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† Gott ist die Liebe - Er liebt dich †
Gott ist der beste und liebste Vater, immer bereit zu verzeihen, Er sehnt sich nach dir, wende dich an Ihn
nähere dich deinem Vater, der nichts als Liebe ist. Bei Ihm findest du wahren und echten Frieden, der alles Irdische überstrahlt
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Evangelium Vitae
Ioannes Paulus PP. II
Evangelium vitae
An die Bischöfe, Priester und Diakone
die Ordensleute und Laien
sowie an alle Menschen guten Willens
über den Wert und die Unantastbarkeit
des menschlichen Lebens
1995.03.25
EINFÜHRUNG
1. Das Evangelium vom Leben liegt der Botschaft Jesu am Herzen. Von der
Kirche jeden Tag liebevoll aufgenommen soll es mit beherzter Treue als
Frohe Botschaft allen Menschen jeden Zeitalters und jeder Kultur verkündet
werden.
Am Beginn des Heils steht die Geburt eines Kindes, die als frohe
Nachricht verkündet wird: »Ich verkünde euch eine große Freude, die dem
ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der
Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (Lk 2, 10-11). Gewiß
ist es die Geburt des Erlösers, die diese »große Freude« ausstrahlt; aber
zu Weihnachten wird auch der volle Sinn jeder menschlichen Geburt
offenbar, und die messianische Freude erscheint so als Fundament und
Erfüllung der Freude über jedes Kind, das geboren wird (vgl. Joh
16, 21).
Den zentralen Kern seines Erlösungsauftrags stellt Jesus mit den Worten
vor: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh
10, 10). Tatsächlich bezieht Er sich auf jenes »neue« und »ewige«
Leben, das in der Gemeinschaft mit dem Vater besteht, zu der jeder Mensch
im Sohn durch das Wirken des heiligmachenden Geistes unentgeltlich gerufen
ist. Doch eben in diesem »Leben« gewinnen sämtliche Aspekte und Momente
des Lebens des Menschen ihre volle Bedeutung.
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Der unvergleichliche Wert der
menschlichen Person
2. Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die
Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe
am Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen
Berufung enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen
Lebens auch in seinem zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der
Zeit ist Grundvoraussetzung, Einstiegsmoment und integrierender
Bestandteil des gesamten einheitlichen Lebensprozesses des menschlichen
Seins. Eines Prozesses, der unerwarteter- und unverdienterweise von der
Verheißung erleuchtet und vom Geschenk des göttlichen Lebens erneuert
wird, das in der Ewigkeit zu seiner vollen Erfüllung gelangen wird (vgl.
1 Joh 3, 1-2). Zugleich unterstreicht diese übernatürliche Berufung
die Relativität des irdischen Lebens von Mann und Frau. In Wahrheit
ist es nicht »letzte«, sondern »vorletzte« Wirklichkeit; es ist also
heilige Wirklichkeit, die uns anvertraut wird, damit wir sie mit
Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe und Selbsthingabe an Gott
sowie an die Schwestern und Brüder zur Vollendung bringen.
Die Kirche weiß, dab dieses Evangelium vom Leben, das ihr von
ihrem Herrn anvertraut wurde, 1 im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht
gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet, weil es
seinen Erwartungen, während es unendlich über diese hinausgeht,
überraschenderweise entspricht. Selbst in Schwierigkeiten und
Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der in ehrlicher Weise für die
Wahrheit und das Gute offen ist, im Licht der Vernunft und nicht ohne den
geheimnisvollen Einfluß der Gnade im ins Herz geschriebenen Naturgesetz
(vgl. Röm 2, 14-15) den heiligen Wert des menschlichen Lebens vom
ersten Augenblick bis zu seinem Ende zu erkennen und das Recht jedes
Menschen zu bejahen, daß dieses sein wichtigstes Gut in höchstem Mabe
geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das menschliche
Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.
Besonders verteidigen und fördern müssen dieses Recht die
Christgläubigen im Bewußtsein der wunderbaren Wahrheit, an die das II.
Vatikanische Konzil erinnert: »Der Sohn Gottes hat sich in seiner
Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt«. 2 Denn in
diesem Heils- ereignis offenbart sich der Menschheit nicht nur die
unendliche Liebe Gottes, der »die Welt so sehr geliebt (hat), daß er
seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3, 16), sondern auch der
unvergleichliche Wert jeder menschlichen Person.
Und während die Kirche beharrlich das Geheimnis der Erlösung ergründet,
erfaßt sie mit immer neuem Staunen 3 diesen Wert und fühlt sich
aufgerufen, dieses »Evangelium«, Quelle unbesiegbarer Hoffnung und wahrer
Freude für jede Epoche der Geschichte, den Menschen aller Zeiten zu
verkünden. Das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, das
Evangelium von der Würde der Person und das Evangelium vom Leben sind ein
einziges, unteilbares Evangelium.
Der Mensch, der lebendige Mensch stellt den ersten und grundlegenden
Weg der Kirche dar. 4
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Die neuen Bedrohungen des
menschlichen Lebens
3. Jeder Mensch ist auf Grund des Geheimnisses vom fleischgewordenen
Wort Gottes (vgl. Joh 1, 14) der mütterlichen Sorge der Kirche
anvertraut. Darum muß jede Bedrohung der Würde und des Lebens des Menschen
eine Reaktion im Herzen der Kirche auslösen, sie muß sie im Zentrum ihres
Glaubens an die erlösende Menschwerdung des Gottessohnes treffen, sie muß
sie miteinbeziehen in ihren Auftrag, in der ganzen Welt und allen
Geschöpfen das Evangelium vom Leben zu verkünden (vgl. Mk
16, 15).
Heute erweist sich diese Verkündigung als besonders dringend angesichts
der erschütternden Vermehrung und Verschärfung der Bedrohungen des Lebens
von Personen und Völkern, vor allem dann, wenn es schwach und wehrlos ist.
Zu den alten schmerzlichen Plagen von Elend, Hunger, endemischen
Krankheiten, Gewalt und Kriegen gesellen sich andere unbekannter Art und
von beunruhigenden Ausmaßen.
Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von
geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen
und Angriffe gegen das menschliche Leben. Wenn ich mir nun im Abstand von
dreißig Jahren die Worte der Konzilsversammlung zu eigen mache, erhebe ich
im Namen der ganzen Kirche und in der Gewißheit, damit dem echten
Empfinden jedes reinen Gewissens Ausdruck zu verleihen, noch einmal und
mit gleichem Nachdruck klagend meine Stimme: »Was ferner zum Leben selbst
in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie
und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der
menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder
seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer
die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen,
willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution,
Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige
Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und
nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und
andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine
Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das
Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße
ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers. 5
4. Weit davon entfernt, sich einschränken zu lassen, ist dieses
beunruhigende Panorama statt dessen leider in Ausdehnung begriffen: mit
den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten
Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des
Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und
verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten
und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste
Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen
manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen
Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für
derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in
absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen
Gesundheitswesens durchzuführen.
Das alles bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der Betrachtungsweise
des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umstand, daß die
Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien
ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete
Praktiken nicht zu bestrafen oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit
zuzuerkennen, ist zugleich besorgniserregendes Symptom und keineswegs
nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall:
Entscheidungen, die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom
allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach
gesellschaftlich als achtbar betrachtet. Selbst die Medizin, die auf die
Verteidigung und Pflege des menschlichen Lebens ausgerichtet ist,
verwendet sich in einigen ihrer Bereiche immer eingehender für die
Durchführung dieser Handlungen gegen die Person und entstellt auf diese
Weise ihr Gesicht, widerspricht sich selbst und verletzt die Würde all
derer, die sie ausüben. In einem solchen kulturellen und gesetzlichen
Kontext sehen sich auch die schwerwiegenden bevölkerungsstatistischen,
sozialen oder familiären Probleme, die auf zahlreichen Völkern der Welt
lasten und eine verantwortungsvolle und rührige Aufmerksamkeit seitens der
nationalen und internationalen Gemeinschaften erfordern, falschen und
illusorischen Lösungsversuchen ausgesetzt, die zur Wahrheit und zum Wohl
der Menschen und der Nationen im Widerspruch stehen.
Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und
beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor
der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache
nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, daß selbst das Gewissen, als
wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger
darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im
Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens.
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In Gemeinschaft mit allen
Bischöfen der Welt
5. Dem Problem der Bedrohungen des menschlichen Lebens in unserer Zeit
war das außerordentliche Konsistorium der Kardinäle gewidmet, das
vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat. Nach einer umfassenden
und gründlichen Erörterung des Problems und der Herausforderungen, die
sich der ganzen Menschheitsfamilie und im besonderen der christlichen
Gemeinschaft stellen, haben mich die Kardinäle einstimmig ersucht, den
Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme
auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute
bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen.
Nach Annahme dieses Vorschlags habe ich zu Pfingsten 1991 ein
persönliches Schreiben an jeden Mitbruder gerichtet mit der Bitte, er
möge mir im Geiste der bischöflichen Kollegialität im Hinblick auf die
Erstellung eines eigenen Dokuments seine Mitarbeit zukommen lassen. 6 Ich
bin allen Bischö- fen, die geantwortet haben und mir wertvolle
Informationen, Ratschläge und Vorschläge zugehen lieben, zutiefst dankbar.
Sie haben so auch ihre einmütige und überzeugte Teilnahme am Lehr- und
Pastoralauftrag der Kirche in bezug auf das Evangelium vom Leben
unter Beweis gestellt.
In demselben Brief habe ich, wenige Tage vor der Hundertjahrfeier der
Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum, die Aufmerksamkeit
aller auf diese einzigartige Analogie gelenkt: »Wie es vor einem
Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten
unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem
diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß
sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren
grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit
unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein. Für immer hat sie sich
den Ruf des Evangeliums nach dem Schutz der Armen zu eigen gemacht, deren
Menschenrechte bedroht, mißachtet und verletzt werden«. 7
Das fundamentale Recht auf Leben wird heute bei einer großen Zahl
schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen
Kinder sind, mit Füßen getreten. Wenn die Kirche am Ende des vorigen
Jahrhunderts angesichts der damals vorherrschenden Ungerechtigkeiten nicht
schweigen durfte, so kann sie heute noch weniger schweigen, wo sich in
vielen Teilen der Welt zu den leider noch immer nicht überwundenen
sozialen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit noch schwerwiegendere
Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen gesellen, die möglicherweise mit
Elementen des Fortschritts im Hinblick auf die Gestaltung einer neuen
Weltordnung verwechselt werden.
Die vorliegende Enzyklika, Frucht der Zusammenarbeit des Episkopates
jedes Landes der Welt, will also eine klare und feste Bekräftigung des
Wertes des menschlichen Lebens und seiner Unantastbarkeit und zugleich
ein leidenschaftlicher Appell im Namen Gottes an alle und jeden einzelnen
sein: achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und
diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung,
echte Freiheit, Frieden und Glück finden!
Mögen diese Worte alle Söhne und Töchter der Kirche erreichen! Mögen
sie alle Menschen guten Willens erreichen, die um das Wohl jedes Mannes
und jeder Frau und um das Schicksal der ganzen Gesellschaft besorgt sind!
6. In tiefer Verbundenheit mit jeder Schwester und jedem Bruder im
Glauben und von aufrichtiger Freundschaft für alle beseelt, möchte ich
das Evangelium vom Leben neu überdenken und verkünden, als Glanz der
Wahrheit, das die Gewissen erleuchtet, als helles Licht, das den
verfinsterten Blick erhellt, als unerschöpfliche Quelle der Beständigkeit
und des Mutes, um den immer neuen Herausforderungen entgegenzutreten,
denen wir auf unserem Weg begegnen.
Und während ich an die im Verlauf des Jahres der Familie gesammelte
reiche Erfahrung denke, blicke ich, gleichsam als gedankliche Ergänzung
des Briefes, den ich »an jede konkrete Familie jeder Region der
Erde« 8 gerichtet hatte, mit neuem Vertrauen auf alle Hausgemeinschaften
und wünsche mir, daß auf allen Ebenen der Einsatz aller für die
Unterstützung der Familie wieder auflebe und sich verstärke, damit diese
auch heute — trotz zahlreicher Schwierigkeiten und schwerwiegender
Bedrohungen — dem Plan Gottes entsprechend immer als »Heiligtum des
Lebens« 9 erhalten bleibe.
Alle Mitglieder der Kirche, des Volkes des Lebens und für das Leben,
lade ich ganz dringend ein, miteinander dieser unserer Welt neue
Zeichen der Hoffnung zu geben, indem wir bewirken, daß Gerechtigkeit und
Solidarität wachsen und sich durch den Aufbau einer echten Zivilisation
der Wahrheit und der Liebe eine neue Kultur des menschlichen Lebens
durchsetzt.
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I. KAPITEL - DAS BLUT
DEINES BRUDERS SCHREIT ZU MIR VOM ACKERBODEN - DIE GEGENWÄRTIGEN
BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS
»Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn« (Gen
4, 8): an der Wurzel der Gewalt gegen das Leben
7. »Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am
Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen... Gott hat
den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bild seines
eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in
die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören« (Weish 1,
13-14; 2, 23-24).
Im Widerspruch zum Evangelium vom Leben, das am Anfang mit der
Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes zu einem vollen und
vollkommenen Leben (vgl. Gen 2, 7; Weish 9, 2-3) erschallte,
steht die qualvolle Erfahrung des Todes, der in die Welt kommt und
auf das ganze Dasein des Menschen den Schatten des Un-Sinnes wirft. Der
Tod kommt durch den Neid des Teufels (vgl. Gen 3, 1.4-5) und die
Sünde der Stamm- eltern (vgl. Gen 2, 17; 3, 17-19) in die Welt. Und
er kommt gewaltsam mit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain:
»Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und
erschlug ihn« (Gen 4, 8).
Dieser erste Mord wird in einer beispielhaften Episode des Buches
Genesis mit einzigartiger Beredtheit geschildert: eine Episode, die jeden
Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte
der Völker geschrieben wird.
Wir wollen miteinander diesen Passus aus der Bibel wieder lesen, der
trotz seines archaischen Charakters und seiner äußersten Schlichtheit
höchst lehrreich erscheint.
»Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte
Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel
brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der
Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute
er nicht.
Da überfiel es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr
sprach zu Kain: 'Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein
Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht
recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es
abgesehen, doch du werde Herr über ihn!?
Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als
sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.
Da sprach der Herr zu Kain: 'Wo ist dein Bruder Abel?? Er
entgegnete: 'Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?? Der
Herr sprach: 'Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir
vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen
Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders
aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag
mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.?
Kain antwortete dem Herrn: 'Zu groß ist meine Schuld, als daß ich
sie tragen könnte. Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß
mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der
Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen.?
Der Herr aber sprach zu ihm: 'Darum soll jeder, der Kain erschlägt,
siebenfacher Rache verfallen.? Darauf machte der Herr dem Kain ein
Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom
Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden« (Gen
4, 2-16).
8. Kain »überlief es ganz heiß« und sein Blick »senkte sich», weil »der
Herr auf Abel und sein Opfer schaute« (Gen 4, 4). Der biblische
Text enthüllt zwar nicht, aus welchem Grund Gott das Opfer Abels jenem
Kains vorzieht; er weist jedoch mit aller Klarheit darauf hin, daß Gott
trotz der Bevorzugung von Abels Gabe den Dialog mit Kain nicht
abbricht. Er ermahnt ihn, indem er ihn an seine Freiheit gegenüber
dem Bösen erinnert: der Mensch ist keineswegs für das Böse
vorherbestimmt. Sicherlich wird er, wie schon Adam, von der verderblichen
Macht der Sünde in Versuchung geführt, die, einer wilden Bestie gleich, an
der Pforte seines Herzens lauert und darauf wartet, über die Beute
herzufallen. Aber Kain bleibt der Sünde gegenüber frei. Er kann und er
soll Herr über sie sein: »Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr
über ihn!« (Gen 4, 7).
Eifersucht und Zorn gewinnen Oberhand über die Mahnung des
Herrn, und so greift Kain seinen eigenen Bruder an und erschlägt ihn. Im
Katechismus der katholischen Kirche lesen wir: »Im Bericht über die
Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain offenbart die Schrift, daß im
Menschen schon von Anfang seiner Geschichte an Zorn und Eifersucht als
Folgen der Erbsünde wirksam sind. Der Mensch ist zum Feind des Mitmenschen
geworden«. 10
Der Bruder tötet den Bruder. Wie beim ersten Brudermord wird bei
jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet, die die Menschen zu
einer einzigen großen Familie vereinigt, 11 da sie alle an demselben
grundlegenden Gut teilhaben: der gleichen Personwürde. Nicht selten wird
auch die Verwandtschaft »des Fleisches und Blutes« geschändet, wenn
zum Beispiel die Bedrohungen des Lebens im Verhältnis zwischen Eltern und
Kindern ausbrechen, wie es bei der Abtreibung geschieht, oder wenn im
weitesten Familien- und Verwandtenkreis die Euthanasie befürwortet oder
dazu angestiftet wird.
Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber
der »Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder
war« (Joh 8, 44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn
das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen
einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und
seinen Bruder erschlug« (1 Joh 3, 11-12). Die Ermordung des Bruders
ist also von Beginn der Geschichte an das traurige Zeugnis dafür, wie das
Böse mit beeindruckender Geschwindigkeit voranschreitet: zum Aufbegehren
des Menschen gegen Gott im irdischen Paradies gesellt sich der tödliche
Kampf des Menschen gegen den Menschen.
Nach dem Verbrechen greift Gott ein, um den Ermordeten zu rächen.
Gott gegenüber, der sich nach dem Schicksal Abels erkundigt, weicht
Kain in Überheblichkeit der Frage aus, statt sich verlegen zu zeigen und
um Verzeihung zu bitten: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines
Bruders?« (Gen 4, 9). »Ich weiß es nicht«: mit der Lüge
versucht Kain das Verbrechen zu verdecken. So ist es oft geschehen und
geschieht es, wenn Ideologien verschiedenster Art dazu dienen, um die
schrecklichsten Verbrechen gegen die Person zu rechtfertigen und zu
bemänteln. »Bin ich der Hüter meines Bruders?«: Kain will nicht an
den Bruder denken und lehnt es ab, jene Verantwortung, die jeder Mensch
gegenüber dem anderen hat, zu leben. Das läßt uns unwillkürlich an heutige
Bestrebungen denken, die den Menschen seiner Verantwortung gegenüber
seinem Mitmenschen entheben wollen; Anzeichen dafür sind unter anderem das
Nachlassen der Solidarität gegenüber den schwächsten Gliedern der
Gesellschaft, wie den Alten, den Kranken, den Einwanderern, den Kindern
gegenüber, und die häufig zu bemerkende Gleichgültigkeit in den
Beziehungen der Völker untereinander, selbst dann, wenn fundamentale Werte
wie das Überleben, die Freiheit und der Friede auf dem Spiel stehen.
9. Doch Gott kann das Verbrechen nicht ungestraft lassen: vom
Ackerboden, auf dem es vergossen wurde, verlangt das Blut des
Erschlagenen, daß Er Gerechtigkeit widerfahren lasse (vgl. Gen 37,
26; Jes 26, 21; Ez 24, 7f). Aus diesem Text hat die Kirche
die Bezeichnung »himmelschreiende Sünden« abgeleitet und in diese vor
allem den beabsichtigten Mord einbezogen. 12 Für die Juden ist, wie für
viele Völker der Antike, das Blut der Sitz des Lebens, ja »das Blut ist
Lebenskraft« (Dtn 12, 23), und das Leben, besonders das menschliche
Leben, gehört allein Gott: wer daher nach dem Leben des Menschen
trachtet, trachtet Gott selbst nach dem Leben.
Kain ist von Gott und ebenso vom Ackerboden, der ihm seinen
Ertrag verweigert, verflucht (vgl. Gen 4, 11-12). Und er wird
bestraft: er soll in der Steppe und in der Wüste wohnen. Die
mörderische Gewalttätigkeit verändert das Lebensmilieu des Menschen
tiefgreifend. Aus dem »Garten von Eden« (Gen 2, 15), einem Ort des
Überflusses, der unbeschwerten zwischenmenschlichen Beziehungen und der
Freundschaft mit Gott, wird die Erde zum »Land Nod« (Gen 4, 16),
Ort des »Elends», der Einsamkeit und der Gottferne. Kain wird »rastlos und
ruhelos auf der Erde« sein (Gen 4, 14): Unsicherheit und Unbeständigkeit
werden ihn immer begleiten.
Gott jedoch, der stets Barmherzige, auch wenn Er straft, »machte dem
Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde« (Gen
4, 15): Er versieht ihn also mit einem Zeichen, das nicht den Zweck
hat, ihn zur Verabscheuung durch die anderen Menschen zu verdammen,
sondern ihn vor allen zu schützen und zu verteidigen, die ihn töten
wollen, und wäre es auch, um den Tod Abels zu rächen. Nicht einmal der
Mörder verliert seine Personwürde, und Gott selber leistet dafür
Gewähr. Tatsächlich offenbart sich hier das paradoxe Geheimnis von der
barmherzigen Gerechtigkeit Gottes, wie der hl. Ambrosius schreibt:
»Nachdem in dem Augenblick, als sich die Sünde eingeschlichen hatte, ein
Brudermord, also das größte Verbrechen, begangen worden war, mußte sofort
das Gesetz von der göttlichen Barmherzigkeit erweitert werden; damit es
nicht geschähe, daß die Menschen, obwohl die Strafe den Schuldigen
unmittelbar getroffen hatte, beim Bestrafen weder Toleranz noch Milde
walten lassen, sondern die Schuldigen unverzüglich der Strafe ausliefern
würden. (...) Gott verstieß Kain von seinem Angesicht und verbannte den
von seinen Eltern Abtrünnigen an einen anderen Wohnort, weil er von der
menschlichen Zahmheit zur tierischen Wildheit übergegangen war. Doch Gott
wollte den Mörder nicht durch einen Mord bestrafen, da Er mehr die Reue
des Sünders will als seinen Tod«. 13
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»Was hast du getan?« (Gen
4, 10): die Verfinsterung des Wertes des Lebens
10. Der Herr sprach zu Kain: »Was hast du getan? Das Blut deines
Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gen 4, 10). Das von den
Menschen vergossene Blut hört nicht auf zu schreien, von Generation zu
Generation nimmt dieses Schreien andere und immer neue Töne und Akzente
an.
Die Frage des Herrn »Was hast du getan?«, der Kain nicht entgehen kann,
ist auch an den heutigen Menschen gerichtet, damit er sich den Umfang und
die Schwere der Angriffe auf das Leben bewußt mache, von denen die
Geschichte der Menschheit weiterhin gekennzeichnet ist; damit er auf die
Suche nach den vielfältigen Ursachen gehe, die diese Bedrohungen
hervorrufen und fördern; damit er mit größtem Ernst über die Folgen
nachdenke, die sich aus diesen Anschlägen für die Existenz der Menschen
und der Völker ergeben.
Manche Bedrohungen stammen aus der Natur selbst, werden aber durch die
schuldhafte Unbekümmertheit und Nachlässigkeit der Menschen, die nicht
selten Abhilfe schaffen könnten, verschlimmert; andere hingegen sind das
Ergebnis von Gewaltsituationen, Haß und gegensätzlichen Interessen, die
die Menschen veranlassen, mit Mord, Krieg, Blutbädern und Völkermord über
andere Menschen herzufallen.
Und wie sollte man nicht an die Gewalt denken, die dem Leben von
Millionen von Menschen, besonders Kindern, zugefügt wird, die wegen der
ungerechten Verteilung der Reichtümer unter den Völkern und sozialen
Klassen zu Elend, Unterernährung und Hunger gezwungen sind? Oder an die
Gewalt, die, noch ehe Kriege ausbrechen, einem skandalösen Waffenhandel
anhaftet, der einer Spirale von zahllosen bewaffneten Konflikten, die die
Welt in Blut tauchen, Vorschuß leistet? Oder an die Todessaat, die durch
die unbedachte Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, durch die
kriminelle Verbreitung der Drogen und dadurch zustande kommt, daß Muster
für die Sexualität Unterstützung finden, die nicht nur in moralischer
Hinsicht unannehmbar, sondern auch Vorboten schwerwiegender Gefahren für
das Leben sind? Es ist gar nicht möglich, die umfangreiche Skala der
Bedrohungen des menschlichen Lebens vollständig aufzuzählen, so zahlreich
sind die offen zutage tretenden oder heimtückischen Formen, die sie in
unserer Zeit annehmen!
11. Unsere Aufmerksamkeit will sich aber im besonderen auf eine
andere Art von Angriffen konzentrieren, die das werdende und das zu
Ende gehende Leben betreffen, Angriffe, die im Vergleich zur
Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme
aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, daß sie im Bewußtsein
der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise
»Rechtscharakter« annehmen, so daß eine regelrechte gesetzliche
Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels
des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal
verlangt wird. Diese Angriffe treffen das menschliche Leben in äußerst
bedenklichen Situationen, wo es völlig wehrlos ist. Noch schwerwiegender
ist die Tatsache, daß sie großenteils gerade in der und durch die Familie
ausgetragen werden, die doch grundlegend dazu berufen ist, »Heiligtum des
Lebens« zu sein.
Wie hat es zu einer solchen Situation kommen können? Dabei müssen
vielfältige Faktoren in Betracht gezogen werden. Im Hintergrund steht eine
tiefe Kulturkrise, die Skepsis selbst an den Fundamenten des Wissens und
der Ethik hervorruft und es immer schwieriger macht, den Sinn des
Menschen, seiner Rechte und seiner Pflichten klar zu erfassen. Dazu kommen
die verschiedensten existentiellen und Beziehungsschwierigkeiten, die noch
verschärft werden durch die Wirklichkeit einer komplexen Gesellschaft, in
der die Personen, die Ehepaare, die Familien oft mit ihren Problemen
allein bleiben. Es fehlt nicht an Situationen von besonderer Armut,
Bedrängnis oder Verbitterung, in denen der Kampf um das Überleben, der
Schmerz bis an die Grenzen der Erträglichkeit, die besonders von Frauen
erlittenen Gewaltakte den Entscheidungen zur Verteidigung und Förderung
des Lebens bisweilen geradezu Heroismus abverlangen.
Das alles erklärt wenigstens zum Teil, daß der Wert des Lebens heute
eine Art »Verfinsterung« erleiden kann, mag auch das Gewissen nicht
aufhören, ihn als heiligen und unantastbaren Wert anzuführen, wie die
Tatsache beweist, daß man geneigt ist, manche Verbrechen gegen das
werdende oder zu Ende gehende Leben mit medizinischen Formulierungen zu
bemänteln, die den Blick von der Tatsache ablenken, daß das Existenzrecht
einer konkreten menschlichen Person auf dem Spiel steht.
12. Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen
Problematik das Klima verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie
erklären und manchmal bei den einzelnen die subjektive Verantwortung
schwächen, so trifft es tatsächlich nicht weniger zu, daß wir einer viel
weiter reichenden Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und
ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet
von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen
Fällen als wahre »Kultur des Todes« herausstellt. Sie wird aktiv gefördert
von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strö- mungen,
die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.
Wenn man die Dinge von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, kann man in
gewisser Hinsicht von einem Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen
sprechen: das Leben, das mehr Annahme, Liebe und Fürsorge verlangen würde,
wird für nutzlos gehalten oder als eine unerträgliche Last betrachtet und
daher auf vielerlei Weise abgelehnt. Wer durch seine Krankheit, durch
seine Behinderung oder, noch viel einfacher, durch sein bloßes Dasein den
Wohlstand oder die Lebensgewohnheiten derer in Frage stellt, die günstiger
dastehen, wird zunehmend als Feind angesehen, gegen den man sich
verteidigen bzw. den man ausschalten muß. Auf diese Weise wird eine Art
»Verschwörung gegen das Leben« entfesselt. Sie involviert nicht nur
die einzelnen Personen in ihren individuellen, familiären oder
Gruppenbeziehungen, sondern geht darüber hinaus, um schließlich auf
Weltebene den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu schaden und
sie durcheinanderzubringen.
13. Um die Verbreitung der Abtreibung zu erleichtern, wurden und
werden weiterhin ungeheuere Summen investiert, die für die Abstimmung
pharmazeutischer Präparate bestimmt sind, die die Tötung des Fötus im
Mutterleib ermöglichen, ohne die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen zu
müssen. Die diesbezügliche wissenschaftliche Forschung scheint fast
ausschließlich darum bemüht zu sein, zu immer einfacheren und wirksameren
Produkten gegen das Leben zu gelangen, die zugleich die Abtreibung jeder
Form sozialer Kontrolle und Verantwortung entziehen sollen.
Es wird häufig behauptet, die sichere und allen zugänglich gemachte
Empfängnisverhütung sei das wirksamste Mittel gegen die Abtreibung.
Sodann wird die katholische Kirche beschuldigt, de facto der
Abtreibung Vorschuß zu leisten, weil sie weiter hartnäckig die moralische
Unerlaubtheit der Empfängnisverhütung lehrt. Bei genauerer Betrachtung
erweist sich der Einwand tatsächlich als trügerisch. Denn es mag sein, daß
viele auch in der Absicht zu Verhütungsmitteln greifen, um in der Folge
die Versuchung der Abtreibung zu vermeiden. Doch die der
»Verhütungsmentalität« — die sehr wohl von der verantwortlichen, in
Achtung vor der vollen Wahrheit des ehelichen Aktes ausgeübten
Elternschaft zu unterscheiden ist — innewohnenden Pseudowerte verstärken
nur noch diese Versuchung angesichts der möglichen Empfängnis eines
unerwünschten Lebens. In der Tat hat sich die Abtreibungskultur gerade in
Kreisen besonders entwickelt, die die Lehre der Kirche über die
Empfängnisverhütung ablehnen. Sicherlich sind vom moralischen
Gesichtspunkt her Empfängnisverhütung und Abtreibung ihrer Art nach
verschiedene Übel: die eine widerspricht der vollständigen Wahrheit
des Geschlechtsaktes als Ausdruck der ehelichen Liebe, die andere zerstört
das Leben eines Menschen; die erste widersetzt sich der Tugend der
ehelichen Keuschheit, die zweite widersetzt sich der Tugend der
Gerechtigkeit und verletzt direkt das göttliche Gebot »du sollst nicht
töten«.
Aber trotz dieses Unterschieds in ihrer Natur und moralischen Bedeutung
stehen sie, als Früchte ein und derselben Pflanze, sehr oft in enger
Beziehung zueinander. Sicherlich gibt es Fälle, in denen jemand unter dem
Druck mannigfacher existentieller Schwierigkeiten zu Empfängnisverhütung
und selbst zur Abtreibung schreitet; selbst solche Schwierigkeiten können
jedoch niemals von der Bemühung entbinden, das Gesetz Gottes voll und ganz
zu befolgen. Aber in sehr vielen anderen Fällen haben solche Praktiken
ihre Wurzeln in einer Mentalität, die von Hedonismus und Ablehnung jeder
Verantwortlichkeit gegenüber der Sexualität bestimmt wird, und
unterstellen einen egoistischen Freiheitsbegriff, der in der Zeugung ein
Hindernis für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit sieht. Das Leben,
das aus der sexuellen Begegnung hervorgehen könnte, wird so zum Feind, das
absolut vermieden werden muß, und die Abtreibung zur einzig möglichen
Antwort und Lösung bei einer mißlungenen Empfängnisverhütung.
Leider tritt der enge Zusammenhang, der mentalitätsmäßig zwischen der
Praxis der Empfängnisverhütung und jener der Abtreibung besteht, immer
mehr zutage; das beweisen auf alarmierende Weise auch die Anwendung
chemischer Präparate, das Anbringen mechanischer Empfängnishemmer in der
Gebärmutter und der Einsatz von Impfstoffen, die ebenso leicht wie
Verhütungsmittel verbreitet werden und in Wirklichkeit als
Abtreibungsmittel im allerersten Entwicklungsstadium des neuen
menschlichen Lebens wirken.
14. Auch die verschiedenen Techniken künstlicher Fortpflanzung,
die sich anscheinend in den Dienst am Leben stellen und die auch nicht
selten mit dieser Absicht gehandhabt werden, öffnen in Wirklichkeit neuen
Anschlägen gegen das Leben Tür und Tor. Unabhängig von der Tatsache, daß
sie vom moralischen Standpunkt aus unannehmbar sind, da sie die Zeugung
von dem gesamtmenschlichen Zusammenhang des ehelichen Aktes trennen, 14
verzeichnen diese Techniken hohe Prozentsätze an Mißerfolgen: das betrifft
nicht so sehr die Befruchtung als die nachfolgende Entwicklung des
Embryos, der der Gefahr ausgesetzt ist, meist innerhalb kürzester Zeit zu
sterben. Zudem werden mitunter Embryonen in größerer Zahl erzeugt, als für
die Einpflanzung in den Schoß der Frau notwendig sind, und diese
sogenannten »überzähligen Embryonen« werden dann umgebracht oder für
Forschungszwecke verwendet, die unter dem Vorwand des wissenschaftlichen
oder medizinischen Fortschritts in Wirklichkeit das menschliche Leben zum
bloßen »biologischen Material« degradieren, über das man frei verfügen
könne.
Die vorgeburtlichen Diagnosen, gegen die es keine moralischen
Bedenken gibt, sofern sie vorgenommen werden, um eventuell notwendige
Behandlungen an dem noch ungeborenen Kind fest- zustellen, werden allzu
oft zum Anlaß, die Abtreibung anzuraten oder vorzunehmen. Die angebliche
Rechtmäßigkeit der eugenischen Abtreibung entsteht in der öffentlichen
Meinung aus einer Mentalität — sie wird zu Unrecht für kohärent mit den
Ansprüchen der »Behandelbarkeit mit Aussicht auf Heilung« gehalten —, die
das Leben nur unter bestimmten Bedingungen annimmt und Begrenztheit,
Behinderung und Krankheit ablehnt.
Infolge eben dieser Logik ist man soweit gegangen, Kindern, die mit
schweren Schäden oder Krankheiten geboren wurden, die elementarsten
üblichen Behandlungen und sogar die Ernährung zu verweigern. Noch
bestürzender wird das moderne Szenarium darüber hinaus durch da und dort
auftauchende Vorschläge, auf derselben Linie wie das Recht auf Abtreibung
sogar die Kindestötung für rechtmäßig zu erklären: damit würde man
in ein Stadium der Barbarei zurückfallen, das man für immer überwunden zu
haben hoffte.
15. Nicht minder schwerwiegende Bedrohungen kommen auch auf die
unheilbar Kranken und auf die Sterbenden in einem Sozial- und
Kulturgefüge zu, das bei einer sich immer schwieriger gestaltenden
Auseinandersetzung mit dem Leiden und seinem Ertragen die Versuchung
verstärkt, das Problem des Leidens dadurch zu lösen, daß man es an
der Wurzel ausreibt und den Tod in dem Augenblick vorwegnimmt, den man
selbst für den geeignetsten hält.
In diese Entscheidung fließen oft verschiedene Elemente ein, die leider
diesem schrecklichen Ausgang zustreben. Entscheidend mag beim Kranken
Angstgefühl sowie das Gespür von Verbitterung, ja Verzweiflung sein,
hervorgerufen durch die Erfahrung eines intensiven und langen Schmerzes.
Dies stellt das manchmal ohnehin schon ins Wanken geratene Gleichgewicht
des persönlichen und familiären Lebens auf eine harte Probe, so daß der
Kranke einerseits trotz der immer wirksamer werdenden Mittel medizinischer
und sozialer Assistenz Gefahr läuft, sich von der eigenen Gebrechlichkeit
erdrückt zu fühlen; andererseits kann bei denen, die ihm liebevoll
verbunden sind, ein Gefühl verständlichen, wenn auch mißverstandenen
Mitleids wirksam sein. Dies alles wird von einem kulturellen Umfeld
verschlimmert, das im Leid keinerlei Bedeutung oder Wert sieht; im
Gegenteil, es betrachtet das Leid als das Übel schlechthin, das es um
jeden Preis auszumerzen gilt; diese Haltung tritt vor allem dann ein, wenn
man keine religiöse Einstellung hat, die helfen kann, das Geheimnis des
Schmerzes positiv zu deuten.
Aber es wird nicht versäumt, dem kulturellen Gesamthorizont auch eine
Art Prometheushaltung des Menschen einzuprägen, der sich derart der
Illusion hingibt, Herr über Leben und Tod werden zu können, daß er über
sie entscheidet, während er in Wirklichkeit von einem Tod überwunden und
erdrückt wird, der sich jeder Sinnperspektive und jeder Hoffnung unrettbar
verschließt. Einem tragischen Ausdruck von alledem begegnen wir in der
Verbreitung der maskiert und schleichend oder offen durchgeführten und
sogar legalisierten Euthanasie. Sie wird mit einem angeblichen
Mitleid angesichts des Schmerzes des Patienten und darüber hinaus mit
einem utilitaristischen Argument gerechtfertigt, nämlich um unproduktive
Ausgaben zu vermeiden, die für die Gesellschaft zu belastend seien. So
schlägt man die Beseitigung der mißgestalteten Neugeborenen, der geistig
und körperlich Schwerstbehinderten, der Leistungsunfähigen, der Alten, vor
allem wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können, und der Kranken
vor, deren Leben zu Ende geht. Und auch angesichts anderer, heimlicherer,
aber nicht minder schwerwiegender und realer Formen von Euthanasie dürfen
wir nicht schweigen. Sie könnten sich zum Beispiel dann ereignen, wenn
man, um mehr Organe für Transplantationen zur Verfügung zu haben, die
Entnahme dieser Organe vornimmt, ohne die objektiven und angemessenen
Kriterien für die Feststellung des Todes des Spenders zu respektieren.
16. Ein weiteres aktuelles Phänomen, mit dem häufig Bedrohungen
und Angriffe gegen das Leben einhergehen, ist das Bevölkerungswachstum.
Es stellt sich in den verschiedenen Teilen der Welt in
unterschiedlicher Weise dar: in den reichen und entwickelten Ländern
verzeichnet man einen besorgniserregenden Geburtenrückgang oder -einbruch;
die armen Länder dagegen weisen im allgemeinen eine hohe Wachstumsrate der
Bevölkerung auf, die auf dem Hintergrund geringer wirtschaftlicher und
sozialer Entwicklung oder gar schwerwiegender Unterentwicklung kaum
tragbar ist. Angesichts der Überbevölkerung der armen Länder fehlt es auf
internationaler Ebene an weltweiten Maßnahmen — eine ernsthafte Familien-
und Sozialpolitik, Programme kultureller Entwicklung und einer gerechten
Produktion und Verteilung der Ressourcen —, während weiter eine
geburtenfeindliche Politik betrieben wird.
Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung müssen gewiß zu den
Ursachen gezählt werden, die zum Zustand des starken Geburtenrückganges
beitragen und ihn wesentlich bestimmen. Die Versuchung, dieselben Methoden
und Angriffe gegen das Leben auch in Situationen von
»Bevölkerungsexplosion« anzuwenden, mag auf der Hand liegen.
Der alte Pharao, der die Anwesenheit der Söhne Israels und ihre
Vermehrung als Alptraum empfand, setzte sie jeder nur möglichen
Unterdrückung aus und befahl, jedes männliche Neugeborene der jüdischen
Frauen zu töten (vgl. Ex 1, 7-22). Genauso verhalten sich
heutzutage viele Mächtige der Erde. Sie empfinden die derzeitige
Bevölkerungsentwicklung als Alptraum und befürchten, daß die
kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohlstand und
die Sicherheit ihrer Länder darstellen. Statt diese schwerwiegenden
Probleme aufzugreifen und sie unter Achtung der Würde der einzelnen und
der Familien und des unantastbaren Rechtes jedes Menschen auf Leben zu
lösen, fördern sie daher lieber eine massive Geburtenplanung und setzen
sie mit jeglichem Mittel durch. Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu
leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer
geburtenfeindlichen Politik abhängig gemacht.
17. Die heutige Menschheit bietet uns ein wahrhaft alarmierendes
Schauspiel, wenn wir nicht nur an die verschiedenen Bereiche denken, in
denen die Angriffe auf das Leben ausbrechen, sondern auch an ihr
einzigartiges Zahlenverhältnis sowie an die mannigfache und machtvolle
Unterstützung, die ihnen durch das weitgehende Einverständnis der
Gesellschaft, durch die häufige gesetzliche Anerkennung, durch die
Einbeziehung eines Teils des im Gesundheitswesen tätigen Personals zuteil
wird.
Wie ich anläßlich des VIII. Weltjugendtreffens in Denver mit allem
Nachdruck sagen mußte, »nehmen die Bedrohungen des Lebens im Laufe der
Zeit nicht ab. Im Gegenteil, sie nehmen immer größere Ausmaße an. Es
handelt sich nicht nur um Bedrohungen des Lebens von außen, von den
Kräften der Natur her oder von weiteren 'Kains?, die die 'Abels? töten«;
nein, es handelt sich um wissenschaftlich und systematisch geplante
Bedrohungen. Das 20. Jahrhundert wird als eine Epoche massiver
Angriffe auf das Leben, als endlose Serie von Kriegen und andauernde
Vernichtung unschuldiger Menschenleben gelten. Die falschen Propheten und
Lehrer erfreuen sich des größtmöglichen Erfolges. 15 Jenseits der
Absichten, die unterschiedlicher Art sein und möglicherweise sogar im
Namen der Solidarität überzeugende Formen annehmen können, stehen wir
tatsächlich einer objektiven »Verschwörung gegen das Leben«
gegenüber, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit
großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der
Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und
planen. Schließlich läßt sich nicht leugnen, daß sich die Massenmedien
häufig zu Komplizen dieser Verschwörung machen, indem sie jener Kultur,
die die Anwendung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation, der
Abtreibung und selbst der Euthanasie als Zeichen des Fortschritts und als
Errungenschaft der Freiheit hinstellt, in der öffentlichen Meinung Ansehen
verschaffen, während sie Positionen, die bedingungslos für das Leben
eintreten, als freiheits- und entwicklungsfeindlich beschreibt.
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»Bin ich der Hüter meines
Bruders?« (Gen 4, 9): eine entartete Vorstellung von
Freiheit
18. Das beschriebene Panorama macht erforderlich, daß es nicht nur in
den Todeserscheinungen erkannt wird, die es kennzeichnen, sondern auch in
den vielfältigen Ursachen, die es bestimmen. Die Frage des Herrn
»Was hast du getan?« (Gen 4, 10) scheint gleichsam eine
Aufforderung an Kain zu sein, den materiellen Charakter seiner Mordtat
hinter sich zu lassen und ihre ganze Schwere in den ihr zugrunde liegenden
Motivationen und in den aus ihr erwachsenden Folgen zu
erfassen.
Die Entscheidungen gegen das Leben entstehen bisweilen aus schwierigen
oder geradezu dramatischen Situationen tiefen Leides, der Einsamkeit, des
völligen Fehlens wirtschaftlicher Perspektiven, der Depression und
Zukunftsangst. Solche Umstände können die subjektive Verantwortlichkeit
und die daraus folgende Schuld derer vermindern, die diese in sich
verbrecherischen Entscheidungen treffen. Trotzdem geht das Problem heute
weit über die, wenn auch gebotene Anerkennung dieser persönlichen
Situationen hinaus. Es stellt sich auch auf kultureller, sozialer und
politischer Ebene, wo es sein subversivstes und verwirrendstes Gesicht in
der immer weiter um sich greifenden Tendenz zeigt, die erwähnten
Verbrechen gegen das Leben als legitime Äußerungen der individuellen
Freiheit auszulegen, die als wahre und eigene Rechte anerkannt und
geschützt werden müssen.
Auf diese Weise gelangt ein langer historischer Prozeß an einen
Wendepunkt mit tragischen Folgen, ein Prozeß, der nach Entdeckung der Idee
der »Menschenrechte« — als Rechte, die zu jeder Person gehören und jeder
Verfassung und Gesetzgebung der Staaten vorausgehen — heute in einen
überraschenden Widerspruch gerät: gerade in einer Zeit, in der man
feierlich die unverletzlichen Rechte der Person verkündet und öffentlich
den Wert des Lebens geltend macht, wird dasselbe Recht auf Leben,
besonders in den sinnbildhaftesten Augenblicken des Daseins, wie es Geburt
und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt.
Auf der einen Seite sprechen die verschiedenen
Menschenrechtserklärungen und die vielfältigen Initiativen, die von ihnen
inspiriert werden, von der Durchsetzung einer moralischen Sensibilität auf
Weltebene, die sorgfältiger darauf achtet, den Wert und die Würde jedes
Menschen als solchen anzuerkennen, ohne jede Unterscheidung von Rasse,
Nationalität, Religion, politischer Meinung und sozialem Stand.
Auf der anderen Seite setzt man diesen edlen Proklamationen leider in
den Taten ihre tragische Verneinung entgegen. Diese ist noch bestürzender,
ja skandalöser, weil sie sich in einer Gesellschaft abspielt, die die
Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte zu ihrem Hauptziel und
zugleich zu ihrem Ruhmesblatt macht. Wie lassen sich diese wiederholten
Grundsatzbeteuerungen mit der ständigen Vermehrung und verbreiteten
Legalisierung der Angriffe auf das menschliche Leben in Einklang bringen?
Wie lassen sich diese Erklärungen in Einklang bringen mit der Ablehnung
des Schwächsten, des Bedürftigsten, des Alten, des soeben im Mutterschoß
Empfangenen? Diese Angriffe gehen in die genau entgegengesetzte Richtung
wie die Achtung vor dem Leben und stellen eine frontale Bedrohung der
gesamten Kultur der Menschenrechte dar. Eine Bedrohung, die letzten
Endes imstande ist, selbst die Bedeutung des demokratischen Zusammenlebens
aufs Spiel zu setzen: unsere Städte laufen Gefahr, aus einer
Gesellschaft von »zusammenlebenden Menschen« zu einer Gesellschaft von
Ausgeschlossenen, an den Rand Gedrängten, Beseitigten und Unterdrückten zu
werden. Muß man, wenn sich der Blick dann auf einen Welthorizont
ausweitet, nicht daran denken, daß selbst die Beteuerung der Rechte der
Personen und der Völker, wie sie bei ranghohen internationalen
Zusammenkünften erfolgt, zu fruchtloser rhetorischer Übung wird, wenn
nicht der Egoismus der reichen Länder, die den armen Ländern den Zugang
zur Entwicklung verschließen oder ihn an die Bedingung absurder
Fortpflanzungsverbote knüpfen und so die Entwicklung gegen den Menschen
richten, die Maske fallen läßt? Muß man vielleicht nicht selbst die
Wirtschaftsmodelle in Frage stellen, die von den Staaten häufig auch für
Druckmaßnahmen und Konditionierungen auf internationaler Ebene angewandt
werden und die Unrechts– und Gewalt- situationen verursachen und fördern,
in denen das menschliche Leben ganzer Völker erniedrigt und mit Füßen
getreten wird?
19. Wo liegen die Wurzeln eines derart paradoxen Widerspruchs?
Wir können sie in kulturellen und moralischen Gesamtbewertungen
feststellen, angefangen bei jener Mentalität, die unterVerschärfung und
sogar Entstellung des Subjektivitätsbegriffs nur den als Inhaber von
Rechten anerkennt, der mit voller oder zumindest mit ersten Anzeichen von
Autonomie auftritt und den Zustand totaler Abhängigkeit von den anderen
hinter sich läßt. Aber wie läßt sich dieser Ansatz mit der
Verherrlichung des Menschen als »unverfügbares« Wesen in Einklang
bringen? Die Theorie der Menschenrechte beruht gerade auf der Erwägung der
Tatsache, daß der Mensch zum Unterschied von den Tieren und den Sachen
nicht der Herrschaft von irgend jemandem unterworfen werden kann. Es muß
auch auf jene Logik hingewiesen werden, die dazu neigt, die Personwürde
mit der Fähigkeit zu verbaler, ausdrücklicher, auf alle Fälle
erprobbarer Kommunikation gleichzusetzen. Es ist klar, daß unter
solchen Voraussetzungen in der Welt kein Raum für den ist, der, wie das
ungeborene Kind oder der Sterbende, ein von seiner physischen Konstitution
her schwaches Wesen ist, auf Gedeih und Verderb anderen Menschen
ausgeliefert und radikal von ihnen abhängig ist und mit dem Kommunikation
nur durch die stumme Sprache einer tiefen Symbiose liebender Zuneigung
möglich ist. Damit wird die Stärke zum Entscheidungs– und
Handlungskriterium in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im sozialen
Zusammenleben. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, was den
Rechtsstaat historisch als Gemeinschaft bestätigt hat, in der an die
Stelle des »Rechts der Stärke« die »Stärke des Rechts« tritt.
Auf einer anderen Ebene liegen die Wurzeln des Widerspruchs zwischen
der feierlichen Bestätigung der Menschenrechte und ihrer tragischen
Verweigerung in der Praxis in einer Auffassung von Freiheit, die
das einzelne Individuum zum Absoluten erhebt und es nicht zur Solidarität,
zur vollen Annahme des anderen und zum Dienst an ihm veranlaßt. Wenn es
wahr ist, daß sich die Auslöschung des ungeborenen oder zu Ende gehenden
Lebens mitunter auch den Anstrich eines mißverstandenen Gefühls von
Altruismus und menschlichen Erbarmens gibt, so kann man nicht bestreiten,
daß eine solche Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz
individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die
Freiheit der »Stärkeren« gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen
ist.
Genau in diesem Sinn kann man die Antwort Kains auf die Frage des Herrn
»Wo ist dein Bruder Abel?« auslegen: »Ich weiß es nicht. Bin ich der
Hüter meines Bruders?« (Joh 4, 9). Jawohl, jeder Mensch ist
»Hüter seines Bruders», weil Gott den Menschen dem Menschen anvertraut.
Und im Hinblick auf dieses Anvertrauen schenkt Gott auch jedem Menschen
die Freiheit, die eine wesentliche Beziehungsdimension besitzt. Sie
ist ein großes Geschenk des Schöpfers, so sie in den Dienst der Person und
ihrer Verwirklichung durch die Selbsthingabe und die Annahme des anderen
gestellt wird; wenn die Freiheit jedoch in individualistischer Weise
verabsolutiert wird, wird sie ihres ursprünglichen Inhalts entleert und
steht im Widerspruch zu ihrer Berufung und Würde.
Noch einen tiefgehenderen Aspekt gilt es zu unterstreichen: die
Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich zur
Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung
mit der Wahrheit nicht anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedesmal,
wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien will und
sich den wesentlichen Klarheiten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit
als dem Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt, hört
der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für seine
Entscheidungen nicht mehr die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen,
sondern nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein
egoistisches Interesse und seine Laune.
20. In dieser Auffassung von Freiheit wird das soziale Zusammenleben
tiefgreifend entstellt. Wenn die Förderung des eigenen Ich als
absolute Autonomie verstanden wird, gelangt man unvermeidlich zur
Verneinung des anderen, der als Feind empfunden wird, gegen den man sich
verteidigen muß. Auf diese Weise wird die Gesellschaft zu einer Gesamtheit
von nebeneinanderstehenden Individuen, die aber keine gegenseitigen
Beziehungen haben: ein jeder will sich unabhängig vom anderen behaupten,
ja seinen eigenen Interessen Vorteil verschaffen. Angesichts gleichartiger
In- teressen des anderen muß man jedoch nachgeben und eine Art Kompromiß
suchen, wenn man in der Gesellschaft jedem die größtmögliche Freiheit
garantieren will. So schwindet jeder Bezug zu gemeinsamen Werten und zu
einer für alle geltenden absoluten Wahrheit: das gesellschaftliche Leben
läuft Gefahr, in einen vollkommenen Relativismus abzudriften. Da läßt sich
alles vereinbaren, über alles verhandeln: auch über das erste
Grundrecht, das Recht auf Leben.
Das geschieht denn auch in der Tat im eigentlich politisch-staatlichen
Bereich: das ursprüngliche, unveräußerliche Recht auf Leben wird auf Grund
einer Parlamentsabstimmung oder des Willens eines — sei es auch
mehrheitlichen — Teiles der Bevölkerung in Frage gestellt oder verneint.
Es ist das unheilvolle Ergebnis eines unangefochten herrschenden
Relativismus: das »Recht« hört auf Recht zu sein, weil es sich nicht mehr
fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des
Stärkeren unterworfen wird. Auf diese Weise beschreitet die Demokratie
ungeachtet ihrer Regeln den Weg eines substantiellen Totalitarismus. Der
Staat ist nicht mehr das »gemeinsame Haus«, in dem alle nach den
Prinzipien wesentlicher Gleichheit leben können, sondern er verwandelt
sich in einen tyrannischen Staat, der sich anmaßt, im Namen einer
allgemeinen Nützlichkeit — die in Wirklichkeit nichts anderes als das
Interesse einiger weniger ist — über das Leben der Schwächsten und
Schutzlosesten, vom ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu
können.
Alles geschieht scheinbar ganz auf dem Boden der Legalität, zumindest
wenn über die Gesetze zur Freigabe der Abtreibung und der Euthanasie nach
den sogenannten demokratischen Regeln abgestimmt wird. In Wahrheit stehen
wir lediglich einem tragischen Schein von Legalität gegenüber, und das
demokratische Ideal, das es tatsächlich ist, wenn es denn die Würde jeder
menschlichen Person anerkennt und schützt, wird in seinen Grundlagen
selbst verraten: »Wie kann man noch von Würde jeder menschlichen
Person reden, wenn die Tötung des schwächsten und unschuldigsten Menschen
zugelassen wird? Im Namen welcher Gerechtigkeit begeht man unter den
Menschen die ungerechteste aller Diskriminierungen, indem man einige von
ihnen für würdig erklärt verteidigt zu werden, während anderen diese Würde
abgesprochen wird?«. 16 Wenn diese Zustände eintreten, sind bereits jene
Dynamismen ausgelöst, die zum Zerfall eines echten menschlichen
Zusammenlebens und zur Zersetzung der staatlichen Realität führen.
Das Recht auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern und es
gesetzlich anzuerkennen heißt der menschlichen Freiheit eine perverse,
abscheuliche Bedeutung zuzuschreiben: nämlich die einer absoluten
Macht über die anderen und gegen die anderen. Aber das ist der Tod der
wahren Freiheit: »Amen, amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist
Sklave der Sünde« (Joh 8, 34).
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»Ich muß mich vor deinem
Angesicht verbergen« (Gen 4, 14): die Verfinsterung des
Sinnes für Gott und den Menschen
21. Auf der Suche nach den tiefsten Wurzeln des Kampfes zwischen der
»Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« dürfen wir nicht bei der
oben erwähnten perversen Freiheitsvorstellung stehen bleiben. Wir müssen
zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die
Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das
vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist,
der mit seinen durchdringenden Fangarmen bisweilen sogar christliche
Gemeinschaften auf die Probe stellt. Wer sich von dieser Atmosphäre
anstecken läßt, gerät leicht in den Strudel eines furchtbaren
Teufelskreises: wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald
auch den Sinn für den Menschen, für seine Würde und für sein Leben;
die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung
vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits
eine Art fortschreitender Verdunkelung der Fähigkeit, die lebenspendende
und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen.
Und wieder können wir dem Bericht von der Ermordung Abels durch seinen
Bruder folgen. Nach dem von Gott über ihn verhängten Fluch wendet sich
Kain mit den Worten an den Herrn: »Zu groß ist meine Schuld, als daß ich
sie tragen könnte! Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß
mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der
Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen« (Gen 4,
13-14). Kain glaubt, daß seine Sünde beim Herrn keine Vergebung erfahren
kann und daß es sein unvermeidliches Schicksal sein wird, »sich vor seinem
Angesicht verbergen« zu müssen. Wenn es Kain fertigbringt zu bekennen, daß
seine Schuld »zu groß« ist, dann deshalb, weil er weiß, daß er Gott und
seinem gerechten Rich- terspruch gegenübersteht. Tatsächlich vermag der
Mensch nur vor dem Herrn seine Sünde zu erkennen und ihre ganze Schwere zu
erfassen. Das ist die Erfahrung Davids, der, nachdem er »gegen den Herrn
gesündigt hat«, auf die Vorwürfe des Propheten Natan (vgl. 2 Sam
11-12) ausruft: »Ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir
immer vor Augen. Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was
dir mißfällt« (Ps 51 1, 5-6).
22. Darum wird, wenn der Sinn für Gott schwindet, auch der Sinn für den
Menschen bedroht und verdorben, wie das Zweite Vatikanische Konzil lapidar
feststellt: »Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts...
Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes
unverständlich«. 17 Der Mensch vermag sich nicht mehr als »in
geheimnisvoller Weise anders« als die verschiedenen irdischen Lebewesen
wahrzunehmen; er sieht sich als eines der vielen Lebewesen, als einen
Organismus, der bestenfalls eine sehr hohe Vollkommenheitsstufe erreicht
hat. In den engen Horizont seiner Körperlichkeit eingeschlossen, wird er
gewissermaßen zu »einer Sache« und beachtet nicht mehr den »trans-
zendenten« Charakter seines »Existierens als Mensch«. Er sieht das Leben
nicht mehr als ein großartiges Geschenk Gottes an, als eine »heilige«
Wirklichkeit, die seiner Verantwortung und damit seiner liebevollen Obhut,
seiner »Verehrung« anvertraut ist. Es wird einfach zu »einer Sache«, die
er als sein ausschließliches, total beherrschbares und manipulierbares
Eigentum beansprucht.
Er ist daher nicht mehr in der Lage, sich angesichts des Lebens, das
geboren wird, und des Lebens, das stirbt, nach dem wahren Sinn seines
Daseins fragen zu lassen, indem er diese entscheidenden Augenblicke des
eigenen »Seins« in echter Freiheit annimmt. Er kümmert sich nur um das
»Machen« und bemüht sich unter Zuhilfenahme jeder Art von Technologie um
die Planung, Kontrolle und Beherrschung von Geburt und Tod. Aus
ursprünglichen Erfahrungen, die »gelebt« werden sollen, werden Geburt und
Tod zu Dingen, die man sich einfach zu »besitzen« oder »abzulehnen«
anmaßt.
Wenn im übrigen einmal der Bezug zu Gott ausgeschlossen ist, überrascht
es nicht, daß der Sinn aller Dinge tief entstellt zum Vorschein kommt, und
die Natur selbst, nicht mehr »mater«, zu einem »Material« entwürdigt wird,
das allen Manipulationen offensteht. Zu diesem Punkt scheint eine gewisse
in der modernen Kultur vorherrschende technisch-wissenschaftliche
Rationalität zu führen, die selbst die Vorstellung einer Wahrheit vom
Schöpfer, der anzuerkennen ist, oder eines Planes Gottes vom Leben, das zu
achten ist, leugnet. Und dies gilt genauso, wenn die Angst vor den
Ergebnissen dieser »Freiheit ohne Gesetz« manche zur entgegengesetzten
Vorstellung von einem »Gesetz ohne Freiheit« verleitet, wie es z.B. in den
Ideologien der Fall ist, die die Rechtmäßigkeit eines jeden Eingriffes in
die Natur gleichsam im Namen ihrer »Vergöttlichung« bestreiten; eine
Vorstellung, die wiederum die Abhängigkeit vom Plan des Schöpfers
mißachtet.
Wenn der Mensch wirklich lebt, »als ob es Gott nicht gäbe«, so kommt
ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das
Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden.
23. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt
unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem der
Individualismus, der Utilitarismus und der Hedonismus gedeihen. Auch hier
offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was der Apostel schreibt: »Und
da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem
verworfenen Denken aus, so daß sie tun, was sich nicht gehört« (Röm
1, 28). Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des
Habens ersetzt. Das einzige Ziel, auf das es ankommt, ist die
Erlangung des eigenen materiellen Wohlergehens. Die sogenannte
»Lebensqualität« wird vorwiegend oder ausschließlich als wirtschaftliche
Leistung, hemmungsloser Konsumismus, Schönheit und Genuß des physischen
Lebens ausgelegt, wobei die tiefer reichenden — beziehungsmäßigen,
geistigen und religiösen — Dimensionen des Daseins in Vergessenheit
geraten.
In einem solchen Gesamtrahmen wird das Leiden, eine
unvermeidbare Belastung der menschlichen Existenz, aber auch ein Faktor
möglichen personalen Wachstums, »beanstandet», als unnütz zurückgewiesen,
ja als immer und auf jeden Fall zu vermeidendes Übel bekämpft. Kann man es
nicht überwinden und schwindet die Aussicht wenigstens auf künftiges
Wohlergehen, dann scheint das Leben jede Bedeutung verloren zu haben, und
im Menschen wächst die Versuchung, das Recht zu seiner Beseitigung geltend
zu machen.
Im selben kulturellen Umfeld wird der Körper nicht mehr als für
die Person typische Wirklichkeit, nämlich als Zeichen und Ort der
Beziehung zu den anderen, zu Gott und zur Welt, wahrge- nommen. Er ist auf
einen rein materiellen Charakter verkürzt: er ist nur ein Komplex von
Organen, Funktionen und Kräften, die nach reinen Kriterien von Genuß und
Leistung zu gebrauchen sind. Infolgedessen wird auch die Sexualität
entpersönlicht und instrumentalisiert: aus Zeichen, Ort und Sprache der
Liebe, das heißt der Selbsthingabe und der Annahme des anderen, wie sie
dem ganzen Reichtum der Person entspricht, wird sie immer mehr zu einer
Gelegenheit und einem Werkzeug der Bestätigung des eigenen Ich und der
egoistischen Befriedigung der eigenen Begierden und Instinkte. So wird der
ursprüngliche Inhalt der menschlichen Sexualität entstellt und verfälscht,
und die zwei Bedeutungen, die das Wesen des ehelichen Aktes ausmachen,
nämlich Vereinigung und Zeugung, werden künstlich getrennt: auf diese
Weise wird die Vereinigung verraten, und die Fruchtbarkeit wird der
Willkür des Mannes und der Frau unterworfen. Da wird die Zeugung zum
»Feind«, die es bei der Ausübung der Sexualität zu vermeiden gilt: wenn
man sie zuläßt, dann nur deshalb, weil sie den eigenen Wunsch oder
geradezu den eigenen Willen zum Ausdruck bringt, »um jeden Preis« ein Kind
zu haben, jedoch nicht, weil sie totale Annahme des anderen und damit
Offenheit für die Lebensfülle besagt, deren Träger das Kind ist.
In der bisher beschriebenen materialistischen Sicht erfahren die
zwischenmenschlichen Beziehungen eine schwerwiegende Verarmung. Die
Ersten, die unter den Schäden dieser Verarmung zu leiden haben, sind die
Frau, das Kind, der kranke oder leidende und der alte Mensch. An die
Stelle des eigentlichen Kriteriums der Personwürde — nämlich das der
Achtung, der Unentgeltlichkeit und des Dienstes — tritt das Kriterium der
Leistungsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit: der andere
wird nicht für das anerkannt und geschätzt, was er »ist«, sondern für das,
was er »hat, tut und leistet«. Das ist die Herrschaft des Stärkeren über
den Schwächeren.
24. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und für den Menschen mit
allen ihren mannigfachen, verhängnisvollen Auswirkungen auf das Leben
vollzieht sich im Innern des sittlichen Gewissens. Dabei geht es
zunächst um das Gewissen jedes einzelnen Menschen, der in seiner
Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit allein mit Gott ist. 18 Doch es geht
in gewissem Sinne auch um das »sittliche Gewissen« der Gesellschaft:
sie ist irgendwie verantwortlich, nicht nur weil sie gegen das Leben
gerichtete Haltungen duldet oder unterstützt, sondern auch weil sie durch
die Schaffung und Festigung regelrechter »Sündenstrukturen« gegen das
Leben die »Kultur des Todes« fördert. Das sittliche Gewissen sowohl des
einzelnen wie der Gesellschaft ist heute auch wegen des aufdringlichen
Einflusses vieler sozialer Kommunikationsmittel einer sehr ernsten und
tödlichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Verwirrung zwischen Gut
und Böse in bezug auf das fundamentale Recht auf Leben. Ein Großteil
der heutigen Gesellschaft zeigt sich ähnlich jener Menschheit, die Paulus
im Römerbrief beschreibt. Sie besteht aus »Menschen, die die Wahrheit
durch Ungerechtigkeit niederhalten« (1, 18): nachdem sie von Gott
abgefallen sind und glaubten, das irdische Gemeinwesen ohne Ihn aufbauen
zu können, »verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr
unverständiges Herz wurde verfinstert« (1, 21); »sie behaupteten weise zu
sein, und wurden zu Toren« (1, 22); sie wurden zu Urhebern todesträchtiger
Werke und »tun sie nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch
denen zu, die so handeln« (1, 32). Wenn das Gewissen, dieses leuchtende
Auge der Seele (vgl. Mt 6, 22-23), »das Gute böse und das Böse gut«
nennt (Jes 5, 20), dann ist es auf dem Weg besorgniserregender
Entartung und finsterster moralischer Blindheit.
Doch sämtlichen Konditionierungen und Anstrengungen, das Schweigen
durchzusetzen, gelingt es nicht, die Stimme des Herrn zu ersticken, die
sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen läßt: von diesem inneren
Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe, der
Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben seinen Ausgang nehmen.
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»Ihr seid hingetreten zum Blut
der Besprengung« (vgl. Hebr 12, 22. 24): Zeichen der
Hoffnung und Einladung zum Engagement
25. »Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gen
4, 10). Nicht nur das Blut Abels, des ersten unschuldig getöteten
Menschen, schreit zu Gott, Quelle und Verteidiger des Lebens. Auch das
Blut jedes anderen ermordeten Menschen nach Abel schreit zum Herrn. In
absolut einmaliger Weise schreit zu Gott das Blut Christi, dessen
prophetische Gestalt Abel in seiner Unschuld ist, wie der Verfasser des
Hebräerbriefes ausführt: »Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hingetreten, zur
Stadt des lebendigen Gottes..., zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und
zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels« (12, 22.
24).
Es ist das Blut der Besprengung. Symbol und Vorauszeichen dafür
war das Blut der Opfer des Alten Bundes gewesen, durch die Gott seinen
Willen kundtat, den Menschen sein Leben durch ihre Reinigung und Heiligung
mitzuteilen (vgl. Ex 24, 8; Lev 17, 11). Das alles erfüllt
und bewahrheitet sich nun in Christus: sein Blut ist das Blut der
Besprengung, das erlöst, reinigt und rettet; das Blut des Mittlers des
Neuen Bundes, »das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden« (Mt
26, 28). Dieses Blut, das am Kreuz aus der durchbohrten Seite Christi
fließt (vgl. Joh 19, 34), »ruft mächtiger« als das Blut Abels; es
bringt in der Tat eine tiefere »Gerechtigkeit« zum Ausdruck und verlangt
sie, doch vor allem erfleht es
Barmherzigkeit, 19 es tritt beim Vater für die Brüder ein (vgl.Hebr
7, 25), es ist Quelle vollkommener Erlösung und Geschenk neuen Lebens.
Während das Blut Christi die Größe der Liebe des Vaters enthüllt,
macht es offenbar, wie kostbar der Mensch in den Augen Gottes ist und
welch unschätzbaren Wert sein Leben besitzt. Daran erinnert uns der
Apostel Petrus: »Ihr wißt, daß ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern
ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet,
nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des
Lammes ohne Fehl und Makel« (1 Petr 1, 18-19). Beim Betrachten des
kostbaren Blutes Christi, Zeichen seiner Hingabe aus Liebe (vgl. Joh
13, 1), lernt der Gläubige die gleichsam göttliche Würde jedes
Menschen kennen und schätzen und kann mit immer neuem und dankbarem
Staunen ausrufen: »Welchen Wert muß der Mensch in den Augen des Schöpfers
haben, wenn "er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu
haben" (Exultet der Osternacht), wenn "Gott seinen Sohn hingegeben
hat", damit er, der Mensch, "nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben
hat" (vgl. Joh 3, 16)!«. 20
Zudem offenbart das Blut Christi dem Menschen, daß seine Größe und
damit seine Berufung in der aufrichtigen Selbsthingabe besteht. Da
es als Geschenk des Lebens vergossen wird, ist das Blut Christi nicht mehr
Zeichen des Todes, der endgültigen Trennung von den Brüdern, sondern
Werkzeug einer Verbundenheit, die für alle Fülle des Lebens bedeutet. Wer
im Sakrament der Eucharistie dieses Blut trinkt und in Jesus bleibt (vgl.
Joh 6, 56), wird mithineingenommen in seinen Dynamismus der Liebe
und der Hingabe des Lebens, um die ursprüngliche Berufung zur Liebe zu
erfüllen, die zu jedem Menschen gehört (vgl. Gen 1, 27; 2, 18-24).
Noch immer ist es das Blut Christi, aus dem alle Menschen die Kraft
schöpfen, um sich für das Leben einzusetzen. Dieses Blut ist
der stärkste Grund der Hoffnung, ja das Fundament der absoluten
Gewißheit, daß nach Gottes Plan das Leben siegen wird. »Der Tod wird
nicht mehr sein«, ruft die laute Stimme, die vom Thron Gottes im
himmlischen Jerusalem erschallt (Offb 21, 4). Und der hl. Paulus
versichert uns, daß der zeitliche Sieg über die Sünde Zeichen und
Vorwegnahme des endgültigen Sieges über den Tod ist, wenn »sich das Wort
der Schrift erfüllen wird: Ver- schlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo
ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?« (1 Kor 15, 54-55).
26. In der Tat fehlt es nicht an Vorzeichen dieses Sieges in unseren
Gesellschaften und Kulturen, obwohl sie so stark von der »Kultur des
Todes« gezeichnet sind. Man würde daher ein einseitiges Bild entwerfen,
das zu fruchtloser Entmutigung verleiten könnte, wenn man zu der
Brandmarkung der Bedrohungen des Lebens nicht die Darstellung der
positiven Zeichen hinzufügte, die in der gegenwärtigen Situation der
Menschheit wirksam sind.
Leider fällt es diesen positiven Zeichen oft schwer, sich darzustellen
und erkannt zu werden, vielleicht auch deshalb, weil sie in den
Massenmedien keine entsprechende Aufmerksamkeit finden. Aber wie viele
Initiativen zur Hilfe und Unterstützung für die schwächsten und
schutzlosesten Menschen sind in der christlichen Gemeinschaft und in der
bürgerlichen Gesellschaft auf lokaler, nationaler und internationaler
Ebene von einzelnen, von Gruppen, Bewegungen und verschiedenartigen
Organisationen ergriffen worden und werden weiterhin in die Wege geleitet!
Noch immer gibt es zahlreiche Eheleute, die mit tiefer
Verantwortung die Kinder als »die kostbarste Gabe der Ehe« 21 annehmen.
Und es fehlt auch nicht an Familien, die über ihren täglichen
Dienst am Leben hinaus die Offenheit besitzen, sich verlassener
Kleinkinder, in Notlagen befindlicher Kinder und Jugendlicher, behinderter
Personen und allein gebliebener alter Menschen anzunehmen. Nicht wenige
Zentren für Lebenshilfe oder ähnliche Einrichtungen werden von
Personen und Gruppen gefördert, die mit bewundernswerter Hingabe und
Aufopferung Müttern in schwieriger Lage, die versucht sind, eine
Abtreibung vornehmen zu lassen, moralische und materielle Hilfe anbieten.
Auch entstehen und verbreiten sich engagierte Freiwilligengruppen,
die Menschen Gastfreundschaft gewähren, die keine Familie haben, die sich
in einer besonders mißlichen Lage befinden oder eines erzieherischen
Milieus bedürfen, das ihnen hilft, zerstörerische Gewohnheiten zu
überwinden und den Sinn des Lebens zurückzugewinnen.
Die von den Forschern und Fachleuten des Berufs mit großem Einsatz
geförderte Medizin setzt ihre Anstrengungen fort, immer wirksamere
Mittel für die Heilung und Pflege in Krankheiten zu finden: für das
entstehende Leben, für leidende Menschen und für die Kranken in akutem
Zustand oder in der Endphase werden heute Ergebnisse erzielt, die einst
ganz unvorstellbar waren und vielversprechende Perspektiven eröffnen.
Verschiedene Einrichtungen und Organisationen setzen sich in Bewegung, um
auch den am schwersten von Elend und von endemischen Krankheiten
betroffenen Ländern die Vorzüge der neuesten Medizin zu bringen. So werden
auch nationale und internationale Ärztevereinigungen tätig, um den von
Naturkatastrophen, Seuchen oder Kriegen heimgesuchten Bevölkerungen
rechtzeitig Hilfe zu leisten. Warum sollte man nicht, auch wenn eine
tatsächliche internationale Gerechtigkeit bei der Verteilung der
medizinischen Ressourcen von ihrer vollen Verwirklichung noch weit
entfernt ist, in den bisher durchgeführten Schritten das Zeichen einer
wachsenden Solidarität unter den Völkern, einer wertvollen menschlichen
und moralischen Sensibilität und einer größeren Achtung vor dem Leben
erkennen?
27. Angesichts von Gesetzgebungen zur Freigabe der Abtreibung und da
und dort erfolgreichen Versuchen, die Euthanasie zu legalisieren, sind in
der ganzen Welt Bewegungen und Initiativen zur sozialen
Sensibilisierung für das Leben entstanden. Wenn solche Bewegungen in
Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener
Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln, fördern sie damit
eine breitere Bewußtmachung des Wertes des Lebens. Außerdem regen sie
einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen ihn in
die Praxis um.
Muß man nicht auch an alle jene täglichen Gesten von Annahme, Opfer,
selbstloser Sorge erinnern, die eine unübersehbare Anzahl von Personen
voll Liebe in den Familien, in den Krankenhäusern, in den Waisenhäusern,
in den Altersheimen und in anderen Zentren oder Gemeinschaften zum Schutz
des Lebens vollbringt? Die Kirche, die sich vom Beispiel Jesu vom
»barmherzigen Samariter« (vgl. Lk 10, 29-37) leiten läßt und von
seiner Kraft gestärkt wird, ist an diesen Fronten der Nächstenliebe immer
in vorderster Linie gestanden: viele ihrer Töchter und Söhne, besonders
Ordensleute, weihten und weihen auch heute noch in alten und immer neuen
Formen ihr Leben Gott, indem sie es aus Liebe zum schwächsten und
bedürftigsten Nächsten hingeben.
Diese Gesten bauen von innen her jene »Zivilisation der Liebe und des
Lebens« auf, ohne die die Existenz der Menschen und der Gesellschaft ihre
im wahrsten Sinne menschliche Bedeutung verliert. Auch wenn sie von
niemandem bemerkt und den meisten verborgen bleiben würden, versichert der
Glaube, daß der Vater, »der auch das Verborgene sieht« (Mt 6, 4),
sie nicht nur dereinst belohnen wird, sondern sie schon jetzt mit
bleibenden Früchten für alle ausstattet.
Zu den Hoffnungszeichen muß auch eine in breiten Schichten der
öffentlichen Meinung zunehmende neue Sensibilität gezählt werden,
die immer mehr gegen den Krieg als Instrument zur Lösung von
Konflikten zwischen den Völkern gerichtet ist und nach wirksamen, aber
»gewaltlosen« Mitteln sucht, um den bewaffneten Angreifer zu blockieren.
In dasselbe Blickfeld gehört auch die immer weiter verbreitete
Abneigung der öffentlichen Meinung gegen die Todesstrafe selbst als
Mittel sozialer »Notwehr«, in Anbetracht der Möglichkeiten, über die eine
moderne Gesellschaft verfügt, um das Verbrechen wirksam mit Methoden zu
unterdrücken, die zwar den, der es begangen hat, unschädlich machen, ihm
aber nicht endgültig die Möglichkeit nehmen, wieder zu Ehren zu kommen.
Wohlwollend zu begrüben ist auch die erhöhte Aufmerksamkeit für die
Qualität des Lebens und die Umwelt, die vor allem in den
hochentwickelten Gesellschaften festzustellen ist, in denen sich die
Erwartungen der Menschen nicht mehr so sehr auf die Probleme des
Überlebens, als vielmehr auf die Suche nach einer globalen Verbesserung
der Lebensbedingungen konzentrieren. Besonders bedeutsam ist das Erwachen
bzw. Wiederaufleben einer ethischen Reflexion über das Leben: durch das
Aufkommen der Bioethik und ihre immer mehr intensivierte
Entwicklung und Ausweitung werden — unter Gläubigen und Nichtgläubigen wie
auch zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen — die Reflexion und
der Dialog über grundlegende ethische Probleme gefördert, die das Leben
des Menschen betreffen.
28. Dieser Horizont von Licht und Schatten muß uns allen voll bewußt
machen, daß wir einer ungeheuren und dramatischen Auseinandersetzung
zwischen Bösem und Gutem, Tod und Leben, der »Kultur des Todes« und der
»Kultur des Lebens« gegenüberstehen. Wir stehen diesem Konflikt nicht nur
»gegenüber«, sondern befinden uns notgedrungen »mitten drin«: wir sind
alle durch die unausweichliche Verantwortlichkeit in die bedingungslose
Entscheidung für das Leben involviert und daran beteiligt.
Auch an uns ergeht klar und nachdrücklich die Einladung des Mose:
»Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das
Unglück vor...; Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle
also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen« (Dtn
30, 15. 19). Es ist eine Einladung, die wohl auch für uns gilt, die wir
uns jeden Tag zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes«
entscheiden müssen. Doch der Appell des Buches Deuteronomium ist noch
tiefgründiger, weil er uns zu einer im eigentlichen Sinn religiösen und
moralischen Entscheidung anhält. Es geht darum, dem eigenen Dasein eine
grundsätzliche Orientierung zu geben und in Treue und Übereinstimmung mit
dem Gesetz des Herrn zu leben: »... die Gebote des Herrn deines Gottes,
auf die ich dich heute verpflichte, ... indem du den Herrn deinen Gott
liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze
und Rechtsvorschriften achtest ... Wähle also das Leben, damit du
lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, höre auf
seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben.
Er ist die Länge deines Lebens« (30, 16. 19-20).
Die Fülle ihrer religiösen und moralischen Bedeutung erreicht die
bedingungslose Entscheidung für das Leben dann, wenn sie aus dem
Glauben an Christus erwächst, von ihm geformt und gefördert wird. Bei
einer positiven Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Tod und
Leben, in dem wir stecken, hilft uns nichts so sehr wie der Glaube an den
Sohn Gottes, der Mensch geworden und zu den Menschen gekommen ist, »damit
sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10, 10): es ist der
Glaube an den Auferstandenen, der den Tod besiegt hat; es ist der
Glaube an das Blut Christi, »das mächtiger ruft als das Blut Abels« (Hebr
12, 24).
Durch das Licht und die Kraft dieses Glaubens wird sich die Kirche
angesichts der Herausforderungen der gegenwärtigen Situation stärker der
ihr vom Herrn aufgetragenen Gnade und Verantwortung bewußt, das
Evangelium vom Leben zu verkünden, zu feiern und ihm zu dienen.
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II. KAPITEL - ICH BIN
GEKOMMEN, DAMIT SIE DAS LEBEN HABEN - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER
DAS LEBEN
»Das Leben wurde offenbart, wir haben es gesehen« (1 Joh
1, 2): der Blick ist auf Christus, »das Wort des Lebens« gerichtet
29. Angesichts der unzähligen ernsten Bedrohungen des Lebens in der
modernen Welt könnte man von einem Gefühl unüberwindlicher Ohnmacht
übermannt werden: das Gute wird nie die Kraft haben können, das Böse zu
überwinden!
Das ist der Augenblick, in dem das Volk Gottes und in ihm jeder
Gläubige aufgerufen ist, demütig und mutig seinen Glauben an Jesus
Christus, »das Wort des Lebens« (1 Joh 1, 1), zu bekennen. Das
Evangelium vom Leben ist nicht bloß eine, wenn auch originelle und
tiefgründige Reflexion über das menschliche Leben; und es ist auch nicht
nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren und
gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger
ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das
Evangelium vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit,
weil es in der Verkündigung der Person Jesu selber besteht. Dem
Apostel Thomas und in ihm jedem Menschen zeigt sich Jesus mit den Worten:
»Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14, 6). Mit
derselben Identität weist er sich Marta, der Schwester des Lazarus
gegenüber aus: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich
glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich
glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 25-26). Jesus ist der
Sohn, der von Ewigkeit her vom Vater das Leben empfängt (vgl. Joh 5, 26)
und zu den Menschen gekommen ist, um sie an diesem Geschenk teilhaben zu
lassen: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle
haben« (Joh 10, 10).
Vom Wort, von der Tat, und selbst von der Person Jesu wird also dem
Menschen die Möglichkeit gegeben, die ganze Wahrheit über den Wert
des menschlichen Lebens zu »erkennen«; aus jener »Quelle« erwächst ihm
insbesondere die Fähigkeit, vollkommen diese Wahrheit »zu tun« (vgl.
Joh 3, 21), das heißt, die Verantwortung zur Liebe des menschlichen
Lebens und zum Dienst an ihm, zu seiner Verteidigung und Förderung voll
anzunehmen und zu verwirklichen. Denn in Christus wird jenes bereits in
der Offenbarung des Alten Testamentes dargebotene und jedem Mann und jeder
Frau sogar irgendwie ins Herz geschriebe Evangelium vom Leben
endgültig verkündet und in seiner Fülle verschenkt; es erfüllt jedes
sittliche Bewußtsein »von Anfang an», das heißt von der Erschaffung an, so
daß es trotz der negativen Beeinflussungen durch die Sünde in seinen
wesentlichen Zügen auch von der menschlichen Vernunft erkannt werden kann.
Christus ist es, wie das II. Vatikansche Konzil schreibt, »der durch
sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke,
durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine
herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des
Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch
göttliches Zeugnis bekräftigt, daß Gott mit uns ist, um uns aus der
Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken«.
22
30. Während wir den Blick auf den Herrn Jesus gerichtet haben, wollen
wir also von ihm wieder »die Worte Gottes« (Joh 3, 34) hören und
neu nachdenken über das Evangelium vom Leben. Den tieferen und
ursprünglichen Sinn dieser Meditation über die geoffenbarte Botschaft vom
menschlichen Leben hat der Apostel Johannes erfaßt, als er in seinem
ersten Brief einleitend schrieb: »Was von Anfang an war, was wir gehört
haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere
Hände angefaßt haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das
Wort wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch
das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir
gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr
Gemeinschaft mit uns habt« (1, 1-3).
In Jesus, dem »Wort des Lebens«, wird also das göttliche und ewige
Leben verkündet und mitgeteilt. Durch diese Verkündigung und dieses
Geschenk gewinnt das physische und geistige Leben des Menschen auch in
seiner irdischen Phase vollen Wert und Bedeutung: das göttliche und ewige
Leben ist in der Tat das Ziel, auf das hin der in dieser Welt lebende
Mensch ausgerichtet und zu dem er berufen ist. Das Evangelium vom Leben
schließt somit alles ein, was die menschliche Erfahrung und die
Vernunft über den Wert des menschlichen Lebens sagen, nimmt es an, erhöht
es und bringt es zur Vollendung.
|
»Meine Stärke und mein Lied
ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden« (Ex 15, 2):
das Leben ist immer ein Gut
31. Die evangelische Fülle der Botschaft über das Leben ist in
Wirklichkeit schon im Alten Testament vorbereitet. Vor allem im Geschehen
des Exodus, dem Kern der Glaubenserfahrung des Alten Testamentes, entdeckt
Israel, wie kostbar sein Leben in Gottes Augen ist. Als es schon der
Ausrottung preisgegeben zu sein scheint, weil alle seine männlichen
Neugeborenen vom Tod bedroht sind (vgl. Ex 1, 15-22), offenbart
sich ihm der Herr als Retter, der den Hoffnungslosen eine Zukunft
sicherzustellen vermag. So wird in Israel ein klares Bewußtsein geboren:
sein Leben ist nicht einem Pharao ausgeliefert, der sich seiner mit
despotischer Willkür bedienen kann; es ist vielmehr das Objekt einer
zärtlichen und starken Liebe Gottes.
Die Befreiung aus der Knechtschaft ist das Geschenk einer Identität,
die Anerkennung einer unauslöschlichen Würde und der Beginn einer neuen
Geschichte, in der die Entdeckung Gottes und Selbstentdeckung
miteinander einhergehen. Das Erlebnis des Exodus ist eine exemplarische
Gründungserfahrung. Israel lernt dabei, daß es sich jedesmal, wenn es in
seiner Existenz bedroht ist, nur mit neuem Vertrauen an Gott zu wenden
braucht, um bei Ihm wirksame Hilfe zu finden: »Ich habe dich geschaffen,
du bist mein Knecht; Israel, ich vergesse dich nicht« (Jes 44, 21).
Während Israel so den Wert seiner Existenz als Volk erkennt, macht es
auch Fortschritte in der Wahrnehmung des Sinnes und Wertes des Lebens
als solchen. Eine Reflexion, die, ausgehend von der täglichen
Erfahrung der Ungewißheit des Lebens und von der Kenntnis der es
gefährdenden Bedrohungen, besonders in den Weisheitsbüchern entfaltet
wird. Der Glaube wird angesichts der Gegensätzlichkeiten des Daseins
herausgefordert, eine Antwort anzubieten.
Vor allem das Problem des Schmerzes setzt dem Glauben zu und stellt ihn
auf die Probe. Soll man etwa in der Meditation des Buches Ijob nicht das
universale Stöhnen des Menschen vernehmen? Der vom Leid geschlagene
Unschuldige ist verständlicherweise geneigt sich zu fragen: »Warum schenkt
er dem Elenden Licht und Leben denen, die verbittert sind? Sie warten auf
den Tod, der nicht kommt, sie suchen ihn mehr als verborgene Schätze« (3,
20-21). Aber auch in der tiefsten Finsternis veranlaßt der Glaube zur
vertrauensvollen und anbetenden Erkenntnis des »Geheimnisses»: »Ich habe
erkannt, daß du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt« (Ijob
42, 2).
Nach und nach macht die Offenbarung mit immer größerer Klarheit den
Keim unsterblichen Lebens begreiflich, der vom Schöpfer ins Herz der
Menschen gelegt wurde: »Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene
Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt« (Koh
3, 11). Dieser Keim von Ganzheit und Fülle wartet darauf, sich
in der Liebe zu offenbaren und sich durch die unentgeltliche Hingabe
Gottes in der Teilhabe an seinem ewigen Leben zu verwirklichen.
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»Der Name Jesu hat diesen Mann
zu Kräften gebracht« (Apg 3, 16): in der Ungewißheit des
menschlichen Daseins bringt Jesus den Sinn des Lebens zur Vollendung
32. Die Erfahrung des Bundesvolkes erneuert sich in der Erfahrung aller
»Armen», die Jesus von Nazaret begegnen. Wie schon Gott, der »Freund des
Lebens« (Weish 11, 26), Israel inmitten der Gefahren beruhigt
hatte, so verkündet nun der Gottessohn allen, die sich in ihrer Existenz
bedroht und behindert fühlen, daß auch ihr Leben ein Gut ist, dem die
Liebe des Vaters Sinn und Wert verleiht.
»Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube
hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet« (Lk
7, 22). Mit diesen Worten des Propheten Jesaja (35, 5-6; 61, 1) legt
Jesus die Bedeutung seiner Sendung dar: so vernehmen alle, die unter einer
irgendwie von Behinderung gekennzeichneten Existenz leiden, von ihm die
frohe Kunde von der Anteilnahme Gottes ihnen gegenüber und finden
bestätigt, daß auch ihr Leben eine in den Händen des Vaters eifersüchtig
gehütete Gabe ist (vgl. Mt 6, 25-34).
Es sind besonders die »Armen», an die sich die Verkündigung und das
Wirken Jesu richtet. Die Massen von Kranken und Ausgegrenzten, die ihm
folgen und ihn suchen (vgl. Mt 4, 23-25), finden in seinem Wort und
in seinen Taten offenbart, welch großen Wert ihr Leben besitzt und wie
begründet ihre Heilserwartungen sind.
Nicht anders geschieht es in der Sendung der Kirche seit ihren
Anfängen. Sie, die Jesus als den verkündet, der »umherzog, Gutes tat und
alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm« (Apg
10, 38), weiß sich als Trägerin einer Heilsbotschaft, die in ihrer
ganzen Neuartigkeit gerade in den von Elend und Armut geprägten
Lebenssituationen des Menschen zu vernehmen ist. So macht es Petrus bei
der Heilung des Gelähmten, der jeden Tag an die »Schöne Pforte« des
Tempels von Jerusalem gesetzt wurde, wo er um Almosen betteln sollte:
»Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir:
Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!« (Apg 3, 6). Im
Glauben an Jesus, den »Urheber des Lebens« (Apg 3, 15), gewinnt das
verlassen und bedauernswert daniederliegende Leben wieder Selbstbewußtsein
und volle Würde.
Das Wort und die Taten Jesu und seiner Kirche gelten nicht nur dem, der
von Krankheit, von Leiden oder von den verschiedenen Formen sozialer
Ausgrenzung betroffen ist. Tiefgehender berühren sie den eigentlichen
Sinn des Lebens jedes Menschen in seinen moralischen und geistlichen
Dimensionen. Nur wer erkennt, daß sein Leben von der Krankheit der
Sünde gezeichnet ist, kann in der Begegnung mit dem Retter Jesus die
Wahrheit und Glaubwürdigkeit der eigenen Existenz entsprechend dessen
eigenen Worten wiederfinden: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt,
sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen,
nicht die Gerechten« (Lk 5, 31-32).
Wer hingegen wie der reiche Landwirt im Gleichnis des Evangeliums
meint, er könne sein Leben durch den Besitz allein der materiellen Güter
sichern, täuscht sich in Wirklichkeit: das Leben entgleitet ihm, und er
wird es sehr bald verlieren, ohne dazu gekommen zu sein, seine wahre
Bedeutung zu erfassen: »Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben
von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft
hast?« (Lk 12, 20).
33. Im Leben Jesu selbst begegnet man von Anfang bis Ende dieser
einzigartigen »Dialektik« zwischen der Erfahrung der Gefährdung des
menschlichen Lebens und der Geltendmachung seines Wertes. Denn gefährdet
ist das Leben Jesu von seiner Geburt an. Gewiß findet er Aufnahme
von seiten der Gerechten, die sich dem bereiten und freudigen »Ja« Marias
anschließen (vgl. Lk 1, 38). Aber da ist auch sofort die
Ablehnung durch eine Welt, die feindselig auftritt und das Kind »zu
töten« trachtet (Mt 2, 13) oder sich gegenüber der Erfüllung des
Geheimnisses dieses Lebens, das in die Welt eintritt, gleichgültig und
achtlos verhält: »in der Herberge war kein Platz für sie« (Lk 2,
7). Gerade aus dem Gegensatz zwischen den Bedrohungen und Unsicherheiten
einerseits und der Mächtigkeit des Gottesgeschenkes andererseits leuchtet
mit um so größerer Kraft die Herrlichkeit, die vom Haus in Nazaret und von
der Krippe in Betlehem ausstrahlt: dieses hier geborene Leben bedeutet
Heil für die ganze Menschheit (vgl. Lk 2, 11).
Widersprüche und Gefahren des Lebens werden von Jesus voll angenommen:
»Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich
zu machen« (2 Kor 8, 9). Die Armut, von der Paulus spricht, besteht
nicht nur darin, daß sich Jesus der göttlichen Vorrechte entäußert,
sondern auch die niedrigsten und unsichersten Bedingungen menschlichen
Lebens teilt (vgl. Phil 2, 6-7). Jesus lebt diese Armut sein ganzes
Leben hindurch bis zu dessen Höhepunkt am Kreuz: »er erniedrigte sich und
war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über
alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen« (Phil
2, 8-9). Gerade in seinem Tod macht Jesus die ganze Größe und den
Wert des Lebens offenbar, weil sein Sichhingeben am Kreuz zur Quelle
neuen Lebens für alle Menschen wird (vgl. Joh 12, 32). Auf diesem
Pilger- weg durch die Widersprüche des Lebens und selbst bei dessen
Verlust läßt sich Jesus von der Gewißheit leiten, daß es in den Händen des
Vaters liegt. Darum kann er am Kreuz zu ihm sagen: »Vater, in deine Hände
lege ich meinen Geist« (Lk 23, 46), das heißt mein Leben. Der Wert
des menschlichen Lebens ist in der Tat groß, wenn der Sohn Gottes es
angenommen und zu dem Ort gemacht hat, an dem sich das Heil für die ganze
Menschheit verwirklicht!
|
»Sie sind dazu bestimmt, an
Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben« (vgl. Röm 8, 29):
die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen
34. Das Leben ist immer ein Gut. Das ist eine intuitive Ahnung oder
sogar eine Erfahrungstatsache, deren tiefen Grund zu erfassen der Mensch
berufen ist.
Warum ist das Leben ein Gut? Die Frage durchzieht die ganze
Bibel und findet bereits auf ihren ersten Seiten eine wirkungsvolle und
wunderbare Antwort. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist anders
und eigenständig gegenüber dem eines jeden anderen Lebewesens, weil der
Mensch, auch wenn er mit dem Staub der Erde verwandt ist (vgl. Gen
2, 7; 3, 19; Ijob 34, 15; Ps 103 1, 14; 104 2, 29), in
der Welt Offenbarung Gottes, Zeichen seiner Gegenwart, Spur seiner
Herrlichkeit ist (vgl. Gen 1, 26-27; Ps 8, 6). Das
wollte auch der hl. Irenäus von Lyon mit seiner berühmten Definition
unterstreichen: »Der lebendige Mensch ist die Herrlichkeit Gottes«. 23 Dem
Menschen wird eine erhabene Würde geschenkt, die ihre Wurzeln in
den innigen Banden hat, die ihn mit seinem Schöpfer verbinden: im Menschen
erstrahlt ein Widerschein der Wirklichkeit Gottes selbst.
Das führt das erste Buch der Genesis im ersten Schöpfungsbericht aus,
indem es den Menschen als Höhepunkt des Schöpfungswerkes Gottes, als seine
Krönung, an das Ende eines Prozesses stellt, der vom unterschiedslosen
Chaos zum vollkommensten Geschöpf führt. Alles in der Schöpfung ist auf
den Menschen hingeordnet und alles ist ihm untergeordnet: »Bevölkert
die Erde, unterwerft sie euch und herrscht... über alle Tiere, die sich
auf dem Land regen« (1, 28), gebietet Gott dem Mann und der Frau. Eine
ähnliche Botschaft stammt auch aus dem zweiten Schöpfungsbericht: »Gott,
der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden,
damit er ihn bebaue und hüte« (Gen 2, 15). So wird die
Vorrangstellung des Menschen über die Dinge bekräftigt: sie sind auf ihn
hin ausgerichtet und seiner Verantwortung anvertraut, während er selbst
unter keinen Umständen an seinesgleichen versklavt werden und gleichsam
auf die Ebene einer Sache herabgestuft werden kann.
In der biblischen Erzählung wird die Unterscheidung des Menschen von
den anderen Geschöpfen vor allem dadurch herausgestellt, daß nur seine
Erschaffung als Frucht eines besonderen Entschlusses Gottes dargestellt
wird, als Ergebnis einer Entscheidung, die in der Herstellung einer
eigenen und besonderen Verbindung mit dem Schöpfer besteht: »Laß uns
Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gen 1, 26). Das
Leben, das Gott dem Menschen anbietet, ist ein Geschenk, durch das Gott
sein Geschöpf an etwas von sich selbst teilhaben läßt.
Israel wird noch lange Fragen nach dem Sinn dieser eigenen und
besonderen Bindung des Menschen an Gott stellen. Auch das Buch Jesus
Sirach räumt ein, daß Gott die Menschen bei ihrer Erschaffung »ihm selbst
ähnlich mit Kraft bekleidet und nach seinem Abbild erschaffen hat« (17,
3). Darauf führt der Verfasser nicht nur ihre Beherrschung der Welt
zurück, sondern auch die wesentlichsten geistigen Fähigkeiten des
Menschen, wie Vernunft, Erkenntnis von Gut und Böse, den freien
Willen: »Mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie, Gutes und
Böses zu erkennen« (Sir 17, 7). Die Fähigkeit, Wahrheit und
Freiheit zu erlangen, sind Vorrechte des Menschen, geschaffen nach dem
Abbild seines Schöpfers, des wahren und gerechten Gottes (vgl. Dtn
32, 4). Unter allen sichtbaren Kreaturen ist nur der Mensch »fähig, seinen
Schöpfer zu erkennen und zu lieben«. 24 Das Leben, das Gott dem Menschen
schenkt, ist weit mehr als ein zeitlich-irdisches Dasein. Es ist ein
Streben nach einer Lebensfülle; es ist Keim einer Existenz, die über
die Grenzen der Zeit hinausgeht: »Gott hat den Menschen zur
Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens
gemacht« (Weish 2, 23).
35. Auch der jahwistische Schöpfungsbericht bringt dieselbe Überzeugung
zum Ausdruck. Die ältere Erzählung spricht nämlich von einem göttlichen
Hauch, der in den Menschen geblasen wird, damit er ins Leben
trete: »Gott, der Herr, formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden und
blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem
lebendigen Wesen« (Gen 2, 7).
Der göttliche Ursprung dieses Lebensgeistes erklärt das ständige
Unbefriedigtsein, das den Menschen in seinen Erdentagen begleitet. Da er
von Gott geschaffen wurde und eine unauslöschliche Spur Gottes in sich
trägt, trachtet der Mensch natürlich nach ihm. Jeder Mensch muß, wenn er
die tiefe Sehnsucht seines Herzens vernimmt, sich das Wort der vom hl.
Augustinus ausgesprochenen Wahrheit zu eigen machen: »Du, o Herr, hast uns
für Dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir«. 25
Äußerst vielsagend ist das Unbefriedigtsein, von dem das Leben des
Menschen im Garten Eden geplagt wird, solange sein einziger Bezug die
natürliche Welt der Pflanzen und Tiere ist (vgl. Gen 2, 20). Erst
das Auftreten der Frau, das heißt eines Wesens, das Fleisch von seinem
Fleisch und Bein von seinem Bein ist (vgl. Gen 2, 23) und in dem
ebenfalls der Geist des Schöpfergottes lebt, vermag sein Verlangen nach
interpersonalem Dialog, der für die menschliche Existenz so wichtig ist,
zu befriedigen. Im anderen, Mann oder Frau, spiegelt sich Gott selbst,
endgültiger und befriedigender Anlegepunkt jedes Menschen.
»Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du
dich seiner annimmst?«, fragt der Psalmist (Ps 8, 5). Angesichts
der Unermeßlichkeit des Universums ist er klein und unbedeutend; aber
gerade dieser Gegensatz läßt seine Größe sichtbar werden: »Du hast ihn nur
wenig geringer gemacht als Gott (man könnte auch übersetzen: als die
Engel), hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt« (Ps 8, 6).
Die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen. In ihm
findet der Schöpfer seine Ruhe, wie der hl. Ambrosius voll Erstaunen und
Ergriffenheit kommentiert: »Der sechste Tag ist zu Ende und die Schöpfung
der Welt wird mit der Gestaltung des Hauptwerkes abgeschlossen, des
Menschen, der die Herrschaft über alle Lebewesen ausübt und gleichsam der
Gipfel des Universums und die höchste Schönheit jedes geschaffenen Wesens
ist. Wir müßten wahrhaftig in verehrungsvollem Schweigen verharren, da
sich der Herr von jedem Werk der Welt ausruhte. Er ruhte sich dann im
Innern des Menschen aus, er ruhte sich aus in seinem Verstand und seinem
Denken; denn er hatte den Menschen erschaffen, ihn mit Vernunft
ausgestattet und ihn befähigt, ihn nachzuahmen, seinen Tugenden
nachzueifern, nach den himmlischen Gnaden zu dürsten. In diesen seinen
Gaben ruht Gott, der gesagt hat: 'Was wäre das für ein Ort, an dem ich
ausruhen könnte?... Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten und auf
den, der zittert vor meinem Wort? (Jes 66, 1-2). Ich danke dem
Herrn, unserem Gott, daß er ein so wunderbares Werk geschaffen hat, in dem
er den Ort zum Ausruhen finden kann«. 26
36. Leider wird Gottes herrlicher Plan durch den Einbruch der Sünde in
die Geschichte getrübt. Mit der Sünde lehnt sich der Mensch gegen den
Schöpfer auf, bis er am Ende die Geschöpfe vergöttert: »Sie beteten
das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers« (Röm 1,
25). Auf diese Weise entstellt der Mensch nicht nur in sich selbst das
Bild Gottes, sondern ist versucht, es auch in den anderen dadurch zu
beleidigen, daß er die Beziehungen der Gemeinschaft durch Verhaltensweisen
wie Mißtrauen, Gleichgültigkeit, Feindschaft bis hin zum mörderischen Haß
ersetzt. Wenn man nicht Gott als Gott anerkennt, verrät man die
tiefe Bedeutung des Menschen und beeinträchtigt die Gemeinschaft der
Menschen untereinander.
Mit der Menschwerdung des Gottessohnes erstrahlt im Leben des Menschen
wieder das Bild Gottes und offenbart sich in seiner ganzen Fülle: »Er ist
das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1, 15), »der Abglanz
seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens« (Hebr 1, 3), lebt
das vollkommene Ebenbild des Vaters.
Der dem ersten Adam übertragene Lebensplan findet schließlich in
Christus seine Vollendung. Während der Ungehorsam Adams Gottes Plan
bezüglich des Lebens des Menschen zerstört und entstellt und den Tod in
die Welt bringt, ist der erlösende Gehorsam Christi Quelle der Gnade, die
sich über die Menschen ergießt, indem sie für alle die Tore zum Reich des
Leßens aufreißt (vgl. Röm 5, 12-21). Der Apostel Paulus sagt:
»Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam
wurde lebendigmachender Geist« (1 Kor 15, 45).
Allen, die sich zustimmend in die Nachfolge Christi stellen, wird die
Fülle des Lebens geschenkt: in ihnen wird das göttliche Bild
wiederhergestellt, erneuert und zur Vollendung geführt. Das ist der Plan
Gottes mit den Menschen: daß sie »an Wesen und Gestalt seines Sohnes
teilhaben« (Röm 8, 29). Nur so, im Glanz dieses Bildes, kann der
Mensch von der Knechtschaft des Götzendienstes befreit werden, die
zerbrochene Brüderlichkeit wiederherstellen und seine Identität
wiederfinden.
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»Jeder, der lebt und an mich
glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Joh 11, 26): das
Geschenk des ewigen Lebens
37. Das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat,
beschränkt sich nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein. Das Leben,
das von Ewigkeit her »in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Joh
1, 4), beruht darauf, daß es aus Gott geboren ist und an der Fülle
seiner Liebe teilhat: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht,
Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus
dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des
Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Joh 1, 12-13).
Manchmal nennt Jesus dieses Leben, das zu schenken er gekommen ist,
einfach: »das Leben»; und stellt die Geburt aus Gott als eine notwendige
Bedingung dar, um das Ziel erreichen zu können, für das Gott den Menschen
erschaffen hat: »Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das
Reich Gottes nicht sehen« (Joh 3, 3). Das Geschenk dieses Lebens
bildet den eigentlichen Zweck der Sendung Jesu: er ist der, der »vom
Himmel herabkommt und der Welt das Leben gibt« (Joh 6, 33), so daß
er mit voller Wahrheit sagen kann: »Wer mir nachfolgt, ... wird das Licht
des Lebens haben« (Joh 8, 12).
An anderen Stellen spricht Jesus vom »ewigen Leben», wobei das Adjektiv
nicht nur auf eine überirdische Perspektive verweist. »Ewig« ist das
Leben, das Jesus verheißt und schenkt, weil es Fülle der Teilhabe am Leben
des »Ewigen« ist. Jeder, der an Jesus glaubt und in Gemeinschaft mit ihm
tritt, hat das ewige Leben (vgl. Joh 3, 15; 6, 40), weil er von ihm
die einzigen Worte hört, die seinem Dasein Lebensfülle offenbaren und
einflößen; es sind die »Worte des ewigen Lebens», die Petrus in seinem
Glaubensbekenntnis anerkennt: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast
Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt:
Du bist der Heilige Gottes« (Joh 6, 68-69). Worin dann das ewige
Leben besteht, erklärt Jesus selbst, wenn er sich im Hohenpriesterlichen
Gebet an den Vater wendet: »Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen
wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast« (Joh
17, 3).
Gott und seinen Sohn erkennen heißt, das Geheimnis der
Liebesgemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes im
eigenen Leben anzunehmen, das sich schon jetzt in der Teilhabe
am göttlichen Leben dem ewigen Leben öffnet.
38. Das ewige Leben ist also das Leben Gottes selbst und zugleich das
Leben der Kinder Gottes. Immer neues Staunen und grenzenlose
Dankbarkeit müssen den Gläubigen angesichts dieser unerwarteten und
unaussprechlichen Wahrheit erfassen, die uns von Gott in Christus zuteil
wird. Der Gläubige macht sich die Worte des Apostels Johannes zu eigen:
»Wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: wir heißen
Kinder Gottes, und wir sind es... Liebe Brüder, jetzt sind wir Kinder
Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir
wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir
werden ihn sehen, wie er ist« (1 Joh 3, 1-2).
So erreicht die christliche Wahrheit über das Leben ihren Höhepunkt.
Die Würde dieses Lebens hängt nicht nur von seinem Ursprung, von
seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner
Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm.
Im Lichte dieser Wahrheit präzisiert und vervollständigt der hl. Irenäus
seine Lobpreisung des Menschen: »Herrlichkeit Gottes« ist »der lebendige
Mensch», aber »das Leben des Menschen besteht in der Schau Gottes«. 27
Daraus erwachsen unmittelbare Konsequenzen für das menschliche Leben in
seiner irdischen Situation, in dem allerdings bereits das ewige
Leben keimt und heranwächst. Wenn der Mensch instinktiv das Leben liebt,
weil es ein Gut ist, so findet diese Liebe weitere Motivierung und Kraft,
neue Fülle und Tiefe in den göttlichen Dimensionen dieses Gutes. So
gesehen beschränkt sich die Liebe, die jeder Mensch zum Leben hat, nicht
auf die einfache Suche eines Raumes der Selbstäußerung und der Beziehung
zu den anderen, sondern sie entwickelt sich aus dem freudigen Bewußtsein,
die eigene Existenz zu dem »Ort« der Offenbarwerdung Gottes sowie der
Begegnung und der Gemeinschaft mit ihm machen zu können. Das Leben, das
Jesus uns schenkt, entwertet nicht unser zeitliches Dasein, sondern nimmt
es an und führt es seiner letzten Bestimmung zu: »Ich bin die Auferstehung
und das Leben...; jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht
sterben« (Joh 11, 25. 26).
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»Für das Leben des Menschen
fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gen 9, 5):
Achtung und Liebe für das Leben aller
39. Das Leben des Menschen kommt aus Gott, es ist sein Geschenk, sein
Abbild und Ebenbild, Teilhabe an seinem Lebensatem. Daher ist Gott der
einzige Herr über dieses Leben: der Mensch kann nicht darüber
verfügen. Gott selbst bekräftigt dies gegenüber Noach nach der Sintflut:
»Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner
Brüder« (Gen 9, 5). Und der biblische Text ist darauf bedacht zu
unterstreichen, daß die Heiligkeit des Lebens in Gott und in seinem
Schöpfungswerk begründet ist: »Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen
gemacht« (Gen 9, 6).
Leben und Tod des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner
Macht: »In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden
Menschenleibes Geist«, ruft Ijob aus (12, 10). »Der Herr macht tot und
lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf« (1 Sam
2, 6). Er allein kann sagen: »Ich bin es, der tötet und der lebendig
macht« (Dtn 32, 39).
Aber diese Macht übt Gott nicht als bedrohliche Willkür aus, sondern
als liebevolle Umsicht und Sorge gegenüber seinen Geschöpfen. Wenn
es wahr ist, daß das Leben des Menschen in Gottes Händen ruht, so ist es
ebenso wahr, daß es liebevolle Hände sind wie die einer Mutter, die ihr
Kind annimmt, nährt und sich um es sorgt: »Ich lieb meine Seele ruhig
werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele
still in dir« (Ps 131 1, 2; vgl. Jes 49, 15; 66, 12-13;
Hos 11, 4). So sieht Israel im Geschehen der Völker und im Schicksal
der einzelnen nicht das Ergebnis einer bloßen Zufälligkeit oder eines
blinden Schicksals, sondern das Ergebnis eines Planes der Liebe, in den
Gott sämtliche Lebensmöglichkeiten aufnimmt und den aus der Sünde
entstehenden Kräften des Todes entgegenstellt: »Denn Gott hat den Tod
nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein
hat er alles geschaffen« (Weish 1, 13-14).
40. Aus der Heiligkeit des Lebens erwächst seine Unantastbarkeit,
die von Anfang an dem Herzen des Menschen, seinem Gewissen,
eingeschrieben ist. Die Frage »Was hast du getan?« (Gen 4, 10),
mit der sich Gott an Kain wendet, nachdem dieser seinen Bruder Abel
getötet hat, gibt die Erfahrung jedes Menschen wieder: in der Tiefe seines
Gewissens wird er immer an die Unantastbarkeit des Lebens — seines Lebens
und jenes der anderen — erinnert, als Realität, die nicht ihm gehört, weil
sie Eigentum und Geschenk Gottes, des Schöpfers und Vaters, ist.
Das auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bezügliche Gebot
steht im Zentrum der »zehn Worte« im Bund vom Sinai (vgl.Ex
34, 28). Es verbietet zuallererst den Mord: »Du sollst nicht morden« (Ex
20, 13); »Wer unschuldig und im Recht ist, den bring nicht um sein
Leben« (Ex 23, 7); aber es verbietet auch — wie in der weiteren
Gesetzgebung Israels genau bestimmt wird — jede dem anderen zugefügte
Verletzung (vgl. Ex 21, 12-27). Sicher muß man zugeben, daß im
Alten Testament diese Sensibilität für den Wert des Lebens, selbst wenn
sie bereits so hervorgehoben wird, noch nicht den Scharfsinn der
Bergpredigt erreicht, wie aus manchen Aspekten der damals geltenden
Gesetzgebung hervorgeht, die schwere Körperstrafen und sogar die
Todesstrafe vorsah. Aber die Gesamtbotschaft, die das Neue Testa- ment zur
Vervollkommnung bringen wird, ist ein mächtiger Appell zur Achtung der
Unantastbarkeit des physischen Lebens und der persönlichen Integrität und
erreicht ihren Höhepunkt in dem positiven Gebot, das dazu verpflichtet,
seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst: »Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst« (Lev 19, 18).
41. Das Gebot »du sollst nicht töten», das in jenem positiven Gebot von
der Nächstenliebe eingeschlossen und vertieft ist, wirdvom Herrn Jesus
in seiner ganzen Gültigkeit bekräftigt. Dem reichen Jüngling, der ihn
fragt: »Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?»,
antwortet er: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt
19, 16.17). Und als erstes nennt er das Gebot »du sollst nicht töten«
(Mt 19, 18). In der Bergpredigt verlangt Jesus von den Jüngern auch
im Bereich der Achtung vor dem Leben eine höhere Gerechtigkeit als
die der Schriftgelehrten und Pharisäer: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten
gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem
Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch
nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein« (Mt 5, 21-22).
Durch sein Wort und sein Tun verdeutlicht Jesus die positiven
Forderungen des Gebots von der Unantastbarkeit des Lebens noch weiter. Sie
waren bereits im Alten Testament vorhanden, wo es der Gesetzgebung darum
ging, Daseinsbeziehungen schwachen und bedrohten Lebens zu gewährleisten
und es zu schützen: den Fremden, die Witwe, den Waisen, den Kranken,
überhaupt den Armen, ja selbst das Leben vor der Geburt (vgl. Ex
21, 22; 22, 20-26). Mit Jesus erlangen diese positiven Forderungen neue
Kraft und neuen Schwung und werden in ihrer ganzen Weite und Tiefe
offenbar: sie reichen von der Sorge um das Leben des Bruders (des
Familienangehörigen, des Angehörigen desselben Volkes, des Ausländers, der
im Land Israel wohnt) zur Sorge um den Fremden bis hin zur Liebe
des Feindes.
Der Fremde ist nicht länger ein Fremder für den, der für einen anderen
Menschen in Not zum Nächsten werden muß, bis zu dem Punkt, daß er
die Verantwortung für sein Leben übernimmt, wie das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter sehr anschaulich und einprägsam schildert (vgl.
Lk 10, 25-37). Auch der Feind ist für den kein Feind mehr, der ihn zu
lieben (vgl. Mt 5, 38-48; Lk 6, 27-35) und dem er »Gutes zu
tun« verpflichtet ist (vgl. Lk 6, 27. 33. 35), indem er auf die
Nöte seines Lebens rasch und in der Gesinnung der Unentgeltlichkeit
eingeht (vgl. Lk 6, 34-35). Höhepunkt dieser Liebe ist das Gebet
für den Feind, durch das man sich mit der sorgenden Liebe Gottes in
Einklang bringt: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die,
die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er
läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über
Gerechte und Ungerechte« (Mt 5, 44-45; vgl. Lk 6, 28. 35).
Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen
tiefsten Aspekt in der Forderung von Achtung und Liebe gegenüber
jedem Menschen und seinem Leben. Mit dieser Lehre wendet sich der Apostel
Paulus an die Christen von Rom, indem er dem Wort Jesu (vgl. Mt 19,
17-18) beistimmt: »Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du
sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!,
und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem
Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (Röm
13, 9-10).
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»Seid fruchtbar und vermehrt
euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch« (Gen 1, 28):
die Verantwortung des Menschen gegenüber dem Leben
42. Das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu
lieben ist eine Aufgabe, die Gott jedem Menschen aufträgt, wenn er ihn als
sein pulsierendes Abbild zur Teilhabe an seiner Herrschaft über die Welt
beruft: »Gott segnete sie und sprach: "Seid fruchtbar und vermehrt euch,
bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des
Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem
Land regen"« (Gen 1, 28).
Der biblische Text legt die Weite und Tiefe der Herrschaft an den Tag,
die Gott dem Menschen schenkt. Es geht zunächst um die Herrschaft über
die Erde und über alle Tiere, wie das Buch der Weisheit erwähnt: »Gott
der Väter und Herr des Erbarmens... den Menschen hast du durch deine
Weisheit erschaffen, damit er über deine Geschöpfe herrscht. Er soll die
Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit leiten« (9, 1. 2-3). Auch der
Psalmist preist die Herrschaft des Menschen als Zeichen der vom Schöpfer
empfangenen Herrlichkeit und Ehre: »Du hast ihn als Herrscher eingesetzt
über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die
Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels
und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht« (Ps
8. 7-9).
Der Mensch, der berufen wurde, den Garten der Welt zu bebauen und zu
hüten (vgl. Gen 2, 15), hat eine besondere Verantwortung für die
Lebensumwelt, das heißt für die Schöpfung, die Gott in den Dienst
seiner personalen Würde, seines Lebens gestellt hat: Verantwortung nicht
nur in bezug auf die gegenwärtige Menschheit, sondern auch auf die
künftigen Generationen. Die ökologische Frage — von der Bewahrung
des natürlichen Lebensraumes der verschiedenen Tierarten und der
vielfältigen Lebensformen bis zur »Humanökologie« im eigentlichen Sinne
des Wortes 28 — findet in dem Bibeltext eine einleuchtende und wirksame
ethische Anleitung für eine Lösung, die das große Gut des Lebens, jeden
Lebens, achtet. In Wirklichkeit ist »die vom Schöpfer dem Menschen
anvertraute Herrschaft keine absolute Macht noch kann man von der Freiheit
sprechen, sie zu 'gebrauchen oder mißbrauchen' oder über die Dinge zu
verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von
Anfang an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, 'von der
Frucht des Baumes zu essen' (vgl. Gen 2, 16-17); sie zeigt mit
genügender Klarheit, daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur
biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man
nicht ungestraft übertreten darf«. 29
43. Eine gewisse Teilhabe des Menschen an der Herrschaft Gottes
offenbart sich auch in der besonderen Verantwortung, die ihm gegenüber
dem eigentlich menschlichen Leben anvertraut wird. Eine Verantwortung,
die ihren Höhepunkt in der Weitergabe des Lebens durch die Zeugung
seitens des Mannes und der Frau in der Ehe erreicht, wie das II.
Vatikanische Konzil ausführt: »Derselbe Gott, der gesagt hat: 'Es ist
nicht gut, daß der Mensch allein sei' (Gen 2, 18), und der 'den
Menschen von Anfang an als Mann und Frau schuf' (Mt 19, 4), wollte
ihm eine besondere Teilnahme an seinem schöpferischen Wirken verleihen,
segnete darum Mann und Frau und sprach: 'Wachset und vermehrt euch' (Gen
1, 28)«. 30
Wenn das Konzil von »einer besonderen Teilnahme« von Mann und Frau am
»schöpferischen Wirken« Gottes spricht, will es hervorheben, daß die
Zeugung des Kindes ein zutiefst menschliches und in hohem Maße religiöses
Ereignis ist, weil sie die Ehegatten, die »ein Fleisch« werden (Gen
2, 24), und zugleich Gott selber hineinzieht, der gegenwärtig ist. Wenn,
wie ich in meinem Brief an die Familien geschrieben habe, »aus der
ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so bringt er
ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott selber
in die Welt: in die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person
eingeschrieben. Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei der
Empfängnis und Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des
Schöpfergottes, beziehen wir uns nicht einfach auf die Gesetze der
Biologie; wir wollen vielmehr hervorheben, daß in der menschlichen
Elternschaft Gott selber in einer anderen Weise gegenwärtig ist
als bei jeder anderen Zeugung »auf Erden«. Denn nur von Gott kann jenes
»Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die dem Menschen wesenseigen ist,
wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die Zeugung ist die Fortführung
der Schöpfung«. 31
Das lehrt in direkter und beredter Sprache der Bibeltext, wenn er vom
Freudenschrei der ersten Frau, der »Mutter aller Lebendigen« (Gen
3, 20), berichtet. Eva, die sich des Eingreifens Gottes bewußt ist, ruft
aus: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gen 4, 1). Durch die
Weitergabe des Lebens von den Eltern an das Kind wird also bei der Zeugung
dank der Erschaffung der unsterblichen Seele 32 das Abbild und Gleichnis
Gottes selbst übertragen. In diesem Sinne heißt es zu Beginn der »Liste
der Geschlechterfolge nach Adam«: »Am Tag, da Gott den Menschen erschuf,
machte er ihn Gott ähnlich. Als Mann und Frau erschuf er sie, er segnete
sie und nannte sie Mensch an dem Tag, da sie erschaffen wurden. Adam war
hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn, der ihm ähnlich war,
wie sein Abbild, und nannte ihn Set« (Gen 5, 1-3). Auf dieser ihrer
Rolle von Mitarbeitern Gottes, der sein Bild auf das neue Geschöpf
überträgt, beruht gerade die Größe der Eheleute, die bereit sind »zur
Mitwirkung mit der Liebe des Schöpfers und Erlösers, der durch sie seine
eigene Familie immer mehr vergrößert und bereichert«. 33 In diesem Licht
pries Bischof Amphilochios die »heilige, erwählte und über alle irdischen
Gaben erhabene Ehe« als »Erzeuger der Menschheit, Urheber von Ebenbildern
Gottes«. 34
So werden Mann und Frau nach Vereinigung in der Ehe zu Teilhabern am
göttlichen Werk: durch den Zeugungsakt wird Gottes Geschenk angenommen,
und ein neues Leben öffnet sich der Zukunft.
Aber über den spezifischen Auftrag der Eltern hinaus betrifft die
Aufgabe, das Leben anzunehmen und ihm zu dienen, alle und muß sich vor
allem gegenüber dem im Zustand größter Schwachheit befindlichen Leben
erweisen. Christus selber erinnert uns daran, wenn er verlangt, daß
man ihn liebt und ihm in den von jeder Art von Leid heimgesuchten Brüdern
dient: Hungernden, Dürstenden, Fremden, Nackten, Kranken, Gefangenen...
Was einem jeden von ihnen getan wird, wird Christus selbst getan (vgl.
Mt 25, 31-46).
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»Du hast mein Inneres
geschaffen« (Ps 139 2, 13): die Würde des ungeborenen Kindes
44. Das menschliche Leben befindet sich in einer Situation großer
Gefährdung, wenn es in die Welt eintritt und wenn es das irdische Dasein
verläßt, um in den Hafen der Ewigkeit einzugehen. Die Aufforderungen zu
Sorge und Achtung vor allem gegenüber dem von Krankheit und Alter
gefährdeten Sein sind im Wort Gottes sehr wohl vorhanden. Wenn es an
direkten und ausdrücklichen Aufforderungen zum Schutz des menschlichen
Lebens in seinen Anfängen, insbesondere des noch ungeborenen wie auch des
zu Ende gehenden Lebens fehlt, so läßt sich das leicht daraus erklären,
daß schon allein die Möglichkeit, das Leben in diesen Situationen zu
verletzen, anzugreifen oder gar zu leugnen, der religiösen und kulturellen
Sicht des Gottesvolkes fremd ist.
Im Alten Testament wird die Unfruchtbarkeit als ein Fluch gefürchtet,
während die zahlreiche Nachkommenschaft als ein Segen empfunden wird:
»Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk«
(Ps 127 3, 3; vgl. Ps 128 4, 3-4). Eine Rolle spielt bei
dieser Überzeugung auch das Bewußtsein Israels, das Volk des Bundes und
berufen zu sein, sich gemäß der an Abraham ergangenen Verheissung zu
vermehren: »Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie
zählen kannst... So zahlreich werden deine Nachkommen sein« (Gen
15, 5). Wirksam ist aber vor allem die Gewißheit, daß das von den Eltern
weitergegebene Leben seinen Ursprung in Gott hat, wie die vielen
Bibelstellen bezeugen, die voll Achtung und Liebe von der Empfängnis, von
der Formung des Lebens im Mutterleib, von der Geburt und von der engen
Verbindung sprechen, die zwischen dem Anfang des Seins und dem Tun Gottes,
des Schöpfers, besteht.
»Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch
ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer
1, 5): die Existenz jedes einzelnen Menschen ist von ihren Anfängen
an im Plan Gottes vorgegeben. Ijob in seinem tiefen Schmerz hält inne,
um eine Betrachtung anzustellen über das Wirken Gottes bei der wunderbaren
Formung seines Leibes im Schoß der Mutter; daraus schließt er den Grund
der Zuversicht und äußert die Gewißheit, daß es einen göttlichen Plan für
sein Leben gebe: »Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht; dann hast
du dich umgedreht und mich vernichtet. Denk daran, daß du wie Ton mich
geschaffen hast. Zum Staub willst du mich zurückkehren lassen. Hast du
mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut
und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich
durchflochten. Leben und Huld hast du mir verliehen, deine Obhut schützte
meinen Geist« (10, 8-12). Hinweise anbetenden Staunens über Gottes
Eingreifen bei der Bildung des Lebens im Mutterleib finden sich auch in
den Psalmen. 35
Wie sollte man annehmen, daß auch nur ein Augenblick dieses
wundervollen Prozesses des Hervorquellens des Lebens dem weisen und
liebevollen Wirken des Schöpfers entzogen sein und der Willkür des
Menschen überlassen bleiben könnte? Die Mutter der sieben Brüder ist
jedenfalls nicht dieser Meinung: sie bekennt ihren Glauben an Gott, Anfang
und Gewähr des Lebens von seiner Empfängnis an und zugleich Grund der
Hoffnung auf das neue Leben über den Tod hinaus: »Ich weiß nicht, wie ihr
in meinem Leib entstanden seid, noch habe ich euch Atem und Leben
geschenkt; auch habe ich keinen von euch aus den Grundstoffen
zusammengefügt. Nein, der Schöpfer der Welt hat den werdenden Menschen
geformt, als er entstand; er kennt die Entstehung aller Dinge. Er gibt
euch gnädig Atem und Leben wieder, weil ihr jetzt um seiner Gesetze willen
nicht auf euch achtet« (2 Makk 7, 22-23).
45. Die Offenbarung des Neuen Testamentes bestätigt die
unbestrittene Anerkennung des Wertes des Lebens von seinen Anfängen an.
Die Lobpreisung der Fruchtbarkeit und die beflissene Erwartung des
Lebens sind aus den Worten herauszuhören, mit denen Elisabet ihrer Freude
über ihre Schwangerschaft Ausdruck verleiht: »Der Herr... hat gnädig auf
mich geschaut und mich von der Schande befreit« (Lk 1, 25). Aber
noch deutlicher verherrlicht wird der Wert der Person von ihrer Empfängnis
an in der Begegnung zwischen der Jungfrau Maria und Elisabet und zwischen
den beiden Kindern, die sie im Schoß tragen. Es sind gerade die Kinder,
die den Anbruch des messianischen Zeitalters offenbaren: in ihrer
Begegnung beginnt die erlösende Kraft der Anwesenheit des Gottessohnes
unter den Menschen wirksam zu werden. »Sogleich — schreibt der hl.
Ambrosius — machen sich die Segnungen des Kommens Marias und der Gegenwart
des Herrn bemerkbar... Elisabet hörte als erste die Stimme, aber Johannes
nahm als erster die Gnade wahr; sie hörte nach den Gesetzen der Natur, er
hörte kraft des Geheimnisses; sie bemerkte die Ankunft Marias, er die des
Herrn: die Frau die Ankunft der Frau, das Kind die Ankunft des Kindes. Die
Frauen sprechen von den empfangenen Gnaden, die Kinder im Schoß der Mütter
verwirklichen die Gnade und das Geheimnis der Barmherzigkeit zum Nutzen
der Mütter selber: und diese sprechen auf Grund eines zweifachen Wunders
unter der Inspiration der Kinder, die sie tragen, Prophezeiungen aus. Von
dem Sohn heißt es, daß er sich freute, von der Mutter, daß sie vom
Heiligen Geist erfüllt wurde. Nicht die Mutter wurde zuerst vom Heiligen
Geist erfüllt, sondern der vom Heiligen Geist erfüllte Sohn war es, der
auch die Mutter mit ihm erfüllte«. 36
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»Voll Vertrauen war ich, auch
wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt« (Ps 116 1, 10): das
Leben im Alter und im Leiden
46. Auch was die letzten Augenblicke der Existenz betrifft, wäre es
anachronistisch, aus der biblischen Offenbarung einen ausdrücklichen Bezug
auf die aktuelle Problematik der Achtung der alten und kranken Menschen
und eine ausdrückliche Verdammung von Versuchen zu erwarten, das Ende
gewaltsam vorwegzunehmen: denn wir befinden uns hier in einem kulturellen
und religiösen Umfeld, das einer derartigen Versuchung nicht ausgesetzt
ist, sondern, was den alten Menschen betrifft, in seiner Weisheit und
Erfahrung einen unersetzlichen Reichtum für die Familie und die
Gesellschaft erkennt.
Das Alter wird von Ansehen gekennzeichnet und von Achtung umgeben
(vgl. 2 Makk 6, 23). Und der Gerechte bittet nicht darum, vom
Alter und seiner Last verschont zu bleiben; er betet im Gegenteil so:
»Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend
auf... Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlaß mich nicht, damit
ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden
Geschlechtern von deiner Stärke« (Ps 71 2, 5. 18). Das Ideal der
messianischen Zeit wird als das hingestellt, in dem »es keinen... Greis 3,
der nicht das volle Alter erreicht« (Jes 65, 20).
Aber wie soll man im Alter dem unvermeidlichen Verfall des Lebens
begegnen? Wie soll man sich dem Tod gegenüber verhalten? Der Gläubige
weiß, daß sein Leben in Gottes Händen ruht: »Herr, du hältst mein Los
in deinen Händen« (vgl. Ps 16 4, 5), und nimmt auch das Sterben von
ihm an: »Er (der Tod) ist das Los, das allen Sterblichen von Gott bestimmt
ist. Was sträubst du dich gegen das Gesetz des Höchsten?« (Sir 41,
4). Wie der Mensch nicht Herr über das Leben ist, so auch nicht über den
Tod; sowohl in seinem Leben wie in seinem Tod muß er sich ganz dem »Willen
des Höchsten«, seinem Plan der Liebe anvertrauen.
Auch zum Zeitpunkt der Krankheit ist der Mensch aufgerufen,
dasselbe Vertrauen zum Herrn zu leben und seine grundsätzliche Zuversicht
in ihn zu erneuern, der »alle Gebrechen heilt« (vgl. Ps 103 5, 3).
Selbst dann, wenn sich vor dem Menschen jede Aussicht auf Gesundheit zu
verschließen scheint — so daß er sich veranlaßt sieht auszurufen: »Meine
Tage schwinden dahin wie Schatten, ich verdorre wie Gras« (Ps 102
6, 12) —, ist der Gläubige von dem unerschütterlichen Glauben an die
lebenspendende Macht Gottes erfüllt. Die Krankheit treibt ihn nicht zur
Verzweiflung und auf die Suche nach dem Tod, sondern zu dem
hoffnungsvollen Ausruf: »Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich
bin tief gebeugt« (Ps 116 7, 10); »Herr, mein Gott, ich habe zu dir
geschrien, und du hast mich geheilt. Herr, du hast mich herausgeholt aus
dem Reich des Todes, aus der Schar der Todgeweihten mich zum Leben
gerufen« (Ps 30 8, 3-4).
47. Die Sendung Jesu zeigt mit den zahlreichen von ihm vollbrachten
Krankenheilungen an, wie sehr Gott auch das physische Leben des
Menschen am Herzen liegt. »Als Leib- und Seelenarzt« 37 wird Jesus vom
Vater gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden und alle zu
heilen, deren Herz zerbrochen ist (vgl. Lk 4, 18; Jes 61,
1). Als er dann seine Jünger in die Welt sendet, erteilt er ihnen einen
Auftrag, in dem die Heilung der Kranken mit der Verkündigung des
Evangeliums einhergehen soll: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist
nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen
aus!« (Mt 10, 7-8; vgl. Mk 6, 13; 16, 18).
Sicher ist für den Gläubigen das physische Leben in seinem irdischen
Zustand kein Absolutum, so daß von ihm gefordert werden kann, es um
eines höheren Gutes willen aufzugeben; denn, wie Jesus sagt, »wer sein
Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen
und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten« (Mk 8, 35).
Dazu gibt es im Neuen Testa- ment eine Reihe von Zeugnissen. Jesus zögert
nicht, sich selbst zu opfern und macht freiwillig sein Leben zu einer
Opfergabe an den Vater (vgl. Joh 10, 17) und an die Seinen (vgl.
Joh 10, 15). Auch der Tod Johannes des Täufers, des Vorläufers des
Erlösers, bezeugt, daß das irdische Leben nicht das absolute Gut ist:
wichtiger ist die Treue zum Wort des Herrn, auch wenn sie das Leben aufs
Spiel setzen kann (vgl. Mk 6, 17-29). Und Stephanus, während er als
treuer Zeuge der Auferstehung des Herrn das irdische Leben verliert, folgt
dem Beispiel des Meisters und geht mit den Worten der Vergebung auf die
zu, die ihn steinigen (vgl. Apg 7, 59-60), womit er den Weg für die
zahllose Schar von Märtyrern öffnet, die von der Kirche von Anfang an
verehrt werden.
Kein Mensch darf jedoch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden;
denn absoluter Herr über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer,
der, »in dem wir leben, uns bewegen und sind« (Apg 17, 28).
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»Alle, die an ihm festhalten,
finden das Leben« (Bar 4, 1): vom Gesetz des Sinai zur
Spendung des Geistes
48. Das Leben trägt unauslöschlich eine ihm wesenseigene Wahrheit
in sich. Der Mensch muß sich, wenn er das Geschenk Gottes annimmt,
bemühen, das Leben in dieser Wahrheit zu erhalten, die für jenes
wesentlich ist. Die Abwendung von ihr ist gleichbedeutend mit der eigenen
Verurteilung zu Bedeutungslosigkeit und Unglück, was zur Folge hat, daß
man auch zu einer Bedrohung für das Leben anderer werden kann, sobald die
Schutzdämme niedergerissen sind, die in jeder Situation die Achtung und
Verteidigung des Lebens garantieren.
Die dem Leben eigene Wahrheit wird vom Gebot Gottes geoffenbart.
Das Wort des Herrn gibt konkret an, welcher Richtung das Leben folgen muß,
um seine Wahrheit respektieren und seine Würde schützen zu können. Nicht
nur das spezifische Gebot »du sollst nicht töten« (Ex 20, 13;
Dtn 5, 17) gewährleistet den Schutz des Lebens: das ganze Gesetz
des Herrn steht im Dienst dieses Schutzes, weil es jene Wahrheit
offenbart, in der das Leben seine volle Bedeutung findet.
Es verwundert daher nicht, daß der Bund Gottes mit seinem Volk so stark
an die Perspektive des Lebens, auch in seiner physischen Dimension,
gebunden ist. Das Gebot wird in ihm als Weg des Lebens
angeboten: »Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod
und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf
die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott,
liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und
Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich werden, und
der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es
in Besitz zu nehmen, segnen« (Dtn 30, 15-16). Hier geht es nicht
nur um das Land Kanaan und um die Existenz des Volkes Israel, sondern um
die heutige und zukünftige Welt und um die Existenz der ganzen Menschheit.
Denn es ist absolut unmöglich, daß das Leben voll glaubwürdig bleibt, wenn
es sich vom Guten entfernt; und das Gute wiederum ist wesentlich an die
Gebote des Herrn gebunden, das heißt an das »lebenspendende Gesetz« (Sir
17, 11). Das Gute, das erfüllt werden soll, kommt nicht wie eine
beschwerende Last zum Leben hinzu, weil der Grund des Lebens selbst ja das
Gute ist und das Leben nur durch die Erfüllung des Guten aufgebaut wird.
Das Gesetz in seiner Gesamtheit schützt also voll das Leben des
Menschen. Daraus erklärt sich, wie schwierig es ist, sich getreu an das
Gebot »du sollst nicht töten« zu halten, wenn die anderen »Worte des
Lebens« (Apg 7, 38), mit denen dieses Gebot zusammenhängt, nicht
eingehalten werden. Außerhalb dieser Sichtweise wird das Gebot schließlich
zu einer bloß äußerlichen Verpflichtung, deren Grenzen sehr rasch sichtbar
werden und für die man nach Abschwächungen oder Ausnahmen suchen wird. Nur
wenn man sich der Fülle der Wahrheit über Gott, über den Menschen und über
die Geschichte öffnet, erstrahlt das Wort »du sollst nicht töten« wieder
als Gut für den Menschen in allen seinen Dimensionen und Beziehungen. Aus
dieser Sicht können wir die Wahrheitsfülle begreifen, die in der Stelle
des Buches Deuteronomium enthalten ist, die Jesus in der Antwort auf die
erste Versuchung aufgreift: »Der Mensch lebt nicht nur von Brot,
sondern... von allem, was der Mund des Herrn spricht« (8, 3; vgl. Mt
4, 4).
Wenn der Mensch das Wort des Herrn hört, kann er würdig und gerecht
leben; wenn der Mensch das Gesetz Gottes befolgt, kann er Früchte bringen
an Leben und Glück: »Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben; doch
alle, die es verlassen, verfallen dem Tod« (Bar 4, 1).
49. Die Geschichte Israels zeigt, wie schwierig es ist, die Treue
zum Gesetz vom Leben aufrechtzuerhalten, das Gott den Menschen ins
Herz geschrieben und dem Bundesvolk am Berg Sinai anvertraut hat.
Angesichts der Suche nach alternativen Lebensprojekten zum Plan Gottes
weisen insbesondere die Propheten mit Nachdruck darauf hin, daß allein der
Herr die authentische Quelle des Lebens ist. So schreibt Jeremia: »Mein
Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des
lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die
das Wasser nicht halten« (2, 13). Die Propheten weisen mit anklagendem
Finger auf alle, die das Leben mißachten und die Rechte der Menschen
verletzen: »Sie treten die Kleinen in den Staub« (Am 2, 7); »Mit dem Blut
Unschuldiger haben sie diesen Ort angefüllt« (Jer 19, 4). Und unter
ihnen prangert der Prophet Ezechiel wiederholt die Stadt Jerusalem an und
nennt sie »die Stadt voll Blutschuld« (22, 2; 24, 6.9), die »Stadt, die in
ihrer Mitte Blut vergießt« (22, 3).
Aber während die Propheten die Angriffe auf das Leben anzeigen, kümmern
sie sich vor allem darum, die Erwartung eines neuen Lebensprinzips
anzuregen, das in der Lage ist, eine erneuerte Beziehung zu Gott und zu
den Schwestern und Brüdern zu begründen. So eröffnen sie noch unbekannte
und außerordentliche Möglichkeiten für das Verständnis und die
Verwirklichung aller im Evangelium vom Leben enthaltenen
Forderungen. Das wird einzig und allein dank der Gabe Gottes möglich sein,
die reinigt und erneuert: »Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann
werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren
Götzen. Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in
euch« (Ez 36, 25-26; vgl. Jer 31, 31-34). Dank dieses »neuen
Herzens« vermag man den eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens zu
begreifen und zu verwirklichen: nämlich eine Gabe zu sein, die sich in
der Hingabe erfüllt. Das ist die lichtvolle Botschaft über den Wert
des Lebens, die uns von der Gestalt des Gottesknechtes zuteil wird: »Der
Herr rettete den, der sein Leben als Sühneopfer hingab. Er wird Nachkommen
sehen und lange leben... Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht«
(Jes 53, 10. 11).
In der Person Jesu von Nazaret erfüllt sich das Gesetz, und durch
seinen Geist wird uns das neue Herz geschenkt. Jesus hebt nämlich das
Gesetz nicht auf, sondern bringt es zur Erfüllung (vgl. Mt 5, 17):
Gesetz und Propheten lassen sich in der goldenen Regel von der
gegenseitigen Liebe zusammenfassen (vgl. Mt 7, 12). In Ihm wird das
Gesetz endgültig zum »Evangelium«, zur Frohbotschaft von der Herrschaft
Gottes über die Welt, die das ganze Dasein auf seine Wurzeln und seine
ursprünglichen Perspektiven zurückführt. Es ist das Neue Gesetz,
»das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus« (Röm 8,
2), dessen grundlegender Ausdruck — in Nachahmung des Herrn, der sein
Leben hingibt für seine Freunde (vgl. Joh 15, 13) — die
Selbsthingabe in der Liebe zu den Schwestern und Brüdern ist: »Wir
wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir
die Brüder lieben« (1 Joh 3, 14). Es ist das Gesetz der Freiheit,
der Freude und der Seligkeit.
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»Sie werden auf den blicken,
den sie durchbohrt haben« (Joh 19, 37): am Stamm des Kreuzes
erfüllt sich das Evangelium vom Leben
50. Zum Abschluß dieses Kapitels, in dem wir Betrachtungen zur
christlichen Botschaft über das Leben angestellt haben, möchte ich mit
einem jeden von euch innehalten, um uns in den zu versenken, den sie
durchbohrt haben und der alle an sich zieht (vgl. Joh 19, 37;
12, 32). Wenn wir »das Schauspiel« der Kreuzigung (vgl. Lk 23, 48)
betrachten, werden wir an diesem glorreichen Stamm die Erfüllung und volle
Offenbarung des ganzen Evangeliums vom Leben entdecken können.
In den frühen Nachmittagsstunden des Karfreitag, »brach eine Finsternis
über das ganze Land herein... Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im
Tempel riß mitten entzwei« (Lk 23, 44. 45). Das ist das Symbol
einer gewaltigen kosmischen Umwälzung und eines schrecklichen Kampfes
zwischen den Mächten des Guten und den Mächten des Bösen, zwischen Leben
und Tod. Auch wir befinden uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes
zwischen der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens«. Aber von
dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses
hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als
Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes
Menschenlebens.
Der an das Kreuz genagelte Jesus wird erhöht. Er erlebt den Augenblick
seiner größten »Ohnmacht«, und sein Leben scheint völlig dem Hohn und
Spott seiner Widersacher und den Händen seiner Mörder preisgegeben zu
sein: er wird verspottet, verhöhnt, geschmäht (vgl. Mk 15, 24-36).
Doch gerade angesichts all dessen ruft der römische Hauptmann aus, als er
»ihn auf diese Weise sterben sah«: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes
Sohn!« (Mk 15, 39). So wird im Augenblick seiner äußersten
Schwachheit die Identität des Gottessohnes offenbar: am Kreuz offenbart
sich seine Herrlichkeit!
Durch seinen Tod erhellt Jesus den Sinn des Lebens und des Todes jedes
Menschen. Vor seinem Tod betet Jesus zum Vater und ruft ihn um Vergebung
für seine Verfolger an (vgl. Lk 23, 34), und dem Verbrecher, der
ihn bittet, an ihn zu denken, wenn er in sein Reich kommt, antwortet er:
»Amen, das sage ich dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk
23, 43). Nach seinem Tod »öffneten sich die Gräber, und die Leiber
vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt« (Mt 27,
52). Das von Jesus gewirkte Heil ist Geschenk des Lebens und der
Auferstehung. Während seines Erdendaseins hatte Jesus auch Heil geschenkt,
indem er alle heilte und segnete (vgl. Apg 10, 38). Aber die
Wunder, die Krankenheilungen und selbst die Auferweckungen waren Zeichen
für ein anderes Heil, das in der Vergebung der Sünden, das heißt in der
Befreiung des Menschen von der tiefsten Krankheit, und in seiner Erhebung
zum Leben Gottes selbst besteht.
Am Kreuz erneuert und verwirklicht sich in seiner ganzen, endgültigen
Vollendung das Wunder von der von Mose in der Wüste erhöhten Schlange
(vgl. Joh 3, 14-15; Num 21, 8-9). Auch heute begegnet jeder
in seiner Existenz bedrohte Mensch, wenn er auf den blickt, der durchbohrt
wurde, der sicheren Hoffnung, Befreiung und Erlösung zu finden.
51. Aber da ist noch eine andere genaue Begebenheit, die meinen Blick
auf sich zieht und ein ergriffenes Nachdenken bei mir auslöst: »Als Jesus
von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte
das Haupt und gab seinen Geist auf« (Joh 19, 30). Und der römische
Soldat »stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und
Wasser heraus« (Joh 19, 34).
Nun hat alles seine ganze Vollendung erlangt. Das »Aufgeben des
Geistes« beschreibt den Tod Jesu ähnlich dem jedes anderen Menschen,
spielt aber, wie es scheint, auch auf die »Spendung des Geistes« an, durch
die er uns vom Tod befreit und uns einem neuen Leben öffnet.
Es ist das Leben Gottes selbst, das dem Menschen zuteil wird. Es ist
das Leben, das durch die Sakramente der Kirche — deren Symbole sind das
aus der Seite Christi geflossene Blut und Wasser — ständig den Kindern
Gottes mitgeteilt wird, die so das Volk des neuen Bundes bilden. Vom
Kreuz, der Quelle des Lebens her entsteht das »Volk des Lebens« und
breitet sich aus.
Die Betrachtung des Kreuzes führt uns so zu den tiefsten Wurzeln des
ganzen Geschehens. Jesus, der beim Eintritt in die Welt gesagt hatte: »Ja,
Gott, ich komme, um deinen Willen zu tun« (vgl. Hebr 10, 9), war in
allem dem Vater gehorsam, und da er »die Seinen, die in der Welt waren,
liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung« (Joh 13,
1), indem er sich ganz für sie hingab.
Er, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu
dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10,
45), erreicht am Kreuz den Gipfel der Liebe. »Es gibt keine größere Liebe,
als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Joh 15, 13).
Und er ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren (vgl. Röm
5, 8).
Solcherart verkündet er, daß das Leben seinen Mittelpunkt, seinen
Sinn und seine Fülle erreicht, wenn es verschenkt wird.
An diesem Punkt wird die Meditation zu Lobpreis und Dank und spornt uns
gleichzeitig an, Jesus nachzuahmen und seinen Spuren zu folgen (vgl. 1
Petr 2, 21).
Auch wir sind aufgerufen, unser Leben für die Brüder hinzugeben und so
den Sinn und die Bestimmung unseres Daseins in ihrer Wahrheitsfülle zu
verwirklichen.
Wir können das fertigbringen, weil Du, o Herr, uns das Beispiel gegeben
und uns die Kraft deines Geistes mitgeteilt hast. Wir können das
fertigbringen, wenn wir jeden Tag mit Dir und wie Du, dem Vater gehorsam
sind und seinen Willen tun.
Laß uns daher mit bereitem und selbstlosem Herzen jedes Wort hören, das
aus dem Mund des Herrn kommt: so werden wir lernen, nicht nur das Leben
des Menschen »nicht zu töten«, sondern es in Ehren zu halten, zu lieben
und zu fördern.
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III. KAPITEL - DU SOLLST
NICHT TÖTEN - DAS HEILIGE GESETZ GOTTES
»Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt
19, 17): Evangelium und Gebot
52. »Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muß ich Gutes
tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« (Mt 19, 16). Jesus antwor-
tete: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19,
17). Der Meister spricht vom ewigen Leben, das heißt von der Teilhabe am
Leben Gottes selbst. Dieses Leben erlangt man durch die Einhaltung der
Gebote des Herrn, also einschließlich des Gebotes »du sollst nicht töten«.
Genau dieses ist denn auch das erste der Zehn Gebote, an das Jesus den
jungen Mann erinnert, der ihn fragt, welche Gebote er einhalten müsse:
»Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen,
du sollst nicht stehlen...« (Mt 19, 18).
Gottes Gebot ist niemals getrennt von seiner Liebe: es ist stets
ein Geschenk zu Wachstum und Freude des Menschen. Als solches stellt es
einen wesentlichen Aspekt und ein unverzichtbares Element des Evangeliums
dar, ja, es nimmt selbst Gestalt an als »Evangelium«, das heißt als frohe
Botschaft. Auch das Evangelium vom Leben ist für den Menschen ein
großes Gottesgeschenk und zugleich eine verpflichtende Aufgabe. Es weckt
beim freien Menschen Staunen und Dankbarkeit und erfordert, mit lebendigem
Verantwortungsbewußtsein angenommen, bewahrt und erschlossen zu werden:
Gott fordert vom Menschen, dem er das Leben schenkt, daß er
es liebt, achtet und fördert. Auf diese Weise wird das Geschenk zum
Gebot, und das Gebot selbst offenbart sich als Geschenk.
Der Mensch, lebendiges Abbild Gottes, war von seinem Schöpfer als König
und Herr gewollt. »Gott hat den Menschen so gemacht — schreibt der hl.
Gregor von Nyssa —, daß er seine Rolle als König der Erde erfüllt... Der
Mensch ist nach dem Bild dessen geschaffen worden, der der Herrscher über
das Universum ist. Alles weist darauf hin, daß sein Wesen von Anfang an
vom Königtum gekennzeichnet ist... Auch der Mensch ist König. Geschaffen,
um die Welt zu beherrschen, hat er die Ähnlichkeit mit dem universalen
König empfangen, ist er das lebendige Abbild, das durch seine Würde an der
Vollkommenheit des göttlichen Vorbildes teilhat«. 38 Der Mensch, der
aufgerufen ist fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, sich die Erde zu
unterwerfen und über die anderen Geschöpfe zu herrschen (vgl. Gen
1, 28), ist nicht nur König und Herr über die Dinge, sondern auch und vor
allem über sich selbst 39 und in gewissem Sinne über das Leben, das ihm
geschenkt wird und das er durch den in Liebe und in der Achtung vor Gottes
Plan vollzogenen Zeugungsakt weitergeben kann. Bei seiner Herrschaft
handelt es sich jedoch nicht um eine absolute, sondern um eine
übertragene; sie ist realer Widerschein der alleinigen und unendlichen
Herrschaft Gottes. Darum muß sie der Mensch durch Teilhabe an der
unermeßlichen Weisheit und Liebe Gottes mit Weisheit und Liebe
leben. Und das geschieht durch den Gehorsam gegenüber seinem heiligen
Gesetz: ein freier und froher Gehorsam (vgl. Ps 119 1), der aus dem
Bewußtsein erwächst und genährt wird, daß die Gebote des Herrn ein
Gnadengeschenk sind und dem Menschen immer nur zu seinem Besten um des
Schutzes seiner persönlichen Würde und der Erreichung seines Glücks willen
anvertraut werden.
Wie schon in bezug auf die Sachwelt, so gilt noch mehr in bezug auf das
Leben, daß der Mensch nicht absoluter Herr und unanfechtbarer
Schiedsrichter ist, sondern — und darauf beruht seine unvergleichliche
Größe — »Vollstrecker des Planes Gottes«. 40
Das Leben wird dem Menschen anvertraut als ein Schatz, den er nicht
zerstreuen, als ein Talent, das er wirtschaftlich verwalten soll. Darüber
muß der Mensch seinem Herrn Rechenschaft ablegen (vgl. Mt 25,
14-30; Lk 19, 12-27).
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»Für das Leben des Menschen
fordere ich Rechenschaft vom Menschen« (Gen 9, 5): das
menschliche Leben ist heilig und unantastbar
53. »Das menschliche Leben ist als etwas Heiliges anzusehen, da es ja
schon von seinem Anfang an 'das Handeln des Schöpfers erfordert? und immer
in einer besonderen Beziehung mit dem Schöpfer, seinem einzigen Ziel,
verbunden bleibt. Gott allein ist der Herr des Lebens vom Anfang bis zum
Ende: Niemand kann sich — unter keinen Umständen — das Recht anmaßen,
einem unschuldigen menschlichen Geschöpf direkt den Tod zuzufügen«. 41 Mit
diesen Worten legt die Instruktion Donum vitae den zentralen Inhalt
der Offenbarung Gottes über die Heiligkeit und Unantastbarkeit des
menschlichen Lebens dar.
Denn die Heilige Schrift legt dem Menschen die Vorschrift »Du
sollst nicht töten« als göttliches Gebot vor (Ex 20, 13; Dtn
5, 17). Es steht — wie ich schon unterstrichen habe — im Dekalog, im
Herzen des Bundes, den der Herr mit dem auserwählten Volk schließt; doch
enthalten war es bereits in dem allerersten Bund Gottes mit der Menschheit
nach der reinigenden Strafe der Sintflut, die durch das Überhandnehmen von
Sünde und Gewalt ausgelöst worden war (vgl. Gen 9, 5-6).
Gott erklärt sich zum absoluten Herrn über das Leben des nach seinem
Bild und Gleichnis gestalteten Menschen (vgl. Gen 1, 26-28). Das
menschliche Leben weist somit einen heiligmäßigen und unverletzlichen
Charakter auf, in dem sich die Unantastbarkeit des Schöpfers selber
widerspiegelt. Eben deshalb wird Gott zum strengen Richter einer jeden
Verletzung des Gebotes »du sollst nicht töten«, das die Grundlage des
gesamten menschlichen Zusammenlebens bildet. Er ist der »goel«, das heißt
der Verteidiger des Unschuldigen (vgl. Gen 4, 9-15; Jes 41,
14; Jer 50, 34; Ps 19 2, 15). Auch auf diese Weise macht
Gott deutlich, daß er keine Freude am Untergang der Lebenden hat (vgl.
Weish 1, 13). Nur der Teufel vermag sich darüber zu freuen: durch
seinen Neid kam der Tod in die Welt (vgl. Weish 2, 24). Er, der
»ein Mörder von Anfang an« ist, ist auch »ein Lügner und der Vater der
Lüge« (Joh 8, 44): durch Irreführung lenkt er den Menschen auf die
Ziele Sünde und Tod, die als Lebensziele und Erfolge hingestellt werden.
54. Das Gebot »du sollst nicht töten« besitzt einen ausgesprochen
starken negativen Inhalt: es zeigt die äußerste Grenze auf, die niemals
überschritten werden darf. Implizit jedoch spornt es zu einem positiven
Verhalten der absoluten Achtung vor dem Leben an mit dem Ziel, es zu
fördern und auf dem Weg der Liebe, die sich verschenkt, die annimmt und
dient, fortzuschreiten. Auch das Volk des Alten Bundes hat, wenn auch
langsam und mit Widersprüchen, nach dieser Auffassung eine fortschreitende
Reife gekannt und sich so auf die großartige Verkündigung Jesu
vorbereitet: das Gebot der Nächstenliebe ist dem Gebot der Gottesliebe
ähnlich; »an diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den
Propheten« (vgl. Mt 22, 36-40). »Denn die Gebote... du sollst nicht
töten... und alle anderen Gebote — unterstreicht der hl. Paulus — sind in
dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst« (Röm 13, 9; vgl. Gal 5, 14). Nachdem es in das Neue
Gesetz übernommen und in ihm zur Vollendung gebracht worden ist, bleibt
das Gebot »du sollst nicht töten« unverzichtbare Voraussetzung, um »das
Leben erlangen« zu können (vgl. Mt 19, 16-19). Aus dieser Sicht
klingt auch das Wort des Apostels Johannes endgültig: »Jeder, der seinen
Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat ewiges Leben,
das in ihm bleibt« (1 Joh 3, 15).
Die lebendige Tradition der Kirche hat von ihren Anfängen an —
wie die Didaché, die älteste außerbiblische christliche Lehrschrift
bezeugt — das Gebot »du sollst nicht töten« in kategorischer Form wieder
aufgegriffen: »Es gibt zwei Wege, der eine ist der Weg des Lebens, der
andere der des Todes; zwischen ihnen besteht ein großer Unterschied...
Nach der Vorschrift der Lehre: Du sollst nicht töten..., du sollst ein
Kind weder abtreiben noch ein Neugeborenes töten... Der Weg des Todes ist
folgender:... sie haben kein Mitleid mit dem Armen, sie leiden nicht mit
dem Leidenden, sie anerkennen nicht ihren Schöpfer, sie töten ihre Kinder
und bringen durch Abtreibung Geschöpfe Gottes um; sie schicken den
Bedürftigen fort, unterdrücken den Geplagten, sind Anwälte der Reichen und
ungerechte Richter der Armen; sie sind voller Sünde. Mögt ihr, o Söhne,
euch stets von all dieser Schuld fernhalten!«. 42
Im Laufe der Zeit hat die Tradition der Kirche immer einmütig den
absoluten und bleibenden Wert des Gebotes »du sollst nicht töten« gelehrt.
Bekanntlich wurde in den ersten Jahrhunderten der Mord — zusammen mit
Abtrünnigkeit vom Glauben und Ehebruch — unter die drei schwersten Sünden
gereiht und eine besonders schwere und lange öffentliche Bube verlangt,
ehe dem reuigen Mörder Vergebung und die Wiederaufnahme in die kirchliche
Gemeinschaft gewährt wurden.
55. Das darf uns nicht erstaunen: das Töten eines Menschen, in dem das
Bild Gottes gegenwärtig ist, ist eine besonders schwere Sünde. Gott
allein ist Herr des Lebens! Doch angesichts der vielfältigen und oft
dramatischen Begebenheiten, die das Leben des einzelnen und der
Gemeinschaft bereithält, haben die Gläubigen seit eh und je darüber
nachgedacht und versucht, zu einer vollständigeren und tieferen Einsicht
dessen zu gelangen, was das Gebot Gottes verbietet und vorschreibt. 43 Es
gibt nämlich Situationen, in denen die vom Gesetz Gottes festgelegten
Werte in Form eines wirklichen Widerspruchs erscheinen. Das kann zum
Beispiel bei der Notwehr der Fall sein, in der das Recht, das
eigene Leben zu schützen, und die Pflicht, das Leben des anderen nicht zu
verletzen, sich nur schwer miteinander in Einklang bringen lassen.
Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung,
sich selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein
wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom Alten
Testament verkündete und von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der
Liebe zu den anderen setzt die Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus:
»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Mk 12,
31). Auf das Recht sich zu verteidigen könnte demnach niemand aus
mangelnder Liebe zum Leben oder zu sich selbst, sondern nur kraft einer
heroischen Liebe verzichten, die die Eigenliebe vertieft und gemäß dem
Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt 5, 38-48) in die
aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr
Jesus selber ist.
Andererseits »kann die Notwehr für den, der für das Leben anderer oder
für das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist,
nicht nur ein Recht, sondern eine schwerwiegende Verpflichtung sein«. 44
Es geschieht leider, daß die Notwendigkeit, den Angreifer unschädlich zu
machen, mitunter seine Tötung mit sich bringt. In diesem Fall wird der
tödliche Ausgang dem Angreifer zur Last gelegt, der sich ihm durch seine
Tat ausgesetzt hat, auch für den Fall, daß er aus Mangel an
Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre. 45
56. In diesen Problemkreis gehört auch die Frage der Todesstrafe,
wobei in der Kirche wie in der weltlichen Gesellschaft zunehmend eine
Tendenz festzustellen ist, die eine sehr begrenzte Anwendung oder
überhaupt die völlige Abschaffung der Todesstrafe fordert. Das Problem muß
in die Optik einer Strafjustiz eingeordnet werden, die immer mehr der
Würde des Menschen und somit letzten Endes Gottes Plan bezüglich des
Menschen und der Gesellschaft entsprechen soll. Tatsächlich soll die von
der Gesellschaft verhängte Strafe »in erster Linie die durch das Vergehen
herbeigeführte Unordnung wiedergutmachen«. 46 Die öffentliche Autorität
muß die Verletzung der Rechte des einzelnen und der Gemeinschaft dadurch
wiedergutmachen, daß sie dem Schuldigen als Vorbedingung für seine
Wiederentlassung in die Freiheit eine angemes- sene Sühne für d as
Vergehen auferlegt. Auf diese Weise erreicht die Autorität auch das Ziel,
die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Person zu verteidigen und
zugleich dem Schuldigen selbst einen Ansporn und eine Hilfe zur Besserung
und Heilung anzubieten. 47
Um alle diese Ziele zu erreichen, müssen Ausmaß und Art der Strafe
sorgfältig abgeschätzt und festgelegt werden und dürfen außer in
schwerwiegendsten Fällen, das heißt wenn der Schutz der Gesellschaft nicht
anders möglich sein sollte, nicht bis zum Äußersten, nämlich der
Verhängung der Todesstrafe gegen den Schuldigen, gehen. Solche Fälle sind
jedoch heutzutage infolge der immer angepaßteren Organisation des
Strafwesens schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben.
Jedenfalls bleibt der vom neuen Katechismus der Katholischen Kirche
angeführte Grundsatz gültig: »soweit unblutige Mittel hinreichen, um
das Leben der Menschen gegen Angreifer zu verteidigen und die öffentliche
Ordnung und die Sicherheit der Menschen zu schützen, hat sich die
Autorität an diese Mittel zu halten, denn sie entsprechen besser den
konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und sind der Menschenwürde
angemessener«. 48
57. Wenn auf die Achtung jeden Lebens, sogar des Schuldigen und des
ungerechten Angreifers, so große Aufmerksamkeit verwendet wird, hat das
Gebot »du sollst nicht töten« absoluten Wert, wenn es sich auf den
unschuldigen Menschen bezieht. Und das umso mehr, wenn es sich um ein
schwaches und schutzloses menschliches Lebewesen handelt, das einzig in
der absoluten Kraft des Gebotes Gottes seinen radikalen Schutz gegenüber
der Willkür und Gewalttätigkeit der anderen findet.
Die absolute Unantastbarkeit des unschuldigen Menschenlebens ist in der
Tat eine in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrte, in der Tradition
der Kirche ständig aufrechterhaltene und von ihrem Lehramt einmütig
vorgetragene sittliche Wahrheit. Diese Einmütigkeit ist sichtbare Frucht
jenes vom Heiligen Geist geweckten und getragenen »übernatürlichen
Glaubenssinnes«, der das Gottesvolk vor Irrtum bewahrt, wenn es »seine
allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert«.
49
Da im Bewußtsein der Menschen und in der Gesellschaft das
Wahrnehmungsvermögen dafür, daß die direkte, d.h. vorsätzliche Tötung
jedes unschuldigen Menschenlebens, besonders in seinem Anfangs– und
Endstadium, ein absolutes und schweres sittliches Vergehen darstellt,
zunehmend schwächer wird, hat das Lehramt der Kirche seine
Interventionen zur Verteidigung der Heiligkeit und Unantastbarkeit des
menschlichen Lebens verstärkt. Mit dem besonders insistierenden
päpstlichen Lehramt hat sich das bischöfliche Lehramt mit zahlreichen
umfassenden Lehr– und Pastoraldokumenten der Bischofskonferenzen wie
einzelner Bischöfe stets vereinigt. Und auch der feste und in seiner Kürze
markante Beitrag des II. Vatikanischen Konzils blieb nicht aus. 50
Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen
Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der
katholischen Kirche, daß die direkte und freiwillige Tötung eines
unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist.
Diese Lehre, die auf jenem ungeschriebenen Gesetz begründet ist, das jeder
Mensch im Lichte der Vernunft in seinem Herzen findet (vgl. Röm 2,
14-15), ist von der Heiligen Schrift neu bestätigt, von der Tradition der
Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt gelehrt.
51
Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines
Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich
und kann niemals, weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck
gestattet werden. Sie ist in der Tat ein schwerer Ungehorsam gegen das
Sittengesetz, ja gegen Gott selber, seinen Urheber und Garanten; sie
widerspricht den Grundtugenden der Gerechtigkeit und der Liebe. »Niemand
und nichts kann in irgendeiner Weise zulassen, daß ein unschuldiges
menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein Fötus oder ein Embryo, ein
Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer unheilbaren Krankheit
Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem ist es niemandem
erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen anderen, der
seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in eine
solche 3 nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie
keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben«. 52
Was das Recht auf Leben betrifft, ist jedes unschuldige menschliche
Lebewesen allen anderen absolut gleich. Diese Gleichheit bildet die
Grundlage jeder echten sozialen Beziehung, die, wenn sie wirklich eine
solche sein soll, auf der Wahrheit und der Gerechtigkeit gründen muß,
indem sie jeden Mann und jede Frau als Person anerkennt und schützt und
nicht als eine Sache betrachtet, über die man verfügen könne. Im Hinblick
auf die sittliche Norm, die die direkte Tötung eines unschuldigen Menschen
verbietet, »gibt es für niemanden Privilegien oder Ausnahmen. Ob
einer der Herr der Welt oder der Letzte, »Elendeste« auf Erden ist, macht
keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle absolut
gleich«. 53
|
»Deine Augen sahen, wie ich
entstand« (Ps 139 4, 16): das verabscheuungswürdige
Verbrechen der Abtreibung
58. Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen
kann, weist die Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders
schwerwiegend und verwerflich machen. Das II. Vatikanische Konzil
bezeichnet sie und die Tötung des Kindes als »verabscheuungswürdiges
Verbrechen«. 54
Doch heute hat sich im Gewissen vieler die Wahrnehmung der Schwere des
Vergehens nach und nach verdunkelt. Die Billigung der Abtreibung in
Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für
eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewußtseins, das immer weniger
imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, selbst dann, wenn
das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht. Angesichts einer so ernsten
Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu
schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen
Kompromissen oder der Versuchung zur Selbsttäuschung nachzugeben. In
diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: »Weh
denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum
Licht und das Licht zur Finsternis machen« (Jes 5, 20). Gerade in
bezug auf die Abtreibung ist die Verbreitung eines zweideutigen
Sprachgebrauchs festzustellen, wie die Formulierung »Unterbrechung der
Schwangerschaft«, die darauf abzielt, deren wirkliche Natur zu verbergen
und ihre Schwere in der öffentlichen Meinung abzuschwächen. Vielleicht ist
dieses sprachliche Phänomen selber Symptom für ein Unbehagen des
Gewissens. Doch kein Wort vermag die Realität der Dinge zu ändern: die
vorsätzliche Abtreibung ist, wie auch immer sie vorgenommen werden mag,
die beabsichtigte und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes in dem
zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz.
Die sittliche Schwere der vorsätzlichen Abtreibung wird in ihrer ganzen
Wahrheit deutlich, wenn man erkennt, daß es sich um einen Mord handelt,
und insbesondere, wenn man die spezifischen Umstände bedenkt, die ihn
kennzeichnen. Getötet wird hier ein menschliches Geschöpf, das gerade erst
dem Leben entgegengeht, das heißt das absolut unschuldigste Wesen,
das man sich vorstellen kann: es könnte niemals als Angreifer und schon
gar nicht als ungerechter Angreifer angesehen werden! Es ist schwach,
wehrlos, so daß es selbst ohne jenes Minimum an Verteidigung ist, wie sie
die flehende Kraft der Schreie und des Weinens des Neugeborenen darstellt.
Es ist voll und ganz dem Schutz und der Sorge derjenigen
anvertraut, die es im Schoß trägt. Doch manchmal ist es gerade sie,
die Mutter, die seine Tötung beschließt und darum ersucht und sie sogar
vornimmt.
Gewiß nimmt der Entschluß zur Abtreibung für die Mutter sehr oft einen
dramatischen und schmerzlichen Charakter an, wenn die Entscheidung, sich
der Frucht der Empfängnis zu entledigen, nicht aus rein egoistischen und
Bequemlichkeitsgründen gefaßt wurde, sondern weil manche wichtigen Güter,
wie die eigene Gesundheit oder ein anständiges Lebensniveau für die
anderen Mitglieder der Familie gewahrt werden sollten. Manchmal sind für
das Ungeborene Existenzbedingungen zu befürchten, die den Gedanken
aufkommen lassen, es wäre für dieses besser nicht geboren zu werden.Niemals
jedoch können diese und ähnliche Gründe, mögen sie noch so ernst und
dramatisch sein, die vorsätzliche Vernichtung eines unschuldigen
Menschen rechtfertigen.
59. Den Tod des noch ungeborenen Kindes beschließen außer der Mutter
häufig andere Personen. Schuldig sein kann vor allem der Vater des Kindes,
nicht nur, wenn er die Frau ausdrücklich zur Abtreibung drängt, sondern
auch, wenn er ihre Entscheidung dadurch indirekt begünstigt, daß er sie
mit den Problemen der Schwangerschaft allein läßt: 55 auf diese Weise wird
die Familie tödlich verletzt und in ihrem Wesen als Liebesgemeinschaft und
in ihrer Berufung, »Heiligtum des Lebens« zu sein, entwürdigt. Nicht
verschwiegen werden dürfen sodann die Beeinflussungen, die aus dem
weiteren Familienverband und von Freunden kommen. Nicht selten ist die
Frau einem so starken Druck ausgesetzt, daß sie sich psychologisch
gezwungen fühlt, in die Abtreibung einzuwilligen: ohne Zweifel lastet in
diesem Fall die sittliche Verantwortung besonders auf denen, die sie
direkt oder indirekt gezwungen haben, eine Abtreibung vorzunehmen.
Verantwortlich sind auch die Ärzte und das Pflegepersonal, wenn sie ihre
berufliche Kompetenz, die sie erworben haben, um das Leben zu fördern, in
den Dienst des Todes stellen.
Aber in die Verantwortung miteinbezogen sind auch die Gesetzgeber, die
Abtreibungsgesetze gefördert und beschlossen haben, und in dem Maße, in
dem die Sache von ihnen abhängt, die Verwalter der Einrichtungen des
Gesundheitswesens, die für die Durchführung von Abtreibungen benutzt
werden. Eine nicht minder schwere allgemeine Verantwortung betrifft sowohl
alle, die die Verbreitung einer Mentalität sexueller Freizügigkeit und
Geringschätzung der Mutterschaft begünstigt haben, als auch diejenigen,
die wirksame familien– und sozialpolitische Maßnahmen zur Unterstützung
der Familien, namentlich der kinderreichen oder mit besonderen
wirtschaftlichen und erzieherischen Schwierigkeiten belasteten Familien,
hätten sicherstellen müssen, dies aber nicht getan haben. Nicht
unterschätzt werden darf schließlich das Netz der Mittäterschaft, das sich
bis auf internationale Institutionen, Stiftungen und Vereinigungen
ausdehnt, die systematisch für die Legalisierung und Verbreitung der
Abtreibung in der Welt kämpfen. Damit übersteigt die Abtreibung die
Verantwortung der einzelnen Personen und den ihnen verursachten Schaden
und nimmt eine stark soziale Dimension an: sie ist eine sehr schwere
Verletzung, die der Gesellschaft und ihrer Kultur von denen zugefügt
wird, die sie aufbauen und verteidigen sollten. Wie ich in meinem Brief
an die Familien schrieb, »stehen wir vor einer enormen Bedrohung des
Lebens, nicht nur einzelner Individuen, sondern auch der ganzen
Zivilisation«. 56 Wir stehen vor dem, was als eine gegen das noch
ungeborene menschliche Leben gerichtete »Sündenstruktur« definiert
werden kann.
60. Manche versuchen, die Abtreibung durch die Behauptung zu
rechtfertigen, die Frucht der Empfängnis könne, wenigstens bis zu einer
bestimmten Zahl von Tagen, noch nicht als ein persönliches menschliches
Leben angesehen werden. In Wirklichkeit »beginnt in dem Augenblick, wo das
Ei befruchtet wird, ein Leben, das nicht das des Vaters oder der Mutter,
sondern eines neuen menschlichen Geschöpfes ist, das sich eigenständig
entwickelt. Es wird nie menschlich werden, wenn es das nicht von dem
Augenblick an gewesen ist. Für die Augenfälligkeit dieser alten
Einsicht... liefert die moderne genetische Forschung wertvolle
Bestätigungen. Sie hat gezeigt, daß vom ersten Augenblick an das Programm
für das, was dieses Lebewesen sein wird, festgelegt ist: eine Person,
diese individuelle Person mit ihren bekannten, schon genau festgelegten
Wesensmerkmalen. Bereits mit der Befruchtung hat das Abenteuer eines
Menschenlebens begonnen, von dessen großen Fähigkeiten jede einzelne Zeit
braucht, um sich zu organisieren und funktionsbereit zu sein«. 57 Auch
wenn das Vorhandensein einer Geistseele von keiner experimentellen
Beobachtung ausgemacht werden kann, liefern die Schlußfolgerungen der
Wissenschaft über den menschlichen Embryo »einen wertvollen Hinweis, um
das Vorhandensein einer Person von diesem ersten Erscheinen eines
menschlichen Lebens an rational zu erkennen: sollte ein menschliches
Individuum etwa nicht eine menschliche Person sein?« 58
Im übrigen ist der Einsatz, der auf dem Spiel steht, so groß, daß unter
dem Gesichtspunkt der moralischen Verpflichtung schon die bloße
Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen
würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur
Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird. Eben deshalb hat die
Kirche jenseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und selbst der
philosophischen Aussagen, auf die sich das Lehramt nicht ausdrücklich
eingelassen hat, stets gelehrt und lehrt noch immer, daß der Frucht der
menschlichen Zeugung vom ersten Augenblick ihrer Existenz an jene
unbedingte Achtung zu gewährleisten ist, die dem Menschen in seiner
leiblichen und geistigen Ganzheit und Einheit moralisch geschuldet wird:
»Ein menschliches Geschöpf ist von seiner Empfängnis an als Person zu
achten und zu behandeln, und deshalb sind ihm von jenem Augenblick an
die Rechte einer Person zuzuerkennen, als deren erstes das unverletzliche
Recht auf Leben angesehen wird, dessen sich jedwedes unschuldige
menschliche Geschöpf erfreut«. 59
61. Auch wenn die Texte der Heiligen Schrift nie von einer
vorsätzlichen Abtreibung sprechen und deshalb keine direkten und
spezifischen Verurteilungen diesbezüglich enthalten, so weisen sie doch
auf eine Betrachtung des menschlichen Lebewesens im Mutterleib hin, deren
logische Konsequenz die Forderung ist, daß Gottes Gebot: »du sollst nicht
töten« auch auf dieses noch ungeborene Leben anzuwenden sei.
Das menschliche Leben ist in jedem Augenblick seiner Existenz, auch in
jenem Anfangsstadium, das der Geburt vorausgeht, heilig und unantastbar.
Der Mensch gehört vom Mutterschoß an Gott, der alles erforscht hat und
kennt, der ihn mit seinen Händen formt und gestaltet, der ihn sieht,
während er noch ein kleiner formloser Embryo ist, und der in ihm bereits
den Erwachsenen von morgen sieht, dessen Tage gezählt sind und dessen
Berufung schon in dem »Buch des Lebens« verzeichnet ist (vgl. Ps
139 1, 1. 13-16). Auch da, wenn er sich also noch im Mutterschoß befindet,
ist — wie zahlreiche Bibeltexte bezeugen 60 — der Mensch das persönlichste
Ziel der liebenden und väterlichen Vorsehung Gottes.
Die christliche Überlieferung stimmt — wie die von der
Kongregation für die Glaubenslehre diesbezüglich herausgegebene Erklärung
gut hervorhebt 61 — von den Anfängen bis in unsere Tage klar darin
überein, daß sie die Abtreibung als besonders schwerwiegende sittliche
Verwilderung einstuft. Die erste christliche Gemeinde hat sich seit der
ersten Konfrontation mit der griechisch-römischen Welt, in der die
Abtreibung und die Kindestötung weitgehend praktiziert wurden, durch ihre
Lehre und ihre Praxis den in jener Gesellschaft herrschenden
Gepflogenheiten radikal widersetzt, wofür die bereits zitierte Didachè
ein klarer Beweis ist. 62 Unter den kirchlichen Schriftstellern aus
dem griechischen Raum erwähnt Athenagoras, daß die Christen Frauen, die
auf medizinische Eingriffe zur Abtreibung zurückgreifen, als Mörderinnen
ansehen, weil die Kinder, auch wenn sie noch im Mutterschoß sind, »bereits
das Objekt der Fürsorge der göttlichen Vorsehung sind«. 63 Unter den
lateinischen Schriftstellern behauptet Tertullian: »Die Verhinderung der
Geburt ist vorzeitiger Mord; es kommt nicht darauf an, ob man die schon
geborene Seele tötet oder sie beim Zurweltkommen auslöscht. Es ist bereits
der Mensch, der er später sein wird«. 64
Diese selbe Lehre ist während ihrer nunmehr zweitausendjährigen
Geschichte von den Vätern der Kirche, von ihren Hirten und Lehrern ständig
gelehrt worden. Auch die wissenschaftlichen und philosophischen
Diskussionen darüber, zu welchem Zeitpunkt genau das Eingießen der
Geistseele erfolge, haben nie auch nur den geringsten Zweifel an der
sittlichen Verurteilung der Abtreibung aufkommen lassen.
62. Das päpstliche Lehramt der jüngsten Zeit hat diese
allgemeine Lehre mit großem Nachdruck bekräftigt. Insbesondere Pius XI.
hat in der Enzyklika Casti connubii die als Vorwand dienenden
Rechtfertigungen der Abtreibung zurückgewiesen; 65 Pius XII. hat jede
direkte Abtreibung ausgeschlossen, das heißt jede Handlung, die das noch
ungeborene menschliche Leben direkt zu vernichten trachtet, »mag diese
Vernichtung nun als Ziel oder nur als Mittel zum Zweck verstanden werden«;
66 Johannes XXIII. hat neuerlich beteuert, daß das menschliche Leben
heilig ist, denn »es erfordert von seinem Anbeginn an das Wirken Gottes,
des Schöpfers«. 67 Das II. Vatikanische Konzil hat, wie bereits erwähnt,
die Abtreibung sehr streng verurteilt: »Das Leben ist von der Empfängnis
an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes
sind verabscheuungswürdige Verbrechen«. 68
Die Rechtsordnung der Kirche hat von den ersten Jahrhunderten an
über jene, die sich der Abtreibung schuldig machten, Strafsanktionen
verhängt. Diese Praxis mit mehr oder weniger schweren Strafen wurde in den
verschiedenen Abschnitten der Geschichte bestätigt. Der Codex des
kanonischen Rechtes von 1917 drohte für die Abtreibung die Strafe der
Exkommunikation an. 69 Auch die erneuerte kanonische Gesetzgebung stellt
sich auf diese Linie, wenn sie bekräftigt: »Wer eine Abtreibung vornimmt,
zieht sich mit erfolgter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation
latae sententiae zu«, 70 das heißt die Strafe tritt von selbst durch
Begehen der Straftat ein.
Die Exkommunikation trifft alle, die diese Straftat in Kenntnis der
Strafe begehen, somit auch jene Mittäter, ohne deren Handeln sie nicht
begangen worden wäre. 71 Mit dieser erneut bestätigten Sanktion stellt die
Kirche diese Straftat als eines der schwersten und gefährlichsten
Verbrechen hin und spornt so den, der sie begeht, an, rasch auf den Weg
der Umkehr zurückzufinden. Denn in der Kirche hat die Strafe der
Exkommunikation den Zweck, die Schwere einer bestimmten Sünde voll bewußt
zu machen und somit eine entsprechende Umkehr und Reue zu begünstigen.
Angesichts einer solchen Einmütigkeit in der Tradition der Lehre und
Disziplin der Kirche konnte Paul VI. erklären, daß sich diese Lehre »nicht
geändert hat und unveränderlich ist«. 72 Mit der Autorität, die Christus
Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in
Gemeinschaft mit den Bischöfen — die mehrfach die Abtreibung verurteilt
und, obwohl sie über die Welt verstreut sind, bei der eingangs erwähnten
Konsultation dieser Lehre einhellig zugestimmt haben — daß die direkte,
das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres
sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines
unschuldigen Menschen. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem
geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition der Kirche
überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche
gelehrt. 73
Kein Umstand, kein Zweck, kein Gesetz wird jemals eine Handlung für die
Welt statthaft machen können, die in sich unerlaubt ist, weil sie dem
Gesetz Gottes widerspricht, das jedem Menschen ins Herz geschrieben, mit
Hilfe der Vernunft selbst erkennbar und von der Kirche verkündet worden
ist.
63. Die sittliche Bewertung der Abtreibung muß auch auf die neuen
Formen des Eingriffs auf menschliche Embryonen angewandt werden,
die unvermeidlich mit der Tötung des Embryos verbunden sind, auch wenn sie
Zwecken dienen, die an sich erlaubt sind. Das ist bei der Durchführung
von Versuchen an Embryonen gegeben, die auf dem Gebiet der
biomedizinischen Forschung in wachsender Zunahme begriffen und in einigen
Staaten gesetzlich erlaubt ist. Auch wenn »die Eingriffe am menschlichen
Embryo unter der Bedingung als erlaubt angesehen werden 2, daß sie das
Leben und die Unversehrtheit des Embryos achten und daß sie nicht Gefahren
mit sich bringen, die nicht verhältnismäßig sind, sondern daß sie auf die
Heilung der Krankheit, auf die Wandlung des Gesundheitszustands zum
besseren hin und auf die Sicherstellung des Überlebens des einzelnen Fötus
ausgerichtet sind«, 74 muß man jedoch geltend machen, daß die Verwendung
von Embryonen oder Föten als Versuchsobjekt ein Verbrechen darstellt gegen
ihre Würde als menschliche Geschöpfe, die dasselbe Recht haben, das dem
bereits geborenen Kind und jeder Person geschuldet wird. 75
Aus sittlichen Gründen zu verwerfen ist ebenso auch die Vorgehensweise,
die — bisweilen eigens zu diesem Zweck mit Hilfe der In-vitro-Befruchtung
»erzeugte« — noch lebende menschliche Embryonen und Föten mißbraucht, sei
es als zu verwertendes »biologisches Material« oder als Lieferanten von
Organen oder Geweben zur Transplantation für die Behandlung bestimmter
Krankheiten. Die Tötung unschuldiger menschlicher Geschöpfe, und sei es
auch zum Vorteil anderer, stellt in Wirklichkeit eine absolut unannehmbare
Handlung dar.
Besondere Aufmerksamkeit muß der sittlichen Bewertung der Verfahren
vorgeburtlicher Diagnose gelten, die die frühzeitige Feststellung
eventueller Mißbildungen oder Krankheiten des ungeborenen Kindes erlauben.
Wegen der Komplexität dieser Verfahren muß eine solche Bewertung in der
Tat sorgfältiger und artikulierter erfolgen. Wenn sie ohne
unverhältnismäßige Gefahren für das Kind und für die Mutter sind und zum
Ziel haben, eine frühzeitige Therapie zu ermöglichen oder auch eine
gefaßte und bewußte Annahme des Ungeborenen zu begünstigen, sind diese
Verfahren sittlich erlaubt. Da jedoch die Behandlungsmöglichkeiten vor der
Geburt heute noch recht begrenzt sind, kommt es nicht selten vor, daß
diese Verfahren in den Dienst einer Eugenetik-Mentalität gestellt werden,
die die selektive Abtreibung in Kauf nimmt, um die Geburt von Kindern zu
verhindern, die von Mißbildungen und Krankheiten verschiedener Art
betroffen sind. Eine solche Denkart ist niederträchtig und höchst
verwerflich, weil sie sich anmaßt, den Wert eines menschlichen Lebens
einzig und allein nach Maßstäben wie »Normalität« und physisches
Wohlbefinden zu beurteilen und auf diese Weise auch der Legitimation der
Kindestötung und der Euthanasie den Weg bahnt.
In Wirklichkeit stellen jedoch gerade der Mut und die Gefaßtheit, mit
denen viele unserer von schweren Gebrechen betroffenen Brüder und
Schwestern ihr Dasein meistern, wenn sie von uns angenommen und geliebt
werden, ein besonders wirkungsvolles Zeugnis für die echten Werte dar, die
das Leben kennzeichnen und es auch unter den schwierigsten Bedingungen für
sich selbst und für die anderen wertvoll machen. Die Kirche ist jenen
Eheleuten nahe, die unter großer Angst und viel Schmerz bereit sind, ihre
von Behinderung schwer heimgesuchten Kinder anzunehmen; und sie ist all
jenen Familien dankbar, die durch Adoption Kinder aufnehmen, die wegen
Behinderungen oder Krankheiten von ihren Eltern im Stich gelassen worden
sind.
|
»Ich bin es, der tötet und der
lebendig macht« (Dtn 32, 39): das Drama der Euthanasie
64. Am anderen Ende seines Daseins steht der Mensch vor dem Geheimnis
des Todes. Infolge der Fortschritte auf medizinischem Gebiet und in einem
kulturellen Umfeld, das sich der Transzendenz zumeist verschließt, weist
die Erfahrung des Sterbens heute einige neue Wesensmerkmale auf. Denn wenn
die Neigung vorherrscht, das Leben nur in dem Maße zu schätzen, wie es
Vergnügen und Wohlbefinden mit sich bringt, erscheint das Leiden als eine
unerträgliche Niederlage, von der man sich um jeden Preis befreien muß.
Der Tod, der als »absurd« angesehen wird, wenn er ein Leben plötzlich
unterbricht, das noch für eine an möglichen interessanten Erfahrungen
reiche Zukunft offen ist, wird dagegen dann zu einer »beanspruchten
Befreiung«, wenn das Dasein bereits für sinnlos gehalten wird, weil es in
Schmerz getaucht und unerbittlich für weiteres noch heftigeres Leiden
bestimmt ist.
Außerdem glaubt der Mensch, der seine wesentliche Beziehung zu Gott
ablehnt oder vergibt, er sei sich selber Maßstab und Norm, und maßt sich
das Recht an, auch von der Gesellschaft zu verlangen, sie solle ihm
Möglichkeiten und Formen garantieren, damit er in voller und vollständiger
Autonomie über sein Leben entscheiden könne. Es ist besonders der Mensch
in den entwickelten Ländern, der sich so verhält: veranlaßt fühlt er sich
dazu auch durch die ständigen Fortschritte der Medizin und ihre immer mehr
fortgeschrittenen Verfahren. Mit Hilfe äußerst spitzfindiger Systeme und
Apparate sind Wissenschaft und ärztliche Praxis heute in der Lage, nicht
nur für früher unlösbare Fälle eine Lösung zu finden und Schmerzen zu
lindern oder zu beheben, sondern auch das Leben selbst im Zustand
äußerster Schwäche zu erhalten und zu verlängern, Personen nach dem
plötzlichen Zusammenbruch ihrer biologischen Grundfunktionen künstlich
wiederzubeleben sowie Eingriffe vorzunehmen, um Organe für
Transplantationen zu gewinnen.
In einem solchen Umfeld zeigt sich immer stärker die Versuchung zur
Euthanasie, das heißt, sich zum Herrn über den Tod zu machen, indem
man ihn vorzeitig herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben
anderer »auf sanfte Weise« ein Ende bereitet. In Wirklichkeit stellt sich,
was als logisch und menschlich erscheinen könnte, wenn man es zutiefst
betrachtet, als absurd und unmenschlich heraus. Wir stehen hier vor
einem der alarmierendsten Symptome der »Kultur des Todes«, die vor allem
in den Wohlstandsgesellschaften um sich greift, die von einem
Leistungsdenken gekennzeichnet sind, das die wachsende Zahl alter und
geschwächter Menschen als zu belastend und unerträglich erscheinen läßt.
Sie werden sehr oft von der Familie und von der Gesellschaft isoliert, de-
ren Organisation fast ausschließlich auf Kriterien der Produktion und
Leistungsfähigkeit beruht, wonach ein hoffnungslos arbeitsunfähiges Leben
keinen Wert mehr hat.
65. Für ein korrektes sittliches Urteil über die Euthanasie gilt es
zunächst, diese klar zu definieren. Unter Euthanasie im eigentlichen
Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur
nach und aus bewußter Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise
jeden Schmerz zu beenden. »Bei Euthanasie dreht es sich also wesentlich um
den Vorsatz des Willens und um die Vorgehensweisen, die angewandt werden«.
76
Von ihr zu unterscheiden ist die Entscheidung, auf »therapeutischen
Übereifer« zu verzichten, das heißt auf bestimmte ärztliche Eingriffe,
die der tatsächlichen Situation des Kranken nicht mehr angemessen sind,
weil sie in keinem Verhältnis zu den erhofften Ergebnissen stehen, oder
auch, weil sie für ihn und seine Familie zu beschwerlich sind. In diesen
Situationen, wenn sich der Tod drohend und unvermeidlich ankündigt, kann
man aus Gewissensgründen »auf (weitere) Heilversuche verzichten, die nur
eine ungewisse und schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirken könnten,
ohne daß man jedoch die normalen Bemühungen unterläßt, die in ähnlichen
Fällen dem Kranken geschuldet werden«. 77 Sicherlich besteht die
moralische Verpflichtung sich pflegen und behandeln zu lassen, aber diese
Verpflichtung muß an den konkreten Situationen gemessen werden; das heißt,
es gilt abzuschätzen, ob die zur Verfügung stehenden therapeutischen
Maßnahmen objektiv in einem angemessenen Verhältnis zur Aussicht auf
Besserung stehen. Der Verzicht auf außergewöhnliche oder
unverhältnismäßige Heilmittel ist nicht gleichzusetzen mit Selbstmord oder
Euthanasie; er ist vielmehr Ausdruck dafür, daß die menschliche Situation
angesichts des Todes akzeptiert wird. 78
Besondere Bedeutung gewinnen in der modernen Medizin die sogenannten
»palliativen Behandlungsweisen«, die das Leiden im Endstadium der
Krankheit erträglicher machen und gleichzeitig für den Patienten eine
angemessene menschliche Begleitung gewährleisten sollen. In diesem
Zusammenhang erhebt sich unter anderem das Problem, inwieweit die
Anwendung der verschiedenen Schmerzlinderungs– und Beruhigungsmittel, um
den Kranken vom Schmerz zu befreien, erlaubt ist, wenn das die Gefahr
einer Verkürzung des Lebens mit sich bringt. Auch wenn jemand, der das
Leiden aus freien Stücken annimmt, indem er auf schmerzlindernde Maßnahmen
verzichtet, um seine volle Geistesklarheit zu bewahren und, wenn er
gläubig ist, bewußt am Leiden des Herrn teilzuhaben, in der Tat des Lobes
würdig ist, so kann diese »heroische« Haltung doch nicht als für alle
verpflichtend angenommen werden. Schon Pius XII. hatte gesagt, den Schmerz
durch Narkotika zu unterdrücken, auch wenn das eine Trübung des
Bewußtseins und die Verkürzung des Lebens zur Folge habe, sei erlaubt,
»falls keine anderen Mittel vorhanden sind und unter den gegebenen
Umständen dadurch nicht die Erfüllung anderer religiöser und moralischer
Verpflichtungen behindert wird«. 79 Denn in diesem Fall wird der Tod nicht
gewollt oder gesucht, auch wenn aus berechtigten Gründen die Gefahr dazu
gegeben ist: man will einfach durch Anwendung der von der Medizin zur
Verfügung gestellten Analgetika den Schmerz wirksam lindern. Doch »darf
man den Sterbenden nicht ohne schwerwiegenden Grund seiner
Bewußtseinsklarheit berauben«: 80 die Menschen sollen vor dem
herannahenden Tod in der Lage sein, ihren moralischen und familiären
Verpflichtungen nachkommen zu können, und sich vor allem mit vollem
Bewußtsein auf die endgültige Begegnung mit Gott vorbereiten können.
Nach diesen Unterscheidungen bestätige ich in Übereinstimmung mit dem
Lehramt meiner Vorgänger 81 und in Gemeinschaft mit den Bischöfen der
katholischen Kirche, daß die Euthanasie eine schwere Verletzung des
göttlichen Gesetzes ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung
einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist.
Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes
begründet, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen
und allgemeinen Lehramt der Kirche gelehrt. 82
Eine solche Handlung setzt, je nach den Umständen, die Bosheit voraus,
wie sie dem Selbstmord oder dem Mord eigen ist.
66. Nun ist Selbstmord immer ebenso sittlich unannehmbar wie Mord. Die
Tradition der Kirche hat ihn immer als schwerwiegend böse Entscheidung
zurückgewiesen. 83 Obwohl bestimmte psychologische, kulturelle und soziale
Gegebenheiten einen Menschen dazu bringen können, eine Tat zu begehen, die
der natürlichen Neigung eines jeden zum Leben so radikal widerspricht, und
dadurch die subjektive Verantwortlichkeit vermindert oder aufgehoben sein
mag, ist der Selbstmord aus objektiver Sicht eine schwer
unsittliche Tat, weil er verbunden ist mit der Absage an die Eigenliebe
und mit der Ausschlagung der Verpflichtungen zu Gerechtigkeit und Liebe
gegenüber dem Nächsten, gegenüber den verschiedenen Gemeinschaften, denen
der Betreffende angehört, und gegenüber der Gesellschaft als ganzer. 84 In
seinem tiefsten Kern stellt der Selbstmord eine Zurückweisung der
absoluten Souveränität Gottes über Leben und Tod dar, wie sie im Gebet des
alten Weisen Israels verkündet wird: »Du hast Gewalt über Leben und Tod;
du führst zu den Toren der Unterwelt hinab und wieder herauf« (Weish
16, 13; vgl. Tob 13, 2).
Die Selbstmordabsicht eines anderen zu teilen und ihm bei der
Ausführung durch die sog. »Beihilfe zum Selbstmord« behilflich zu sein
heißt Mithelfer und manchmal höchstpersönlich Täter eines Unrechts zu
werden, das niemals, auch nicht, wenn darum gebeten worden sein sollte,
gerechtfertigt werden kann. »Es ist niemals erlaubt — schreibt mit
überraschender Aktualität der hl. Augustinus —, einen anderen zu töten:
auch wenn er es wollte, ja selbst, wenn er darum bitten würde, weil er,
zwischen Leben und Tod schwebend, fleht, ihm zu helfen die Seele zu
befreien, die gegen die Fesseln des Leibes kämpft und sich von ihnen zu
lösen sucht; es ist nicht einmal dann erlaubt, wenn ein Kranker nicht mehr
zu leben imstande wäre«. 85 Auch wenn sie nicht durch die egoistische
Weigerung motiviert ist, sich mit der Existenz des leidenden Menschen zu
belasten, muß die Euthanasie als falsches Mitleid, ja als eine
bedenkliche »Perversion« desselben bezeichnet werden: denn echtes
»Mitleid« solidarisiert sich mit dem Schmerz des anderen, tötet nicht den,
dessen Leiden unerträglich ist. Die Tat der Euthanasie erscheint um so
perverser, wenn sie von denen ausgeführt wird, die — wie die Angehörigen —
ihrem Verwandten mit Geduld und Liebe beistehen sollten, oder von denen,
die — wie die Ärzte — auf Grund ihres besonderen Berufes den Kranken auch
im leidvollsten Zustand seines zu Ende gehenden Lebens behandeln müßten.
Schwerwiegender wird die Entscheidung für die Euthanasie, wenn sie sich
als Mord herausstellt, den die anderen an einem Menschen begehen,
der sie keineswegs darum gebeten und niemals seine Zustimmung dazu gegeben
hat. Der Höhepunkt der Willkür und des Unrechts wird dann erreicht, wenn
sich einige Ärzte oder Gesetzgeber die Macht anmaßen darüber zu
entscheiden, wer leben und wer sterben darf. Hier zeigt sich wieder die
Versuchung von Eden: werden wie Gott und »Gut und Böse erkennen« (vgl.
Gen 3, 5). Doch Gott allein hat die Macht, zu töten und zum Leben zu
erwecken: »Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dtn 32,
39; vgl. 2 Kön 5, 7; 1 Sam 2, 6). Er verwirklicht seine
Macht immer nur nach einem Plan der Weisheit und Liebe. Wenn sich der
Mensch im Bann einer Logik von Torheit und Egoismus diese Macht anmaßt,
benützt er sie unweigerlich zu Unrecht und Tod. So wird das Leben des
Schwächsten in die Hände des Stärksten gelegt; in der Gesellschaft geht
der Sinn für Gerechtigkeit verloren und das gegenseitige Vertrauen,
Grundlage jeder echten Beziehung zwischen den Menschen, wird an der Wurzel
untergraben.
67. Ganz anders hingegen ist der Weg der Liebe und des echten
Mitleids, den unser gemeinsames Menschsein vorschreibt und den der
Glaube an Christus, den Erlöser, der gestorben und auferstanden ist, mit
neuen Einsichten erhellt. Die Bitte, die bei der äußersten Konfrontation
mit dem Leid und dem Tod besonders dann aus dem Herzen des Menschen kommt,
wenn er versucht ist, sich in seine Verzweiflung zurückzuziehen und in ihr
unterzugehen, ist vor allem Bitte um Begleitung, um Solidarität und um
Beistand in der Prüfung. Sie ist flehentliche Bitte um Hilfe, um weiter
hoffen zu können, wenn alle menschlichen Hoffnungen zerrinnen. Wie uns das
II. Vatikanische Konzil zu bedenken gab, wird für den Menschen »angesichts
des Todes das Rätsel des menschlichen Daseins am größten«; und trotzdem
»urteilt er im Instinkt seines Herzens richtig, wenn er die völlige
Zerstörung und den endgültigen Untergang seiner Person mit Entsetzen
ablehnt. Der Keim der Ewigkeit im Menschen läßt sich nicht auf die bloße
Materie zurückführen und wehrt sich gegen den Tod«. 86
Erhellt und zum Abschluß gebracht werden diese natürliche Abneigung
gegen den Tod und diese keimhafte Hoffnung auf Unsterblichkeit durch den
christlichen Glauben, der die Teilhabe am Sieg des auferstandenen Christus
verheißt und anbietet: es ist der Sieg dessen, der durch seinen
Erlösungstod den Menschen vom Tod, dem »Lohn der Sünde« (Röm 6,
23), befreit und ihm den Geist, das Unterpfand für Auferstehung und Leben,
geschenkt hat (vgl. Röm 8, 11). Die Gewißheit über die zukünftige
Unsterblichkeit und die Hoffnung auf die verheißene Auferstehung
werfen ein neues Licht auf das Geheimnis des Leidens und Sterbens und
erfüllen den Gläubigen mit einer außerordentlichen Kraft, sich dem Plan
Gottes anzuvertrauen.
Der Apostel Paulus hat dieses Neue in den Worten von einer völligen
Zugehörigkeit zum Herrn, der den Menschen in jeder Lage umfängt, zum
Ausdruck gebracht: »Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt
sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben
wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn« (Röm
14, 7-8). Sterben für den Herrn heißt den eigenen Tod als
letzten Gehorsamsakt gegenüber dem Vater erleben (vgl. Phil 2, 8),
indem wir die Begegnung mit dem Tod in der von Ihm gewollten und
beschlossenen »Stunde« annehmen (vgl. Joh 13, 1), der allein zu
sagen vermag, wann unser irdischer Weg zu Ende ist. Leben für den Herrn
heißt auch anerkennen, daß das Leid, auch wenn es an sich ein Übel und
eine Prüfung bleibt, immer zu einer Quelle des Guten werden kann. Das ist
der Fall, wenn es aus Liebe und mit Liebe, aus freiwilliger Hingabe an
Gott und aus freier persönlicher Entscheidung in der Teilhabe am Leiden
des gekreuzigten Christus selber gelebt wird. Auf diese Weise wird der,
der sein Leiden im Herrn lebt, Ihm vollkommener ähnlich (vgl. Phil
3, 10; 1 Petr 2,
21) und hat zutiefst teil an seinem Erlösungswerk für die Kirche und
die Menschheit 87 Das ist die Erfahrung des Apostels, die auch jeder
leidende Mensch nachzuleben aufgerufen ist: »Jetzt freue ich mich in den
Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche,
ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch
fehlt« (Kol 1, 24).
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»Man muß Gott mehr gehorchen
als den Menschen« (Apg 5, 29): Staatliches Gesetz und
Sittengesetz
68. Eines der Wesensmerkmale der — schon mehrmals erwähnten —
derzeitigen Anschläge auf das menschliche Leben besteht in dem Bestreben,
gesetzliche Legitimation für sie zu fordern, so als würde es sich
um Rechte handeln, die der Staat, zumindest unter bestimmten Bedingungen,
den Bürgern zuerkennen müsse, und demzufolge in dem Bestreben, die
Umsetzung dieser Rechte mit dem sicheren und unentgeltlichen Beistand der
Ärzte und des Pflegepersonals zu verlangen.
Nicht selten wird behauptet, das Leben eines ungeborenen oder eines
sich in völliger Schwäche befindlichen Menschen sei nur ein relatives Gut:
entsprechend einer Logik der Verhältnismäßigkeit oder des kalten Kalküls
sollte es mit anderen Gü- tern verglichen und abgewogen werden. Und es
wird auch behauptet, daß nur jemand, der sich in der konkreten Situation
befindet und persönlich involviert ist, eine gerechte Abwägung der Güter
vornehmen könne, um die es geht: infolgedessen könnte nur er über die
Sittlichkeit seiner Entscheidung bestimmen. Der Staat sollte daher im
Interesse des zivilen Zusammenlebens und der sozialen Eintracht diese
Entscheidung respektieren und endlich auch Abtreibung und Euthanasie
zulassen.
Bisweilen wird die Meinung vertreten, das staatliche Gesetz könne nicht
verlangen, daß alle Bürger einem Sittlichkeitsgrad gemäß leben, der höher
ist als jener, den sie selber anerkennen und teilen. Deshalb sollte das
Gesetz immer Ausdruck der Meinung und des Willens der Mehrheit der Bürger
sein und ihnen, wenigstens in bestimmten Extremfällen, auch das Recht auf
Abtreibung und auf Euthanasie zuerkennen. Im übrigen würde das Verbot und
die Bestrafung von Abtreibung und Euthanasie in diesen Fällen — so wird
behauptet — unvermeidbar zu einer Zunahme illegaler Praktiken führen:
diese wären allerdings nicht der notwendigen sozialen Kontrolle
unterworfen und würden ohne die erforderliche ärztliche Sicherheit
vorgenommen. Hier fragt man sich außerdem, ob das Festhalten an einem
konkret nicht anwendbaren Gesetz nicht am Ende bedeute, daß auch die
Glaubwürdigkeit jedes anderen Gesetzes untergraben werde.
Die radikalsten Meinungsäußerungen gehen schließlich soweit zu
behaupten, in einer modernen und pluralistischen Gesellschaft müßte jedem
Menschen volle Autonomie zuerkannt werden, über das eigene Leben und das
Leben des ungeborenen Kindes zu verfügen: die Wahl und Entscheidung
zwischen den verschiedenen Moralauffassungen wäre in der Tat nicht Sache
des Gesetzes, und noch weniger könnte es sich die Auferlegung einer
einzelnen dieser Auffassungen zum Nachteil der anderen anmaßen.
69. Auf jeden Fall ist in der demokratischen Kultur unserer Zeit die
Meinung weit verbreitet, wonach sich die Rechtsordnung einer Gesellschaft
darauf beschränken sollte, die Überzeugungen der Mehrheit zu verzeichnen
und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen, was die Mehrheit selber
als moralisch anerkennt und lebt. Wenn dann sogar die Meinung vertreten
wird, eine allgemeine und objektive Wahrheit sei de facto unannehmbar,
würde es die Achtung vor der Freiheit der Bürger — die in einem
demokratischen System als die eigentlichen Souveräne gelten — erfordern,
daß man auf Gesetzgebungsebene die Autonomie der einzelnen Gewissen
anerkennt und daher bei der Festlegung jener Normen, die auf jeden Fall
für das soziale Zusammenleben notwendig sind, ausschließlich dem Willen
der Mehrheit, welcher Art immer sie sein mag, gerecht wird. Auf diese
Weise müßte jeder Politiker in seinem Tun den Bereich des privaten
Gewissens klar von dem des öffentlichen Verhaltens trennen.
Es lassen sich infolgedessen zwei anscheinend diametral
entgegengesetzte Tendenzen feststellen. Auf der einen Seite machen die
einzelnen Individuen für sich die vollständigste sittliche
Entscheidungsautonomie geltend und fordern, daß sich der Staat keine
ethische Auffassung zu eigen macht und diese vorschreibt, sondern sich
darauf beschränkt, der Freiheit jedes einzelnen weitestmöglichen Raum zu
garantieren mit der einzigen äußeren Einschränkung, den Raum von Autonomie
nicht zu verletzen, auf den auch jeder andere Bürger ein Recht hat. Auf
der anderen Seite vertritt man die Meinung, daß bei der Ausübung der
öffentlichen und beruflichen Aufgaben die Achtung vor der
Entscheidungsfreiheit des anderen es einem jedem auferlege, von den
eigenen Überzeugungen abzurücken, um sich in den Dienst jeder Forderung
der Bürger zu stellen, die die Gesetze anerkennen und schützen, wobei als
einziges sittliches Kriterium für die Ausübung der eigenen Funktionen
akzeptiert wird, was eben von diesen Gesetzen festgelegt wurde. Auf diese
Weise wird unter Verzicht auf das eigene sittliche Gewissen zumindest im
Bereich des öffentlichen Wirkens die Verantwortlichkeit des Menschen dem
staatlichen Gesetz überlassen.
70. Gemeinsame Wurzel all dieser Tendenzen ist der ethische
Relativismus, der für weite Teile der modernen Kultur bezeichnend ist.
Manche behaupten, dieser Relativismus sei eine Voraussetzung für die
Demokratie, weil nur er Toleranz, gegenseitige Achtung der Menschen
untereinander und Bindung an die Entscheidungen der Mehrheit gewährleisten
würde, während die als objektiv und bindend angesehenen sittlichen Normen
zu Autoritarismus und Intoleranz führen würden.
Doch gerade die Problematik der Achtung vor dem Leben zeigt, welche
Mißverständnisse und Widersprüche, begleitet von entsetzlichen praktischen
Folgen, sich hinter dieser Einstellung verbergen.
Es stimmt, daß die Geschichte Fälle kennt, in denen im Namen der
»Wahrheit« Verbrechen begangen worden sind. Aber nicht minder schwere
Verbrechen und radikale Leugnungen der Freiheit wurden und werden weiter
auch im Namen des »ethischen Relativismus« begangen. Faßt eine
parlamentarische oder gesellschaftliche Mehrheit, wenn sie die
Rechtmäßigkeit der unter bestimmten Bedingungen vorgenommenen Tötung des
ungeborenen menschlichen Lebens beschließt, nicht vielleicht einen
»tyrannischen« Beschluß gegen das schwächste und wehrloseste menschliche
Geschöpf? Das Weltgewissen reagiert mit Recht auf die Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, mit denen unser Jahrhundert so traurige Erfahrungen
gemacht hat. Würden diese Untaten vielleicht nicht mehr länger Verbrechen
sein, wenn sie, statt von skrupellosen Tyrannen begangen worden zu sein,
durch des Volkes Zustimmung für rechtmäßig erklärt worden wären?
Tatsächlich darf die Demokratie nicht solange zum Mythos erhoben
werden, bis sie zu einem Ersatzmittel für die Sittlichkeit oder einem
Allheilmittel gegen die Unsittlichkeit gemacht wird. Sie ist ihrem Wesen
nach eine »Ordnung« und als solche ein Werkzeug und nicht ein Ziel. Ihr
»sittlicher« Charakter ist nicht automatisch gegeben, sondern hängt von
der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ab, dem sie, wie jedes andere
menschliche Verhalten, unterstehen muß: das heißt, er hängt von der
Sittlichkeit der Ziele ab, die sie verfolgt, und der Mittel, deren sie
sich bedient. Wenn heute ein beinahe weltweites Einvernehmen über den Wert
der Demokratie festzustellen ist, wird das als ein positives »Zeichen der
Zeit« angesehen, wie auch das Lehramt der Kirche wiederholt hervorgehoben
hat. 88 Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die
sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich
die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und
unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des »Gemeinwohls« als Ziel und
regelndes Kriterium für das politische Leben.
Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde
Meinungs«mehrheiten« sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven
Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebene »Naturgesetz«
normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn
infolge einer tragischen kollektiven Trübung des Gewissens der
Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des Sittengesetzes in
Zweifel zöge, würde selbst die demokratische Ordnung in ihren Fundamenten
erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer Regelung der
verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme. 89
Mancher könnte sich vorstellen, daß in Ermangelung eines Besseren auch
eine solche Funktion um des sozialen Friedens willen anerkannt werden
müsse. Selbst wenn man in einer solchen Einschätzung einen gewissen
Wahrheitsaspekt anerkennt, muß man doch sehen, daß ohne eine objektive
sittliche Verankerung auch die Demokratie keinen stabilen Frieden
sicherstellen kann, um so mehr als der Friede, der nicht an den Werten der
Würde jedes Menschen und der Solidarität unter allen Menschen gemessen
wird, nicht selten eine illusorische Angelegenheit ist. Denn in den die
demokratische Beteiligung einschließenden Regierungssystemen selbst
erfolgt die Regelung der Interessen häufig zum Vorteil der Stärkeren,
vermögen sie doch am besten nicht nur die Hebel der Macht, sondern auch
das Zustandekommen des Konsenses zu steuern. In einer solchen Situation
wird Demokratie leicht zu einem leeren Wort.
71. Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung
einer gesunden Demokratie ist es daher dringend notwendig, das
Vorhandensein wesentlicher, angestammter menschlicher und sittlicher Werte
wiederzuentdecken, die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst
entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen:
Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden
hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie nur
anerkennen, achten und fördern werden müssen.
In diesem Sinne muß man wieder die Grundzüge der Auffassung von den
Beziehungen zwischen staatlichem Gesetz und Sittengesetz aufgreifen,
die von der Kirche vorgelegt werden, die aber auch zum Erbe der großen
Rechtstraditionen der Menschheit gehören.
Sicherlich ist die Aufgabe des staatlichen Gesetzes im Vergleich
zu der des Sittengesetzes anders und von begrenzterem Umfang. Jedoch »kann
in keinem Lebensbereich das staatliche Gesetz das Gewissen ersetzen, noch
kann es Normen über das vorschreiben, was über seine Zuständigkeit
hinausgeht«, 90 die darin besteht, das Gemeinwohl der Menschen durch die
Anerkennung und den Schutz ihrer Grundrechte, durch die Förderung des
Friedens und der öffentlichen Sittlichkeit sicherzustellen. 91 Denn die
Aufgabe des staatlichen Gesetzes besteht darin, ein geordnetes soziales
Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit zu gewährleisten, damit wir alle »in
aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können«
(1 Tim 2, 2). Eben deshalb muß das staatliche Gesetz für alle
Mitglieder der Gesellschaft die Achtung einiger Grundrechte sicherstellen,
die dem Menschen als Person eigen sind und die jedes positive Gesetz
anerkennen und garantieren muß. Erstes und grundlegendes aller Rechte ist
das unverletzliche Recht auf Leben eines jeden unschuldigen Menschen. Auch
wenn die öffentliche Autorität bisweilen auf die Unterdrückung von etwas
verzichten kann, was im Fall des Verbots einen schwereren Schaden
anrichten wür- de, 92 kann sie doch niemals zulassen, die Verletzung, die
anderen Menschen durch die Nicht- Anerkennung eines ihrer Grundrechte wie
das auf Leben zugefügt wird, als Recht der einzelnen zu legitimieren —
selbst wenn diese die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft ausmachen
würden. Die gesetzliche Tolerierung von Abtreibung oder Euthanasie kann
sich gerade deshalb keinesfalls auf die Respektierung des Gewissens der
anderen berufen, weil die Gesellschaft das Recht und die Pflicht hat, sich
vor den Mißbräuchen zu schützen, die im Namen des Gewissens und unter dem
Vorwand der Freiheit zustande kommen können. 93
Papst Johannes XXIII. hatte diesbezüglich in der Enzyklika Pacem in
terris festgestellt: »Da man in unserer Zeit annimmt, das Gemeinwohl
bestehe vor allem in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen
Person, muß die Aufgabe der Staatslenker vor allem darin bestehen, daß
einerseits die Rechte anerkannt, geachtet, untereinander in Einklang
gebracht, verteidigt und gefördert werden, und andererseits jeder seine
Pflichten leichter erfüllen kann. Denn 'die den Menschen eigenen
unverletzlichen Rechte zu schützen und dafür zu sorgen, daß jeder seine
Aufgaben leichter erfülle, das ist die vornehmliche Pflicht jeder
öffentlichen Gewalt'. Wenn deshalb Behörden die Rechte des Menschen
entweder nicht anerkennen oder verletzen, so weichen sie nicht nur selbst
von ihrer Pflicht ab, sondern es entbehrt auch das, was von ihnen befohlen
wurde, jeder Verbindlichkeit«. 94
72. In Kontinuität mit der gesamten Tradition der Kirche steht auch die
Lehre über die notwendige Übereinstimmung des staatlichen Gesetzes mit
dem Sittengesetz, wie sie gleichfalls aus der genannten Enzyklika
Johannes' XXIII. hervorgeht: »Die Befehlsgewalt wird von der sittlichen
Ordnung erfordert und geht von Gott aus. Falls daher Staatslenker entgegen
dieser Ordnung und insofern entgegen dem Willen Gottes Gesetze erlassen
oder etwas gebieten, dann können weder die erlassenen Gesetze noch die
gewährten Vollmachten das Gewissen der Bürger verpflichten... Vielmehr
bricht dann die Autorität selbst völlig zusammen, und es folgt
scheußliches Unrecht«. 95 Das ist die klare Lehre des hl. Thomas von
Aquin, der unter anderem schreibt: »Das menschliche Gesetz hat nur
insoweit den Charakter eines Gesetzes, insoweit es der rechten Vernunft
gemäß ist; und insofern ist es offensichtlich, daß es vom ewigen Gesetz
her abgeleitet wird. Wenn es aber von der Vernunft abweicht, wird es
ungerechtes Gesetz genannt und hat nicht den Charakter eines Gesetzes,
sondern vielmehr den einer Gewalttätigkeit«. 96 Und weiter: »Jedes von
Menschen erlassene Gesetz hat insoweit den Charakter eines Gesetzes,
insoweit es vom Naturgesetz abgeleitet wird. Wenn es aber in irgend etwas
von dem Naturgesetz abweicht, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern die
Zersetzung des Gesetzes sein«. 97
Die erste und unmittelbarste Anwendung dieser Lehre betrifft das
menschliche Gesetz, welches das jedem Menschen eigene fundamentale
Grundrecht auf Leben nicht anerkennt. Auf diese Weise befinden sich die
Gesetze, die in Form der Abtreibung und der Euthanasie die unmittelbare
Tötung unschuldiger Menschen für rechtmäßig erklären, in totalem und
unversöhnlichem Widerspruch zu dem allen Menschen eigenen unverletzlichen
Recht auf Leben und leugnen somit die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Man
könnte einwenden, daß das auf die Euthanasie dann nicht zutreffe, wenn der
betreffende Mensch bei vollem Bewußtsein um sie gebeten hat. Aber ein
Staat, der ein derartiges Ersuchen legitimieren und seine Durchführung
gestatten würde, würde gegen die Grundprinzipien der Unverfügbarkeit des
Lebens und des Schutzes jedes menschlichen Lebens einen Selbstmord- bzw.
Mordfall legalisieren. Auf diese Weise wird dem Nachlassen der Achtung vor
dem Leben Vorschuß geleistet und Haltungen der Weg geebnet, die das
Vertrauen in die sozialen Beziehungen zerstören.
Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen,
stellen sich also nicht nur radikal gegen das Gut des einzelnen, sondern
auch gegen das Gemeinwohl und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige
Rechtsgültigkeit. Tatsächlich ist es die Nicht-Anerkennung des Rechtes auf
Leben, die sich, gerade weil sie zur Tötung des Menschen führt — in dessen
Dienst zu stehen die Gesellschaft ja den Grund ihres Bestehens hat —, am
frontalsten und irreparabel der Möglichkeit einer Verwirklichung des
Gemeinwohls entgegenstellt. Daraus folgt, daß ein staatliches Gesetz, wenn
es Abtreibung und Euthanasie billigt, eben darum kein wahres, sittlich
verpflichtendes staatliches Gesetz mehr ist.
73. Abtreibung und Euthanasie sind also Verbrechen, die für rechtmäßig
zu erklären sich kein menschliches Gesetz anmaßen kann. Gesetze dieser Art
rufen nicht nur keine Verpflichtung für das Gewissen hervor, sondern
erheben vielmehr die schwere und klare Verpflichtung, sich ihnen mit
Hilfe des Einspruchs aus Gewissensgründen zu widersetzen. Seit den
Anfangszeiten der Kirche hat die Verkündigung der Apostel den Christen die
Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber den rechtmäßig eingesetzten
staatlichen Autoritäten eingeschärft (vgl. Röm 13, 1-7; 1 Petr
2, 13-14), sie aber gleichzeitg entschlossen ermahnt, daß »man Gott mehr
gehorchen muß als den Menschen« (Apg 5, 29). Schon im Alten
Testament finden wir in bezug auf die Bedrohungen gegen das Leben ein
gewichtiges Beispiel für den Widerstand gegen das ungerechte Gebot der
staatlichen Autorität. Die hebräischen Hebammen widersetzten sich dem
Pharao, der angeordnet hatte, jeden neugeborenen Knaben zu töten. Sie
»taten nicht, was ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern
liessen die Kinder am Leben« (Ex 1, 17). Wichtig ist aber, auf den
tieferen Grund dieses ihres Verhaltens hinzuweisen: »Die Hebammen
fürchteten Gott« (ebd.). Aus dem Gehorsam gegenüber Gott — dem
allein jene Furcht gebührt, die Anerkennung seiner absoluten Souveränität
ist — erwachsen die Kraft und der Mut, den ungerechten Gesetzen der
Menschen zu widerstehen. Die Kraft und der Mut dessen, der bereit ist,
auch ins Gefängnis zu gehen oder durch das Schwert umzukommen in der
Gewißheit, daß »sich hier die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der
Heiligen bewähren« muß (Offb 13, 10).
Es ist daher niemals erlaubt, sich einem in sich ungerechten Gesetz,
wie jenem, das Abtreibung und Euthanasie zuläßt, anzupassen, »weder durch
Beteiligung an einer Meinungskampagne für ein solches Gesetz noch dadurch,
daß man bei der Abstimmung dafür stimmt«. 98
Ein besonderes Gewissensproblem könnte sich in den Fällen ergeben, in
denen sich eine parlamentarische Abstimmung als entscheidend dafür
herausstellen würde, in Alternative zu einem bereits geltenden oder zur
Abstimmung gestellten ungleich freizügigeren Gesetz ein restriktiveres
Gesetz zu begünstigen, das heißt ein Gesetz, das die Anzahl der erlaubten
Abtreibungen begrenzt. Solche Fälle sind nicht selten. Man kann nämlich
Folgendes feststellen: Während in manchen Teilen der Welt die nicht selten
von mächtigen internationalen Organisationen unterstützten Kampagnen für
die Einführung von Gesetzen zur Freigabe der Abtreibung weitergehen,
werden dagegen in anderen Nationen — besonders in jenen, die bereits die
bittere Erfahrung mit derartigen freizügigen Gesetzen hinter sich haben —
Anzeichen eines Umdenkens sichtbar. In dem hypothetisch angenommenen Fall
ist es einleuchtend, daß es einem Abgeordneten, dessen persönlicher
absoluter Widerstand gegen die Abtreibung klargestellt und allen bekannt
wäre, dann, wenn die Abwendung oder vollständige Aufhebung eines
Abtreibungsgesetzes nicht möglich wäre, gestattet sein könnte,
Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die die Schadensbegrenzung
eines solchen Gesetzes zum Ziel haben und die negativen Auswirkungen auf
das Gebiet der Kultur und der öffentlichen Moral vermindern. Auf diese
Weise ist nämlich nicht eine unerlaubte Mitwirkung an einem ungerechten
Gesetz gegeben; vielmehr wird ein legitimer und gebührender Versuch
unternommen, die ungerechten Aspekte zu begrenzen.
74. Die Einführung ungerechter Gesetzgebungen stellt moralisch korrekte
Menschen oft vor schwierige Gewissensprobleme, was die Mitwirkung im
Verhältnis zur gebührenden Geltendmachung des eigenen Rechtes betrifft,
nicht zur Teilnahme an sittlich schlechten Handlungen gezwungen zu sein.
Manchmal sind die Entscheidungen, die nötig erscheinen, schmerzlich und
können sogar das Opfer einer renommierten beruflichen Stellung oder den
Verzicht auf berechtigte Aufstiegs- und Karriereaussichten erfordern. In
anderen Fällen kann sich herausstellen, daß die Durchführung von an sich
indifferenten oder sogar positiven Handlungen, die in den Artikeln von
insgesamt ungerechten Gesetzgebungen vorgesehen sind, den Schutz bedrohter
Menschenleben erlaubt. Andererseits darf man jedoch mit Recht befürchten,
daß die Bereitschaft zur Durchführung solcher Handlungen nicht nur zu
einem Stein des Anstoßes wird und dem Nachlassen des notwendigen
Widerstandes gegen Anschläge gegen das Leben Vorschuß leistet, sondern
unmerklich dazu verleitet, immer mehr einer permissiven Logik nachzugeben.
Zur Erhellung dieses schwierigen sittlichen Problems muß an die
allgemeinen Grundsätze über die Mitwirkung an schlechten Handlungen
erinnert werden. Wie alle Menschen guten Willens sind die Christen
aufgerufen, aus ernster Gewissenspflicht nicht an jenen Praktiken formell
mitzuwirken, die, obgleich von der staatlichen Gesetzgebung zugelassen, im
Gegensatz zum Gesetz Gottes stehen. Denn unter sittlichem Gesichtspunkt
ist es niemals erlaubt, formell am Bösen mitzuwirken. Solcher Art ist die
Mitwirkung dann, wenn die durchgeführte Handlung entweder auf Grund ihres
Wesens oder wegen der Form, die sie in einem konkreten Rahmen annimmt, als
direkte Beteiligung an einer gegen das unschuldige Menschenleben
gerichteten Tat oder als Billigung der unmoralischen Absicht des
Haupttäters bezeichnet werden muß. Diese Mitwirkung kann niemals
gerechtfertigt werden, weder durch Berufung auf die Achtung der Freiheit
des anderen, noch dadurch, daß man sich auf die Tatsache stützt, daß das
staatliche Gesetz diese Mitwirkung vorsehe und fordere: denn für die
Handlungen, die ein jeder persönlich vornimmt, gibt es eine sittliche
Verantwortlichkeit, der sich niemand entziehen kann und nach der Gott
selber einen jeden richten wird (vgl. Röm 2, 6; 14, 12).
Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur
eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht.
Wenn es nicht so wäre, würde der Mensch gezwungen sein, eine mit seiner
Würde an sich unvereinbare Handlung durchzuführen, und auf diese Weise
würde seine Freiheit, deren glaubwürdiger Sinn und deren Ziel auf der
Hinordnung zum Wahren und Guten beruhen, radikal gefährdet sein. Es
handelt sich also um ein wesentliches Recht, das eben als solches vom
staatlichen Gesetz selbst vorgesehen und geschützt werden müßte. In diesem
Sinne müßte für die Ärzte, das Pflegepersonal und die verantwortlichen
Träger von Krankenhäusern, Kliniken und Pflegeheimen die Möglichkeit
sichergestellt sein, die Beteiligung an der Phase der Beratung,
Vorbereitung und Durchführung solcher Handlungen gegen das Leben zu
verweigern. Wer zum Mittel des Einspruchs aus Gewissensgründen greift, muß
nicht nur vor Strafmaßnahmen, sondern auch vor jeglichem Schaden auf
gesetzlicher, disziplinarischer, wirtschaftlicher und beruflicher Ebene
geschützt sein.
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»Deinen Nächsten sollst du
lieben wie dich selbst« (Lk 10, 27): »fördere« das Leben
75. Die Gebote Gottes lehren uns den Weg des Lebens. Die negativen
sittlichen Vorschriften, also jene, die die Wahl einer bestimmten
Handlung für sittlich unannehmbar erklären, haben einen absoluten Wert für
die menschliche Freiheit: sie gelten ausnahmslos immer und überall. Sie
weisen darauf hin, daß die Wahl bestimmter Verhaltens- weisen mit der
Liebe zu Gott und mit der Würde des nach seinem Bild geschaffenen Menschen
radikal unvereinbar ist: eine solche Wahl kann daher keinesfalls durch die
dahinterstehende gute Absicht und die sich ergebenden guten Folgen
aufgewogen werden; sie steht in unversöhnlichem Gegensatz zu der
Gemeinschaft zwischen den Menschen, sie widerspricht der
Grundentscheidung, sein Leben auf Gott hinzuordnen. 99
Schon in diesem Sinne haben die negativen sittlichen Vorschriften eine
äußerst wichtige positive Funktion: das »Nein«, das sie bedingungslos
fordern, nennt die unüberschreitbare Grenze, unter die der freie Mensch
nicht gehen darf, und zugleich gibt es das Minimum an, das er respektieren
und von dem er ausgehen muß, um unzählige »Ja« auszusprechen, die in der
Lage sind, immer mehr den Gesamthorizont des Guten zu erfassen
(vgl. Mt 5, 48). Die Gebote, insbesondere die negativen sittlichen
Vorschriften, sind der Anfang und die erste notwendige Etappe des Weges
zur Freiheit: »Die erste Freiheit — schreibt der hl. Augustinus — besteht
im Freisein von Verbrechen..., als da sind Mord, Ehebruch, Unzucht,
Diebstahl, Betrug, Gotteslästerung usw. Wenn einer mit diesen Vergehen
nichts zu tun hat (und kein Christ darf mit ihnen zu tun haben), beginnt
er sein Haupt zur Freiheit zu erheben, aber das ist erst der Anfang der
Freiheit, nicht die vollkommene Freiheit«. 100
76. Das Gebot »du sollst nicht töten« bestimmt also den Ausgangspunkt
für einen Weg in wahrer Freiheit, der uns dahin führt, das Leben aktiv zu
fördern und bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen im Dienst am Leben zu
entwickeln: dadurch erfüllen wir unsere Verantwortlichkeit gegenüber den
Menschen, die sich uns anvertraut haben, und bringen in den Taten und in
der Wahrheit Gott unsere Dankbarkeit für das große Geschenk des Lebens zum
Ausdruck (vgl. Ps 139 1, 13-14).
Der Schöpfer hat das Leben des Menschen seiner verantwortlichen
Fürsorge anvertraut, nicht damit er willkürlich darüber verfüge, sondern
damit er es mit Weisheit bewahre und in liebevoller Treue verwalte. Der
Gott des Bundes hat entsprechend dem Gesetz der Gegenseitigkeit von Geben
und Empfangen, von Selbsthingabe und Annahme des anderen das Leben eines
jeden Menschen dem anderen Menschen, seinem Bruder, anvertraut. Als die
Zeit erfüllt war, hat der Sohn Gottes dadurch, daß er Mensch wurde und
sein Leben für den Menschen hingab, gezeigt, welche Höhe und Tiefe dieses
Gesetz der Gegenseitigkeit erreichen kann. Durch das Geschenk seines
Geistes verleiht Christus dem Gesetz der Gegenseitigkeit, dem Anvertrauen
des Menschen an den Menschen neue Inhalte und Bedeutungen. Der Geist, der
Baumeister von Gemeinschaft in Liebe ist, stellt zwischen den Menschen
eine neue Brüderlichkeit und Solidarität her, einen echten Abglanz des der
heiligsten Dreifaltigkeit eigenen Geheimnisses von gegenseitiger Hingabe
und Annahme. Der Geist selbst wird zum neuen Gesetz, das den Gläubigen die
Kraft gibt und ihre Verantwortlichkeit dazu anspornt, durch Teilhabe an
der Liebe Jesu Christi selbst und nach ihrer Maßgabe gegenseitig die
Selbsthingabe und die Annahme des anderen zu leben.
77. Von diesem neuen Gesetz wird auch das Gebot »du sollst nicht töten«
beseelt und geformt. Für den Christen schließt es letzten Endes das
Pflichtgebot ein, den Ansprüchen und Dimensionen der Liebe Gottes in Jesus
Christus gemäß das Leben jedes Bruders zu achten, zu lieben und zu
fördern. »Er hat sein Leben für uns hingegeben. So müssen auch wir für die
Brüder das Leben hingeben« (1 Joh 3, 16).
Das Gebot »du sollst nicht töten« verpflichtet jeden Menschen auch in
seinen positivsten Inhalten, nämlich Achtung, Liebe und Förderung des
menschlichen Lebens. Es läßt sich in der Tat als ein ununterdrückbares
Echo des ursprünglichen Bundes Gottes, des Schöpfers, mit dem Menschen im
sittlichen Bewußtsein eines jeden Menschen vernehmen; es kann von allen im
Licht der Vernunft erkannt und dank des geheimnisvollen Wirkens des
Geistes wahrgenommen werden, der, da er weht, wo er will (vgl. Joh
3, 8), jeden in dieser Welt lebenden Menschen erreicht und miteinbezieht.
Es ist also ein Liebesdienst, den wir verpflichtet sind unserem
Nächsten zu leisten, damit seinem Leben immer, vor allem aber, wenn es am
schwächsten oder bedroht ist, Schutz und Förderung zuteil werde. Es ist
nicht nur persönliche, sondern soziale Fürsorge, die wir alle dadurch
ausüben müssen, daß wir die bedingungslose Achtung vor dem menschlichen
Leben zum tragenden Fundament einer erneuerten Gesellschaft machen.
Es wird von uns verlangt, das Leben jedes Mannes und jeder Frau zu
lieben und zu ehren und mit Standhaftigkeit und Mut daran zu arbeiten, daß
in unserer Zeit, die allzu viele Zeichen des Todes aufweist, endlich eine
neue Kultur des Lebens als Frucht der Kultur der Wahrheit und der Liebe
entstehen möge.
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IV. KAPITEL - DAS HABT IHR
MIR GETAN - FÜR EINE NEUE KULTUR DES MENSCHLICHEN LEBENS
»Ihr aber seid ein Volk, das Gottes besonderes Eigentum wurde,
damit es seine großen Taten verkünde« (1 Petr 2, 9): das
Volk des Lebens und für das Leben
78. Die Kirche hat das Evangelium als Ankündigung und Quelle von Freude
und Heil empfangen. Sie hat es als Geschenk von Jesus empfangen, der vom
Vater gesandt wurde, »damit Er den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lk
4, 18). Sie hat es durch die Apostel empfangen, die von Ihm in die
ganze Welt ausgesandt wurden (vgl. Mk 16, 15; Mt 28, 19-20).
Die aus diesem Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums entstandene
Kirche vernimmt in sich selbst jeden Tag das mahnende Wort des Apostels:
»Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde« (1 Kor 9, 16).
»Evangelisieren ist — schrieb Paul VI. — in der Tat die Gnade und
eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da,
um zu evangelisieren«. 101
Evangelisierung ist eine globale und dynamische Aktion, die die Kirche
in ihrer Teilhabe an der prophetischen, priesterlichen und königlichen
Sendung des Herrn Jesus einbezieht. Sie ist daher untrennbar mit den
Dimensionen der Verkündigung, der Feier und des Dienstes der Nächstenliebe
verbunden. Sie ist ein zutiefst kirchliches Tun, das alle
heranzieht, die auf verschiedenste Weise für das Evangelium tätig sind,
einen jeden nach seinen Gaben und seinem Amt.
Das gilt auch für die Verkündigung des Evangeliums vom Leben,
eines wesentlichen Bestandteils des Evangeliums, das Jesus Christus ist.
Wir stehen im Dienst dieses Evangeliums, getragen von dem Bewußtsein, daß
wir es als Geschenk empfangen haben und ausgesandt sind, es der ganzen
Menschheit »bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1, 8) zu verkünden.
Darum hegen wir das demütige und dankbare Bewußtsein, das Volk des
Lebens und für das Leben zu sein, und treten so vor allen auf.
79. Wir sind das Volk des Lebens, weil Gott uns in seiner
unentgeltlichen Liebe das Evangelium vom Leben geschenkt hat und
wir von diesem Evangelium verwandelt und gerettet worden sind. Wir sind
vom »Urheber des Lebens« (Apg 3, 15) um den Preis seines kostbaren
Blutes erkauft (vgl. 1 Kor 6, 20; 7, 23; 1 Petr 1, 19) und
durch die Taufe in Ihn eingegliedert worden (vgl. Röm 6, 4-5;
Kol 2, 12) wie Zweige, die aus dem einen Stamm Lebenssaft und
Fruchtbarkeit ziehen (vgl. Joh 15, 5). Innerlich erneuert durch die
Gnade des Geistes, der »Herr ist und lebendig macht«, sind wir zu einem
Volk für das Leben geworden und sind aufgerufen, uns auch so zu
verhalten.
Wir sind gesandt: im Dienst des Lebens zu stehen, ist für uns
nicht Prahlerei, sondern eine Verpflichtung, die aus dem Bewußtsein
entsteht, »ein Volk« zu sein, »das Gottes besonderes Eigentum wurde, damit
es seine großen Taten verkünde« (1 Petr 2, 9). Auf unserem Weg
führt und trägt uns das Gesetz der Liebe: es ist die Liebe, deren
Quelle und Vorbild der menschgewordene Gottessohn ist, der »durch seinen
Tod der Welt das Leben geschenkt hat«. 102
Wir sind als Volk gesandt. Die Verpflichtung zum Dienst am Leben
lastet auf allen und auf jedem einzelnen. Es handelt sich um eine
»kirchliche« Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn, die das aufeinander
abgestimmte hochherzige Handeln aller Mitglieder und aller Gruppierungen
der christlichen Gemeinde erfordert. Die gemeinschaftliche Aufgabe hebt
jedoch die Verantwortung des einzelnen Menschen, an den das Gebot
des Herrn, für jeden Menschen »zum Nächsten zu werden«, gerichtet ist:
»Dann geh und handle genauso!« (Lk 10, 37), weder auf noch
verringert sie diese.
Wir spüren alle miteinander die Verpflichtung, das Evangelium vom
Leben zu verkünden, es in der Liturgie und in unserem gesamten Dasein
zu feiern, ihm mit verschiedenen Initiativen und Strukturen zu
dienen, die seine Unterstützung und Förderung zum Ziele haben.
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»Was wir gesehen und gehört
haben, das verkünden wir auch euch« (1 Joh 1, 3): das
Evangelium vom Leben verkünden
80. »Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren
Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben, ...
das Wort des Lebens..., das verkünden wir auch euch, damit auch ihr
Gemeinschaft mit uns habt« (1 Joh 1, 1.3). Jesus ist das einzige
Evangelium: wir haben nichts anderes zu sagen und zu bezeugen.
Die Verkündigung Jesu ist die Verkündigung des Lebens. Denn Er
ist »das Wort des Lebens« (1 Joh 1, 1). In Ihm »wurde das Leben
offenbart« (1 Joh 1, 2); ja, Er ist selber »das ewige Leben, das
beim Vater war und uns offenbart wurde« (ebd.). Dank der Gabe des
Geistes wurde dieses Leben dem Menschen mitgeteilt. Wenn es auf das Leben
in Fülle, auf das »ewige Leben«, hingeordnet ist, gewinnt auch das
»irdische Leben« seinen vollen Sinn.
Wenn wir von diesem Evangelium vom Leben erleuchtet werden,
empfinden wir das Bedürfnis, es in dem überraschend Neuen, das es
kennzeichnet, zu verkünden und zu bezeugen: da es sich mit Jesus selbst,
dem Überbringer alles Neuen 103 und Sieger über das »Alter«, das aus der
Sünde stammt und zum Tod führt, 104 gleichsetzt, übersteigt dieses
Evangelium jede menschliche Erwartung und macht offenbar, zu welchen
erhabenen Höhen sich die Würde der Person durch die Gnade zu erheben
vermag. Der hl. Gregor von Nyssa stellt folgende Betrachtung darüber an:
»Der Mensch, der unter den Lebewesen nichts zählt, der Staub, Gras,
Vergänglichkeit ist, wird, sobald vom Gott des Universums an Kindes Statt
angenommen, zum Vertrauten dieses Gottes, dessen Vollkommenheit und Größe
niemand sehen, hören und begreifen kann. Mit welchem Wort, Gedanken oder
Aufschwung des Geistes wird man je vermögen, den Überfluß dieser Gnade zu
preisen? Der Mensch übersteigt seine Natur: vom Sterblichen wird er zum
Unsterblichen, vom Vergänglichen zum Unvergänglichen, vom Vorübergehenden
zum Ewigen, er wird vom Menschen zu Gott«. 105
Die Dankbarkeit und Freude angesichts der unermeßlichen Würde des
Menschen spornt uns an, alle an dieser Botschaft teilhaben zu lassen: »Was
wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr
Gemeinschaft mit uns habt« (1 Joh 1, 3). Man muß das Evangelium
vom Leben zum Herzen jedes Mannes und jeder Frau gelangen lassen und
es in die verborgensten Winkel der ganzen Gesellschaft einführen.
81. Es geht darum, zunächst die Mitte dieses Evangeliums zu
verkünden. Das bedeutet Verkündigung eines lebendigen und nahen Gottes,
der uns in eine tiefe Verbindung mit sich ruft und uns öffnet für die
sichere Hoffnung auf das ewige Leben; es bedeutet Geltendmachung des
untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen der menschlichen Person, ihrem
Leben und ihrer Leiblichkeit besteht; es bedeutet Darstellung des
menschlichen Lebens als Leben der Beziehung, als Gottesgeschenk, als
Frucht und Zeichen seiner Liebe; es bedeutet Verkündigung der
außergewöhnlichen Beziehung Jesu zu jedem Menschen, der es ermöglicht, in
jedem menschlichen Antlitz das Ant- litz Christi zu erkennen; es bedeutet
Aufzeigen der »aufrichtigen Selbsthingabe« als Aufgabe und Ort voller
Verwirklichung der eigenen Freiheit.
Gleichzeitig gilt es sämtliche Konsequenzen aufzuzeigen, die
sich aus diesem Evangelium ergeben und die man wie folgt zusammenfassen
kann: das menschliche Leben, ein wertvolles Geschenk Gottes, ist heilig
und unantastbar und daher sind insbesondere die vorsätzliche Abtreibung
und die Euthanasie absolut unannehmbar; das Leben des Menschen darf nicht
nur nicht ausgelöscht, sondern es muß mit aller liebevollen Aufmerksamkeit
geschützt werden; das Leben findet seinen Sinn in der empfangenen und
geschenkten Liebe, in deren Blickfeld Sexualität und menschliche
Fortpflanzung volle Wahrheit erlangen; in dieser Liebe haben auch das
Leiden und der Tod einen Sinn und können, wenngleich das Geheimnis, das
sie umfängt, weiterbesteht, zu Heilsereignissen werden; die Achtung vor
dem Leben erfordert, daß Wissenschaft und Technik stets auf den Menschen
und seine ganzheitliche Entwicklung hingeordnet werden; die ganze
Gesellschaft muß die Würde jeder menschlichen Person in jedem Augenblick
und in jeder Lage ihres Lebens achten, verteidigen und fördern.
82. Um wahrhaftig ein Volk im Dienst am Leben zu sein, müssen wir von
der ersten Verkündigung des Evangeliums an und später in der Katechese
und in den verschiedenen Verkündigungsformen, im persönlichen Gespräch und
in jeder erzieherischen Tätigkeit mit Standhaftigkeit und Mut diese
Inhalte vorlegen. Den Erziehern, Lehrern, Katecheten und Theologen obliegt
die Aufgabe, die anthropologischen Gründe hervorzuheben, auf die
sich die Achtung vor jedem Menschenleben gründet und stützt. Während wir
das eigenartig Neue des Evangeliums vom Leben zum Strahlen bringen,
werden wir auf diese Weise allen helfen können, auch im Licht der Vernunft
und der Erfahrung zu entdecken, daß die christliche Botschaft den Menschen
und die Bedeutung seines Seins und seiner Existenz voll erhellt; wir
werden wertvolle Punkte für Begegnung und Dialog auch mit den
Nichtglaubenden finden, sind wir doch alle miteinander verpflichtet, eine
neue Kultur des Lebens erstehen zu lassen.
Während wir von den widersprüchlichsten Stimmen umgeben sind und viele
die gesunde Lehre über das Leben des Menschen verwerfen, spüren wir, daß
die inständige Bitte des Paulus an Timotheus auch an uns gerichtet ist:
»Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht;
weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung«
(2 Tim 4, 2). Diese Ermahnung muß besonders im Herzen derer
kräftigen Widerhall finden, die in der Kirche auf verschiedene Weise an
ihrer Sendung als »Lehrerin« der Wahrheit am unmittelbarsten teilhaben.
Sie soll vor allem bei uns Bischöfen Widerhall finden: wir sind als
erste dazu angehalten, unermüdliche Verkünder des Evangeliums vom Leben
zu sein; uns ist auch die Aufgabe anvertraut, über die zuverlässige
und getreue Weitergabe der in dieser Enzyklika neu vorgelegten Lehre zu
wachen und die geeignetsten Maßnahmen zu ergreifen, damit die Gläubigen
vor jeder Lehre, die ihr widerspricht, geschützt werden. Besondere
Aufmerksamkeit müssen wir darauf legen, daß an den theologischen
Fakultäten, in den Priesterseminarien und in den verschiedenen
katholischen Institutionen die Kenntnis der gesunden Lehre verbreitet,
erklärt und vertieft wird. 106 Die Ermahnung des Paulus möge von allen
Theologen, von den Seelsorgern und von allen anderen vernommen
werden, die Aufgaben der Lehre, Katechese und Gewissensbildung
wahrnehmen: mögen sie im Bewußtsein der ihnen zukommenden Rolle niemals
die schwerwiegende Verantwortung auf sich nehmen, die Wahrheit und ihren
eigenen Auftrag dadurch zu verraten, daß sie persönliche Ideen vortragen,
die im Gegensatz zum Evangelium vom Leben stehen, wie es das
Lehramt getreu vor– und auslegt.
Bei der Verkündigung dieses Evangeliums dürfen wir nicht Feindseligkeit
und Unpopularität fürchten, wenn wir jeden Kompromiß und jede
Zweideutigkeit ablehnen, die uns der Denkweise dieser Welt angleichen
würde (vgl. Röm 12, 2). Wir sollen in der Welt, aber nicht
von der Welt sein (vgl. Joh 15, 19; 17, 16) mit der Kraft,
die uns von Christus kommt, der durch seinen Tod und seine Auferstehung
die Welt besiegt hat (vgl. Joh 16, 33).
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»Ich danke dir, daß du mich so
wunderbar gestaltet hast« (Ps 139 1, 14): das Evangelium vom
Leben feiern
83. Da wir als »Volk für das Leben« in die Welt gesandt sind, soll
unsere Verkündigung auch zu einer echten Feier des Evangeliums vom
Leben werden. Ja, durch die beschwörende Kraft ihrer Gesten, Symbole
und Riten wird diese Feier zum wertvollen und bedeutsamen Ort für die
Weitergabe der Schönheit und Größe dieses Evangeliums.
Dazu ist es vor allem dringend notwendig, in uns und in den anderen
eine kontemplative Sicht zu pflegen. 107 Diese entsteht aus dem
Glauben an den Gott des Lebens, der jeden Menschen geschaffen und
wunderbar gestaltet hat (vgl. Ps 139 2, 14). Es ist die Sicht
dessen, der das Leben dadurch in seiner Tiefe sieht, daß er dessen
Dimensionen der Unentgeltlichkeit, der Schönheit, der Herausforderung zu
Freiheit und Verantwortlichkeit erfaßt. Es ist die Sicht dessen, der sich
nicht anmaßt, der Wirklichkeit habhaft zu werden, sondern sie als ein
Geschenk annimmt und dabei in jedem Ding den Widerschein des Schöpfers und
in jedem Menschen sein lebendiges Abbild entdeckt (vgl. Gen 1, 27;
Ps 8, 6). Diese Sicht kapituliert nicht mutlos angesichts derer,
die sich in Krankheit, in Leid, am Rande der Gesellschaft und an der
Schwelle des Todes befinden; sondern sie läßt sich von allen diesen
Situationen befragen, um nach einem Sinn zu suchen, und beginnt gerade
unter diesen Gegebenheiten, auf dem Antlitz jedes Menschen einen Aufruf zu
Gegenüberstellung, zu Dialog, zu Solidarität zu entdecken.
Es ist an der Zeit, daß alle diese Sicht übernehmen und so wieder fähig
werden, mit dem von ehrfürchtigem Staunen erfüllten Herzen jeden
Menschen zu ehren und zu achten, wie uns Paul VI. in einer seiner
ersten Weihnachtsbotschaften einlud zu tun. 108 Beseelt von dieser
kontemplativen Sicht, kann das neue Volk der Erlösten gar nicht anders als
in Freudes-, Lobes– und Dankeshymnen auszubrechen über das unschätzbare
Geschenk des Lebens, über das Geheimnis der Berufung jedes Menschen,
in Christus am Gnadenleben und an einer Existenz unendlicher Gemeinschaft
mit Gott, dem Schöpfer und Vater, teilzuhaben.
84. Das Evangelium vom Leben feiern heißt, den Gott des Lebens, den
Gott, der das Leben schenkt, feiern: »Wir müssen das ewige Leben
feiern, von dem jedes andere Leben herrührt. Von ihm empfängt jedes Wesen,
das in irgendeiner Weise am Leben teilhat, proportional zu seinen
Fähigkeiten das Leben. Dieses göttliche Leben, das über jedem Leben steht,
belebt und bewahrt das Leben. Jedes Leben und jede Lebensregung haben
ihren Ursprung in diesem Leben, das jedes Leben und jeden Lebensursprung
übersteigt. Ihm verdanken die Seelen ihre Unvergänglichkeit, sowie dank
ihm alle Tiere und Pflanzen leben, die das schwächste Echo des Lebens
empfangen. Den Menschen, Wesen, die aus Geist und Materie bestehen,
schenkt das (göttliche) Leben das Leben. Wenn es dann geschieht, daß wir
es verlassen müssen, dann verwandelt uns das Leben wegen seiner
überströmenden Liebe zum Menschen und ruft uns zu sich. Nicht nur das: es
verheißt uns, uns, Seelen und Körper, in das vollkommene Leben, in die
Unsterblichkeit zu geleiten. Es ist zu wenig, wenn man sagt, dieses Leben
ist lebendig: es ist Lebensursprung, einzige Lebensursache und
Lebensquelle. Jedes Lebewesen muß es betrachten und preisen: es ist Leben,
das in Leben überströmt«. 109
Wie der Psalmist, so loben und preisen auch wir im persönlichen und
gemeinschaftlichen täglichen Gebet Gott, unseren Vater, der uns im
Mutterschoß gewoben und uns gesehen und geliebt hat, als wir noch ohne
Gestalt waren (vgl. Ps 139 3, 13. 15-16), und mit unbezähmbarer
Freude rufen wir aus: »Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet
hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke« (Ps 139 4, 14). Ja,
»dieses sterbliche Leben ist trotz seiner Mühen, seiner dunklen
Geheimnisse, seiner Leiden, seiner unabwendbaren Hinfälligkeit eine sehr
schöne Sache, ein immer originelles und ergreifendes Wunder, ein Ereignis,
würdig mit Freude und Lobpreis besungen zu werden«. 110 Mehr noch, der
Mensch und sein Leben erscheinen uns nicht nur als eines der größten
Wunderwerke der Schöpfung: Gott hat dem Menschen eine beinahe göttliche
Würde verliehen (vgl. Ps 8, 6-7). In jedem Kind, das geboren wird,
und in jedem Menschen, der lebt oder der stirbt, erkennen wir das Abbild
der Herrlichkeit Gottes: diese Herrlichkeit feiern wir in jedem Menschen,
der Zeichen des lebendigen Gottes, Ikone Jesu Christi ist.
Wir sind aufgerufen, Staunen und Dankbarkeit über das als Geschenk
empfangene Leben zum Ausdruck zu bringen und das Evangelium vom Leben
nicht nur im persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet, sondern vor
allem in den Feiern des liturgischen Jahres anzunehmen, zu genießen
und mitzuteilen. Hier muß im besonderen an die Sakramente als
wirksame Zeichen für die Gegenwart und das Heilswirken des Herrn Jesus in
der christlichen Existenz erinnert werden: sie machen die Menschen dadurch
zu Teilhabern am göttlichen Leben, daß sie ihnen die nötige geistliche
Kraft sicherstellen, um in ihrer vollen Wahrheit die Bedeutung des Lebens,
des Leidens und des Sterbens zu realisieren. Dank einer echten
Wiederentdeckung des Sinnes der Riten und dank ihrer angemessenen
Bewertung werden die liturgischen Feiern, vor allem jene sakramentalen
Charakters, immer mehr in der Lage sein, die volle Wahrheit über die
Geburt, das Leben, das Leiden und den Tod auszudrücken und so dazu
verhelfen, diese Wirklichkeit als Teilhabe am Ostermysterium des
gestorbenen und auferstandenen Christus zu erleben.
85. Bei der Feier des Evangeliums vom Leben muß man auch die
Gesten und die Symbole zu würdigen und zu schätzen wissen, an denen die
verschiedenen kulturellen und volkstümlichen Traditionen und Bräuche so
reich sind. Es handelt sich um Gelegenheiten und Formen der Begegnung,
mit denen in den verschiedenen Ländern und Kulturen die Freude über ein
neugeborenes Leben, die Achtung und die Verteidigung jedes menschlichen
Lebens, die Sorge für den Kranken oder Notleidenden, die Nähe zum Alten
oder Sterbenden, die Teilnahme am Schmerz des Trauernden, die Hoffnung und
die Sehnsucht nach Unsterblichkeit zum Ausdruck gebracht werden.
Aus dieser Sicht greife ich auch die von den Kardinälen im Konsistorium
von 1991 gebotene Anregung auf und schlage vor, man möge in den
verschiedenen Nationen jedes Jahr einen Tag für das Leben feiern,
wie er bereits auf Initiative einiger Bischofskonferenzen begangen wird.
Dieser Tag muß unter der aktiven Beteiligung aller Mitglieder der
Ortskirche vorbereitet und gefeiert werden. Sein wesentliches Ziel ist es,
in den Gewissen, in den Familien, in der Kirche und in der zivilen
Gesellschaft das Erkennen des Sinnes und Wertes zu wecken, den das
menschliche Leben zu jedem Zeitpunkt und unter jeder Bedingung hat; in das
Zentrum der Aufmerksamkeit soll dabei besonders das schwerwiegende Problem
von Abtreibung und Euthanasie gerückt werden, ohne jedoch die anderen
Augenblicke und Aspekte des Lebens zu übergehen, die je nachdem, was die
geschichtliche Entwicklung nahelegt, jeweils aufmerksame Beachtung
verdienen.
86. In der Logik des gottgefälligen geistlichen Kultes (vgl. Röm
12, 1) soll sich die Feier des Evangeliums vom Leben vor allem in
dem in Liebe zu den anderen und in Selbsthingabe gelebten Alltagsdasein
vollziehen. Auf diese Weise wird unsere ganze Existenz zur
glaubwürdigen und verantwortungsbewußten Aufnahme des Geschenkes des
Lebens und zu einem aufrichtigen, dankbaren Lobpreis an Gott, der uns
dieses Geschenk gemacht hat. Das geschieht bereits in vielen, vielen Akten
eines oft schlichten und verborgenen Sichverschenkens, die von Männern und
Frauen, Kindern und Erwachsenen, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken
vollbracht werden.
In diesem an Menschlichkeit und Liebe reichen Rahmen entstehen auch die
heroischen Taten. Sie sind die feierlichste Verherrlichung des
Evangeliums vom Leben, weil sie es mit totaler Selbsthingabe
verkünden; sie sind die leuchtende Offenbarung des höchsten Grades von
Liebe, der darin besteht, daß einer sein Leben für den geliebten Menschen
hingibt (vgl. Joh 15, 13); sie sind die Teilhabe am Geheimnis des
Kreuzes, an dem Jesus offenbar macht, welchen Wert für Ihn das Leben jedes
Menschen hat und wie es sich in der aufrichtigen Selbsthingabe voll
verwirklicht. Jenseits aufsehenerregender Taten gibt es den Heroismus im
Alltag, der aus kleinen und großen Gesten des Teilens besteht, die eine
echte Kultur des Lebens fördern. Unter diesen Gesten verdient die in
ethisch annehmbaren Formen durchgeführte Organspende besondere
Wertschätzung, um Kranken, die bisweilen jeder Hoffnung beraubt sind, die
Möglichkeit der Gesundheit oder sogar des Lebens anzubieten.
Zu diesem Heroismus im Alltag gehört das stille, aber um so
fruchtbarere und beredtere Zeugnis »aller mutigen Mütter, die sich
vorbehaltlos ihrer Familie widmen, die unter Schmerzen ihre Kinder zur
Welt bringen und dann bereit sind, jede Mühe und jedes Opfer auf sich zu
nehmen, um ihnen das Beste weiterzugeben, was sie in sich tragen«. 111
Wenn sie ihre Sendung leben, »finden diese heroischen Mütter dabei in
ihrer Umgebung nicht immer Unterstützung. Ja, die Vorbilder der
Zivilisation, wie sie häufig von den Massenmedien vorgestellt und
verbreitet werden, begünstigen nicht die Mutterschaft. Im Namen des
Fortschritts und der Moderne werden die Werte der Treue, der Keuschheit
und des Opfers heute als überholt hingestellt, und doch haben sich in
diesen Werten ganze Scharen von christlichen Gattinnen und Müttern
ausgezeichnet und tun es weiter... Wir danken euch, heroische Mütter, für
eure unbesiegbare Liebe! Wir danken euch für euer unerschrockenes
Vertrauen auf Gott und seine Liebe. Wir danken euch für das Opfer eures
Lebens... Im Ostergeheimnis erstattet euch Christus das Geschenk zurück,
das ihr Ihm gemacht habt. Denn Er hat die Macht, euch das Leben
zurückzugeben, das ihr Ihm als Opfer dargebracht habt«. 112
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»Meine Brüder, was nützt es,
wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke?« (Jak
2, 14): dem Evangelium vom Leben dienen
87. Kraft der Teilhabe an der königlichen Sendung Christi müssen sich
die Unterstützung und Förderung des menschlichen Lebens durch den
Dienst der Nächstenliebe verwirklichen, der im persönlichen Zeugnis,
in den verschiedenen Formen des freiwilligen Einsatzes, im sozialen
Handeln und im politischen Engagement zum Ausdruck kommt. Das ist zur
Stunde eine besonders dringende Forderung, da sich die »Kultur des
Todes« so mächtig der »Kultur des Lebens« widersetzt und bisweilen die
Oberhand zu gewinnen scheint. Davor liegt jedoch noch eine Forderung, die
aus dem Glauben entsteht, »der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5,
6), wie uns der Jakobusbrief ermahnt: »Meine Brüder, was nützt es, wenn
einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der
Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist
und ohne das tägliche Brot, und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in
Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum
Leben brauchen — was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein
tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat« (2, 14-17).
Beim Dienst der Nächstenliebe muß uns eine Haltung beseelen und
kennzeichnen: wir müssen uns des anderen als Person annehmen, die von
Gott unserer Verantwortung anvertraut worden ist. Als Jünger Jesu sind wir
berufen, uns zum Nächsten jedes Menschen zu machen (vgl. Lk 10,
29-37) und dabei dem Ärmsten, Einsamsten und Bedürftigsten besonderen
Vorzug zu gewähren. Dadurch, daß wir dem Hungernden, dem Dürstenden, dem
Fremden, dem Nackten, dem Kranken, dem Gefangenen — wie auch dem
ungeborenen Kind, dem alten Menschen in seinem Leiden oder unmittelbar vor
seinem Tod — helfen, dürfen wir Jesus dienen, wie Er selber gesagt hat:
»Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir
getan« (Mt 25, 40). Daher müssen wir uns von dem immer noch
aktuellen Wort des hl. Johannes Chrysostomus angesprochen und beurteilt
fühlen: »Willst du dem Leib Christi Ehre erweisen? Vernachlässige ihn
nicht, wenn er nackt ist. Ehre ihn nicht hier im Tempel mit Seidenstoffen,
um ihn dann draußen, wo er unter Kälte und Nacktheit leidet, unbeachtet zu
lassen«. 113
Der Dienst der Liebe gegenüber dem Leben muß zutiefst einheitlich
sein: er darf keine Einseitigkeiten und Diskriminierungen dulden, denn
das menschliche Leben ist in jeder Phase und in jeder Situation heilig und
unverletzlich; es ist ein unteilbares Gut. Es geht also darum, sich des
ganzen Lebens und des Lebens aller »anzunehmen«. Ja, noch
tiefgründiger: es gilt, bis an die eigentlichen Wurzeln des Lebens und der
Liebe zu gehen.
Ausgehend von einer tiefen Liebe zu jedem Mann und jeder Frau hat sich
im Laufe der Jahrhunderte eine außergewöhnliche Geschichte der Liebe
entwickelt, die in das kirchliche und staatliche Leben zahlreiche
Strukturen für den Dienst am Leben eingeführt hat, die bei jedem
unvoreinge- nommenen Beobachter Bewunderung hervorrufen. Es ist eine
Geschichte, die mit erneuertem Verantwortungsgefühl jede christliche
Gemeinde durch ein vielfältiges pastorales und soziales Handeln
weiterschreiben muß. In diesem Sinne müssen ausreichende und wirksame
Formen der Begleitung des werdenden Lebens in die Tat umgesetzt
werden, wobei es darum geht, jenen Müttern besonders nahe zu sein, die
sich auch ohne Unterstützung durch den Vater nicht scheuen, ihr Kind zur
Welt zu bringen und zu erziehen. Gleiche Fürsorge muß dem Leben am Rande
der Gesellschaft oder im Leiden, besonders in seiner Schlußphase, erwiesen
werden.
88. Das alles erfordert eine geduldige und mutige Erziehungsarbeit,
die alle und jeden einzelnen dazu anhalten soll, die Last der anderen
zu tragen (vgl. Gal 6, 2); es verlangt besonders unter der Jugend
eine ständige Förderung von Berufungen zum Dienst; es schließt die
Durchführung konkreter, fester und vom Evangelium angeregter Vorhaben
und Initiativen ein.
Vielfältig sind die Mittel, die mit Kompetenz und ernsthaftem
Einsatz abgeschätzt werden müssen. Im Hinblick auf den Ursprung des
Lebens gilt es, die Zentren für die natürlichen Methoden der
Fruchtbarkeitsregelung als eine wirksame Hilfe für die verantwortliche
Elternschaft zu fördern, wobei jeder Mensch, vom Kind angefangen, um
seiner selbst willen anerkannt und geachtet und jede Entscheidung vom
Kriterium der aufrichtigen Selbsthingabe angeregt und geleitet wird. Auch
die Ehe- und Familienberater leisten durch ihre spezifische
Tätigkeit der Beratung und Vorbeugung, die sie im Licht einer der
christlichen Auffassung vom Menschen, vom Paar und von der Sexualität
entsprechenden Anthropologie ausüben, einen wertvollen Dienst, um den Sinn
der Liebe und des Lebens wiederzuentdecken und jede Familie in ihrer
Sendung als »Heiligtum des Lebens« zu unterstützen und zu begleiten. In
den Dienst am werdenden Leben stellen sich auch die Zentren für
Lebenshilfe und die Häuser oder Zentren zur Aufnahme des Lebens. Dank
ihrer Arbeit gewinnen viele unverheiratete Mütter und in Schwierigkeiten
geratene Paare wieder Sinn und Überzeugungen und finden Beistand und
Hilfe, um Unbehagen und Ängste bei der Annahme eines werdenden oder gerade
zur Welt gekommenen Lebens zu überwinden.
Angesichts des Lebens in elendem, herabgekommenem Zustand, in der
Situation der Entgleisung, in Krankheit und am Rande der Gesellschaft sind
andere Instrumente — wie die Gemeinschaften zur Wiederherstellung von
Drogenabhängigen, die Wohngemeinschaften für die Minderjährigen oder die
Geisteskranken, die Zentren zur Behandlung und Aufnahme von AIDS-Kranken,
die Solidaritätsgemeinschaften vor allem für die Behinderten —
beredter Ausdruck dessen, was sich die Liebe auszudenken vermag, um einem
jeden neuen Grund zur Hoffnung und konkrete Lebensmöglichkeiten zu geben.
Wenn sich dann das irdische Dasein seinem Ende zuneigt, ist es wiederum
die Liebe, die die geeignetsten Bedingungen ausfindig macht, damit alte
Menschen, besonders wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können,
und die sogenannten Kranken im Endstadium sich einer wirklich
menschlichen Fürsorge erfreuen und Antworten erhalten können, die ihren
Bedürfnissen, insbesondere ihrer Angst und Einsamkeit angemessen sind.
Unersetzlich ist in diesen Fällen die Rolle der Familien; aber diese
können in den sozialen Strukturen der Fürsorge und — falls notwendig — bei
der Anwendung der palliativen Behandlungsmethoden große Hilfe
finden, wenn sie sich geeigneter Gesundheits– und Sozialdienste bedienen,
die sowohl in den öffentlichen Krankenhäu- sern, Kliniken und Pflegeheimen
als auch zu Hause tätig sind.
Neu nachgedacht werden muß über die Rolle der Krankenhäuser, der
Kliniken und der Pflegeheime: ihre wahre Identität ist nicht
einfach jene von Strukturen, in denen man sich der Kranken und Sterbenden
annimmt, sondern vor allem die Identität einer Umgebung, in welcher das
Leiden, der Schmerz und der Tod in ihrer menschlichen und spezifisch
christlichen Bedeutung erkannt und gedeutet werden. In besonderer Weise
als klar und wirksam erweisen muß sich diese Identität in den
Instituten, die von Ordensleuten abhängig oder jedenfalls an die Kirche
gebunden sind.
89. Diese Strukturen und Orte des Dienstes am Leben und alle anderen
Initiativen zu Hilfe und Solidarität, die die jeweiligen Situationen
wachrufen können, müssen von Personen belebt werden, die auf
hochherzige Weise verfügbar und sich zutiefst dessen bewußt sind, wie
entscheidend das Evangelium vom Leben für das Wohl des einzelnen
und der Gesellschaft ist.
Von besonderer Art ist die den im Gesundheitswesen Tätigen
anvertraute Verantwortung: der Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern und
Krankenpfleger, der Seelsorger, Ordensleute, Verwalter und der
freiwilligen Helfer. Ihr Beruf macht sie zu Hütern und Dienern des
menschlichen Lebens. In dem heutigen kulturellen und sozialen Umfeld, in
dem die Wissenschaft und die ärztliche Kunst Gefahr laufen, die ihnen
eigene ethische Dimension zu verlieren, können sie bisweilen stark
versucht sein, zu Urhebern der Manipulation des Lebens oder gar zu
Todesvollstreckern zu werden. Angesichts dieser Versuchung ist ihre
Verantwortung heute enorm gewachsen und findet ihre tiefste Inspiration
und stärkste Stütze gerade in der dem Ärzteberuf innewohnenden,
unumgänglichen ethischen Dimension, wie schon der alte und immer noch
aktuelle hippokratische Eid erkannte, demgemäß von jedem Arzt
verlangt wird, sich zur absoluten Achtung vor dem menschlichen Leben und
seiner Heiligkeit zu verpflichten.
Die absolute Achtung jedes unschuldigen Menschenlebens erfordert auch
die Ausübung des Einspruchs aus Gewissensgründen gegen vorsätzliche
Abtreibung und Euthanasie. »Sterben lassen« darf niemals als eine
medizinische Behandlung angesehen werden, auch dann nicht, wenn man nur
die Absicht hätte, damit einer Bitte des Patienten nachzukommen: es ist
vielmehr die Verneinung des ärztlichen Berufes, der sich als
leidenschaftliches und hartnäckiges »Ja« zum Leben qualifiziert. Auch die
biomedizinische Forschung, ein faszinierendes und neue große Wohltaten für
die Menschheit verheißendes Gebiet, muß immer die Durchführung von
Experimenten, Forschungen bzw. Anwendungen ablehnen, die infolge der
Mißachtung der unverletzlichen Würde des Menschen nicht mehr im Dienst der
Menschen stehen und zu Realitäten werden, die sie, obwohl sie ihnen zu
helfen scheinen, tatsächlich unterdrücken.
90. Zu einer besonderen Rolle berufen sind die Personen, die sich im
Freiwilligendienst engagieren: sie leisten einen wertvollen Beitrag im
Dienst am Leben, wenn sie berufliche Fähigkeit und hochherzige,
unentgeltliche Liebe zu verbinden verstehen. Das Evangelium vom Leben
spornt sie an, die Gefühle einfacher Menschenliebe auf die Höhe der
Christusliebe emporzuheben; jeden Tag inmitten von Ermüdung und Überdruß
das Bewußtsein von der Würde jedes Menschen zurückzugewinnen; die
Bedürfnisse der Menschen ausfindig zu machen und dabei, wenn nötig, dort
neue Wege einzuschlagen, wo die Not am dringendsten ist und Beachtung und
Hilfe am schwächsten sind.
Der hartnäckige Realismus der Liebe erfordert, daß dem Evangelium
vom Leben auch durch Formen sozialen Handelns und politischen
Engagements, durch die Verteidigung und Förderung des Wertes des
Lebens in unseren immer komplexeren und pluralistischeren Gesellschaften
gedient wird. Einzelne, Familien, Gruppen, Gemeinschaften haben,
und sei es auch in je verschiedener Weise, eine Verantwortung im sozialen
Handeln und in der Erarbeitung kultureller, wirtschaftlicher, politischer
und gesetzgeberischer Vorhaben, die unter Achtung aller und nach der Logik
des demokratischen Zusammenlebens zum Aufbau einer Gesellschaft beitragen
sollen, in der die Würde jedes Menschen anerkannt und geschützt und das
Leben aller verteidigt und gefördert wird.
Diese Aufgabe lastet im besonderen auf den Verantwortlichen für die
Staatsangelegenheiten. Da sie dazu bestellt sind, dem Menschen und dem
Gemeinwohl zu dienen, haben sie die Pflicht, vor allem im Bereich der von
der Gesetzgebung getroffenen Verfügungen mutige Entscheidungen
zugunsten des Lebens zu treffen. In einer demokratischen Regierungsform,
in der auf Grund der Zustimmung vieler die Gesetze verabschiedet und die
Entscheidungen gefällt werden, kann sich im Gewissen der einzelnen, die
mit Autorität ausgestattet sind, der Sinn für die persönliche
Verantwortung abschwächen. Aber niemand kann auf sie je verzichten, vor
allem dann nicht, wenn er ein Gesetzgebungs– oder Entscheidungsmandat
innehat, das ihn ruft, sich vor Gott, vor dem eigenen Gewissen und vor der
Gesamtgesellschaft über Entscheidungen, die eventuell dem wirklichen
Gemeinwohl entgegenstehen, zu verantworten. Wenn die Gesetze auch nicht
das einzige Mittel sind, um das menschliche Leben zu verteidigen, so
spielen sie doch eine sehr wichtige und manchmal entscheidende Rolle bei
der Förderung einer Denkweise und einer Gewohnheit. Ich wiederhole noch
einmal, daß eine Vorschrift, die das natürliche Recht auf Leben eines
Unschuldigen verletzt, unrecht ist und als solche keinen Gesetzeswert
haben kann. Deshalb erneuere ich mit Nachdruck meinen Appell an alle
Politiker, keine Gesetze zu erlassen, die durch Mißachtung der Würde der
Person das bürgerliche Zusammenleben selber an der Wurzel bedrohen.
Die Kirche weiß, daß es im Rahmen pluralistischer Demokratien wegen des
Vorhandenseins starker kultureller Strömungen mit verschiedenem Ansatz
schwierig ist, einen wirksamen gesetzlichen Schutz des Lebens in die Tat
umzusetzen. Doch veranlaßt von der Gewißheit, daß die sittliche Wahrheit
im Inneren jedes Gewissens ein Echo haben muß, ermutigt sie die Politiker,
angefangen bei jenen, die Christen sind, nicht zu resignieren und jene
Entscheidungen zu treffen, die unter Berücksichtigung der konkreten
Möglichkeiten zur Wiederherstellung einer gerechten Ordnung bei der
Geltendmachung und Förderung des Wertes des Lebens führen sollen. Im
Hinblick darauf muß unterstrichen werden, daß es mit der Aufhebung der
ungerechten Gesetze nicht getan ist. Man wird die Ursachen beseitigen
müssen, die den Angriffen gegen das Leben Vorschuß leisten, indem man vor
allem für Familie und Mutterschaft die gebührende Unterstützung
sicherstellt: die Familienpolitik muß Grundlage und Motor jeder
Sozialpolitik sein. Es gilt daher, soziale und gesetzgeberische
Initiativen in Gang zu setzen, die imstande sind, bei der Entscheidung
bezüglich der Elternschaft Bedingungen echter Freiheit zu garantieren;
außerdem ist es notwendig, die Arbeitspolitik, die Städtebaupolitik, die
Wohnungsbau– und Dienstleistungspolitik neu zu ordnen, damit die
Arbeitszeiten und der Zeitplan der Familie aufeinander abgestimmt werden
können und die Betreuung der Kinder und der alten Menschen tatsächlich
möglich wird.
91. Ein wichtiges Kapitel der Politik für das Leben stellt heute die
Problematik des Bevökerungswachstums dar. Die staatlichen Behörden
haben gewiß die Verantwortung, mit Initiativen »auf das
Bevölkerungswachstum einzuwirken«; 114 aber solche Initiativen müssen
immer die vorrangige und unveräußerliche Verantwortlichkeit der Ehegatten
und der Familien voraussetzen und respektieren und dürfen nicht Methoden
anwenden, die die Person und ihre Grundrechte mißachten, angefangen bei
dem Recht jedes unschuldigen menschlichen Geschöpfes auf Leben. Es ist
daher sittlich unannehmbar, daß man wegen der Geburtenregelung zur
Anwendung von Mitteln wie Empfängnisverhütung, Sterilisation und
Abtreibung ermutigt, ja sie sogar auferlegt.
Es gibt sehr wohl andere Wege, um das Problem des Bevölkerungswachstums
zu lösen: die Regierungen und die verschiedenen internationalen
Einrichtungen müssen vor allem die Schaffung wirtschaftlicher, sozialer,
medizinisch-sanitärer und kultureller Verhältnisse anstreben, die es den
Eheleuten erlauben, ihre die Fortpflanzung betreffenden Entscheidungen in
voller Freiheit und mit wirklicher Verantwortung zu treffen; sodann müssen
sie sich »um die Vermehrung der Mittel und die gerechtere Verteilung des
Reichtums kümmern, so daß alle gleichmäßig an den Gütern der Schöpfung
beteiligt werden. Es muß nach Lösungen auf Weltebene gesucht werden durch
Einrichtung einer glaubwürdigen Wirtschaftsgemeinschaft und
Güterverteilung sowohl auf internationaler wie auf nationaler Ebene«.
115 Das ist der einzige Weg, der nicht nur die Würde der Person und der
Familien, sondern auch das authentische Kulturerbe der Völker achtet.
Der Dienst am Evangelium vom Leben ist daher umfassend und
vielschichtig. Er erscheint uns zunehmend als wertvoller und geeigneter
Rahmen für eine tatkräftige Zusammenarbeit mit den Brüdern der anderen
christlichen Kirchen und Gemeinschaften, und zwar auf der Linie jenes
Ökumenismus der Werke, zu dem das II. Vatikanische Konzil maßgebend
ermutigt hat. 116 Außerdem erscheint er als willkommener Raum für den
Dialog und die Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen und mit
allen Menschen guten Willens: niemand besitzt das Monopol auf den
Schutz und die Förderung des Lebens, sondern sie sind Aufgabe und
Verantwortung aller. Es ist eine schwierige Herausforderung, die vor
dem nahen dritten Jahrtausend vor uns liegt: allein die einträchtige
Zusammenarbeit aller, die an den Wert des Lebens glauben, wird eine
Niederlage der Zivilisation von unvorhersehbaren Ausmaßen vermeiden
können.
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»Kinder sind eine Gabe des
Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk« (Ps 127 1, 3):
die Familie »Heiligtum des Lebens«
92. Innerhalb des »Volkes des Lebens und für das Leben« kommt es
entscheidend auf die Verantwortlichkeit der Familie an: eine
Verantwortlichkeit, die dem der Familie eigenen Wesen — nämlich auf die
Ehe gegründete Lebens– und Liebesgemeinschaft zu sein — und ihrer Sendung,
»die Liebe zu hüten, zu offenbaren und mitzuteilen« 117 entspringt. Es
geht um die Liebe Gottes selbst, dessen Mitwirkende und gleichsam
Interpreten seiner Liebe die Eltern sind, wenn sie dem Plan des Vaters
entsprechend das Leben weitergeben und erziehen. 118 Die Liebe wird somit
zu unentgelt- lichem Dienst, zu Aufnahme, zum Geschenk: in der Familie
wird ein jeder anerkannt, geachtet und geehrt, weil er Person ist, und
wenn einer es nötig hat, wird ihm intensivere und aufmerksamere Fürsorge
zuteil.
Die Familie wird in die gesamte Lebensspanne ihrer Mitglieder
hineingezogen, von der Geburt bis zum Tod. Sie ist wahrlich »das
Heiligtum des Lebens..., der Ort, an dem das Leben, Gabe Gottes, in
angemessener Weise angenommen und gegen die vielfältigen Angriffe, denen
es ausgesetzt ist, geschützt wird und wo es sich entsprechend den
Forderungen eines echten menschlichen Wachstums entfalten kann«. 119 Darum
ist die Rolle der Familie beim Aufbau der Kultur des Lebens
entscheidend und unersetzlich.
Als Hauskirche ist die Familie aufgerufen, das Evangelium vom
Leben zu verkünden, zu feiern und ihm zu dienen. Dies ist vor allem
Aufgabe der Eheleute, die berufen sind, das Leben weiterzugeben auf der
Grundlage eines immer wieder erneuerten Bewußtseins vom Sinn der
Zeugung als bevorzugtem Ereignis, in dem offenbar wird, daß das
menschliche Leben ein Geschenk ist, um seinerseits weitergeschenkt zu
werden. Bei der Zeugung eines neuen Lebens werden die Eltern gewahr,
daß ihr Kind, »wenn es Frucht ihrer gegenseitigen Schenkung aus Liebe ist,
seinerseits ein Geschenk für beide ist: eine Gabe, die der Gabe
entspringt«. 120
Vor allem durch die Erziehung der Kinder erfüllt die Familie
ihre Sendung, das Evangelium vom Leben zu verkünden. Durch das Wort
und das Beispiel in den täglichen Beziehungen und Entscheidungen und durch
konkrete Gesten und Zeichen führen die Eltern ihre Kinder in die echte
Freiheit ein, die sich in der aufrichtigen Selbsthingabe verwirklicht, und
bilden in ihnen die Achtung vor dem anderen, den Gerechtigkeitssinn, die
herzliche Aufnahme, den Dialog, den großzügigen Dienst, die Solidarität
und jeden anderen Wert aus, der helfen soll, das Leben als ein Geschenk zu
leben. Die Erziehungsarbeit der christlichen Eltern muß zum Dienst am
Glauben der Kinder und zu ihnen angebotener Hilfe werden, damit sie die
von Gott empfangene Berufung erfüllen können. Es gehört zum
Erziehungsauftrag der Eltern, die Kinder durch Zeugnis den wahren Sinn des
Leidens und Sterbens zu lehren: das wird ihnen gelingen, wenn sie jedes
Leiden in ihrer Umgebung beachten und wenn sie noch vorher für die
Entwicklung von Haltungen sorgen wie Nähe, Fürsorge, Anteilnahme gegenüber
Kranken und Alten im Familienkreis.
93. Des weiteren feiert die Familie das Evangelium vom Leben
durch das tägliche Gebet, das persönliche und das Gebet in der
Familie: mit ihm lobt sie den Herrn und dankt Ihm für die Gabe des Lebens
und fleht um Licht und Kraft, um mit schwierigen Situationen und Leiden
fertigzuwerden, ohne die Hoffnung zu verlieren. Aber die Feier, die jeder
anderen Gebets- und Kultform erst Sinn gibt, ist diejenige, die sich im
alltäglichen Dasein der Familie ausdrückt, wenn es denn ein Dasein
ist, das von Liebe und Sichverschenken bestimmt wird.
Die Feier wird so zu einem Dienst am Evangelium vom Leben, der
sich durch die innerhalb und außerhalb der Familie als zuvorkommende,
wachsame und herzliche Aufmerksamkeit in den kleinen und anspruchslosen
Handlungen des Alltags erlebte Solidarität ausdrückt. Einen
besonders bedeutsamen Ausdruck findet die Solidarität zwischen den
Familien in der Bereitschaft, von ihren Eltern verlassene oder in
schlimmen, elenden Verhältnissen lebende Kinder zu adoptieren oder
sich ihrer anzunehmen. Die wahre Elternliebe kann über die Bande
des Fleisches und Blutes hinausgehen und Kinder anderer Familien
aufnehmen, indem ihnen geboten wird, was für ihr Leben und ihre Entfaltung
nötig ist. Unter den Adoptionsmöglichkeiten verdient auch die Adoption
aus der Ferne Beachtung; ihr ist in den Fällen der Vorzug zu geben, in
denen die große Armut der Familie der einzige Grund dafür ist, daß ein
Kind im Stich gelassen wird. Durch diesen Adoptionstyp werden den Eltern
die nötigen Mittel bereitgestellt, damit sie ihre Kinder erhalten und
erziehen können, ohne sie ihrer natürlichen Umgebung entwurzeln zu müssen.
Die Solidarität, die als »feste und beständige Entschlossenheit, sich
für das Gemeinwohl einzusetzen« 121 verstanden wird, muß auch durch Formen
sozialer und politischer Beteiligung in die Tat umgesetzt werden.
Infolgedessen ist der Dienst am Evangelium vom Leben damit
verbunden, daß sich die Familien besonders durch aktive Mitgliedschaft in
eigenen Familienverbänden darum bemühen, daß die Gesetze und Einrichtungen
des Staates auf keinen Fall das Recht auf Leben von der Empfängnis bis zum
natürlichen Tod verletzen, sondern es schützen und fördern.
94. Ein Sonderplatz muß den alten Menschen eingeräumt werden.
Während in einigen Kulturen der Mensch vorgerückten Alters mit einer
wichtigen aktiven Rolle in die Familie eingebunden bleibt, wird hingegen
in anderen Kulturen der alte Mensch als eine unnütze Last empfunden und
sich selbst überlassen: in einem solchen Umfeld kann leichter die
Versuchung zum Rückgriff auf die Euthanasie auftauchen.
Die Abschiebung oder gar Ablehnung der alten Menschen ist unerträglich.
Ihre Anwesenheit in der Familie oder wenigstens die Nähe der Familie zu
ihnen, wenn es wegen beengter Wohnverhältnisse oder aus anderen Gründen
keine realen Alternativen zum Krankenhaus oder Altenheim geben sollte,
sind von grundlegender Bedeutung, um ein Klima gegenseitigen Austausches
und bereichernder Kommunikation zwischen den verschiedenen Altersgruppen
herzustellen. Es ist deshalb sehr wichtig, daß man eine Art »Vertrag«
zwischen den Generationen beibehält bzw. dort, wo er verloren gegangen
ist, wiederherstellt, so daß die alten Eltern, wenn sie am Ende ihres
Weges angekommen sind, bei den Kindern die Aufnahme und die Solidarität
finden können, die sie ihnen ihrerseits entgegengebracht haben, als diese
dem Leben entgegengingen: das fordert der Gehorsam gegen das göttliche
Gebot, Vater und Mutter zu ehren (vgl. Ex 20, 12; Lev 19,
3). Aber das ist nicht alles. Der alte Mensch ist nicht nur als Objekt der
Aufmerksamkeit, der Nähe und des Dienstes zu betrachten. Auch er hat einen
wertvollen Beitrag zum Evangelium vom Leben zu leisten. Dank des im
Laufe der Jahre erworbenen reichen Erfahrungsschatzes kann und muß er
einer sein, der Weisheit weitergibt sowie Zeugnis von Hoffnung und
Liebe ablegt.
Auch wenn es stimmt, daß »die Zukunft der Menschheit über die Familie
geht«, 122 muß man zugeben, daß die heutigen sozialen, wirtschaftlichen
und kulturellen Bedingungen die Aufgabe der Familie, dem Leben zu dienen,
oft erschweren und mühsam gestalten. Damit sie ihre Berufung als
»Heiligtum des Lebens«, als Zelle einer Gesellschaft, die das Leben liebt
und aufnimmt, verwirklichen kann, ist es dringend nötig, daß die
Familie selbst Hilfe und Unterstützung erfährt. Die Gesellschaften und
die Staaten müssen ihr alle jene, auch wirtschaftliche Hilfe
sicherstellen, die die Familien brauchen, damit sie ihren Problemen auf
humanere Weise nachkommen können. Die Kirche ihrerseits muß unermüdlich
eine Familienpastoral fördern, die jede Familie anzuspornen vermag, mit
Freude und Mut ihre Sendung gegenüber dem Evangelium vom Leben
wiederzuentdecken und zu leben.
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»Lebt als Kinder des Lichts!«
(Eph 5, 8): um eine kulturelle Wende herbeizuführen
95. »Lebt als Kinder des Lichts... Prüft, was dem Herrn gefällt, und
habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis« (Eph 5, 8.
10-11). Im heutigen gesellschaftlichen Kontext, der von einem dramatischen
Kampf zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes«
gekennzeichnet ist, muß man einen starken kritischen Geist zum Reifen
bringen, der die wahren Werte und die echten Erfordernisse zu erkennen
in der Lage ist.
Es bedarf dringend einer allgemeinen Mobilisierung der Gewissen
und einer gemeinsamen sittlichen Anstrengung, um eine große
Strategie zu Gunsten des Lebens in die Tat umzusetzen. Wir müssen
alle zusammen eine neue Kultur des Lebens aufbauen: neu, weil sie in
der Lage sein muß, die heute neu anstehenden Probleme in bezug auf das
Leben des Menschen aufzugreifen und zu lösen; neu, weil sie eben mit
stärkerer und tätiger Überzeugung von seiten aller Christen aufgebaut
werden muß; neu, weil sie in der Lage sein muß, zu einer ernsthaften und
mutigen kulturellen Gegenüberstellung mit allen anzuregen. Die
Dringlichkeit dieser kulturellen Wende hängt mit der historischen
Situation zusammen, in der wir uns befinden, aber sie wurzelt vor allem im
Evangelisierungsauftrag, der wesenhaft zur Kirche gehört. Denn das
Evangelium hat zum Ziel, »die Menschheit von innen her umzuwandeln, sie zu
erneuern«; 123 es ist wie die Hefe, die den ganzen Teig durchsäuert (vgl.
Mt 13, 33), und als solches dazu bestimmt, alle Kulturen zu durchdringen
und sie von innen her zu beleben, 124 damit sie die ganze Wahrheit über
den Menschen und über sein Leben zum Ausdruck bringen.
Beginnen muß man bei der Erneuerung der Kultur des Lebens innerhalb
der christlichen Gemeinden selbst. Allzu oft verfallen die Gläubigen,
sogar jene, die aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen, auf eine Art
Trennung zwischen dem christlichen Glauben und seinen sittlichen
Forderungen in bezug auf das Leben, was schließlich zum moralischen
Subjektivismus und zu manchen unannehmbaren Verhaltensweisen führt. Wir
müssen uns also mit großer Klarheit und mutig fragen, welche Kultur des
Lebens heutzutage unter den einzelnen Christen, in den Familien, den
Gruppen und den Gemeinden unserer Diözesen verbreitet ist. Mit derselben
Klarheit und Entschiedenheit müssen wir feststellen, welche Schritte wir
vorzunehmen aufgerufen sind, um dem Leben der Fülle seiner Wahrheit
entsprechend zu dienen. Zugleich müssen wir mit allen, auch mit den
Nichtglaubenden, an den Stätten des Denkens und geistigen Schaffens ebenso
wie in den verschiedenen Berufsbereichen und dort, wo sich täglich das
Leben eines jeden abspielt, eine ernsthafte und gründliche
Auseinandersetzung über die Grundprobleme des menschlichen Lebens
anstellen.
96. Der erste und grundlegende Schritt für die Verwirklichung dieser
kulturellen Wende besteht in der Bildung des sittlichen Gewissens
hinsichtlich des unermeßlichen und unverletzlichen Wertes jedes
Menschenlebens. Von größter Bedeutung ist die Wiederentdeckung des
untrennbaren Zusammenhanges zwischen Leben und Freiheit. Das sind
voneinander untrennbare Güter: wo das eine verletzt wird, wird zum Schluß
auch das andere verletzt. Es gibt keine wahre Freiheit, wo das Leben nicht
aufgenommen und geliebt wird; und Leben im Vollsinn gibt es nur in der
Freiheit. Diese beiden Wirklichkeiten haben außerdem eine angestammte
Sonderbeziehung, die sie unlösbar verbindet: die Berufung zur Liebe. Diese
Liebe als aufrichtige Selbsthingabe 125 ist der eigentlichste Sinn des
Lebens und der Freiheit der Person.
Nicht minder entscheidend bei der Gewissensbildung ist die
Wiederentdeckung des Zusammenhanges, der zwischen Freiheit und Wahrheit
besteht. Wie ich wiederholt hervorgehoben habe, macht es die
Entwurzelung der Freiheit von der objektiven Wahrheit unmöglich, die
Rechte der Person auf einer festen rationalen Basis zu begründen, und
schafft die Vorbedingungen dafür, daß sich in der Gesellschaft die
unlenkbare Willkür einzelner oder der beschämende Totalitarismus der
staatlichen Macht durchsetzen. 126
Es kommt also wesentlich darauf an, daß der Mensch die urgegebene
Augenfälligkeit seines Zustandes als Geschöpf anerkennt, das von Gott das
Sein und das Leben als Gabe und Aufgabe empfängt: nur wenn er diese seine
angeborene Abhängigkeit im Sein annimmt, kann der Mensch voll sein Leben
und seine Freiheit verwirklichen und zugleich zutiefst das Leben und die
Freiheit jedes anderen Menschen achten. Hier vor allem erweist sich, daß
»im Mittelpunkt jeder Kultur die Haltung steht, die der Mensch dem größten
Geheimnis gegenüber einnimmt: dem Geheimnis Gottes«. 127 Wenn Gott
geleugnet wird und man lebt, als ob Er nicht existierte oder wenn man sich
nicht an seine Gebote hält, wird man am Ende auch leicht die Würde der
menschlichen Person und die Unantastbarkeit ihres Lebens leugnen oder
kompromittieren.
97. In engem Zusammenhang mit der Gewissensbildung steht dieErziehungsarbeit,
die dem Menschen hilft, immer mehr Mensch zu sein, die ihn immer
tiefer in die Wahrheit einführt, ihn zu einer wachsenden Achtung vor dem
Leben anleitet und ihn für die rechten zwischenmenschlichen Beziehungen
heranbildet.
Besonders notwendig ist es, zum Wert des Lebens von seinen
Ursprüngen an zu erziehen. Es ist eine Illusion zu meinen, man könne
eine echte Kultur des menschlichen Lebens aufbauen, wenn man den jungen
Menschen nicht hilft, die Sexualität, die Liebe und das ganze Sein in
ihrer wahren Bedeutung und in ihrer tiefen Wechselbeziehung zu begreifen
und zu leben. Die Geschlechtlichkeit, ein Reichtum der ganzen Person,
»zeigt ihre tiefste Bedeutung darin, daß sie die Person zur Hingabe ihrer
selbst in der Liebe führt«. 128 Die Banalisierung der Sexualität gehört zu
den hauptsächlichen Faktoren, in denen die Verachtung des werdenden Lebens
ihren Ursprung hat: nur eine echte Liebe vermag das Leben zu hüten. Man
kann also nicht umhin, vor allem den Heranwachsenden und Jugendlichen die
authentische Erziehung zur Sexualität und zur Liebe anzubieten,
eine Erziehung, die dieErziehung zur Keuschheit als Tugend
beinhaltet, die die Reife der Person fördert und sie befähigt, die »bräutliche«
Bedeutung des Körpers zu achten.
Das Werk der Erziehung zum Leben schließt die Formung der Eheleute
im Hinblick auf die verantwortliche Zeugung der Nachkommenschaft ein.
Diese erfordert in ihrer wahren Bedeutung, daß sich die Ehegatten dem Ruf
des Herrn fügen und als treue Interpreten seines Planes handeln: das ist
der Fall, wenn die Familie sich großherzig neuem Leben öffnet und auch
dann in einer Haltung der Offenheit für das Leben und des Dienstes an ihm
bleibt, wenn die Ehepartner aus ernstzunehmenden Gründen und unter Achtung
des Moralgesetzes entscheiden, vorläufig oder für unbestimmte Zeit eine
neue Geburt zu vermeiden. Das Moralgesetz verpflichtet sie in jedem Fall,
die Neigungen des Instinkts und der Leidenschaften zu beherrschen und die
ihrer Person eingeschriebenen biologischen Gesetze zu beachten. Im Dienst
der Verantwortlichkeit bei der Zeugung erlaubt gerade diese Beachtung die
Anwendung der natürlichen Methoden der Fruchtbarkeitsregelung: sie
werden vom wissenschaftlichen Standpunkt her immer besser erklärt und
bieten konkrete Möglichkeiten für Entscheidungen an, die mit den
sittlichen Werten im Einklang stehen. Eine gewissenhafte Betrachtung der
erzielten Ergebnisse müßte noch zu sehr verbreitete Vorurteile fallen
lassen und die Gatten sowie das im Gesundheits- und im Sozialdienst tätige
Personal von der Wichtigkeit einer diesbezüglich angemessenen Aufklärung
überzeugen. Die Kirche ist denjenigen dankbar, die sich unter persönlichen
Opfern und mit oft verkannter Hingabe für die Erforschung und Verbreitung
solcher Methoden einsetzen und gleichzeitig eine Erziehung zu den
sittlichen Werten fördern, die deren Anwendung voraussetzt.
Die Erziehungsarbeit muß auch das Leiden und den Tod in Betracht
ziehen. Tatsächlich gehören sie ja zur menschlichen Erfahrung, und es
ist vergeblich und darüber hinaus abwegig zu versuchen, sie einer Zensur
zu unterwerfen oder zu verdrängen. Hingegen soll jedem geholfen werden,
ihr tiefes Geheimnis in der konkreten und harten Wirklichkeit zu erfassen.
Auch der Schmerz und das Leiden haben einen Sinn und einen Wert, wenn sie
in enger Verbindung mit der empfangenen und verschenkten Liebe gelebt
werden. In dieser Perspektive wollte ich, daß man jedes Jahr den
Welttag der Kranken begehe, wobei ich »den Heilswert der Aufopferung
des Leidens« betonte, »das, in Vereinigung mit Christus ertragen, zum
eigentlichen Wesen der Erlösung gehört«. 129 Im übrigen ist sogar der Tod
alles andere als ein Abenteuer ohne Hoffnung: er ist das Tor des Lebens,
das sich zur Ewigkeit hin auftut, und für alle, die ihn bewußt in Christus
leben, ist er Erfahrung der Teilhabe am Geheimnis von Tod und
Auferstehung.
98. Zusammenfassend können wir sagen, daß die hier herbeigewünschte
kulturelle Wende von allen den Mut verlangt, einen neuen Lebensstil zu
entfalten, der sich darin ausdrückt, daß den konkreten Entscheidungen
— auf persönlicher, familiärer, gesellschaftlicher und internationaler
Ebene — die rechte Werteskala zugrunde gelegt wird: der Vorrang des
Seins vor dem Haben, 130 der Person vor den Dingen. 131 Dieser
erneuerte Lebensstil schließt auch ein, daß wir uns ändern von der
Gleichgültigkeit zur Anteilnahme für den anderen und von der
Ablehnung zu seiner Aufnahme: die anderen sind nicht Konkurrenten, vor
denen wir uns verteidigen müssen, sondern Brüder und Schwestern, mit denen
wir solidarisch sein sollen; sie müssen um ihrer selbst willen geliebt
werden; sie bereichern uns durch ihre Gegenwart.
Bei der Mobilisierung für eine neue Kultur des Lebens darf sich niemand
ausgeschlossen fühlen: alle haben eine wichtige Rolle zu erfüllen.
Neben der Aufgabe der Familien ist jene der Lehrer und der
Erzieher besonders wertvoll. Es wird sehr von ihnen abhängen, ob die
auf eine echte Freiheit vorbereiteten jungen Leute imstande sein werden,
echte Ideale vom Leben in sich zu bewahren und um sich herum zu verbreiten
und in der Achtung vor jedem und im Dienst an jedem Menschen in Familie
und Gesellschaft zu wachsen.
Auch die Intellektuellen können viel für den Aufbau einer neuen
Kultur des menschlichen Lebens tun. Eine besondere Aufgabe obliegt den
katholischen Intellektuellen, die aufgerufen sind, aktiv präsent zu
sein an den bevorzugten Stätten des kulturellen Schaffens, in der Welt der
Schule und der Universität, in den Kreisen der wissenschaftlichen und
technischen Forschung, an den Orten des künstlerischen Schaffens und der
humanistischen Reflexion. Sie sollen ihren Geist und ihr Handeln aus den
klaren lebenspendenden Säften des Evangeliums nähren und sich engagieren
im Dienst einer neuen Kultur des Lebens, durch die Erstellung ernsthafter,
gut dokumentierter Beiträge, die wegen ihres Wertes das Ansehen und das
Interesse aller auf sich zu ziehen vermögen. Gerade aus dieser Sicht habe
ich die Päpstliche Akademie für das Leben mit der Aufgabe
eingerichtet, »zu studieren, zu informieren und zu bilden über die
Hauptprobleme der Biomedizin und des Rechts, die im Zusammenhang mit der
Förderung und der Verteidigung des Lebens stehen, vor allem in der
direkten Beziehung, die sie mit der christlichen Moral und den Anweisungen
des Lehramtes der Kirche haben«. 132 Ein Beitrag spezifischer Art wird
auch von den Universitäten, im besonderen von den katholischen,
und von den Zentren, Instituten und Komitees für Bioethik
kommen müssen.
Groß und schwer ist die Verantwortung der in den Massenmedien
Tätigen, die aufgerufen sind, sich dafür einzusetzen, daß die mit so
großer Wirksamkeit weitergegebenen Botschaften zur Kultur des Lebens
beitragen mögen. Sie müssen also erhabene und vornehme Lebensbeispiele
präsentieren und den positiven und mitunter heroischen Zeugnissen von der
Liebe zum Menschen Raum verschaffen; mit großem Respekt die Werte der
Sexualität und der Liebe vorstellen, ohne sich über das zu verbreiten, was
die Würde des Menschen entstellt und herabsetzt. Beim Lesen der
Wirklichkeit müssen sie sich weigern etwas herauszustellen, was Gefühle
oder Haltungen der Gleichgültigkeit, Verachtung oder Ablehnung gegenüber
dem Leben wecken oder wachsen lassen kann. In gewissenhafter Treue zur
Wahrheit der Tatsachen sind sie aufgerufen, die Freiheit der Information,
die Achtung vor jeder Person und einen tiefen Sinn für Humanität
miteinander zu verbinden.
99. Bei der kulturellen Wende zu Gunsten des Lebens haben die Frauen
einen einzigartigen und vielleicht entscheidenden Denk– und
Handlungsspielraum: sie sind es, die einen »neuen Feminismus« fördern
müssen, der, ohne in die Versuchung zu verfallen, »Männlichkeits«-Vorbildern
nachzujagen, durch den Einsatz zur Überwindung jeder Form von
Diskriminierung, Gewalt und Ausbeutung den echten weiblichen Geist in
allen Ausdrucksformen des bürgerlichen Zusammenlebens zu erkennen und zu
bekunden versteht.
Indem ich die Worte der Schlußbotschaft des II. Vatikanischen Konzils
aufgreife, richte auch ich an die Frauen die dringende Aufforderung:
Versöhnt die Menschen mit dem Leben!«. 133 Ihr seid berufen, den
Sinn der echten Liebe zu bezeugen, jener Selbsthingabe und jener
Aufnahme des anderen, die sich zwar auf besondere Weise in der ehelichen
Beziehung verwirklichen, die aber die Seele jeder anderen
zwischenmenschlichen Beziehung sein sollen. Die Erfahrung der Mutterschaft
begünstigt in euch eine scharfe Sensibilität für den anderen Menschen und
überträgt euch zugleich eine besondere Aufgabe: »Die Mutterschaft enthält
eine besondere Gemeinschaft mit dem Geheimnis des Lebens, das im Schoß der
Frau heranreift... Diese einmalige Weise des Kontaktes mit dem neuen
Menschen, der Gestalt annimmt, schafft seinerseits eine derartige
Einstellung zum Menschen — nicht nur zum eigenen Kind, sondern zum
Menschen als solchem —, dab dadurch die ganze Persönlichkeit der Frau tief
geprägt wird«. 134 Denn die Mutter nimmt einen anderen Menschen auf und
trägt ihn in sich, gibt ihm die Möglichkeit, in ihr heranzuwachsen, macht
ihm Platz und achtet ihn zugleich in seinem Anderssein. So nimmt die Frau
wahr und lehrt, daß die menschlichen Beziehungen glaubwürdig sind, wenn
sie sich der Aufnahme des anderen Menschen öffnen, der um der Würde willen
anerkannt und geliebt wird, die ihm aus der Tatsache seines Personseins
und nicht aus anderen Faktoren, wie Nützlichkeit, Kraft, Intelligenz,
Schönheit, Gesundheit, zukommt. Das ist der fundamentale Beitrag, den sich
die Kirche und die Menschheit von den Frauen erwarten. Und es ist die
unersetzliche Voraussetzung für eine echte kulturelle Wende.
Einen besonderen Gedanken möchte ich euch, den Frauen,
vorbehalten, die sich für eine Abtreibung entschieden haben. Die
Kirche weiß, wie viele Bedingtheiten auf eure Entscheidung Einfluß
genommen haben können, und sie bezweifelt nicht, daß es sich in vielen
Fällen um eine leidvolle, vielleicht dramatische Entscheidung gehandelt
hat. Die Wunde in eurem Herzen ist wahrscheinlich noch nicht vernarbt. Was
geschehen ist, war und bleibt in der Tat zutiefst unrecht. Laßt euch
jedoch nicht von Mutlosigkeit ergreifen und gebt die Hoffnung nicht auf.
Sucht vielmehr das Geschehene zu verstehen und interpretiert es in seiner
Wahrheit. Falls ihr es noch nicht getan habt, öffnet euch voll Demut und
Vertrauen der Reue: der Vater allen Erbarmens wartet auf euch, um euch im
Sakrament der Versöhnung seine Vergebung und seinen Frieden anzubieten.
Euer Kind aber könnt ihr diesem Vater und seiner Barmherzigkeit mit
Hoffnung anvertrauen. Mit Hilfe des Rates und der Nähe befreundeter und
zuständiger Menschen werdet ihr mit eurem erlittenen Zeugnis unter den
beredtesten Verfechterinnen des Rechtes aller auf Leben sein können. Durch
euren Einsatz für das Leben, der eventuell von der Geburt neuer Geschöpfe
gekrönt und mit der Aufnahme und Aufmerksamkeit gegenüber dem ausgeübt
wird, der der Nähe am meisten bedarf, werdet ihr eine neue
Betrachtungsweise des menschlichen Lebens schaffen.
100. Bei dieser großen Anstrengung für eine neue Kultur des Lebens
werden wir von dem Vertrauen derer unterstützt und angeregt,
die wissen, daß das Evangelium vom Leben wie das Reich Gottes
wächst und seine reichen Früchte bringt (vgl. Mk 4, 26-29).
Sicherlich besteht ein enormes Mißverhältnis zwischen den zahllosen und
mächtigen Mitteln, mit denen die Kräfte ausgestattet sind, die zur
Unterstützung der »Kultur des Todes« am Werk sind, und jenen, über die die
Förderer einer »Kultur des Lebens und der Liebe« verfügen. Doch wissen
wir, daß wir auf die Hilfe Gottes vertrauen dürfen, für den nichts
unmöglich ist (vgl. Mt 19, 26).
Mit dieser Gewißheit im Herzen und bewegt von der betrübten Sorge um
das Schicksal jedes Mannes und jeder Frau, wiederhole ich heute für alle,
was ich den Familien gesagt habe, die sich unter den sie bedrohenden
Gefahren in ihren schwierigen Aufgaben engagieren: 135 es bedarf
dringend eines großangelegten Gebetes für das Leben, das die ganze
Welt durchdringen soll. Mit außerordentlichen Initiativen und im gewohnten
Gebet möge von jeder christlichen Gemeinde, von jeder Gruppe oder
Vereinigung, von jeder Familie und vom Herzen jedes Gläubigen ein
leidenschaftliches, inständiges Bittgebet zu Gott, dem Schöpfer und Freund
des Lebens, emporsteigen. Jesus selber hat uns durch sein Beispiel
gezeigt, daß Gebet und Fasten die hauptsächlichen und wirksamsten Waffen
gegen die Kräfte des Bösen sind (vgl. Mt 4, 1-11), und hat seine
Jünger gelehrt, daß manche Dämonen sich nur auf diese Weise austreiben
lassen (vgl. Mk 9, 29). Finden wir also wieder die Demut und den
Mut zum Beten und Fasten, um zu erreichen, daß die Kraft, die vom
Himmel kommt, die Mauern aus Betrug und Lüge zum Einsturz bringt, die die
perverse Natur lebensfeindlicher Verhaltensweisen und Gesetze vor den
Blicken vieler unserer Brüder und Schwestern verbergen, und ihre Herzen
für die Vorschläge und Absichten öffnet, die sich an der Zivilisation des
Lebens und der Liebe inspirieren.
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»Wir schreiben dies, damit
unsere Freude vollkommen ist« (1 Joh 1, 4): das Evangelium
vom Leben ist für die Gesellschaft der Menschen
101. »Wir schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist« (1 Joh
1, 4). Die Offenbarung des Evangeliums vom Leben ist uns als
Gut gegeben, das allen mitgeteilt werden soll: damit alle Menschen mit uns
und mit der Dreifaltigkeit Gemeinschaft haben (vgl. 1 Joh 1, 3).
Unsere Freude könnte gar nicht vollkommen sein, wenn wir dieses Evangelium
den anderen nicht mitteilten, sondern es nur für uns behielten.
Das Evangelium vom Leben ist nicht ausschließlich für die
Gläubigen da: es ist für alle da. Die Frage des Lebens und seiner
Verteidigung und Förderung ist nicht alleiniges Vorrecht der Christen.
Auch wenn es vom Glauben außerordentliches Licht und Kraft empfängt,
gehört es jedem menschlichen Gewissen, das sich nach der Wahrheit sehnt
und um das Schicksal der Menschheit bedacht und besorgt ist. Es gibt im
Leben sicherlich einen heiligen und religiösen Wert, aber er betrifft
keineswegs nur die Gläubigen: es geht in der Tat um einen Wert, den jeder
Mensch auch im Lichte der Vernunft erfassen kann und der deshalb
notwendigerweise alle betrifft.
Unser Handeln als »Volk des Lebens und für das Leben« verlangt daher,
richtig ausgelegt und mit Sympathie aufgenommen zu werden. Wenn die Kirche
die unbedingte Achtung vor dem Recht auf Leben jedes unschuldigen Menschen
— von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod — zu einer der Säulen
erklärt, auf die sich jede bürgerliche Gesellschaft stützt, »will sie
lediglich einen humanen Staat fördern. Einen Staat, der die
Verteidigung der Grundrechte der menschlichen Person, besonders der
schwächsten, als ihre vorrangige Pflicht anerkennt«. 136
Das Evangelium vom Leben ist für die Gesellschaft der Menschen da.
Für das Leben eintreten heißt zur Erneuerung der Gesellschaft
durch den Aufbau des Gemeinwohls beitragen. Denn ohne Anerkennung und
Schutz des Rechtes auf Leben, auf dem alle anderen unveräußerlichen Rechte
des Menschen beruhen und sich entwickeln, läßt sich das Gemeinwohl
unmöglich aufbauen. Noch kann eine Gesellschaft gesicherte Grundlagen
haben, die — während sie Werte wie Würde der Person, Gerechtigkeit und
Frieden geltend macht — sich von Grund auf widerspricht, wenn sie die
verschiedensten Formen von Mißachtung und Verletzung des menschlichen
Lebens akzeptiert oder duldet, vor allem, wenn es sich um schwaches oder
ausgegrenztes Leben handelt. Nur die Achtung vor dem Leben kann die
wertvollsten und notwendigsten Güter der Gesellschaft, wie die Demokratie
und den Frieden, stützen und garantieren.
Es kann in der Tat keine echte Demokratie geben, wenn nicht die
Würde jeder Person anerkannt wird und seine Rechte nicht respektiert
werden.
Und es kann auch keinen wahren Frieden geben, wenn man nicht
das Leben verteidigt und fördert. Daran erinnerte Paul VI.: »Jedes
Vergehen gegen das Leben ist ein Attentat auf den Frieden, besonders wenn
dabei die Sitten des Volkes verletzt werden 1. Wo aber die Menschenrechte
wirklich ernst genommen und öffentlich anerkannt und verteidigt werden,
dort kann der Friede zu einer Atmosphäre werden, in der sich das soziale
Zusammenleben glücklich und wirkungsvoll entwickelt«. 137
Das »Volk des Lebens« freut sich, seinen Einsatz mit vielen anderen
teilen zu können, so daß das »Volk für das Leben« immer zahlreicher wird
und die neue Kultur der Liebe und Solidarität wachsen kann zum wahren Wohl
der Gesellschaft der Menschen.
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SCHLUSS
102. Am Ende dieser Enzyklika kehrt der Blick unwillkürlich zum Herrn
Jesus zurück, »der uns als Kind geboren worden ist« (vgl. Jes 9,
5), um in ihm »das Leben« zu betrachten, »das offenbart wurde« (1 Joh
1, 2). Im Geheimnis dieser Geburt vollzieht sich die Begegnung Gottes
mit dem Menschen und beginnt der Weg des Gottessohnes auf Erden, ein Weg,
der im Verschenken seines Lebens am Kreuz seinen Höhepunkt erreichen wird:
mit seinem Tod wir Er den Tod besiegen und für die ganze Menschheit zum
Prinzip neuen Lebens werden.
Maria, die Jungfrau und Mutter, war es, die »das Leben« im Namen aller
und zum Heil aller empfing. Sie steht also in engster persönlicher
Beziehung zum Evangelium vom Leben. Die Zustimmung Mariens bei der
Verkündigung und ihre Mutterschaft stehen am Ursprung des Geheimnisses des
Lebens, das den Menschen zu schenken Christus gekommen ist (vgl. Joh
10, 10). Durch ihre Aufnahme und ihre bereitwillige Fürsorge um das
Leben des fleischgewordenen Wortes ist das Leben des Menschen der
Verdammnis des endgültigen und ewigen Todes entzogen worden.
Darum ist Maria »Mutter aller, die zum Leben wiedergeboren werden,
genauso wie die Kirche, deren Vorbild sie ist. Sie ist Mutter jenes
Lebens, von dem alle leben. Dadurch, daß sie das Leben gebar, hat sie jene
zu neuem Leben erweckt, die von diesem Leben leben sollten«. 138
Bei der Betrachtung der Mutterschaft Mariens entdeckt die Kirche den
Sinn ihrer eigenen Mutterschaft und die Art, wie sie diese zum Ausdruck zu
bringen berufen ist. Gleichzeitig enthüllt die Muttererfahrung der Kirche
die tiefgründigste Sicht, um die Erfahrung Mariens als
unvergleichliches Vorbild für die Aufnahme und Pflege des Lebens zu
begreifen.
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»Es erschien ein großes
Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet« (Offb
12, 1): die Mutterschaft Mariens und der Kirche
103. Die gegenseitige Beziehung zwischen dem Geheimnis der Kirche und
Maria drückt sich deutlich im »großen Zeichen« aus, wie es in der
Offenbarung beschrieben ist: »Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel:
eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füs- sen und
ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt« (12, 1). In diesem Zeichen
erkennt die Kirche ein Bild ihres Geheimnisses: auch wenn sie in die
Geschichte eingetaucht ist, ist sie sich zugleich bewußt, daß sie diese
übersteigt, insofern sie auf Erden den »Keim und Anfang« des Reiches
Gottes darstellt. 139 Dieses Geheimnis sieht die Kirche voll und
beispielhaft in Maria verwirklicht. Sie ist die glorreiche Frau, in der
der Plan Gottes mit größter Vollkommenheit ausgeführt werden konnte.
Die »mit der Sonne bekleidete Frau« — berichtet das Buch der
Offenbarung — »war schwanger« (12, 2). Die Kirche ist sich voll dessen
bewußt, daß sie den Retter der Welt, den Herrn Christus, in sich trägt und
berufen ist, ihn der Welt zu schenken, indem sie die Menschen wieder zum
Leben Gottes selbst erweckt. Sie kann jedoch nicht vergessen, daß diese
ihre Sendung nur durch die Mutterschaft Mariens möglich geworden ist, die
den empfangen und zur Welt gebracht hat, der »Gott von Gott«, »wahrer Gott
vom wahren Gott« ist. Maria ist wahrhaft Gottesmutter, die Theotokos,
in deren Mutterschaft die von Gott jeder Frau eingeschriebene Berufung zur
Mutterschaft auf die höchste Stufe erhoben wurde. So wird Maria zum
Vorbild für die Kirche, dazu berufen, die »neue Eva«, Mutter der
Glaubenden, Mutter der »Lebenden« zu sein (vgl. Gen 3, 20).
Die geistige Mutterschaft der Kirche — auch dessen ist sich die Kirche
bewußt — verwirklicht sich nur inmitten der Schmerzen und »Geburtswehen« (Offb
12, 2), d.h. in der ewigen Auseinandersetzung mit den Kräften des
Bösen, die die Welt auch weiterhin überziehen und im Widerstand gegen
Christus das Herz der Menschen markieren: »In ihm war das Leben, und das
Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der
Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt« (Joh 1, 4-5).
Wie die Kirche, so mußte auch Maria ihre Mutterschaft im Zeichen des
Leidens leben: »Dieser... wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.
Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst
aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (Lk 2, 34-35). In
den Worten, die am Beginn des Erdendaseins des Erlösers Simeon an Maria
richtet, ist jene Ablehnung gegenüber Jesus und mit Ihm gegenüber Maria
bildlich zusammengefaßt, die auf dem Kalvarienberg ihren Höhepunkt
erreichen wird. »Bei dem Kreuz Jesu« (Joh 19, 25) hat Maria teil an
dem Sichverschenken ihres Sohnes: sie bietet Jesus dar, sie schenkt ihn,
sie bringt ihn endgültig für uns zur Welt. Das »Ja« vom Tag der
Verkündigung gelangt am Tag des Kreuzes zur vollen Reife, als für Maria
die Zeit kommt, jeden Menschen, der zum Jünger geworden ist, als Sohn
aufzunehmen und zur Welt zu bringen, indem sie die erlösende Liebe des
Sohnes über ihn ausgießt: »Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den
Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: 'Frau, siehe, dein
Sohn!?« (Joh 19, 26).
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»Der Drache stand vor der
Frau...; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war« (Offb
12, 4): das von den Mächten des Bösen bedrohte Leben
104. Im Buch der Offenbarung wird das »große Zeichen« der »Frau« (12,
1) von »einem anderen Zeichen am Himmel« begleitet: »einem Drachen, groß
und feuerrot« (12, 3), der Satan verkörpert, die verderbenbringende Macht
in Person, und zugleich alle Kräfte des Bösen, die in der Geschichte am
Werk sind und sich der Sendung der Kirche widersetzen.
Auch darin erleuchtet Maria die Gemeinschaft der Glaubenden: die
Feindseligkeit der Kräfte des Bösen ist tatsächlich ein heimlicher
Widerstand, der sich, ehe er die Jünger Jesu trifft, gegen seine Mutter
richtet. Um das Leben des Sohnes vor denen zu retten, die ihn als eine
gefährliche Bedrohung fürchten, muß Maria mit Josef und dem Kind nach
Ägypten fliehen (vgl. Mt 2, 13-15).
Maria hilft so der Kirche, sich bewußt zu werden, daß das Leben
immer im Mittelpunkt eines großen Kampfes zwischen Gut und Böse,
zwischen Licht und Finsternis steht. Das Kind, das, »sobald es
geboren war« (Offb 12, 4), will der Drache verschlingen; es ist die
Gestalt Christi, den Maria, »als die Zeit erfüllt war« (Gal 4, 4),
zur Welt bringt und den die Kirche beständig den Menschen der
verschiedenen Epochen der Geschichte anbieten muß. Aber es ist in gewisser
Weise auch die Gestalt jedes Menschen, jedes Kindes, besonders jedes
schwachen und bedrohten Geschöpfes, denn — wie uns das Konzil erinnert —
»der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem
Menschen vereinigt«. 140 Gerade im »Fleisch« jedes Menschen offenbart sich
Christus weiter und tritt in Gemeinschaft mit uns, so daß die Ablehnung
des Lebens des Menschen in ihren verschiedenen Formen tatsächlich
eine Ablehnung Christi ist. Das ist die faszinierende und zugleich
anspruchsvolle Wahrheit, die uns Christus offenbart und die seine Kirche
unermüdlich vorstellt: »Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der
nimmt mich auf« (Mt 18, 5); »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen
meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt
25, 40).
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»Der Tod wird nicht mehr sein«
(Offb 21, 4): die Herrlichkeit der Auferstehung
105. Die Verkündigung des Engels an Maria ist in die beruhigenden Worte
eingeschlossen: »Fürchte dich nicht, Maria« und »Für Gott ist nichts
unmöglich« (Lk 1, 30.37). In Wahrheit ist die ganze Existenz der
Jungfrau und Mutter eingehüllt von der Gewißheit, daß Gott ihr nahe ist
und sie begleitet mit seinem sorgenden Wohlwollen. Das gilt auch für die
Kirche, die »einen Zufluchtsort« (Offb 12, 6) in der Wüste findet,
dem Ort der Prüfung, aber auch der Offenbarung der Liebe Gottes zu seinem
Volk (vgl. Hos 2, 16). Maria ist das lebendige Wort des Trostes für
die Kirche in ihrem Kampf gegen den Tod. Indem sie uns auf den Sohn
verweist, versichert sie uns, daß in Ihm die Kräfte des Todes bereits
besiegt sind: »Tod und Leben, die kämpften unbegreiflichen Zweikampf; des
Lebens Fürst, der starb, herrscht nun lebend«. 141
Das geschlachtete Lamm lebt mit den Zeichen der Passion in der
Herrlichkeit der Auferstehung. Es allein beherrscht das ganze Geschehen
der Geschichte: es öffnet deren »Siegel« (vgl. Offb 5, 1-10) und
macht in der Zeit und über sie hinaus die Macht des Lebens über den Tod
geltend. Im »neuen Jerusalem«, d.h. in der neuen Welt, auf die die
Geschichte der Menschen gerichtet ist, wird »der Tod nicht mehr sein,
keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist
vergangen« (Offb 21, 4).
Und während wir als pilgerndes Volk, als Volk des Lebens und für das
Leben, vertrauensvoll auf »einen neuen Himmel und eine neue Erde« (Offb
21, 1) zugehen, wenden wir den Blick auf sie, die für uns »Zeichen der
sicheren Hoffnung und des Trostes« 142 ist.
O Maria,
Morgenröte der neuen Welt,
Mutter der Lebendigen,
Dir vertrauen wir die Sache des Lebens an:
o Mutter, blicke auf die grenzenlose Zahl
von Kindern, denen verwehrt wird,
geboren zu werden,
von Armen, die es schwer haben zu leben,
von Männern und Frauen,
die Opfer unmenschlicher Gewalt wurden,
von Alten und Kranken,
die aus Gleichgültigkeit
oder angeblichem Mitleid getötet wurden.
Bewirke, daß alle,
die an deinen Sohn glauben,
den Menschen unserer Zeit
mit Freimut und Liebe
das Evangelium vom Leben verkünden können.
Vermittle ihnen die Gnade, es anzunehmen
als je neues Geschenk
die Freude, es über ihr ganzes Dasein hinweg
in Dankbarkeit zu feiern,
und den Mut, es mit mühseliger Ausdauer
zu bezeugen,
um zusammen mit allen Menschen
guten Willens
die Zivilisation der Wahrheit und der Liebe
zu errichten,
zum Lob und zur Herrlichkeit Gottes,
des Schöpfers und Freundes des Lebens.
Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 25. März 1995, dem Hochfest der
Verkündigung des Herrn, im siebzehnten Jahr meines Pontifikats.
IOANNES PAULUS PP. II
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