reichte und mich zu trinken zwang. Ich trank.

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Welche Bitterkeit! Oh, es war nicht der betäubende Kelch des Gründonnerstags, gefüllt mit dem lebendigen Blut meines Herrn! Dem süßen sättigenden Blut, von dem ich niemals meine Lippen lösen möchte...

Das Wasser war so bitter, wie kein Medikament es sein könnte. Es brannte in der Kehle, im Magen, schüttelte mich vor Abscheu, ließ Tränen in meine Augen steigen und brannte weiter wie eine ätzende Säure. Jesus ließ mich nur einen Schluck trinken... dann stellte er den Kelch beiseite und erklärte: «Dies ist der Kelch, den ich im Ölgarten getrunken habe. Aber ich habe ihn ganz ausgetrunken, bis zum letzten Tropfen, und dieser ist noch bitterer. Das ist der Kelch, den die Sünden der Menschen täglich füllen und zum Himmel reichen, damit ich ihn trinke. Aber ich kann nur noch unendliche Liebe trinken, und daher biete ich ihn den großmütigen, den auserwählten Seelen an. Danke für diesen Schluck! Nun will ich zu anderen treuen Seelen gehen. Ich segne dich durch den Vater, mich und die ewige Liebe.»

Dann ging er weg und ließ mich zurück, Mund und Magen vom Gift verbrannt, die Seele aber voll des Friedens.

346. IM SCHAFSTALL VON ENDOR

Jesus geht nur bis nach Endor zurück. Er macht beim ersten Haus der Ortschaft halt, das mehr einem Schafstall als einem Wohnhaus gleicht. Aber gerade deshalb kann es mit seinen niedrigen, geschlossenen Ställen voller Heu die dreizehn Pilger aufnehmen. Sein Besitzer, ein derber, aber guter Mann, beeilt sich, eine Laterne und einen Eimer schäumender Milch herbeizutragen und einige Stücke sehr dunklen Brotes. Dann zieht er sich zurück, nachdem Jesus, der allein mit seinen Zwölfen zurückbleibt, ihn gesegnet hat.

Jesus opfert und verteilt das Brot, und in Ermangelung von Schüsseln oder Bechern taucht jeder sein Stück Brot in den Eimer und trinkt, wenn er durstig ist, direkt daraus. Jesus trinkt nur wenig Milch. Er ist ernst, schweigsam ... so sehr, daß alle, nachdem sie ihren Hunger gestillt haben, der den Aposteln nie fehlt, seines Schweigens gewahr werden.

Andreas fragt als erster: «Was hast du, Meister? Du scheinst mir traurig und müde zu sein...»

«Ich leugne es nicht.»

«Warum? Wegen der Pharisäer dort? Aber du müßtest dich doch daran gewöhnt haben ... Sogar ich habe mich beinahe daran gewöhnt... Du weißt, wie ich sie die erste Zeit behandelt habe. Sie singen immer das gleiche Lied! ... Diese Schlangen können nur zischen; es wird ihnen nie gelingen, den Gesang der Nachtigall nachzuahmen. Man achtet schließlich nicht mehr darauf», sagt Petrus, teils aus Überzeugung, teils um Jesus zu ermuntern.

«Auf diese Weise verliert man seine Beherrschung und fällt schließlich in ihre Fallen. Ich bitte euch, gewöhnt euch nie an die Stimmen des Bösen, so als wären sie ungefährlich.»

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«Nun gut. Aber wenn das der einzige Grund ist, weshalb du traurig bist, so tust du schlecht daran, denn du siehst doch, wie die Welt dich liebt», sagt Matthäus.

«Aber bist du nur aus diesem Grund so traurig? Sag es mir, guter Meister. Oder haben sie dir Lügen, Verleumdungen, Verdächtigungen oder was weiß ich was über uns, die wir dich lieben, erzählt?» fragt Iskariot besorgt und schmeichelnd Jesus, der an seiner Seite im Heu sitzt und den er mit einem Arm umfängt.

Jesus wendet sich Judas zu. Im zitternden Schein der Laterne ist in seinen Augen ein phosphoreszierender Blitz zu bemerken. Die Laterne steht in der Mitte der Apostel, die auf dem Heu sitzen, das rundherum zu niedrigen Sitzgelegenheiten aufgehäuft worden ist. Jesus blickt Judas Iskariot scharf an und fragt ihn: «Du hältst mich wohl für so töricht, daß ich die Verdächtigungen eines jeden beliebigen Menschen für wahr halte und mich dadurch verwirren lasse. Es sind die Wirklichkeiten, Judas des Simon, die mich betrüben», und sein Blick bohrt sich für einen Augenblick wie eine Sonde in die braunen Pupillen des Judas.

«Welche Wirklichkeiten stören dich denn?» drängt Iskariot weiter.

«Die, die ich in der Tiefe der Herzen sehe und auf den entthronten Stirnen lese.» Jesus betont diese Wort sehr.

Alle sind in Aufregung: «Entthront? Warum? Was willst du damit sagen?»

«Ein König wird entthront, wenn er nicht mehr würdig ist, auf dem Thron zu sitzen, und als erstes wird ihm die Krone von der Stirn gerissen, der vornehmsten Stelle des Menschen, des einzigen Lebewesens, das seine Stirne zum Himmel erhoben trägt, indem es in seinem animalischen Dasein zwar Materie, in seinem übernatürlichen aber Seele ist. Es ist nicht notwendig, ein König zu sein, der auf einem irdischen Thron sitzt, um entthront zu werden. Jeder Mensch ist durch seine Seele König, und sein Thron ist im Himmel. Aber wenn ein Mensch seine Seele verkauft und ein wildes Tier oder ein Teufel wird, dann entthront er sich. Die Welt ist voll von entthronten Stirnen, die nicht mehr zum Himmel erhoben sind, sondern sich zum Abgrund hinabneigen, niedergedrückt durch das Wort, das Satan auf sie gemeißelt hat. Wollt ihr es wissen? Es ist das Wort, das ich auf den Stirnen lese. Dort steht geschrieben: "Verkauft!" und damit ihr keinen Zweifel darüber habt, wer der Käufer ist, sage ich es euch: Es ist Satan, er selbst oder einer seiner Diener, die auf der Welt sind.»

«Ich habe verstanden! Die Pharisäer zum Beispiel sind Diener eines größeren Dieners, der ein Diener Satans ist», sagt Petrus überzeugt. Jesus erwidert nichts darauf.

«Jedoch ... Weißt du, Meister, daß die Pharisäer, nachdem sie deine Worte vernommen haben, verärgert fortgegangen sind? Als sie mir beim

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Hinausgehen begegnet sind, habe ich sie gehört ... Du bist sehr streng gewesen», bemerkt Bartholomäus.

Jesus entgegnet: «Aber ich habe die volle Wahrheit gesagt. Es ist nicht meine Schuld, sondern ihre, wenn man gewisse Dinge sagen muß. Es ist auch Liebe meinerseits, wenn ich sie ihnen sage. Jede Pflanze, die nicht von meinem himmlischen Vater gepflanzt worden ist, muß ausgerissen werden. Die dornigen Schmarotzerpflanzen, die den Samen der heiligen Wahrheit ersticken, sind nicht von ihm gepflanzt. Es ist Liebe, menschliche Bräuche und Vorschriften auszumerzen, wenn sie den Dekalog ersticken, ihn verdrehen und unwirksam machen und es unmöglich machen, ihn zu befolgen. Es ist Liebe zu den ehrlichen Seelen, dies zu tun. Was aber die angeht, die sich eigensinnig jedem Rat und jeder Tat der Liebe verschließen, laßt sie laufen und ihnen jene nachfolgen, die ihnen in Geist und Charakter ähnlich sind. Sie sind Blinde, die andere Blinde führen, und wenn ein Blinder einen Blinden führt, kann nichts anderes geschehen, als daß sie beide in die Grube fallen. Laßt sie sich nähren von den Unreinheiten, denen sie den Namen "Reinheit" geben. Sie können nicht noch mehr befleckt werden, denn sie tun nichts weiter, als sich dem Mutterboden anzupassen, dem sie entstammen.»

«Was du jetzt sagst, ist die Fortsetzung dessen, was du im Haus Daniels gesagt hast, nicht wahr? Nicht was von außen eindringt, verunreinigt den Menschen, sondern was aus ihm herauskommt», sagt Simon der Zelote nachdenklich.

«Ja», antwortet Jesus kurz.

Nachdem er eine Zeitlang geschwiegen hat, weil der Ernst Jesu auch den überschwenglichsten Charakter dämpft, fragt Petrus: «Meister, ich, und nicht nur ich allein, habe das Gleichnis nicht recht verstanden. Erkläre es uns ein wenig. Wie kommt es, daß der Mensch nicht durch das, was in ihn eindringt, sondern durch das, was aus ihm herauskommt, verunreinigt wird? Wenn ich einen sauberen Krug nehme und schmutziges Wasser hineingieße, dann beschmutze ich ihn. Aber wenn ich aus einem vollen Krug reines Wasser auf den Boden schütte, dann beschmutze ich nicht den Krug, denn aus ihm kommt reines Wasser. Wie soll man das also verstehen?»

Jesus erwidert: «Wir sind keine Krüge, Simon! Freunde, wir sind keine Krüge. Es ist nicht alles rein im Menschen. Aber habt jetzt auch ihr den Verstand verloren? Denkt über den Grund nach, weswegen die Pharisäer euch angeklagt haben. Sie haben gesagt, daß ihr euch verunreinigt habt, weil ihr mit schmutzigen, schwitzenden, also unreinen Händen Speise zum Mund geführt habt. Aber wohin ist die Speise gegangen? Vom Mund in den Magen, von diesem in den Bauch, vom Bauch zur Kloake. Kann sie also den ganzen Körper und alles, was zu ihm gehört, verunreinigen, wenn sie nur durch den Kanal fließt, der dazu bestimmt ist, das Fleisch zu

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nähren, dieses allein, und dann, wie es richtig ist, in einer Grube endet? Es ist nicht dies, was den Menschen verunreinigt!

Was den Menschen verunreinigt, gehört einzig und allein ihm; es wird nur von seinem Ich gezeugt und geboren. Mit anderen Worten: was er im Herzen hat und was vom Herzen auf die Lippen und in den Kopf steigt, verdirbt das Denken und das Wort und verunreinigt den ganzen Menschen. Aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken, Morde und Ehebrüche, Unzucht, Diebstähle, Lügen und Gotteslästerungen. Aus dem Herzen kommen Geiz, Wollust, Hochmut, Neid, Haß, Gier und sündhafter Müßiggang. Aus dem Herzen kommt die treibende Kraft für alle Handlungen, und wenn das Herz böse ist, dann werden auch die Handlungen böse sein wie das Herz. Alle Handlungen: von der Götzendienerei bis zur üblen Nachrede... Alle diese schlechten Dinge, die aus dem Innern des Menschen herauskommen, verunreinigen ihn, nicht das Essen mit ungewaschenen Händen. Die Wissenschaft Gottes ist nicht Schmutz, nicht Schlamm, den jeder mit Füßen tritt. Sie ist vielmehr etwas Erhabenes, das in den Gefilden der Sterne wohnt und von dort mit Lichtstrahlen herabkommt, um die Gerechten zu belehren. Daher solltet wenigstens ihr sie nicht vom Himmel herabzerren, um sie im Schlamm zu entwürdigen... Geht nun zur Ruhe. Ich will ins Freie gehen und beten.»

347. VON ENDOR NACH MAGDALA

Regen, Regen, Regen. Die Apostel sind nicht sehr begeistert über dieses ständige Wandern im Regen und schlagen Jesus vor, sich ins naheliegende Nazareth zurückzuziehen. Petrus sagt: «Dann könnte man mit dem Knaben abreisen ...»

Das «Nein» Jesu ist so nachdrücklich, daß keiner ein weiteres Wort zu sagen wagt. Jesus geht allein voraus... die anderen folgen ihm in zwei Gruppen und machen lange Gesichter.

Dann kann Petrus sich nicht mehr zurückhalten und geht zu Jesus.

«Meister, störe ich dich?» fragt er ein wenig beschämt.

«Du bist mir immer lieb, Simon. Komm!»

Petrus beruhigt sich. Er trottet neben Jesus einher, der mit seinen langen Schritten rasch vorankommt. Nach einer Weile sagt er: «Meister, es wäre schön, zum Fest den Knaben bei uns zu haben ...»

Jesus antwortet nicht.

«Meister, warum machst du mir nicht diese Freude?»

«Simon, du läufst Gefahr, daß ich dir das Kind wegnehme.»

«Nein! Herr! Warum?» Petrus ist erschrocken und traurig über diese Drohung.

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«Weil ich nicht will, daß du an irgend etwas gebunden bist. Ich habe es dir damals gesagt, als ich dir Margziam zugestanden habe. Du bist jedoch nahe daran, in dieser Zuneigung zu versanden.»

«Es ist keine Sünde zu lieben, und Margziam zu lieben, du liebst ihn doch auch ...»

«Aber diese Liebe hindert mich nicht daran, mich ganz meiner Sendung hinzugeben. Erinnerst du dich nicht mehr meiner Worte über die menschlichen Zuneigungen, meiner so klaren Ratschläge, die bereits Befehle sind für jene, die Hand an den Pflug legen wollen? Bist du es müde, Simon Petrus, in heroischer Weise mein Jünger zu sein?»

Die Stimme des Petrus ist heiser vom Weinen, als er antwortet: «Nein, Herr! Ich erinnere mich an alles und bin nicht müde. Doch ich habe den Eindruck, daß das Gegenteil der Fall ist... daß du meiner überdrüssig geworden bist, des armen Simon, der alles verlassen hat, um dir nachzufolgen...»

«Der alles in meiner Nachfolge gefunden hat, willst du wohl sagen?»

«Nein... Ja... Meister... Ich bin ein armer Mensch...»

«Ich weiß es, und gerade deswegen arbeite ich an dir, um aus dem armen Menschen einen Mann und aus diesem einen Heiligen, meinen Apostel, meinen Fels, zu machen. Ich bin hart, um dich hart zu machen. Ich will dich nicht so weich, wie dieser Schlamm ist. Ich will, daß du ein behauener, vollkommener Block wirst: der Grundstein. Verstehst du nicht, daß dies Liebe ist? Erinnerst du dich nicht an den Weisen? Er sagt, daß wer liebt, streng ist. Aber verstehe mich! Verstehe du mich wenigstens! Siehst du nicht, daß ich überwältigt und betrübt bin von soviel Verständnislosigkeit, soviel Heuchelei, soviel Lieblosigkeit und von noch zahlreicheren Enttäuschungen?»

«Ist es... ist es so, Meister? O göttliche Barmherzigkeit, ich habe es nicht bemerkt! Ich Unmensch! ... Aber seit wann denn und wer ist daran schuld? Sage es mir...»

«Es nützt nichts, du könntest doch nichts tun. Selbst ich kann nichts dagegen tun...»

«Könnte ich wirklich nichts tun, um dich zu erleichtern?»

«Ich habe es dir schon gesagt: du sollst verstehen, daß meine Strenge Liebe ist. Du sollst in all meinen Handlungen dirgegenüber Liebe sehen.»

«Ja, ja! Ich sage nichts mehr. Mein lieber Meister! Ich sage nichts mehr, und du, verzeih mir, dem großen Esel, der ich bin. Gib mir einen Beweis, daß du mir wirklich verzeihst...»

«Einen Beweis! Wahrhaftig müßte dir mein Ja genügen. Doch ich gebe dir einen Beweis. Höre: Ich kann nicht nach Nazareth gehen, weil in Nazareth außer Margziam auch Johannes von Endor und Syntyche sind, und dies darf nicht bekanntwerden.»

«Nicht einmal uns? Warum? ... Ach so! ... Meister?! Du fürchtest einen von uns?»

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«Die Klugheit lehrt, daß wenn etwas geheimgehalten werden soll, es schon zu viel ist, wenn zwei darum wissen. Man kann schon mit einem einzigen unüberlegten Wort Schaden anrichten, und ihr denkt nicht alle und nicht immer nach.»

«Das ist wahr... auch ich tue es nicht immer. Aber wenn ich will, kann ich schweigen, und nun werde ich schweigen. Oh, und ob ich schweigen werde! Ich will nicht mehr Simon des Jonas heissen, wenn ich nicht schweigen werde. Ich danke dir für deine Achtung, Meister! Dies ist ein großer Beweis deiner Liebe... So werden wir nun nach Tarichäa gehen?»

«Ja, und dann mit dem Boot nach Magdala. Ich muß das Geld für die Edelsteine abholen...»

«Siehst du, daß ich schweigen kann? Weißt du, ich habe Judas nie etwas anvertraut.»

Jesus antwortet nicht auf diesen Einwand, sondern fährt fort: «Wenn ich das Geld erhalten habe, werde ich euch alle freigeben bis zum Tag nach dem Lichterfest. Wenn ich einen von euch bei mir haben möchte, werde ich ihn nach Nazareth rufen. Die aus Judäa, mit Ausnahme des Zeloten, sollen die Schwestern des Lazarus, ihre Dienerinnen und Elisa von Bethsur zum Haus von Bethanien begleiten. Dann können sie zum Lichterfest nach Hause gehen. Mir genügt, wenn sie am Ende des Schebat zurück sind, wenn wir wieder zu pilgern beginnen. Das weißt nur du, nicht wahr, Simon Petrus?»

«Nur ich weiß es. Aber... du wirst es doch wohl auch den anderen sagen müssen...»

«Ich werde es zur rechten Zeit sagen. Nun geh zu den Gefährten und sei meiner Liebe versichert.»

Petrus gehorcht zufrieden, und Jesus vertieft sich wieder in seine Gedanken.

Die Wellen schlagen ans Ufer von Magdala, als die beiden Barken an einem späten Novembernachmittag dort anlegen. Die Wellen sind nicht hoch. Doch sind sie für den, der das Boot verläßt, lästig, weil sie die Kleider naßmachen. Aber die Aussicht auf eine baldige Unterkunft im Haus Marias von Magdala läßt das unerwünschte Bad ohne Murren ertragen.

«Zieht die Boote an Land und kommt uns nach», sagt Jesus zu den Schiffsjungen. Er macht sich sofort dem Ufer entlang auf den Weg, denn sie haben sich eine Landestelle außerhalb der Stadt ausgesucht, dort, wo auch andere Fischerboote von Magdala angelegt haben.

«Judas des Simon und Thomas, kommt mit mir!» ruft Jesus.

Die beiden eilen herbei.

«Ich habe beschlossen, euch einen Vertrauensauftrag zu geben und euch damit eine Freude zu machen. Der Auftrag ist dieser: ihr sollt die Schwestern des Lazarus nach Bethanien begleiten, und mit ihnen Elisa.

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Ich schätze euch genügend, um euch die Jüngerinnen anzuvertrauen. Ihr sollt auch Lazarus einen Brief von mir überbringen. Wenn ihr diesen Auftrag erfüllt habt, geht ihr zum Lichterfest zu euren Angehörigen nach Hause... Unterbrich mich nicht, Judas! Dieses Jahr werden wir alle das Lichterfest zu Hause feiern. Es ist ein zu regnerischer Winter zum Reisen. Ihr seht, daß auch die Kranken seltener kommen. Wir werden dies ausnützen, um uns auszuruhen und unsere Familien zufriedenzustellen. Ich erwarte euch Ende des Schebat in Kapharnaum.»

«Wirst du in Kapharnaum bleiben?» fragt Thomas.

«Ich bin noch nicht sicher, wo ich bleiben werde. Hier oder dort, das ist für mich gleich. Es genügt, daß meine Mutter bei mir ist.»

«Ich hätte das Lichterfest gerne mit dir gefeiert», sagt Iskariot.

«Ich glaube es dir. Aber wenn du mich liebst, dann gehorchst du. Um so mehr, als euer Gehorsam euch Gelegenheit gibt, den zurückgekehrten Jüngern zu helfen, sich überallhin zu verteilen. Dabei müßt ihr mir helfen. In den Familien sind es die älteren Söhne, die den Eltern bei der Erziehung der jüngeren Brüder beistehen. Ihr seid die älteren Brüder der Jünger und solltet euch darüber freuen, daß ich mich auf euch verlasse. Das beweist, daß ich mit der Erfüllung eures Auftrags von neulich zufrieden war.»

Thomas sagt einfach: «Du bist zu gütig, Meister, doch was mich betrifft, will ich mich diesmal noch mehr bemühen. Es tut mir nur leid, daß ich dich verlassen muß... Doch es wird schnell vorübergehen... und mein alter Vater wird froh sein, mich während des Festes bei sich zu haben... und auch die Schwestern... besonders meine Zwillingsschwester... Sie wird ein Kind geboren haben, oder wird es bald gebären... Der erste Neffe... Wenn es ein Junge ist und er geboren wird, solange ich dort bin, welchen Namen soll ich ihm dann geben?»

«Joseph.»

«Und wenn es ein Mädchen ist?»

«Maria. Es gibt keinen lieblicheren Namen.»

Doch Judas, stolz über den Auftrag, fängt schon an großzutun und macht Pläne über Pläne... Er hat vollkommen vergessen, daß er sich von Jesus entfernen wird, obwohl er sich noch kurze Zeit zuvor, am Laubhüttenfest, wenn ich mich recht erinnere, wie ein ungezähmtes Füllen sträubte und sich nicht einmal für kurze Zeit von Jesus trennen wollte. Er denkt nicht mehr an den Verdacht, daß Jesus ihn vielleicht für einige Zeit von sich fernhalten möchte. Alles vergißt er... und ist glücklich, als einer betrachtet zu werden, dem man heikle Aufträge anvertrauen kann. Er verspricht: «Ich werde dir viel Geld für die Armen bringen», und dabei zieht er die Börse heraus und sagt: «Sieh, nimm das! Es ist alles, was wir haben. Mehr habe ich nicht. Gib du mir das Zehrgeld für unsere Reise von Bethanien nach Hause.»

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«Aber wir werden doch nicht heute abend aufbrechen», bemerkt Thomas.

«Das macht nichts. Im Haus Marias brauchen wir kein Geld mehr und deshalb... Ich bin froh, nichts mehr damit zu tun zu haben... Wenn ich zurückkomme, bringe ich deiner Mutter Blumensamen mit. Ich lasse ihn mir von meiner Mutter geben. Ich will auch für Margziam ein Geschenk mitbringen...» Er ist ganz aufgeregt.

Jesus schaut ihn an...

Sie sind beim Haus der Maria von Magdala angelangt, machen sich bemerkbar und treten alle ein. Die Frauen eilen dem Meister, der gekommen ist, sich in ihrem Heim auszuruhen, freudig entgegen...

Nach dem Abendessen, als die müden Apostel sich bereits zurückgezogen haben, unterrichtet Jesus die um ihn herum sitzenden Jüngerinnen von seinem Wunsch, daß sie so bald als möglich abreisen mögen. Im Gegensatz zu den Aposteln protestiert keine einzige von ihnen. Sie neigen ihr Haupt zum Zeichen der Zustimmung und gehen hinaus, um ihre Sachen zu packen. Doch Jesus ruft Magdalena zurück, als sie die Schwelle erreicht hat.

«Nun, Maria? Warum hast du mir bei der Ankunft zugeflüstert: "Ich muß allein mit dir sprechen?"»

«Meister, ich habe die Edelsteine verkauft. In Tiberias. Marcella hat sie mit Hilfe Isaaks verkauft. Ich habe die Summe in meinem Zimmer. Ich wollte, daß Judas nichts davon sieht ...» und sie errötet lebhaft.

Jesus schaut sie fest an, sagt aber kein Wort.

Magdalena geht und kommt mit einer schweren Tasche zurück, die sie Jesus übergibt. «Hier», sagt sie. «Man hat gut dafür bezahlt.»

«Danke, Maria.»

«Ich danke dir, Meister, daß du mich um diesen Gefallen gebeten hast. Hast du weitere Aufträge für mich?»

«Nein, Maria, und du, hast du mir sonst noch etwas zu sagen?»

«Nein, Herr. Segne mich, mein Meister!»

«Ja, ich segne dich... Maria... freut es dich, zu Lazarus zurückzukehren? Wenn ich nicht mehr in Palästina wäre, würdest du dann gerne nach Hause zurückkehren?»

«Ja, Herr, aber...»

«Sprich zu Ende, Maria. Fürchte dich nie, mir deine Gedanken zu eröffnen.»

«Aber ich wäre noch lieber zurückgekehrt, wenn uns anstelle von Judas von Kerioth Simon der Zelote, der gute Freund unserer Familie, begleitet hätte.»

«Ich brauche ihn für eine wichtige Sendung.»

«Aber deine Brüder, oder Johannes mit dem Herzen einer Taube. Alle, außer ihm... Herr, schaue mich nicht so streng an... Wer die Unzucht

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kennengelernt hat, fühlt ihre Nähe... Ich fürchte sie nicht. Ich weiß auch Dinge fernzuhalten, die schlimmer sind als Judas, nämlich meine Angst, daß mir nicht verziehen worden ist; mein Ich; Satan, der sicher um mich herumschleicht, und die Welt... Aber wenn Maria des Theophilus sich vor niemandem fürchtet, so hat Maria des Jesu Abscheu vor dem Laster, dem sie ergeben war, und das... Herr... Der Mensch, der sich nur für das Sinnliche entzündet, ekelt mich an...»

«Du wirst auf der Reise nicht allein sein, Maria, und wenn du dabei bist, bin ich sicher, daß er nicht zurückkehren wird... Denk daran, daß ich Syntyche und Johannes nach Antiochia bringen lassen muß und daß man es einen Unbesonnen nicht wissen lassen darf ...»

«Das ist wahr. Dann werde ich also gehen... Meister, wann werden wir uns wiedersehen?»

«Ich weiß es nicht, Maria, vielleicht erst wieder am Passahfest. Geh nun in Frieden. Ich segne dich heute abend und jeden Abend, und mit dir deine Schwester und den guten Lazarus.»

Maria verneigt sich, um die Füße Jesu zu küssen, und geht dann hinaus und läßt Jesus allein im stillen Zimmer zurück.

348. JESUS AM LICHTERFEST IN NAZARETH

Es ist ein dunkler, kalter und windiger Dezemberabend. Abgesehen vom Rauschen der Blätter, die noch von den Bäumen fallen, und dem Wehen des Windes ist es in den Straßen von Nazareth still und dunkel wie in einer toten Stadt. Aus den verriegelten Häusern dringt weder ein Lichtstrahl noch ein Geräusch. Wirklich ein Hundewetter...

Doch durch die verlassenen Straßen von Nazareth eilt das Lamm Gottes seinem Haus zu. Der hohe, dunkle Schatten verliert sich fast in der Finsternis der sternenlosen Nacht, und sein Schritt ruft kaum ein Rascheln hervor, wenn er auf einen Haufen trockener Blätter tritt, die der Wind, nachdem er sie durch die Luft gewirbelt hat, auf den Boden weht, bereit, sie wieder aufzunehmen und anderswohin zu tragen.

Er kommt zum Haus Marias des Kleophas und bleibt einen Augenblick stehen, unschlüssig, ob er in den Garten eintreten und an die Küchentüre klopfen oder weitergehen soll... doch dann geht er weiter. Er ist bereits in der kleinen Gasse, in der sich sein Haus befindet. Man erkennt schon den kleinen Hügel, an den sich das Haus lehnt, das Wogen der dunklen Ölbäume gegen den dunklen Himmel. Jesus beschleunigt seine Schritte. Er erreicht die Türe und lauscht aufmerksam. Es ist so leicht, zu hören, was in diesem kleinen Haus vor sich geht! Es genügt, sich an den Türpfosten zu lehnen, und nur die wenigen Zentimeter des Holzes der Türe sind zwischen

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dem, der lauscht, und dem, der spricht... und doch vernimmt er keine Stimme.

«Es ist schon spät», seufzt er. «Ich werde bis zum Morgengrauen warten, um anzuklopfen.»

Doch als er sich entfernen will, erreicht ihn das rhythmische Geräusch des Webstuhls. Er lächelt und sagt sich: «Sie ist noch auf. Sie webt. Gewiß ist sie es ... dies ist der Rhythmus der Mama... !»

Ich kann sein Antlitz nicht sehen, aber ich bin sicher, daß er lächelt, denn ein Lächeln ist in seiner Stimme, die zuvor traurig war.

Er klopft an. Das Klappern des Webstuhls setzt einen Augenblick aus, dann hört man das Geräusch eines zurückgeschobenen Stuhles und schließlich die silberne Stimme, die fragt: «Wer klopft?»

«Ich, Mama!»

«Mein Sohn!» Ein sanfter, gedämpfter Freudenschrei. Man hört das Zittern der Hände am Riegel und das Zurückschieben desselben, der Hauseingang öffnet sich und wirft einen goldenen Schein in das Dunkel der Nacht. Maria fällt in die Arme Jesu, dort auf der Schwelle, als könne sie es nicht mehr erwarten, sich an sein Herz zu werfen.

«Sohn! Sohn! Mein Sohn!» Küsse und die süßen Worte: «Mama!» «Sohn!»... Dann treten beide ins Haus ein, und die Türe schließt sich sachte.

Maria erklärt mit flüsternder Stimme: «Sie schlafen alle. Ich habe gewacht ... Seit Jakobus und Judas zurückgekehrt sind und gesagt haben, daß du nachkommen würdest, habe ich immer bis spät in die Nacht hinein auf dich gewartet. Ist dir kalt, Jesus? Ja! Du bist eiskalt. Komm! Ich habe das Feuer brennen lassen und werde ein Reisigbündel auflegen, damit du dich erwärmen kannst.» Dann führt sie ihn an der Hand, als ob er immer noch ihr kleiner Jesus wäre...

Die Flamme leuchtet fröhlich und das neubelebte Feuer knistert. Maria schaut Jesus an, der die Hände der Flamme entgegenstreckt, um sich zu erwärmen. «Wie bleich du bist! Du warst nicht so, als du fortgegangen bist... Du wirst immer hagerer und blutleerer, mein Kind. Einst warst du wie Milch und Rosen. Nun siehst du aus wie altes Elfenbein. Was hast du wieder mitgemacht, mein Sohn? Immer noch die Pharisäer?»

«Ja... und auch noch anderes. Aber nun bin ich glücklich, hier mit dir, und es wird mir gleich besser gehen. Dieses Jahr werden wir das Lichterfest hier feiern, Mutter! Ich erreiche das vollkommene Alter hier bei dir. Bist du glücklich?»

«Ja. Aber das vollkommene Alter für dich, mein Herz, ist noch fern... Du bist jung, und für mich bist du immer noch mein Kind. Sieh, die Milch ist warm, willst du sie hier trinken oder dort?»

«Dort, Mutter! Jetzt friere ich nicht mehr. Ich werde sie trinken, während du den Webstuhl zudeckst.»

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Sie kehren in das Zimmerchen zurück, und Jesus setzt sich auf die Truhe beim Tisch und trinkt seine Milch. Maria betrachtet ihn lächelnd. Sie lächelt noch mehr, als sie die Tasche Jesu nimmt und sie auf ein Regal legt. Sie lächelt so sehr, daß Jesus fragt: «Woran denkst du?»

«Ich denke, daß du gerade am Jahrestag unserer Abreise nach Bethlehem angekommen bist ... Auch damals gab es Taschen und geöffnete Koffer voller Kleider und besonders voll kleiner Windeln ... für ein Kind, das, wie ich zu Joseph sagte, vielleicht in Bethlehem zur Welt kommen würde; zu mir selbst jedoch sagte ich, daß es zu Bethlehem in Judäa zur Welt kommen muß. Ich hütete dies in meinem Herzen, denn Joseph hatte Angst davor ... Er wußte noch nicht, daß die Geburt des Sohnes Gottes weder für ihn selbst noch für seine Mutter dem üblichen Elend der Wehen und der Geburt unterworfen sein würde. Er wußte nicht... und er fürchtete sich davor, fern von Nazareth zu sein mit mir unter diesen Umständen. Ich wußte genau, daß ich dort gebären würde... du jubeltest zu sehr in mir in der Freude, dich dem Augenblick deiner Geburt und der Geburt der Erlösung zu nähern, als daß ich mich hätte täuschen können. Die Engel umgaben die Frau, die dich, meinen Gott, trug... Es war nicht mehr der erhabene Erzengel, nicht der liebliche Engel, der mein Beschützer ist, wie in den ersten Monaten. Es waren Chöre und abermals Chöre von Engeln, die schnell wie Blitze vom Himmel Gottes herabstiegen zu meinem kleinen Himmel, zu meinem Schoß, in dem du warst, und ich hörte sie singen und ihre Lichtworte austauschen ... Worte voller Sehnsucht, dich, den menschgewordenen Gott, zu sehen ... ich hörte sie, während sie in ihrer Liebe aus dem Paradies flohen, um zu kommen und dich, die Liebe des Vaters, anzubeten, die in meinem Schoß verborgen war. Ich versuchte ihre Worte zu erlernen... ihre Lieder... ihren Eifer... Aber ein menschliches Geschöpf kann nicht die Dinge des Himmels sagen und besitzen...»

Jesus sitzt am Tisch und hört ihr zu. Maria steht daneben, selig träumend wie er... eine Hand auf dem dunklen Holz, die andere ans Herz gedrückt... Jesus bedeckt die kleine, weiße, zarte Hand mit der seinen, die lang und dunkler ist. Er hält das heilige Händchen in seiner Hand... Während sie schweigt, als bedaure sie es, die Worte, Gesänge und den Eifer der Engel nicht erlernen zu können, sagt er: «Alle Worte der Engel, all ihre Gesänge und all ihr Eifer hätten mich auf Erden nicht glücklich gemacht, wenn ich nicht die deinen gehabt hätte, Mutter! Du hast mir gesagt und gegeben, was sie mir nicht geben konnten. Nicht du hast von ihnen, sondern sie haben von dir gelernt... Komm an meine Seite, Mutter, und erzähle weiter... nicht von damals... sondern von jetzt. Was hast du gemacht?»

«Ich habe gearbeitet...»

«Ich weiß es. Aber was war es? Ich wette, du hast dich meinetwegen abgemüht. Laß sehen...»

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Maria wird noch röter als der Stoff auf dem Webstuhl und den Jesus betrachtet, indem er aufsteht.

«Purpur? Wer hat ihn dir gegeben?»

«Judas von Kerioth. Er ließ ihn sich von den Fischern in Sidon geben, nehme ich an. Er will, daß ich dir ein Königsgewand mache... Das Gewand werde ich dir machen, ja. Aber du bedarfst keines Purpurs, um König zu sein.»

«Judas ist starrköpfiger als ein Maulesel», ist die einzige Bemerkung zu dem geschenkten Purpur... Dann wendet sich Jesus der Mutter zu: «Reicht das, was er dir gegeben hat, für ein ganzes Gewand ?»

«O nein, Sohn! Es wird wohl eine Falbel für das Kleid und den Mantel geben. Mehr nicht.»

«Gut. Jetzt verstehe ich, warum du ihn als schmalen Streifen webst. Gut... Mama, mir gefällt dieser Gedanke. Du wirst diese Streifen für mich aufheben, und eines Tages werde ich dich darum bitten, sie für ein schönes Gewand zu verwenden. Doch das hat noch Zeit. Ermüde dich nicht.»

«Ich arbeite, wenn ich in Nazareth bin...»

«Das ist wahr... und was haben die anderen während dieser Zeit getan ?»

«Sie haben sich weitergebildet.»

«Das heißt: du hast sie unterrichtet. Was hältst du von ihnen?»

«Oh, die drei sind gut. Außer dir habe ich nie sanftere und aufmerksamere Schüler gehabt. Ich habe versucht, Johannes ein wenig zu stärken. Er ist sehr krank und wird nicht mehr lange leben...»

«Ich weiß es, aber für ihn wird es gut sein. Außerdem wünscht er es selbst. Er hat ganz von sich aus den Wert des Leidens und des Sterbens erkannt. Und Syntyche?»

«Es tut weh, sie fortzuschicken. Sie wiegt hundert Jünger auf an Heiligkeit und an Fähigkeit, das Übernatürliche zu begreifen.»

«Ich verstehe. Aber ich muß es tun.»

«Was du tust, ist immer wohlgetan, mein Sohn!»

«Was macht der Knabe?»

«Auch er lernt. Aber er ist sehr traurig in diesen Tagen... Er erinnert sich an das Unglück im vorigen Jahr... Oh, es gab keine große Fröhlichkeit hier! ... Johannes und Syntyche seufzen bei dem Gedanken an die Abreise von hier, und das Kind weint, wenn es an seine tote Mutter denkt...»

«Und du?»

«Ich... Du weißt es, Sohn! Wenn du fern von mir bist, gibt es keine Sonne für mich, und es gäbe sie nicht einmal, wenn die Welt dich lieben würde, doch dann wäre der Himmel wenigstens heiter... So hingegen ...»

«So gibt es Tränen, arme Mutter! ... Haben sie dir nicht Fragen gestellt über Johannes und Syntyche?»

«Wer sollte Fragen stellen? Maria des Alphäus weiß es und schweigt.

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Alphäus der Sara hat Johannes schon gesehen und ist nicht neugierig. Er nennt ihn "den Jünger".»

«Aber die anderen?»

«Außer Maria und Alphäus kommt niemand zu mir. Einige Frauen für eine Arbeit oder einen Ratschlag. Aber die Männer von Nazareth treten nicht mehr über meine Schwelle.»

«Nicht einmal Joseph und Simon?»

«Nein... Simon schickt mir Öl, Mehl, Oliven, Holz und Eier, als wolle er dadurch Verzeihung für sein Unverständnis erlangen und als sollten die Geschenke für ihn sprechen. Aber er übergibt sie Maria, seiner Mutter, er selbst kommt nicht hierher. Doch wer auch immer kommen würde, er könnte nur mich sehen, denn Syntyche und Johannes ziehen sich zurück, wenn jemand klopft...»

«Ein sehr trauriges Leben.»

«Ja, und das Kind leidet ein wenig darunter, deshalb nimmt es Maria des Alphäus mit, wenn sie für mich Einkäufe macht. Aber nun werden wir nicht mehr traurig sein, mein Jesus, denn nun bist du da!»

«Ich bin da... Jetzt wollen wir schlafen gehen. Segne mich, Mutter, wie damals, als ich noch klein war.»

«Segne mich, Sohn! Ich bin deine Jüngerin.»

Sie küssen sich... Dann zünden sie noch ein Lämpchen an und gehen hinaus, um sich zur Ruhe zu begeben.

349. JESUS MIT JOHANNES VON ENDOR UND SYNTYCHE IN NAZARETH

«Meister! Meister! Meister!» Die drei Ausrufe des Johannes von Endor, der aus seiner Kammer kommt, um zum Brunnen zu gehen und sich dort zu waschen, und plötzlich Jesus vor sich sieht, der gerade vom Brunnen kommt, wecken Margziam auf. Er eilt aus dem Zimmer Marias, nur mit der kurzen, ärmellosen Tunika bekleidet, barfuß, ganz Augen und Mund, um zu sehen und zu rufen: «Jesus ist da!» und rennt und wirft sich in seine Arme. Sie wecken auch Syntyche auf, die in der ehemaligen Werkstatt Josephs schläft und schon bald angekleidet ist, doch mit herabhängenden dunklen Zöpfen herauskommt.

Jesus, das Kind im Arm, grüßt Johannes und Syntyche, und fordert sie auf, ins Haus zurückzukehren, denn es bläst ein starker Nordwind. Er tritt als erster ein und trägt den halbnackten Margziam, der trotz seiner Begeisterung mit den Zähnen klappert, zum schon angezündeten Feuer, wo Maria sich beeilt, Milch warmzumachen und die Kleider des Knaben zu wärmen, damit er nicht erkranke.

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Die beiden anderen sagen nichts, doch sie sind die verzückte Freude in Person. Jesus setzt sich nieder und nimmt das Kind auf den Schoß, während die Jungfrau ihm rasch die angewärmten Kleider überzieht. Er schaut auf, lächelt ihnen zu und sagt: «Ich hatte euch versprochen, daß ich kommen würde, und heute oder morgen kommt auch Simon der Zelote. Er ist in meinem Auftrag noch anderswo hingegangen. Doch bald wird er kommen, und wir werden viele Tage beisammen sein.»

Margziam ist nun angekleidet, und seine vor Kälte blau gewordenen Wangen bekommen wieder Farbe. Jesus läßt ihn von seinen Knien hinuntergleiten und steht auf, um in den anderen Raum zu gehen. Die übrigen folgen ihm. Zuletzt kommt Maria mit dem Knaben an der Hand. Sie rügt ihn sanft und sagt: «Was soll ich nur mit dir anfangen? Du bist ungehorsam gewesen. Ich hatte dir doch gesagt: "Bleib im Bett, bis ich wiederkomme", und du bist vorher aufgestanden...»

«Ich bin aufgewacht, als Johannes gerufen hat...» entschuldigt sich Margziam.

«Genau dann hättest du gehorchen sollen. Im Bett zu bleiben, solange man schläft, ist weder Gehorsam noch Verdienst. Du hättest es tun sollen, als es dich etwas kostete und eine Willensanstrengung von dir verlangte. Ich hätte dich zu Jesus gebracht. Du hättest ihn ganz für dich gehabt und wärst nicht Gefahr gelaufen, krank zu werden.»

«Ich wußte nicht, daß es so kalt geworden ist.»

«Aber ich habe es gewußt. Es schmerzt mich, wenn du ungehorsam bist.»

«Nein, Mutter. Es schmerzt mich viel mehr, dich so zu sehen... Wenn es nicht wegen Jesus gewesen wäre, dann wäre ich nicht aufgestanden, selbst wenn du mich im Bett vergessen hättest und ich ohne Essen geblieben wäre. Meine schöne Mutter, meine Mutter! ... Gib mir einen Kuß, meine liebe Mutter. Du weißt, ich bin ein armes Kind... !»

Maria nimmt Margziam in die Arme und küßt ihn. Sie verhindert so, daß Tränen über das Gesichtlein herunterrollen, das nun wieder lächelt und verspricht: «Ich will nie mehr ungehorsam sein, nie, nie mehr!»

Jesus spricht unterdessen mit beiden Jüngern. Er erkundigt sich über ihre Fortschritte beim Lernen, und als sie ihm antworten, daß sich in ihnen alles durch das Wort Marias erhellt, sagt er: «Ich weiß es. Die übernatürlich leuchtende Weisheit Gottes wird auch in den härtesten Herzen verstandenes Licht, wenn Maria sie ausspricht. Doch ihr seid nicht hart im Herzen, und daher zieht ihr aus ihren Belehrungen den größtmöglichen Nutzen.»

«Nun bist du hier, Sohn, und die Lehrerin wird wieder zur Schülerin.»

«O nein! Du fährst fort, Lehrerin zu sein. Ich will dir zuhören wie diese hier. Ich will in diesen Tagen nur "der Sohn" sein, sonst nichts. Du wirst die Mutter und Lehrerin der Christen sein. Du bist es von jetzt an: Ich,

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dein Erstgeborener und erster Schüler, sie, und mit ihnen Simon, wenn er kommt, und die anderen... Siehst du, Mutter, die Welt ist hier. Die Welt von morgen in dem kleinen, reinen Israeliten, der nicht einmal gewahr wird, daß er "Christ" wird. Die Welt, die alte Welt Israels im Zeloten; die Menschheit in Johannes; die Heiden in Syntyche. Alle werden sie zu dir kommen, heilige Ernährerin, die du der Welt und den Jahrhunderten die Milch der Weisheit und des Lebens geben wirst. Wie viele Münder haben verlangt, an deiner Brust zu saugen, und wie viele werden es in Zukunft tun! Dich haben Patriarchen und Propheten ersehnt, denn aus deinem fruchtbaren Schoß sollte die Nahrung der Menschen kommen. Dich werden die "Meinen" suchen – wie viele Margziams – um Verzeihung, Unterweisung, Schutz und Liebe zu erbitten, und selig jene, die es tun werden! Denn es wird nicht möglich sein, in Christus auszuharren, wenn deine Hilfe nicht die Gnade stärkt, o Mutter voll der Gnade!»

Maria gleicht einer Rose in ihrem dunklen Gewand, so sehr entflammt sich ihr Antlitz beim Lob des Sohnes. Eine herrliche Rose in einem einfachen Gewand aus grober, dunkelbrauner Wolle...

Man klopft an die Tür, und eine Gruppe tritt ein: Maria des Alphäus, Jakobus und Judas, die beiden letzteren beladen mit Wasserkannen und Reisigbündeln. Die Freude, sich wiederzusehen, ist gegenseitig und steigert sich, als sie erfahren, daß bald auch noch Simon der Zelote kommen wird. Die Zuneigung der Söhne des Alphäus ist offensichtlich, auch ohne den Satz, den Judas als Antwort auf die Worte seiner Mutter sagt, die diese Freude bemerkt: «Mutter, gerade hier in diesem Haus und an einem für uns sehr traurigen Abend hat er uns väterliche Zuneigung geschenkt und bewahrt sie immer noch. Wir können dies nicht vergessen. Für uns ist er der Vater. Wir sind für ihn die Söhne. Welche Söhne sollten nicht jubeln, wenn sie einen so guten Vater wiedersehen?»

Maria des Alphäus denkt nach und seufzt... Dann, auch im Leid sehr fürsorglich, fragt sie: «Wo werdet ihr ihn schlafen lassen? Ihr habt keinen Platz. Schickt ihn zu mir!»

«Nein, Maria. Er wird unter meinem Dach bleiben. Das läßt sich leicht machen. Syntyche wird bei meiner Mutter schlafen, Margziam bei mir, Simon in der Werkstatt. Es wäre gut, gleich alles vorzubereiten. Laßt uns gehen.»

Die Männer gehen mit Syntyche in den Garten hinaus, während die beiden Marien in der Küche ihrer Arbeit nachgehen.

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350. JESUS UNTERWEIST MARGZIAM

Jesus verläßt mit dem Kind an der Hand des Haus. Sie gehen nicht nach Nazareth hinein, sondern verlassen es vielmehr auf dem gleichen Weg, den Jesus einschlug, als er sein öffentliches Leben begann. Bei den ersten Olivenbäumen angekommen, begeben sie sich von der Hauptstraße auf einen Pfad zwischen Bäumen und genießen den schwachen Sonnenschein, der den stürmischen Tagen folgt.

Jesus spornt den Knaben an, zu laufen und zu springen. Doch Margziam entgegnet: «Ich möchte lieber bei dir bleiben. Ich bin jetzt schon groß und ein Jünger.»

Jesus lächelt über dieses... selbstbewußte Bekenntnis seines Alters und seiner Würde. In Wirklichkeit ist der "Erwachsene" ' der an Jesu Seite geht, noch recht klein. Niemand würde ihm mehr als zehn Jahre geben. Doch niemand kann leugnen, daß er ein Jünger ist, am wenigsten Jesus, der sich damit begnügt zu sagen: «Aber es wird dich langweilen, still sein zu müssen, während ich mein Gebet verrichte. Ich habe dich mitgenommen, damit du dich vergnügst.»

«Ich könnte mich in diesen Tagen nicht vergnügen... Doch in deiner Nähe zu sein, macht mir so viel Freude... Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt in letzter Zeit, weil... weil...» Das Kind preßt die zitternden Lippen zusammen und sagt nichts mehr.

Jesus legt ihm seine Hand auf den Kopf und sagt: «Wer an mein Wort glaubt, darf nicht traurig sein wie jene, die nicht glauben. Ich sage immer die Wahrheit, selbst wenn ich versichere, daß es keine Trennung gibt zwischen den Seelen der Gerechten, die schon in Abrahams Schoß sind, und denen der Gerechten, die noch auf Erden sind. Ich bin die Auferstehung und das Leben, Margziam, und dieses verleihe ich auch, bevor ich meinen Auftrag erfüllt habe. Du hast mir immer gesagt, daß deine Eltern sich nach dem Kommen des Messias gesehnt und Gott darum gebeten haben, lange genug leben zu dürfen, um ihn sehen zu können. Sie glaubten also an mich. Sie sind in diesem Glauben entschlafen und daher in diesem Glauben schon gerettet, durch ihn auferstanden, und leben. Denn das ist der Glaube, der Leben gibt, indem er Durst nach Gerechtigkeit gibt. Bedenke, wie oft sie den Versuchungen widerstanden haben, um würdig zu sein, dem Erlöser begegnen zu können ...»

«Aber sie sind gestorben, ohne dich gesehen zu haben, Herr... und auf solche Weise gestorben... Ich habe sie gesehen, weißt du, als sie alle die Toten der Ortschaft ausgegraben haben... Meine Mutter, meinen Vater... meine Geschwisterchen... Was nützt es, wenn sie, um mich zu trösten, sagten: "Die Deinen sind nicht so. Sie haben nicht leiden müssen?" Oh, sie haben nicht gelitten?! Waren die Felsblöcke, die auf sie gefallen sind, vielleicht Federn? Waren die Erde und das Wasser, in denen sie erstickt

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sind, vielleicht Luft? Hat ihr Verstand nicht gelitten, als sie sich sterben fühlten und an mich dachten?» Das Kind ist ganz vom Schmerz überwältigt. Es steht Jesus gegenüber und spricht lebhaft, fast aggressiv, und mit den Händen...

Aber Jesus versteht diesen Schmerz, dieses Bedürfnis, sich auszusprechen, und läßt ihn reden. Jesus gehört nicht zu denen, die zu einem von wahrem Schmerz Gequälten sagen: «Schweig, du gibst mir Ärgernis.»

Das Kind fährt fort: «Und dann? Was ist nachher gekommen? Du weißt, was nachher geschehen ist! Wenn du nicht gekommen wärst, wäre ich wie ein wildes Tier geworden und wie eine Schlange im Wald gestorben. Ich wäre nicht mehr zur Mutter, zum Vater, zu den Brüderchen gekommen, denn ich haßte Doras und... ich konnte Gott nicht mehr lieben wie zuvor, als meine Mutter noch lebte und mich liebte und mich lehrte, den Nächsten zu lieben. Ich haßte beinahe die Vöglein, die sich den Kropf füllten, die warme Federn hatten und sich ein Nest bauten, ich, der ich Hunger litt, ein zerrissenes Gewand trug und kein Zuhause mehr hatte... Ich verjagte sie, ich, der ich die Vögel liebe, weil ich zornig wurde, wenn ich mich mit ihnen verglich. Dann weinte ich, weil ich fühlte, daß ich böse war und die Hölle verdiente...»

«Ah! Du hast also bereut, daß du böse gewesen bist?»

«Ja, Herr! Aber wie hätte ich gut sein können? Der alte Vater war es. Doch er sagte: "Bald wird alles zu Ende sein. Ich bin alt..." Aber ich war nicht alt. Wie viele Jahre lagen noch vor mir, bevor ich als Mensch und nicht als räudiger Hund hätte arbeiten und essen können? Ich wäre ein Dieb geworden, wenn du nicht gekommen wärst.»

«Das wärst du nicht geworden, denn deine Mutter hat für dich gebetet. Siehst du, ich bin gekommen und habe dich mitgenommen. Das ist der Beweis dafür, daß Gott dich liebt und deine Mutter über dich wacht.»

Das Kind schweigt nachdenklich. Es scheint auf dem Erdboden Licht zu suchen, so sehr schaut es hinab, während es an der Seite Jesu über die Wiese geht, die etwas unter dem Nordwind der letzten Tage gelitten hat. Dann hebt es den Kopf und fragt: «Aber wäre es nicht noch ein schönerer Beweis gewesen, wenn er meine Mutter nicht hätte sterben lassen?»

Jesus lächelt über die menschliche Logik des jungen Verstandes. Doch er erklärt ernst und genau: «Schau, Margziam. Ich will dir die Dinge durch ein Gleichnis verständlich machen. Du hast gesagt, daß du die Vöglein liebst, nicht wahr? Nun höre zu! Sind die Vöglein erschaffen worden, um zu fliegen oder um im Käfig zu sein?»

«Um zu fliegen.»

«Gut. Was tun die Mütter der Vöglein, um sie zu ernähren, solange sie noch klein sind?»

«Sie stecken ihnen das Futter in den Schnabel.»

«Ja, und was für Futter?»

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«Samen, Mücken, Raupen, Brotkrumen oder Obstreste, die sie beim Hin- und Herfliegen finden.»

«Sehr gut. Nun höre gut zu. Wenn du in diesem Frühjahr ein Nest am Boden finden würdest, mit Jungen darin und mit der Mutter darüber, was würdest du dann tun?»

«Ich würde es nehmen.»

«Alles? Sowie es ist? Die Mutter inbegriffen?»

«Alles. Denn es ist sehr schlimm, wenn man klein ist und keine Mutter hat.»

«Im Deuteronomium steht geschrieben, daß man nur die Kleinen nehmen und die Mutter freilassen soll, denn sie ist in heiliger Weise zur Vermehrung bestimmt.»

«Aber wenn sie eine gute Mutter ist, fliegt sie nicht fort. Sie eilt dorthin, wo ihre Kleinen sind. Meine Mutter hätte es so gemacht. Auch hätte sie mich dir nicht für immer überlassen, denn ich bin noch ein Kind. Mit mir hätte sie nicht kommen können, denn die Geschwisterchen waren noch kleiner als ich. Also hätte sie mich nicht fortgehen lassen.»

«In Ordnung. Aber höre! Glaubst du, daß es besser wäre, die Mutter zusammen mit den Vöglein in einem offenen Käfig zu halten, damit sie die geeignete Nahrung holen kann, oder sie alle gefangen zu halten?»

«Nun... ich würde sie lieber kommen und gehen lassen, solange die Vöglein noch nicht flügge sind... und würde sie am liebsten freilassen, sobald die Kleinen flügge sind, denn der Vogel ist zum Flug geboren... Eigentlich, um ganz gut zu sein, müßte ich auch die flügge gewordenen Vöglein fliegen lassen und ihnen die Freiheit schenken... Das wäre die wahre Liebe, die ich für sie haben könnte, und auch die gerechteste... Ja, auch die gerechteste, denn ich würde nichts anderes tun als dazu beitragen, daß sich die von Gott gewollte Bestimmung der Vögel erfülle...»

«Du bist wirklich tüchtig, Margziam! Du hast wie ein Weiser gesprochen. Du wirst ein großer Jünger deines Herrn werden, und wer dich hören wird, wird dir glauben, weil du wie ein Weiser sprechen wirst.»

«Wirklich, Jesus?» Das Gesichtlein, das zuerst unruhig und traurig, dann dunkel und verschlossen war durch die Anstrengung zu entscheiden, was besser wäre, entspannt sich nun und leuchtet auf in der Freude über das Lob.

«Wirklich! Nun schau. Du urteilst schon so, nur weil du ein gutes Kind bist. Überlege, wie erst Gott, der die Vollkommenheit in allem ist, urteilen wird, was die Seelen und ihr wahres Wohl betrifft. Die Seelen sind wie viele Vöglein, die das Fleisch in seinem Käfig gefangen hält. Die Erde ist der Ort, an den sie in ihrem Käfig gebracht werden. Aber sie sehnen sich nach der Freiheit des Himmels, nach der Sonne, die Gott ist, nach gerechter Nahrung, welche die Betrachtung Gottes ist. Keine menschliche Liebe, auch nicht die heiligste Liebe der Mutter für die Kinder oder der Kinder

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für die Mutter, ist so stark, daß sie diese Sehnsucht der Seelen, zu ihrem Ursprung, zu Gott, zurückzukehren, zu unterdrücken vermöchte. So wie Gott wegen seiner vollkommenen Liebe zu uns keinen Grund – und sei er auch noch so machtvoll – finden würde, der sein Verlangen, sich mit den Seelen zu vereinigen, unterdrücken könnte. Was geschieht also? Manchmal liebt er sie so sehr, daß er zu ihnen sagt: "Kommt, ich befreie euch", und er sagt es auch, wenn noch Kinder um die Mutter geschart sind. Er sieht alles. Er weiß alles. Er macht alles gut, was er tut. Wenn er eine Seele befreit – es könnte dies dem menschlichen Verstand nicht so scheinen, aber es ist so – wenn er eine Seele befreit, dann tut er es immer zum größeren Wohl der Seele selbst und ihrer Angehörigen. Wie ich dir schon früher gesagt habe, verbindet er dann mit dem Dienst des Schutzengels den Dienst der Seele, die er zu sich gerufen hat und die nun mit einer reinen Liebe, die frei von jeder menschlichen Schwerfälligkeit ist, auch ihre Verwandten liebt, da sie sie in Gott liebt. Wenn er eine Seele befreit, verpflichtet er sich auch, sich um die Überlebenden zu kümmern. Hat er das bei dir nicht auch getan? Hat er nicht aus dir, dem kleinen Sohn Israels, meinen Jünger, meinen zukünftigen Priester gemacht?»

«Ja, Herr!»

«Nun denke einmal nach. Deine Mutter wird von mir befreit werden und deiner Fürbitten nicht bedürfen. Aber wenn sie nach der Erlösung gestorben wäre und der Fürbitten bedurft hätte, dann hättest du als Priester für sie bitten können. Bedenke nun: wenn du als der kleine Bauer Jabe bei deiner Mutter geblieben wärest, dann hättest du nichts weiter tun können als einem Priester des Tempels Geld geben, damit er ein Opfer für sie darbringe, ein Lämmlein, Tauben oder andere Güter der Erde. Statt dessen wirst du, Margziam, der Priester Christi, selbst für sie das wahre Opfer der vollkommenen Opfergabe darbringen, in dessen Namen allen Verzeihung gewährt wird.»

«Werde ich es nicht mehr tun können?»

«Nicht für Vater, Mutter und Geschwister. Aber für deine Freunde und deine Jünger. Ist das nicht alles sehr schön?»

«Ja, Herr!»

«Dann wollen wir also freudig nach Hause zurückkehren.»

«Ja... aber jetzt habe ich dich nicht beten lassen! ... Das tut mir leid ...»

«Wir haben unser Gebet verrichtet! ... Wir haben die Wahrheit betrachtet und Gott in seiner Güte bewundert ... All dies ist Gebet, und du hast es wie ein Erwachsener verrichtet. Auf! Wir wollen einen schönen Psalm des Dankes singen für die Freude, die in uns ist.»

Dann stimmt er an: «"Meinem Herzen entströmt ein herrlicher Gesang..."» Margziam vereinigt seine silberne Stimme mit dem Bronze- und Goldton der Stimme Jesu.

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351. SIMON DER ZELOTE IN NAZARETH

Im Dezember bricht der Abend rasch herein, die Lampen werden angezündet, und die Familie versammelt sich in einem Raum. So geschieht es auch im kleinen Haus zu Nazareth, und während die beiden Frauen arbeiten, die eine am Webstuhl und die andere mit der Nadel, reden Jesus und Johannes von Endor am Tisch leise miteinander; Margziam glättet am Boden zwei kleine Kästen.

Das Kind gibt sich dabei alle Mühe, bis Jesus sich erhebt und sich über das Holz beugt, mit dem Finger darüber streicht und sagt: «Nun ist es genug. Es ist schön glatt, und morgen können wir es lackieren. Jetzt versorge alles an seinen Platz, denn wir werden erst morgen wieder daran arbeiten.» Während Margziam mit seinen Werkzeugen hinausgeht – ein harter Spatel, auf den die rauhe Fischhaut genagelt ist, die unser heutiges Glaspapier vertritt, und eine Art Messer, sicher nicht aus Stahl, das dem gleichen Zweck dient – nimmt Jesus mit seinen starken Armen einen der Kästen und bringt ihn in die Werkstatt, in der gewiß gearbeitet worden ist, denn Sägemehl und Späne liegen bei einer der Hobelbänke, die man in die Mitte des Raumes geschoben hat. Margziam hat die Werkzeuge an ihren Aufbewahrungsort gebracht und sammelt jetzt die Späne, um sie ins Feuer zu werfen, wie er sagt. Er möchte auch noch das Sägemehl zusammenkehren, doch Johannes von Endor kommt ihm zuvor.

Alles ist nun in Ordnung, als Jesus mit dem zweiten Kasten wiederkommt, den er neben den ersten stellt. Alle drei sind dabei, den Raum zu verlassen, als sie an der Haustüre klopfen hören und gleich darauf die tiefe Stimme des Zeloten ertönt: «Ich grüße dich, Mutter meines Herrn, und segne die Güte, die mir erlaubt, unter diesem Dach zu wohnen.»

«Simon ist angekommen. Nun werden wir die Gründe seiner Verspätung erfahren. Laßt uns gehen...» sagt Jesus.

Als sie in das Zimmerchen eintreten, in dem sich der Apostel mit den Frauen befindet, stellt dieser gerade einen schweren Sack ab, den er auf den Schultern hatte.

«Der Friede sei mit dir, Simon ...»

«Oh, gesegneter Meister! Ich habe mich verspätet, nicht wahr? Aber ich habe alles erledigt und es gut erledigt ...»

Sie küssen sich. Dann erklärt Simon: «Ich war bei der Witwe des Tischlers. Deine Fürsorge war sehr angebracht. Die Greisin ist sehr krank, und die Auslagen haben sich dadurch vermehrt. Der kleine Zimmermann stellt Gegenstände her, die klein sind wie er, und denkt immer an dich. Alle preisen dich. Dann bin ich zu Nara, Samira und Sira gegangen. Der Bruder ist härter denn je. Doch sie sind zufrieden, weil sie wirklich heilig sind, und essen ihr armes Brot mit Tränen der Verzeihung gewürzt. Sie danken dir für die ihnen geschickte Unterstützung und bitten dich, dafür

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zu beten, daß der hartherzige Bruder sich bekehren möge. Auch die alte Rachel dankt dir für das Almosen. Zuletzt bin ich zum Einkaufen in Tiberias gewesen. Ich hoffe, alles recht gemacht zu haben. Die Frauen werden sehen... Aber in Tiberias bin ich von einigen Leuten aufgehalten worden, die mich für deinen Eilboten hielten. Sie haben mich drei Tage lang mit Beschlag belegt. Oh, es war ein vergoldetes Gefängnis! Aber immerhin ein Gefängnis... Sie wollten so viel wissen... Ich habe die Wahrheit gesagt: daß du alle entlassen hättest, da du dich wegen des schlechten Winterwetters selbst zurückziehen wolltest... Als sie von der Wahrheit meiner Worte überzeugt waren, nachdem sie auch bei Simon des Jonas und bei Philippus gewesen waren, ohne dich dort zu finden oder etwas von dir zu erfahren, haben sie mich endlich gehen lassen. Deshalb habe ich mich verspätet.»

«Das macht nichts. Wir haben noch Zeit, beisammen zu sein. Ich danke dir für alles... Mutter, schau mit Syntyche nach, was in den Paketen ist, und sage mir, ob es genügt für das, von dem du weißt...» und während die Frauen das Bündel aufmachen, setzt sich Jesus nieder, um mit Simon zu reden.

«Was hast du getan, Meister?»

«Ich habe zwei Kästen angefertigt, um nicht müßig zu sein und weil sie nützlich sein werden. Ich bin spazierengegangen und habe mich meines Heimes erfreut...»

Simon schaut ihn ganz fest an... sagt jedoch nichts.

Die Ausrufe Margziams, der aus dem Bündel Stoffe, Wolle, Sandalen, Schleier und Gürtel herauskommen sieht, lenken die Blicke Jesu und seiner Gefährten in diese Richtung.

Maria sagt: «Es ist alles gut so, sehr gut. Wir werden uns sofort an die Arbeit machen, und bald wird alles genäht sein.»

Das Kind fragt: «Willst du heiraten, Jesus?»

Alle lachen, und Jesus fragt: «Was läßt diesen Verdacht bei dir aufkommen?»

«Diese Dinge für Männer und Frauen, und die beiden Kästen, die du gemacht hast. Sie sind für deine Aussteuer und für die der Braut. Wirst du sie mir vorstellen?»

«Willst du wirklich meine Braut kennenlernen?»

«O ja! Wie schön und wie gut wird sie sein. Wie heißt sie? ...»

«Das ist noch ein Geheimnis. Denn sie hat zwei Namen, so wie du zuerst Jabe geheißen hast und nun Margziam heißt.»

«Darf ich sie nicht wissen?»

«Jetzt noch nicht. Aber eines Tages wirst du sie wissen.»

«Wirst du mich zur Hochzeit einladen?»

«Es wird kein Kinderfest sein. Aber ich werde dich zum Hochzeitsfest einladen. Du wirst einer der Geladenen und einer der Zeugen sein. Bist du zufrieden?»

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«Aber wie lange wird es noch dauern? Einen Monat?»

«Oh, viel länger!»

«Warum hast du dann so eilig gearbeitet, daß du Schwielen an den Händen bekommen hast?»

«Ich habe sie bekommen, weil ich lange nicht mehr mit den Händen gearbeitet habe. Siehst du, Kind, daß Müßiggang schadet? Immer! Wenn man sich dann wieder an die Arbeit macht, leidet man doppelt so viel, weil man zu empfindlich geworden ist. Überlege! Wenn der Müßiggang schon den Händen schadet, wie wird er dann erst der Seele schaden? Siehst du? Heute abend habe ich dir sagen müssen: "Hilf mir", denn ich hatte solche Schmerzen, daß ich die Raspel nicht mehr halten konnte, während ich vor zwei Jahren sogar vierzehn Stunden am Tag arbeiten konnte, ohne Schmerz zu empfinden. Das gleiche geschieht dem, der im Eifer und im Willen nachläßt. Er wird weich und schwächlich. Er wird rascher müde, und mit Leichtigkeit dringen Giftstoffe geistiger Krankheiten in ihn ein. Andererseits vollbringt er nun mit doppelter Mühe die guten Werke, die ihn früher nichts kosteten, da er immer in Übung war. Oh, es lohnt sich nie, müßig zu sein und zu sagen: "Nach dieser Zeitspanne werde ich mich wieder frischer an die Arbeit machen!" Es wird uns nicht gelingen, oder nur mit großer Mühe.»

«Aber du bist nicht müßig gewesen!»

«Nein. Ich habe eine andere Arbeit getan. Aber sieh, wie der Müßiggang meiner Hände ihnen geschadet hat.» Jesus zeigt die geröteten Handflächen, die da und dort Blasen aufweisen.

Margziam küßt sie mit den Worten: «Meine Mutter machte es so, wenn mir irgend etwas weh tat, weil die Liebe heilt.»

«Ja, die Liebe heilt viele Dinge... Nun gut... Komm, Simon! Du wirst in der Zimmermannswerkstatt schlafen. Komm, damit ich dir zeige, wohin du deine Kleider legen kannst und ...»

Sie gehen zusammen hinaus, und das ist das Ende.

352. EIN ABEND IM HAUS VON NAZARETH

Der Webstuhl steht still, denn Maria und Syntyche nähen eifrig an den vom Zeloten gebrachten Stoffen. Die Teile der bereits zugeschnittenen Kleider liegen ordentlich gefaltet und nach Farben geordnet in Haufen auf dem Tisch, und von Zeit zu Zeit holen die Frauen ein Stück hervor und heften es auf dem Tisch mit einem anderen Stück zusammen. Die Männer sind in die Ecke des unbenützten Webstuhls zurückgedrängt worden. Sie sind in der Nähe der Frauen, jedoch nicht an ihrer Arbeit interessiert. Auch die beiden Apostel Judas und Jakobus des Alphäus sind anwesend,

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die ihrerseits die weiblichen Arbeiten verfolgen, ohne Fragen zu stellen, doch nicht ganz ohne Neugierde, wie mir scheint.

Die beiden Vettern berichten von den Brüdern, besonders von Simon, der sie bis zur Türe des Hauses Jesu begleitet hat und dann zurückgegangen ist. «Er hat ein krankes Kind», sagt Jakobus, um den Bruder zu entschuldigen. Judas ist strenger und sagt: «Gerade deswegen hätte er kommen sollen. Aber es scheint, daß auch er blöde geworden ist wie alle in Nazareth, mit Ausnahme des Alphäus und der beiden Apostel, die jetzt gerade wer weiß wo sind. Es ist offensichtlich, daß Nazareth nichts Gutes hat, und das, was es hatte, ausgespien hat, als wäre es für diese unsere Stadt ein lästiger Geschmack ...»

«Sprich nicht so», bittet Jesus. «Laß dir dein Herz nicht vergiften... Es ist nicht ihre Schuld...»

«Wessen Schuld sonst?»

«Vieler Umstände... Forsche nicht nach. Nicht ganz Nazareth ist mir feindlich gesinnt. Die Kinder...»

«Weil sie noch Kinder sind.»

«Die Frauen...»

«Weil sie Frauen sind. Aber weder die Kinder noch die Frauen werden dein Reich festigen.»

«Warum, Judas? Du bist im Irrtum. Die Kinder von heute werden die Jünger von morgen sein, diejenigen, welche das Reich auf der ganzen Welt verbreiten werden, und die Frauen... Warum sollten sie es nicht tun können?»

«Du kannst doch aus den Frauen keine Apostel machen. Sie werden höchstens Jüngerinnen sein können, wie du gesagt hast, Helferinnen der Jünger.»

«Du wirst in Zukunft über so manche Dinge anders denken, Bruder. Aber ich will nicht einmal versuchen, dich vom Gegenteil zu überzeugen, denn ich würde auf eine Denkweise stossen, die seit Jahrhunderten auf irrigen Vorstellungen und Vorurteilen über die Frauen beruht. Ich bitte dich nur, einmal die Unterschiede zu beobachten, die du zwischen den Jüngerinnen und den Jüngern siehst, und vorurteilsfrei zu betrachten, wie sie meine Lehren befolgen. Du wirst sehen, daß die Jüngerinnen – angefangen bei deiner Mutter, die, wenn du willst, die erste Jüngerin der Zeit und dem Heldenmut nach gewesen ist und es auch heute noch ist und einer ganzen Ortschaft die Stirn bietet, obgleich sie verspottet wird, weil sie mir treu bleibt und auch der Stimme des Blutes widersteht – besser sind als ihr.»

«Ich gebe es zu, es ist wahr. Aber in Nazareth, wo sind da die Jüngerinnen? Die Töchter des Alphäus, die Mütter Ismaels und Asers und ihre Schwestern. Das ist alles. Zu wenig. Ich möchte nicht mehr nach Nazareth kommen, um all dies nicht mehr mitansehen zu müssen.»

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«Arme Mutter! Du würdest ihr einen großen Schmerz zufügen», sagt Maria, die sich ins Gespräch einschaltet.

«Das ist wahr», sagt Jakobus. «Sie hofft sehr auf die Versöhnung der Brüder mit Jesus und mit uns. Ich glaube, dies ist ihr einziger Wunsch. Aber wir werden dies gewiß nicht mit unserem Fernbleiben erreichen können. Bisher bin ich deinem Rat gefolgt und habe mich abgesondert. Aber von morgen an will ich hinausgehen und mich dem einen oder anderen nähern... Denn, wenn wir auch den Heiden die Botschaft verkünden sollen, dann sollten wir erst einmal an unsere eigene Stadt denken. Ich weigere mich zu glauben, daß hier alle böse und nicht zu bekehren sind.»

Judas Thaddäus entgegnet nichts. Aber er ist sichtlich unruhig.

Simon der Zelote, der die ganze Zeit hindurch geschwiegen hat, mischt sich nun ein: «Ich möchte keinen Verdacht erregen, aber erlaubt mir, euch eine Frage zu stellen, um euch zu ermutigen, und zwar: seid ihr sicher, daß an der Zurückhaltung von Nazareth nicht auch äußere Einflüsse schuld sind, die hier einen fruchtbaren Boden gefunden haben? Die Kenntnis des vollkommenen Lebens Jesu, eines Bürgers von Nazareth, sollte es den Nazarenern doch erleichtern, ihn als den verheißenen Messias anzuerkennen. Ich mehr als ihr, und mit mir viele Nazarener meines Alters, haben wenigstens vom Hörensagen die angeblichen Messiasse kennengelernt. Ich versichere euch, daß deren privates Leben die hartnäckigste Versicherung, der Messias zu sein, Lügen strafte. Rom hat sie als Rebellen scharf verfolgt. Aber auch wenn wir die Politik beiseite lassen wollen, gab es genügend andere Gründe, weshalb jene falschen Messiasse ihre Strafe verdienten. Wir haben sie angespornt und unterstützt, denn sie dienten uns dazu, unseren Geist der Auflehnung gegen Rom zu befriedigen. Wir haben ihnen Beifall gezollt, töricht wie wir sind, und geglaubt, in ihnen den verheißenen "König" zu finden, bis der Meister die Wahrheit zu Tage gebracht hat, und trotzdem glauben wir immer noch nicht so, wie wir sollten. Sie vertrösteten unseren niedergeschlagenen Geist mit Hoffnungen auf die nationale Unabhängigkeit und die Wiedererrichtung des Reiches Israel. Oh, welch ein Elend! Welch ein unbeständiges und verderbtes Reich wäre das gewesen! Nein, diese falschen Messiasse Könige Israels und Gründer des verheißenen Reiches zu nennen bedeutete, die messianische Idee zu entwürdigen. Im Meister vereinigt sich die Tiefe der Lehre mit der Heiligkeit des Lebens, und Nazareth kennt ihn besser als jede andere Stadt. Ich denke nicht daran, die Nazarener anzuklagen, weil sie nicht an die Übernatürlichkeit seiner Herkunft glauben. Sie haben sie nicht erkannt. Aber das Leben! Sein Leben! ... Könnten da so viel Groll und Haß, so viel hartnäckiger Widerstand – aber was sage ich – so viel wachsender Widerstand nicht auf feindliche Machenschaften zurückzuführen sein? Wir kennen die Feinde Jesu. Wir wissen, was sie wert sind. Glaubt ihr, daß sie nur hier abwesend und tatenlos sind, wenn sie uns

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doch überall vorausgehen, uns begleiten oder nachfolgen, um das Werk Christi zu zerstören? Klagt die Stadt Nazareth nicht als die einzig schuldige an, sondern weint darüber, daß sie von den Feinden Jesu irregeführt wurde.»

«Das hast du sehr gut gesagt, Simon. Weint über Nazareth ...» sagt Jesus und ist traurig.

Johannes von Endor bemerkt: «Du hast auch ganz richtig gesagt, daß das positive Element sich in Mißgunst verwandelt, weil der Mensch selten Gerechtigkeit im Denken übt. Hier besteht das erste Hindernis in der bescheidenen Geburt, der einfachen Kindheit, den schlichten Jünglingsjahren unseres Jesu. Der Mensch vergißt, daß die Werte sich unter einem bescheidenen Äußeren verbergen, während die Nichtigkeiten sich unter großem Aufwand verstecken, um sich der Menge zu bemächtigen.»

«Das mag sein... Aber das ändert nichts an meinem Urteil über die Mitbürger. Alles, was ihnen gesagt worden ist, hätten sie nach den wirklichen Werken des Meisters beurteilen sollen.»

Es folgt ein langes Schweigen, das nur durch ein Geräusch unterbrochen wird, wenn Maria die Stoffe in Streifen reißt, um daraus Besätze zu machen. Syntyche hat kein Wort gesagt, obgleich sie höchst aufmerksam zugehört hat. Sie bewahrt immer ihre bescheidene Zurückhaltung und ist nur Maria und dem Knaben gegenüber entspannter. Aber nun ist das Kind auf einem Bänkchen zu ihren Füßen eingeschlafen, den Kopf auf dem abgewinkelten Arm an ihre Knie gelehnt. Daher rührt sie sich nicht und wartet darauf, daß Maria ihr die Streifen reicht.

«Welch ein unschuldiger Schlaf... Er lächelt...» bemerkt Maria, sich über das schlafende Gesichtlein neigend.

«Wer weiß, wovon er träumt», sagt Simon lächelnd.

«Es ist ein sehr intelligentes Kind. Es lernt rasch und will genaue Erklärungen haben. Es stellt scharfsinnige Fragen und verlangt klare Antworten. Über alles! Ich muß bekennen, daß ich beim Antworten manchmal in Verlegenheit gerate. Es sind Fragen, die seinem Alter nicht entsprechen und manchmal auch meine Fähigkeiten übersteigen, eine Erklärung zu finden», sagt Johannes.

«Ja. Wie an jenem Tag... Erinnerst du dich, Johannes? Du hattest damals zwei sehr schwierige Schüler, und sehr unwissende», sagt Syntyche mit einem leichten Lächeln und richtet ihren tiefen Blick scharf auf den Jünger.

Johannes lächelt seinerseits und sagt: «Ja, und ihr hattet einen sehr unfähigen Lehrer, der die wahre Lehrmeisterin zu Hilfe rufen mußte... denn in den vielen Büchern, die er gelesen hatte, hatte dieser törichte Lehrer keine Antwort gefunden, die er dem Kind hätte geben können. Ein Zeichen dafür, daß ich immer noch ein unwissender Lehrer bin.»

«Die menschliche Wissenschaft ist noch Unwissenheit, Johannes. Nicht

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der Erzieher, sondern das, was sie ihm gegeben hatte, um es zu sein, war ungenügend. Die arme menschliche Wissenschaft! Oh, wie verstümmelt erscheint sie mir! Sie erinnert mich an eine Gottheit, die in Griechenland verehrt wurde. Es bedurfte wirklich der heidnischen Erdgebundenheit, um glauben zu können, daß die Siegesgöttin, weil sie ohne Flügel war, für immer Besitz der Griechen sei. Nicht nur die Flügel ihr genommen, sondern auch die Freiheit... Es wäre besser gewesen, sie hätte Flügel gehabt in unserem Glauben. Wir hätten sie für fähig gehalten, fortzufliegen, um himmlische Blitze zu erhaschen und sie auf die Feinde zu schleudern. Aber so wie sie war, gab sie keine Hoffnung, sondern nur Mutlosigkeit und Traurigkeit. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne sie zu bedauern ... Sie schien mir leidend, betrübt über ihre Verstümmelung. Ein Symbol des Schmerzes und nicht der Freude... Das war es. Aber wie mit der Siegesgöttin macht es der Mensch auch mit der Wissenschaft. Er stutzt ihr die Flügel, die ihr den Weg zum übernatürlichen Wissen eröffnen könnten, welches der Schlüssel zu vielen Geheimnissen ist. Er hat geglaubt, und glaubt immer noch, sie dadurch gefangen zu halten, daß er ihr die Flügel stutzt... Er hat sie verstümmelt... Die geflügelte Wissenschaft wäre Weisheit. So, wie sie jetzt ist, ist sie nur ein sehr beschränktes Erkennen.»

«Meine Mutter hat euch an jenem Tag geantwortet?»

«Mit vollkommener Klarheit und keuschen Worten, so daß es ein Kind und zwei Erwachsene verschiedenen Geschlechtes hören konnten, ohne erröten zu müssen.»

«Um was handelte es sich?»

«Um die Erbsünde, Meister. Ich habe die Erklärung deiner Mutter aufgeschrieben, um sie nicht zu vergessen», sagt wiederum Syntyche, und auch Johannes von Endor sagt: «Auch ich. Ich glaube, viele werden uns danach fragen, wenn wir eines Tages unter die Heiden gehen. Ich glaube zwar nicht, daß ich jemals zu ihnen gehen werde, weil...»

«Warum, Johannes?»

«Weil ich nicht mehr lange leben werde.»

«Aber würdest du gerne zu ihnen gehen?»

«Lieber als viele andere in Israel, denn ich habe keine Vorurteile. Auch ... ja, auch deswegen: Ich habe den Heiden von Citium und Anatolien ein schlechtes Beispiel gegeben! Ich hätte dort gerne noch etwas wiedergutgemacht. Das Gute, das zu tun wäre ist, dein Wort und dich dort bekanntzumachen... Aber das wäre eine zu große Ehre für mich gewesen... Ich habe sie nicht verdient.»

Jesus schaut ihn lächelnd an, sagt aber nichts darauf. Er fragt: «Sonst habt ihr nichts zu fragen?»

«Ich hätte eine Frage. Sie fiel mir gestern abend ein, als du mit dem Kind über den Müßiggang sprachst. Ich habe versucht, eine Antwort zu finden, aber es ist mir nicht gelungen. Ich wartete auf den Sabbat, um dir

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die Frage zu stellen, wenn die Hände untätig sind und du unsere Seelen in deinen Händen zu Gott emporhebst», sagt Syntyche.

«Stelle mir diese Frage jetzt, während wir die Nachtruhe erwarten.»

«Sieh, Meister. Du hast gesagt, wenn einer lau wird bei der geistigen Arbeit, dann wird er schwach und anfällig für die Krankheiten des Geistes. Ist es nicht so?»

«Ja, Frau!»

«Nun scheint mir das im Gegensatz zu stehen zu dem, was ihr, du und deine Mutter, über die Erbsünde, ihre Auswirkungen auf uns und die Befreiung von ihr durch dich, gesagt habt. Ihr habt mich gelehrt, daß durch die Erlösung die Erbsünde nichtig wird. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß dies nur für jene zutreffen wird, die an dich glauben.»

«Das ist wahr.»

«Ich sehe also ab von den anderen und nehme einen dieser Erlösten. Ich betrachte ihn in den Wirkungen der Erlösung. Seine Seele ist von der Erbschuld frei. Er kehrt also in den Stand der Gnade zurück, wie die Stammeltern sie besessen haben. Gibt ihm das nicht eine unüberwindliche Widerstandskraft gegen alle Willensschwächen? Du wirst sagen: "Der Mensch begeht auch persönliche Sünden." Richtig. Aber ich denke, daß auch sie hinfällig werden durch die Erlösung. Ich frage dich nicht, wie. Aber ich nehme an, daß du zum Zeichen dafür, daß sie wirklich stattgefunden hat, Mittel, Symbole hinterlassen wirst. Ich weiß nicht, wie sie vor sich gehen wird, obgleich alles, was sich im heiligen Buch auf dich bezieht, erzittern läßt, und ich hoffe nur, daß es sich um symbolische Leiden handelt, die sich auf das Seelische beschränken, obgleich der seelische Schmerz keine Illusion ist, sondern vielleicht ein noch bittereres Weh als der körperliche. Alle Religionen haben solche Mittel und Symbole, und sie werden manchmal Mysterien genannt. Die gegenwärtig in Israel gebräuchliche Taufe ist ein solches, nicht wahr?»

«Ja, das ist es! Es wird unter anderem Namen auch in meiner Religion Zeichen dieser meiner Erlösung geben, die den Seelen aufgedrückt werden, um sie zu reinigen, zu stärken, zu erleuchten, zu stützen, zu ernähren und sie loszusprechen.»

«Also? Wenn sie auch von den persönlichen Sünden losgesprochen worden sind, werden sie immer in der Gnade sein... Wie können sie dann schwach und empfänglich sein für geistige Krankheiten?»

«Ich will dir einen Vergleich nennen. Nehmen wir ein neugeborenes Kind von ganz gesunden Eltern. Es ist ebenfalls gesund und stark. Kein einziger physischer ererbter Makel ist an ihm. Sein Wesen ist vollkommen, was Skelett und Organe betrifft, und es hat gesundes Blut. Daher hat es alle erforderlichen Eigenschaften, um stark und gesund heranzuwachsen, denn seine Mutter hat reichlich kräftige Milch. Aber im ersten Augenblick seines Lebens zieht es sich eine sehr schwere Krankheit zu, deren

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Ursache niemand kennt. Wirklich eine tödliche Krankheit. Es wird nur noch durch das Erbarmen Gottes gerettet, der den kleinen Körper am Leben erhält. Nun gut. Glaubst du, daß dieses Kind nachher so kräftig sein wird, wie wenn es diese Krankheit nie gehabt hätte? Nein, es wird stets eine Schwäche haben, und selbst wenn sie nicht offenkundig ist, wird sie doch vorhanden sein und es für Krankheiten empfänglicher machen. Einige Organe werden nie mehr so unversehrt sein wie vorher, und auch das Blut wird weniger kräftig sein als zuvor. Alles Gründe, die das Kind für Krankheiten empfänglicher machen. Jedesmal, wenn eine von ihnen auftritt, wird das Kind danach anfälliger für einen Rückfall sein.

Das gleiche gilt auf geistigem Gebiet. Die Erbsünde wird bei den Gläubigen durch mich getilgt. Aber der Geist wird einen Hang zur Sünde behalten, den er ohne die Erbsünde nicht gehabt hätte. Daher sind Wachsamkeit und ständige Pflege des Seelenlebens am Platz, so wie auch die Mutter sich um das Kind sorgt, das schwach geblieben ist nach einer Krankheit in seiner Kindheit.

Daher darf man nicht müßig sein, sondern muß immer emsig sein, um in der Tugend zu erstarken. Wenn jemand der Trägheit oder Lauheit verfällt, kann er viel leichter von Satan verführt werden, und jede schwere Sünde, die mit einem schweren Rückfall vergleichbar ist, wird ihn für weitere Fehltritte empfänglicher machen und zum letztendlichen Tod des Geistes beitragen. Wenn jedoch die Gnade, die durch meine Erlösung zurückgegeben wird, durch einen aktiven und unermüdlichen Willen unterstützt wird, wird sie erhalten bleiben. Nicht nur das, die Gnade wird sogar zunehmen, da sie sich mit den von den Menschen erworbenen Tugenden verbindet. Heiligkeit und Gnade! Welch sichere Flügel, um zu Gott zu fliegen! Hast du verstanden?»

«Ja, mein Herr! Du, oder vielmehr die allerheiligste Dreifaltigkeit, ihr gebt dem Menschen das grundlegende Mittel. Der Mensch darf es nicht zerstören durch Mangel an Aufmerksamkeit und Mitwirkung. Ich habe verstanden. Jede schwere Sünde ist Zerstörung der Gnade und der Gesundheit des Geistes. Die Zeichen, die du uns hinterlassen wirst, werden uns die Gesundheit wiedergeben, das ist wahr; doch der hartnäckige Sünder, der nicht gegen die Sünde ankämpft, wird immer schwächer werden, auch wenn ihm jedesmal verziehen wird. Man muß daher wachsam sein, um nicht zugrundezugehen. Danke, Herr... Margziam wacht auf. Es ist spät...»

«Ja. Laßt uns nun alle zusammen beten und dann zur Ruhe gehen!»

Jesus erhebt sich, und alle tun es ihm nach, auch der noch halbschlafende Knabe. Das Vaterunser ertönt laut und harmonisch in dem kleinen Raum.

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353. JESUS MIT SALOME, DER FRAU DES VETTERS SIMON

Jesus geht mit Simon dem Zeloten und Margziam durch Nazareth in Richtung der Felder zwischen Kana und Nazareth. Er durchquert diese seine ungläubige und ihm feindlich gesinnte Stadt, indem er absichtlich durch die Straßen der Innenstadt und über den Marktplatz geht, der in dieser Morgenstunde schon voller Menschen ist. Viele wenden sich nach ihm um, und vereinzelte Bewohner grüßen ihn. Die Frauen, besonders die älteren, lächeln ihm zu, aber abgesehen von einigen Kindern kommt niemand zu ihm. Ein Flüstern folgt ihm, wenn er vorbeigegangen ist. Jesus sieht sicher alles, aber er tut so, als ob er nichts sehen würde. Er spricht entweder mit Simon oder mit dem Kind, das zwischen den beiden Männern geht, und setzt seinen Weg fort.

Sie sind nun bei den letzten Häusern angelangt. An der Türe eines derselben steht eine Frau von etwa vierzig Jahren. Sie scheint auf jemanden zu warten. Als sie Jesus sieht, macht sie eine Bewegung, dann bleibt sie stehen und neigt errötend ihr Haupt.

«Es ist eine Verwandte von mir. Es ist die Frau Simons des Alphäus», sagt Jesus zu dem Apostel.

Die Frau scheint sich in einem Gefühlskonflikt zu befinden. Sie wechselt die Farbe, hebt und senkt die Augen, ihr ganzes Gesicht drückt den Willen aus, zu sprechen, aber irgend etwas hält sie zurück.

«Der Friede sei mit dir, Salome», grüßt Jesus, der sie nun erreicht hat.

Die Frau schaut ihn an. Sie ist erstaunt über die Herzlichkeit, die in der Stimme des Verwandten liegt, und antwortet, noch stärker errötend: «Der Friede sei ...»

Ein Tränenausbruch hindert sie daran, den Satz zu beenden. Sie bedeckt ihr Antlitz mit dem Arm und, an den Türpfosten des Hauses gelehnt, weint sie bitterlich.

«Warum weinst du so, Salome? Kann ich nichts tun, um dich zu trösten? Komm in die Ecke hier und sage mir, was du hast...» Er nimmt sie beim Ellbogen und führt sie in ein Gäßlein zwischen ihrem Haus und dem Garten eines Nachbarhauses. Simon bleibt mit dem ganz erstaunten Margziam am Eingang des Gäßleins stehen.

«Was hast du, Salome? Du weißt, daß ich dir immer wohlgesinnt gewesen bin. Ich habe es immer gut mit euch allen gemeint und bin euch immer noch wohlgesinnt. Du mußt daran glauben und Vertrauen haben...»

Salome unterbricht ihr Weinen, als wolle sie die Worte hören, um sie in ihrer wahren Bedeutung zu verstehen; dann weint sie wieder stärker und stottert: «Du ja... Wir... Ich jedoch nicht... und Simon auch nicht... Doch er ist törichter als ich... ich habe ihm gesagt: "Rufe Jesus"... Doch ein ganzes Dorf ist gegen uns... gegen dich... gegen mich... und mein Kind ...»Beim Berühren des tragischen Punktes wird das Weinen ebenfalls tragisch.

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Die Frau krümmt sich und jammert und schlägt sich mit den Fäusten ins Gesicht, als wäre sie in einem schmerzvollen Delirium.

Jesus ergreift ihre Hände und sagt: «Nicht so! Ich bin hier, um dich zu trösten. Rede, und ich werde alles tun ...»

Die Frau betrachtet ihn mit vor Staunen und Schmerz aufgerissenen Augen, doch die Hoffnung spornt sie an zu reden und ordentlich zu berichten: «Wirst du mit mir Erbarmen haben, auch wenn Simon schuldig ist? Wirklich? ... O Jesus, der du alle rettest! Mein Kind Alphäus, das jüngste, ist krank... Es liegt im Sterben... Du hast Alphäus geliebt. Du hast ihm aus Holz Spielsachen geschnitzt... ihn hochgehoben, damit er Weintrauben und Feigen von deinen Bäumen pflücken konnte... und bevor du weggingst ... um... in die Welt hinauszugehen, hast du ihn schon so viele gute Dinge gelehrt... Er ist wie tot... Er wird keine Trauben und Feigen mehr essen, er wird nichts mehr lernen...» und sie weint bitterlich.

«Salome, sei brav. Sage mir, was hat er?»

«Sein Bauch ist sehr krank. Er hat geschrien, hat unter Krämpfen gelitten und ist tagelang im Delirium gelegen. Nun spricht er nicht mehr. Er ist wie einer, der am Kopf getroffen worden ist. Er jammert, aber er antwortet nicht. Er weiß nicht einmal, daß er seufzt. Er ist ganz graublau. Er wird schon kalt. Schon viele Tage flehe ich Simon an, zu dir zu gehen. Aber... Oh, ich habe ihn immer geliebt, aber jetzt hasse ich ihn, weil er töricht ist und mir wegen einer törichten Idee den Jungen sterben läßt. Aber wenn mein Kind stirbt, dann verlasse ich ihn und kehre mit den anderen Kindern in mein Vaterhaus zurück. Er ist unfähig, im rechten Augenblick Vater zu sein. Ich will meine Kinder verteidigen. Ich gehe fort! Ja! Mag die Welt sagen, was sie will. Ich gehe.»

«Sage das nicht. Gib sofort diese Rachegedanken auf.»

«Mit Recht lehne ich mich auf. Siehst du? Ich habe auf dich gewartet, weil niemand zu dir gesagt hat: "Komm." Nun sage ich es dir. Aber ich habe es tun müssen, als handelte es sich um eine schlechte Tat. Ich kann dir nicht sagen: "Tritt ein", denn im Haus sind die des Joseph ...»

«Das ist auch nicht nötig. Versprichst du mir, Simon zu verzeihen? Ihm immer eine gute Frau zu sein? Wenn du mir dies versprichst, dann sage ich dir: "Geh in dein Haus, und dein Sohn wird dich geheilt anlächeln." Kannst du das glauben?»

«Ich glaube an dich. Auch gegen die ganze Welt glaube ich.»

«Kannst du ebenso verzeihen wie glauben?»

«... Aber wirst du ihn mir wirklich heilen'?»

«Nicht nur dies. Ich verspreche dir, daß Simon nicht mehr an mir zweifeln wird, und daß der kleine Alphäus, und mit ihm deine anderen Kinder, du und auch dein Gatte, wieder in mein Haus kommen wird. Maria spricht so viel von dir...»

«Oh, Maria! Maria! Sie war dabei, als Alphäus geboren wurde... Ja,

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Jesus, ich werde verzeihen. Ich werde ihm nichts sagen... Nein, im Gegenteil, ich werde ihm sagen: "Siehst du, wie Jesus auf dein Verhalten antwortet: indem er dir den Sohn zurückgibt!" Das darf ich doch sagen?»

«Das darfst du sagen ... Geh, Salome. Geh und weine nicht mehr. Leb wohl! Der Friede sei mit dir, gute Salome. Geh, geh!» Er führt sie zur Türe zurück und schaut ihr nach und lächelt, als er sieht, mit welcher Eile sie durch den Gang läuft, ohne die Türe zu schließen, und macht sie dann selbst langsam zu. Er wendet sich den beiden Begleitern zu und sagt: «Nun wollen wir unser Ziel erreichen...»

«Glaubst du, daß Simon sich bekehren wird?» fragt der Zelote.

«Er ist kein Ungläubiger. Er ist nur einer, der sich von einem Stärkeren als er beherrschen läßt.»

«Oh, dann! Stärker als das Wunder!»

«Du siehst, daß du dir selbst die Antwort gibst... Ich freue mich, das Kind gerettet zu haben. Ich habe es gesehen, als es wenige Stunden alt war, und es hat mich immer so gern gehabt...»

«Wie ich? Wird es ein Jünger werden?» fragt Margziam, nicht ganz uninteressiert und ein wenig ungläubig, daß jemand Jesus so lieben kann, wie er ihn liebt.

«Du liebst mich als Kind und als Jünger. Alphäus hat mich nur als Kind geliebt. Doch später wird er mich auch als Jünger lieben. Vorerst ist er nur ein Kind. Er ist kaum acht Jahre alt. Du wirst ihn sehen.»

«Also gibt es nur einen, der zugleich Kind und Jünger ist?»

«Dich allein bis jetzt. Du bist das Haupt der Kinder-Jünger. Wenn du wirklich zu einem Mann geworden bist, dann erinnere dich daran, daß du kein schlechterer Jünger gewesen bist als die Männer; öffne daher allen Kindern die Arme, die auf der Suche nach mir sind und sagen: "Ich will Jünger Christi sein." Wirst du das tun?»

«Ich werde es tun», verspricht Margziam ernst.

Die offenen, von der Sonne beschienenen Felder umgeben sie nun, und sie entfernen sich im Sonnenschein...

354. VETTER SIMON KEHRT ZU JESUS ZURÜCK

Ein ärmliches Haus nimmt sie auf, in dem sich ein Großmütterchen befindet, das von einer ansehnlichen Schar Kinder im Alter von ungefähr zwei bis zehn Jahren umgeben ist. Das Haus steht inmitten von etwas ungepflegten Feldern, von denen viele sogar zu wildwachsenden Wiesen geworden sind, in denen noch einige überlebende Obstbäume stehen.

«Der Friede sei mit dir, Johanna! Geht es dir heute besser? Sind sie gekommen, um dir zu helfen?»

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«Ja, Meister und Jesus, und sie haben mir versprochen, daß sie wiederkommen werden, um zu säen. Es wird etwas spät dafür sein, aber sie sagen mir, daß der Same noch keimen wird.»

«Gewiß wird er keimen. Was ein Wunder des Samens und der Erde wäre, wird ein Wunder Gottes werden und daher ein vollkommenes Wunder. Deine Felder werden die schönsten dieser Gegend sein, und diese Vögelchen, die dich umgeben, werden Körner im Überfluß für ihre Schnäbelchen haben. Weine nicht mehr. Im kommenden Jahr wird es schon besser gehen. Aber ich werde dir noch zusätzlich helfen, besser gesagt, eine wird dir helfen, die denselben Namen trägt wie du und die nie müde ist, Gutes zu tun. Schau, dies ist für dich, damit kannst du bis zur Ernte auskommen.»

Die Alte nimmt die Börse samt der Hand Jesu und küßt weinend diese Hand. Dann fragt sie: «Sag mir, wer ist das gute Geschöpf, damit ich dem Herrn ihren Namen nennen kann.»

«Eine meiner Jüngerinnen und eine deiner Schwestern. Ihr Name ist mir und dem Vater im Himmel bekannt.»

«Oh! Du bist es... !»

«Ich bin arm, Johanna. Ich gebe, was man mir gibt. Selbst kann ich nur Wunder geben. Es tut mir leid, daß ich nicht früher von deinem Unglück erfahren habe. Ich bin gleich gekommen, als Susanna es mir gesagt hat, aber leider zu spät. Doch so wird das Werk Gottes um so heller leuchten.»

«Zu spät! Ja, zu spät! So rasch hat sie der Tod dahingerafft! Und er hat die Junge geholt, nicht mich, die ich unnütz bin. Nicht diese hier, die hilflos sind. Sondern die, die arbeiten konnte. Verfluchter Mond des Elul, der mit so schlechten Einflüssen behaftet ist!»

«Verfluche nicht den Planeten, er hat nichts damit zu tun... Sind die Kinder brav? Kommt her! Seht ihr? Auch dies hier ist ein Kind ohne Vater und Mutter, und es kann nicht einmal bei seinem Großvater leben. Doch Gott verläßt es trotzdem nicht und wird es nicht verlassen, solange es brav bleibt. Nicht wahr, Margziam?»

Margziam stimmt zu und spricht mit den Kindern, die sich um ihn geschart haben. Sie sind jünger als er, doch einige von ihnen sind ein gutes Stück größer als er. Er sagt: «Wahrlich, Gott verläßt niemanden. Ich kann es bestätigen. Für mich hat der Großvater gebetet und sicher auch die Mutter und der Vater im anderen Leben, und Gott hat diese Gebete erhört, denn er ist sehr gut und erhört die Gebete der Gerechten immer, ob sie nun tot oder lebendig sind. Für euch haben ganz bestimmt eure Verstorbenen und diese liebe Großmutter gebetet. Habt ihr sie lieb?»

«Ja, ja...» Das Gezwitscher der verwaisten Brut erhebt sich begeistert.

Jesus schweigt, um sich das Gespräch seines kleinen Jüngers mit den Waisenkindern anzuhören.

«Das ist recht. Man sagt, man darf die Alten nicht zum Weinen bringen.

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Man darf niemanden zum Weinen bringen, denn wer einem anderen Schmerz bereitet, beleidigt Gott. Die Alten erst! Der Meister behandelt alle gut, aber die Alten liebt er wie die Kinder, denn Kinder sind unschuldig, und die Alten leiden. Sie haben schon viel geweint! Man muß sie doppelt, dreifach, zehnfach lieben, für alle jene, die sie nicht mehr lieben. Jesus sagt immer: Wer die Alten nicht ehrt, ist doppelt böse, so wie einer, der ein Kind mißhandelt, denn Kinder und Greise können sich nicht wehren. Ihr müßt daher gut sein zu der alten Mutter.»

«Ich helfe ihr manchmal nicht ...» sagt eines der größeren Kinder.

«Warum? Du ißt doch auch das Brot, das sie dir mit ihrer Mühe bereitet. Spürst du nicht den Geschmack der Tränen, wenn du sie betrübst? Du, Frau (die "Frau" ist höchstens zehn Jahre alt und ein zartes, bleiches Geschöpf), hilfst du ihr?»

Die Brüderchen sagen alle zusammen: «Oh, Rachel ist gut! Sie bleibt lange wach, um das bisschen Wolle und den Flachs zu spinnen, den wir haben, und sie hat Fieber bekommen vom Arbeiten auf dem Feld. Sie hatte es für den Samen vorbereitet, als der Vater im Sterben lag.»

«Gott wird es dir vergelten», sagt Margziam ernst.

«Er hat mich schon belohnt, indem er die Großmutter von ihrer Pein befreit hat.»

Jesus mischt sich ein: «Verlangst du sonst nichts?»

«Nein, Herr!»

«Aber bist du denn geheilt?»

«Nein, Herr, aber das macht nichts. Jetzt ist der Großmutter geholfen, auch wenn ich sterbe. Vorher hätte es mir leid getan, denn ich konnte ihr helfen.»

«Aber der Tod ist schlimm, Mädchen ...»

«Gott wird mir auch im Tod helfen, so wie er mir im Leben geholfen hat, und ich werde zu meiner Mutter gehen... Oh, weine nicht, Großmutter! Ich habe auch dich sehr gern. Ich werde es nicht mehr sagen, wenn du deshalb weinen mußt. Im Gegenteil, wenn du willst, werde ich den Herrn bitten, mich zu heilen... Weine nicht, mein Mütterchen», und das Kind umarmt die trostlose alte Frau.

«Mach sie gesund, Herr! Du hast meinen Großvater meinetwegen glücklich gemacht. Mach jetzt auch diese alte Frau glücklich!»

«Die Gnaden werden durch Opfer erworben. Welches Opfer wirst du bringen, um sie zu erlangen?» fragt Jesus ernst.

Margziam denkt nach... Er sucht nach etwas, auf das er nur schwer verzichten kann... Dann lächelt er: «Ich esse keinen Honig mehr, einen ganzen Mond lang.»

«Das ist wenig! Der Mond des Kislew ist schon weit fortgeschritten...»

«Ich sage Mond und meine damit die vier Phasen. Bedenke... daß in diesen Tagen das Lichterfest ist und daß es viele Honigküchlein geben wird ...»

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«Das stimmt! Also, dann wird Rachel durch dein Verdienst gesund werden. Nun wollen wir gehen. Gott befohlen, Johanna! Bevor ich abreise, werde ich noch einmal vorbeischauen. Gott befohlen, Rachel, und du, Tobiolus, sei immer brav! Gott befohlen, ihr Kinder. Mein Segen bleibe über euch und mein Friede in euch!»

Sie gehen hinaus, begleitet von den Segenswünschen der alten Frau und der Kinder.

Margziam, im Bewußtsein «Apostel und Opfer» zu sein, fängt an zu springen und hüpft wie ein Böcklein voraus.

Simon beobachtet ihn lächelnd: «Seine erste Predigt und sein erstes Opfer. Er verspricht gut zu werden, meinst du nicht, Meister?»

«Ja. Aber er hat schon mehrere Male gepredigt. Auch dem Judas des Simon...»

«... zu dem der Herr anscheinend durch Kinder spricht... Vielleicht, um Racheakte von seiner Seite zu verhindern...»

«Racheakte, nein... Ich glaube nicht, daß er dazu fähig wäre, aber lebhafte Reaktionen, das schon. Wer Tadel verdient, liebt die Wahrheit nicht... und doch muß sie gesagt werden...» Jesus seufzt.

Simon beobachtet ihn und fragt: «Meister, sage mir die Wahrheit. Du hast ihn fortgeschickt und hast den Entschluß gefasst, alle zum Lichterfest nach Hause zu schicken, um zu verhindern, daß Judas sich in diesem Augenblick in Galiläa aufhält. Ich will nicht wissen, wozu es gut ist, daß der Mann aus Kerioth nicht unter uns ist. Es genügt mir zu wissen, ob ich recht habe. Wir denken alle dasselbe, weißt du? Selbst Thomas hat mir gesagt: "Ich gehe ohne Widerspruch, denn ich verstehe, daß ein ernsthafter Grund dafür vorliegt." Er hat hinzugefügt: "Der Meister handelt recht. Zuviele Nahum, Sadok, Jochanan und Eleazar sind mit Judas befreundet..." Thomas ist nicht dumm! ... Er ist auch nicht schlecht, obschon er sehr menschlich ist. Seine Zuneigung zu dir ist ganz aufrichtig.»

«Ich weiß es. Es stimmt, was ihr gedacht habt, und bald werdet ihr den Grund erfahren...»

«Wir werden dich nicht danach fragen.»

«Aber ich werde euch um Hilfe bitten und es euch sagen müssen.»

Margziam kommt eilends zurück: «Meister, dort, wo der Feldweg in die Straße einmündet, ist dein Vetter Simon. Er ist ganz in Schweiß gebadet als ob er sehr schnell gelaufen wäre. Er hat mich gefragt: "Wo ist Jesus?" Ich habe ihm geantwortet: "Dort kommt er hinter mir mit Simon dem Zeloten." Er hat zu mir gesagt: "Wird er hier vorbeikommen?" "Gewiß" habe ich erwidert. "Hier muß man vorbei, um nach Hause zurückzukehren; es sei denn, man macht es wie die Vöglein, die aus allen Richtungen zum Nest zurückfliegen können. Brauchst du ihn?" habe ich ihn auch gefragt. Dein Bruder ist unschlüssig geblieben, und doch braucht er dich, ich bin sicher.»

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«Meister, er hat schon seine Frau gesehen... Wir wollen es so machen. Ich und Margziam lassen dich allein. Wir werden hinten herum nach Nazareth gehen. Wir haben ja keine Eile, heimzukommen... und du gehst auf dem geraden Weg.»

«Ja! Danke, Simon! Lebt wohl, ihr beiden!»

Sie trennen sich, und Jesus geht mit rascheren Schritten auf die Hauptstraße zu. Da ist auch schon Simon, der keuchend an einem Baumstamm lehnt und sich den Schweiß trocknet. Als er Jesus sieht, hebt er die Arme in die Höhe... läßt sie wieder sinken und neigt betrübt den Kopf.

Jesus erreicht ihn, legt ihm die Hand auf die Schulter und fragt: «Was willst du von mir, Simon? Willst du mich glücklich machen mit einem Wort der Liebe, das ich schon seit vielen Tagen erwarte?»

Simon senkt den Kopf noch tiefer und schweigt...

«So rede doch! Bin ich vielleicht ein Fremder für dich? Nein, denn du bist immer noch mein guter Bruder Simon und ich dein kleiner Jesus, den du mit Mühe, aber mit viel Liebe auf den Armen trugst, als wir nach Nazareth zurückkehrten.»

Der Mann bedeckt sein Gesicht mit den Händen, sinkt auf die Knie und jammert: «Oh, mein Jesus! Ich bin der Schuldige, aber ich bin genug gestraft worden...»

«Auf, erhebe dich! Wir sind Verwandte. Auf! Was willst du von mir?»

«Mein Kind! Es...» Das Weinen erstickt seine Stimme.

«Dein Kind? Nun?»

«Es liegt im Sterben, und mit ihm stirbt auch die Liebe Salomes... und mir bleiben nur zwei Vorwürfe: das Kind und die Frau verloren zu haben. Heute nacht habe ich schon gedacht, es sei gestorben, und sie schien mir wie eine Hyäne. Sie schrie mir ins Gesicht: "Mörder deines Kindes!" Ich habe gebetet, daß es nicht wahr sein möge, und mir selbst geschworen, zu dir zu gehen, wenn sich das Kind erholen würde; ich wollte kommen, auch auf die Gefahr hin, weggejagt zu werden, was ich ja verdient hätte, um dich wissen zu lassen, daß du allein mein Unglück verhindern kannst. Beim Morgengrauen hatte sich das Kind ein wenig erholt... Ich bin aus meinem Haus geflohen und zu deinem gelaufen, um die Stadt herum, um keinen Hindernissen zu begegnen... Ich habe angeklopft. Maria hat mir verwundert geöffnet. Sie hätte mich schlecht behandeln können, aber sie hat nur gesagt: "Was hast du, armer Simon?" und hat mich gestreichelt, als wäre ich noch ein Kind... Das hat mich zu Tränen gerührt, und Hochmut und Unsicherheit waren entschwunden. Es ist nicht möglich, daß das, was Judas, dein Apostel, nicht mein Bruder, gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Das habe ich Maria nicht erzählt, sondern ich sage es mir und schlage mir von jenem Augenblick an an die Brust und sage mir selbst alle Schimpfworte. Zu ihr habe ich gesagt: "Ist Jesus da? Es ist wegen Alphäus. Er stirbt..." Maria hat mir gesagt: "Lauf schnell. Er ist mit dem

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Kind und einem Apostel in Richtung Kana gegangen. Du wirst ihn auf der Straße nach Kana finden. Aber beeile dich. Er ist beim Morgengrauen fortgegangen und wird auf dem Rückweg sein. Ich will beten, daß du ihn antriffst." Kein einziges Wort des Tadels für mich, den ich so sehr verdiene!»

«Auch ich tadle dich nicht, sondern ich öffne dir die Arme, um... !»

«Ach! Um mir zu sagen, daß Alphäus gestorben ist... !»

«Nein, um dir zu sagen, daß ich dich liebe.»

«Dann komm also! Schnell! Schnell... !»

«Nein, das ist nicht nötig.»

«Du kommst nicht? Ach, du kannst nicht verzeihen? Oder ist Alphäus schon tot? Aber auch wenn er es wäre, Jesus, Jesus, Jesus! Du, der du die Toten erweckst, gib mir mein Kind wieder! Oh, guter Jesus! ... Oh, heiliger Jesus! ... Oh, Jesus, den ich verlassen habe! ... Oh, Jesus, Jesus, Jesus...» Das Weinen des Mannes erfüllt den einsamen Weg, der, erneut auf den Knien, krampfhaft das Gewand Jesu festhält und ihm die Füße küßt, gequält von seinem Schmerz, von der Reue und der väterlichen Liebe...

«Bist du nicht zu Hause gewesen, bevor du hierher gekommen bist?»

«Nein. Ich bin wie ein Irrsinniger hierher gerannt... Warum? Gibt es ein neues Leid? Ist Salome schon weggelaufen? Ist sie wahnsinnig geworden? Sie schien es schon heute nacht zu sein...»

«Salome hat mit mir gesprochen. Sie hat geweint, sie hat geglaubt. Geh nach Hause, Simon. Dein Sohn ist geheilt!»

«Du! ... Du! ... Du hast es getan für mich, der ich dich beleidigt habe, weil ich jener Schlange geglaubt habe? Oh, Herr! Ich bin es nicht wert! Verzeih! Verzeih! Verzeih! Sag mir, was ich tun soll, um alles wieder gutzumachen, um dir zu sagen, daß ich dich liebe, um dich davon zu überzeugen, daß ich gelitten habe, als ich den Widerspenstigen spielte, um dir zu sagen, daß ich, seit du hier bist, auch schon bevor Alphäus so krank geworden ist, mich danach gesehnt hatte, mit dir zu sprechen! ... Aber... Aber...»

«Laß es gut sein. Nun ist alles vorbei. Ich denke nicht mehr daran. Tue du ebenso, und vergiß auch die Worte des Judas von Kerioth. Er ist ein junger Bursche. Von dir will ich nur eines: daß du weder jetzt noch in Zukunft jene Worte meinen Jüngern, meinen Aposteln und besonders meiner Mutter gegenüber wiederholst! Nur das! Jetzt geh nach Hause, Simon. Geh! Der Friede sei mit dir... Zögere nicht, an der Freude teilzunehmen, die dein Haus erfüllt. Geh!» Er küßt ihn und schiebt ihn sanft in Richtung Nazareth.

«Kommst du nicht mit mir?»

«Ich erwarte dich in meinem Haus mit Salome und Alphäus. Gehe nun und vergiß nicht, daß es um deiner Frau willen geschehen ist, die verstanden hat, nur an die Wahrheit zu glauben. Ihretwegen...»

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«Willst du damit sagen, daß für mich...'»

«Nein. Ich will damit sagen, daß ich die Reue in dir erkannt habe, und die Reue ist in dir wach geworden durch den Schrei ihrer Anklage gegen dich... Wahrlich, Gott ruft durch den Mund der Guten, mahnt und gibt guten Rat! ... Ich habe den demütigen und starken Glauben Salomes gesehen. Geh, sage ich dir! Zögere nicht länger, ihr "Danke" zu sagen.»

Er muß ihn fast energisch wegstoßen, um ihn zum Fortgehen zu bewegen. Als Simon endlich geht, segnet er ihn... dann neigt er sein Haupt in stillem Selbstgespräch, und leise rinnen Tränen über sein bleiches Antlitz... Ein einziges Wort verrät den Inhalt seiner Gedanken: «Judas... !»

Er geht auf demselben Weg, den der Zelote eingeschlagen hat, um die Stadt herum auf sein Haus zu.

355. SIMON PETRUS IN NAZARETH; DER GROSSMUT MARGZIAMS

Es ist schon Vormittag, als Petrus allein und unerwartet im Haus von Nazareth ankommt. Er ist wie ein Gepäckträger mit Körben und Säcken beladen, jedoch so glücklich, daß er weder Last noch Mühe spürt.

Maria, die ihm öffnet, widmet er ein seliges Lächeln und einen freudigen, ehrfürchtigen Gruß und fragt: «Wo sind der Meister und Margziam?»

«Sie sind auf der Böschung oberhalb der Grotte, aber in Richtung des Hauses des Alphäus. Ich glaube, daß Margziam Oliven pflückt und Jesus seine Betrachtung hält. Ich werde sie rufen.»

«Das besorge ich.»

«Entledige dich wenigstens all dieser Lasten.»

«Nein, nein! Es sind Überraschungen für das Kind. Ich freue mich schon darauf, seine großen Augen und sein neugieriges Wühlen zu sehen... Seine kleinen Freuden, mein armes Kind.»

Er geht in den Garten unterhalb der Böschung, verbirgt sich vollständig im Innern der Grotte und ruft mit verstellter Stimme: «Der Friede sei mit dir, Meister», und dann mit natürlicher Stimme: «Margziam... !»

Das Stimmchen Margziams, das die Stille mit seinen Ausrufen erfüllte, verstummt... Eine Pause, dann fragt Margziam mit seiner fast mädchenhaften Stimme: «Meister, war das nicht mein Vater, der gerufen hat?»

Vielleicht war Jesus so in seine Gedanken vertieft, daß er nichts gehört hat, und er gibt es auch ganz einfach zu.

Petrus ruft wiederum: «Margziam!» und lacht in seiner frohen Art.

«Oh! Er ist es wirklich! Vater! Mein Vater! Wo bist du?»

Er beugt sich vor, um in den Garten zu schauen. Aber er sieht nichts...

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Auch Jesus kommt näher und blickt umher... Er sieht Maria, die lächelnd an der Türe steht, und Johannes und Syntyche, die das gleiche tun, beim Zimmer im Hintergrund des Gartens, wo der Backofen steht.

Doch Margziam zögert nicht länger und springt die Böschung bei der Grotte hinunter. Petrus ist schon bereit, ihn aufzufangen, noch bevor er den Boden berührt.

Die Begrüßung der beiden ist rührend. Jesus, Maria und die beiden im Hintergrund des Gartens beobachten sie lächelnd, und alle nähern sich den beiden, die sich so lieben. Petrus befreit sich, so gut er kann, aus der Umarmung des Knaben, um sich vor Jesus zu verneigen und ihn aufs neue zu begrüßen. Jesus umarmt ihn zugleich mit dem Kind, das sich nicht vom Apostel loslösen will und fragt: «Und die Mutter?»

Aber Petrus antwortet Jesus auf seine Frage: «Warum bist du so früh gekommen?»

«Glaubst du, ich hätte es länger aushalten können, fern von dir zu sein? Und dann... und dann... Es ist auch wegen Porphyria, die mir keine Ruhe ließ: "Geh zu Margziam. Bring ihm dies, bring ihm das." Es schien, als stelle sie sich vor, Margziam sei Räubern in die Hände gefallen oder lebe in einer Wüste. Gestern nacht ist sie eigens aufgestanden, um Brötchen zu backen, und sobald sie fertig waren, mußte ich abreisen...»

«Ach, die Honigbrötchen... !» ruft Margziam. Aber dann verstummt er.

«Ja. Sie sind hier drinnen mit den im Ofen getrockneten Feigen, den Oliven und den roten Äpfeln. Sie hat dir ein Ölbrot gemacht, und sie schickt dir die kleinen Käse von deinen Schafen. Hier ist auch ein wasserdichtes Gewand, und dann... Ich weiß nicht mehr. Wie? Du hast keine Eile mehr? Du weinst beinahe? Oh! Warum denn?»

«Weil es mir lieber wäre, wenn du sie anstelle all dieser Dinge mitgebracht hättest... Ich liebe sie, weißt du?»

«Oh, mein Gott! Aber wer hätte das gedacht?! Wenn sie das gehört hätte, wäre sie wie Butter geschmolzen...»

«Margziam hat recht. Du hättest sie mitbringen können. Sicher sehnt sie sich danach, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Wir Frauen sind so mit unseren Kindern...» sagt Maria.

«Gut! ... Aber bald wirst du sie sehen. Nicht wahr, Meister?»

«Ja. Nach dem Lichterfest, wenn wir fortgehen... Aber... Ja, wenn du nach dem Lichterfest wiederkommst, wirst du mit ihr kommen. Sie wird einige Tage hier bleiben, und dann werden wir alle zusammen nach Bethsaida zurückkehren.»

«Oh, wie schön! Hier zu sein mit zwei Müttern!» Das Kind ist getröstet und glücklich.

Sie gehen alle ins Haus, und Petrus entledigt sich seiner Bündel.

«Schau: in Salz getrockneter und frischer Fisch. Das wird gut für deine

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Mutter sein. Hier der Weichkäse, der dir so gut schmeckt, Meister. Hier Eier für Johannes; hoffen wir, daß sie nicht zerbrochen sind ... Nein, um so besser. Dann die Weintrauben, die Susanna mir in Kana gegeben hat, wo ich übernachten mußte. Ach! Dies erst! Schau, Margziam, wie gelb er ist, die gleiche Farbe wie Marias Haar»... und er öffnet ein Töpfchen, das mit flüssigem Honig gefüllt ist.

«Aber wozu denn so viele Sachen? Du hast dich abgemüht, Simon», sagt Maria, die vor den Bündeln und Bündelchen, Töpfen und Krüglein steht, die den Tisch bedecken.

«Nein. Ich habe viele Fische gefangen und einen guten Erlös erzielt. Dies hier ist vom Fischen. Das übrige ist hausgemacht, kostet nichts und macht viel Freude, es bringen zu können. Bald kommt ja das Lichterfest... Es ist so Brauch, nicht wahr? Kostest du nicht den Honig?»

«Ich kann nicht», sagt Margziam ernst.

«Warum denn nicht? Geht es dir nicht gut?»

«Nein. Aber ich darf ihn nicht essen.»

«Aber warum denn?»

Das Kind wird rot, aber es antwortet nicht. Es schaut Jesus an und schweigt. Jesus lächelt und erklärt: «Margziam hat ein Gelübde abgelegt, um eine Gnade zu erlangen. Er darf vier Wochen lang keinen Honig essen.»

«Ach so! Dann wird er ihn später essen... Das Töpfchen kannst du trotzdem an dich nehmen... Aber schau! Ich hielt dich nicht für so, so...»

«So edelmütig, Simon! Wer sich schon als Kind an Buße gewöhnt, wird den Weg der Tugend sein ganzes Leben lang leichter gehen können», sagt Jesus, während das Kind mit seinem Gefäßchen in den Händen weggeht.

Petrus blickt ihm bewundernd nach. Dann fragt er: «Ist der Zelote nicht hier?»

«Er ist bei Maria des Alphäus. Doch er wird bald kommen. Heute abend werdet ihr beieinanderschlafen. Komm, Simon Petrus!»

Sie gehen miteinander hinaus, während Maria und Syntyche den mit Bündeln überfüllten Raum in Ordnung bringen.

«Meister... ich bin gekommen, um dich und das Kind zu sehen. Das ist wahr. Aber auch, weil ich in diesen Tagen viel nachgedacht habe, besonders nach der Ankunft der drei giftigen Schlangen, denen ich mehr Lügen erzählt habe, als Fische im Meer sind. Nun sind sie auf dem Weg nach Gethsemane, weil sie glauben, dort Johannes von Endor zu finden; dann werden sie zu Lazarus gehen, weil sie hoffen, Syntyche und dich bei ihm anzutreffen. Sie sollen nur laufen... doch dann werden sie zurückkommen und dich, Meister, wegen der beiden Unglücklichen belästigen.»

«Ich habe schon seit Monaten für alles vorgesorgt. Wenn sie auf der Suche nach den beiden Verfolgten hierher kommen, werden sie sie nicht mehr vorfinden, und nirgends in Palästina. Siehst du diese Kisten? Sie

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sind für sie bestimmt. Hast du alle die gefalteten Kleider beim Webstuhl gesehen? Sie gehören ihnen. Bist du überrascht?»

«Ja, Meister. Aber wohin schickst du sie?»

«Nach Antiochia.»

Petrus stößt einen bedeutungsvollen Pfiff aus und fragt dann: «Zu wem, und wie kommen sie dorthin?»

«In ein Haus des Lazarus. Das letzte, das Lazarus dort besitzt, wo sein Vater für Rom Verwalter war. Sie werden auf dem Meer hinreisen...»

«Ach schau! Wenn Johannes zu Fuß dorthin hätte gehen müssen...»

«Per Schiff. Aber ich bin froh, mit dir reden zu können. Ich hätte Simon gesandt, um dir sagen zu lassen: "Komm, damit du alles vorbereiten kannst." Höre! Zwei oder drei Tage nach dem Lichterfest werden wir einer nach dem anderen von hier abreisen, damit es nicht auffällt. Die Gruppe besteht aus mir, dir, deinem Bruder, Jakobus und Johannes, meinen beiden Brüdern und Johannes und Syntyche. Wir werden nach Ptolemais gehen! Von dort aus wirst du sie mit einem Boot nach Tyrus bringen, wo ihr ein Schiff besteigt, das nach Antiochia fährt, so als ob ihr Proselyten wäret, die nach Hause zurückkehren. Dann kommt ihr zurück, und wir werden uns in Achsib treffen. Ich werde täglich auf den Gipfel des Berges gehen, und im übrigen wird euch der Geist führen...»

«Wie? Du kommst nicht mit uns?»

«Das würde zu sehr auffallen. Ich will dem Geist des Johannes Frieden verschaffen.»

«Wie soll ich das machen, ich, der ich diesen Ort noch nie verlassen habe?»

«Du bist kein Kind mehr... Bald wirst du noch viel weiter gehen müssen als nur bis nach Antiochia. Ich verlasse mich auf dich! Siehst du, wie ich dich schätze...»

«Und Philippus und Bartholomäus?»

«Sie werden uns bis Jotapata entgegenkommen und inzwischen die Frohe Botschaft verkünden. Ich werde ihnen schreiben, und du wirst ihnen den Brief überbringen!»

«Kennen die beiden schon ihr Schicksal?»

«Nein! Ich lasse sie das Fest in Frieden feiern.»

«Mhm! Die Armen! Schau, wenn hier einer verfolgt werden muß von verbrecherischen Seelen, dann...»

«Beschmutze deinen Mund nicht, Simon!»

«Ja, Meister... Höre... Aber wie werden wir diese Koffer hinbringen? Und Johannes? Er scheint sehr krank zu sein.»

«Wir werden einen Esel mieten.»

«Nein, ein Wägelchen.»

«Wer wird es lenken?»

«Nun, wenn Judas des Simon rudern gelernt hat, dann wird Simon des

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Jonas auch kutschieren lernen können. Es kann doch nicht so schwer sein, einen Esel am Zügel zu führen! Auf dem Wagen bringen wir die Kisten und die beiden unter, wir gehen zu Fuß nebenher. Ja, ja. So ist es recht, glaube mir!»

«Wer wird uns das Wägelchen leihen? Denk daran, daß niemand von der Abreise erfahren darf.»

Petrus denkt nach... Dann beschließt er: «Hast du Geld?»

«Ja. Ich habe noch viel von den Edelsteinen Misazes.»

«Dann ist alles einfach. Gib mir einen Betrag. Ich werde bei irgend jemandem Wagen und Esel kaufen... und... ja, ja... und nachher werden wir Wagen und Esel irgend einem Unglücklichen schenken... Wir werden sehen... Es ist gut, daß ich gekommen bin. Muß ich wirklich mit der Frau zurückkommen?»

«Ja, tue das!»

«In Ordnung. Aber diese beiden Armen! Es tut mir wirklich leid, daß Johannes nicht mehr bei uns sein wird. Wir hätten ihn sowieso nur noch kurze Zeit bei uns gehabt... Aber der Arme hätte wenigstens hier sterben können wie Jonas...»

«Sie hätten es nicht zugelassen, denn die Welt haßt jene, die sich bekehren und Buße tun.»

«Er wird sich gedemütigt fühlen ...»

«Ich werde einen Grund finden, der ihm die Abreise erleichtert.»

«Welchen?»

«Den gleichen, der dazu gedient hat, Judas des Simon fortzuschicken: er soll für mich arbeiten.»

«Ach so! ... Aber Johannes ist heilig, Judas jedoch nur hochmütig.»

«Simon, du sollst nicht murren!»

«Das ist schwerer als einen Fisch zum Singen zu bringen! Es ist die Wahrheit, Meister, kein Murren... Aber mir scheint, daß Simon mit deinen Brüdern gekommen ist. Gehen wir zu ihnen.»

«Gehen wir, und schweig allen gegenüber.»

«Das sagst du mir? Ich kann die Wahrheit nicht verschweigen, wenn ich rede, aber ich kann gänzlich schweigen, wenn ich will, und ich will, ich habe es mir geschworen. Ich soll bis nach Antiochia gehen, bis ans Ende der Welt! Oh, ich kann es kaum erwarten, wieder zurückzusein! Ich werde nicht mehr schlafen, bis alles erledigt ist...»

Sie gehen hinaus, und ich sehe nichts mehr.

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356. «NICHTS GEHT VERLOREN IN DER HEILIGEN HARMONIE DER UNIVERSALEN LIEBE»

Ich weiß nicht, ob es noch am selben Tag ist, aber ich nehme es an, da Petrus am Familientisch von Nazareth sitzt. Das Mahl ist fast beendet, und Syntyche steht auf und stellt zum Abschluß der Abendmahlzeit Äpfel, Nüsse, Weintrauben und Mandeln auf den Tisch. Es ist Abend geworden, und die Lampen brennen schon.

Die Unterhaltung dreht sich um die Lampen, während Syntyche die Früchte bringt. Petrus sagt: «Dieses Jahr werden wir eine mehr anzünden und in den kommenden Jahren immer wieder eine mehr, für dich, mein Sohn! Denn wir wollen sie anzünden, auch wenn du nicht hier bist. Es ist das erste Mal, daß wir sie für ein Kind anzünden...» Simon ist etwas gerührt, als er sagt: «Gewiß... wenn auch du dabei wärest, wäre es noch schöner ...»

«Im vergangenen Jahr war ich es, Simon, die nach dem Sohn in der Ferne seufzte, und mit mir Maria des Alphäus und Salome, und auch Maria des Simon in ihrem Haus von Kerioth, und die Mutter von Thomas...»

«Oh, die Mutter des Judas! Dieses Jahr wird sie ihren Sohn bei sich haben... doch ich glaube nicht, daß sie glücklicher sein wird... Lassen wir das... Wir waren bei Lazarus. Wie viele Lichter! ... Es schien ein Himmel aus Gold und Feuer zu sein. Dieses Jahr hat Lazarus seine Schwester... Aber ich bin sicher, es wird ihnen leid tun, daß du nicht dort bist. Wo werden wir im nächsten Jahr sein?»

«Ich werde sehr weit fort sein...» flüstert Johannes von Endor.

Petrus wendet sich um und sieht ihn an, denn er sitzt an seiner Seite. Er will... gerade etwas fragen, beherrscht sich aber glücklicherweise, da ihm Jesus mit den Augen einen Wink gibt.

Margziam fragt: «Wo wirst du sein?»

«Durch die Barmherzigkeit Gottes hoffe ich im Schoß Abrahams zu sein ...»

«Oh! Willst du sterben? Willst du nicht die Frohe Botschaft verkünden? Würde es dir nicht leid tun zu sterben, ohne es getan zu haben?»

«Das Wort des Herrn muß von heiligen Lippen kommen. Es ist schon viel, daß er mir erlaubt hat, es hören zu dürfen, um dadurch erlöst zu werden. Ich hätte es gerne getan, aber nun ist es zu spät ...»

«Du wirst es trotzdem verkünden, du hast es ja schon getan, und zwar so sehr, daß du die Aufmerksamkeit auf dich gelenkt hast. Deshalb wirst du ebenfalls Verkündiger des Evangeliums genannt werden, auch wenn du nicht herumwanderst, um die Frohe Botschaft zu verbreiten; und im anderen Leben wirst du den Lohn empfangen, der den Verkündigern meines Evangeliums vorbehalten ist.»

«Dein Versprechen läßt mich den Tod ersehnen... Jeder Augenblick des

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Lebens kann eine Gefahr in sich bergen, und ich, schwach wie ich bin, könnte sie vielleicht nicht überstehen. Wenn Gott mich aufnimmt, zufrieden mit dem, was ich vollbracht habe, dann ist das ganz große Güte und muß gepriesen werden.»

«Wahrlich, ich sage dir, der Tod wird für viele die höchste Güte sein; denn sie werden erkennen, bis zu welchem Punkt der Mensch vom Teufel besessen ist, und zwar aus einer Sicht, die ihnen Frieden schenkt und sie über diese Erkenntnis frohlocken läßt, da sie mit der unaussprechlichen Freude der Befreiung aus der Vorhölle verbunden sein wird.»

«Wo werden wir in den nächsten Jahren sein, Herr?» fragt Simon der Zelote aufmerksam.

«Wo es dem Ewigen gefallen wird. Willst du schon die fernen Zeiten im voraus kennen, wenn wir des Augenblickes, den wir durchleben, nicht sicher sind und nicht wissen, ob es uns erlaubt sein wird, ihn zu Ende zu leben? Übrigens, welches auch immer der Ort sein mag, an dem wir die kommenden Lichterfeste feiern, sie werden immer heilig sein, wenn ihr daran teilnehmt, um den Willen Gottes zu erfüllen.»

«Wenn ihr daran teilnehmt, und du?» fragt Petrus.

«Ich werde immer dort sein, wo meine Auserwählten sind.»

Maria hat kein Wort gesagt, doch ihre Augen haben sich nicht einen Augenblick vom Antlitz ihres Sohnes abgewandt... Sie kommt wieder zu sich, als Margziam sagt: «Mutter, warum hast du die Honigküchlein nicht auf den Tisch gestellt? Jesus schmecken sie, und Johannes würden sie für seine Kehle guttun. Auch mein Vater ißt sie gerne...»

«Auch du», schließt Petrus.

«Für mich... ist es, als ob sie nicht da wären. Ich habe versprochen...»

«Gerade deswegen, mein Lieber, habe ich sie nicht aufgestellt...» sagt Maria und streichelt ihn, denn Margziam sitzt zwischen ihr und Syntyche auf der einen Seite des Tisches, während sich die vier Männer auf der anderen befinden.

«Nein, nein, du kannst sie bringen, ja, du sollst sie bringen, und ich werde sie an alle verteilen.»

Syntyche nimmt eine Lampe, geht hinaus und kehrt mit den Honigküchlein zurück. Margziam nimmt den Teller und beginnt mit dem Austeilen. Das schönste, goldene und meisterhaft gebackene Küchlein gibt er Jesus, das zweitschönste Maria, dann kommen Petrus, Simon und Syntyche an die Reihe.

Doch um Johannes zu bedienen, steht der Knabe auf, geht zu seinem alten und kranken Erzieher und sagt: «Für dich, das deine und das meine, und dazu noch einen Kuß für alles, was du mich lehrst.» Dann kehrt er an seinen Platz zurück, stellt den Teller entschlossen auf den Tisch und verschränkt seine Arme.

«Diese Köstlichkeit bleibt mir im Halse stecken, wenn ich dich so sehe»,

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sagt Petrus, als er merkt, daß Margziam es mit seinem Entschluß ernst meint, und er fügt an: «Nimm wenigstens ein Stückchen von meinem, damit du nicht stirbst vor Verlangen. Du leidest zu sehr... Jesus erlaubt es dir schon.»

«Aber wenn ich nicht leiden würde, hätte ich auch kein Verdienst, mein Vater. Gerade, weil ich wußte, daß es mich etwas kosten würde, habe ich dieses Opfer gewählt... Übrigens... Ich bin so zufrieden, seit ich es gebracht habe, daß ich das Gefühl habe, voller Honig zu sein. Ich spüre den Geschmack überall, und glaube ihn sogar mit der Luft einzuatmen...»

«Weil du vor Verlangen fast stirbst...»

«Nein, weil ich weiß, daß Gott zu mir sagt: "Du machst es gut, mein Sohn!"»

«Der Meister hätte dich auch ohne dieses Opfer zufriedengestellt, denn er liebt dich sehr!»

«Ja. Aber es ist nicht recht, diese Liebe auszunützen.

Er selbst sagt, daß auch ein Becher Wasser, der in seinem Namen gereicht wurde, im Himmel reichlich belohnt wird. Ich denke, daß deshalb auch ein Stück Honigkuchen, das man sich selbst versagt aus Liebe zu einem Bruder, belohnt werden wird. Habe ich unrecht, Meister?»

«Du sprichst weise. Ich hätte dir tatsächlich auch ohne dein Opfer gewähren können, um was du mich für die kleine Rachel gebeten hast, denn es war etwas Gutes, das ich tun wollte, und mein Herz war dazu bereit. Doch mit deiner Hilfe habe ich es mit noch größerer Freude getan. Die Liebe zu unseren Brüdern beschränkt sich nicht auf menschliche Mittel und Grenzen, sondern erhebt sich zu weit höheren Ebenen. Wenn sie vollkommen ist, berührt sie sogar den Thron Gottes und vereinigt sich mit seiner unendlichen Liebe und Güte. Die Gemeinschaft der Heiligen ist gerade dieses beständige Wirken, so wie Gott selbst ständig und mit allen möglichen Mitteln wirkt, um den Brüdern zu helfen, sei es in ihren materiellen, sei es in ihren geistigen Bedürfnissen, oder in beiden zugleich, wie im Falle Margziams, der die Heilung der Rachel erlangt, sie von der Krankheit befreit und gleichzeitig das niedergedrückte Gemüt der alten Johanna aufmuntert und in den Herzen dieser ganzen Familie ein immer größeres Vertrauen zum Herrn erweckt.

Auch ein Löffelchen Honig, das geopfert wird, kann dazu dienen, einem Betrübten wieder Frieden und Hoffnung zu schenken. Ein Kuchen oder eine andere Speise, die man mit einer liebevollen Absicht nicht verzehrt, können auf wunderbare Weise für einen fernen Hungernden, den wir nie kennen werden, zu Brot werden. Ein zorniges Wort, selbst wenn es gerechtfertigt ist, das man im Opfergeist zurückhält, kann ein Verbrechen in der Ferne verhindern, so wie der Verzicht auf das Pflücken einer Frucht, aus Liebe dargebracht, einem Dieb zur Einsicht verhelfen und einen Raub verhindern kann.

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Nichts geht verloren in der heiligen Harmonie der universalen Liebe, weder das heroische Opfer eines Kindes vor einem Teller mit Honigküchlein, noch das Schlachtopfer eines Märtyrers. Ich sage euch, dieses Opfer eines Märtyrers hat seinen Ursprung oft in der heroischen Selbsterziehung, die er sich von frühester Jugend an aus Liebe zu Gott und dem Nächsten auferlegt hat.»

«Dann ist es also gut für die Zeit, in der wir einmal verfolgt werden, wenn ich immer Opfer bringe», sagt Margziam überzeugt.

«Verfolgt?» fragt Petrus.

«Erinnerst du dich nicht, daß er gesagt hat: "Ihr werdet verfolgt werden um meinetwillen?" Du hast es mir gesagt, als du das erstemal im Sommer allein nach Bethsaida gekommen bist, um dort die Frohe Botschaft zu verkünden.»

«Dieses Kind erinnert sich an alles», bemerkt Petrus bewundernd.

Das Abendessen ist beendet. Jesus erhebt sich, betet für alle und segnet sie. Während die Frauen das Geschirr wegräumen, begibt sich Jesus mit den Männern in eine Ecke des Zimmers und schnitzt an einem Stück Holz, das sich unter den staunenden Augen Margziams in ein Schäflein verwandelt...

357. «JOHANNES VON ENDOR, DU WIRST NACH ANTIOCHIA GEHEN»

Es ist ein regnerischer Wintermorgen. Jesus ist bereits aufgestanden und in seiner Werkstatt mit kleinen Gegenständen beschäftigt. In einer Ecke steht ein ganz neuer, nicht sehr großer, doch gut gearbeiteter Webstuhl.

Maria kommt mit einer Tasse dampfender Milch herein. «Trinke, Jesus! Es ist schon lange her, daß du aufgestanden bist, und es ist feucht und kalt hier ...»

«Ja, aber ich habe wenigstens alles fertig bekommen... Diese acht Feiertage haben alle Arbeit lahmgelegt...» Jesus setzt sich etwas schräg auf die Hobelbank und trinkt seine Milch, während Maria den Webstuhl betrachtet und mit der Hand leicht darüberfährt.

«Segnest du ihn, Mutter?» fragt Jesus lächelnd.

«Nein. Ich liebkose ihn, weil du ihn gemacht hast. Den Segen hast du ihm schon gegeben, während du daran gearbeitet hast. Es ist gut, daß du ihn angefertigt hast. Er wird Syntyche dienen, sie ist eine erfahrene Weberin, und er wird ihr helfen, Frauen und Mädchen zu sich zu holen. Was hast du sonst noch gemacht? Ich sehe feine Späne, anscheinend aus Olivenholz, dort bei der Hobelbank?»

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«Ich habe einige nützliche Dinge für Johannes angefertigt. Siehst du? Einen Behälter für Griffel und eine kleine Schreibtafel, und diese Lesepulte, in die er seine Bücher einschließen kann. Ich hätte dies nicht machen können, wenn Simon des Jonas sich nicht um den Wagen gekümmert hätte. Doch nun können wir auch das aufladen; sie werden spüren, daß ich sie auch in diesen kleinen Dingen geliebt habe.»

«Es tut dir leid, daß du sie fortschicken mußt, nicht wahr?»

«Es ist schmerzlich für mich und für sie. Ich habe bis jetzt gewartet, um es ihnen zu sagen... und es ist gut, daß Petrus und Porphyria noch nicht angekommen sind... Nun ist es an der Zeit, daß ich spreche... Ein Schmerz, der mir schon während all dieser Tage das Herz bedrückte und mich trotz der vielen Lichter traurig stimmte... Ein Schmerz, den ich nun anderen zufügen muß... Ach Mutter! Ich hätte ihn gerne allein getragen!»

«Mein guter Sohn!» Maria streichelt seine Hand, um ihn zu trösten. Es folgt ein Schweigen... Dann beginnt Jesus wieder zu reden: «Ist Johannes aufgestanden?»

«Ja! Ich habe ihn husten gehört. Vielleicht ist er in der Küche und trinkt seine Milch. Armer Johannes...» Eine Träne rinnt über die Wange Marias.

Jesus steht auf. «Ich gehe ... Ich muß gehen, um es ihm mitzuteilen. Mit Syntyche wird es leichter sein ... Doch für ihn... Mutter, geh zu Margziam, wecke ihn auf, und betet miteinander, während ich mit dem Mann rede... Es kommt mir vor, als müßte ich in seinem Inneren wühlen. Ich könnte ihn in seiner geistigen Lebenskraft töten oder lähmen... Welch ein Schmerz, o Vater! ... Ich gehe...» und er geht niedergeschlagen hinaus.

Er legt die wenigen Schritte zurück, die von der Werkstatt zum Zimmer des Johannes führen, zu demselben Raum, in dem Jonas gestorben ist, also das Zimmer Josephs. Er begegnet Syntyche, die mit einem Reisigbündel zurückkehrt, das sie am Ofen geholt hat, und ihn ahnungslos grüßt. Er antwortet in Gedanken versunken auf den Gruß der Griechin und bleibt dann stehen, um ein Lilienbeet zu betrachten, das gerade seine Blätterbüschel zur Schau stellt. Aber es ist nicht gesagt, daß er sie sieht... Dann entschließt er sich, wendet sich um und klopft an die Türe des Johannes, der herausschaut und dessen Gesicht sofort aufleuchtet, als er sieht, daß Jesus zu ihm kommt.

«Kann ich ein wenig zu dir kommen?» fragt Jesus.

«Oh, Meister! Aber immer! Ich war gerade am Aufzeichnen, was du gestern abend über die Klugheit und den Gehorsam gesagt hast. Es ist gut, wenn du es durchsiehst, denn mir scheint, daß ich das über die Klugheit nicht gut behalten habe.»

Jesus ist in das schon aufgeräumte Zimmer eingetreten, in das man für den alten Lehrer noch einen Tisch gestellt hat.

Jesus neigt sich über das Pergament und liest. «Sehr gut! Du hast es sehr gut wiedergegeben.»

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«Schau hier. Es schien mir, als hätte ich mich in diesem Satz schlecht ausgedrückt. Du sagst immer, daß man nicht besorgt sein soll um das Morgige und um den eigenen Körper. Jetzt sagst du, daß die Vorsorge bezüglich der Dinge des morgigen Tages eine Tugend ist, und das schien mir ein Fehler zu sein. Mein Fehler natürlich.»

«Nein! Du hast dich nicht geirrt. Ich habe es wirklich gesagt. Die übertriebene und furchtsame Vorsorge des Egoisten unterscheidet sich von der klugen Vorsorge des Gerechten. Sünde ist es, geizig zu sein im Hinblick auf den nächsten Tag, den wir vielleicht nicht erleben werden. Aber es ist keine Sünde, sparsam zu sein, um sich in mageren Zeiten das Brot für sich und seine Angehörigen zu sichern. Sünde ist die egoistische Besorgnis um den eigenen Leib, wenn man verlangt, daß die ganze Umgebung sich mit uns beschäftige, und man sich jeglicher Arbeit und jeglichem Opfer entzieht aus Furcht, das Fleisch könne darunter leiden. Es ist jedoch keine Sünde, sich vor unnötigen Krankheiten zu schützen, die man sich durch Unvorsichtigkeit zuzieht und die dann eine Plage für die Familienmitglieder und ein Verlust an nutzbringender Arbeit für uns sind. Gott hat das Leben gegeben, es ist sein Geschenk. Wir müssen es daher in heiliger Weise gebrauchen, ohne Unklugheit und ohne Eigenliebe. Siehst du? Manchmal rät die Klugheit zu Taten, die dem Törichten Feigheit oder Wankelmut zu sein scheinen, während sie nichts anderes als heilige Klugheit sind, die auf aufmerksamer Betrachtung neuer Ereignisse, die eingetreten sind, beruht. Zum Beispiel: wenn ich dich jetzt ausgerechnet mitten unter Leute schicken würde, die dir schaden könnten... zu den Verwandten deiner Frau beispielsweise, oder zu den Wächtern der Bergwerke, in denen du gearbeitet hast, würde ich dann gut oder schlecht handeln?»

«Ich... ich will nicht urteilen. Aber ich würde sagen, daß es besser wäre, mich anderswohin zu senden, wo nicht Gefahr besteht, daß meine geringe Tugend auf eine zu harte Probe gestellt wird.»

«So ist es. Du würdest mit Weisheit und Klugheit urteilen. Aus diesem Grund werde ich dich nie nach Bithynien oder nach Mysien schicken, wo du schon gewesen bist, und auch nicht nach Citium, obgleich du, in deinem Geist, gerne dorthin gehen würdest. Dein Geist könnte dort von so vielen menschlichen Härten überwältigt werden und sich aufgeben. Die Klugheit lehrt daher, dich nicht dorthin zu senden, wo du unnütz wärest, wenn ich dich anderswohin schicken kann, wo du mir, den Seelen deiner Nächsten und deiner eigenen Seele nützen könntest. Nicht wahr?»

Johannes, der nichts von seinem bevorstehenden Schicksal weiß, faßt die Anspielungen Jesu nicht als eine mögliche Mission außerhalb von Palästina auf. Jesus erforscht sein Antlitz und sieht, daß es ruhig bleibt. Johannes ist selig, ihm zuhören zu können, und bereit, zu antworten: «Gewiß, Meister, ich könnte anderswo nützlicher sein. Nachdem ich vor einigen Tagen gesagt habe: "Ich würde gern zu den Heiden gehen, um

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dort ein gutes Beispiel zu geben, wo ich früher ein schlechtes gegeben habe", habe ich mich selber gescholten und gesagt: "Zu den Heiden ja, denn ich hege nicht die Vorurteile anderer Israeliten. Aber nicht nach Citium! Auch nicht in die trostlosen Berge, wo ich als Sträfling und wie ein Wolf in den Bleigruben oder Marmorbrüchen gelebt habe. Nicht einmal aus dem Verlangen nach einem absoluten Opfer heraus könnte ich dorthin gehen. Mein Herz würde zu sehr in Aufruhr geraten über die grausamen Erinnerungen, und wenn ich erkannt würde und man sich auch nicht auf mich stürzen würde, so würden sie doch sagen: 'Schweig, du Mörder. Wir können dich nicht anhören', und deshalb wäre es nutzlos, dorthin zu gehen." Das habe ich mir gedacht, und es ist eine gute Überlegung.»

«Du siehst also, daß auch du die heilige Klugheit besitzest. Auch ich besitze sie. Deshalb habe ich dich der Mühe des Apostolates, wie es die anderen leben, enthoben und dich hierher in die Ruhe und den Frieden gebracht.»

«O ja! Welch ein Friede! Und wenn ich noch hundert Jahre hier leben würde, wäre es immer gleich. Es ist ein übernatürlicher Friede, und wenn ich fortginge, würde ich ihn mitnehmen. Auch in das andere Leben werde ich ihn mitnehmen... Erinnerungen können mein Herz immer noch beunruhigen, und Beleidigungen können mich immer noch kränken, denn ich bin ein Mensch, aber ich werde nie mehr fähig sein zu hassen, denn hier hat sich der Haß für immer entwurzelt bis zu seinen äußersten Ausläufern. Ich empfinde nicht einmal mehr Abneigung gegen die Frau, die ich als das unreinste und verachtenswerteste Wesen der Erde betrachtete. Deine Mutter völlig ausgenommen! Ich habe sie vom ersten Augenblick an verehrt, denn ich habe gefühlt, daß sie ganz anders ist als alle anderen Frauen. Sie ist der Duft der Frau, der Duft der heiligen Frau! Wer liebt den Duft der reinsten Blumen nicht? Aber auch die anderen Frauen, die guten Jüngerinnen, haben mich mit der Frau ausgesöhnt. Liebenswürdig, geduldig unter ihren Lasten des Leides wie Maria des Kleophas und Elisa; großmütig, wie Maria Magdalena, und so entschlossen im Wandel ihres Lebens; sanft und rein wie Martha und Johanna; würdevoll, klug, geistreich und ganz Gerechtigkeit wie Syntyche. Syntyche, ich bekenne es dir, ist die, die ich bevorzuge. Geistesverwandschaft und Ähnlichkeit des Schicksals machen sie mir teuer. Sie Sklavin, ich Galeerensträfling. All das erlaubt mir, auf eine so vertrauliche Weise mit ihr umzugehen, wie ich sie mir bei den anderen nicht erlauben dürfte. Syntyche ist Ruhe und Frieden für mich. Ich kann es dir nicht genau erklären, was ich in ihr sehe. Ich bin alt im Vergleich zu ihr. Ich betrachte sie als eine Tochter, eine kluge, fleißige Tochter, wie ich sie mir gewünscht hätte... Aber ich, ein kranker Mann, den sie mit so viel Liebe pflegt, ich, ein elender, einsamer Mann, der immer seiner Mutter nachgeweint hat und dann in allen Frauen eine

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Mutter gesucht hat, ohne sie zu finden; schau, ich sehe in ihr die Erfüllung meines Traumes. Ich fühle auf mein müdes Haupt und meine Seele, die dem Tod entgegengeht, den Tau einer mütterlichen Liebe herabfallen. Da ich in Syntyche die Seele einer Tochter und einer Mutter fühle, sehe ich in ihr die Vollkommenheit der Frau, und ihretwegen verzeihe ich all das Böse, das mir durch die Frau zugefügt wurde. Wenn, was nicht möglich ist, die Unglückliche, die meine Frau gewesen ist und die ich getötet habe, auferstehen würde, dann würde ich ihr verzeihen, denn jetzt habe ich die Frauenseele verstanden, leichtfertig oft im Gefühlsleben, großzügig in ihrer Hingabe.. sowohl im bösen als auch im guten.»

«Ich freue mich sehr, daß du all dies in Syntyche gefunden hast. Sie wird dir eine gute Gefährtin für den Rest deines Lebens sein, und ihr werdet zusammen viel Gutes tun können. Deshalb möchte ich euch vereinigen...»

Jesus prüft Johannes aufs neue. Doch kein Zeichen plötzlicher Spannung ist bei dem Jünger zu bemerken, der immerhin kein oberflächlicher Mensch ist. Welche göttliche Barmherzigkeit verhüllt ihm wohl seine Bestimmung bis zum entscheidenden Augenblick? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Johannes lächelnd sagt: «Wir wollen versuchen, dir mit unserem Besten zu dienen.»

«Ja, und ich bin auch sicher, daß ihr es tun werdet, ohne langes Hin und Her über Arbeit und Ort, die ich für euch ausgesucht habe, auch wenn es nicht das sein sollte, was ihr gewünscht habt...»

Johannes hat eine erste Ahnung von dem, was ihn erwartet. Er wechselt Gesichtsausdruck und Farbe. Er wird ernst und bleich, und sein Auge schaut nun aufmerksam und forschend in das Antlitz Jesu, der fortfährt: «Du erinnerst dich, Johannes, daß ich dir gesagt habe, um deine Zweifel über die Verzeihung Gottes zu beseitigen: "Um dir die Barmherzigkeit Gottes verständlich zu machen, werde ich dich für besondere Werke der Barmherzigkeit einsetzen, und für dich werde ich Gleichnisse der Barmherzigkeit haben."»

«Ja. Es ist wahr! Du hast mich überzeugt, und du hast mir erlaubt, Werke der Barmherzigkeit zu vollbringen, und ich möchte sagen: die heikelsten, wie Almosen geben und die Unterweisung eines Kindes, eines Philisters und einer Griechin. Das hat mir bewiesen, daß Gott meine wahre Reue erkannt und anerkannt hat und mir deshalb unschuldige oder zu bekehrende Seelen anvertraut hat, damit ich sie für ihn heranbilde.»

Jesus umarmt Johannes und zieht ihn an seine Seite, wie er es gewöhnlich mit dem anderen Johannes tut. Er erblaßt wegen des Schmerzes, den er ihm zufügen muß, als er sagt: «Auch jetzt vertraut dir Gott eine heikle und heilige Aufgabe an. Eine Aufgabe, die Bevorzugung bedeutet. Du allein, der du großmütig bist, der du vorurteilslos und weise bist, der du dich für jeglichen Verzicht und jedes Bußwerk angeboten hast, um für den Rest von Schuld zu büßen, die du Gott gegenüber noch hattest; du

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allein kannst es tun. Jeder andere würde sich weigern, und er hätte das Recht dazu, weil ihm die erforderlichen Eigenschaften fehlen. Keiner meiner Apostel besitzt alle deine Fähigkeiten, hinzugehen und die Wege des Herrn zu bereiten... Schließlich heißt du Johannes. Du wirst also ein Vorläufer meiner Lehre sein... und deinem Meister die Wege bereiten... Du wirst sogar deinen Meister vertreten, der sich nicht so weit entfernen kann. (Johannes zuckt zusammen und sucht sich vom Arm Jesu zu befreien, um ihm ins Gesicht sehen zu können, aber es gelingt ihm nicht, denn die Umarmung Jesu ist zwar sanft, aber fest, während sein Mund ihm den letzten Schlag versetzt ... ) Er kann nicht so weit gehen... bis nach Syrien... nach Antiochia...»

«Herr!» schreit Johannes, sich gewaltsam aus der Umarmung Jesu befreiend. «Herr! Nach Antiochia? Sage mir, daß ich falsch verstanden habe! Sage es mir, aus Barmherzigkeit... !» Er steht da, und alles an ihm fleht: das eine Auge, das aschfahle Gesicht, die bebenden Lippen, die zitternden, ausgestreckten Hände und das Haupt, das sich unter der Last des Auftrages zu senken scheint.

Doch Jesus kann nicht sagen: «Du hast nicht recht verstanden.» Er öffnet seine Arme und erhebt sich, um den alten Lehrer wiederum an sein Herz zu drücken, und öffnet die Lippen, um ihm zu bestätigen: «Nach Antiochia, ja! In das Haus des Lazarus. Mit Syntyche. Ihr sollt morgen oder übermorgen abreisen.»

Die Trostlosigkeit des Johannes ist wirklich herzzerreißend. Er befreit sich halb aus der Umarmung, schaut Jesus an, die mageren Wangen mit Tränen bedeckt, und ruft aus: «Ach! Du willst mich nicht mehr bei dir haben! Worin habe ich dir mißfallen, mein Herr?» Dann macht er sich los und wirft sich über den Tisch in einem Ausbruch herzzerreißenden Schluchzens, das nur von rauhem Husten unterbrochen wird. Er ist unempfindlich für alle Liebkosungen Jesu und murmelt nur: «Du jagst mich fort, du jagst mich fort, du willst mich nicht mehr sehen ...»

Jesus leidet sichtlich und betet... Dann geht er leise hinaus und sieht an der Küchentüre Maria und Margziam, der über diesen Tränenausbruch erschrocken ist... Auch Syntyche ist dort, ebenfalls überrascht.

«Mutter, komm einen Augenblick her!»

Maria kommt eilig und bleich herbei, und sie gehen zusammen ins Zimmer. Maria beugt sich über den Weinenden, als wäre er ein armes Kind, und sagt: «Brav, brav, mein armes Kind! Nicht! Es schadet dir!»

Johannes erhebt sein verzerrtes Gesicht und jammert: «Er schickt mich weg! ... Ich soll allein in der Ferne sterben... Er hätte doch noch einige Monate warten und mich hier sterben lassen können. Warum diese Strafe? Worin habe ich gefehlt? Habe ich dir Kummer gemacht? Warum gibst du mir erst diesen Frieden, um dann... um dann...» Er legt seinen Kopf auf den Tisch, weint noch heftiger und keucht...

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Jesus legt ihm die Hand auf die mageren, zuckenden Schultern und sagt: «Kannst du nicht glauben, daß ich dich hierbehalten hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre? Oh, Johannes! Auf dem Weg des Herrn gibt es schreckliche Notwendigkeiten, und der erste, der darunter leidet, bin ich. Ich, der ich meinen eigenen Schmerz und den der ganzen Welt trage. Schau mich an, Johannes! Schau, ob mein Gesicht das eines Menschen ist, der dich haßt, der deiner müde ist... Komm hierher, in meine Arme, und fühle, wie mein Herz vor Schmerz schlägt. Verstehe mich, Johannes. Du darfst mich nicht mißverstehen, es ist die letzte Sühne, die Gott dir auferlegt, um dir die Pforten des Himmels zu öffnen. Höre...» Er hebt ihn auf und hält ihn in seinen Armen. «Höre... Mutter, geh einen Augenblick hinaus... Nun, da wir allein sind, höre mich an. Du weißt, wer ich bin. Glaubst du fest daran, daß ich der Retter bin?»

«Aber gewiß! Gerade deshalb wollte ich bei dir bleiben, immer, bis zum Tod...»

«Zum Tod... Schrecklich wird mein Tod sein... !»

«Mein Tod, sage ich. Mein Tod... !»

«Dein Tod wird friedlich sein: du wirst den Trost meiner Gegenwart, die dir die Gewißheit der Liebe Gottes einflößen wird, und der Liebe Syntyches haben, und zudem die Freude, den Sieg der Frohen Botschaft in Antiochia vorbereitet zu haben. Aber mein Tod! Du würdest mich verwundet, angespuckt, verhöhnt und einer wilden Menge ausgeliefert sehen, an ein Kreuz genagelt wie ein Verbrecher. Könntest du dies ertragen?»

Johannes, der bei der Beschreibung der Passion Jesu mehrmals tief geseufzt hat: «Nein, nein!», schreit nun ein entschiedenes «Nein», und fügt hinzu: «Ich würde die Menschheit erneut hassen... Doch ich werde dann schon tot sein, denn du bist noch jung ...»

«Ich werde nur noch ein Lichterfest erleben.»

Johannes schaut ihn entsetzt an...

«Ich habe es dir im geheimen gesagt, um dir einen der Gründe anzugeben, warum ich dich weit weg schicke. Du bist nicht der einzige, dem es so ergehen wird. Alle, die ich nicht über ihre Kräfte belastet sehen möchte, werde ich vorher wegschicken, und du nennst dies Lieblosigkeit?»

«Nein, mein Märtyrer – Gott... Doch ich, ich soll dich verlassen... und fern von dir sterben!»

«Bei der Wahrheit, die ich bin, verspreche ich dir, daß ich mich bei deinem Todeskampf über dich neigen werde.»

«Wie kannst du das, wenn ich so weit entfernt bin? Wenn du mir sagst, daß du nicht so weit gehen kannst? Du sagst mir das nur, um mich weniger traurig fortzuschicken...»

«Johanna des Chuza lag sterbend am Fuße des Libanon. Sie sah mich, obwohl ich fern von ihr weilte und sie mich noch nicht kannte, und von dort führte ich sie zurück in dieses arme Erdenleben. Glaube mir, am Tag

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meines Todes wird sie es bedauern, weitergelebt zu haben! ... Aber für dich, Freude meines Herzens in diesem zweiten Jahr des Meisters, werde ich mehr tun. Ich werde kommen, um dich in den Frieden zu führen und dich zu den Anwesenden sagen zu lassen: "Die Stunde des Herrn ist da. So wie es jetzt auf der Erde Frühling wird, so erblüht uns nun der Frühling des Paradieses." Aber ich will nicht nur dann kommen.. Ich werde immer bei dir sein, und du wirst mich immer spüren... Ich vermag es, und ich werde es tun. Du wirst den Meister in dir haben, wie du ihn nicht einmal jetzt hast. Denn die Liebe kann sich dem, der liebt, mitteilen, und zwar so fühlbar, daß sie nicht nur den Geist berührt, sondern auch die Sinne. Bist du nun beruhigt, Johannes?»

«Ja, mein Herr. Aber welch ein Schmerz!»

«Du weigerst dich also nicht ... ?»

«Mich weigern? Niemals! Ich würde dich ganz verlieren. Ich sage , "mein" Vater unser: Dein Wille geschehe!»

«Ich wußte, daß du mich verstehen würdest...» Er küßt ihn auf die von unaufhörlichem Weinen benetzten Wangen.

«Läßt du mich von dem Kind Abschied nehmen? ... Das ist ein weiterer Schmerz... Ich habe es geliebt ...» Die Tränen fließen wieder stärker...

«Ja. Ich will den Knaben sofort rufen... ich rufe auch Syntyche. Auch sie wird leiden... Du mußt ihr helfen, du bist ein Mann...»

«Ja, Herr!»

Jesus geht hinaus, während Johannes weint und die Wände und die Gegenstände in dem gastlichen Raum küßt und streichelt.

Maria und Margziam kommen herein.

«Oh, Mutter, hast du gehört ? Hast du es gewußt ?»

«Ich wußte es, und es schmerzt mich... Aber auch ich habe mich von Jesus getrennt... und bin seine Mutter...»

«Das ist wahr! ... Margziam, komm her! Weißt du, daß ich fortgehe und wir uns nie mehr sehen werden ... ?» Er möchte stark sein. Doch er nimmt das Kind in seine Arme, setzt sich auf den Rand des Bettes und weint, weint auf das braune Köpfchen Margziams, der es ihm nachmacht.

Jesus kommt mit Syntyche herein. Sie fragt: «Johannes, warum so viel Tränen?»

«Er schickt uns fort, weißt du es nicht? Du weißt es noch nicht? Er schickt uns nach Antiochia!»

«Hat er nicht gesagt, daß dort, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, auch er mitten unter ihnen ist? Auf, Johannes! Du hast dir vielleicht dein Schicksal bisher stets selbst gewählt, und deshalb fällt es dir schwer, den Willen eines anderen, selbst wenn er der Liebe entspringt, zu befolgen. Ich... ich bin daran gewöhnt, das Schicksal anzunehmen, das mir von anderen auferlegt wird, und welch ein Schicksal! ... Daher beuge ich mich gerne dieser neuen Bestimmung. Ich habe mich nicht aufgelehnt

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gegen die despotische Sklaverei, solange sie sich nicht meiner Seele bemächtigen wollte. Sollte ich mich nun auflehnen gegen das süße Sklaventum der Liebe, das nicht bedrückt, sondern unsere Seele erhebt und uns zu seinen Dienern macht? Hast du Angst, weil du krank bist? Aber ich werde dich nie verlassen, sei dessen versichert! Ich habe keinen anderen Lebenszweck als Gott und den Nächsten zu lieben. Du bist der Nächste, den Gott mir anvertraut. Denke daran, daß ich dich liebhabe.»

«Ihr müßt nicht arbeiten, um leben zu können, denn ihr werdet im Haus des Lazarus sein. Aber ich rate euch, die Lehrtätigkeit auszuüben, um dem Volk nahezukommen. Du als Lehrer, und du als Frau mit weiblichen Arbeiten, das wird dem Apostolat dienen und euren Tagen Inhalt geben.»

«So soll es geschehen, Herr», antwortet Syntyche entschlossen.

Johannes hält immer noch das Kind in den Armen und weint lautlos. Margziam liebkost ihn...

«Wirst du noch an mich denken?»

«Immer, Johannes, und ich will für dich beten... Außerdem... Warte einen Augenblick...» Margziam eilt hinaus.

Syntyche fragt: «Wie werden wir nach Antiochia kommen?»

«Auf dem Seeweg. Hast du Angst?»

«Nein, Herr! Du schickst uns ja, und somit wirst du uns beschützen.»

«Ihr werdet mit den beiden Simons, meinen Brüdern, den Söhnen des Zebedäus, Andreas und Matthäus gehen. Von hier aus nach Ptolemais mit dem Wagen, auf dem die Kisten sind und ein Webstuhl, den ich für dich angefertigt habe, Syntyche; außerdem einige Gegenstände, die Johannes nützlich sein werden...»

«Ich habe immer etwas vermutet, als ich die Kisten und die Kleider sah. Ich habe meine Seele auf die Trennung vorbereitet. Es wäre zu schön, hier zu leben... !» Ein unterdrückter Seufzer erstickt die Stimme Syntyches. Aber sie rafft sich sofort wieder auf, um Johannes Mut zu machen, und sagt mit entschlossener Stimme:

«Wann werden wir abreisen?»

«Sobald die Apostel angekommen sind. Vielleicht morgen.»

«Dann erlaube mir, daß ich gehe und die Kleider in die Kisten packe. Gib mir deine Bücher, Johannes!»

Ich vermute, daß Syntyche nach Einsamkeit verlangt, um weinen zu können... Johannes antwortet: «Nimm sie... Doch gib mir die Rolle mit dem blauen Band.»

Margziam kommt mit seinem Honigtöpfchen zurück.

«Nimm, Johannes. Du wirst ihn an meiner Stelle essen...»

«Aber nein, Kind! Warum?»

«Weil Jesus gesagt hat, daß ein aufgeopferter Löffel Honig einem Betrübten Frieden und Hoffnung schenken kann. Du bist traurig... Ich gebe dir den ganzen Topf, damit du getröstet bist.»

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«Aber das ist ein zu großes Opfer, Kind.»

«O nein! Im Gebet Jesu heißt es: "Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel." Dieses Töpfchen war eine Versuchung für mich... und könnte ein Übel werden, denn es hätte mich veranlassen können, mein Gelübde zu brechen. So werde ich es nicht mehr sehen... und es wird leichter für mich sein... Ich bin sicher, daß Gott dir wegen diesem neuen Öpferchen helfen wird. Weine nicht mehr! Auch du nicht, Syntyche!»

Tatsächlich weint nun auch die Griechin, lautlos, während sie die Bücher von Johannes zusammensucht. Margziam liebkost sie und möchte am liebsten mitweinen.

Doch Syntyche geht mit Buchrollen beladen hinaus, und Maria folgt ihr mit dem Honigtöpfchen.

Johannes bleibt mit Jesus zurück, der sich an seine Seite setzt und das Kind in den Armen hält. Er ist ruhig, aber niedergeschlagen.

«Füge auch deine letzte Schrift zu der Rolle hinzu», rät Jesus. «Ich denke, du willst sie Margziam geben...»

«Ja! Ich behalte eine Abschrift für mich... Hier, Knabe! Dies sind die Worte des Meisters, die er gesagt hat, als du nicht anwesend warst, und auch andere... Ich wollte fortfahren, sie für dich abzuschreiben, denn du hast das Leben noch vor dir... und wer weiß, wieviel du predigen wirst... Aber ich kann es nicht mehr tun... Nun bin ich es, der ohne seine Worte leben muß.»

Er weint wieder stärker.

Margziam ist sanft und männlich in seiner neuen Haltung: Er hängt sich an den Hals des Johannes und sagt: «Nun werde ich für dich schreiben und es dir schicken... Nicht wahr, Meister? Das darf ich, nicht wahr?»

«Gewiß darfst du das, und es wird eine große Tat der Nächstenliebe sein.»

«Ich tue es, und wenn ich es nicht tue, dann wird es Simon der Zelote tun. Er liebt mich und dich, und er wird es tun, um uns beiden Liebe zu erweisen. Weine also nicht mehr. Dann werde ich kommen, um dich zu besuchen... Du wirst schon nicht so weit fortgehen...»

«Hunderte von Meilen! ... Und bald werde ich sterben.»

Das Kind ist enttäuscht und untröstlich. Aber es findet bald wieder in die schöne Heiterkeit des Kindes zurück, dem alles leicht erscheint.

«So wie du dorthin gehst, so werde auch ich mit meinem Vater dorthin gehen können. Wir werden uns schreiben. Wenn man die heiligen Seiten liest, ist es, wie wenn man bei Gott wäre, nicht wahr? Wenn man einen Brief liest, dann fühlt man sich dem nahe, der ihn geschrieben hat. Auf, komm mit hinüber...»

«Ja, wir wollen hinübergehen, Johannes. Bald werden meine Brüder mit dem Zeloten kommen. Ich habe sie rufen lassen.»

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«Wissen sie es?»

«Noch nicht. Ich will noch warten und es erst sagen, wenn alle zugegen sind...»

«Gut, Herr. Wir wollen gehen ...»

Es ist ein gebeugter Greis, der das Zimmer Josephs verläßt. Ein Greis, der jeden Halm zu grüßen scheint, jeden Stamm, den Brunnen und die Grotte, während er sich zu der Werkstatt begibt, in der Maria und Syntyche schweigend die Gegenstände und die Kleider in die Kisten packen...

So schweigsam und traurig finden Simon, Judas und Jakobus sie vor. Sie blicken um sich... stellen jedoch keine Fragen, und es gelingt mir nicht, festzustellen, ob sie die Wahrheit ahnen.

Jesus sagt:

«Um den Lesern den Ort näher zu bezeichnen, an dem Johannes seine letzte Buße getan hat, habe ich die heute gebräuchlichen Namen genannt. Dies sind die antiken Namen, für jene, die sie kennen möchten: "Bithynien und Mysien." Doch dies ist das Evangelium für die Einfachen und Ungelehrten. Nicht für die Gelehrten, für deren Mehrheit es meist unannehmbar und nutzlos ist, und die Einfachen und Ungelehrten verstehen besser "Anatolien" als "Bithynien und Mysien". Nicht wahr, kleiner Johannes, du weinst über den Schmerz von Johannes von Endor? Aber es gibt viele Johannes von Endor auf dieser Welt! Es sind die unglücklichen Brüder, für die ich dich letztes Jahr habe leiden lassen. Nun ruhe dich aus, kleiner Johannes! Du wirst nicht mehr vom Meister weggeschickt werden, sondern in seiner Nähe bleiben.

Damit nimmt das zweite Jahr des öffentlichen Lebens sein Ende: das Jahr der Barmherzigkeit... und ich kann nur die Klage wiederholen, die ich an das Ende des ersten Jahres setzte : Aber sie berührt mein Sprachrohr nicht, das allen Hindernissen zum Trotz weiterwirken wird. Es sind wahrlich nicht die "Großen", sondern die "Kleinen", die den heroischen Weg einschlagen, ihn durch ihr Opfer ebnen, auch für jene, die mit zu vielen Dingen belastet sind. Die Kleinen, das heißt die Einfachen, die Sanften, die reinen Herzens und einfachen Sinnes sind. Die "Kinder" ' Ich sage euch, o Kinder, ich sage euch, o Romuald (P. Romuald H. Migliorini, aus dem Orden der Serviten, der einige Jahre der geistliche Führer der Schreiberin gewesen ist, an den sie sich oft in diesem Werk wandte und der 1952 starb), und Maria und all denen, die euch ähnlich sind: "Kommt zu mir, um immer wieder das Wort zu hören, das zu euch spricht, weil es euch liebt; das zu euch spricht, um euch zu segnen. Mein Friede sei mit euch!"»

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358. IN NAZARETH; VERSÖHNUNG; VORBEREITUNGEN FÜR DIE ABREISE

Johannes, Jakobus, Matthäus und Andreas sind schon in Nazareth angekommen und gehen in Erwartung des Petrus im Hausgarten spazieren, indem sie mit Margziam scherzen oder miteinander reden. Ich sehe sonst niemanden, wie wenn Jesus außer Haus und Maria mit Hausarbeiten beschäftigt wären. Dem Rauch nach, der aus dem Backofen aufsteigt, ist zu schließen, daß sie Brot bäckt.

Die vier Apostel sind glücklich, im Haus des Meisters zu sein, und verleihen ihrer Freude auch Ausdruck. Margziam sagt mindestens dreimal zu ihnen: «Lacht nicht so!» Erst beim dritten Mal hört Matthäus diese Mahnung und fragt: «Warum, Knabe? Ist es nicht recht, daß wir glücklich sind, hier sein zu können? Du hast diesen Ort schon genossen, nicht wahr? Jetzt genießen wir ihn», und er gibt ihm einen gutmütigen Klaps. Margziam schaut ihn sehr ernst an, versteht aber zu schweigen.

Jesus kommt mit den Vettern Judas und Jakobus zurück, welche ihre Gefährten, von denen sie viele Tage getrennt waren, überschwenglich begrüßen.

Maria des Alphäus streckt ihren roten, mit Mehl bestäubten Kopf aus der Backstube und lächelt ihren großen Söhnen zu.

Als letzter kehrt der Zelote zurück und sagt: «Ich habe alles erledigt, Meister, und Simon wird bald hier sein.»

«Welcher Simon? Mein Bruder oder Simon des Jonas?»

«Dein Bruder, Jakobus, er kommt mit der ganzen Familie, um sich von dir zu verabschieden.»

Tatsächlich klopft es wenige Minuten später an der Türe, und ein lebhaftes Geplauder kündet die Ankunft der Familie Simons des Alphäus an, der als erster hereinkommt und einen etwa achtjährigen Knaben an der Hand führt. Hinter ihm folgt Salome, von ihrer Kinderschar umringt.

Maria des Alphäus kommt eilig aus der Backstube und küßt ihre Enkel, glücklich darüber, sie hier zu sehen.

«Du gehst also wieder fort?» fragt Simon, während seine Kinder Freundschaft mit Margziam schließen, der, wie mir scheint, nur den geheilten Alphäus gut kennt.

«Ja, es ist Zeit», antwortet Jesus dem Verwandten.

«Du wirst noch Regentage erleben.»

«Das macht nichts. Mit jedem Tag kommen wir dem Frühling näher.»

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«Gehst du nach Kapharnaum?»

«Gewiß werde ich auch dorthin gehen, aber nicht sofort. Jetzt werde ich durch Galiläa reisen, und dann weiter.»

«Ich werde dich besuchen, wenn ich dich in Kapharnaum weiß, und deine und meine Mutter zu dir begleiten.»

«Ich werde dir dafür dankbar sein. Vernachlässige sie jetzt nicht, denn sie bleibt ganz allein zurück. Bringe ihr die Kinder, hier werden sie gewiß nicht verdorben.»

Simon wird glutrot bei dieser Anspielung Jesu auf seine früheren Gedanken und wegen eines vielsagenden Blickes der Gattin, der zu verstehen geben will: «Hörst du? Das geschieht dir ganz recht.»

Doch Simon wechselt das Thema und fragt: «Wo ist deine Mutter?»

«Sie ist beim Brotbacken. Doch sie wird gleich kommen...»

Die Kinder des Simon wollen jedoch nicht mehr länger warten und suchen die Großmutter in der Backstube auf. Ein Mädchen, nur ein wenig größer als der geheilte Alphäus, kommt gleich wieder heraus und sagt: «Maria weint. Warum? Jesus, warum weint deine Mutter?»

«Weint sie? Die Gute! Ich gehe zu ihr», sagt Salome besorgt.

Jesus erklärt: «Sie weint, weil ich fortgehe... aber du wirst kommen und ihr Gesellschaft leisten, nicht wahr? Sie wird dich sticken lehren und du wirst sie aufmuntern. Versprichst du es mir?»

«Auch ich werde kommen, da es der Vater mir nun erlaubt», sagt Alphäus, der einen heißen Brotfladen ißt, den man ihm gegeben hat.

Obgleich er so heiß ist, daß man ihn kaum in den Fingern halten kann, glaube ich, daß er geradezu kalt ist im Vergleich zu der Schamhitze, die Simon des Alphäus bei den Worten des Söhnleins überkommt. Obwohl es ein kühler Wintermorgen ist infolge eines Nordwinds, der die Wolken am Himmel jagt und auf der Haut beißt, fängt Simon an zu schwitzen, als wäre es Hochsommer...

Doch Jesus tut, als ob er es nicht bemerke, und die Apostel täuschen großes Interesse vor für das, was die Kinder des Simon erzählen, und so endet der Zwischenfall. Simon kann sich wieder davon erholen und Jesus fragen, warum nicht alle Apostel anwesend sind.

«Simon des Jonas wird eintreffen, und die anderen werden mich zur rechten Zeit einholen, das ist schon abgemacht.»

«Alle?»

«Alle!»

«Auch Judas von Kerioth?»

«Auch er...»

«Jesus, komm einen Augenblick mit mir», bittet Vetter Simon, und am hinteren Ende des Gartens angelangt, fragt er: «Aber weißt du eigentlich, wer Judas des Simon ist?»

«Er ist ein Mann Israels, nicht mehr und nicht weniger.»

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«Oh, du willst mir doch nicht sagen, daß er ...» ereifert sich Simon und spricht lauter.

Jesus unterbricht ihn besänftigend und legt ihm seine Hand auf die Schulter: «Er ist das, wozu ihn die vorherrschenden Meinungen jener gemacht haben, die zu ihm gehen. Wenn er, zum Beispiel, hier (und er betont diese Worte) lauter gerechte und einsichtige Menschen angetroffen hätte, dann hätte er keinen Gefallen an der Sünde gefunden, aber er hat sie nicht angetroffen. Im Gegenteil, er hat nur menschliche Grundsätze angetroffen, die er ganz langsam seinem sehr menschlichen Ich anpaßte, das träumend in mir den König sieht und für mich, den König Israels, arbeitet, so wie du träumst und für mich arbeiten möchtest, und mit dir Joseph, dein Bruder, und mit euch beiden Levi, der Synagogenvorsteher von Nazareth, Mattathias, Simon, Matthias, Benjamin und Jakobus und, mit Ausnahme von drei oder vier Leuten, alle Nazarener. Nicht nur aus Nazareth... Er hat Mühe, sich zu formen, weil ihr alle dazu beitragt, ihn immer mehr zu verbilden. Er ist der schwächste meiner Apostel, doch gegenwärtig nicht mehr als ein schwacher Mensch. Er hat gute Regungen, redlichen Willen, und er liebt mich, mit einer etwas abwegigen Liebe, doch immerhin Liebe. Ihr helft ihm nicht, diese guten Eigenschaften zu trennen von den weniger guten, die sein Ich ausmachen, ihr laßt ihn vielmehr schlechter werden durch euren Unglauben und eure menschliche Beschränktheit. Laß uns ins Haus gehen, die anderen sind uns schon vorausgegangen...»

Simon folgt ihm etwas beschämt. Sie sind schon beinahe an der Schwelle, als er Jesus zurückhält und fragt: «Mein Bruder, bist du zornig auf mich?»

«Nein! Aber ich bemühe mich, auch dich zu erziehen, wie ich alle anderen Jünger erziehe. Hast du nicht gesagt, daß auch du ein solcher sein willst?»

«Ja, Jesus! Doch andere Male hast du nicht so gesprochen, nicht einmal, als du uns getadelt hast. Du warst viel sanfter...»

«Was hat es genützt? Einst war ich sanft. Seit zwei Jahren bin ich es... Durch meine Geduld und Liebe seid ihr träge geworden und habt eure Zähne und Krallen geschliffen. Die Liebe hat euch dazu gedient, mir zu schaden. Ist es nicht so ... ?»

«So ist es wahrhaftig! Wirst du also von nun an nicht mehr gut zu uns sein?»

«Ich werde gerecht sein. Auch so werde ich immer noch besser sein, als ihr es verdient, ihr von Israel, die ihr in mir nicht den verheißenen Messias erkennen wollt!»

Sie betreten den kleinen Raum, der so voll Menschen war, daß viele in die Küche oder in die Werkstatt Josephs gehen mußten. Hier sind nun die Apostel, mit Ausnahme der beiden Söhne des Alphäus, die bei der

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Mutter und ihrer Schwägerin geblieben sind, zu denen sich jetzt Maria gesellt, die, den kleinen Alphäus an der Hand führend, hereinkommt. Auf dem Antlitz Marias sind noch deutlich Spuren vergossener Tränen zu sehen.

Doch während sie Simon antworten will, der ihr versichert, daß er sie jeden Tag besuchen wird, kommt durch die enge Gasse ein Wagen daher, der mit seinen Schellen einen so großen Lärm macht, daß er die Aufmerksamkeit der Söhne des Alphäus erregt, und im selben Augenblick, in dem draußen angeklopft wird, öffnet man von innen die Tür. Es erscheint das fröhliche Gesicht des Simon Petrus, der noch auf dem Wagen sitzt und mit dem Peitschengriff angeklopft hat... An seiner Seite, schüchtern, doch lächelnd, sitzt Porphyria auf Kisten und Kasten wie auf einem Thron.

Margziam eilt hinaus und klettert auf den Wagen, um seine Adoptivmutter zu grüßen. Nun gehen auch Jesus und die anderen hinaus.

«Meister, hier bin ich. Ich habe auch bei dieser Gelegenheit meine Gattin mitgebracht, denn als Frau kann sie den weiten Weg nicht zu Fuß gehen. Maria, der Herr sei mit dir. Auch mit dir, Maria des Alphäus.» Er betrachtet alle, während er von seinem Gefährt steigt und seiner Frau beim Absteigen hilft, und grüßt alle miteinander.

Sie möchten ihm beim Abladen helfen. Doch er widersetzt sich energisch. «Nachher, nachher», sagt er, und begibt sich ohne Zögern zur breiten Türe der Werkstatt Josephs, reißt sie weit auf und versucht, den Wagen, so wie er ist, hineinzuschieben. Das gelingt natürlich nicht, aber dieses Manöver dient dazu, die Gäste abzulenken und ihnen begreiflich zu machen, daß es zu viele sind... Tatsächlich verabschiedet sich Simon des Alphäus mit seiner ganzen Familie...

«Nun, da wir allein sind, denken wir an uns ...» sagt Simon des Jonas und läßt das Eselchen, das mit seinen Glöckchen Lärm für zehn macht, umkehren. Jakobus des Zebedäus kann sich nicht enthalten, lachend zu fragen: «Aber wo hast du denn diesen aufgetakelten Esel gefunden?»

Doch Petrus ist damit beschäftigt, die Kisten vom Wagen zu nehmen und sie Johannes und Andreas zu übergeben. Die beiden sind sehr erstaunt, daß sie so leicht sind, und sie sagen es auch...

«Geht in den Garten und benehmt euch nicht wie aufgeschreckte Spatzen», befiehlt Petrus und steigt ab mit einer wirklich schweren Kiste, die er in eine Ecke des Raumes stellt.

«Was machen wir nun mit dem Esel und dem Wagen? Ja, der Esel und der Wagen! ... Das ist schwierig! ... und doch muß alles im Haus sein...»

«Vom Garten her, Simon», sagt Maria leise, «in der Hecke im Hintergrund ist ein Gittertor, es ist kaum sichtbar, denn es ist von Zweigen verdeckt... aber es ist dort. Folge dem Pfad auf der Seite des Hauses, zwischen diesem und dem angrenzenden Garten, und ich werde kommen und

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dir das Tor zeigen... Wer kommt mit und entfernt das Gestrüpp, das dort wuchert?»

«Ich, ich!» Alle eilen ans Ende des Gartens, während sich Petrus mit seinem lärmenden Gefährt entfernt und Maria des Alphäus die Türe schließt... Mit einer Sichel machen sie nun das derbe Tor frei und bahnen einen Durchgang für Esel und Wagen.

«Oh, gut so! Nun nehmen wir alle diese Dinger ab, ich bin dadurch schon ganz taub geworden», und Petrus beeilt sich, die Riemen durchzuschneiden, mit denen die Schellen am Zaumzeug befestigt sind.

«Aber warum hast du sie denn angebracht?» fragt Andreas.

«Damit ganz Nazareth mich kommen hört. Das ist nun gelungen... und jetzt nehme ich alle weg, damit Nazareth unsere Abreise nicht hört. Ebenso habe ich leere Kisten mitgebracht... Wir werden mit vollen Kisten abreisen, und niemand – falls uns jemand sehen sollte – wird darüber erstaunt sein, eine Frau an meiner Seite auf einer Kiste sitzen zu sehen. Der, der jetzt nicht hier ist, rühmt sich, guten Verstand und praktischen Sinn zu haben, aber wenn ich will, habe ich es auch...»

«Aber entschuldige, Bruder, wozu ist dies alles notwendig?» fragt Andreas, der dem Esel vor dem einfachen Holzschuppen beim Backofen zu trinken gegeben hat.

«Wozu? Weißt du es nicht? ... Meister, wissen sie denn noch nichts?»

«Nein, Petrus, ich habe auf dich gewartet, um zu reden. Kommt alle in die Werkstatt. Die Frauen sollen hierbleiben. Du hast es gut gemacht, Simon des Jonas.»

Sie gehen zur Werkstatt, während Porphyria mit dem Kind und den beiden Marien im Haus bleibt.

«Ich wollte euch hier haben, damit ihr mir behilflich seid, Johannes und Syntyche weit fortzuschicken. Seit dem Laubhüttenfest habe ich es beschlossen. Ihr werdet selbst bemerkt haben, daß es unmöglich ist, sie bei uns zu behalten – auch hier – ohne ihren Frieden aufs Spiel zu setzen. Wie immer hilft mir Lazarus von Bethanien auch bei diesem Werk, und er ist schon benachrichtigt. Simon Petrus weiß es seit einigen Tagen, und ihr wißt es nun auch. Noch heute nacht werden wir Nazareth verlassen, selbst wenn es Regen und Wind anstelle des Neumondes geben sollte. Wir hätten eigentlich schon abreisen sollen. Doch ich vermute, daß Simon des Jonas Schwierigkeiten gehabt hat, ein Transportmittel zu finden...»

«Ja, und wie! Ich war schon ganz verzweifelt, aber schließlich habe ich dann von einem widerlichen Griechen in Tiberias eines bekommen... und es wird gut gehen... !»

«Ja, besonders für Johannes von Endor.»

«Wo ist er denn, daß man ihn nicht sieht?» fragt Petrus.

«In seinem Zimmer mit Syntyche.»

«Wie hat er die Nachricht aufgenommen?» fragt Petrus wieder.

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«Sie hat ihm großes Leid verursacht. Auch der Frau ...»

«Auch dir, Meister. Deine Stirne ist gezeichnet von einer Falte, die vorher nicht da war, und auch deine Augen sind ernst und traurig», bemerkt Johannes.

«Es ist wahr. Ich leide sehr darunter... Doch laßt uns von dem reden, was wir zu tun haben. Hört mir gut zu, denn nachher werden wir uns trennen müssen. Wir werden heute abend aufbrechen, in der Mitte der ersten Nachtwache. Wir werden fortgehen wie Menschen, die flüchten müssen... weil sie schuldig sind. Wir jedoch gehen nicht fort, um Böses zu tun, und flüchten nicht, weil wir es getan haben. Wir gehen vielmehr fort, um zu verhindern, daß andere es jemandem zufügen, der nicht die Kraft hätte, dies zu ertragen. Wir werden also aufbrechen... und uns auf den Weg nach Sephoris begeben... Auf halber Strecke werden wir in einem Haus rasten, um beim Morgengrauen weiterzufahren. Es ist ein Haus mit vielen Bogengängen für die Tiere. Die Hirten dort sind Freunde Isaaks, ich kenne sie und sie werden uns beherbergen, ohne etwas dafür zu verlangen. Dann müssen wir jedoch unbedingt bis zum Abend Jiphtael erreichen und dort haltmachen. Meinst du, daß das Tier es schaffen wird?»

«Gewiß! Der schmierige Grieche hat mich dafür genug bezahlen lassen, aber er hat mir ein gutes und starkes Tier gegeben.»

«Das ist gut! Am folgenden Morgen werden wir uns nach Ptolemais begeben und uns dort trennen. Ihr, unter der Leitung des Petrus, der euer Vorgesetzter ist und dem ihr blindlings gehorchen müßt, werdet auf dem Seeweg Tyrus erreichen. Dort werdet ihr ein Schiff vorfinden, das zur Abreise nach Antiochia bereit ist. Ihr werdet an Bord gehen und dem Kapitän diesen Brief von Lazarus des Theophilus zu lesen geben. Sie werden euch für seine Diener halten, die in seine Ländereien nach Antiochia oder besser gesagt zu seinen Gärten in Antigonea gesandt werden. Dies werdet ihr für alle sein. Seid wachsam, ernst, vorsichtig und verschwiegen. In Antiochia angelangt, begebt euch sofort zu Philippus, dem Verwalter des Lazarus, dem ihr diesen Brief aushändigen werdet...»

«Meister, er kennt mich», sagt der Zelote.

«Sehr gut!»

«Aber wird er glauben, daß ich ein Diener bin?»

«Bei Philippus ist es nicht nötig. Er weiß, daß er zwei Freunde des Lazarus aufnehmen und beherbergen muß und ihnen in allem behilflich sein soll. So steht es geschrieben. Ihr habt sie begleitet. Weiter nichts. Er nennt euch "seine teuren Freunde aus Palästina", und das seid ihr, verbunden durch den Glauben und das Werk, das ihr vollbringt. Ihr werdet euch ausruhen, bis das Schiff nach Tyrus zurückkehrt, nachdem es entladen und wieder beladen worden ist. Von Tyrus kommt ihr dann mit der Barke nach Ptolemais und von dort werdet ihr mich in Achsib erreichen...»

«Warum kommst du nicht mit uns, Herr?» seufzt Johannes.

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«Weil ich hier bleibe, um für euch und besonders für jene Armen zu beten. Ich bleibe, um zu beten. So beginnt mein drittes Jahr des öffentlichen Lebens.

Es nimmt seinen Anfang mit einer traurigen Abreise, wie das erste und das zweite. Es beginnt mit viel Gebet und Buße, wie das erste... Denn dieses Jahr wird die schmerzlichen Schwierigkeiten des ersten mit sich bringen, und noch mehr. Damals bereitete ich mich vor, die Welt zu bekehren, nun bereite ich mich auf ein weit größeres und gewaltigeres Werk vor. Hört mir gut zu und wisset, daß, wenn ich im ersten Jahr der menschliche Lehrer war, der Weise, der zur Weisheit aufruft mit vollkommener Menschlichkeit und geistiger Vollkommenheit, im zweiten der Helfer und Freund, der Barmherzige, der hinging und mit seinem Verzeihen, seinem Verständnis, seinem Trost und seiner Geduld alle an sich zog, werde ich im dritten der Gotterlöser und König, der Gerechte sein. Wundert euch daher nicht, wenn ihr in mir neue Formen erblicken werdet, wenn ihr im Lamm den Starken aufleuchten seht. Womit hat Israel auf meine Einladung der Liebe, auf meine geöffneten Arme und auf meine Worte: "Komm, ich liebe und verzeihe", geantwortet? Mit immer größerer Verstocktheit und Herzenshärte, mit Lüge, mit Arglist. So ist es.

Ich habe alle seine Schichten aufgerufen und meine Stirne bis in den Staub geneigt. Auf die Heiligkeit, die sich verdemütigte, hat es gespien.

Ich habe es eingeladen, sich zu heiligen. Es hat mir geantwortet, indem es sich dem Dämon überließ.

Ich habe meine Pflicht getan, in allem. Meine Pflichterfüllung hat es als "Sünde" bezeichnet.

Ich habe geschwiegen. Mein Schweigen hat es als einen Beweis für Schuldhaftigkeit betrachtet.

Ich habe gesprochen. Mein Wort hat es "Gotteslästerung" genannt.

Nun ist es genug!

Es hat mir keine Atempause gegönnt. Es hat mir keine Freude zugestanden, und meine Freude war es, die der Gnade neu Geborenen im Leben des Geistes zu erziehen. Aber man hat ihnen nachgestellt, und ich muß sie mir vom Herzen reißen, sie und mich den Schmerz fühlen lassen, den Eltern und Kinder empfinden, wenn sie voneinander getrennt werden, und all das, um sie vor dem böswilligen Israel zu retten.

Die Mächtigen Israels, die sich "Heiligmacher" nennen und sich dessen rühmen, hindern mich oder möchten mich daran hindern, meine Erlösten zu retten und mich ihrer zu erfreuen.

Seit vielen Monaten befindet sich unter meinen Freunden und in meinem Dienst ein Zöllner namens Levi, und die Welt kann sehen, ob Matthäus Anlaß zum Ärgernis oder zum Nacheifern gibt. Doch die Anklage bleibt bestehen, auch für Maria des Lazarus, und für viele, viele andere, die ich noch retten werde.

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Nun genug!

Ich wandle auf meinem immer bitterer werdenden und mit immer mehr Tränen benetzten Wege weiter... Ich gehe... Nicht eine meiner Tränen wird umsonst vergossen werden. Sie schreien auf zu meinem Vater... und später wird ein weit mächtigerer Strom aufschreien. Ich gehe! Wer mich liebt, folge mir nach und werde stark, denn die schwere Stunde wird kommen. Ich halte nicht ein, nichts kann mich aufhalten.

Auch sie werden nicht einhalten... Doch wehe ihnen! Wehe ihnen! Wehe denen, für die sich die Liebe in Gerechtigkeit wandelt! ... Das Zeichen der neuen Zeit wird von strenger Gerechtigkeit für all jene sein, die in ihrer Sünde gegen die Worte des Herrn und die Werke des Wortes des Herrn verharren.»

Jesus gleicht einem strafenden Erzengel. Ich würde sagen, daß er vor der verrauchten Wand aufflammt, so sehr funkeln seine Augen... auch seine Stimme schallt und tönt, als schlüge man heftig Bronze und Silber.

Die acht Apostel sind vor Angst erbleicht und ganz klein geworden. Jesus schaut sie an... voller Erbarmen und Liebe, und spricht: «Ich sage es nicht zu euch, meine Freunde, denn diese Drohungen gelten nicht euch. Ihr seid meine Apostel und ich habe euch erwählt.» Seine Stimme ist sanft und tief geworden, und er schließt mit den Worten: «Laßt uns gehen, die beiden Verfolgten sollen fühlen, daß wir sie mehr als uns selbst lieben. Ich mache euch darauf aufmerksam, daß sie glauben, abzureisen, um mir den Weg in Antiochia zu bereiten. Kommt.»

359. DIE ABREISE VON NAZARETH

Es ist Abend. Wieder ein Abend des Abschieds für das kleine Haus in Nazareth und seine Bewohner. Ein weiteres Nachtmahl, bei dem der Schmerz dem Mund die Lust an der Nahrung nimmt und die Personen schweigsam macht.

Am Tisch sitzen Jesus, Johannes, Syntyche, Petrus, Johannes, Simon und Matthäus. Die anderen haben sich nicht zu ihnen setzen können, denn der Tisch in Nazareth ist sehr klein! Er genügt gerade für eine kleine Familie von Gerechten, die höchstens den Pilger und den Betrübten zu sich einladen können, um ihnen eher mit Liebe als mit Speisen Erquickung zu bieten! An diesem Abend hätte vielleicht noch Margziam Platz gefunden, denn er ist ein Kind und sehr mager.

Doch Margziam sitzt ernst und schweigsam in einer Ecke auf einem Schemel zu Füßen Porphyrias, die die Jungfrau auf dem Sitz des Webstuhls hat Platz nehmen lassen und die sanft und schweigsam ißt, was man ihr vorgesetzt hat. Sie betrachtet mitleidig die beiden, welche im

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Begriff sind abzureisen und geneigten Hauptes ihre Bissen zum Mund führen, um ihre von Tränen brennenden Augen zu verbergen.

Die anderen, die beiden Söhne des Alphäus, Andreas und Jakobus des Zebedäus, haben sich in der Küche neben einer Art von Truhe niedergelassen. Doch sieht man sie durch die offene Türe.

Die allerseligste Mutter Jesu und Maria des Alphäus kommen und gehen, beide mütterlich besorgt und traurig. Während Maria, die Hochheilige, alle, denen sie sich nähert, mit ihrem Lächeln liebkost, das heute abend besonders schmerzlich ist, verbindet Maria des Alphäus, weniger zurückhaltend und schlichter, mit dem Lächeln Tat und Wort, und mehrmals ermuntert sie mit einer Liebkosung oder einem Kuß, je nachdem, um wen es sich handelt, die Gäste, sich in Anbetracht der bevorstehenden Reise gut zu bedienen. Ich glaube, daß sie sich am liebsten aus barmherziger Liebe für den in diesen Tagen des Wartens noch magerer gewordenen Johannes selbst opfern würde, so sehr bemüht sie sich, ihn zu überreden, von diesem oder jenem zu nehmen, indem sie den Wohlgeschmack der Speisen und die heilsamen Eigenschaften hervorhebt. Trotz ihrer Überredungskünste bleiben die Speisen auf dem Teller des Johannes fast unberührt, und Maria des Alphäus ist darüber traurig wie eine Mutter, die sieht, daß ihr Säugling die Brust ablehnt.

«Sohn, aber so kannst du nicht abreisen!» ruft sie aus. In ihrer mütterlichen Liebe denkt sie nicht daran, daß Johannes von Endor ungefähr so alt ist wie sie und daher die Bezeichnung "Sohn" nicht angebracht ist.

Sie sieht in ihm nur ein Geschöpf, das leidet, und findet, um ihn zu trösten, nur diesen Namen...

«Reisen mit leerem Magen auf einem wackligen Karren und nachts bei feuchter Kälte wird dir nicht guttun. Wer weiß, was ihr auf dem mühseligen und weiten Weg zu essen bekommt! Ewige Barmherzigkeit! Dann viele, viele Meilen auf dem Meer. Ich würde sterben vor Angst! Die phönizische Küste ist lang, aber schlimmer noch: der Besitzer des Schiffes wird Philister oder Phönizier oder aus einem anderen, verteufelten Volke sein, das kein Erbarmen kennt. Iß nun, solange du noch bei einer Mutter weilst, die dich liebt! ... Iß wenigstens ein Stück von diesem ausgezeichneten Fisch, auch um Simon des Jonas zufriedenzustellen, der ihn in Bethsaida mit großer Liebe zubereitet hat; er hat mir heute das Rezept gegeben, damit ich ihn für dich und Jesus kochen kann, weil ihr besonderer Stärkung bedürft. Schmeckt er dir nicht? ... Dann will ich ihn essen... !»Sie läuft hinaus in die Küche und kommt mit einer vollen, dampfenden Schüssel zurück; ich weiß nicht, was es ist... Gewiß ist es eine Art Mehlspeise oder in Milch fast verkochte Körner. «Schau, das habe ich zubereitet, weil mir eingefallen ist, daß du von diesem Gericht gesagt hast, es sei eine süße Erinnerung an deine Kindheit.... Es ist wohlschmeckend und gesund! Nimm ein wenig davon!»

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Johannes läßt sich einige Löffelchen des Breies auf den Teller geben und versucht, ihn zu schlucken, doch Tränen rinnen über sein Gesicht und vermischen ihr Salz mit der Speise, während er sein Haupt tiefer und tiefer über den Teller neigt.

Die anderen sind begeistert von diesem Gericht, das vielleicht eine Spezialität der Hebräer ist. Ihre Gesichter erhellen sich bei seinem Anblick; Margziam aber steht auf und fühlt das Bedürfnis, die allerseligste Jungfrau Maria zu fragen: «Darf ich davon essen? Mein Gelübde gilt noch für fünf Tage!» Maria liebkost ihn und erwidert: «Gewiß, mein Sohn, du darfst es!»

Das Kind zaudert, und um die Skrupel des kleinen Jüngers zu besänftigen, wendet Maria sich an ihren Sohn: «Jesus, Margziam fragt, ob er von dem Getreidebrei essen darf... wegen des Honigs, der das Gericht versüßt ...»

«Gewiß, Margziam, heute abend entbinde ich dich deines Opfers, unter der Bedingung, daß Johannes ebenfalls die süße Gerste ißt. Schau, Johannes, wie sehr das Kind es wünscht! Verhilf ihm dazu, von der Speise essen zu können!» Jesus sitzt neben Johannes, nimmt seine Hand und hält sie fest, während Johannes sich zwingt, im Gehorsam seinen Brei aufzuessen.

Maria des Alphäus ist nun zufriedener. Sie geht sofort mit einer dampfenden Platte gebackener Birnen wieder zum Angriff über. Sie kommt vom Garten her und sagt: «Soeben fängt es an zu regnen. Wie schade!»

«Aber nein! Um so besser! So wird niemand unterwegs sein. Bei einer Abreise bereiten Abschiedsszenen immer nur Schmerzen ... Es ist besser, mit dem Wind in den Segeln davonzufahren, ohne auf Hindernisse und Klippen zu stoßen, die Aufenthalte und langsame Fahrt bedingen. Neugierige sind wirklich nur Hindernisse und Klippen ...» sagt Petrus, der alles mit Segeln und Bootsfahren vergleicht.

«Danke, Maria, ich esse nichts mehr», sagt Johannes und versucht, das Obst zurückzuweisen.

«Oh, das ist nicht möglich! Maria hat sie doch gebacken. Willst du die von ihr zubereitete Speise ablehnen? Sieh nur, wie gut sie sie zubereitet hat: mit Gewürzen in der Höhlung... und mit Butter... Es sind wahre Leckerbissen! Wie Sirup! Sie selbst ist ganz rot geworden am Herdfeuer, um sie so golden zu braten. Sie sind gut für die Kehle, bei Husten... Sie wärmen und heilen. Maria, sag du es ihm, wie gut sie meinem Alphäus bekommen sind, als er krank war, aber er wollte sie von dir zubereitet haben. Nun ja! Deine Hände sind heilig und bringen Heil! ... Gesegnet die Speisen, die du bereitest! ... Mein Alphäus war viel ruhiger, nachdem er diese Birnen gegessen hatte... sein Atem ging leichter... Mein armer Mann... !» Maria ergreift die Gelegenheit des Wachrufens dieser Erinnerung, um endlich weinen und hinausgehen zu können, um zu weinen.

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Vielleicht ist es ein schlechter Gedanke, aber ich vermute, daß ohne das Mitleid für die beiden Abreisenden an diesem Abend seine Gattin keine Träne für den "armen Alphäus" vergossen hätte...

Maria des Alphäus ist so traurig über die Abreise von Johannes und Syntyche, von Jesus, Jakobus und Judas, daß sie ihren Tränen freien Lauf lassen muß, um nicht zu ersticken.

Maria geht nun an ihrer Stelle zu Syntyche, die Jesus gegenüber zwischen Simon und Matthäus sitzt, legt ihr eine Hand auf die Schulter und sagt: «Mut, eßt nun! Wollt ihr fortgehen und mich auch in der Sorge zurücklassen, daß ihr nüchtern weggegangen seid?»

«Ich habe gegessen, Mutter», sagt Syntyche und erhebt das müde, von tagelangem Weinen gezeichnete Antlitz. Dann senkt sie ihr Gesicht auf die Schulter, auf die Hand Marias, und reibt ihre Wange an der kleinen Hand, um liebkost zu werden. Maria streichelt ihr mit der anderen Hand über das Haar, und zieht das Haupt Syntyches an sich, die nun das Gesicht an ihre Brust drückt.

«Iß, Johannes! Es wird dir wirklich guttun. Du darfst dich nicht erkälten. Du, Simon des Jonas, wirst dafür sorgen, daß er jeden Abend heiße Milch mit Honig oder wenigstens sehr heißes Honigwasser bekommt. Denk daran!»

«Auch ich werde dafür sorgen, Mutter, sei versichert», sagt Syntyche.

«Ich bin sicher, aber du wirst es tun, wenn ihr in Antiochia angekommen seid und euch dort eingerichtet habt; vorläufig wird sich Simon des Jonas darum kümmern. Vergiß nicht, Simon, ihm viel Olivenöl zu geben. Dafür habe ich dir diesen kleinen Krug mitgegeben. Paß auf, daß er nicht zerbricht. Wenn du siehst, daß Johannes schwer atmet, dann nimm den Salbentopf und tue, was ich dir gesagt habe. Nimm genügend Salbe, um ihm die ganze Brust, die Schultern und die Nierengegend damit einreiben zu können, und mache sie zuvor so heiß als möglich, daß man sie, ohne sich zu verbrennen, noch anfassen kann. Bedecke nach dem Einreiben die Stellen sofort mit den Wolltüchern, die ich dir gegeben habe, denn ich habe sie für diesen Zweck vorbereitet. Du, Syntyche, vergiß nicht die Zusammensetzung, damit du eine neue herstellen kannst. Du wirst überall Lilien, Kampfer und Fingerhut, sowie Harze, Nelken, Lorbeer, Wermut und was du sonst noch brauchst, finden. Ich höre, daß Lazarus dort in Antigonea Kräutergärten besitzt.»

«Herrliche Gärten!» sagt der Zelote, der sie schon gesehen hat, und fügt hinzu: «Ich rate zu nichts, aber ich kann nur sagen, daß dieser Ort für Leib und Seele des Johannes noch heilsamer sein müßte als Antiochia. Er liegt windgeschützt, und eine leichte Luft steigt aus den duftenden Wäldern an den Hängen eines kleinen Hügels empor. Dieser Hügel hält den Meerwind ab, doch nicht die wohltätigen Einflüsse des Meersalzes. Der Ort ist ruhig, aber auch heiter mit seinen tausend Blüten und

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Vögeln, die dort in Frieden leben. Ihr werdet selbst sehen, wie gut er euch bekommen wird. Syntyche ist sehr vernünftig! In diesen Dingen überläßt man sich besser den Frauen, nicht wahr?»

«Das stimmt, und ich vertraue meinen Johannes wahrlich dem gesunden Menschenverstand und dem guten Herzen Syntyches an», sagt Jesus.

«Ich auch», sagt Johannes von Endor. «Ich ... ich... ich habe keine Kraft mehr... und... werde zu nichts mehr taugen ...»

«Johannes, sag das nicht! Wenn der Herbst die Bäume entlaubt, ist damit nicht gesagt, daß sie schon abgestorben sind. Im Gegenteil, sie schaffen mit verborgener Energie, um den Sieg des Hervorbringens neuer Früchte vorzubereiten. Das trifft auch für dich zu. Nun hat dich der kalte Wind des Leides entlaubt. Doch in Wirklichkeit bereitest du dich schon in deinem Innersten auf neue Ämter vor. Eben dieses Leid wird für dich ein Ansporn zur Arbeit sein. Ich bin dessen sicher, und so wirst du wiederum der sein, der mir armer Frau helfen wird, die ich noch so viel zu lernen habe, um etwas für Jesus zu werden.»

«Oh, zu was soll ich noch fähig sein?! Ich habe nichts mehr zu geben... Ich bin am Ende!»

«Nein, das darfst du nicht sagen! Nur wer stirbt, kann sagen: "Ich bin menschlich am Ende." Sonst keiner. Glaubst du, du hättest nichts mehr zu tun? Noch verbleibt dir zu tun, was du mir eines Tages gesagt hast: das Opfer zu vollbringen, und wie willst du es vollbringen, wenn nicht durch das Leiden? Johannes, es wäre töricht, dir, dem Lehrer und Redner, Weise zu zitieren; aber erinnere dich an Georgias von Leontina. Er lehrte, daß man nicht ohne Schmerzen und Leiden sühnen kann, weder in diesem noch im anderen Leben.

Ich erinnere dich auch an unseren großen Sokrates: "Einem uns Überlegenen nicht zu gehorchen, sei er Gott oder Mensch, ist schlecht und schändlich!" Wenn es nun recht ist, einem von ungerechten Menschen gefaßten Beschluß Folge zu leisten, wie empfehlenswert muß es dann erst sein, die Anweisungen des heiligsten Menschen und unseres Gottes zu befolgen! Gehorsam ist etwas an und für sich schon Großes. Etwas überaus Großartiges ist es also, einen heiligen Befehl zu befolgen, von dem ich sage und du mit mir sagen mußt, daß er eine große Barmherzigkeit ist. Du sagst immer, daß dein Leben sich dem Ende zuneigt. Andererseits fühlst du, daß du deine Schuld gegen die Gerechtigkeit noch nicht beglichen hast. Warum erkennst du in diesem großen Schmerz nicht das Mittel, welches dir die Gelegenheit gibt, in der kurzen Zeit, die dir noch bleibt, deine Schuld zu tilgen? Großer Schmerz ist erforderlich, um großen Frieden zu erlangen! Glaube mir, es lohnt sich, ihn durchzustehen. Das einzig Wichtige im Leben ist, vor dem Sterben die Tugend erlangt zu haben.»

«Du ermutigst mich, Syntyche... Mach es immer so!»

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«Ich will es tun. Ich verspreche es hier. Doch du mußt mir helfen, als Mensch und als Christ.»

Das Mahl ist beendet. Maria nimmt die übriggebliebenen Birnen und legt sie auf einen Teller und gibt ihn Andreas, der hinausgeht. Kurz darauf kommt er zurück und sagt: «Es regnet immer stärker. Ich würde sagen, daß es besser ist...»

«Ja. Langes Warten vertieft den Schmerz. Ich gehe sofort und spanne das Tier an den Wagen. Kommt auch ihr mit den Kisten und den anderen Sachen. Auch du, Porphyria. Rasch! Du bist so geduldig, daß der Esel ganz bezaubert ist (genau so sagt er) und sich ohne auszuschlagen anschirren läßt. Nachher wird Andreas, der dir gleicht, dafür sorgen. Los, alle hinaus!»

Petrus schickt alle aus dem Raum und aus der Küche, mit Ausnahme von Maria, Jesus, Johannes von Endor und Syntyche.

«Meister! Oh, Meister! Hilf mir! Es ist die Stunde... da mir das Herz zu zerspringen droht! Es ist nun soweit! Oh, warum, guter Jesus, hast du mich nicht hier sterben lassen, nachdem ich schon den Schmerz meiner Verurteilung erlitten und mich bemüht habe, sie anzunehmen?!»

Johannes wirft sich bitterlich weinend an die Brust Jesu.

Jesus und Maria versuchen, ihn zu beruhigen, und Maria, die immer so zurückhaltend ist, löst ihn von Jesus, umarmt ihn und sagt: «Mein lieber Sohn, mein liebster Sohn!»

Syntyche kniet indessen zu Füßen Jesu nieder und bittet: «Segne mich, weihe mich, auf daß ich gestärkt sei. Herr, Erlöser und König, hier, in Gegenwart deiner Mutter, schwöre und gelobe ich, deine Lehre zu befolgen und dir bis zum letzten Atemzug zu dienen. Ich schwöre und gelobe, mich deiner Lehre und deinen Nachfolgern in der Lehre zu widmen aus Liebe zu dir, Meister und Heiland! Ich schwöre und gelobe, daß mein Leben keinen anderen Zweck haben wird und alles, was Welt und Fleisch ist, für mich endgültig tot ist, während ich mit der Hilfe Gottes und den Gebeten deiner Mutter den Dämon zu besiegen hoffe, damit er mich nicht zum Irrtum verleite und ich in der Stunde deines Gerichtes nicht verurteilt werde. Ich schwöre und gelobe, daß Anfechtungen und Drohungen mich nicht beugen werden und ich nichts vergessen werde, sofern es Gott nicht anders gefällt. Doch ich hoffe auf ihn und glaube an seine Güte und bin deshalb gewiß, daß er mich nicht dunklen Kräften, die stärker sind als ich, überlassen wird. Weihe deine Dienerin, o Herr, damit sie gegen die Anfechtungen aller Feinde gefeit sei.»

Jesus legt seine Handflächen auf ihr Haupt, wie es die Priester tun, und betet.

Maria führt Johannes an die Seite Syntyches und läßt ihn niederknien, indem sie sagt: «Auch diesen, mein Sohn, damit er dir in Heiligkeit und Frieden diene.»

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Jesus wiederholt die Geste auf dem geneigten Haupt des armen Johannes. Dann hilft er ihm aufstehen und fordert auch Syntyche auf, sich zu erheben, indem er ihre Hände in die Hände Marias legt und sagt: «Sie soll die letzte sein, die euch hier liebkost»; und er geht eilends hinaus, ich weiß nicht wohin.

«Mutter, lebe wohl! Ich werde diese Tage nie vergessen», jammert Johannes.

«Auch ich werde dich nie vergessen, mein teurer Sohn.»

«Ich auch, Mutter... Lebe wohl! Laß mich dich noch einmal küssen... Oh! Nach so vielen Jahren habe ich mich an mütterlichen Küssen sättigen können! ... Nun ist es vorbei...» Syntyche weint in den Armen Marias, die sie küßt.

Johannes schluchzt ohne jeden Rückhalt. Maria umarmt auch ihn und hält nun beide in den Armen als wahre Mutter der Christen. Sie berührt mit ihren reinen Lippen die faltige Wange des Johannes, ein keuscher aber liebevoller Kuß, und mit dem Kuß bleibt eine Träne der Jungfrau auf der eingefallenen Wange hängen...

Petrus kommt herein: «Es ist alles fertig. Auf jetzt... !» Mehr kann er nicht sagen, denn er ist gerührt.

Margziam, der seinem Vater nachläuft, wie der Schatten dem Körper folgt, hängt sich an den Hals Syntyches und küßt sie, dann umarmt er Johannes und küßt ihn, küßt ihn... Doch auch er weint.

Sie gehen hinaus. Maria führt Syntyche an der Hand, Margziam hält die Hand des Johannes.

«Unsere Mäntel...» sagt Syntyche unter Tränen und will in den Raum zurückkehren.

«Sie sind hier, rasch, nehmt sie...» Petrus spielt den Grobian, um nicht zu zeigen, wie gerührt er ist, doch hinter dem Rücken der beiden, die sich in ihre Mäntel hüllen, wischt er sich mit dem Handrücken die Tränen ab...

Dort, hinter der Hecke, bildet die schaukelnde Lampe des Karrens einen gelben Fleck in der Dunkelheit... Der Regen läßt das Laub der Ölbäume rauschen und klatscht auf das wassergefüllte Becken... Eine Taube gurrt, aufgescheucht vom Schein der Laternen der Apostel, die sie tief halten und mit den Mänteln vor dem Wind zu schützen suchen, um die Wege voller Pfützen zu beleuchten...

Jesus steht schon vor dem Wagen, über den eine Decke als Dach ausgespannt ist.

«Schnell, schnell, es regnet stark», treibt Petrus sie an. Während Jakobus des Zebedäus Porphyria die Zügel abnimmt, hebt Petrus ohne viele Umstände Syntyche hoch und setzt sie auf den Wagen; mit noch größerer Eile packt er Johannes von Endor und setzt ihn hinauf. Schließlich steigt er selbst auf den Wagen und versetzt dem armen Esel sogleich einen so kräftigen Hieb, daß dieser mit einem Ruck losgaloppiert und dabei Jakobus

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fast umwirft. Petrus treibt ihn weiter an, bis sie auf der Straße sind, die schon ein schönes Stück von den Häusern entfernt ist... Ein letzter Abschiedsgruß folgt den Scheidenden, die nun weinen ohne sich Zwang anzutun...

Außerhalb von Nazareth hält Petrus den Esel an, um auf Jesus und die anderen zu warten, die sich beeilen, im strömenden Regen das Gefährt zu erreichen.

Sie schlagen einen Feldweg ein, um wieder auf die Nordseite der Stadt zu gelangen, ohne sie zu durchqueren. Doch Nazareth liegt dunkel und schlafend unter dem kalten Regen der Winternacht... und ich glaube, daß die auf das weiche Erdreich schlagenden Hufe des Esels nicht einmal von denen, die wach in den Betten liegen, gehört werden.

Die Gruppe setzt schweigend ihren Weg fort. Nur das Schluchzen der beiden Jünger ist zu hören, vermischt mit dem Geräusch, das der Regen auf dem Laub der Ölbäume erzeugt.

360. AUF DEM WEG NACH JIPHTAEL

Es muß die ganze Nacht geregnet haben. Doch bei Tagesanbruch ist ein trockener Wind aufgekommen, der die Wolken nach Süden, jenseits der Hügel von Nazareth, vertrieben hat. So erscheint eine blasse Wintersonne, die mit ihren Strahlen auf jedem Blatt der Ölbäume einen Diamanten entzündet. Doch es ist ein Festkleid, das die Bäume bald verlieren, denn der Wind schüttelt es von den Zweigen, die aussehen, als weinten sie Diamantsplitter, und diese verlieren sich dann im taufeuchten Gras oder auf der holperigen Straße.

Petrus bereitet mit Hilfe von Jakobus und Andreas den Karren und den Esel für die Weiterreise vor. Die anderen sieht man noch nicht. Doch dann kommen sie, einer nach dem anderen, anscheinend aus einer Küche, denn sie sagen zu den dreien, die draußen sind: «Geht nun auch ihr etwas essen», und sie gehen hinein, um bald darauf mit Jesus wiederzukommen.

«Ich habe wegen des Windes die Decke wieder ausgespannt», erklärt Petrus. «Wenn du wirklich nach Jiphtael gehen willst, wird uns der Wind ins Gesicht wehen... und beißen. Ich weiß nicht, weshalb wir nicht den direkten Weg nach Sycaminon einschlagen und dann den Seeweg nehmen... Er wäre länger, aber nicht so anstrengend. Hast du gehört, was der Hirte gesagt hat, den ich geschickt ausgefragt habe? Er sagte: "Jotapata ist während der Wintermonate verlassen. Es führt nur ein Weg dorthin, und mit den Schafen erreicht man es nicht... Man darf nichts auf den Schultern tragen, denn es gibt Stellen, an denen man mehr mit den Händen als mit den Füßen vorwärtskommt, und die Schafe können nicht

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schwimmen ... Man trifft auf zwei Flüsse, die oft Hochwasser führen, und der Weg selbst ist ein Bach, der über felsigen Grund fließt. Ich werde im Frühjahr nach dem Laubhüttenfest dorthin gehen und gute Geschäfte machen, denn dann deckt man sich dort für Monate ein." Das hat er gesagt... und wir... mit diesem Fahrzeug... (er gibt dem Wagenrad einen Fußtritt)... und mit diesem Esel... hm ... !»

«Der direkte Weg von Sephoris nach Sycaminon wäre angenehmer, jedoch sehr belebt... Denk daran, daß es besser ist, wenn von Johannes keine Spuren zurückbleiben ...»

«Der Meister hat recht. Wir könnten auch Isaak mit den Jüngern begegnen... und dann erst in Sycaminon... !» sagt der Zelote.

«So laßt uns also aufbrechen ...»

«Ich will die beiden rufen...» sagt Andreas.

Während er dies tut, verabschiedet sich Jesus von einer Greisin und einem Knaben, die mit Milcheimern aus einem Stall kommen. Es kommen auch bärtige Hirten herbei, denen Jesus für die in der Nacht gewährte Gastfreundschaft dankt.

Johannes und Syntyche sind schon auf dem Karren, der sich, von Petrus gelenkt, auf der Straße in Bewegung setzt. Jesus, der zwischen dem Zeloten und Matthäus geht und dem Andreas, Jakobus, Johannes und die beiden Söhne des Alphäus folgen, beschleunigt den Schritt, um sie einzuholen.

Der Wind bläst ihnen ins Gesicht und bläht die Mäntel auf. Die Decke, die über den Wagen gespannt ist, flattert wie ein Segel, obgleich der Regen der Nacht sie schwer gemacht hat. «Das macht nichts, sie wird bald wieder trocken sein», murmelt Petrus, indem er sie betrachtet. «Wenn nur die Lungen dieses armen Mannes nicht vertrocknen! ... Warte, Simon des Jonas... So macht man es!» Er hält den Esel an, nimmt seinen Mantel ab, steigt auf den Wagen und hüllt Johannes fest hinein.

«Aber warum denn? Ich habe schon den meinen...»

«Weil mir vom Ziehen des Esels so heiß wird, wie wenn ich in einem Backofen wäre. Außerdem bin ich es gewöhnt, fast nackt im Kahn zu stehen, besonders bei Gewittern. Die Kälte spornt mich an und macht mich beweglich. Also, bleib schön zugedeckt! Maria hat mir in Nazareth so oft wiederholt, daß ich auf dich achten soll, und wenn du krank würdest, könnte ich ihr nicht mehr unter die Augen treten...»

Er steigt vom Wagen herab, nimmt die Zügel und treibt den Esel zum Weitergehen an. Doch bald muß er seinen Bruder und auch Jakobus rufen, damit sie dem Esel helfen, von einer schlammigen Stelle wegzukommen, an der ein Rad eingesunken ist. Sie schieben nun abwechselnd den Karren, um den Esel zu entlasten, der die starken Beine in den Schlamm stemmt und anzieht; das arme Tier keucht vor Anstrengung und schnuppert vor Naschhaftigkeit, weil Petrus es zum Weitergehen anspornt, indem er ihm

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Brot- und Apfelstücke vor die Nase hält, die er ihm jedoch nur in den Ruhepausen gibt.

«Du bist ein Betrüger, Simon des Jonas», sagt Matthäus scherzend, der das Manöver beobachtet.

«Nein. Ich gewöhne das Tier mit Güte an seine Pflicht. Anderenfalls müßte ich die Peitsche benützen, und das mag ich nicht tun. Ich schlage auch das Boot nicht, wenn es Launen hat, und es ist nur aus Holz. Warum sollte ich diesen Esel schlagen, der aus Fleisch und Blut besteht? Nun ist er meine Barke... er ist im Wasser... und wie! Deshalb behandle ich ihn wie meine Barke. Ich bin nicht Doras, wißt ihr! Ich wollte den Esel schon Doras nennen, bevor ich ihn gekauft habe, doch dann habe ich seinen Namen gehört, er hat mir gefallen, und so habe ich ihn ihm gelassen ...»

«Wie heißt er denn?» fragen alle neugierig.

«Ratet einmal!» Petrus lacht in seinen Bart.

Es werden die verrücktesten Namen genannt, und auch die der schlimmsten Pharisäer, Sadduzäer usw. Doch Petrus schüttelt immer den Kopf. Sie geben sich geschlagen.

«Antonius heißt er! Ist das nicht ein schöner Name? Dieser verfluchte Römer! Man sieht, daß der Grieche, der mir den Esel verkauft hat, auch einen Zorn auf Antonius hatte!»

Alle lachen, während Johannes von Endor erklärt: «Er muß einer von denen sein, die nach dem Tod Caesars freigekauft worden sind. Ist er alt?»

«So um die siebzig... und er scheint alle möglichen Berufe ausgeübt zu haben... Nun hat er in Tiberias eine Herberge...»

Sie sind an der Kreuzung von Sephoris angelangt, wo die Straßen von Nazareth nach Ptolemais, nach Sycaminon und nach Jotapata beginnen. Der römische Grenzstein trägt diese drei Aufschriften: Ptolemais, Sycaminon, Jotapata.

«Gehen wir nach Sephoris, Meister?»

«Das ist unnütz, wir gehen direkt nach Jiphtael, ohne anzuhalten, und werden unterwegs essen, denn wir müssen vor dem Abend dort ankommen.»

Sie gehen und gehen, überqueren zwei angeschwollene Bäche und erklimmen die ersten Hänge einer Hügelkette, die sich von Süden nach Norden erstreckt, dann jedoch im Norden einen unförmigen Knoten bildet und sich schließlich noch nach Osten verlängert.

«Dort liegt Jiphtael», sagt Jesus.

«Ich kann nichts sehen», bemerkt Petrus.

«Es liegt im Norden. Auf unserer Seite sind steile Felsen, ebenso im Osten und im Westen.»

«Dann muß man also um das ganze Gebirge herumgehen?»

«Nein. Dort, am Fuße des höchsten Berges, ist eine Straße, die durch eine Schlucht führt. Es ist eine gute, obschon etwas steile Abkürzung.»

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«Warst du schon hier?»

«Nein, aber ich weiß es.»

Es ist wirklich ein steiler Weg. Als sie dort ankommen, erschrecken sie. Es scheint, als wolle die Nacht hereinbrechen, so stark vermindert sich das Licht in der Schlucht, die mich an die Abgründe aus der "Göttlichen Komödie" erinnert, so grauenerregend und abschüssig ist der Pfad in den Felsen gehauen, mit Stufen an besonders steilen Stellen, uneben, schmal, verwildert und eingezwängt zwischen einem Wildbach und einem wilden Steilhang.

Je höher sie kommen, desto mehr nimmt das Licht zu, aber auch die Mühe des Esels, so daß sie schließlich alle persönlichen Reisetaschen vom Wagen nehmen und auch Syntyche absteigt, damit das Gefährt so leicht als möglich wird. Johannes von Endor, der nach einigen Worten den Mund nur noch öffnet, um zu husten, möchte ebenfalls absteigen. Doch sie erlauben es ihm nicht; und so bleibt er, wo er ist, während die anderen Tier und Karren ziehen und schieben und bei jeder Unebenheit des Geländes schwitzen. Doch niemand beklagt sich. Im Gegenteil, sie geben zu verstehen, daß sie alle glücklich über diese körperliche Übung sind, um die beiden, derentwegen sie sie machen, nicht zu betrüben; denn diese haben schon mehrmals ihr Bedauern darüber ausgedrückt, daß sie so viel Mühe verursachen.

Die Straße macht einen rechten Winkel, dann noch einen spitzen und endet in einer Stadt, die sich an einen so steilen Abhang schmiegt, daß man, wie Johannes sagt, den Eindruck hat, sie müsse mit ihren Häusern ins Tal rutschen.

«Aber die Häuser sind stabil, vollkommen mit dem Felsen verwachsen.»

«Also wie in Ramot...» sagt Syntyche, die sich daran erinnert.

«Mehr noch. Hier ist der Fels ein Teil der Häuser, nicht nur ihr Fundament. Diese Stadt erinnert mehr an Gamala. Erinnert ihr euch an Gamala?»

«Ja, und damit auch an die Schweine...» sagt Andreas.

«Genau von dort sind wir nach Tarichäa, zum Tabor und nach Endor aufgebrochen...» erinnert sich Simon der Zelote.

«Ich bin dazu bestimmt, euch an peinliche Dinge und große Mühen zu erinnern ...» seufzt Johannes von Endor.

«Aber nein! Du hast uns eine treue Freundschaft geschenkt, nicht mehr und nicht weniger, Freund...» sagt Judas des Alphäus mit Nachdruck, und alle stimmen ihm zu, zur Bekräftigung seiner Worte.

«Und doch... bin ich nicht geliebt worden... Niemand sagt es mir, aber ich kann beobachten und die einzelnen Tatsachen zu einem Bild zusammensetzen. Diese Abreise... nein, sie war nicht vorgesehen, und die Entscheidung ist nicht spontan getroffen worden...»

«Warum sprichst du so, Johannes?», fragt Jesus etwas betrübt.

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«Weil es wahr ist. Man hat mich nicht gewollt. Ich, und nicht die anderen, nicht einmal die großen Jünger sind erwählt worden, um so weit fortzugehen.»

«Und Syntyche?» fragt Jakobus des Alphäus, betrübt durch die Erkenntnis, die im Geist des Mannes von Endor auftaucht.

«Syntyche habt ihr mitgenommen, um mich nicht allein fortzuschicken... um mir barmherzigerweise die Wahrheit zu verschleiern.»

«Nein, Johannes.»

«Ja, Meister, und weißt du, ich könnte dir auch den Namen meines Peinigers nennen. Weißt du, wo ich ihn lese? Es genügt mir, diese acht Guten zu betrachten, um seinen Namen zu lesen. Indem ich an die Abwesenheit der anderen denke, erkenne ich ihn. Der, dessentwegen du mich gefunden hast, ist derselbe, der mich auch zu Beelzebub schicken möchte. Er hat diese Stunde für mich herbeigeführt – und auch für dich, Meister, denn auch du leidest mit mir und vielleicht noch mehr als ich; er hat diese Stunde herbeigeführt, um mich in die Verzweiflung und in den Haß zurückzustoßen, denn er ist böse, er ist grausam, eifersüchtig und anderes mehr. Es ist Judas von Kerioth, die schwarze Seele unter deinen Dienern, die ganz Licht sind ...»

«Sprich nicht so, Johannes! Nicht nur er fehlt. Alle waren abwesend während des Lichterfestes, mit Ausnahme des Zeloten, der keine Familie hat. In dieser Jahreszeit kann man von Kerioth nicht so leicht nach Nazareth kommen. Es sind fast zweihundert Meilen Weges. Es war recht, daß er die Mutter besuchte, wie Thomas. Auch Nathanael habe ich geschont, weil er alt ist, und mit ihm Philippus, damit er Nathanael Gesellschaft leistet...»

«Ja, die drei anderen sind auch nicht hier... Oh, guter Jesus, du kennst die Herzen, weil du der Heilige bist. Aber nicht nur du kennst sie! Auch die Bösen erkennen die Bösen, weil sie sich in ihnen wiedererkennen. Ich war böse, und ich habe mich in meinen schlechtesten Eigenschaften in Judas wiedererkannt. Doch ich verzeihe ihm! Aus einem einzigen Grund verzeihe ich ihm, daß ich fortgeschickt werde, um in der Ferne zu sterben: weil ich durch ihn zu dir gekommen bin. Gott möge ihm das übrige verzeihen... alles andere!»

Jesus widerspricht ihm nicht... Er schweigt. Die Apostel schauen einander an, während sie mit der ganzen Kraft ihrer Arme den Karren auf dem glitschigen Weg aufwärtsschieben.

Der Abend ist nahe, als sie die Stadt erreichen, wo sie als Unbekannte unter Unbekannten Unterkunft in einer Herberge am südlichen Rand der Ortschaft suchen. Sie liegt an einer steilen Felswand über einem tiefen Abgrund, und es wird einem schwindlig, wenn man hinunterschaut. In der Tiefe nichts als friedlicher Schatten und das Rauschen eines Sturzbaches.

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361. DER ABSCHIED JESU VON DEN ZWEI JÜNGERN

Auf derselben Straße – der einzigen übrigens in diesem Dorf, das einem Adlernest auf dem einsamen Gipfel eines Berges gleicht – setzen sie am anderen Tag ihre Reise fort, verfolgt von regnerischem und kaltem Wetter, das das Vorwärtskommen erschwert. Selbst Johannes von Endor muß den Karren verlassen, denn der Abstieg ist noch gefährlicher als der Anstieg, und wenn der Esel auch einen sicheren Schritt hat, so treibt die Wagenlast ihn doch vorwärts, so daß das arme Tier sich in einer mißlichen Lage befindet.

Übel daran sind auch die Lenker des Fahrzeugs. Sie schwitzen heute nicht beim Schieben, sondern beim Zurückhalten des Karrens, der leicht abgleiten und Unglück verursachen oder zumindest seine Ladung verlieren könnte.

Die Straße ist erschreckend bis auf etwa einen Drittel ihrer Länge, dem letzten talabwärts. Dann wird sie weniger gefährlich, bis sie sich teilt. Sie verweilen etwas, um auszuruhen, und trocknen sich den Schweiß ab; Petrus belohnt den Esel, der vor Angst zittert, schnaubend mit den Ohren wackelt und sicher in tiefe Betrachtung versunken ist über die schmerzliche Lage der Esel und über die Launen der Menschen, die solche Straßen wählen. Simon des Jonas schreibt den sinnenden Ausdruck des Tieres diesen Betrachtungen zu, und um seine Stimmung zu heben, hängt er ihm einen Sack voll Pferdebohnen um den Hals. Während der Esel gierig die harten Bohnen kaut, essen die Menschen Brot und Käse und trinken Milch aus ihren Flaschen.

Die Mahlzeit ist beendet, doch Petrus will noch seinen «Antonius tränken, der größere Ehren verdient als Caesar», wie er sagt, und geht mit einem Eimer, den er vom Wagen nimmt, an einen dem Meer zustrebenden Bach.

«Nun können wir gehen... und vielleicht einen kleinen Trab versuchen, denn ich nehme an, daß hinter diesem Hügel alles eben ist... Wir Menschen können zwar nicht traben, aber schneller gehen können wir. Auf, Johannes, und du, Frau, steigt auf den Wagen und laßt uns aufbrechen.»

«Auch ich werde aufsteigen, Simon, und den Wagen lenken. Ihr folgt uns alle nach», sagt Jesus sofort, nachdem die beiden aufgestiegen sind.

«Warum? Fühlst du dich nicht wohl? Du bist so bleich...»

«Nein, Simon. Ich möchte nur allein mit ihnen reden...» und er weist auf die beiden, die ebenfalls blaß geworden sind, weil sie ahnen, daß der Augenblick des Abschieds gekommen ist.

«Ah! Gut. Steige nur auf, wir werden dir folgen.»

Jesus setzt sich auf das Brett, das als Sitz für den Lenker dient, und sagt: «Komm an meine Seite, Johannes, auch du, Syntyche, komm näher...»

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Johannes setzt sich zur Linken des Herrn, Syntyche zu seinen Füßen, fast auf den Rand des Wagens, mit dem Rücken zur Straße, das Gesicht Jesus zugewandt. Auf den Fersen sitzend, die Hände im Schoß gefaltet, damit sie nicht zittern, das Gesicht bleich, die herrlichen violettschwarzen Augen wie verschleiert vom vielen Weinen, unter dem Schatten des tief herabgezogenen Schleiers und des Mantels gleicht sie einer untröstlichen Pieta.

Johannes erst! ... Ich glaube, selbst wenn am Ende der Straße ein Galgen auf ihn warten würde, hätte er ein weniger schmerzverzerrtes Gesicht.

Der Esel geht im Schritt, so gehorsam und verständig, daß Jesus nicht sehr auf ihn aufpassen muß. Jesus nützt die Gelegenheit, um die Zügel loszulassen, die Hand des Johannes zu ergreifen und die andere auf das Haupt der Syntyche zu legen.

«Meine Kinder. Ich danke euch für alle Freuden, die ihr mir geschenkt habt. Es war für mich ein mit Blumen der Freude geschmücktes Jahr, denn ich habe eure Seelen pflücken und betrachten können, um die Häßlichkeit der Welt zu verdecken; um die von der Sünde der Welt verdorbene Luft mit ihrem Wohlgeruch zu erfüllen; um mich mit Wonne zu erfüllen und mich in der Hoffnung zu bestärken, daß meine Sendung nicht umsonst sei. Margziam, du, mein Johannes, Ermastheus, du, Syntyche, Maria des Lazarus, Alexander Misaze und noch andere... Die Siegesblumen des Erlösers, die mir nur jene redlichen Herzens nachfühlen können... Warum schüttelst du das Haupt, Johannes?»

«Weil du gut bist und mich zu denen, die redlichen Herzens sind, zählst. Doch meine Sünde ist immer in meinem Gedächtnis gegenwärtig ...»

«Deine Sünde ist die Frucht eines Fleisches, das von zwei Übeltätern aufgestachelt wurde. Die Rechtschaffenheit deines Herzens ist die Grundlage deines ehrlichen Ichs, das nur nach Gerechtigkeit verlangt, aber ins Unglück geraten ist, weil die Gerechtigkeit dir durch den Tod oder die Bosheit genommen wurde. Doch blieb sie unter der Last der großen Schmerzen stets lebendig. Es genügte, daß die Stimme der Erlösers in die Tiefe drang, wo dein Ich krank darniederlag, damit du wieder auf die Füße sprangst und jede Last abschütteltest, um zu mir zu kommen. Ist es nicht so? Also bist du ein im Herzen Gerechter. Viel, viel gerechter als andere, die deine Sünde nicht haben, dafür aber viel schlimmere, die sich dessen bewußt sind und hartnäckig dabei bleiben.

Seid daher gesegnet, ihr Blumen meines Triumphes als Erlöser. In dieser verstockten und feindlichen Welt, die den Erlöser mit Bitterkeit und Abscheu erfüllt, habt ihr die Liebe vertreten. Ich danke euch! In den schwersten Stunden, die ich in diesem Jahr erlebt habe, habt ihr mir Trost und Stärkung gegeben. In den noch leidvolleren, die ich haben werde, werde ich noch mehr an euch denken. Bis zum Tod! Mit mir werdet ihr in der Ewigkeit sein, ich verspreche es euch.

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Ich vertraue euch meine teuersten Anliegen an, nämlich die Wegbereitung meiner Kirche in Kleinasien, dort, wo ich nicht hingehen kann, weil Palästina der Ort meiner Mission ist, auch weil der im Alten befangene Geist der Großen Israels mir mit allen Mitteln Schaden zufügen würde, wenn ich anderswo hinginge. So möchte ich noch andere wie Johannes und Syntyche für andere Länder haben, damit meine Apostel das Erdreich gepflügt vorfinden, wenn die Stunde gekommen ist, den Samen auszustreuen.

Seid sanft und geduldig und gleichzeitig stark, um durchzudringen und zu ertragen. Ihr werdet Verstocktheit und Spott antreffen. Seid deswegen nicht betrübt. Denkt: "Wir essen das gleiche Brot und trinken den gleichen Kelch wie unser Jesus." Ihr seid nicht mehr als euer Meister und könnt nicht verlangen, ein besseres Los zu haben. Das beste Los ist dieses: zu teilen, was des Meisters ist.

Ich gebe nur eine Weisung: Seid nicht traurig und sucht auch nicht nach einer Erklärung für diese Entfernung, die kein Exil ist, wie Johannes es vermutet, sondern euch im Gegenteil vor allen anderen an die Schwelle des Vaterlandes führt, als Diener, die besser unterrichtet sind als alle anderen. Der Himmel hat sich über euch gesenkt wie ein mütterlicher Schleier, und der König der Himmel nimmt euch schon in seinen Schoß auf; er beschützt euch unter seinen Flügeln des Lichtes und der Liebe wie Erstgeborene der zahllosen Schar der Diener Gottes, des Wortes Gottes, das euch im Namen des Vaters und des ewigen Geistes jetzt und immer segnet.

Betet für mich, den Menschensohn, der all seinen Qualen als Erlöser entgegengeht. Oh! Wahrlich, meinem Menschsein steht bevor, von allen bitteren Erkenntnissen gequält zu werden! ... Betet für mich. Ich werde eure Gebete brauchen... Sie werden Liebkosungen für mich sein... Ausdruck der Liebe... Sie werden mir eine Hilfe sein, damit ich nicht sagen muß: "Die ganze Menschheit ist von Satan in Besitz genommen!"

Leb wohl, Johannes. Wir wollen uns den Abschiedskuß geben... Weine nicht so... Selbst wenn es mich große Opfer gekostet hätte, hätte ich dich bei mir behalten, wenn ich nicht sehen müßte, wieviel Gutes diese Trennung für dich und mich bewirkt. Ewiges Gut...

Leb wohl, Syntyche. Ja, küsse meine Hände und denk daran, daß wenn die Verschiedenheit der Geschlechter mich auch daran hindert, dich wie eine Schwester zu küssen, so gebe ich doch deiner Seele meinen Kuß als Bruder...

Erwartet mich mit eurer Seele, ich werde kommen. Ich bin bei euch, in euren Mühen und in euren Seelen. Ja, wenn auch die Liebe zum Menschen meine göttliche Natur in sterbliches Fleisch gehüllt hat, so kann es doch ihrer Freiheit keine Grenzen setzen. Ich bin als Gott frei, zu dem zu gehen, der es verdient, daß Gott mit ihm ist. Lebt wohl, meine Kinder, der Herr ist mit euch...»

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Er reißt sich los aus der verzweifelten Umarmung des Johannes, der ihn an den Schultern festhält, und von Syntyche, die sich an seine Knie klammert, steigt vom Wagen, grüßt die Apostel mit einem Zeichen der Hand und eilt davon wie ein verfolgter Hirsch auf der Straße, auf der sie gekommen sind...

Der Esel ist stehengeblieben, da er gemerkt hat, daß die Zügel, die zuvor auf den Knien Jesu lagen, zu Boden gefallen sind. Überrascht stehengeblieben sind auch die acht Apostel, die dem Meister nachschauen, der sich immer weiter entfernt.

«Er hat geweint...» flüstert Johannes.

«Er war bleich wie der Tod...» murmelt Jakobus des Alphäus.

«Nicht einmal seine Tasche hat er mitgenommen... Sie liegt dort auf dem Wagen ...» bemerkt der andere Jakobus.

«Was wird er jetzt tun?» fragt Matthäus.

Judas des Alphäus bietet die ganze Kraft seiner mächtigen Stimme auf und ruft: «Jesus, Jesus! Jesus... !» Das Echo der Hügel antwortet von fern: «Jesus, Jesus, Jesus... !» Doch eine Wegbiegung verbirgt im Grün ihrer Bäume den Meister, ohne daß dieser sich noch einmal umwendet, um zu sehen, wer ihn ruft...

«Er ist gegangen... Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auch zu gehen...» sagt Petrus traurig, indem er den Wagen besteigt und die Zügel ergreift, um den Esel anzutreiben.

Der Wagen setzt sich schaukelnd in Bewegung, begleitet vom rhythmischen Trab der beschlagenen Hufe und dem schmerzlichen Weinen der beiden Verlassenen, die hinten im Wagen seufzen: «Wir werden ihn nie wiedersehen, nie wieder, nie wieder...»

362. SCHMERZ, GEBET UND BUSSE JESU

Jesus befindet sich wieder am Fuße des Bergmassivs, auf dem Jiphtael liegt. Doch nicht auf der Hauptstraße (wenn wir sie so nennen wollen) oder dem Saumpfad, den er zuvor mit dem Wagen genommen hat, sondern auf einem Pfad für Steinböcke; so abschüssig, steinig und zerklüftet ist dieser Weg, der an den Berg geklebt oder besser gesagt in die steile Bergwand eingeschnitten ist, wie wenn eine riesige Kralle darübergefahren wäre. An seinem Rand geht es hinunter in eine fürchterliche Schlucht, in deren Tiefe ein reißender Gießbach schäumt. Hier einen Fehltritt zu machen, würde bedeuten, rettungslos in die Tiefe zu stürzen, von Dornbusch zu Dornbusch und anderen wilden Gewächsen, die nicht senkrecht, sondern waagrecht aus den Felsspalten wachsen, da es ihr Standort nicht anders zuläßt. Ein Fehltritt würde bedeuten, von all den dornigen Zweigen

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dieser Pflanzen zerrissen zu werden oder sich die Rippen zu brechen beim Aufprall auf die harten Baumstrünke, die über dem Abgrund hängen. Ein Fehltritt würde bedeuten, von den scharfen Steinspitzen zerfleischt zu werden, die aus der Felswand der Schlucht herausragen. Ein Fehltritt würde bedeuten, blutend und zerschmettert in das schäumende Wasser des reißenden Gießbaches zu fallen und zu ertrinken, auf spitzen Felssplittern liegend und von den wilden Wellen geschlagen.

Doch benützt Jesus gerade diesen Pfad, diesen Kratzer im Felsen, der noch gefährlicher wird durch die Feuchtigkeit, die dampfend vom Gießbach aufsteigt, von der überhängenden Felswand herabrinnt und von den Bäumen tropft, die auf dieser vorstehenden, leicht nach innen gewölbten Felswand wachsen. Ich will mich bemühen, Ihnen (dem Seelenführer) diesen höllischen Ort zu skizzieren.

Jesus geht langsam, vorsichtig, überlegt jeden Schritt auf den spitzen Steinen, von denen einige sich losgelöst haben, und ist manchmal gezwungen, sich an die Wand zu pressen, wenn sich der Weg stark verengt, und um gefährliche Stellen zu überwinden, muß er sich an den Ästen festhalten, die von der Felswand herabhängen. Er geht so um die Westseite herum und gelangt zur Südseite, gerade zu der Stelle, wo der Berg, nach einem senkrechten Abfall vom Gipfel, eine Höhlung bildet, so daß der Weg breiter wird, wenngleich er auch an Höhe verliert. Jesus muß an manchen Stellen mit geneigtem Haupt gehen.

Vielleicht hat er die Absicht, hier anzuhalten, wo der Pfad wie nach einem Steinschlag plötzlich aufhört. Doch nachdem er den Ort genauer betrachtet hat, sieht er, daß sich unter dem Felsvorsprung eine Höhle befindet, mehr ein Felsspalt als eine Höhle, und läßt sich auf dem Geröll hinab. Er geht hinein. Am Anfang ist es ein Spalt, doch im Innern wird es eine geräumige Grotte, als ob der Berg vor langer Zeit, aus ich weiß nicht welchem Grund, mit Pickeln ausgehauen worden wäre. Man kann deutlich erkennen, wo die natürlichen Einbuchtungen des Felsens von Menschenhand erweitert worden sind, und zwar so, daß sich dem Eingang gegenüber ein Gang öffnet, an dessen Ende Lichtschein eindringt und ferne Büsche zu sehen sind; offensichtlich zieht sich der Gang also durch den Sporn des Berges von Süden nach Osten.

Jesus zwängt sich durch diesen halbdunklen, engen Stollen und erreicht den Ausgang, der oberhalb der Straße liegt, die er mit den Aposteln und dem Karren genommen hat, um nach Jiphtael zu gelangen.

Die Berge, die den See von Galiläa umgeben, liegen vor ihm, jenseits des Tales, und in Richtung Nordosten glänzt der große Hermon in seinem Gewand aus Schnee. Eine uralte Treppe ist an dieser Seite des Berges, die nicht so steil abfällt, ausgehauen worden, und diese Stufen führen zum Saumpfad im Tal und zur Höhe, auf der Jiphtael liegt.

Jesus freut sich über seine Entdeckung. Er kehrt in die geräumige Höhle

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zurück und sucht nach einem geschützten Platz, wo er trockenes Laub, das der Wind angeweht hat, aufhäuft. Ein armseliges Lager, ein Schleier trockenen Laubes zwischen seinem Körper und dem nackten, eiskalten Erdboden... Er läßt sich darauf nieder und bleibt reglos liegen, die Hände unter dem Haupt, die Augen zur felsigen Decke gerichtet, gedankenverloren, ich möchte sagen, erschöpft, wie einer, der eine Anstrengung oder einen Schmerz, die seine Kräfte übersteigen, hinter sich hat. Dann beginnen langsam und lautlos Tränen aus seinen Augen zu quellen. Sie rollen an beiden Seiten des Gesichtes herab, verlieren sich bei den Ohren in den Haaren und enden gewiß im dürren Laub...

Lange weint er so, schweigend und regungslos... Dann setzt er sich auf und, das Haupt zwischen den Knien, die er mit beiden Armen umfangen hat, ruft er mit seiner ganzen Seele nach der fernen Mutter: «Mutter! Mutter! Meine Mutter! Meine ewige Wonne! Oh, Mutter! Oh, Mutter, wie gerne hätte ich dich jetzt in meiner Nähe! Warum habe ich dich nicht immer bei mir, dich, den mir von Gott gesandten einzigen Trost?»

Nur die Höhle antwortet mit einem leisen Echo auf seine Worte, auf sein Schluchzen, und es scheint, als weine und schluchze auch sie in ihren Winkeln, ihren Felsbrocken und den wenigen und noch kleinen Tropfsteinen, die in der Ecke, die die unterirdischen Gewässer wohl am stärksten benetzen, herabhängen.

Jesus beruhigt sich etwas, als ob das Rufen nach der Mutter ihn schon getröstet hätte, und sein Weinen wird langsam zu einem Selbstgespräch.

«Sie sind fortgegangen... Weshalb? Wegen wem? Warum habe ich ihnen diesen Schmerz zufügen müssen? Warum mir selbst, da doch die Welt mir schon den Tag mit Schmerz erfüllt? ... Judas!»

Wer weiß, wohin nun die Gedanken Jesu gehen, der das Haupt von den Knien erhebt und vor sich hinschaut mit weit geöffneten Augen und angespanntem Gesicht, wie jemand, der in Schauungen künftiger Ereignisse oder tiefe Betrachtung versunken ist. Er weint nicht mehr, leidet jedoch sichtlich. Dann scheint er einem unsichtbaren Fragesteller zu antworten und steht auf.

«Ich bin Mensch, Vater. Ich bin der Mensch. Die Tugend der Freundschaft ist in mir verwundet und zerrissen, sie krümmt sich und klagt schmerzerfüllt...

Ich weiß, daß ich alles erleiden muß. Ich weiß es. Als Gott weiß ich es, und als Gott will ich es auch, zum Heil der Welt. Auch als Mensch weiß ich es, denn mein göttlicher Geist teilt es meiner Menschlichkeit mit, und auch als Mensch will ich es, zum Heil der Welt. Doch welch ein Schmerz, o mein Vater!

Diese Stunde ist viel leidvoller als jene, die ich mit meinem und deinem Geist in der Wüste erlebt habe... Die jetzige Versuchung, dieses abstoßende und quälende Wesen, das den Namen Judas trägt, nicht mehr an meiner

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Seite zu dulden und zu ertragen, ist viel stärker. Er ist die Ursache so vieler Schmerzen, die mich tränken und durchdringen und die Seelen quälen, denen ich den Frieden geschenkt habe.

Vater, ich fühle es. Du wirst immer strenger mit deinem Sohn, je mehr ich mich dieser meiner Sühne für das Menschengeschlecht nähere. Deine Güte wendet sich immer mehr von mir ab, und dein strenges Antlitz erscheint meinem Geist, der immer tiefer in den Abgrund gestoßen wird, in dem die Menschheit, durch deine Strafe geschlagen, seit Jahrtausenden seufzt.

Es war mir süß zu leiden, und süß war der Weg zu Beginn meines Lebens, süß auch, als ich vom Sohn des Zimmermanns zum Lehrer der Welt wurde, mich von der Mutter losriß, um dich, den Vater, dem gefallenen Menschen zurückzugeben. Im Vergleich zur heutigen Stunde war der Kampf mit dem Feind bei der Versuchung in der Wüste noch leicht. Ich habe mich ihm gestellt mit der Kühnheit eines Helden, der auf alle seine Kräfte zählen kann... Oh, mein Vater! ... Wie sind jetzt meine Kräfte geschwächt von der Lieblosigkeit und der Kenntnis vieler, allzu vieler Dinge...

Ich wußte, daß Satan, nachdem er mich versucht hatte, mich verlassen würde, und er verschwand. Die Engel kamen, um deinen Sohn zu trösten, da er Mensch und als solcher der Versuchung Satans ausgesetzt war.

Doch jetzt wird die Versuchung kein Ende nehmen, nach dieser Stunde, in der der Freund leidet wegen der Freunde, die weit weggeschickt worden sind, und wegen des verräterischen Freundes, der ihm in der Nähe und in der Ferne schadet. Sie wird kein Ende haben. Deine Engel werden nicht kommen, um mich in dieser Stunde und nach dieser Stunde zu trösten.

Doch die Welt wird kommen. Mit all ihrem Haß, ihrem Spott, ihrer Verständnislosigkeit. Er wird kommen, immer näher, quälender und gemeiner, der Verräter, der Meineidige, der sich an Satan verkauft hat, o Vater... !»

Es ist wirklich ein herzzerreißender Aufschrei, ein angstvoller Flehruf, und Jesus wird so unruhig, daß er mich an Gethsemane erinnert.

«Vater! Ich weiß es. Ich kann ihn sehen... Während ich hier leide und leiden werde, während ich meine Leiden für seine Bekehrung aufopfere und für alle, die mir aus den Armen gerissen wurden und nun mit verwundetem Herzen ihrem Schicksal entgegengehen, verkauft er sich, um größer zu werden als ich, der Menschensohn!

Nicht wahr, ich bin der Menschensohn? Ja! Aber ich bin ja nicht der einzige. Das ganze Menschengeschlecht ist da, die fruchtbare Eva hat ihre Kinder zur Welt gebracht, und wenn ich Abel, der Unschuldige, bin, so fehlt auch Kain nicht in der Nachkommenschaft der Menschheit. Wenn ich der Erstgeborene bin, so wie die Menschenkinder es in deinen Augen sein sollten, ohne Makel, so ist er, der in Sünde Geborene, der Schlimmste

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von denen, die so geworden sind, wie sie sind, nachdem sie in die vergiftete Frucht gebissen haben.

Noch nicht zufrieden damit, die abstoßenden und gotteslästerlichen Triebe der Lüge, der Lieblosigkeit, des Blutdurstes, der Geldgier, des Stolzes und der Unzucht in sich herumzutragen, hat er sich mit Satan verbündet; dieser Mensch, der ein Engel hätte werden können, wird zum Dämon... "Luzifer wollte Gott gleich sein, und daher wurde er aus dem Paradies vertrieben und wohnt, in einen Dämon verwandelt, in der Hölle."

Aber Vater! Oh, mein Vater! Ich liebe ihn... ich liebe ihn noch. Er ist ein Mensch... Einer von denen, derentwegen ich dich verlassen habe... Um meiner Verdemütigung willen rette ihn... Allerhöchster Herr, gewähre mir, ihn zu erlösen. Diese Buße möge mehr für ihn als für die anderen bestimmt sein! Oh, ich weiß, wie unangebracht es ist, darum zu bitten, ich, der ich alles weiß! ... Doch, mein Vater, schaue nur einen Augenblick nicht auf mich als dein Wort, betrachte nur meine Menschlichkeit des Gerechten... und laß mich nur für einen Augenblick "der Mensch" in deiner Gnade sein, ein Mensch, der die Zukunft nicht kennt und sich täuschen kann... ein Mensch, der das unvermeidliche Schicksal nicht kennt und deshalb mit absoluter Hoffnung beten kann, um dir das Wunder zu entreißen.

Ein Wunder! Ein Wunder für Jesus von Nazareth, für Jesus der Maria von Nazareth, der von uns ewig Geliebten! Ein Wunder, das die Vorherbestimmung außer Kraft setzt und sie nichtig macht! Die Rettung des Judas! Er hat an meiner Seite gelebt, hat meine Worte in sich aufgenommen, die Nahrung mit mir geteilt und an meiner Brust geruht... Nicht er, nicht er sei mein Satan! ...

Ich bitte dich nicht darum, nicht verraten zu werden... Dies muß sein und wird sein... denn durch meinen Schmerz, verraten zu werden, mögen alle Lügen vergeben werden, durch meinen Schmerz, verkauft worden zu sein, möge alle Habgier gesühnt und ausgelöscht werden, durch meinen Schmerz als Verfluchter mögen alle Gotteslästerungen wiedergutgemacht werden, dafür, daß man nicht an mich glaubt und nicht glauben wird, möge den Glaubenslosen der Glaube geschenkt werden, und durch meine Qual mögen die Menschen von allen Sünden des Fleisches gereinigt werden. Aber ich bitte dich: nicht er, nicht er, Judas, mein Freund und mein Apostel!

Ich wollte, daß niemand mein Verräter wäre... Niemand! ... Nicht einmal der Entfernteste in den nördlichsten eisigen Zonen oder im Feuer der heißesten Gegenden... Ich wollte, daß der Opfernde du allein seist... wie du es schon andere Male gewesen bist, als du mit deinem Feuer die Brandopfer entzündet hast. Da ich jedoch durch Menschenhand sterben muß, durch die Henkershand eines verräterischen Freundes, des Schamlosen, der die Fäulnis Satans in sich hat und schon danach trachtet, mir an

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Macht gleich zu sein – so denkt er in Hochmut und Unzucht – da ich durch Menschenhand sterben muß; Vater, gewähre, daß nicht er es sei, den ich Freund genannt und als solchen geliebt habe.

Vermehre, Vater, meine Qualen, aber gib mir die Seele des Judas. Ich lege diese Bitte auf den Altar meiner selbst als Sühneopfer... Vater, nimm sie an! ...

Der Himmel ist verschlossen und stumm! ... Ist also dies der Schrecken, den ich bis zum Tod ertragen muß?

Der Himmel ist stumm und verschlossen! ... Wird dies also das Schweigen und der Kerker sein, in dem ich meinen Geist aushauchen werde?

Der Himmel ist stumm und verschlossen! ... Wird dies also die größte Pein des Märtyrers sein? ...

Vater, dein Wille geschehe, nicht mein Wille... Doch um meiner Leiden willen, oh, wenigstens dies! Um meiner Leiden willen gib Frieden und Hoffnung dem anderen Märtyrer des Judas, Johannes von Endor! Mein Vater... er ist wahrlich besser als viele andere. Er ist einen Weg gegangen, den wenige gehen und gehen werden können. Für ihn ist die Erlösung schon vollzogen. Verleihe ihm daher deinen vollkommenen Frieden, damit ich ihn einst bei mir in meiner Herrlichkeit habe, wenn auch für mich alles erfüllt sein wird zu deiner Ehre und im Gehorsam gegen dich... Mein Vater... !»

Jesus ist allmählich auf die Knie gesunken und weint, das Gesicht am Boden.

Er betet, während das Licht des kurzen Wintertages in der dunklen Höhle rasch abnimmt und das Rauschen des Gießbaches scheinbar um so lauter wird, je länger die Schatten im Tal werden...

363. DER AUFBRUCH VON PTOLEMAIS UND DIE FAHRT NACH TYRUS

Die Stadt Ptolemais scheint von einem tiefen, bleiernen Himmel erdrückt zu werden, auf dem kein einziger blauer Fleck eine Abwechslung in der dunklen Eintönigkeit bildet. Nein, keine einzelne Wolke, weder ein Federwölkchen noch eine Gewitterwolke, an der geschlossenen Decke des Firmaments, sondern ein einziges schweres Gewölbe, wie ein Deckel, der gerade auf einen Topf gestülpt wird. Ein riesiger Deckel aus schmutzigem Zinn, rußig, düster und bedrückend. Die weißen Häuser der Stadt scheinen aus Kreide, roher grauer Kreide, in diesem Licht, farblos und trüb das Blattwerk der immergrünen Gewächse, gespensterhaft die Gesichter der Menschen und matt die Farben der Gewänder. Die Stadt erstickt im erdrückenden Schirokko.

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Das Meer ist, wie der Himmel, ein Ausdruck des Todes. Ein endloses, unbewegliches, verlassenes Meer, das aber nicht bleiern ist. Nein, es ist eine grenzenlose und, ich möchte fast sagen, faltenlose Fläche, eine ölige Masse, grau wie es die Erdöltümpel sein müssen, oder besser, wenn es dies gäbe, ein Silbersee, dessen Wasser mit Ruß und Asche vermischt ist und der den typischen Glanz von Quarzsplittern hat, aber dennoch nicht schimmert, so leblos und matt ist er. Den Glanz bemerkt man erst durch das Mißbehagen, welches das geblendete Auge empfindet, durch das Zittern schwärzlicher Perlmutterfarbe, die ermüdet, ohne zu erfreuen. Soweit das Auge reicht, keine Welle. Der Blick schweift bis zum Horizont, wo das tote Meer den toten Himmel berührt, ohne eine Wellenbewegung zu sehen, doch man erkennt, daß das Wasser nicht erstarrt ist, denn an der Oberfläche sind kaum merkliche Strömungen wahrzunehmen, die das schmutzige Schimmern bewirken. So tot ist alles, daß die Wasser am Ufer still sind wie in einem Becken, ohne die geringste Andeutung von Flut oder Brandung. Der Sand ist genau auf einen Meter landeinwärts feucht und läßt darauf schließen, daß seit Stunden keine Wellen mehr ans Ufer geschlagen haben. Absolute Windstille.

Die vereinzelten Schiffe, die im Hafen liegen, sind reglos. Sie scheinen in fester Materie zu stecken, so bewegungslos sind sie. Selbst die wenigen Stoffetzen, Flaggen oder Kleidungsstücke, die an den hohen Mastbäumen befestigt sind, hängen unbeweglich herab.

Aus einer Gasse des von Armen bevölkerten Hafenviertels begeben sich die Apostel zum Meer, zusammen mit den beiden, die auf dem Weg nach Antiochia sind. Ich weiß nicht, was sie mit dem Esel und dem Karren gemacht haben, die ich nicht mehr sehe. Petrus und Andreas tragen jetzt die eine Truhe, und Jakobus und Johannes die andere, während Judas des Alphäus den zusammengelegten Webstuhl auf die Schultern genommen hat, und Matthäus, Jakobus des Alphäus und Simon der Zelote sich die Taschen der anderen, einschließlich derjenigen von Jesus, aufgeladen haben. Syntyche hat nur einen Korb mit Lebensmitteln in den Händen, und Johannes von Endor trägt nichts.

Sie gehen behende durch die Menge, die zum großen Teil mit Einkäufen vom Markt kommt, oder, wenn es sich um Seeleute handelt, zum Hafen eilt, um die Schiffe zu beladen, zu entladen oder zu reparieren, je nachdem.

Simon des Jonas geht mit sicherem Schritt voran. Er muß genau wissen, wo er hinzugehen hat, denn er schaut sich nicht um. Ganz rot im Gesicht, hält er die Schlinge eines Strickes, die als Handgriff für die Truhe dient, und Andreas auf der anderen Seite macht es ebenso. Aus ihren und ihrer Kameraden Jakobus und Johannes aufgeschwollenen Hand- und Armmuskeln kann man schließen, welche Anstrengung für sie das Tragen der Truhen bedeutet, denn um sich freier bewegen zu können, haben sie

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nur das kurze, ärmellose Untergewand an und gleichen den Gepäckträgern, die von den Schuppen zu den Schiffen gehen. So bleiben sie völlig unbeachtet.

Petrus geht nicht zum großen Anlegeplatz, sondern über einen knarrenden Steg zu einem kleinen Landesteg für Fischerboote an einer kleinen, halbkreisförmigen Mole. Er schaut umher und ruft etwas.

Ein Mann antwortet ihm und erhebt sich vom Boden eines starken, geräumigen Bootes.

«Willst du wirklich abreisen? Schau, das Segel nützt heute nichts. Du wirst die Ruder benützen müssen.»

«Das wird mich erwärmen und meinen Appetit anregen.»

«Aber bist du denn überhaupt fähig, ein Boot zu führen?»

«Aber ja! Mann! Ich konnte noch nicht Mutter sagen, da hatte mir mein Vater schon Wurfleine und Segeltaue in die Hand gegeben. Ich habe meine Milchzähne daran geschliffen...»

«Weißt du auch warum? Dieses Boot ist mein einziger Besitz, verstehst du... !»

«Seit gestern erzählst du mir dasselbe... Kennst du kein anderes Lied?»

«Ich weiß nur, daß ich ruiniert bin, wenn du untergehst...»

«Ruiniert wäre ich, denn ich würde meine Haut verlieren, nicht du!»

«Aber dies ist mein Hab und Gut, mein Brot, meine Freude und die Freude meiner Frau, die Mitgift für mein Mädchen, und...»

«Uff, reize meine Nerven nicht, die schon einen Krampf haben... einen Krampf, der schlimmer ist als der der Schwimmer. Ich habe dir so viel gegeben, daß ich sagen könnte: "Ich habe das Boot gekauft." Ich habe deine Forderung angenommen und nicht gehandelt, du Seeräuber, ich habe dir bewiesen, daß ich von Rudern und Segeln mehr verstehe als du, und wir haben uns über alles geeinigt. Wenn dir der Lauchsalat, den du gestern abend gegessen hast – dein Mund stinkt ja noch danach wie ein Kielraum – nicht gut bekommen ist und du nun Bedenken hast und es bereust, dann ist mir das gleichgültig. Wir haben das Geschäft vor zwei Zeugen abgeschlossen, von denen ich einen gestellt habe und du den anderen, das genügt. Komm heraus, du haariger Krebs, und laß mich hinein!»

«Aber ich... wenigstens eine Garantie... Wenn du stirbst, wer bezahlt mir dann das Schiff?»

«Das Schiff? Nennst du diesen ausgehöhlten Kürbis Schiff? Oh, du erbärmlicher und eingebildeter Wicht! Um dich zufriedenzustellen und zu einem raschen Entschluß zu bewegen, bezahle ich dir weitere hundert Drachmen. Mit diesem Geld und dem, das ich dir schon gegeben habe, kannst du dir drei von diesen Maulwürfen bauen lassen... Nein, ich werde dir kein Geld geben. Du wärest imstande, mich einen Verrückten zu schelten und bei meiner Rückkehr noch mehr dafür zu verlangen. Ich werde

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zurückkehren, dessen kannst du sicher sein. Vielleicht, um dich zu ohrfeigen, wenn du mir eine Barke mit fehlerhaftem Kiel gegeben hast. Ich werde dir den Esel und den Wagen als Pfand hinterlassen... Nein, nicht einmal das! Meinen Antonius vertraue ich dir nicht an. Du wärest imstande, dein Handwerk zu wechseln, Fuhrmann zu werden und durchzubrennen, während ich unterwegs bin. Mein Antonius ist zehnmal so viel wert wie dein Boot. Es ist besser, dir Geld zu geben. Doch vergiß nicht, daß es sich um ein Pfand handelt und daß du mir das Geld bei meiner Rückkehr zurückgeben mußt. Hast du verstanden oder nicht? Hallo, ihr Männer auf dem Schiff! Wer von euch ist aus Ptolemais?»

Auf einem in der Nähe liegenden Boot zeigen sich drei Gesichter: «Wir!»

«Kommt her!»

«Nein, nein, das ist nicht nötig. Wir machen es unter uns aus», fleht der Bootsverleiher.

Petrus schaut ihn prüfend an, überlegt, und da er sieht, daß der andere das Boot verläßt und sich beeilt, den Webstuhl aufzuladen, den Judas auf den Boden gestellt hat, murmelt er: «Ich habe verstanden!» Er schreit denen auf dem Nachbarboot zu: «Nicht mehr nötig. Bleibt nur, wo ihr seid.» Dann entnimmt er einer kleinen Börse einige Münzen, zählt sie, küßt sie und sagt: «Ade, ihr Lieben!» und gibt sie dem Bootsverleiher.

«Warum hast du die Münzen geküßt?» fragt dieser überrascht.

«Ein... Brauch. Leb wohl, Dieb! Los, ihr! Du, halte wenigstens das Boot fest. Du kannst das Geld nachher zählen. Du wirst sehen, daß ich dich nicht betrogen habe. Ich will dich nicht in der Hölle zum Kameraden haben, weißt du? Ich stehle nicht. Auf, hopp! Auf, hopp!» und er zieht die erste Kiste an Bord. Dann hilft er den anderen, ihre Kiste, die Taschen und alles übrige unterzubringen, verteilt das Gewicht richtig und ordnet die Gegenstände auf solche Weise, daß er beim Manövrieren ungehindert ist; dann sind die Personen an der Reihe.

«Siehst du, daß ich es verstehe, mit einem Boot umzugehen, du Vampir. Setz dich in Bewegung und geh deines Weges!»

Zusammen mit Andreas stößt er das Ruder gegen die Mole, um sich von ihr zu lösen.

Als das Boot von der Strömung erfaßt wird, gibt er das Steuer Matthäus und sagt: «Du, der du, um uns genügend zu rupfen, oft zum Fischfang gekommen bist, kannst gut damit umgehen.» Dann setzt er sich am Bug auf die vorderste Bank an die Seite von Andreas. Vor ihm sitzen Jakobus und Johannes des Zebedäus und rudern mit regelmäßigen, kräftigen Stößen. Die Barke gleitet ohne Erschütterungen schnell dahin, obwohl sie reichlich beladen ist, vorbei an den Flanken der großen Schiffe, von denen ihnen Worte des Lobes für den einwandfreien Ruderschlag zugerufen werden.

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Auf dem offenen Meer, außerhalb der Molen... Ptolemais zieht mit seinen am Ufer aneinandergereihten Häusern und dem Hafen im Süden an den Augen der Abreisenden vorbei.

Auf dem Boot herrscht absolutes Schweigen. Man hört nur das Ächzen der Ruder in ihren Riemen.

Nach einer Weile, Ptolemais liegt nun schon im Rücken, sagt Petrus: «Wenn es nur etwas Wind gäbe! ... Doch nichts, kein Hauch... !»

«Wenn es nur nicht regnet... !» sagt Jakobus des Zebedäus.

«Hin, es sieht ganz danach aus ...»

Schweigen und Ruderarbeit für lange Zeit.

Dann fragt Andreas: «Warum hast du die Münzen geküßt?»

«Weil man sich von jemand, der für immer abreist, verabschiedet. Ich werde sie nie wiedersehen, und das tut mir leid. Ich hätte sie lieber einem Armen geschenkt... Aber Geduld! Die Barke ist wirklich gut, stark und gut gebaut. Es ist die beste von ganz Ptolemais, und deshalb habe ich den Forderungen des Eigentümers nachgegeben, aber auch, um nicht zu oft gefragt zu werden, wohin es geht. Deshalb habe ich ihm auch gesagt: "Wir wollen im Weißen Garten Einkäufe machen..." Ach, nun fängt es an zu regnen. Bedeckt euch, so gut ihr könnt, und du, Syntyche, gib dem Johannes das Ei. Es ist Zeit... um so mehr, als bei einem so ruhigen Meer der Magen keine Schwierigkeiten machen dürfte... Was wird Jesus jetzt tun? Ohne Kleider zum Wechseln und ohne Geld! Wo wird er jetzt sein?»

«Er wird für uns beten, ganz gewiß», antwortet Johannes des Zebedäus.

«Gut, aber wo ... ?»

Niemand kann eine Antwort darauf geben, und die Barke gleitet schwer und mühsam unter dem bleiernen Himmel auf dem aschgrauen Meer dahin, durch einen feinen, nebelartigen Regen, der lästig ist wie ein ständiger Juckreiz. Die Berge, die sich nach einer ebenen Gegend wieder dem Meer nähern, erscheinen fahl in der nebligen Luft. Das Meer in der näheren Umgebung ermüdet die Augen auch weiterhin mit seinem seltsamen Phosphoreszieren, das sich in der Ferne in einem Dunstschleier verliert.

«Bei der Ortschaft dort wollen wir haltmachen, uns ausruhen und etwas essen», sagt Petrus, der unermüdlich rudert. Die anderen stimmen ihm zu.

Die Ortschaft ist erreicht. Es ist ein Weiler mit Fischerhütten, die sich an einen dem Meer zugewandten Bergvorsprung schmiegen.

«Hier kann man nicht aussteigen. Wir haben keinen festen Grund...», murmelt Petrus. «Gut, dann werden wir eben hier essen, wo wir sind.»

Die Ruderer essen mit gutem Appetit, die beiden Verbannten ohne allzu große Lust. Immer wieder hört es auf zu regnen, dann kommt ein neuer Schauer. Das Dorf ist entvölkert, als hätte es keine Einwohner. Doch besagen die von Haus zu Haus fliegenden Tauben und die auf den Altanen

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aufgehängten Wäschestücke, daß Menschen dort sind. Endlich erscheint ein halbnackter Mann auf der Straße, der zu einer an Land gezogenen Barke geht.

«Hallo, Mann! Bist du Fischer?» schreit Petrus, indem er die Hände trichterförmig an den Mund legt.

«Jawohl.» Es ist ein durch die große Entfernung kaum hörbares «Jawohl.»

«Was für ein Wetter ist zu erwarten?»

«Bald Dünung, und wenn du nicht von hier bist, dann rate ich dir, sofort hinter das Kap zu fahren. Dort sind die Wogen ruhiger, besonders wenn du am Ufer entlangfährst, was du kannst, denn das Meer ist tief. Aber mach dich gleich auf...»

«Ja. Der Friede sei mit dir!»

«Auch euch Friede und Glück!»

«Also vorwärts», sagt Petrus zu den Kameraden, «und Gott sei mit uns!»

«Er ist es, gewiß, denn sicherlich betet Jesus für uns», entgegnet Andreas und fängt wieder an zu rudern.

Aber die Dünung hat schon begonnen und hebt und senkt die arme Barke jedesmal, wenn sie mit ihr zusammentrifft, während der Regen dichter wird und Windstöße dazukommen, um die armen Seereisenden zu quälen. Simon des Jonas gibt ihm die malerischsten Beinamen, denn es ist ein bösartiger Wind, der zum Segeln nicht taugt und versucht, die Barke gegen die Klippen des Kaps zu drängen, das nun schon nahe ist. Der Barke fällt es nicht leicht, es in Richtung auf den kleinen Golf, der tintenschwarz ist, zu umrunden. Sie rudern und rudern, angestrengt, erhitzt, verschwitzt, mit zusammengebissenen Zähnen und ohne auch nur im geringsten Kraft durch Worte zu vergeuden. Die anderen, die ihnen gegenübersitzen – ich sehe ihre Rücken – schweigen unter dem lästigen Regen: Johannes und Syntyche in der Mitte, in der Nähe des Mastbaumes, hinter ihnen die Söhne des Alphäus und schließlich Matthäus und Simon, die bei jedem Wellenstoß kämpfen müssen, um das Steuer gerade zu halten.

Das Kap zu umschiffen ist ein mühsames Unternehmen. Endlich ist es geschafft...

Nun ist den Ruderern, die erschöpft sein müssen, ein wenig Ruhe vergönnt. Sie beraten, ob sie sich in ein Dörflein jenseits des Kaps zurückziehen sollen. Doch dann siegt die Überlegung, «daß man dem Meister auch gegen den eigenen Verstand gehorchen muß. Er hat gesagt, daß sie Tyrus in einem Tag erreichen sollen.» Sie fahren also weiter...

Plötzlich beruhigt sich das Meer. Sie bemerken es, und Jakobus des Alphäus sagt: «Der Lohn für unseren Gehorsam.»

«Ja, Satan hat sich davongemacht, weil es ihm nicht gelungen ist, uns zum Ungehorsam zu verleiten», bestätigt Petrus.

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«Wir werden allerdings erst in der Nacht in Tyrus ankommen. Dieser Kampf mit den Wellen hat uns viel Zeit gekostet», meint Matthäus.

«Das macht nichts. Wir werden schlafen gehen, und morgen werden wir das Schiff suchen», antwortet Simon der Zelote.

«Aber werden wir es auch finden?»

«Jesus hat es gesagt. Also werden wir es finden», sagt Thaddäus bestimmt.

«Wir können die Segel setzen, Bruder», bemerkt Andreas. «Nun weht ein guter Wind, und wir werden rasch vorankommen.»

Tatsächlich blähen sich die Segel, es ist kein starker Wind, doch brauchen sie nun fast nicht mehr zu rudern, und das Boot gleitet wie erleichtert auf Tyrus zu, dessen Vorgebirge, oder besser, dessen Landenge dort im Norden im letzten Tageslicht weiß aufleuchtet.

Die Nacht bricht schnell herein. Es ist seltsam, nach so viel düsterem Himmel und einer unerwarteten Aufhellung die Sterne aufleuchten und den Großen Bären mit seinen Gestirnen glitzern zu sehen, während das Meer den friedlichen Schein des Mondes widerspiegelt, der so weiß ist, daß es aussieht, als beginne bereits der Morgen nach diesem mühevollen Tag, ohne Unterbrechung durch die Nacht.

Johannes des Zebedäus erhebt die Augen zum Himmel und lacht. Dann öffnet er unvermittelt den Mund und singt im Takt der Ruderschläge:

«Sei gegrüßt du Morgenstern, Jasmin der Nacht, Goldener Mond an meinem Himmel, Heilige Mutter Jesu.

Auf dich hofft der Meerespilger, Es träumt von dir, wer leidet und stirbt, Leuchte, heiliger, gütiger Stern, Dem, der dich liebt, o Maria ...»

So singt er mit seiner kräftigen Tenorstimme und ist selig.

«Aber was singst du denn da? Wir reden von Jesus, und du singst von Maria?» fragt sein Bruder.

«Er ist in ihr, sie ist in ihm. Er ist, weil es sie gegeben hat. Laß mich singen...» und er singt weiter und steckt die anderen an...

So erreichen sie Tyrus. Das Anlegen im kleinen Hafen südlich der Landenge ist nicht schwer. Er wird erhellt von vielen Lampen, die an den Booten hängen, und die dort Anwesenden verweigern den Ankommenden ihre Hilfe nicht.

Während Petrus und Jakobus in der Barke bleiben, um die Kisten zu bewachen, gehen die anderen mit einem Mann von einer anderen Barke in die Herberge, um sich auszuruhen.

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364. ABREISE VON TYRUS AUF EINEM SCHIFF AUS KRETA

Tyrus erwacht mit seinem Lärm auf den Straßen. Das Meer ist ein Lachen von kleinen Wellen, eine weißblau glänzende Fläche, leicht bewegt unter einem blauen Himmel, unter Zirruswölkchen, die dort oben schweben, wie der Schaum der Wellen hier unten schaukelt. Die Sonne freut sich des heiteren Tages nach dem vielen Grau des schlechten Wetters.

«Jetzt geht mir ein Licht auf», sagt Petrus, indem er sich in der Barke erhebt, wo er geschlafen hat. «Es ist Zeit aufzustehen. Wir haben von "ihm" (und er zeigt auf das Meer, das unruhig in den Hafen eindringt) bereits das Weihwasser bekommen... Hm... Wir wollen nun gehen und den zweiten Teil des Opfers vollbringen... Sag, Jakobus, scheint es dir nicht auch, daß wir zwei Opfer zur Opferstätte bringen? Mir scheint es so.»

«Auch mir, Simon. Ich danke dem Meister für sein Vertrauen in uns. Aber... es wäre mir lieber, wenn ich nicht so viel Leid sehen müßte. Niemals hätte ich gedacht, daß ich so etwas erleben müßte...»

«Auch ich nicht... Aber... Weißt du? Ich sage, daß der Meister es nicht getan hätte, wenn der Hohe Rat nicht die Nase hineingesteckt hätte ...»

«Er hat es ja selbst gesagt... Aber wer wird den Hohen Rat benachrichtigt haben? Das möchte ich wissen ...»

«Wer? Ewiger Gott, laß mich schweigen und nicht daran denken. Reden wir von etwas anderem.»

«Wovon denn? Vom Wetter?»

«Ja, meinetwegen.»

«Aber ich verstehe ja nichts vom Meer...»

«Ich glaube, wir werden tanzen», sagt Petrus, indem er das Meer betrachtet.

«Nein! Ein paar Wellen, weiter nichts. Gestern war es schlimmer. Vom Schiff aus muß das bewegte Meer sehr schön sein. Das wird Johannes gefallen... und ihn zum Singen bringen. Welches mag wohl das Schiff sein?»

Er richtet sich auf und beobachtet die Schiffe auf der anderen Seite, die mit ihrem hohen Deck besonders gut zu sehen sind, wenn der Wellengang ihr Boot wie eine Schaukel hochhebt.

Sie betrachten aufmerksam die verschiedenen Schiffe und raten. Der Hafen belebt sich.

Petrus befragt einen Bootsmann, der am Landesteg herumhantiert: «Weißt du, ob im Hafen dort das Schiff des... warte, ich muß den Namen lesen... (er zieht ein verschnürtes Pergament unter seinem Gürtel hervor). Hier steht er: Nikomedes Philadelphius des Philippus, Kreter aus Paläokastro...»

«Oh, der große Seefahrer! Wer sollte ihn nicht kennen? Ich glaube, daß er nicht nur vom Perlengolf bis zu den Säulen des Herkules bekannt ist,

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sondern bis zum Eismeer, von dem man erzählt, daß dort monatelang Nacht herrscht! Wie kommt es, daß du ihn nicht kennst, da du doch ein Seemann bist?»

«Nein, ich kenne ihn nicht. Doch bald werde ich ihn kennen, denn ich suche ihn im Auftrag unseres Freundes Lazarus des Theophilus, der einmal Statthalter in Syrien war.»

«Ah! Als ich zur See fuhr – nun bin ich alt – war er in Antiochia... Schöne Zeiten... Dein Freund? Und du suchst Nikomedes den Kreter? Du kannst ihn nicht verfehlen. Siehst du jenes Schiff dort, das höchste, mit den im Wind wehenden Wimpeln? Es gehört ihm. Er fährt vor der sechsten Stunde ab. Er fürchtet das Meer nicht... !»

«Da ist auch nichts zu fürchten, das ist nichts Besonderes», bemerkt Jakobus. Aber eine große Woge, die beide von Kopf bis Fuß naßmacht, straft ihn Lügen.

«Gestern zu ruhig, heute zu bewegt. Ganz schön verrückt, das Meer! Ich ziehe den See vor ...» murrt Petrus und trocknet sich das Gesicht ab.

«Ich rate euch, in die Schiffsdocks zu gehen. Alle gehen dorthin, seht ihr?»

«Aber wir müssen abreisen, mit dem Schiff des... des... warte... Nikomedes und so weiter!» sagt Petrus, dem es nicht gelingt, sich die eigenartigen Namen des Kreters ins Gedächtnis einzuprägen.

«Ihr wollt wohl nicht auch das Boot auf das Schiff verladen?»

«Nein, selbstverständlich nicht!»

«Nun, da gibt es im Dock einen Platz für die Aufbewahrung. Eine Münze täglich bis zu eurer Rückkehr, denn ich denke, daß ihr wohl zurückkehren werdet, oder ...»

«Gewiß, gewiß. Wir gehen, um uns die Gärten des Lazarus anzusehen, das ist alles.»

«Ach, ihr seid seine Verwalter?»

«Noch mehr ...»

«Gut. Kommt mit mir. Ich will euch den Ort zeigen. Er ist eigens für die gemacht worden, die, wie ihr, die Barken zurücklassen wollen.»

«Warte... Da kommen die anderen. Wir werden in einem Augenblick bei dir sein.» Petrus steigt auf den Steg und eilt den ankommenden Gefährten entgegen.

«Hast du gut geschlafen, Bruder?» fragt Andreas besorgt.

«Wie ein Kind in der Wiege. Es hat mir weder das Schaukeln noch das Wiegenlied gefehlt ...»

«Mir scheint, es hat dir auch das Bad nicht gefehlt», sagt Thaddäus lächelnd.

«Ja! Das Meer ist so... so gut, daß es mir das Gesicht gewaschen hat, um mir den Schlaf zu nehmen.»

«Es muß ein tiefer Schlaf gewesen sein», bemerkt Matthäus.

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«Oh, wenn ihr wüßtet, mit wem wir reisen! Mit einem Mann, der selbst den Fischen im Eismeer bekannt ist.»

«Hast du ihn schon gesehen?»

«Nein. Aber es hat mir einer von ihm erzählt, der mir auch gesagt hat, daß es einen Ort für die Aufbewahrung der Barken gibt... Kommt, wir wollen die Kisten ausladen und gehen, weil Nikodemus, nein, Nikomedes der Kreter, bald abfährt.»

«In der Meerenge von Zypern werden wir schön tanzen», sagt Johannes von Endor.

«Ja, glaubst du?» fragt Matthäus nachdenklich.

«Aber Gott wird uns helfen.»

Sie sind nun wieder bei der Barke.

«Hier Mann. Nun holen wir diese Sachen, und dann gehen wir, da wir gesehen haben, daß du ein guter Mensch bist.»

«Man hilft sich eben gegenseitig», sagt der von Tyrus.

«Nun ja, man hilft sich gegenseitig, das heißt, man sollte sich helfen. Man sollte sich auch lieben, denn das ist das Gesetz Gottes ...»

«Man hat mir erzählt, daß in Israel ein neuer Prophet aufgestanden ist, der dies predigt. Ist das wahr?»

«Und ob es wahr ist! Dies und noch viel mehr! Und was für Wunder er wirkt! Los, Andreas, auf, auf, los, mehr nach rechts. Los, während die Welle die Barke hochhebt... Hoppla! Geschafft! ... Ich sage dir, Mann: und was für Wunder! Tote stehen auf, Kranke werden gesund, Blinde sehen, Räuber bekehren sich, und selbst... Siehst du? Wenn er hier wäre, dann würde er zum Meer sagen: "Beruhige dich!", und das Meer würde sich beruhigen... Schaffst du es, Johannes? Warte, ich komme! Ihr haltet den Steg fest... Los, los! Noch ein wenig... Du, Simon, nimm den Handgriff... Gib auf die Hände acht, Judas! Los, los... Danke, Mann... Ihr beiden, Söhne des Alphäus, passt auf, daß ihr nicht ins Wasser fallt... Los... Wir haben es geschafft. Gott sei Dank! Es war weniger schwer, sie hinunterzuschaffen als sie heraufzuholen... Meine Arme sind noch ganz kaputt von der gestrigen Übung... Also, ich sprach gerade vom Meer ...»

«Aber ist es auch wahr?»

«Wahr? Ich war dabei und habe es gesehen!»

«Ja? Oh! ... Aber wo denn?»

«Auf dem See Genesareth. Komm ins Boot, während wir zum Aufbewahrungsort fahren, will ich es dir erzählen...» und er rudert mit dem Mann und Jakobus auf dem Kanal, der zum Dock führt, davon.

«Petrus sagt immer, daß er sich ungeschickt anstellt», bemerkt der Zelote. «Stattdessen besitzt er die Kunst, die Frohe Botschaft zu verkünden, ohne daß die Leute es merken, und tut mehr als wir alle.»

«Was mir so sehr an ihm gefällt, ist seine Redlichkeit», sagt der Mann von Endor.

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«Auch seine Ausdauer», fügt Matthäus hinzu.

«Auch seine Demut. Seht nur, ob er stolz geworden ist, nachdem er erfahren hat, daß er das Oberhaupt ist. Er arbeitet mehr als alle anderen und sorgt sich mehr um uns als um sich selbst», sagt Jakobus des Alphäus.

«Er ist so tugendhaft mit seinem gesunden Menschenverstand. Ein guter Bruder, nicht mehr und nicht weniger», endet Syntyche.

«Ist es wirklich so? Ihr gebt euch also als Geschwister aus?» fragt der Zelote nach einer Weile die beiden Jünger.

«Ja, es ist besser. Es ist keine Lüge, sondern geistliche Wahrheit. Er ist mir wie ein älterer Bruder von einer anderen Mutter, doch von demselben Vater. Der Vater ist Gott, und die beiden Mütter sind Israel und Griechenland. Johannes ist älter als ich, sowohl in bezug auf seine Lebensjahre, als auch, wenn man an die Zeit denkt, die er schon Jünger ist. Da kommt Simon zurück ...»

«Alles erledigt! Laßt uns gehen...»

Sie nehmen die Kisten und gehen über die Landenge zum anderen Hafen. Der Mann von Tyrus, der sich hier auskennt, begleitet sie durch die Gassen zwischen den Warenballen, die unter den großen Schutzdächern aufgestapelt sind, bis zum mächtigen Schiff des Kreters, das sich schon auf die bevorstehende Abfahrt vorbereitet. Er ruft jemandem an Bord etwas zu, damit das Fallreep, das schon eingezogen war, noch einmal heruntergelassen wird.

«Das geht nicht. Es ist kein Platz mehr da», schreit der Lademeister.

«Er hat Briefe abzugeben», sagt der Mann und deutet auf Simon des Jonas.

«Briefe? Von wem?»

«Von Lazarus des Theophilus, dem ehemaligen Statthalter von Antiochia.»

«Ach so! Ich werde zum Herrn gehen.»

Simon sagt zum anderen Simon und zu Matthäus: «Kümmert ihr euch jetzt darum. Ich bin zu linkisch, um mit einem Herrn zu verhandeln...»

«Nein, du bist das Haupt und du machst es gut. Wir werden dir helfen, wenn nötig. Doch das wird nicht der Fall sein...»

«Wo ist der Mann mit den Briefen? Komm herauf», sagt ein dunkelhäutiger Mann, der wie ein Ägypter aussieht. Er ist sehnig, schön, schlank, ernst und etwa vierzigjährig oder etwas darüber. Er läßt die Brücke wieder herunter, und Simon des Jonas, der sein Gewand und den Mantel angelegt hat, während er auf die Antwort gewartet hat, steigt würdevoll hinauf. Hinter ihm folgen der Zelote und Matthäus.

«Der Friede sei mit dir, Mann», grüßt Petrus ehrfurchtsvoll.

«Sei gegrüßt. Wo ist der Brief?» fragt der Kreter.

«Hier.»

Der Kreter erbricht das Siegel, faltet den Brief auseinander und liest.

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«Willkommen seien die Gesandten der Familie des Theophilus! Die Kreter vergessen nicht, daß er gut und höflich zu ihnen war. Aber beeilt euch. Habt ihr viel Gepäck?»

«All das, was du hier auf dem Hafendamm siehst.»

«Und wie viele seid ihr?»

«Wir sind zehn.»

«In Ordnung. Wir werden Platz für die Frau machen. Ihr müßt euch eben einrichten, so gut es geht. Los, schnell. Wir müssen den Hafen verlassen und das offene Meer erreichen, bevor der Wind stärker wird, und das wird nach der sechsten Stunde der Fall sein.»

Er gebietet mit ohrenbetäubendem Pfeifen, die Kisten zu verladen. Dann besteigen die Apostel und die zwei Jünger das Schiff. Das Fallreep wird eingezogen, die Reling geschlossen, die Anker werden gelichtet und die Segel gehißt. Das Schiff setzt sich in Bewegung, stark schlingernd bei der Fahrt aus dem Hafen. Die Segel blähen sich ächzend, so stark ist der Wind, und mit einem mächtigen Stampfen sticht das Schiff in See und entfernt sich rasch in Richtung Antiochia...

Trotz des starken Windes sind Johannes und Syntyche an Deck geblieben. Sie halten sich an einem Mast fest, schauen zu, wie sie sich von der Küste, vom Land Palästina, entfernen, und weinen...

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Gepriesen sei Gott unser Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,

Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.

 

 

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