Tod
eines
Geheimbündlers
Bereitwillig
und
kühn habe ich seit 28 Jahren den Zwecken unseres Geheimbundes
gedient. Als mich vor kurzem Los traf, einen hochgestellten
und
allgemein geachteten, sehr würdigen und frommen Prälaten ums Leben zu
bringen, weigerte ich mich entschieden, diesen Befehl
auszuführen,
obgleich ich voraussah, daß ich nach unseren strengen Statuten wegen
dieser Weigerung dem Tode verfallen war.
Das Urteil ist gesprochen:
noch in dieser Nacht muss ich sterben.
"Am
Abend des 22. Dezember 1867", so erzählt der durch seine
Missionstätigkeit in Zentralafrika berühmte Jesuitenpater T., "befand
ich mich gerade in Paris, um bei bekannten und edlen Menschenfreunden
für meine Waisenhäuser und Erziehungsanstalten in Verona, Kairo und
Khartum, in welchen Negerkinder zu guten Christen und einstigen
Missionaren unter ihren afrikanischen Volksstämmen herangebildet
werden, Almosen zu sammeln. Und meine angegriffene Gesundheit in dem
milden Klima Frankreichs und meiner schönen Heimat Italien möglichst
wieder herzustellen. Waren ja von den 37 Missionaren, welche mit mir
aus Italien, Österreich und anderen Ländern Europas zu den Stationen
Afrikas gegangen waren, bereits 35 an Gelbfieber und anderen
mörderischen Krankheiten unter der glühenden Sonne des Äquators zum
Opfer gefallen. Und auch mich konnte nur ein zeitweiliger Aufenthalt
fern vom Wüstensand der Sahara und den Sümpfen Nubiens vor dem sichern
Tode retten. An jenem Tag hatte ich für meine armen Negerkinder eine
glückliche Ernte gehalten. Die Gaben waren reichlich geflossen, und mit
Dank an Gott und die Wohltäter kehrte ich ermüdet zu meinem
Absteigequartier zurück. Als ich um zehn Uhr mein Brevier betete,
klopfte jemand an meine Zimmertür. Verwundert, noch in später Nacht
einen Besuch zu erhalten, nahm ich die brennende Kerze, ging dem
Eintretenden entgegen und fragte nach seinem Begehr. Der Fremde, ein
vornehm gekleideter Herr mit feinen Manieren, erwiderte, indem er sich
höflich verbeugte: "Mein Herr! Entschuldigen Sie gütigst, daß ich sie
noch zu später Stunde störe. Ich bin' gekommen, Sie zu einem Sterbenden
zu rufen, der Sie vor seinem Tode noch zu sprechen wünscht." "Aber",
wandte ich ein, "warum fordert man geistlichen Zuspruch von mir einem
Fremdling? Warum nicht von seinem Pfarrgeistlichen?" "Der Todeskandidat
hat ausdrücklich um Ihren geistlichen Trost gebeten", antwortete der
Bittsteller stimmt. "Ich muss es natürlich Ihrem Ermessen
anheimstellen, ob Sie den letzten Wunsch eines Sterbenden erfüllen
wollen oder nicht. Viel Zeit ist nicht zu verlieren." Ohne weiter über
das befremdende Ansinnen nachzugrübeln folgte ich sofort dem Herrn,
stieg eilig die Treppe hinab trat auf die Straße. Dort hielt eine
prächtige Kutsche. Herr bat mich höflich, einzusteigen, hob mich fast
hinein schlug schnell den Wagenschlag hinter mir zu, schloss ihn und
schwang sich selbst auf den Bocksitz. In scharfem Trab jagten die Rosse
über das Straßenpflaster. Zu meinem größten Erstaunen bemerkte ich
jetzt beim Scheine der Stra ßenlampe noch drei andere Männer im Wagen
mit so verdächtigen Gesichtern, daß mir Angst wurde und ich Miene
machte, aus dem Wagen zu springen. In demselben Augenblick fasste mich
einer der Kerle beim Kragen und setzte mit der andern Hand einen
blanken Dolch auf meine Brust, die bei den anderen hielten mir Revolver
vor die Augen. An Entfliehen war nicht zu denken. Ich ergab mich in
mein Schicksal und flehte in brünstig zum Allerbarmer, er möge mir ein
gnädiges Sterbestündlein verleihen, denn ich glaubte mein Ende nahe.
Willig, wenigstens ohne Widerstreben, ließ ich mir die Augen verbinden.
Die schrecklichen Begleiter versicherten zwar, es würde mir kein, Leid
widerfahren, sofern ich mich ruhig verhielte, aber was musste ich nicht
von solch geheimnisvollen Männern befürchten! Ihr unheimliches
Schweigen während der langen Fahrt verdoppelte meine Todesangst. Wir
mochten ungefähr zwei Stunden lang scharf gefahren sein, als der Wagen
anhielt. Man hob mich aus dem Schlag und führte mich in ein
weitläufiges Gebäude, durch viele Gänge und Gemächer, Treppe auf,
Treppe ab, nach links und nach rechts. Endlich nahm mir einer die Binde
von den Augen, entfernte sich und schloss hinter mir die Tür, durch
welche ich eben eingetreten war. Meine Blicke schweiften verwundert
ringsumher.
Ich befand mich in einem prachtvollen Salon, dessen Parkettboden weiche
Teppiche bedeckten. Aus Palisanderholz kunstvoll gearbeitete Sekretäre
und Glasschränke, weich gepolsterte Stühle und Divans, goldene
Wanduhren zierten das Gemach, und verschiedene Landschaftsgemälde,
anscheinend von tüchtigen Meistern, ließen auf den Reichtum der
Bewohner dieses Hauses schließen. Ein Bett mit einem Kranken suchten
meine Augen vergebens. Wie gebannt hafteten meine Füße noch an
derselben Stelle, wo man mir die Binde von den Augen genommen hatte.
Ich wusste nicht, was ich denken oder sagen sollte. Da erhebt sich aus
einem altertümlichen Lehnstuhl, der im Hintergrunde des Saales stand,
ein vornehmer Herr, blühend und gesund, noch in voller Manneskraft,
obgleich die verstohlen unter den schwarzen Haaren hervorschimmernden
grauen den Übergang in das Greisenalter anzudeuten schienen. Freundlich
heißt mich der Herr, den ich nie gesehen hatte, willkommen und bittet
mich, auf dem nahe gerückten Stuhl Platz zu nehmen. Ich bedeutete ihm:
"Man hat mich zu einem Sterbenden gerufen, aber ich sehe, daß hier ein
Irrtum oder eine Mystifikation (Fopperei, Täuschung, Hintergehung)
obwaltet; denn Sie, mein Herr, sind doch ohne Zweifel recht gesund,
wenn mich der Augenschein nicht täuscht." "Allerdings, hochwürdiger
Herr, lässt meine körperliche Gesundheit nichts zu wünschen übrig",
erwiderte der Herr mit, schmerzlichem Lächeln, "dessen ungeachtet muss
ich in einer Stunde sterben, und ich bitte Sie dringend, mich auf einen
christlichen Tod vorzubereiten." "Wie soll ich das verstehen?" fragte
ich. "Sie sind ganz gesund und kräftig, wie Sie selbst bestätigen, und
werden doch in einer Stunde sterben?“ Der unbekannte Herr antwortete
ruhig: "Um es Eurer Hochwürden kurz zu sagen, bemerke ich Ihnen, daß
ich Mitglied eines Geheimbundes und zu einem der höchsten Grade
befördert worden bin, weil man meinen Einfluss im Staat und in der
Gesellschaft, sowie meine Entschiedenheit in Ausführung schwieriger
Unternehmungen zu schätzen wusste meine Kräfte und mein Ansehen gut
verwerten konnte. Bereitwillig und kühn habe ich seit 28 Jahren den
Zwecken unseres Geheimbundes gedient. Als mich vor kurzem Los traf,
einen hochgestellten und allgemein geachteten, sehr würdigen und
frommen Prälaten ums Leben zu bringen, weigerte ich mich entschieden,
diesen Befehl auszuführen, obgleich ich voraussah, daß ich nach unseren
strengen Statuten wegen dieser Weigerung dem Tode verfallen war. Das
Urteil ist gesprochen: noch in dieser Nacht muss ich sterben. Bei
meiner Aufnahme in den Geheimbund sollte ich das eidesstattliche
Versprechen ablegen, weder im Leben, noch im Sterben die geistliche
Hilfe eines Priesters in Anspruch zu nehmen; jedoch habe ich diesen Eid
zu leisten mich standhaft geweigert, und weil man mich sonst
vorteilhaft gebrauchen konnte, stand man von dieser Forderung ab und
kam jetzt meinem Verlangen nach einem Priester nach. Um jeden Verdacht
zu vermeiden, sind Sie, als ein mit den hiesigen Verhältnissen weniger
vertrauter Seelsorger, herbeigerufen." Neugierig fragte ich: "Welche
Todesart werden Sie denn erleiden?" Der Geheimbündler gab zur Antwort:
"Die Sache ist ganz einfach: Es wird eine große, eiserne Gabel so durch
den unteren Teil des Halses, nahe am Schlüsselbein, gestoßen, daß beide
Zinken die Hauptvenen durchstechen. Der Tod erfolgt sofort, ohne daß
eine klaffende Wunde zurückbleibt. Ich selbst habe mehr als 50
Missliebige oder Wortbrüchige auf diese Weise aus der Welt geschafft
oder sterben sehen.
Eine Appellation (Berufung) von diesem Urteil gibt es nicht, und wollte
jemand entfliehen, es würde nicht gelingen; denn die geheimen Fäden
unserer Gesellschaft spannen sich über die ganze Welt aus. Nun aber,
hochwürdiger Herr, bitte ich Sie, mir eine Lebensbeichte abzunehmen.
Sie wird lange dauern, weil mein Gewissen mit Blut, Sakrilegien und
vielen anderen Verbrechen befleckt ist. Nur noch eine Stunde habe ich
Zeit" fügte er hinzu, indem er seine mit Brillanten besetzte goldene
Taschenuhr hervorzog. "Säumen wir nicht!" Der dem Tod Geweihte kniete
neben meinem Stuhl nieder. Eine Stunde mochte verflossen sein, als der
Schüssel sich klirrend im Schloss der Zimmertür drehte und mehrere
Männer mit festem Schritt eintraten, um den Verfemten abzuführen.
Dieser erbat sich noch eine halbe Stunde, weil er seine Beichte noch
nicht beendigt habe. Man verweigerte es ihm, Indem man auf die Uhr
wies, welche gerade ein Uhr nachts zeigte. Einer der Männer fasste ihn
schon beim Arm und wollte ihn gewaltsam fortziehen. Der Verurteilte
berief sich auf das Versprechen seiner Genossen, daß sie ihm in der
Ordnung seines Seelenheiles freie Hand lassen wollten, und ich
vereinigte meine flehentlichen Bitten mit den seinigen. Die
Schrecklichen gestatteten ihm noch 20 Minuten und zogen sich zurück.
Unterdessen brachte der Sünder sein Bekenntnis zu Ende. In tiefster
Zerknirschung und lebhaftester Freude, sich mit Gott versöhnt zu haben,
empfing er die priesterliche Lossprechung. Dankbar küsste er meine
Hand, auf welche eine verstohlene Träne herabfiel. Zu meinem innigsten
Bedauern konnte ich ihm die heilige Kommunion nicht reichen. Indes
überreichte ich dem Verurteilten in einer silbernen Kapsel eine
Reliquie vom Heiligen Kreuz, welche ich als ein kostbares Gut bisher
immer bei mir getragen hatte und mahnte ihn, sein volles Vertrauen auf
denjenigen zu setzen, der die Sünden der ganzen Welt am Holz der
Schmach sühnte und noch sterbend dem reuigen Sünder verzieh. Mit
Innigkeit drückte er das Kreuzehen an seine Lippen und verbarg es dann
auf der Brust unter seinen Kleidern. Darauf fragte ich ihn, ob er sonst
noch etwas zu ordnen oder mir aufzutragen habe. Er bat mich, seine
innigste geliebte und tugendhafte Gemahlin und seine zwei frommen
Töchter, von denen eine den Schleier genommen hatte und in dem Kloster
de SacreCoeur viel für ihren verirrten Vater betete, freund· liehst zu
grüßen und ihnen die tröstliche Versicherung zu geben, daß er mit Gott
versöhnt sein Leben beschlossen habe.
"Aber", wandte ich ein, "Ihre Angehörigen werden viel leicht die
Richtigkeit meiner Aussagen bezweifeln, wenn ich denselben nicht einen
untrüglichen Beweis meiner Unterredung mit Ihnen geben kann. Haben Sie
deshalb die Güte einige Zeilen in meine Brieftasche zu schreiben, damit
ich mich durch Ihre Handschrift legitimieren kann!"
Er nahm mein Notizbuch und schrieb mit Bleistift auf die letzte Seite
"Teure Chlothilde! Im Begriff, von dieser Welt Abschied nehmen, bitte
ich Dich um Verzeihung wegen des großen Kummers, welchen Dir mein
unnatürlicher Tod bereiten wird! Grüß meine lieben, frommen Kinder und
tröste Dich und sie mit der Versicherung, daß ich mit Gott versöhnt
sterbe und euch dort oben wieder zu sehen hoffe. Betet fleißig für
meine arme Seele! Dein Feodor." Mit einer verbindlichen Verbeugung gab
mir der Herr, dessen Stand und Namen ich jetzt kannte, meine
Brieftasche zurück und bat mich, ihm noch mehr Trost und Mut
einzureden. Kaum hatte ich einige Worte gesprochen, da öffnete sich die
Tür, vier Männer schreiten auf den Verfemten zu, um ihn abzuführen. Ich
aber stellte mich vor ihn hin, wehre mit meinen Händen die
Eindringenden ab, bitte und beschwöre sie, das Leben eines innigst
geliebten Gatten und hochverehrten Vaters zu schonen, ihre Hände nicht
mit Blut zu beflecken. Sie höhnen mich mit lachendem Munde und stoßen
mich mit ihren eisenfesten Armen zurück, daß ich taumelte. Ich biete
mein Leben für den Verurteilten an, falle vor ihnen auf die Knie und
flehe so in brünstig, daß ich glaubte, Felsen würden sich erweicht
haben. Ein Fußtritt war die Antwort. Schon hatte man das unglückliche
Opfer gefesselt und führte es zur Schlachtbank. Im Weggehen rief mir
der Ärmste noch die schmerzlichen Worte zu: "Leben Sie wohl,
ehrwürdiger Vater! Gott lohnt es Ihnen, was Sie für mich getan!
Gedenken Sie meiner in Ihren heiligen Opfern und Gebeten!" Aufs tiefste
erschüttert, schaute ich ihm starr nach, bis die Tür sich hinter ihm
geschlossen hatte. Die Schritte verhallten dumpf in den Gängen. Auf
meinen Knien liegend, mein Angesicht mit bei den Händen bedeckend,
betete ich mit zitternden Lippen und heißer Innbrunst zu Gott um Gnade
und Barmherzigkeit für den Unglücklichen, welcher bei den Menschen
keine Barmherzigkeit mehr fand. Was ich in jener Stunde gelitten habe,
weiß nur der Allwissende. Tiger und Panther hörte ich brüllen in den
Palmenhainen und Felsschluchten Äthiopiens, furchtbare Krokodile
sperrten ihren vielgezähnten Rachen gegen mich auf. Ringelnde
Riesenschlangen drohten mich zu verschlingen, wilde Neger von Darfur
und Wadai legten mehr als ein Mal den vergifteten Pfeil auf den Bogen,
um ihn gegen mich abzuschnellen.
Aber die Wildheit aller Ungeheuer der Natur und der unzivilisiertesten
Völker des Erdkreises wird weit überboten von der teuflischen Bosheit,
von der unmenschlichen Grausamkeit und rücksichtslosen Härte jener
geheimen Gesellschaften. Welche das oft missbrauchte Wort der
Humanität, Bruderliebe, Freiheit und Gleichheit im Munde führen, aber
Gift und Galle ausspeien und Ränke schmieden gegen jene, die sie als
Brüder anerkennen und lieben sollten. Welche heimlich und öffentlich an
den Grundlagen der Kirche und des Staates nagen und rütteln, um auf den
Trümmern des religiösen und sozialen Lebens ein neues Babel aufzubauen.
Tausend Gedanken bestürmten mich. Bald waren sie bei Gott, bald bei dem
sterbenden Schlachtopfer, bald blickte ich scheu um mich her, als ob
aus dem Boden Vipern und Nattern hervorkröchen, bald horchte ich, ob
nicht ein Schmerzensruf an mein Ohr dränge oder das Röcheln eines
Sterbenden herauf stöhnte. Es war alles still, still wie im Grabe. Mir
tropfte der helle Angstschweiß von der Stirn, als wäre ich selbst ein
lebendig Begrabener. Wie lange ich auf dieser Geistesfolter lag, weiß
ich nicht zu sagen. Horch! War das nicht ein Geräusch? Ja, es kommt
näher und näher! Schritte sind es. Der Riegel springt zurück, die Tür
fliegt auf, ich sehe die schrecklichen Männer der Rache wieder vor mir.
Was sind das für dunkle Flecken an ihren Händen? Ha, Blut ist es
Räuberblut! Jetzt kommt wohl die Reihe an dich, den wehrlosen Priester!
Unaufgefordert strecke ich meine Hände hin, um sie binden zu lassen;
man fesselte mich aber nicht, vielmehr verband man mir nur die Augen,
führte mich durch verschiedene Gänge, Treppe auf, Treppe ab, wie
vordem. In einigen Gemä chern duftete es von wohlriechenden Essenzen,
in anderen wehte mich eine eisige Luft und Modergeruch an, so daß es
mich fröstelte bis ins Mark. Endlich löste man mir die Binde von meinen
Augen. Ich befand mich in einem glänzend erleuchteten Saal. Prachtvolle
Kronleuchter hingen von der getäfelten, mit goldenen Stuckaturen
gezierten Decke hernieder, fein polierte Möbel standen rings umher,
Spitzenvorhänge in reichen Falten verhüllten die Fensternischen. Die
Fenster selbst waren mit Läden nicht verschlossen.
Auf den mit figurenreichem Damast gedeckten Tischen strotzten Schüsseln
mit Backwerk, Südfrüchten und allerlei Leckerbissen, über
Spiritusflammen dampften aus silbernen Kannen die Wohlgerüche echten
chinesischen Tees, zahllose Flaschen von verschiedener Gestalt und
Farbe und Etikette ließen hier lukullische Genüsse ahnen. Viele Herren
und Damen gingen aus und ein. Die einen wählten am Tisch eine
Erfrischung, die anderen plauderten in einer Nische, hier unterhielt
sich eine Gruppe lebhaft, dort schien ein einzelner in Nachdenken
versunken. Einige der üppig gekleideten Frauenpersonen nebst einigen
Herren kamen auf mich zu und nötigten mich sehr dringend, Erfrischungen
zu nehmen, doch ich schlug alle ihre zudringlichen Bitten mit der
Entschuldigung aus, daß ich am Morgen noch die heilige Messe lesen
wolle und es schon nachts zwei Uhr sei. Im Grunde aber konnte ich mich
eines peinigenden Verdachtes nicht erwehren. Sind ja Gift und Dolch
Schwester und Bruder. Man drang nicht weiter in mich. Als ich mich aber
zum Weggehen aus der mir so unheimlichen Umgebung anschickte, gesellten
sich einige Herren, aber nicht die vorigen, zu mir, leiteten mich
mehrere Stufen hinab, verhüllten mir wieder die Augen und setzten mich
in einen bereit stehenden Wagen. Nach mehrstündiger Fahrt, bald auf dem
Pflaster, bald auf weicherem Untergrund, hielt der Wagen an. Schweigend
wie bei der ganzen langen Fahrt, hoben mich meine Begleiter aus dem
Wagen, führten mich einige Schritte und setzten mich auf einen eisernen
Gegenstand. War es eine Guillotine, war es ein eiserner Rost oder sonst
ein Marterwerkzeug? Jeden Augenblick erwartete ich, daß entweder ein
Fallbeil meinen Kopf vom Rumpf trennte, oder ein Dolchstoß mein Herz
durchbohrte, oder eine Kugel mir den Garaus machte. Schweißtropfen
rannen mir von Stirn und Schläfen, und doch wehte mich eine eisige Luft
an. Eine Stunde mochte ich in Todesangst regungslos so dagesessen
haben, ohne daß der erwartete Tod mich traf. Erleichtert atmete ich
auf, und da ich bei gespanntester Aufmerksamkeit ringsum weder Tritte,
noch menschliche Stimmen vernahm, lüftete ich ein wenig die Binde von
meinen Augen.
Ich war allein. Rasch warf ich die Binde weg, sprang von dem eisernen
Gartenstuhl auf und schaute in der beginnenden Morgendämmerung rings um
mich her. Es war ein sorgfältig gepflegter Garten mit Blumen und
Gemüsebeeten, mit Anpflanzungen von jungen Bäumen und Ziersträuchern,
die jetzt freilich ihren Winterschlaf hielten. Unmittelbar vor mir
stand ein Treibhaus mit zahlreichen Topfgewächsen. Ich ging hinein, um
einen Ausweg auf die Straße zu suchen. Die Seitentür führte mich aber
in ein anderes Gemach, wo Schaufeln, Rechen, Gießkannen und dergleichen
Gartengerätschaften umher standen. Der Eingangstür gegenüber gewahrte
ich eine andere Tür, die in ein freundliches Häuschen führte. Ich
klopfte an, und eine junge Frau öffnete, verwundert, schon in früher
Dämmerstunde Besuch zu erhalten. Ich entschuldigte mich, daß ich so
früh störe, ich sei zu einem Sterbenden gerufen und müsse mich hier
verirrt haben, verschwieg aber wohlweislich, auf welche Art ich hierher
geraten sei, weil ich befürchtete, die Bewohner dieses Häuschens
möchten mit dem Geheimbund in Gemeinschaft stehen. Die Frau rief ihren
Mann herbei und bedeutete ihm: "Dieser hochwürdige Herr Abbe hat sich
verirrt und wünscht Auskunft." "Wo befinde ich mich denn eigentlich?"
fragte ich etwas Schüchtern "Drei Wegstunden von Paris" antwortete der
kräftige junge Mann. Ich war betroffen und wusste für den Augenblick
nichts zu sagen. "Drei Wegstunden von Paris!" murmelte ich mechanisch
nach und versenkte mich in Nachdenken. "Wünschen Euer Hochwürden
schnell nach Paris zu kommen?" fuhr der Gärtner fort "so steht ihnen
mein Wägelchen zu Diensten, vorausgesetzt, daß Sie es nicht
verschmähen, auf meinem nicht ganz bequemen Fahrzeug neben mir Platz zu
nehmen. Sogleich fahre ich in die Hauptstadt, wo ich täglich Gemüse und
Blumen zu Markte bringe." Dankbar nahm ich das freundliche Anerbieten
des treuherzigen Gärtners an, nicht aber die Einladung der Frau, vorher
mit ihrem Mann eine Tasse Kaffee zu trinken, den sie eben dampfend auf
den Tisch setzte. Ich litt einen brennenden Durst; dennoch konnte ich
mich nicht entschließen, denselben zu löschen, weil ich durch die
Erlebnisse der letzten Nacht misstrauisch geworden bin, selbst gegen
solche, welche dem Anschein nach eines größeren Vertrauens würdig
gewesen wären.
In früher Morgenstunde kam ich auf dem Gemüsewägelchen nach Paris und
zu meiner Wohnung. Die heilige Messe las ich an jenem Morgen nicht,
weil ich allzu aufgeregt war. Körperlich erschöpft und im Geiste sehr
niedergeschlagen, warf ich mich in einen Sessel. Öfters rieb ich mir
die Stirn, um mich zu überzeugen, ob ich wache oder schlafe. Die
Erlebnisse der letzten Nacht kamen mir wie ein Traum vor, und doch
waren sie nur allzu wahr. Am folgenden Morgen las ich die heilige Messe
für das unglückliche Opfer des Geheimbundes in der nahe gelegenen
Klosterkirche de SacreCoeur. Als ich die Kirche nach gehaltener
Danksagung wieder verlassen wollte, fragte mich die Oberin des
Klosters, mit welcher ich noch zu sprechen hatte, ob mir etwas fehle,
ich sähe sehr verstört lind angegriffen aus. Anfangs gab ich eine
ausweichende Antwort. Da ihr diese nicht zu genügen schien, gestand ich
ein, daß mir etwas Außergewöhnliches widerfahren sei, erklärte mich
aber erst dann bereit, ihr meine Erlebnisse mitzuteilen, nachdem sie
mir mit einem Eidschwur versichert haue, es niemanden, wer es auch sein
möge, wieder zu erzählen. Als die Oberin mit vielen Zeichen des
Erstaunens und Entsetzen meinen Bericht angehört hatte, teilte sie mir
unter Tränen mir, daß die Tochter des Ermordeten sich als Nonne in
demselben Kloster befinde und sehr viel für ihren teuren Vater bete,
weil sie wisse, daß er Mitglied des Geheimbundes sei. Sie werde durch
die Nachricht von der Bekehrung ihres unglücklichen Vaters sehr erfreut
und erbaut werden. Ich konnte mich aber aus Furcht vor Nachstellungen
noch nicht entschließen, ihr jetzt schon diesen Trost zu gewähren, und
ließ alle Vorstellungen und Bitten der Oberin unbeachtet. Am heiligen
Christfest, dem zweiten Tag nach jenem Ereignis, grübelte ich wieder
über die seltsame Geschichte nach. Ohne es zu wollen, fällt mein Blick
auf eine Pariser Zeitung, worin verschiedene Todesfälle angezeigt
waren, unter anderen auch solche von Personen, welche unbekannt und in
der Morgue, einem Gebäude zur Aufbewahrung aufgefundener Leichen,
aufgestellt waren. Sogleich springe ich auf und eile zur Morgue. Dort
finde ich sechs Leichen, aber keine, die dem Unglücklichen, den ich
suchte, ähnlich ist. Enttäuscht und missmutig wollte ich den Saal
wieder verlassen. Noch einmal lasse ich meine Augen umherschweifen. Da
bemerkte ich an der Wand mir bekannte Kleidungsstücke und an einem
Bande hängt meine kostbare Reliquie vom Heiligen Kreuz. Noch schärfer
als vorher mustere ich die Leiche, welche neben jenen Kleidungsstücken
lag. Wirklich, es war die Leiche des Verfemten, freilich durch den Tod
sehr entstellt, aber die charakteristischen Züge waren noch erkennbar.
Um mich vollständig zu überzeugen, schlug ich die Decke ein wenig
zurück und legte Hals und Schulter bloß. Richtig, am Hals zeigten sich
zwei Löcher, vom etwas weiter als im Nacken.
Beide Halsadern waren durchstochen. Der Aufseher kam näher und fragte
mich neugierig: "Suchen Sie unter den Toten einen Bekannten?" "Ich habe
Medizin studiert, „ entgegnete ich ausweichend, "und finde mein
Vergnügen daran, die Todesart der Verunglückten kennenzulernen." Ich
hatte nicht gelogen; denn wirklich hatte ich Arzneiwissenschaft
studiert, und sie kommt mir in den Missionen gut zustatten. "Dieser
Herr“, bemerkte der Aufseher, "wurde aus der Seine gezogen und muss
darin ertrunken sein." Ich schwieg, um nicht meine bessere Überzeugung
zu verraten, und ließ jenen Menschen bei seiner Meinung. Mehrmals kam
ich in Versuchung, die wertvolle Reliquie wieder an mich zu nehmen,
allein die Angst, mich zu verraten, und anderseits die Vermutung, man
werde doch gewiss nicht das Heilige entweihen, hielten mich zurück, das
teure Kleinod wieder zu mir zu stecken. Wie ich versprochen hatte, las
ich auch am nächsten Morgen die heilige Messe in jenem Kloster. Danach
kam an der Pforte eine der Nonnen zu mir und bat mich mit unterdrücktem
Schluchzen und hervorbrechenden Tränen: "Seien Sie gütigst im heiligen
Opfer und in Ihren Gebeten meines unglücklichen Vaters eingedenk!"
"Darf ich fragen, welches Schicksal Ihren Vater getroffen hat?" "Ach",
erwiderte sie "ich habe meinen teuren Vater verloren, zweimal verloren,
für Zeit und Ewigkeit! Hätte ihn der Tod im Stand der Gnade ereilt, ich
würde den Verlust verschmerzen können, aber nach einem gottentfremdeten
Leben so plötzlich zu sterben o es ist entsetzlich, schrecklich! Ach,
könnte ich die Seele meines sonst so guten Vaters retten, ich wollte
gern bis zum jüngsten Tag im Jenseits alle Qualen erdulden. Alle
Krankheiten, Gebrechen, Leiden und Drangsale dieser Erde, alle
Höllenqualen wollte ich sogleich auf nehmen, wenn ich dadurch seine
Seele retten könnte!" ,,Trösten Sie sich, Schwester! Der sterbende
Erlöser hat sich des Schächers in letzter Stunde erbarmt. Ihre
inbrünstigen Bitten werden auch Ihrem Vater zugute gekommen." "Daran
muss ich zweifeln", bemerkte die Nonne kopfschüttelnd; "denn mein Vater
gehörte einem Geheimbund an, dessen Mitglieder im Sterben jeden
geistlichen Trost abweisen." „Und wenn Ihr Vater dennoch vor seinem Tod
die Tröstungen der Religion empfangen hätte!?" warf ich ein. Ungläubig
und hoffnungslos blickte mich die Nonne an. Da zog ich meine
Brieftasche hervor und hielt ihr die letzte Seite vor. Ihre Augen
wurden verklärt, sie verschlang die Worte, presste sie innig an ihre
Lippen, und auf die Knie niedersinkend, streckte sie ihre Arme aus, und
mit ihren tränenvollen Augen zum Himmel blickend, rief sie mit lauter,
freudig erregter Stimme: "Gott sei ewig Dank, mein Vater ist gerettet!"
(Frbg. Kirchbl. Nr. 16 und 17, 1873)
Weiterführende Themen:
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Jeder Atemzug sei Anbetung!
"Gott liebt dich.
Er ist die Liebe. Rede es dir vor, schreibe es auf, singe davon,
dann wird dein Herz von der Liebe Gottes überflutet und du LEBST".
Zähler und Statistik
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