Medienkompetenz gefragt: Wenn Smartphone & Co. zum Suchtmittel für Kinder werden
Von Prof. Dr. Albert Wunsch
Mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sind
laut Experten gefährdet, eine Internetsucht zu entwickeln. Jedes fünfte
Kind ist pro Tag länger als vier Stunden online. Der Trend zeigt steil
nach oben.
So weisen bereits knapp fünf Prozent der 12- bis 17-Jährigen
eine riskante Nutzung des Internets auf, mit deutlichen Zeichen einer
Abhängigkeit. Das geht aus einer repräsentativen Studie des
Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Krankenkasse DAK
hervor, die soeben in Berlin präsentiert wurde.
Der Nachwuchs lebt im Online-Modus, schaut alle paar Minuten
auf den Bildschirm, spielt stundenlang am Computer und findet dies ganz
normal.
Nach 5 bis 6 Stunden Medienabstinenz zittern die Hände von Kindern wie bei Drogensüchtigen.
Nach der Forsa-Studie reagiert mehr als jedes fünfte Kind
ruhelos und gereizt auf Einschränkungen in der Onlinenutzung. Viele
Kinder nehmen sich zwar vor, nur eine bestimmte Zeit online zu bleiben.
Doch rund die Hälfte der Kinder hält diese Grenze nicht ein.
Jedes zehnte Kind, so die Eltern, nutzen das Internet, um vor
Problemen der wirklichen Welt zu fliehen. Mehr als 1000 Eltern von 12-
bis 17-Jährigen sind in der Studie zur Internetnutzung ihrer Kinder
telefonisch befragt worden. Damit ist es nach Angaben der DAK die
erste
Untersuchung, die sich bei dem Thema ausschließlich an Eltern und ihre
Einschätzung wendet.
Auffällig ist, dass etwa die Hälfte der befragten Eltern
ihren Kindern keine zeitlichen Vorgaben für die Internetnutzung macht.
Und so verbringen 54 Prozent der 12 bis 17-Jährigen an Werktagen mehr
als zwei Stunden im Internet, jedes fünfte Kind bereits mehr als vier
Stunden. An den Wochenenden schnellt die Nutzungsdauer nach oben, da
verbringt bereits jedes fünfte Kind mehr als sechs Stunden pro Samstag
oder Sonntag im Netz. Das Internationale Zentralinstitut für Jugend- und Bildungsfernsehen
empfiehlt, ab einem Alter von elf Jahren maximal eine Stunde am Tag vor
Computer oder Spielekonsole zu sitzen, ab 14 Jahren 1,5 Stunden.
Und wenn Eltern hier doch regelnd eingreifen wollen, schalten
die Kinder auf schroffe Abwehr und zeigen deutliche
Entzugs-Erscheinungen, wenn ihnen der permanente Blick auf den
Mini-Bildschirm fehlt.
Diverse Geräte einschalten und unterschiedlichste Programme
händeln zu können, ist kein Beleg für Medienkompetenz. Aber mit Herz,
Verstand und in Verantwortung den Ausschaltknopf zu betätigen, drückt
echte Medien-Kompetenz aus.
Das Problem vieler Eltern scheint zu sein, dass sie selbst
den sinnvollen Umgang mit diesen Geräten nicht erlernten und/oder die
offensichtlichen Gefahren nicht erkennen (wollen). Denn auch Erwachsene
haben reichlich Probleme, zum rechten Zeitpunkt den Ausschalter von
Medien-Geräten zu betätigen.
So rufen in den meisten Familien die Umgangsgewohnheiten des
Nachwuchses mit diesen zum Status-Symbol geworden Geräten nach
Regelungen. Aber was sollte geregelt werden? Geht es um Nutzungszeiten,
Inhalte oder Einsatzfelder? Wo ist ein Maßstab zu finden? Wie kommen
Vereinbarungen zustande? Und welche Konsequenz setzt ein, wenn der
Nachwuchs die Vereinbarungen ‚vergessen’ hat oder einseitig für ungültig
erklärt?
Sich selbst als ‚liberal’ bezeichnende Eltern könnten sich
verwundert die Augen reiben und fragen, was sie denn damit zu haben.
Schließlich gehört der Einsatz von Hightech-Geräten zum modern Leben.
Kinder bzw. Jugendliche müssen halt damit ihre Erfahrungen machen. So
wächst Medienkompetenz. Da sollten wir unseren Kindern keine
Vorschriften machen. Und die Zeiten autoritärer Ansagen sind nun mal
vorbei. Das zukünftige Leben ist halt digital.
Da diese Haltung heute sehr weit verbreitet ist, hier eine kurze Verdeutlichung:
Wer so den Begriff ‚liberal’ zu nutzen sucht, zeigt nicht
nur Inkompetenz im Ungang mit einem für die Menschheit wichtigen
Begriff, sondern klammert gleichzeitig aus, das Freiheit ohne
Verantwortung schnell zu Egoismus, Willkür und (Selbst-)Zerstörung
führt. Denn die – zu häufig auch in anderen Erziehung-Feldern –
beobachtbare Grundhaltung: ‚Da halte ich mich raus, das soll halt jeder
selber wissen, ich möchte keine Position beziehen’, ist im Grunde eine
pädagogische Bankrotterklärung gegenüber den uns anvertrauten Kindern
und Jugendlichen.
Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, Kindern das
Fahrradfahren auf Autobahnen oder Jugendlichen den Umgang mit
gefährlichen Substanzen im Chemie-Labor per Selbstüberlassung erlernen
zu lassen. Mit großer Gewissheit würde auch niemand zulassen, dass
Kinder ständig einen ‚Flachmann mit Hochprozentigem’ in der Tasche oder
in der Hand tragen würden. Aber beim Suchtmittel Smartphone wird auf
Ignoranz geschaltet.
Kinder und Jugendliche benötigen keine abtauchenden Väter und
Mütter, sondern Anleitung, Begleitung und Rückmeldungen, ob diese nun
korrigierend oder verstärkend sind. Und je mehr Gefahren im Umgang mit
Dingen zu erwarten sind, je umfangreicher sind Einübungsfelder und
Schutzmaßnahmen notwendig.
Moderne Medien zu verteufeln ist genauso unsinnig, wie sie zu
vergöttern. Der verantwortliche Umgang entscheidet darüber, ob eine
Handlung verwerflich oder förderlich, schlecht oder gut ist, dem
Zusammenleben dient oder dieses zerstört. Dies sind die Basis-Kriterien
wirklicher Medien-Kompetenz.
Wer ständig online ist, verliert den Zugang zu sich selbst
Eine ständige mediale Präsenz schadet nicht nur der
Gesundheit der Kinder und Jugendlichen, sondern genau so den nach Jahren
Erwachsenen, ob es dabei um reale Kontakte in Familie oder
Freundeskreis geht. Zusätzlich machen die – hoffentlich verantwortlich
handelnden – Eltern zu häufig einen fatalen Transferfehler: Sie
schließen von der eigenen privaten und beruflichen Anwendung der Geräte
pauschal darauf, dass Kinder sie genauso sinnhaft und dosiert nutzen wie
sie.
In einem Interview äußert Uwe Buermann, ein pädagogisch-therapeutischer Medienberater: „Wenn
wir das denken, dann versündigen wir uns an unseren Kindern, weil wir
im einzelnen gar nicht genau wissen, was sie damit machen und was sie
genau wollen. Medienkompetenz erwerben die Kinder nicht am Computer,
sondern in der Familie und in der Schule, wo sie an das Wissen und die
gesellschaftlichen Werte herangeführt werden. Nur so kommen sie in die
Lage, Medien angemessen zu verwenden.“
In welchem Umfang Eltern aber in einer Mischung aus
Begrenztheit und Trägheit manchen Medienkonsum-Missbrauch direkt – wenn
auch unreflektiert – ermöglichen, wird an folgenden beispielhaften
Geschehnissen deutlich.
Da klagt Vater B innerhalb eines Beratungsgespräches, dass
der Sohn bis mitten in der Nacht auf seinem Zimmer per Smartphon oder PC
im Internet surfen würde. Alle Ermahnungen seinen bisher folgenlos
geblieben. Da ich wusste, dass er Elektro-Ingenieur von Beruf war,
fragte ich ihn leicht schmunzelnd: ‚Und weshalb hat das WLAN keinen
Schalter’? – Da erhielt eine Erzieherin, als sie in Reaktion auf ein
kräftiges Pflaster zwischen Daumen und Zeigefinder die 5jährige Kati
fragte, was denn da passiert sei, die Antwort: ‚Papa und ich haben zu
lange mit der Wii gespielt, da fing die Hand auf einmal zu bluten an.“
Auch Schulen mogeln sich zu oft aus ihrer Mitverantwortung
Keine oder halbherzige Regeln prägen meist den Umgang mit
Handy, Smartphone und Co. auch in der Schule. Mal gibt es relativ
klarere Regeln, welche aber im Alltag durch Ignoranz – der gebannte
Blick unters Pult bei gleichzeitig aktivem Fingereinsatz bleibt ja
sehenden Lehrkräften nicht verborgen – außer Funktion gesetzte werden.
Das Handlungsmuster des Wegsehens belegt dann, dass der Einsatz des
Multigerätes während des Unterrichts folgenlos bleibt.
Existiert z.B. die klare Regeln, dass im Unterricht subversiv
zum Einsatz gekommene Smartphones im Schulsekretariat für 3 Tage eine
Auszeit erhalten, stehen am Nachmittag die Eltern in der Schule, um das
Gerät abzuholen, weil Schulen ja kein fremdes Eigentum konfiszieren
dürfen und Wegschließen als unpädagogische Maßnahme diskreditiert wird.
Meist ist dann die Folge, dass Sohn oder Tochter am nächsten Tag
triumphierend erneut das Superteil im Unterricht zum Einsatz bringen.
Es gibt noch viel zu wenig Schulen, die mit den Eltern
vertraglich vereinbarten, dass zum Unterrichtsbeginn alle Smartphones
und weitere Wertgegenstände in ein persönliches Schließfach und erst
nach dem Unterricht wieder dort heraus kommen.
Dann wird der Unterricht nicht ständig gestört, die
Konzentration liegt beim Lehrstoff und nicht in medialen Scheinwelten,
in den Pausen finden wieder echte Sozial-Kontakte statt und Anzeigen im
Sekretariat: ‚Mein Smartphon wurde durch XY beschädigt, mir wurden
folgende Wertsachen geklaut’ gehen auf Null. Dazu der Leiter einer
solchen Schule in Wiene: ‚Wir haben uns viele zu lange mit kaum
umsetzbaren Zwischenlösungen aufhalten lassen. Jetzt besteht Klarheit,
die allen gut tut. Und das Thema Medienkompetenz ist bei uns eine
Querschnittsaufgabe, nicht nur im Umfeld der Arbeit mit den
Schul-Rechnern’.
Ein Kinder-Handy für wichtige Telefonate ab der
weiterführenden Schule reicht völlig aus. Für den Einsatz dieser Medien
hier einige Eckpunkte, die mit Sohn oder Tochter – möglichst vor dem
Erwerb – zu klären und schriftlich festzuhalten sind: Die Einsatzzeiten
über Tag werden kontingentiert. Führen echte Sozialkontakte und
Draußen-Spielzeiten ein Schattendasein, kommt das Mutigerät für einige
Stunden ins Aus. In der Zeit von 20 / 22 Uhr bis nach dem Frühstück
haben Handys & Co. Nachruhe. Dazu kommen die Geräte in eine Ablage
in der Gardarobe. Falls sich ein PC im Kinderzimmer befindet – was
keinesfalls empfehlenswert ist – wird dass WLAN-System ebenfalls für die
Nacht ausgeschaltet oder das Netzwerkkabel zum Smartphon gelegt.
Bei Malzeiten, Familienfesten und Hausaufgaben erhalten
Handys & Co. einen Platzverweis. Mit den Kindern wird gemeinsam ein
Passwort für das Gerät festgelegt und geklärt, welche Aktionen, Seiten
oder Nutzungsbereiche tabu sind, in welchem zeitlichen Umfang eine
Nutzung pro Tag höchstens erfolgen soll und in welchen Abständen mit dem
Kind die Nutzungs-Chronik durchgeschaut wird. Danach steht die Klärung
von Konsequenzen an, was denn von Sohn oder Tochter eingebracht wird,
wenn die Regel verletzt wurde. Erst dann kommt das Gerät zum Einsatz.
Hier ein Facebook-Praxis-Tipp der besonderen Art, wenn vorher
keine Regeln geschaffen wurden: „Liebes Kind, diese Woche gibt es jeden
Tag ein neues WLAN-Passwort. Es wird grundsätzlich erst dann
eingeschaltet, wenn die Schularbeiten fertig sind. Heute steht
zusätzlich an: Zimmer aufräumen, abspülen, den Müll raus bringen.
Herzlichst deine Mama und Papa.“
Existiert ein gutes Miteinander zwischen Eltern und Kindern,
führen solche Regelungen zu spürbaren Entspannungen. Das Kind wurde
nicht mit Verboten zugeschüttet, sondern statt dessen die eigene
Mündigkeit gefördert. Gibt es einen Nach-Regelungsbedarf, setzen sich
die Beteiligten zusammen und klären diesen. So wächst in Freiheit und
Verantwortung die Fähigkeit des Kompetenzerwerbs, weit über den Einsatz
von Handy, Smartphone und Co. hinaus.
Und wenn der Nachwuchs zu vehement unter Verweis auf Alter
und angebliche Freiheitsrechte jegliche elterliche Regelungsversuch zu boykottieren
versucht, dann wird die Verhandlungs-Bereitschaft oder
Regelungs-Einsicht recht schnell wachsen, wenn mal eine Zeit keine WLAN
bzw. Netzwerk-Verbindungen im eigenen Zimmer existiert und das ach so
geliebte zweite ICH, welches sich Smartphone nennt, in Schutz-Verwahrung
genommen wird.
Hier noch einmal Uwe Buermann: „Echte Medien-Kompetenz,
die wir uns alle von Herzen wünschen, beginnt mit Medien-Abstinenz –
nicht im Sinne der Bewahrpädagogik, nein, im Sinne der
Fähigkeitsbildung, die es braucht, um Medien sinnvoll zu nutzen.“
Anschrift unseres Autors: Dr. Albert Wunsch, 41470 Neuss, Im Hawisch 17
Dr. Albert Wunsch ist Psychologe, Diplom
Sozialpädagoge, Diplom Pädagoge und promovierter
Erziehungswissenschaftler. Bevor er 2004 eine Lehrtätigkeit an der
Katholischen Hochschule NRW in Köln (Bereich Sozialwesen) begann,
leitete er ca. 25 Jahre das Katholische Jugendamt in Neuss. Im Jahre
2013 begann er eine hauptamtliche Lehrtätigkeit an der Hochschule für
Ökonomie und Management (FOM) in Essen / Neuss. Außerdem hat er seit
vielen Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni
Düsseldorf und arbeitet in eigener Praxis als Paar-, Erziehungs-,
Lebens- und Konflikt-Berater sowie als Supervisor und Konflikt-Coach
(DGSv). Er ist Vater von 2 Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern.
Seine Bücher: “Die Verwöhnungsfalle” (auch in
Korea und China erschienen), “Abschied von der Spaßpädagogik”,
“Boxenstopp für Paare” sowie “Mit mehr Selbst zum stabilen ICH –
Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung” lösten ein starkes
Medienecho aus und machten ihn im deutschen Sprachbereich sehr bekannt. www.albert-wunsch.de