Erdbeben, Tsunami und Atom?katastrophe in Japan haben viel?fach die Frage aufkommen lassen: Wie kann ein gütiger Gott so etwas zulassen, wenn Er doch allmächtig ist? Im folgenden der Versuch einer Antwort.
In Ihrem Buch L’Enigme du mal (Das Rätsel des Bösen) übernehmen Sie die Verteidigung Gottes. Braucht Er denn einen Anwalt?
Paul Clavier:
Eigentlich brauchen eher wir einen guten Anwalt, einen Verteidiger,
wenn es darum gehen wird, Ihn um Verzeihung zu bitten für alle Eseleien,
die wir auf Seine Kosten erfinden. Nun aber ernsthaft: Die Vorstellung,
man müsse die Verteidigung der„ Sache Gottes“ übernehmen, ist nicht
neu. Angesichts der Fülle von natürlichen und verbrecherischen
Katastrophen wird Gott regelmäßig mangelnder Hilfeleistung für
gefährdete Personen verdächtigt. Schon im 4. Jahrhundert findet man
diese Frage bei Lactantius, dann bei Leibnitz (mit seiner berühmten
Theodizee aus 1710). Die Frage wurde noch aktueller anläßlich des
schrecklichen Erdbebens 1755 in Lissabon.
Das 20. Jahrhundert mit
seinem Horrorzyklus, dessen Symbol die Schoa geworden ist , rückt diese
Frage wieder in den Vordergrund. Tsunamis, Völkermorde, Massaker,
Überschwemmungen… Welcher Gott kann solche Katastrophen zulassen? Eine –
mittlerweile gut etablierte – Antwort vereinigt Gläubige und
Ungläubige: Entweder existiert Gott nicht oder – sollte es Ihn geben –
Er ist nicht allmächtig. Gott läßt das Böse geschehen, weil Er nicht
anders kann. Gottes Ohnmacht zu verkünden, ist gern gesehen.
Ein
Gott jedoch, der eine Welt erschaffen hätte ohne Gewähr dafür, daß Er
stärker als das dort stattfindende Böse ist, muß als unverantwortlich
oder leichtsinnig bezeichnet werden.
Wie lösen Sie dann den Widerspruch zwischen einem scheinbar triumphierenden Bösen und einem Gott, dem man Allmacht unterstellt?
Clavier:
Ich behaupte nicht, ihn zu lösen. Mein Vorschlag: einen verlockenden,
aber letztlich verheerenden Ansatz zu verhindern, der darin besteht zu
sagen: Letztlich läßt Gott das Böse geschehen, weil Er nicht
einzugreifen vermag. Vergessen wird dabei, daß Gott andere Perspektiven
haben könnte, als alle unsere Wünsche – selbst die berechtigten (was
irdischen Erfolg und Sicherheit betrifft) – zu befriedigen. Seit dem hl.
Augustinus erklärt die katholische Tradition, ,,der allmächtige Gott
... könnte (…) unmöglich irgend etwas Böses in Seinen Werken dulden,
wenn er nicht dermaßen allmächtig und gut wäre, daß Er auch aus dem
Bösen Gu?tes zu ziehen vermöchte.“
Das heißt nicht, daß Gott von den
Folterungen, den Völkermorden und den Tsunamis unberührt bleibt. Das
Buch der Weisheit (2,23f) verkündet: „Gott hat den Menschen zur
Unvergänglichkeit erschaffen (…) Doch durch den Neid des Teufels kam der
Tod in die Welt…“ Auch Jesus spricht in dem Gleichnis vom Unkraut, das
den Weizen zu ersticken droht: „Das hat ein Feind von mir getan.“ (Mt
13,28) Gott respektiert das Werk der freien und verantwortlichen
Geschöpfe. Ja, Gott läßt den Weizen mit dem Unkraut wachsen…
Wenn
man bedenkt, wie schwerwiegend und zahlreich die begangenen Verbrechen
sind – hätte Gott da nicht mit Wundern eingreifen müssen? Der Philosoph
Hans Jonas schreibt: Die einfache Tatsache, daß es die menschliche
Freiheit gibt, bedeutet einen Verzicht auf göttliche Macht.
Clavier:
Daß Gott aus freien Stücken darauf verzichtet zu intervenieren, wenn
der Mensch seine Freiheit nützt, ist sicher. Aber bedeutet dies
gleichzeitig, man könne ernsthaft sagen, Gott gebe damit schlicht und
einfach Seine Allmacht aus der Hand? Das würde doch bedeuten, daß die
Welt nunmehr auf sich selbst gestellt funktioniert, unabhängig von Gott.
Merkwürdig! In diesem Fall wäre Gott natürlich an nichts schuld. Wie
sollte man da mit Ihm rechnen? Dann ist Er nichts anderes als ein
Idealbild von Liebe und Gerechtigkeit, ohne in der Welt gegenwärtig zu
sein. Und selbst wenn dies vorstellbar wäre, würde das Gott nicht
entlasten: Er wäre eine Art Zauberlehrling, unfähig, seine Erfindung zu
bändigen.
Man handelt weiser und demütiger, wenn man annimmt, Gott
übe Seine Allmacht nicht in derselben Weise aus, wie wir es täten. Ich
denke an die eindeutigen Worte Christi bei Seiner Verhaftung: „Steck
dein Schwert in die Scheide (…) Glaubst du nicht, mein Vater würde mir
sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, …“ (Mt 26,52f) Wenn
Gott nicht einschreitet, so nicht, weil Er es nicht vermag, sondern weil
Er es nicht will…
Was
soll man aber von einem Vater oder einer Mutter denken, die wirksam
handeln könnten, aber ihr Kind foltern, mißbrauchen und umbringen
lassen, ohne einzugreifen?
Clavier: Solche Eltern wären
selbstverständlich kriminell. Eltern tragen jedoch vor Gott und der
Gesellschaft Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder. Aber Gott:
wem gegenüber ist Er verantwortlich? Was schuldet Er uns? Die
Gesundheit? Die absolute Sicherheit? Vollkommenen Schutz vor Bosheit und
Grausamkeit? Gott ist nicht im selben Sinn Vater wie der Elternteil und
nicht in der gleichen Art verantwortlich, Böses, das Er verhindern
könnte, abzuhalten. Denn Er ist Gott, unser Schöpfer. Die Eltern sind
nur Mit-Schöpfer. Hätte Gott uns Freiheit geschenkt und darauf geachtet,
unsere Handlungen zu neutralisieren, sobald sie fehlgeleitet sind,
wären wir bloße Marionetten. Würde Gott jeder bösen Tat hier auf Erden
Einhalt gebieten, gäbe es keinerlei moralische Verantwortung mehr…
Ist der allmächtige nicht ein Widerspruch zum liebenden Gott?
Clavier:
Nein: Es ist eben die Liebe, die allmächtig ist, die „alles erträgt“.
Die wahre Macht besteht nicht darin, alles zu beseitigen, was ihr
entgegensteht.
Sie laden zu einer originellen Betrachtung der Allmacht Gottes ein. Können Sie das zusammenfassen?
Clavier:
Um die Gedanken über diese schmerzliche Frage etwas fröhlicher zu
gestalten, lade ich zu folgendem – vom Film Bruce allmächtig
inspirierten – Gedankenexperiment ein: Hätten wir absolute Vollmacht,
wie würden wir sie ausüben? Welche Krankheiten würden wir ausrotten?
Welche Verbrechen verhindern? Ab wie vielen Opfern würden wir
eingreifen? Wo läge unsere Toleranzschwelle? Warum nicht früher
eingreifen? Warum diese Krankheit, nicht jene andere? Warum jene Opfer
dieses Krieges – und nicht die anderen? Und vor allem: Könnten wir das
alles tun, ohne gleichzeitig die menschliche Freiheit und
Verantwortlichkeit zu zerstören?
Ich lade die Leser ein, sich
ehrlich diese Fragen zu stellen. Sie haben mich nämlich davon
abgebracht, Gott zu belehren und den Schluß zu ziehen: Weil Er nicht so
einschreitet, wie ich versucht wäre, es zu tun, müsse er wohl ohnmächtig
sein. Es geht vielmehr darum zu erkennen, daß Gott Seine Allmacht nicht
so ausübt, wie wir es täten, nämlich – seien wir ehrlich: indem wir
unsere Feinde zusammenschlagen.
Was ist nun Ihre Schlußfolgerung? Haben Sie das Rätsel des Bösen gelöst?
Clavier:
Den Anspruch habe ich nicht. Ich wollte nur Irrwege aufzeigen. Es ist
mir nicht unbekannt, daß hinter diesem Rätsel das tiefe Geheimnis des
Gehorsams, einer ursprünglichen Revolte in der Schöpfung liegt. Aber was
bringt es, wenn man aus Gott einen Greis macht, der unfähig der
Zerstörung Seines Werkes zusieht? Das tröstet niemanden. Schlimmer noch:
Es zerstört jede Hoffnung. Vergessen wir nämlich nicht: Auf dem Spiel
steht die Hoffnung auf Befreiung aus Tod und Sünde.
Mich
beeindruckt, daß die Märtyrer Israels ihre Hoffnung immer aus der
Verkündigung der Größe Gottes bezogen haben. Nur Er, der uns aus dem
Nichts geschaffen hat und der in Seiner Allmacht alles in Händen hält,
kann uns retten. Jedes andere Heilsversprechen ist Phantasie.
Ich
denke da an Thomas Morus: ,Es kann nichts geschehen, was Gott nicht
will. Was immer er aber will, so schlimm es auch scheinen mag, es ist
für uns dennoch wahrhaft das Beste". Sicher, das ist schwer verdaulich –
aber sind das nicht alle unsere Prüfungen auch? Dann aber stehen wir
sie doch lieber mit guten Gründen der Hoffnung durch.