Fritz Binde
Vom Anarchisten
zum Christen
Jesus sucht mich. Obwohl ich damals noch
nichts davon wusste, war Gottes Liebe bereits in mir am Werk. Ich wurde
nervenkrank und arbeits-, ja sogar denkunfähig. Das überstudierte, übernächtigte
Leben mit seinen Auf- und Ausbrüchen, Enttäuschungen und Schlechtigkeiten
forderte seinen Tribut. Schlaflose Nächte, schreckliche Angstzustände peinigten
Leib und Seele und brachten mich an den Rand des Zusammenbruchs. So ging ein
Jahr hin und eine neues brach an.
Auszug:
»Frau«, sagte ich, »wir müssen einen neuen
Abreißkalender haben, um die Tage des Elends weiterzuzählen.« »Ich habe schon
einen besorgt«, erwiderte sie und brachte mir einen frommen Neukirchener
»Christlichen Hausfreund«, den sie ohne mein Wissen von einem christlichen
Kolporteur gekauft hatte. Gegen meinen Willen hing nun dieser sogenannte
»Hausfreund« an der Wand und mir täglich vor Augen. Jeden Tag riss ich ein Blatt
ab und warf es ungelesen und zerknittert ins Kohlenfass. Was für ein
widerliches Zeug! Es reizte meine schwachen Nerven. Niemals wollte ich mich
daran gewöhnen, es auch nur anzusehen; das Datum brauchte ich und sonst nichts!
Aber das Leiden wuchs mir über den Kopf. Befreundete Ärzte verordneten mir Ruhe.
- Ruhe!? Wo sollte es Ruhe geben in diesem wahnsinnigen Spiel ängstigender
Gedanken? »Ruhe« bei diesem schauerlichen Hinabstürzen in den geistigen wie
äußerlichen Ruin? Da standen die vielen hundert Bücher, aber nicht eines
vermochte mich wieder aufzurichten! Was halfen mir nun Kant, Nietzsche und all
das Gereime und Geschreibe meiner Lieblingspoeten? Was die philosophischen
Ratschläge meiner Freunde? Was mein eigenes erarbeitetes Wissen, das jetzt
auseinanderfiel wie ein gestrandetes Schiff? Verzweifelt hielt ich das
abgerissene Blättchen in Händen und - begann zu lesen: »Das Blut Jesu Christi,
des Sohnes Gottes, macht uns rein von alter Sünde ...« (1. Joh. 1, 7). Das
»Blut«? Unfassbar! Das war ja heidnisch-jüdischer Opfergreuel! Ein Gott, der
Blut sehen will ...? Weg damit! Zerrissen flog das Blatt ins Kohlenfass. Und
dann »Sünde«! Was bedeutete für mich schon »Sünde«? Ein leeres Wort in
Anführungszeichen, etwas für altmodische Leute, ein rein relativer Begriff, ein
notwendiges Schattenspiel im Weltgemälde, eine Dissonanz, die sich im Weltakkord
auflöst. Jedenfalls ist es »Sünde«, so schloss ich meine Betrachtungen, im Leid
zu verzagen und feige zu Kreuze zu kriechen! An einem anderen Tag las ich: »Die
auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie
Adler« (Jes. 40, 31). Ja, auf neue Kraft harrte ich wohl, aber nicht auf einen
»Herrn«. Ich glaubte zwar wieder an einen Gott; aber den suchte ich nicht über
mir, sondern in mir, in meinen Gaben, in den Sehnsüchten und Leidenschaften
meiner Seele, in meinem bis zu den Grenzen des Alls ausgedehnten Ich, das sich
mit allem Leben liebend eins wusste, und was dergleichen große Redensarten mehr
waren. Gott gehorchen, hieß deshalb mir gehorchen. Was sollte da ein Herr »über«
mir? - Aber lag nicht mein Ich bankrott am Boden? Wo war da der Gott »in« mir?
Nach langem Nachsinnen legte ich das Blättchen zu weiterer Prüfung auf meinen
Schreibtisch. Doch bald griff ich wieder danach, strich entschieden das Wort
»Herr« durch und legte das Blatt von neuem auf den verstaubten Tisch. Der Kampf
beginnt. Bald rang ich jeden Tag mit den Worten dieser Kalenderblätter wie mit
einem gewappneten Feind, der sich mir unermüdlich entgegenstellte. Ich bestritt,
durchstrich, zerriss und glaubte, ihn damit besiegt zu haben. Aber am nächsten
Morgen stand mein Gegner so frisch wie ehedem vor mir, während ich zunehmend
matter und unsicherer wurde. Mit täglich neuer Kraft überwand er mich, und
schließlich ertappte ich mich dabei, dass ich ihm wie einem wohlmeinenden Freund
zuhörte. Prüfend begann ich, die Evangelien zu lesen. Aber welch völlig
veränderte Bedeutung bekamen nun die Bibelworte für mich! Früher hatte ich Jesus
lediglich als den Sozialdemokraten, Anarchisten und übermenschlichen
Lebenskünstler zu sehen und zu studieren versucht. Zum ersten Mal in meinem
Leben näherte ich mich ihm jetzt mühselig und beladen. Wenn er am Ende doch mein
Retter werden könnte? Wenn es gar wahr wäre, das mit dem Blut ...? Bei diesem
Gedanken sprang ich unvermittelt auf und holte mir aus der langen Bücherreihe
Nietzsches »Antichrist« heraus. Ich wollte endlich sehen, wer recht hatte! Ich
las die wohlbekannten Sätze, das Christentum sei nur für die »Schwachen,
Missratenen, Überreizten, Erschöpften, die das Unglück mit dem Begriff 'Sünde'
beschmutzten ...« »Es steht niemandem frei, Christ zu werden; man wird zum
Christentum nicht 'bekehrt' - man muss krank genug dazu sein.« - Ich zitterte.
Traf das nicht auf mich zu? Deutlich hörte ich eine spitze Stimme fragen: »Wenn
du gesund wärest, würdest du dann diese Kalenderblätter lesen?« Ich wankte und
taumelte gegen einen Spiegel, starrte mein Bild an und erwartete den Ausbruch
des Wahnsinns. Aber es gelang mir, mich irgendwie aufzufangen. Trotzig schleppte
ich mich an einem der folgenden Abende wieder in die alte Gesellschaft. Als ich
gegen Morgen heimwankte, stieß ich mit dem Fuß gegen einen Stein. Ich stieß ihn
fort, stieß in meinem bedauerlichen Zustand aber ein zweites und ein drittes Mal
an ihn. Dieses Stossen, der Ausdruck des Trotzes im eigenen Gewissen, war - ach,
wie so oft schon! - ein Stossen gegen den Stein des Anstoßes und den Fels des
Ärgernisses (1. Petr. 2, 8),gegen die im Herzen hörbare, aber noch unerkannte
Stimme Jesu, des guten Hirten. Seltsamerweise musste ich den Stein aufheben und
anschauen, als ob er mir etwas zu sagen habe. Da hörte ich deutlich: »Ich bin's,
der mit dir redet, Christus« (Joh. 4, 26). »Die Gesunden bedürfen des Arztes
nicht, sondern die Kranken« (Luk. 5, 31). Das war eine deutliche Antwort. Leider
schlug sie aber nicht durch. Spiritistische und theosophische Gewohnheiten
hatten mich abgestumpft und misstrauisch gemacht gegen jegliche Mitteilungen aus
der Geisterwelt. Trotzdem nahm ich jenen Stein mit nach Hause, wusch ihn - es
war ein weißer Kiesel - und schrieb »Joh. 4, 26« darauf. Er liegt heute noch auf
meinem Schreibtisch. Nach diesen Begebenheiten begann eine Zeit entsetzlicher
Kämpfe. Es schien, als ob ich mit dem Hervorholen jenes Nietzsche-Buches einem
bösen Geist Macht zum Mitreden gegeben hätte. Und dies war tatsächlich der Fall.
Der Dämon war wirklich gegenwärtig! Mein »Christlicher Hausfreund« und meine
Bibel ließen wohl täglich ihre friedlichen Worte hören, aber jene höhnische
Stimme in mir schrie jetzt immer dagegen. In diesem Kampf wurde nicht mehr durch
mich, sondern über mich entschieden! Ein schauerlicher Druck lag Tag und Nacht
auf meinem Geist. Wenn ich ein wenig hinausradelte, um frische Luft zu schöpfen,
so schrieen dunkle Stimmen in mir: »Fahr hinab in den Abgrund, hinunter mit dir
in den Strom! Deine Frau bekommt die Lebensversicherung ausbezahlt, gesund wirst
du doch nicht wieder; du tust ein gutes Werk, stürz dich hinunter!« Es war wie
Nietzsches Ruf: »Stirb zur rechten Zeit!« Wie mich Jesus überwand. Genau zur
rechten Zeit führte mich Gottes Gnade mitsamt den Meinen für eine Weile in das
Elternhaus meiner lieben Frau. Dort in der Nähe wohnte ein mir bekannter
Prediger, der bislang allerdings ohne Einfluss auf mich geblieben war. Diesem
offenbarte ich jetzt einiges von der inneren Umwandlung und den Kämpfen, die ich
durchlitt. Er schien mehr verwundert als erfreut, lieh mir aber ein kleines
Büchlein, das er mir sehr empfahl: »Der Weg dem Lamme nach« von Georg
Steinberger. Noch in der Straßenbahn begann ich den Inhalt dieses Heftchens
begierig zu verschlingen. Zu Hause angekommen las ich es zu Ende, um sogleich
noch einmal von vorne anzufangen. Das Büchlein vollbrachte in mir ein Wunder. Es
verwandelte mir Jesus von Nazareth, den vornehm-überlegenen, heroischen Weisen,
in Jesus Christus, das demütig dienende, hingeschlachtete Lamm Gottes, das der
Welt Sünde und auch meine Sünde ans Kreuz trug. Es bewies mir den Sieg des
Schwachen und Nichtigen überdas Starke und Grosse in der Welt. Es stellte mir
den Lammesweg über den Löwenweg. Es weckte in mir den Leidenssinn und die
Bereitschaft, »Ja« zu sagen zu meinem Elend. Mit einem Mal war mir klar, dass es
Gott selbst war, der mich in diese Tiefe geführt hatte. Er macht mich dadurch
fähig, ihn als Herrn über mich anzuerkennen und mich demütig zu seinen Füssen zu
werfen. Dieses scheinbar nichtige Büchlein hatte mehr vollbringen können, als
all die vielen Bücher, die ich gelesen hatte, zusammengenommen! Und all das
geschah unter demselben Dach, unter dem mein Schwiegervater damals meine
schlechten Bücher nicht dulden wollte, unter demselben Dach, unter dem ich Gott
abgesetzt und in Sünden gelebt hatte, und in demselben Zimmer, in dem mein
Schwiegervater aus Gram über mein verfehltes Leben und unsere Ehe gestorben war.
- »Wie unerforschlich sind Gottes Gerichte, wie unbegreiflich seine Wege!« (Röm.
11, 33). Nun war ich im wahrsten Sinne des Wortes »bekehrt«, obgleich ich die
volle Bedeutung dieser Stunden erst viel später verstand. Damals wäre mir der
Begriff »Bekehrung« noch sehr widerlich und albern erschienen; ich hätte ihn
niemals auf mein Erlebnis anwenden mögen. Ich wusste nur, dass ich eines mit
blitzschneller Deutlichkeit erfahren hatte: Gott ist dein Vater, er hat dir
durch Jesus Christus vergeben, und du bist nun in, den besten Händen. Aus dieser
Erkenntnis strahlte mir ein wunderbarer Strom der Ruhe und des Friedens
entgegen. Es war wie ein sonniger, warmer Frühlingshauch. Ich lief hinunter in
den Garten, staunte den Himmel, die Bäume, die Blumen an, alles frohlockte: Gott
ist dein Vater durch Jesus, du bist nun in den besten Händen! Ich jauchzte laut.
Es war der erste Lebensschrei derwiedergeborenen neuen Kreatur.
Fritz Binde - Vom Anarchisten zum Christen
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