Wer den Text des sogenannten dritten “Geheimnisses"
von Fatima aufmerksam liest, wird nach allen vorangegangenen
Spekulationen vermutlich enttäuscht oder verwundert sein. Keine großen
Geheimnisse werden enthüllt, der Vorhang vor der Zukunft wird nicht
aufgerissen. Wir sehen im Zeitraffer die Kirche der Märtyrer des nun
abgelaufenen Jahrhunderts in einer schwer deutbaren Symbolsprache
zusammengefaßt. Ist es nun das, was die Mutter des Herrn der
Christenheit, der Menschheit in einer Zeit großer Fragen und
Bedrängnisse kundgeben wollte? Hilft es uns im Anbruch des neuen
Jahrtausends? Wie sollen wir die Vision verstehen, was von ihr halten?
Zuerst sind Klärungen darüber notwendig, wie nach der
Lehre der Kirche Phänomene wie dasjenige von Fatima grundsätzlich in
das Glaubensleben einzuordnen sind. Die Lehre der Kirche unterscheidet
zwischen der “öffentlichen Offenbarung" und den “Privatoffenbarungen",
zwischen denen nicht nur ein gradueller, sondern ein wesentlicher
Unterschied besteht.
“Öffentliche Offenbarung" bezeichnet das der ganzen
Menschheit zugedachte Offenbarungshandeln Gottes, das seinen
Niederschlag in der zweiteiligen Bibel aus Altem und Neuem Testament
gefunden hat. “Offenbarung" heißt es, weil Gott darin sich selbst
Schritt um Schritt den Menschen zu erkennen gegeben hat, bis zu dem
Punkt hin, da er selbst Mensch wurde, um durch den menschgewordenen Sohn
Jesus Christus die ganze Welt an sich zu ziehen und mit sich zu
vereinigen. Es handelt sich also nicht um intellektuelle Mitteilungen,
sondern um einen Prozeß des Lebens, in dem Gott auf die Menschen zugeht.
... In ihm (Jesus Christus, Anm.) hat Gott alles,
nämlich sich selbst gesagt, und deswegen ist die Offenbarung mit der
Gestaltwerdung des Christusgeheimnisses im Neuen Testament
abgeschlossen. “Seit er uns seinen Sohn geschenkt hat, der sein Wort
ist, hat Gott uns kein anderes Wort zu geben. Er hat alles zumal in
diesem einen Worte gesprochen ... Denn was er ehedem nur stückweise zu
den Propheten geredet, das hat er nunmehr im ganzen gesprochen, indem er
uns das Ganze gab, nämlich seinen Sohn. Wer demnach jetzt noch ihn
befragen oder von ihm Visionen oder Offenbarungen haben wollte, der
würde nicht bloß unvernünftig handeln, sondern Gott geradezu beleidigen,
weil er seine Augen nicht einzig auf Christus richten würde, ohne
jegliches Verlangen nach anderen oder neuen Dingen". (Johannes vom
Kreuz, KKK 65)
Trotz der abgeschlossenen, für die Kirche bindenden
Offenbarung “ist ihr Inhalt nicht vollständig ausgeschöpft; es bleibt
Sache des christlichen Glaubens, im Lauf der Jahrhunderte nach und nach
ihre ganze Tragweite zu erfassen" (KKK 66). Durch die Verheißung des
Heiligen Geistes durch Jesus und dessen Sendung werden die Menschen in
“die immer unabgeschlossene Weite und Tiefe des christlichen Glaubens"
auf dreierlei Weise geführt: Durch Betrachtung und Studium der
Gläubigen, durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt,
und durch die Verkündigung derer, “die mit der Nachfolge im Bischofsamt
das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben" (II Vatikanum, Dei
Verbum). Hingegen sagt der KKK über die Privatoffenbarungen, daß sie
nicht dazu da sind, “die endgültige Offenbarung Christi zu
vervollkommnen", sondern helfen sollen, “in einem bestimmten Zeitalter
tiefer aus ihr zu leben". (KKK 67).
Die öffentliche Offenbarung fordert unseren Glauben
an, denn in ihr spricht durch Menschenworte und durch die Vermittlung
der lebendigen Gemeinschaft der Kirche Gott selbst zu uns. Ich begegne
der Wahrheit selbst und damit einer Sicherheit, die in keiner
menschlichen Form von Erkenntnis sonst vorkommen kann. Es ist die
Gewißheit, auf die ich mein Leben baue und der ich im Sterben traue.
Die Privatoffenbarung ist eine Hilfe zu diesem
Glauben, und sie erweist sich als glaubwürdig gerade dadurch, daß sie
mich auf die eine, öffentliche Offenbarung verweist. So kann eine solche
Botschaft eine wertvolle Hilfe sein, das Evangelium in der jeweils
gegenwärtigen Stunde besser zu verstehen und zu leben; deswegen soll man
sie nicht achtlos beiseite schieben. Sie ist eine Hilfe, die angeboten
wird, aber von der man nicht Gebrauch machen muß.
Wahrheit und Wert einer Privatoffenbarung sind ihre
Hinordnung auf Christus selbst. Wenn sie uns von ihm wegführt, wenn sie
sich verselbständigt oder sich als eine bessere Ordnung, als wichtiger
als das Evangelium ausgibt, dann kommt sie sicher nicht vom Heiligen
Geist, der uns in das Evangelium hinein- und nicht aus ihm herausführt.
Das schließt nicht aus, daß eine Privatoffenbarung neue Akzente setzt,
daß sie neue Weisen der Frömmigkeit herausstellt oder alte vertieft und
erweitert. Aber in alledem muß es doch darum gehen, daß sie Glaube,
Hoffnung und Liebe nährt, die der bleibende Weg des Heils für alle sind.
Zu allen Zeiten ist der Kirche das Charisma der
Prophetie gegeben, die geprüft werden muß, aber auch nicht verachtet
werden darf. Prophetie im Sinn der Bibel bedeutet aber nicht
Wahrsagerei, sondern Deutung von Gottes Willen für die Gegenwart, die
auch den rechten Weg in die Zukunft zeigt. Der Wahrsager antwortet auf
die Neugier des Verstandes um die Zukunft; der Prophet begegnet der
Blindheit des Willens und des Denkens und macht Gottes Willen als
Anspruch und Wegweisung für die Gegenwart deutlich. Das Moment der
Vorhersage von Zukünftigem ist dabei sekundär. Wesentlich ist die
Vergegenwärtigung der einen Offenbarung. Das prophetische Wort ist
Ermahnung oder auch Tröstung oder beides ineinander. In den von der
Kirche anerkannten Privatoffenbarungen - also auch in Fatima - geht es
darum: uns die Zeichen der Zeit verstehen zu helfen und auf sie die
richtige Antwort im Glauben zu finden.
Das Schlüsselwort des 3. Teiles hingegen ist der
dreimalige Ruf: Buße, Buße, Buße! Die Zeichen der Zeit verstehen heißt,
die Dringlichkeit von Buße - Umkehr - Glaube zu begreifen. Das ist die
richtige Antwort auf den historischen Augenblick, der von großen
Gefahren umstellt ist, die in den folgenden Bildern gezeichnet werden.
Sr. Lucia selbst sagte, daß “das Ziel der ganzen Erscheinungen gewesen
sei, mehr in Glaube, Hoffnung und Liebe einzuüben - alles andere sei nur
Hinführung dazu".
Der Engel zur Linken der Muttergottes stellt die
Gerichtsdrohung für die Welt dar (vgl. Geheime Offenbarung des
Johannes). Daß die Welt in einem Flammenmeer verbrennen könnte, ist
heute keine bloße Phantasie mehr, hat doch der Mensch das Flammenschwert
mit seinen Erfindungen bereitgestellt. Als Gegenkraft zur Macht der
Zerstörung zeigt die Vision einerseits den Glanz der Muttergottes und
andererseits den Ruf zur Buße. Damit wird die Freiheit des Menschen
angesprochen, da die Vision der Kinder kein im voraus aufgenommener Film
einer nicht mehr änderbaren Zukunft ist, sondern vielmehr die Kräfte
der Veränderung zum Guten hin mobilisieren soll. Die Vision spricht ganz
klar von Gefährdungen und vom Weg der Heilung. Gott wird als
unmeßbares, unser Sehen überschreitendes Licht gezeigt, die Menschen
hingegen erscheinen wie in einem Spiegel. Das Künftige zeigt sich nur in
“Spiegel und Gleichnis" (vgl. 1 Kor 13, 12). Drei Symbole beschreiben
den Ort des Geschehens: ein steiler Berg und die halb in Trümmern
liegende Stadt sind Symbol für die Orte der menschlichen Geschichte als
Aufstieg zur Höhe, als Orte menschlichen Aufbauens und Zusammenlebens,
aber auch Ort der Zerstörung durch den Menschen selbst. Das Kreuz auf
dem Gipfel ist der Ziel- und Orientierungspunkt der Geschichte, wo
Zerstörung in Rettung umgewandelt wird. Die Menschen, allen voran der
weißgekleidete Bischof - der Papst - zeigen den Kreuzweg der Kirche in
einem Jahrhundert der Gewalt, der Zerstörungen und Verfolgungen, der
Weltkriege und vieler lokaler Kriege - ein Jahrhundert der Märtyrer. Wie
die Orte der Erde in den beiden Bildern von Berg und Stadt
zusammengeschaut und auf das Kreuz hingeordnet sind, so sind auch die
Zeiten zusammengezogen. So dürfen im mühsamen, leidvollen Aufstieg
mehrere Päpste des 20. Jahrhunderts, von Pius X. bis zum gegenwärtigen
Papst, zusammengefaßt gesehen werden, die alle auf ihre Weise auf dem
Leidensweg der Kirche zum Kreuz vorangingen. In der Ermordung des
Papstes in der Vision durfte Johannes Paul II. nach dem Attentat am 13.
Mai 1981 sein eigenes Geschick erkennen. Sehr nahe an der Grenze des
Todes war es “eine mütterliche Hand, die die Flugbahn der Kugel leitete
und es dem Papst, der mit dem Tode rang, erlaubte, an der Schwelle des
Todes stehenzubleiben". Das zeigt aber auch, daß es kein unabänderliches
Geschick gibt, daß Glaube und Gebet Mächte sind, die in die Geschichte
eingreifen können, und daß am Ende das Gebet und der Glaube stärker sind
als Macht und Gewalt.
Engel fangen unter den Kreuzesarmen das Märtyrerblut
auf und tränken damit die Seelen, die sich auf den Weg zu Gott machen.
Das Blut Christi und das Blut der Märtyrer werden hier zusammengeschaut,
die Märtyrer ergänzen für den Leib Christi, was an seinem Leiden noch
fehlt (Kol 1, 24). Ihr Blut ist Samen christlicher Existenz. Wie aus dem
Tod Christi, aus seiner geöffneten Seite die Kirche entstand, so ist
das Sterben der Zeugen fruchtbar für das weitere Leben der Kirche. Die
an ihrem Anfang so bedrückende Vision des dritten Geheimnisses schließt
also mit einem Bild der Hoffnung: Kein Leiden ist umsonst, gerade eine
leidende Kirche wird zum Wegzeichen auf der Suche der Menschen nach
Gott.
Die Muttergottes hat durch ihre Zustimmung zum
Heilsgeschehen, durch ihr “Fiat" die Weltgeschichte gewendet, weil ihr
Herz den Retter eingelassen hat in diese Welt, weil im Raum ihres “Ja"
Gott Mensch werden konnte. Wenn auch unsere Freiheit sich durch das Böse
immer wieder von Gott abdrängen läßt - seit Gott selbst ein
menschliches Herz und so die Freiheit des Menschen ins Gute, auf Gott
zu, gewendet hat, hat die Freiheit zum Bösen nicht mehr das letzte Wort.
Seitdem gilt: “In der Welt werdet ihr Drangsale haben, aber seid
getrost, ich habe die Welt überwunden" (Joh 16, 33).
So ist das Geheimnis von Fatima keine sensationelle
Enthüllung über apokalyptische, zukünftige Vorgänge und ungeeignet für
unsere Neugier, die selten zu Gebet und Umkehr führt. Aber gerade das
bedeutet Fatima in seiner Gesamtheit: Führung zum Gebet als Weg zur
Rettung der Seelen und im gleichen Sinn Hinweis auf Buße und Bekehrung.