Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band III:
Erstes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)
161. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst Vater und Mutter ehren".
S. 9
162. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst nicht Unkeuschheit
treiben". S. 19
163. Die Verschleierte beim 'Trügerischen Gewässer'. S. 27
164. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst die Feiertage heiligen". S.
32
165. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst nicht töten"- Tod des
Doras. S. 37
166. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': Die drei Jünger des Täufers. S. 45
167. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Frau". S. 51
168. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': Er heilt den besessenen Römer; Er
spricht zu den Römern. S. 56
169. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst kein falsches Zeugnis
ablegen". S. 63
170. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Gut". S. 69
171. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': Abschluss der Erklärungen zum 'De
profundis' und 'Miserere'. S. 73
172. Jesus verlässt das 'Trügerische Gewässer' und geht nach Bethanien. S. 80
173. Die Heilung der krebskranken Jerusa von Doko. S. 89
174. In Bethanien: Im Haus des Simon des Zeloten. S. 94
175. Das Lichterfest im Hause des Lazarus in Anwesenheit der Hirte. S. 102
176. Rückkehr zum 'Trügerischen Gewässer'. S. 116
177. Ein neuer Jünger; Aufbruch nach Galiläa. S. 122
178. Auf den Bergen bei Emmaus. S. 126
179. Im Hause des Synagogenvorstehers Kleophas. S. 131
Band III: Zweites Jahr des öffentlichen Lebens Jesu
180. Unterweisung der Jünger auf dem Weg nach Arimathäa. S. 141
181. Auf dem Weg nach Samaria; Unterweisung der Apostel. S. 144
182. Die Samariterin Fotinai. S. 146
183. Bei den Bewohners von Sichar. S. 152
184. Verkündigung der Heilsbotschaft in Sichar. S. 155
185. Der Abschied von den Bewohnern Sichars. S. 158
186. Unterweisung der Apostel; Wunder an der Frau von Sichar. S. 161
187. Jesus besucht den Täufer bei Ennon. S. 165
188. Jesus unterweist die Apostel. S. 168
189. Jesus in Nazareth;"Sohn, ich werde mit dir kommen". S. 172
190. In Kana im Haus der Susanna; Der königliche Beamte. S. 174
191. Im Haus des Zebedäus; Salome angenommen als Jüngerin. S. 176
192. Jesus spricht zu den Seinen vom Apostolat der Frau. S. 178
193. Jesus in Caesarea am Meer. Er spricht zu den Galeerensklaven. S. 180
194. Heilung der kleinen Römerin in Caesarea. S. 186
195. Annalia legt das Gelübte der Jungfräulichkeit ab. S. 193
196. Die Unterweisungen der Jüngerinnen in Nazareth. S. 198
197. Jesus spricht auf dem See mit Johanna des Chuza. S. 205
198. Jesus in Gergesa; Die Jünger des Johannes. S. 209
199. Von Nephtalis nach Gischala; Begegnung mit dem Rabbi Gamaliel. S. 213
200. Die Heilung des Enkels des Pharisäer in Kapharnaum. S. 219
201. Jesus im Hause von Kapharnaum nach dem Wunder an Elisäus. S. 223
202. Das Mahl im Hause des Pharisäers Eli in Kapharnaum. S. 228
203. Unterwegs in die Einsamkeit der Berge vor der Erwählung der Apostel. S.
232
204. Die Erwählung der zwölf Jünger zu Aposteln. S. 235
205. Die erste Predigt Simon des Zeloten und des Johannes. S. 241
206. Im Haus der Johanna des Chuza; Jesus und die Römerinnen. S. 250
207. Aglaia im Hause Mariens in Nazareth. S. 260
208. Die Bergpredigt"Ihr seid das Salz der Erde". S. 270
209. Die Bergpredig: Die Seligpreisungen (Erster Teil). S. 278
210. Die Bergpredigt: Die Selipreisungen (Zweiter Teil). S. 289
211. Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Dritter Teil). S. 295
212. Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Vierter Teil). S. 305
213. Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Fünfter Teil). S. 312
214. Heilung eines Aussätzigen am Fusse des Berges. S. 333
215. Am Sabbat nach der Berg Fusse des Berges. S. 337
216. Der Diener des Centurio wird. S. 342
217. "Lass die Toten ihre Toten begraben". S. 344
218. Das Gleichnis vom Sämann. S. 347
219. In der Küche des Petrus; Belehrung Jesu und Ankündigung der Gefangennahme
des Täufer. S. 355
220. Das Gleichnis vom guten Weizen und vom Unkraut. S. 365
221. Jesus spricht auf dem Weg nach Magdala zu Hirten. S. 372
222. Jesus in Magdala; Zweite Begegnung mit Magdalena. S. 376
223. Zu Magdala im Hause der Mutter Benjami. S. 380
224. Jesus gebietet dem Sturm auf dem See. S. 388
225. "Heimsuchungen dienen dazu, dass ihr euch eures Nichts bewusst werden".
S. 390
226. Die besessenen Gerasener. S. 392
227. Von Tarichäa zum Tabor; Die zweite Osterreise beginnt. S. 398
228. In Endor; In der Grotte der Wahrsagerin; Bekehrung von Felix, der hierauf
Johannes genannt wird. S. 403
229. Auferweckung des Sohn es der Witwe von Naim. S. 413
161. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST VATER UND MUTTER EHREN»
Jesus wandelt langsam am Flußufer
auf und ab. Es muß sehr früh am Morgen sein, denn der Nebel eines trüben,
winterlichen Tages lastet noch auf dem Schilf der Ufer. Niemand ist an den
Ufern des Jordan, so weit man sehen kann. Niedriger Nebel, Rauschen des
Wassers durch das Schilf, Murmeln des Wassers, das infolge der Regenfälle der
letzten Tage bewegter ist; einzelne Vogelrufe: kurz, traurig, wie es ist, wenn
die Jahreszeit der Brunst vorbei ist und die Gefiederten wegen des schlechten
Wetters und des knappen Futters lustlos und nicht zum Singen aufgelegt sind.
Jesus lauscht ihnen und scheint
sich für den Lockruf eines Vögleins zu interessieren, das mit der
Regelmäßigkeit einer Uhr das Köpfchen nordwärts neigt, sein klagendes "Ciwit"
ausstößt und dann den Kopf nach der anderen Seite dreht, um sein fragendes "Ciwit"
zu wiederholen, ohne eine Antwort zu erhalten. Endlich scheint das Vöglein im
"Cip", das vom anderen Ufer kommt, doch noch eine Antwort zu bekommen, und
fliegt davon; es fliegt über den Fluß und stößt dabei ein kleines
Freudengezwitscher aus. Jesus macht eine Gebärde, als wolle er sagen: «Nun
geht es besser!» Dann nimmt er seinen Spaziergang wieder auf.
«Störe ich dich, Meister?» fragt
Johannes, der von den Wiesen kommt.
«Nein, was willst du?»
«Ich wollte dir sagen... es
scheint mir, daß dir die Nachricht zum Trost gereichen würde; darum bin ich
gleich gekommen, um mich mit dir darüber zu beraten.
Ich war gerade dabei, unsere
Räume zu kehren, da ist Judas Iskariot hereingekommen und hat zu mir gesagt:
"Ich helfe dir." Ich bin darüber sehr erstaunt gewesen, denn er macht diese
niedrige Arbeit immer nur unfreiwillig und auf Geheiß. Aber ich habe weiter
nichts gesagt als: "Oh, danke. So wird es schneller und besser gehen."
Er hat sich daran gemacht, zu
kehren, und so sind wir schnell fertig geworden. Dann hat er gesagt: "Gehen
wir in den Wald! Es sind immer die Alten, die Holz holen. Das ist nicht recht.
Gehen wir! Ich verstehe nicht viel davon, aber wenn du es mir beibringen
willst..." So sind wir gegangen. Während ich mit ihm die Reisigbündel band,
hat er mir gesagt: "Johannes, ich möchte dir etwas sagen." "Sprich" ' habe ich
entgegnet, und irgend eine Kritik erwartet. Er hat jedoch gesagt: "Ich und du,
wir sind die Jüngsten. Es wäre gut, wenn wir vereinter wären. Du hast beinahe
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Angst vor mir und du hast recht,
denn ich bin nicht gut. Aber glaube mir, ich tue dies alles nicht absichtlich.
Manchmal habe ich das Bedürfnis, böse zu sein. Vielleicht, weil man mich
verwöhnt hat, da ich ein Einzelkind war. Ich möchte gut werden. Die Alten, ich
weiß es, sehen mich nicht gerne. Die Vettern Jesu sind beleidigt, weil ... ja,
ich habe viel gegen sie gefehlt und auch gegen ihren Vetter. Doch du bist gut
und geduldig. Sei mir gut gesinnt! Nimm mich wie einen Bruder an, der zwar
böse ist, ja... aber man muß auch die Bösen lieben. Auch der Meister sagt, daß
man es tun muß. Wenn du siehst, daß ich nicht gut bin, dann sage es mir und
laß mich nicht immer allein. Wenn ich ins Dorf gehe, dann komme mit. Du wirst
mir helfen, nichts Unrechtes zu tun. Gestern habe ich sehr gelitten. Jesus hat
mit mir gesprochen, und ich habe ihn beobachtet. In meinem dummen Groll habe
ich weder auf mich noch auf die anderen geachtet. Gestern habe ich ihn
angeschaut und gesehen... sie haben recht, wenn sie sagen, daß Jesus leidet,
und ich spüre, daß es auch meine Schuld ist. Das soll sich aber jetzt ändern.
Komm mit mir! Willst du? Wirst du mir helfen, weniger böse zu sein?"
So hat er gesprochen, und ich
gestehe dir, ich hatte ein Herz, das schlug wie jenes eines Sperlings, den ein
Junge gefangen hat. Es schlug vor Freude, denn ich freue mich, wenn Judas sich
bessert. Deinetwegen freut es mich! Aber es klopfte auch ein wenig aus Angst,
denn ich möchte nicht so werden wie Judas. Dann kam mir in den Sinn, was du
damals zu mir gesagt hattest, am Tage, an dem du Judas angenommen hattest, und
ich habe geantwortet: "Gewiß werde ich dir helfen, doch ich muß gehorchen, und
wenn ich andere Anweisungen bekomme..." Ich dachte, ich will es erst dem
Meister sagen, und wenn er es will, dann tue ich es, wenn er es nicht will,
dann werde ich mir Anweisung geben lassen, mich nicht vom Haus zu entfernen.»
«Höre, Johannes! Ich lasse dich
gehen. Du mußt mir jedoch versprechen, daß du, wenn du spürst, daß irgend
etwas dich beunruhigt, zu mir kommst und es mir sagst. Du hast mir große
Freude bereitet, Johannes. Hier kommt Petrus mit seinem Fisch. Geh, Johannes.»
Jesus wendet sich Petrus zu:
«Guter Fang?»
«Hm, nicht so sehr. Nur kleine
Fische, doch es ist auch so recht. Jakobus ist verärgert, denn irgendein Tier
hat den Strick zernagt, und ein Netz ist verlorengegangen. Ich habe gesagt:
"Darf es denn nicht auch fressen? Hab Mitleid mit dem armen Tier!", doch
Jakobus meint es nicht so», sagt Petrus lachend.
«Das sage ich von einem, der ein
Bruder ist. Und ihr bringt es nicht fertig!»
«Sprichst du von Judas?»
«Ich spreche von Judas. Er
leidet. Er hat gute Vorsätze und verderbte Neigungen. Aber sag einmal, du
erfahrener Fischer: Wenn ich mit dem
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Boot auf dem Jordan zum See
Genesareth fahren wollte, wie könnte ich das anstellen? Würde es mir
gelingen?»
«Es wäre eine schwere Arbeit.
Doch du könntest es mit einem flachen Boot schaffen. Sehr mühsam, weißt du...
und langwierig! Man müßte immer den Grund abmessen und die Augen offen halten
an den Ufern und Strudeln, an den schwimmenden Büschen und bei Strömungen. Das
Segel nützt da gar nichts, im Gegenteil... Aber willst du auf dem Fluß wieder
zum See zurückkehren? Schau, gegen den Strom schwimmen, ist schwer. Man muß
für ein solches Unternehmen viele sein, sonst ...»
«Du hast es gesagt. Wenn einer
lasterhaft ist, dann muß er, um gut zu werden, gegen den Strom schwimmen und
allein wird er dazu nicht imstande sein. Judas ist genau einer von diesen, und
ihr helft ihm nicht. Der Arme fährt allein stromaufwärts, stößt auf den Grund,
umgeht die Untiefen, verfängt sich in den schwimmenden Pflanzen und wird von
Wirbeln erfaßt. Anderseits, wenn er die Tiefe mißt, dann kann er nicht
gleichzeitig das Steuer oder das Ruder halten. Warum also rügt man ihn, wenn
er nicht vorwärts kommt? Ihr habt Mitleid mit Fremden und mit ihm, eurem
Gefährten, nicht! Das ist nicht recht. Schau, dort gehen Johannes und er zum
Dorfe, um Brot und Gemüse zu holen. Er hat darum gebeten, nicht allein gehen
zu müssen, und er hat Johannes darum gebeten, denn er ist nicht dumm und weiß,
wie ihr Alten über ihn denkt.»
«Hast du ihn geschickt? Wenn er
nun auch Johannes verdirbt?»
«Wen? Meinen Bruder? Warum
verderben?» fragt Jakobus, der mit dem wieder herausgefischten Netz
daherkommt.
«Weil Judas mit ihm geht.»
«Seit wann?»
«Seit heute; ich habe es
erlaubt.»
«Nun, wenn du es erlaubt hast!»
«Ja, ich will es sogar allen
raten. Ihr laßt ihn zuviel allein. Seid nicht immer nur seine Richter. Er ist
nicht schlimmer als viele andere. Aber er ist in seiner Kindheit mehr verwöhnt
worden.»
«Ja, es muß so sein. Hätte er als
Vater und Mutter Zebedäus und Salome gehabt, dann wäre er anders. Meine Eltern
sind gut. Aber sie vergessen nicht, daß sie den Kindern gegenüber Rechte und
Pflichten haben.»
«Das hast du richtig gesagt.
Heute will ich gerade darüber sprechen. Laßt uns gehen! Ich sehe schon Leute,
die über die Wiesen herkommen.»
«Ich weiß nicht mehr, wie wir
leben sollen. Es gibt keine Essens-, Bet- und Ruhezeit mehr... und es kommen
immer mehr Menschen», sagt Petrus halb bewundernd, halb verärgert.
«Bedauerst du es? Es ist doch ein
Zeichen dafür, daß es immer noch Menschen gibt auf der Suche nach Gott.»
«Ja, Meister, aber du leidest
darunter. Gestern hattest du nichts gegessen,
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und letzte Nacht hast du außer
deinem Mantel keine anderen Decken gehabt. Wenn das deine Mutter wüßte!»
«Sie würde Gott preisen, der so
viele Getreue zu mir führt.»
«Und sie würde mich tadeln, dem
sie dich anempfohlen hat», schließt Petrus. Nun kommen Philippus und
Bartholomäus gestikulierend auf sie zu, und wie sie Jesus sehen, beschleunigen
sie den Schritt. Sie sagen: «Oh, Meister, was sollen wir tun? Es ist ein
wahrer Pilgerzug: Kranke, Weinende, Arme ohne Mittel,... die meisten sind von
weither gekommen.»
«Wir werden Brot kaufen. Die
Reichen geben Almosen, und das muß dafür verwendet werden.»
«Die Tage sind kurz. Der Schuppen
ist bereits dicht angefüllt mit biwakierenden Leuten. Die Nächte sind feucht
und kalt.»
«Philippus hat recht. Wir werden
uns alle in einen Raum zusammendrängen. Es wird schon gehen. Dann richten wir
die anderen beiden Räume für jene her, die heute nicht nach Hause gehen
können.»
«Ich habe verstanden. Demnächst
müssen wir noch die Gäste um Erlaubnis bitten, wenn wir Kleider wechseln
wollen. Sie sind so aufdringlich, daß sie uns in die Flucht treiben», brummt
Petrus.
«Du wirst noch andere Fluchten
erleben, mein Petrus! Was hat die Frau?» Sie sind am Dreschplatz angekommen,
als Jesus eine weinende Frau bemerkt.
«Ach, sie war schon gestern hier,
und auch gestern hat sie geweint. Als du mit Manaen sprachst, hat sie sich
aufgemacht, um dir entgegenzugehen, dann ist sie jedoch weggegangen. Sie muß
im Dorf oder in der Nähe wohnen, denn sie ist zurückgekommen. Krank scheint
sie nicht zu sein...»
«Der Friede sei mit dir, Frau»,
sagt Jesus und geht nahe an ihr vorüber. Sie antwortet leise: «Und mit dir»,
sonst nichts.
Es sind ungefähr dreihundert
Personen anwesend. Unter dem Schutzdach sind Lahme, Blinde, Stumme, einer ist
vom Zittern befallen, ein Jugendlicher, der offensichtlich einen Wasserkopf
hat, wird von einem Mann geführt. Er heult nur, geifert und bewegt seinen
großen Kopf mit stumpfsinnigem Ausdruck unruhig hin und her.
«Ist er vielleicht der Sohn jener
Frau?» fragt Petrus.
«Ich weiß es nicht. Simon kümmert
sich um die Pilger und weiß es.»
Sie rufen den Zeloten und fragen
ihn. Doch der Mann gehört nicht zur Frau. Diese ist allein. «Sie weint nur und
betet. Vorher hat sie mich gefragt: "Heilt der Meister auch die Herzen?"»,
berichtet der Zelote.
«Vielleicht eine betrogene
Gattin?» meint Petrus.
Während sich Jesus zu den Kranken
begibt, gehen Bartholomäus und Matthäus mit vielen Pilgern zur Reinigung.
Die Frau in ihrer Ecke weint und
rührt sich nicht.
Jesus verweigert niemandem das
Wunder. Schön ist das Wunder am Schwachsinnigen, dem Jesus mit dem Atem den
Verstand einhaucht,
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indem er den großen Kopf zwischen
seinen schmalen Händen hält. Alle drängen sich hinzu. Auch die Verschleierte
wagt es, vielleicht, weil viele Menschen da sind, näher zu kommen und stellt
sich neben die weinende Frau. Jesus sagt zum Schwachsinnigen: «Ich will in dir
das Licht des Verstandes um damit den Weg für das Licht Gottes zu bahnen.
Höre, sage mit mir: "Jesus" ' sage es, ich will es!»
Der Schwachsinnige, der zuvor wie
ein Tier heulte, es war wirklich nichts anderes als ein Heulen, stammelt nun
mühsam: «Jesus», nein, «Jeschu».
«Noch einmal!» befiehlt Jesus und
hält immer noch den unförmigen Kopf zwischen seinen Händen und beherrscht ihn
mit seinem Blick. «Tsesu.» «Noch einmal!» «Jesus», sagt der Schwachsinnige
endlich. Seine Augen sind nicht mehr so ausdruckslos, und der Mund hat ein
anderes Lächeln.
«Mann», sagt Jesus zum Vater, «du
hast Glauben gehabt. Dein Sohn ist geheilt. Befrage ihn. Der Name Jesus wirkt
Wunder gegen Krankheiten und Leidenschaften.»
Der Mann fragt seinen Sohn: «Wer
bin ich?»
Der Junge antwortet: «Mein
Vater.» Der Mann drückt seinen Sohn an sein Herz und erklärt: «Er ist so auf
die Welt gekommen. Meine Frau ist bei seiner Geburt gestorben, und er war im
Verstand und im Sprechen gestört. Nun seht her! Ich habe geglaubt, ja, ich
komme von Joppe. Was kann ich für dich tun, Meister?»
«Gut sollst du sein, und mit dir
dein Sohn. Sonst nichts ...»
«Und dich lieben. Oh, laß uns
sofort gehen, Sohn, und es der Mutter deiner Mutter erzählen. Sie hat mich zu
diesem Schritt überredet, gesegnet sei sie dafür!» Die beiden gehen glücklich
fort. Vom früheren Übel bleibt nur noch der große Kopf. Ausdruck und
Sprechvermögen sind normal.
«Aber ist er nun durch deinen
Willen oder durch die Macht deines Namens geheilt worden?» wollen viele
erfahren.
«Durch den Willen des Vaters, der
immer dem Sohne wohlgesinnt ist. Doch auch mein Name bedeutet Rettung. Ihr
wißt es, Jesus heißt Retter. Die Rettung betrifft die Seele und den Leib. Wer
den Namen Jesus mit wahrem Glauben ausspricht, steht von Krankheiten und Sünde
auf, weil in jeder geistigen oder körperlichen Krankheit die Krallen Satans
sind. Er erzeugt die körperlichen Leiden, um den Menschen durch die Leiden des
Fleisches zur Auflehnung und zur Verzweiflung zu bringen und durch die
moralischen oder geistigen Krankheiten versucht er, ihn in die Verdammnis zu
stürzen.»
«Also ist nach deinem Dafürhalten
an jeder Plage des Menschen Beelzebub nicht unbeteiligt?»
«Nein, er ist nicht unbeteiligt.
Seinetwegen sind Krankheit und Tod in
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die Welt gekommen. Auch
Verbrechen und Verderbtheit sind durch ihn in die Welt gekommen. Wenn ihr
einen von irgendeinem Unglück Geplagten seht, dann denkt daran, daß er wegen
Satan zu leiden hat. Wenn ihr seht, daß einer Ursache des Unglücks ist, dann
wißt, daß er ein Werkzeug Satans ist.»
«Aber die Krankheiten kommen doch
von Gott.»
«Die Krankheiten sind eine
Unordnung in der Ordnung, denn Gott hat den Menschen gesund und vollkommen
erschaffen. Die Unordnung wurde von Satan in die von Gott gegebene Ordnung
gebracht und hat die Gebrechen des Fleisches und deren Folgen, also den Tod
und die verhängnisvolle Vererbung, mit sich gebracht. Der Mensch hat von Adam
und Eva die Erbsünde geerbt. Aber nicht nur sie. Dieser Makel breitet sich
immer mehr aus und beherrscht schließlich die drei Bereiche des Menschen: Das
Fleisch wird immer lasterhafter und damit schwach und krank; die Moral stets
stolzer und daher verderbter, der Geist immer ungläubiger und dadurch immer
götzendienerischer. Daher ist es notwendig, wie ich es mit dem Schwachsinnigen
getan habe, den Namen Jesus zu lehren, der Satan in die Flucht schlägt, ihn in
Herz und Sinn einzuprägen und ihn wie ein Eigentumssiegel auf das eigene Ich
zu setzen.»
«Aber gehören wir denn dir? Wer
bist du, daß du dir so viel einbildest?»
«Wenn es nur so wäre! Aber dem
ist nicht so. Würde ich euch besitzen, so wäret ihr schon gerettet. Es wäre
mein Recht, denn ich bin der Retter und müßte meine Geretteten besitzen...
Doch jene, die an mich glauben, werde ich retten.»
«Johannes – ich komme von
Johannes – hat mir gesagt: "Gehe zu jenem, der bei Ephraim und Jericho predigt
und tauft. Er hat die Macht, zu lösen und zu binden, während ich dir nur sagen
kann: 'Tue Buße, um deine Seele zu beflügeln, damit sie dem Heil folgen kann"'
' sagt ein durch ein Wunder Geheilter, der zuvor auf Krücken gehen mußte und
sich nun gut bewegen kann.»
«Leidet der Täufer nicht
darunter, das Volk zu verlieren?» fragt einer. Der Mann, der eben gesprochen
hat, antwortet: «Leiden? Er sagt zu allen: Geht! Geht!... Ich bin der
untergehende Stern. Er ist der Stern, der aufgeht und auf ewig in seiner
Herrlichkeit bestehen bleibt. Damit ihr nicht in der Finsternis bleibt, geht
zu ihm, bevor mein Flämmchen erlischt.»
«Die Pharisäer reden nicht so.
Sie sind voller Neid, weil du das Volk anziehst. Weißt du es?»
«Ich weiß es», antwortet Jesus
kurz.
Es entsteht nun eine Diskussion,
ob die Pharisäer mit ihrer Handlungsweise im Recht oder Unrecht sind. Doch
Jesus bricht sie ab mit einem kurzen: «Ihr sollt nicht urteilen», was keine
Widerrede duldet.
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Bartholomäus und Matthäus kommen
mit den Getauften zurück.
Jesus beginnt zu reden.
«Der Friede sei mit euch allen!
Ich habe gedacht, am Morgen zu
euch von Gott zu sprechen, da ihr nun schon am Morgen hierher kommt, es wäre
auch besser, wenn ihr zur Mittagszeit wieder abreisen könntet. Ich habe auch
gedacht, die Pilger zu beherbergen, die nicht mehr am selben Tage nach Hause
gelangen. Ich selbst bin auch ein Pilger und besitze nicht mehr als das
Unentbehrlichste, das mir durch die Barmherzigkeit eines Freundes gegeben
wurde. Johannes hat noch weniger als ich. Doch zu Johannes kommen Gesunde oder
Leichtkranke, Betrübte, Blinde, Stumme und nicht Fieberkranke oder gar
Sterbende wie zu mir. Sie gehen zu ihm, um die Bußtaufe zu empfangen. Zu mir
kommt ihr auch für die Heilung des Körpers. Das Gesetz sagt: "Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst." Ich überlege und sage: Wie könnte ich beweisen, daß
ich die Brüder liebe, wenn ich ihren Nöten und Bedürfnissen, auch den
leiblichen gegenüber, mein Herz verschließen würde? Deshalb werde ich ihnen
geben, was mir gegeben worden ist. Ich halte den Reichen die Hand hin und
bitte sie um Brot für die Armen; ich verzichte auf mein Ruhelager und nehme
den Müden und den Leidenden auf.
Wir sind alle Brüder und die
Liebe wird nicht durch Worte, sondern durch Taten bewiesen. Derjenige, welcher
seinem Nächsten gegenüber sein Herz verschließt, hat ein Herz wie Kain. Der
Lieblose ist ein Rebell gegen Gottes Gebot. Wir sind alle Brüder, und trotzdem
sehe ich, und ihr seht es ebenfalls, daß auch in einer Familie Haß und
Feindschaft herrschen kann, dort, wo doch das gleiche Fleisch und Blut, das
wir von Adam übernommen haben, uns zu einer brüderlichen Gemeinschaft in der
Abstammung verbindet. Brüder sind gegen Brüder, Kinder gegen Eltern, Eheleute
sind einander feindlich gesinnt.
Doch, um sich als Brüder nicht
allezeit feindlich gesinnt zu sein, und um nicht eines Tages ehebrecherische
Gatten zu werden, muß man von frühester Kindheit an die Achtung vor der
Familie lernen, dem kleinsten und zugleich bedeutendsten Gebilde der Welt. Es
ist das kleinste im Vergleich zum Gebilde einer Stadt, eines Gebietes, einer
Nation, eines Erdteils; das bedeutsamste hingegen, weil es das älteste ist und
von Gott zu einer Zeit geschaffen wurde, da der Begriff der Heimat und des
Landes noch nicht bestand. Da war dieser Kern der Familie als Ursprung der
Rasse, als kleines Reich, in dem der Mann der König, die Frau die Königin ist
und die Kinder die Untertanen sind, bereits lebendig und tätig. Doch kann
jemals ein Reich andauern, wenn Gehorsam, Achtung, Sparsamkeit, guter Wille,
Fleiß und Liebe fehlen?
"Du sollst Vater und Mutter
ehren", heißt es in den Zehn Geboten.
Wie ehrt man sie? Warum muß man
sie ehren? Man ehrt sie mit echtem
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Gehorsam, wahrer Liebe,
vertrauensvoller Achtung, mit einer Ehrfurcht, die die Vertrautheit nicht
ausschließt, und die es gleichzeitig den Eltern nicht gestattet, uns wie
Diener und Unterlegene zu behandeln. Man muß sie ehren, denn nach Gott sind
die Eltern es, die das Leben vermitteln und für die materiellen Bedürfnisse
sorgen. Sie sind die ersten Lehrer und die ersten Freunde des Kindes. Man
sagt: "Gott möge dich segnen," und man sagt: "Danke" jenen, die uns einen auf
den Boden gefallenen Gegenstand aufheben oder ein Stück Brot schenken. Jenen,
die sich in der Arbeit aufreiben, um unseren Hunger zu stillen, um uns die
Kleider zu weben und sie sauber zu halten, jenen, die sich erheben, um unseren
Schlaf zu überwachen, die sich selbst die Ruhe versagen, um uns zum pflegen,
die uns an ihrer Brust wieder Trost und Kraft schöpfen lassen, wenn wir im
schmerzlichsten Überdruß verzagen... sollten wir ihnen nicht-- mit Liebe
zurufen: "Gott segne euch" und "ich danke euch?"
Sie sind unsere Lehrer. Der
Lehrer wird gefürchtet und geachtet. Doch übernimmt er uns erst, wenn wir
bereits über die nötigste Kenntnis verfügen, um uns zurechtzufinden,
selbständig essen und die wichtigsten Dinge benennen können, und er entläßt
uns, wenn uns die wichtigste Lehre des Lebens, nämlich die "Kunst" zu leben,
noch beigebracht werden muß. Der Vater und die Mutter sind es, die uns zuerst
auf die Schule und dann auf das Leben vorbereiten.
Sie sind unsere Freunde. Gibt es
denn einen besseren Freund als einen Vater? Und eine bessere Freundin als es
die Mutter ist? Müßt ihr vor ihnen zittern? Könnt ihr sagen: "Ich bin von ihm
oder von ihr verraten worden?" Doch, wie töricht ist der Junge und noch
törichter das Mädchen, die sich Fremde zu Freunden machen und Vater und Mutter
ihr Herz verschließen, sich Geist und Herz durch Verbindungen verderben, die
unklug sind, wenn nicht gar schuldhaft und so zur Ursache von Tränen der
Eltern werden und wie Tropfen flüssigen Bleis ihre Herzen durchfurchen. Diese
Tränen aber, sage ich euch, fallen nicht in den Staub und geraten nicht in
Vergessenheit. Gott sammelt sie und zählt sie. Das Martyrium eines
zurückgestoßenen Vaters oder einer zurückgestoßenen Mutter wird vom Herrn
belohnt werden. Aber die Tat eines Sohnes, der seine Eltern quält, wird nicht
vergessen werden, auch dann nicht, wenn Vater und Mutter in ihrer
schmerzvollen Liebe von Gott Erbarmen für den schuldigen Sohn erbitten.
"Ehre Vater und Mutter, wenn du
lange auf Erden leben willst" ' ist gesagt worden, "und ewig im Himmel", füge
ich hinzu Zu gering wäre die Strafe hienieden für eine Verfehlung gegen die
Eltern, wenn sie nur darin bestünde, nur kurze Zeit leben zu können. Das
Jenseits ist kein Märchen, und im Jenseits gibt es Belohnung oder Bestrafung,
je nachdem wie wir gelebt haben. Wer gegen die Eltern fehlt, fehlt gegen Gott,
denn Gott hat uns das Gebot gegeben, unsere Eltern zu lieben und wer sie nicht
liebt,
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sündigt. Er verliert somit außer
dem leiblichen Leben auch das wahre Leben, von dem ich zu euch gesprochen
habe, und geht dem Tod der Seele entgegen. Er trägt den Tod bereits in sich,
denn die Seele ist in Ungnade bei ihrem Herrn und hat schon das Verbrechen in
sich, weil er die heiligste Liebe nach der Liebe zu Gott verletzt hat. Sie hat
bereits den Keim für einen späteren Ehebruch in sich, denn aus einem bösen
Sohn wird ein schlechter Ehegatte werden. Sie hat schon den Trieb zu einem
abartigen sozialen Leben, denn aus einem schlechten Sohn entwickelt sich der
zukünftige Dieb, der Betrüger, der in sich gewalttätige Mörder, der
kaltblütige Wucherer, der freche Verführer, der zynische Lebemensch, der
abstoßende Verräter seines Vaterlandes, der Verräter der Freunde, der Kinder,
der Gattin, der Verräter aller Menschen. Könnt ihr dem noch Achtung und
Vertrauen entgegenbringen, der die Liebe einer Mutter verraten und die weißen
Haare eines alten Vaters verspottet hat?
Aber hört weiter zu, denn der
Pflicht der Kinder steht eine gleiche Pflicht der Eltern gegenüber. Fluch dem
schuldigen Kinde! Aber auch Fluch den schuldigen Eltern! Macht, daß euch die
Kinder nicht tadeln müssen und im Bösen nachahmen können. Bewirkt durch eine
gerechte und barmherzige Liebe, daß ihr wiedergeliebt werdet. Gott ist
Barmherzigkeit. Die Eltern, die gleich nach Gott den zweiten Platz einnehmen,
sollen auch barmherzig sein. Seid euren Kindern Beispiel und Trost. Seid ihr
Friede und ihre Führung. Seid die erste Liebe eurer Kinder. Eine Mutter ist
immer das erste Vorbild einer Braut, wie wir sie wünschen. Ein Vater hat für
die heranwachsende Tochter das Wesen, das sie für ihren Bräutigam erträumt.
Macht, daß eure Söhne und Töchter mit weiser Hand ihre Gefährten wählen und
dabei an die Mutter und an den Vater denken und wünschen, im Gefährten
wiederzufinden, was im Vater und in der Mutter ist: nämlich die wahre Tugend.
Wenn ich das Thema erschöpfend
behandeln wollte, dann würden der Tag und die Nacht nicht ausreichen. Daher
fasse ich mich euretwegen kürzer. Das Übrige möge euch der Heilige Geist
mitteilen. Ich streue den Samen und schreite weiter. Doch der Same wird im
guten Menschen gute Wurzeln schlagen und Ähren bringen. Gehet hin, der Friede
sei mit euch!»
Wer geht, tut es rasch. Wer
bleibt, geht in den dritten Raum und ißt sein Brot oder jenes, das ihm die
Jünger im Namen Gottes anbieten. Auf grobe Klötze sind Bretter und Stroh
gelegt worden; dort können die Pilger schlafen. Die verschleierte Frau geht
mit eiligen Schritten davon. Jene, die von Anfang an und auch während der
ganzen Rede Jesu geweint hat, wendet sich zögernd um und beschließt, zu gehen.
Jesus begibt sich in die Küche,
um seine Mahlzeit einzunehmen. Doch kaum hat er zu essen begonnen, da klopft
es an der Tür. Andreas, der nahe bei der Tür sitzt, erhebt sich und geht in
den Hof hinaus. Er spricht
17
mit jemandem und kommt zurück.
«Meister, eine Frau, jene, die geweint hat, wünscht dich. Sie sagt, sie könne
nicht bleiben und müsse dich zuvor sprechen.»
«Aber wie und wann kommt der
Meister so zu seinem Essen?» ruft Petrus besorgt aus.
«Du hättest ihr sagen sollen, daß
sie später wiederkommen soll.» sagt Philippus.
«Ruhe! Ich werde nachher essen.
Eßt ihr nur weiter.» Jesus geht hinaus.
Die Frau erwartet ihn.
«Meister, ein Wort... Du hast
gesagt... oh, komm hinter das Haus. Es ist so peinlich für mich, dir meinen
Kummer zu sagen.»
Jesus stellt sie wortlos
zufrieden. Erst hinter dem Haus fragt er sie dann: «Was willst du von mir?»
«Meister, ich habe dir vorher
zugehört, als du mit den Leuten gesprochen hast... und dann habe ich deine
Predigt gehört. Es schien, als hättest du für mich gesprochen. Du hast gesagt,
daß in jeder körperlichen oder seelischen Krankheit Satan im Spiel ist. Ich
habe einen Sohn, dessen Seele krank ist. Er hätte hören sollen, was du über
die Eltern gesagt hast. Er ist mein größter Kummer. Er hat sich mit schlimmen
Freunden herumgetrieben und ist so, wie du es gesagt hast... ein Dieb,
vorläufig nur zu Hause... dazu ist er streitsüchtig... anmaßend... So jung wie
er ist, ruiniert er sich durch Ausschweifung und Schlemmerei. Mein Mann will
ihn fortjagen. Ich aber bin die Mutter und leide dermaßen, daß ich sterben
möchte... Siehst du, wie meine Brust bebt? Das Herz will mir vor Kummer
zerspringen. Seit gestern möchte ich mit dir reden, denn ich hoffe auf dich,
mein Gott! Doch ich habe nicht gewagt, etwas zu sagen. Es ist so schmerzlich
für eine Mutter, gestehen zu müssen: "Ich habe einen grausamen Sohn."» Die
Frau ist vor Jesus niedergesunken und weint.
«Weine nicht mehr, er wird von
seinem Übel geheilt werden.»
«Wenn er dich hören könnte! Aber
er will dich nicht hören. Oh, so wird er nie gesund werden!»
«Aber hast du Glauben für ihn?
Hast du Willen für ihn?»
«Das fragst du mich? Ich komme
von den Anhöhen Peräas, um dich für ihn zu bitten...»
«Dann gehe nun. Wenn du nach
Hause kommst, wird dir dein Sohn reumütig entgegeneilen.»
«Aber wie?»
«Wie? Glaubst du nicht, daß Gott
tun kann, um was ich ihn bitte? Dein Sohn ist dort, ich bin hier. Gott aber
ist überall. Ich flehe zu Gott: "Vater, habe Erbarmen mit dieser Mutter." Gott
wird seinen Ruf im Herzen deines Sohnes ertönen lassen. Geh nun, Frau! Eines
Tages werde ich an deinem Ort vorüberkommen, und du wirst mir voller Stolz mit
deinem
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Sohn entgegenkommen. Wenn er, auf
deinen Knien weinend, dich um Verzeihung bitten und dir von seinem
geheimnisvollen Kampf, aus dem er mit neuer Seele hervorgegangen ist,
berichten und dich dann fragen wird, warum es so gekommen ist, dann wirst du
ihm sagen: "Durch Jesus bist du zum Guten wiedergeboren worden." Erzähle ihm
von mir. Wenn du zu mir gekommen bist, dann beweist dies, daß du über mich
Bescheid weißt. Mach, daß er von mir erfährt und an mich denkt, damit er die
Kraft in sich hat, die rettet. Leb wohl! Der Friede sei mit dir, gläubige
Mutter, mit dem Sohn, der zurückkehrt, mit dem zufriedenen Vater und der
wiedervereinten Familie. Geh nun!»
Die Frau geht zum Dorf, und alles
ist zu Ende.
162. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT UNKEUSCHHEIT TREIBEN»
Jesus sagt :
«Habe Geduld, meine Seele, wegen
der doppelten Mühe. Es ist die Leidenszeit. Weißt du, wie müde ich in den
letzten Tagen war? Du kannst es sehen. Ich stütze mich beim Gehen auf
Johannes, Petrus und auch auf Judas... Ja, ich, der ich Wunder vollbrachte nur
durch die Berührung meines Gewandes, vermochte jenes Herz nicht zu ändern. Laß
mich anlehnen an dich, kleiner Johannes, damit ich jene Worte wiederholen
kann, die ich in den letzten Tagen jenen Starrköpfigen und Abgestumpften schon
gesagt habe, in die die Vorhersage meiner Leiden nicht eingedrungen ist. Und
erlaube auch, daß der Meister von den Stunden der Predigten in der düsteren
Ebene des "Trügerischen Gewässers" erzähle. Ich werde dich dafür zweimal
segnen. Für deine Mühe und für dein Mitleid. Ich zähle deine Anstrengungen und
sammle deine Tränen. Den Mühen aus Liebe zu den Brüdern kommt die gleiche
Vergeltung zu wie jenen, die sich verzehren, um Gott den Menschen
bekanntzumachen. Deine Tränen wegen meines Leidens in der vergangenen Woche
werden mit dem Kuß Jesu vergolten. Schreibe und sei gesegnet !»
Jesus steht aufrecht auf einem
Stapel von Brettern, die als Podest in einem der Räume aufgerichtet worden
sind. Er spricht mit Donnerstimme in der Nähe der Türe, um von allen gehört zu
werden: von denen, die im Raume sind, von anderen, unter dem Vordach und sogar
von jenen, die auf dem überschwemmten Dreschplatz dem Regen ausgesetzt sind.
Unter ihren dunklen Mänteln aus naturbelassener Wolle, die wasserundurchlässig
ist, sehen sie aus wie Mönche. Im Raum selbst sind die Schwächeren, unter dem
Vordach die Frauen, und im Hofe, unter dem Regen, die Kräftigeren,
hauptsächlich Männer.
Petrus kommt und geht, barfuß im
kurzen Unterkleid, ein Tuch auf dem Kopf. Er verliert seinen guten Humor
nicht, auch wenn er im Wasser waten und eine ungewollte Dusche nehmen muß. Mit
ihm sind Johannes, Andreas und Jakobus. Sie bringen vorsichtig die Kranken aus
dem anderen Raum, geleiten die Blinden und stützen die Lahmen.
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die vier Jünger naß sind wie ins
Wasser getauchte Schwämme.
«Nichts, nichts! Wir sind
geteertes Holz. Mach dir nichts draus. Wir bekommen nur noch einmal eine
Taufe, und der Täufer ist Gott selbst», antwortet Petrus auf das Bedauern
Jesu.
Endlich sind alle an ihrem Platz,
und Petrus denkt, daß er nun ein trockenes Gewand anziehen kann. Er veranlaßt
auch die anderen drei dazu. Aber als er wieder beim Meister angelangt ist,
sieht er an der Ecke des Vordaches den grauen Mantel der Verschleierten, und
ohne zu überlegen, geht er zu ihr hin, quer durch den Hof, unter dem
prasselnden, immer stärker werdenden Regen, durch die Pfützen, die bis zu den
Knien spritzen beim Aufprall der dicken Regentropfen. Er packt die
Verschleierte am Ellbogen, ohne den Mantel zu verschieben, und schleppt sie
bis zur Wand des Schuppens, wo sie vor dem Regen geschützt ist. Dann stellt er
sich in ihre Nähe, steif und unbeweglich, wie eine Schildwache.
Jesus hat es gesehen. Er lächelt
und neigt dabei sein Haupt, um das Leuchten seines Antlitzes zu verbergen. Er
beginnt zu sprechen:
«Sagt nicht, die ihr regelmäßig
zu mir kommt, daß ich nicht der Reihe nach ordnungsgemäß predige und einige
der Zehn Gebote überspringe. Ihr hört mich, ich sehe es, ihr hört mir zu. Ich
knüpfe an die Schmerzen und an die Wunden an, die ich in euch sehe. Ich bin
der Arzt. Der Arzt geht zuerst zu den Schwerkranken, zu jenen, die dem Tod am
nächsten sind. Dann geht er zu jenen, die weniger leidend sind. Ich mache es
ebenso.
Heute sage ich: "Du sollst nicht
Unkeuschheit treiben."
Laßt eure Blicke nicht
umherschweifen, indem ihr versucht, auf diesem oder jenem Gesicht das Wort
"unkeusch" zu lesen. Liebt euch gegenseitig. Hättet ihr es gern, wenn es
jemand auf euch lesen würde? Nein! Sucht also nicht, es im beunruhigten Auge
des Nachbarn zu lesen, auf einer Stirn, die sich rötet und sich bis zum Boden
neigt.
Dann... oh, sagt mir, besonders
ihr Männer, wer von euch hat noch nie von diesem Brot aus Asche und Kot
gekostet, das die sexuelle Befriedigung ist ? Ist nur das Unkeuschheit, was
euch für eine Stunde in die Arme einer Dirne treibt? Ist nicht auch das
entweihte Zusammenleben mit der Gemahlin unkeusch, da es zum legalisierten
Laster wird, indem es nur zur gegenseitigen Befriedigung der Sinnlichkeit
dient unter Ausschluß der Folgen?
Ehe bedeutet Zeugung, und ihr
Vollzug ist und muß Befruchtung sein. Ohne dies ist sie unmoralisch. Man darf
aus dem Ehegemach kein Bordell machen. Dazu wird es, wenn es mit Ausschweifung
beschmutzt und die Ehe nicht durch die Mutterschaft geheiligt wird. Die Erde
weist den Samen nicht zurück. Sie nimmt ihn auf und läßt eine Pflanze
gedeihen. Der Same entflieht der Scholle nicht, nachdem er niedergelegt ist,
er schlägt
20
ein pflanzliches Geschöpf aus der
Verbindung der Erde mit dem Samen. Der Mann ist der Same, die Frau das
Erdreich und das Kind die Ähre. Sich weigern, eine Ähre zu bilden und die
Kraft im Laster zu vergeuden, ist Sünde... ist Buhlerei auf dem Ehelager, die
noch verschlimmert wird durch den Ungehorsam dem Gebote gegenüber, das besagt:
"Seid ein Fleisch und vermehrt euch in den Kindern" (Gen 1,26-28 usw.).
Daher seht, o ihr Frauen, die ihr
absichtlich unfruchtbar bleiben wollt, ihr rechtmäßigen und ehrbaren Frauen,
nicht in den Augen Gottes, aber in jenen der Welt, daß ihr trotzdem Dirnen
gleichkommt und Unkeuschheit treiben könnt, selbst wenn ihr nur eurem
Ehegatten angehört, weil ihr nicht die Mutterschaft sucht, sondern viel zu oft
dem Sinnengenuß frönt. Ihr überlegt nicht, daß die Sinnenlust – welchem
Schlund auch ihre Begierde entspringen mag – ein Gift ist, das in Leidenschaft
entbrennen läßt. Nach Befriedigung lechzend, durchbricht sie Schranken und
wird in ihrer Gier immerzu unersättlicher. Was zurückbleibt ist ein herber
Geschmack von Asche unter der Zunge, ein Widerwille, ein Ekel und die
Verachtung eurer selbst und des Gefährten eurer Lust. Könnte es denn anders
möglich sein, als daß in einem nicht diese Selbstverachtung aufkommen würde,
wenn das Gewissen wiedererwacht – und das tut es zwischen einem Sinnenrausch
und dem nächsten – weil man sich bis unter das Tier erniedrigt hat?
"Du sollst nicht Unkeuschheit
treiben", ist gesagt worden.
Unkeusch sind ein Großteil der
wollüstigen Handlungen des Menschen. Ich betrachte nicht einmal jene absurden
Verbindungen, die der Leviticus mit den Worten verurteilt: "Mann, du darfst
nicht einem Mann beiwohnen, als ob es eine Frau wäre", und "Du darfst nicht
einem Tier beiwohnen, um dich nicht mit ihm zu beflecken." Dasselbe gilt auch
für die Frau, sie darf sich nicht mit dem Tier vereinigen, denn das wäre
verbrecherisch! (Lev 18,22-23)
Aber nachdem ich die Pflichten
der Eheleute in der Ehe genannt habe, die aufhört, heilig zu sein, wenn sie
durch Arglist unfruchtbar bleibt, komme ich auf die Unkeuschheit zwischen Mann
und Frau zu sprechen: Unzucht aus gegenseitiger Lasterhaftigkeit oder gegen
Bezahlung in Form von Geld oder Geschenken.
Der menschliche Körper ist ein
herrlicher Tempel, der einen Altar in sich birgt. Auf dem Altare müßte Gott
sein. Doch Gott ist nicht da wo Verderbtheit herrscht. Daher hat der Körper
des Unreinen den Altar entweiht und ist ohne Gott.
Ähnlich einem Menschen, der sich
betrunken im Schlamm und dem Erbrochenen seines Rausches wälzt, so erniedrigt
sich der Mensch selber in der Bestialität der Unzucht und wird schlimmer als
der Wurm und das schmutzigste Tier. Sagt mir, wenn jemand unter euch ist, der
sich so
21
erniedrigt hat, daß er mit seinem
Körper Handel treibt, wie man es mit Korn und Tieren macht, was ist ihm daraus
Gutes erwachsen? Nehmt euer Herz in die Hand, beobachtet und befragt es, hört
es an, seht euch seine Wunden an, sein schmerzhaftes Erschauern, und dann
sprecht und antwortet mir: War jene Frucht wirklich so süß, daß dieses Herz,
das rein geboren, diesen Schmerz verdient hätte, gezwungenermaßen in einem
unreinen Körper zu wohnen und mit seinem Schlagen der Unkeuschheit Leben und
Glut zu verleihen, um sich schlußendlich im Laster zu verbrauchen?
Sagt mir, seid ihr so verkommen,
daß ihr nicht einmal im geheimen schluchzen müßt, wenn ihr eine Kinderstimme
hört, die "Mama" ruft, und ihr dann eurer Mutter gedenkt, o ihr
Freudenmädchen, die ihr von zu Hause weggelaufen oder fortgejagt worden seid,
damit ihr – die faulende Frucht – mit eurer zersetzenden Absonderung nicht
auch noch die Geschwister verderbt? Wenn ihr an eure Mutter denkt, die
vielleicht aus Gram gestorben ist, weil sie sich sagen mußte: "Habe ich ein
Scheusal geboren?"
Fühlt ihr nicht euer Herz
zerspringen, wenn ihr einem einsamen, ehrwürdigen Greis begegnet und dabei an
euren Vater denkt, auf den ihr Schmach mit vollen Händen geworfen habt, und
mit der Schmach den Spott seines Heimatdorfes ?
Spürt ihr nicht, wie eure
Eingeweide sich verkrampfen, wenn ihr das Glück einer Braut oder die Unschuld
einer Jungfrau seht und ihr euch sagen müßt: "Auf all das habe ich verzichtet,
und ich werde es nie mehr haben!"
Spürt ihr nicht euer Gesicht vor
Scham brennen, wenn ihr dem Blick der Männer begegnet, der voller Gier oder
voller Verachtung ist?
Spürt ihr nicht eure
Erbärmlichkeit, wenn ihr euch nach dem Kuß eines Kindes sehnt und nicht mehr
zu sagen wagt: "Gib mir einen Kuß" ' weil ihr es abgetrieben habt, getötet wie
eine unangenehme Last oder ein unnützes Hindernis, von dem Baum gebrochen,
dessen Frucht es doch ist, und auf den Misthaufen geworfen, und weil nun die
kleinen Leben euch zurufen: "Mörderinnen!"?
Erzittert ihr nicht vor jenem
Richter, der euch erschaffen hat und euch erwartet, um euch zu fragen: "Was
hast du aus dir gemacht? Habe ich dir etwa das Leben dafür gegeben? Stinkendes
Nest der Würmer und der Verwesung, wie wagst du es, vor mein Angesicht zu
treten? Du hast alles gehabt, was für dich Gott bedeutete: die Sinnenlust! Nun
geh in die Verdammnis ohne Ende!"
Wer weint? Niemand? Ihr sagt,
niemand? Und doch, meine Seele geht einer anderen Seele entgegen, die weint!
Warum geht sie ihr entgegen? Um ihr den Bann entgegenzuschleudern, sie sei
eine Dirne? Nein! Weil ihre Seele mir leid tut. Alles in mir empfindet Abscheu
vor ihrem widerlichen,
22
durch Anstrengungen in der
Unzucht mit Schweiß bedeckten Körper.
Oh, Vater! Vater! Auch für diese
Seele habe ich Fleisch angenommen und den Himmel verlassen, um ihr und ihrer
vielen Schwesterseelen Erlöser zu sein. Warum sollte ich dieses umherirrende
Schaf nicht zurückholen und in den Schafstall bringen, es reinigen, mit der
Herde vereinigen, auf die Weide führen und ihm eine Liebe schenken, vollkommen
wie nur meine Liebe ist, und so ganz anders als jene Liebschaften, die bis
anhin für sie den Namen Liebe trugen und doch nur Haß waren; eine mitfühlende,
vollkommene und zarte Liebe, damit sie nicht mehr der vergangenen Zeit
nachtrauere, oder ihr nur nachtrauere, weil sie sich sagen muß: "Zu viele Tage
habe ich verloren fern von dir, Ewige Schönheit. Wer gibt mir die versäumte
Zeit zurück? Wie kann ich in dem kurzen Lebensrest von dem kosten, was ich
verkostet hätte, wenn ich rein geblieben wäre?"
Aber weine nicht, von aller Gier
der Welt getretene Seele. Höre, du bist ein schmutziger Lumpen, doch du kannst
wieder zu einer Blume werden. Du bist ein Misthaufen, doch du kannst zum
Blumenbeet werden. Du bist ein unreines Tier, doch du kannst wieder zum Engel
werden. Einmal warst du es schon. Du hast auf blumigen Wiesen getanzt, als
Rose unter Rosen, frisch wie sie und duftend in deiner Jungfräulichkeit. Du
hast freudig deine Kinderlieder gesungen, und dann bist du zur Mutter und zum
Vater gesprungen und hast zu ihnen gesagt: "Ich liebe euch", und der
unsichtbare Schutzengel, den jedes Geschöpf an seiner Seite hat, erfreute sich
an deiner reinen, himmelblauen Seele...
Und dann? Warum? Warum hast du
dir die Flügel der kindlichen Unschuld ausgerissen? Warum hast du das Herz
eines Vaters und einer Mutter mit Füßen getreten, um anderen, zweifelhaften
Liebeleien entgegenzueilen? Warum hast du deine lautere Stimme verlogenen
Phrasen der Leidenschaft geliehen? Warum hast du den Stengel der Rose geknickt
und dich selbst verletzt?
Bereue, Tochter Gottes! Die Reue
erneuert, die Reue reinigt, die Reue läutert. Könnte dir der Mensch nicht mehr
verzeihen? Könnte es dein Vater nicht mehr? Doch Gott kann es! Denn die Güte
Gottes ist unvergleichbar mit menschlicher Güte, und seine Barmherzigkeit ist
unendlich größer als die menschliche Erbärmlichkeit. Achte dich selbst und
mache deine Seele durch ein anständiges Leben wieder würdig. Rechtfertige dich
vor Gott, indem du nicht mehr gegen deine Seele sündigst. Erwirb dir einen
guten Ruf bei Gott. Das ist es, was zählt! Du bist das Laster! Werde die
Sittsamkeit, werde ein Opfer, werde Märtyrerin deiner Reue. Du hast dein Herz
martern können, um deinem Fleisch den Genuß zu gewähren. Nun martere dein
Fleisch, um deinem Herzen den ewigen Frieden zu schenken.
Gehe! Geht nun alle! Jeder mit
seiner Last und seinen Gedanken und denkt darüber nach. Gott erwartet alle und
weist keinen von jenen
23
zurück, die reumütig sind. Der
Herr möge euch sein Licht schenken, damit ihr eure Seelen zu erkennen
vermöget. Gehet hin.»
Viele entfernen sich in Richtung
des Dorfes. Andere treten ins Haus. Jesus geht zu den Kranken und heilt sie.
Eine Gruppe von Männern steht
plaudernd in einer Ecke. Da sie verschiedene Ansichten vertreten, reden und
gestikulieren sie heftig. Einige beschuldigen Jesus, andere verteidigen ihn.
Wiederum andere ermahnen diese und jene zu reiferem Urteil. Die Erregtesten
wählen einen Mittelweg, vielleicht weil es nur wenige sind im Vergleich zu den
anderen Gruppen, und gehen zu Petrus, der zusammen mit Simon die nun
entbehrlichen Bahren dreier Geheilter aus dem Schuppen trägt, der zur
Pilgerherberge geworden ist. Sie reden ihn vorlaut an: «Mann von Galiläa,
höre!»
Petrus wendet sich um und schaut
sie an wie seltene Tiere. Er sagt nichts, doch sein Gesicht spricht Bände.
Simon wirft nur einen Blick auf die fünf Aufgeregten, geht hinaus und überläßt
sie ihrem Gespräch.
Einer der fünf fährt weiter: «Ich
bin Samuel, der Schriftgelehrte, dieser ist mein Kollege Sadoch, dieser hier
ist der Jude Eleazar, sehr bekannt und einflußreich, dieser der wohlbekannte
Älteste Callascebona und dieser Nahum. Verstehst du! Nahum!» Und der Ton
seiner Stimme wird beinahe pathetisch.
Petrus macht eine leichte
Verneigung bei jedem Namen, doch zum Schluß bleibt er auf halbem Wege und sagt
mit höchster Gleichgültigkeit: «Ich weiß nicht... nie gehört... Ich verstehe
nicht.»
«Blöder Fischer, du müßtest
wissen, wer der Vertrauensmann des Annas ist!»
«Ich kenne Annas nicht, ich kenne
nur viele Frauen mit dem Namen Anna... Eine Unmenge in Kapharnaum heißen auch
Anna. Aber ich weiß nicht, welchem Annas dieser hier den Vertrauensmann
spielt.»
«Dieser? Mir sagt man "dieser" ?
!»
«Aber was soll ich dir denn
sagen? Esel oder Vogel? Als ich zur Schule ging, hat mir der Lehrer
beigebracht, "dieser" zu sagen, wenn ich von einem Mann spreche, und wenn ich
nicht irre, bist du ein Mann.»
Der Mann tut, als ob ihn diese
Worte quälten. Der andere, der zuerst gesprochen hat, erklärt: «Aber Annas ist
der Schwiegervater des Kaiphas!»
«Ach so, nun verstehe ich. Und
was weiter?»
«Nun, du sollst wissen, daß wir
entrüstet sind.»
«Über was? Das Wetter? Ich auch.
Zum drittenmal muß ich schon das Gewand wechseln, und jetzt habe ich nichts
Trockenes mehr anzuziehen.»
«Spiel nicht den Dummen!»
«Den Dummen? Das stimmt doch!
Aber wenn ihr nicht über das Wetter verärgert seid, über was dann? Die Römer?»
24
«Über deinen Meister, den
falschen Propheten!»
«Halt, lieber Samuel. Nimm dich
in acht, wenn ich wach werde, dann bin ich wie der See. Von der Windstille zum
Gewitter brauche ich nur einen Augenblick. Paß auf, was du sagst!»
Auch die Söhne des Zebedäus und
des Alphäus sind nun hereingekommen und mit ihnen Iskariot und Simon; sie
umringen Petrus, der immer lauter schreit.
«Faß nicht mit deinen
plebejischen Händen die Großen Sions an!»
«Oh, welch feine Herren! Und ihr
rührt mir den Meister nicht an, sonst landet ihr im Brunnen, und zwar sofort,
um euch innen und außen ganz tüchtig zu reinigen.»
«Ich möchte die Gelehrten des
Tempels darauf aufmerksam machen, daß dieses Haus Privatbereich ist», sagt
Simon ruhig. Iskariot beteuert: «Und daß der Meister, dafür kann ich bürgen,
für das Haus eines anderen, besonders für das Haus des Herrn, immer die größte
Ehrfurcht hat. Dieselbe Ehrfurcht werde auch Seinem Zuhause entgegengebracht.»
«Schweige, du hinterhältiger
Wurm!»
«Hinterhältig eben darum! Ihr
habt mich angeekelt, und daher bin ich dorthin gegangen, wo es nicht ekelhaft
ist. Gebe Gott, daß das Zusammensein mit euch mich nicht gänzlich verdorben
hat.»
«Macht es kurz; was wollt ihr?»
fragt Jakobus des Alphäus, trocken.
«Wer bist du denn?»
«Ich bin Jakobus des Alphäus, und
Alphäus des Jakob, und Jakob des Matan, und Matan des Eleazar, und wenn du
willst, sage ich dir den ganzen Stammbaum, bis zum König David, von dem ich
abstamme, und dazu bin ich der Vetter des Messias. Daher bitte ich dich, mit
mir als dem Nachkommen des königlichen Geschlechts und der jüdischen Rasse zu
sprechen, wenn es deinen Hochmut anekelt, mit einem ehrlichen Israeliten zu
reden, der Gott besser kennt als Gamaliel und Kaiphas. Rede also!»
«Dein Meister und Verwandter läßt
sich Dirnen nachfolgen. Jene Verschleierte dort ist eine Dirne. Ich habe sie
wiedererkannt, als sie Gold verkaufte. Sie ist die dem Schammai entflohene
Geliebte; sie entehrt ihn.»
«Wem? Schammai, dem Rabbi? Dann
muß sie schon eine alte Motte und daher ungefährlich sein», spottet Iskariot.
«Schweig, Verrückter! Von
Schammai des Elchi, des Bevorzugten von Herodes!»
«Ach so, anscheinend liebt sie
ihren Schatz nicht mehr. Schließlich war es ja seine Geliebte, nicht deine.
Warum regst du dich dann so auf ?» Judas Iskariot antwortet überaus spöttisch.
«Mann, glaubst du nicht, daß du
dich entehrst, wenn du den Spion machst?» fragt Judas des Alphäus. «Denkst du
nicht, daß derjenige sich entehrt, der sich erniedrigt, zu sündigen, und nicht
jener, der versucht, die Sünder wieder aufzurichten? Welche Unehre fällt auf
meinen Meister
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und Bruder, wenn er mit seiner
Stimme auch jene zu erreichen versucht, deren Ohren vom Geifer der Unzüchtigen
Sions entweiht worden sind?»
«Die Stimme!
Ha, ha, ha... Er ist dreißig Jahre alt, dein Meister und Vetter, und er
ist nur ein größerer Heuchler als die anderen. Du und ihr alle, habt ihr einen
guten Schlaf bei Nacht?»
«Unverschämte Schlange! Hinaus
oder ich erwürge dich!» schreit Petrus, und Jakobus und Johannes unterstützen
ihn, während Simon sich darauf beschränkt zu sagen: «Schande! Deine Heuchelei
ist so groß, daß sie aufstößt und überläuft und schleimig ist wie eine
Schnecke auf einer reinen Blume. Hinaus, und werde ein Mensch, denn jetzt bist
du nur Geifer. Ich erkenne dich, Samuel. Du bist immer noch der Gleiche. Gott
möge dir verzeihen. Aber verschwinde aus meinen Augen!»
Doch während Iskariot und Jakobus
des Alphäus den so wütenden Petrus festhalten, donnert Judas Thaddäus, der
mehr denn je dem Vetter gleicht, von dem er in diesem Augenblick das blaue
Aufleuchten in den Augen und die würdevolle Haltung hat: «Wer den Schuldlosen
entehrt, entehrt sich selbst. Die Augen und die Zunge hat Gott geschaffen, um
sie in Heiligkeit zu gebrauchen. Der Verleumder schändet und erniedrigt sie,
indem er sie zu Untaten mißbraucht. Ich will mich nicht selbst beschmutzen,
indem ich durch eine gemeine Tat deinen weißen Haaren Schmach antuhe. Aber
vergiß nicht: die Bösen hassen gute Menschen, und der Törichte tobt seinen
Unmut aus, ohne auch nur zu überlegen, daß er sich dadurch verrät. Wer in der
Finsternis lebt, verwechselt den blühenden Zweig mit einer Schlange. Doch wer
im Licht lebt, sieht die Dinge, wie sie sind und verteidigt sie aus Liebe zur
Gerechtigkeit, wenn sie verachtet werden. Wir leben im Licht. Wir sind das
edle und keusche Geschlecht der Kinder des Lichtes, und unser Oberhaupt ist
der Heilige, der weder Weib noch Sünde kennt. Wir folgen ihm nach und
verteidigen ihn gegen seine Feinde, für die wir, wie er es uns gelehrt hat,
keinen Haß, sondern nur Gebete haben. Lerne, o Greis, von einem Jüngling, der
reif geworden ist, weil er die Weisheit zur Lehrerin hat, auf daß du nicht
voreilig seiest im Reden und unfähig, Gutes zu tun. Geh und berichte dem, der
dich gesandt hat, daß nicht im entehrten Haus auf dem Berg Moriah, sondern in
dieser bescheidenen Wohnung Gott in seiner Herrlichkeit thront. Leb wohl!»
Die fünf Männer wagen es nicht,
etwas einzuwenden und entfernen sich.
Die Jünger beraten. Sollen sie es
Jesus sagen oder nicht ? Jesus weilt immer noch bei den geheilten Kranken. Ja,
es ihm sagen! Es ist besser so!
Sie gehen zu ihm, rufen ihn und
erzählen ihm alles. Jesus lächelt ruhig und antwortet: «Ich danke euch für die
Verteidigung; doch was wollt ihr? Ein jeder gibt das, was er hat.»
«Aber ein wenig Recht haben sie.
Man hat Augen im Kopf, um zu sehen, und viele sehen. Sie ist immer hier
draußen, wie ein Hund. Sie schadet dir», sagen einige.
26
«Laßt sie in Ruhe. Nicht sie wird
der Stein sein, der mein Haupt treffen soll, und wenn sie gerettet wird, dann
ist die Freude darüber einen Tadel wert.»
Alles endet mit dieser gütigen
Antwort.
163. DIE VERSCHLEIERTE BEIM
"TRÜGERISCHEN" GEWÄSSER"
Das Wetter ist so schauerlich,
daß kein Pilger kommen konnte. Es gießt in Strömen, und der Vorplatz hat sich
in einen Tümpel verwandelt, auf dem trockene Blätter schwimmen, die wer weiß
woher stammen und vom Wind bis hierher geweht worden sind. Der Wind pfeift und
rüttelt an Angeln und Türen. In der Küche, in der es dunkler als gewöhnlich
ist, weil man, um das Eintreten des Regenwassers zu verhindern, die Türe
geschlossen halten muß, und die voll von Rauch ist, da ihn der Wind
zurückdrängt, wird man geräuchert, die Augen tränen und der Husten reizt.
«Da hatte Salomon recht», belehrt
Petrus. «Drei Dinge sind es, die den Mann vertreiben: ein zänkisches Weib –
das habe ich in Kapharnaum gelassen, damit es sich mit den anderen
Schwiegersöhnen zanken kann, ein Kamin, der den Rauch nicht abziehen läßt, und
ein Dach, das nicht wasserdicht ist... und diese beiden haben wir. Doch morgen
werde ich mich um den Kamin kümmern. Ich werde aufs Dach steigen, und du, du
und du (Jakobus, Johannes und Andreas), ihr werdet mit mir kommen. Mit
Schieferplatten werden wir den Kamin aufstocken und ihn mit einem Dach
versehen.»
«Und wo willst du die
Schieferplatten hernehmen ?» fragt Thomas.
«Vom Vordach. Wenn es dort
regnet, ist es kein Weltuntergang. Aber hier. Tut es dir leid, daß sich deine
Speisen nicht mehr mit Rußtropfen schmücken?»
«Stelle dir vor! Wenn es uns
gelingen würde... Schau, wie ich aussehe... es regnet mir auf den Kopf, wenn
ich hier beim Feuer stehe.»
«Du gleichst einem ägyptischen
Ungeheuer», sagt Johannes lachend.
Es stimmt, Thomas hat bizarre
Kommas in seinem vollen, gutmütigen Gesicht. Der erste, der darüber lacht, ist
er selbst, der immerfrohe, und auch Jesus muß lachen, denn während Thomas
spricht, fällt ihm ein dicker, schwarzer Rußtropfen auf die Nase und
hinterläßt einen schwarzen Fleck.
«Du bist ein Fachmann in der
Wettervorhersage. Was sagst du? Wird es noch lange so weiterregnen ?» wird
Petrus von Iskariot gefragt, der seit einigen Tagen ganz verändert ist.
27
«Ich kann es dir gleich sagen.
Ich werde den Astrologen spielen», sagt Petrus, geht zur Türe, öffnet sie ein
klein wenig und steckt den Kopf und eine Hand hinaus. Er stellt fest:
«Niedriger Südwind, heiß und schwül... Uff! Wenig zu...»
Petrus schweigt plötzlich, kommt
leise herein, indem er die Türe einen Spalt offen läßt und hinausguckt.
«Was ist los ?» fragen sie zu
dritt oder viert.
Aber Petrus deutet ihnen mit der
Hand an, daß sie schweigen sollen. Er schaut noch einmal hinaus, dann sagt er
flüsternd: «Jene Frau ist da. Sie hat Wasser am Brunnen getrunken und ein
vergessenes Holzbündel aufgehoben. Es ist ganz naß und wird kaum brennen. Nun
geht sie. Ich werde ihr nachgehen. Ich möchte sehen...», und Petrus geht
vorsichtig hinaus.
«Wo hat sie wohl Unterschlupf
gefunden, da sie immer hier ist?» fragt Thomas.
«Und dazu bei diesem Wetter!»
sagt Matthäus.
«Ins Dorf geht sie ganz bestimmt,
denn auch vorgestern hat sie dort Brot gekauft», sagt Bartholomäus.
«Sie hat eine schöne Ausdauer,
immer verschleiert zu bleiben», bemerkt Jakobus des Alphäus.
«Oder einen triftigen Grund
dafür», ergänzt Thomas.
«Aber ist sie wirklich das, was
der Jude gestern gesagt hat ?» fragt Johannes. «Die sind doch immer so
verlogen.»
Jesus schweigt, als ob er taub
wäre. Alle sehen ihn an, in der Gewißheit, daß er es weiß. Aber er schnitzt an
einem Stück weichen Holzes herum, das sich langsam in eine große Gabel
verwandelt, mit der man das Gemüse aus dem kochenden Wasser heben kann. Als er
damit fertig ist, bietet er seine Arbeit Thomas an, der sich wirklich mit Leib
und Seele für den Küchendienst eingesetzt hat.
«Du bist wirklich tüchtig,
Meister. Aber wirst du uns jetzt sagen, wer sie ist ?»
«Eine Seele. Für mich seid ihr
alle Seelen. Nichts anderes. Männer Frauen, Greise, Kinder: Seelen, Seelen,
Seelen! Blütenweiße Seelen die kleinen Kinder, himmelblaue Seelen die Kinder,
rosafarbene Seelen die Jugendlichen, goldene Seelen die Gerechten,
pechschwarze Seelen die Sünder. Nur Seelen, nur Seelen! Ich lächle den reinen
Seelen zu, denn mir scheint, dabei den Engeln zuzulächeln, und ich ruhe mich
aus unter den himmelblauen und rosafarbenen Blumen der guten Jugendlichen; ich
erfreue mich an den wertvollen Seelen der Gerechten, und ich bemühe mich
schmerzhaft, die Seelen der Sünder wieder wertvoll und strahlend zu machen.
Die Gesichter? Die Körper? Sie sind nichts... Ich kenne euch und erkenne euch
wieder an euren Seelen.»
«Was für eine Seele ist denn
sie?» möchte Thomas wissen.
«Bestimmt keine so neugierige
Seele wie die meiner Freunde hier. Denn
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sie fragt nichts, erbittet nichts
und geht und kommt, ohne zu reden oder herumzublicken.»
«Ich hatte in ihr eine Dirne oder
eine Aussätzige vermutet, doch dann habe ich meine Meinung geändert, Meister.
Wenn ich dir etwas erzähle, wirst du mich dann nicht tadeln?» fragt Iskariot
und setzt sich an den Knien Jesu nieder, ganz verändert, demütig, gut, sogar
schöner in seinem ergebenen Ausdruck, als wäre er nicht mehr der bombastische,
wichtigtuerische Judas.
«Ich werde dich nicht tadeln.
Sprich!»
«Ich weiß, wo sie wohnt. Ich bin
ihr eines Abends gefolgt und habe dabei so getan, als wollte ich Wasser am
Brunnen holen. Sie kommt immer bei anbrechender Dunkelheit zum Brunnen. Eines
Morgens habe ich am Boden eine silberne Haarspange gefunden, am Brunnenrande,
und habe sofort verstanden, daß die Frau sie verloren haben mußte. Nun, sie
hält sich in einer kleinen Holzhütte im Walde auf. Vielleicht dient diese
Hütte den Landarbeitern. Sie ist halb vermodert, und die Frau hat selbst
darüber Reiser gelegt, um ein Dach zu machen. Vielleicht braucht sie das
Reisigbündel auch dazu. Es ist ein elendes Loch... Ich verstehe nicht, wie man
darin hausen kann. Es könnte vielleicht einem großen Hund oder einem ganz
kleinen Esel genügen. Es war gerade eine Mondnacht, ich konnte gut sehen. Die
Hütte ist ganz im Gebüsch versteckt und innen leer, es gibt keine Türe.
Deshalb habe ich meine Meinung geändert und verstanden, daß sie keine
Verbrecherin ist.»
«Du hättest dies nicht tun
dürfen. Aber sei ehrlich: mehr hast du nicht getan ?»
«Nein, Meister. Ich hätte sie nur
gerne gesehen; denn seit Jericho fällt sie mir schon auf, und mir scheint, daß
ich sie am Schritt erkenne, so leicht und schnell bewegt sie sich. Auch ihre
Gestalt muß geschmeidig und schön sein. Ja, man kann dies vermuten, trotz all
ihrer vielen Kleider. Aber ich habe nicht gewagt, sie auszuspionieren, während
sie am Boden ruhte. Vielleicht nimmt sie dabei den Schleier ab, doch ich habe
sie respektiert...»
Jesus betrachtet Judas ganz fest
und sagt dann: «Und du hast dabei gelitten. Doch du hast die Wahrheit gesagt.
Und ich will dir sagen, daß ich mit dir zufrieden bin. Das nächste Mal wird es
dich noch weniger kosten, gut zu sein. Alles liegt am ersten Schritt. Brav,
Judas», und er liebkost ihn.
Nun kommt Petrus herein. «Aber
Meister! Jene Frau ist verrückt geworden. Weißt du, wo sie sich aufhält? Ganz
nahe am Flußufer, in einer Holzhütte im dichten Gebüsch. Vielleicht hat dieser
Unterschlupf einmal einem Fischer oder einem Holzfäller gedient... Wer weiß.
Doch ich hätte nie gedacht, daß an diesem feuchten, in einen Graben
eingesunkenen und unter Gestrüpp begrabenen Ort eine arme Frau sein könnte.
Ich habe sie
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gefragt: "Sprich und antworte
aufrichtig: Bist du aussätzig?" Sie hat mir mit einem Flüstern geantwortet:
"Nein." "Schwöre es!" "Ich schwöre es!" "Paß auf, wenn du aussätzig bist und
es nicht eingestehst und in die Nähe des Hauses kommst und ich erfahre, daß du
unrein bist, dann lasse ich dich steinigen ... Aber wenn du verfolgt wirst,
weil du eine Diebin oder eine Mörderin bist, und hier wohnst, weil du Angst
vor uns hast, dann brauchst du dich nicht zu fürchten. Aber jetzt, heraus da!
Siehst du nicht, daß du im Wasser stehst ? Hast du Hunger ? Frierst du ? Du
zitterst ja. Ich bin alt, siehst du? Ich mache dir nicht den Hof. Ich bin alt
und anständig. Daher höre auf mich." So habe ich zu ihr gesprochen. Aber sie
wollte nicht kommen. Wir werden sie tot auffinden, denn sie stand wirklich im
Wasser.»
Jesus ist nachdenklich. Er
betrachtet die zwölf Gesichter, die ihn aufmerksam beobachten. Dann fragt er:
«Was meint ihr, daß geschehen soll?»
«Aber Meister, du mußt
entscheiden.»
«Nein, ich möchte eure Meinung
hören. Es ist eine Angelegenheit, die auch eure Beurteilung erfordert, und ich
darf eurem Recht dazu keine Gewalt antun.»
«Im Namen der Barmherzigkeit sage
ich, man kann sie nicht dort lassen», sagt Simon, und Bartholomäus: «Ich würde
vorschlagen, ihr heute den Raum der Pilger zur Verfügung zu stellen. Er ist
für die Pilger da, also kann auch sie ihn benützen.»
«Sie ist ein Mensch wie alle
anderen», bemerkt Andreas.
«Außerdem kommt heute niemand»,
fügt Matthäus hinzu.
«Ich würde vorschlagen, sie heute
zu beherbergen und es dann morgen dem Verwalter zu sagen. Er ist ein guter
Mensch», sagt Judas Thaddäus.
«Du hast recht. Gut so. Er hat
auch viele leere Ställe. Ein Stall ist immer noch ein Königspalast im
Vergleich zu diesem eingesunkenen Kahn», ruft Petrus aus.
«Geh also und sag es ihr»,
ermuntert ihn Thomas.
«Die Jungen haben noch nicht
gesprochen», bemerkt Jesus.
«Mir ist recht, was du tust»,
sagt der Vetter Jakobus, und der andere Jakobus gleichzeitig mit seinem
Bruder: «Uns auch.»
«Ich befürchte nur den
verhängnisvollen Fall, daß irgendein Pharisäer unvermutet daherkäme», sagt
Philippus.
«Oh, auch wenn wir in die Wolken
gingen, glaubst du, daß sie uns mit Anklagen verschont lassen würden? Sie
klagen Gott nur nicht an, weil er fern ist. Wenn sie ihn aber in der Nähe
hätten, wie dies bei Abraham, Jakob und Moses der Fall war, dann würden sie
auch ihm Vorwürfe machen... Wer ist denn für sie ohne Schuld?» sagt Judas von
Kerioth.
«Also dann geht und sagt ihr, daß
sie im Pilgerraum Obdach nehmen soll. Geh du, Petrus, mit Simon und
Bartholomäus. Ihr seid älter und
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werdet sie weniger beängstigen.
Sagt ihr, sie bekäme ein warmes Essen und ein trockenes Gewand. Wir haben das
von Isaak zurückgelassene. Seht ihr, wie alles nützlich ist? Es ist ein
Frauengewand, das einem Mann gegeben worden ist.»
Die Jünger lachen, denn über das
genannte Kleid muß schon manchmal gescherzt worden sein.
Die drei Älteren gehen... und
kehren bald wieder zurück.
«Es war nicht einfach, aber
schließlich ist sie gekommen. Wir haben ihr geschworen, daß wir sie nie stören
werden. Nun will ich ihr das Stroh und das Gewand bringen. Gib mir Gemüse und
Brot. Sie hat heute noch nichts gegessen. Natürlich, wer ist denn auch bei
einer solchen Sintflut unterwegs.» Der gute Petrus geht mit seinen Schätzen
hinaus.
«Und nun ein Befehl, der für alle
gilt: Unter keinen Umständen geht ihr in den Pilgerschlafraum. Morgen wollen
wir weiter sehen. Gewöhnt euch daran, das Gute zu tun um des guten Zweckes
willen, ohne Neugier und ohne Verlangen, darin eine Ablenkung oder anderes zu
finden. Seht ihr? Ihr habt euch beklagt, daß heute nichts zu tun sei. Wir
haben dem Nächsten unsere Liebe entgegengebracht; was hätten wir Größeres
vollbringen können? Wenn sie, und dies ist sicher, unglücklich ist, kann
unsere Hilfe für sie Erholung, Wärme und Schutz sein, die zusammen wertvoller
sind als ein wenig Nahrung, ein ärmliches Gewand und das feste Dach, das wir
ihr gegeben haben! Wenn sie eine Schuld auf sich geladen hat, eine Sünderin
ist, ein Geschöpf auf der Suche nach Gott, wird dann unsere Liebe nicht zur
schönsten Lehre, zum klarsten Hinweis, um sie auf den Weg zu Gott zu führen?»
Petrus kommt ganz leise zurück
und hört seinem Meister zu.
«Seht, Freunde. Israel hat viele
Lehrer, und sie reden und reden... Doch die Seelen bleiben, wie sie sind.
Warum? Weil die Seelen die Worte der Meister hören, aber auch ihre Werke
sehen. Diese Werke jedoch zerstören ihre Worte, und die Seelen bleiben, was
sie sind, wenn sie nicht noch schlimmer werden. Aber wenn ein Lehrer auch tut,
was er sagt, und in allen seinen Werken heiligmäßig handelt, auch in den
einfachsten materiellen Dingen, z.B. wenn er das Brot reicht, ein Kleid
schenkt, einen Unterschlupf für den notleidenden Nächsten beschafft, dann
bewirkt er, daß die Seelen Fortschritte machen und zu Gott gelangen; denn
seine Taten bekunden den Brüdern: Es gibt einen Gott, und Gott ist hier! Oh,
die Liebe! Wahrlich, ich sage euch, wer liebt, rettet sich selbst und die
anderen.»
«Du sagst es gut, Meister. Jene
Frau hat mir gesagt: "Der Retter sei gepriesen und der, der ihn gesandt hat,
und ihr alle mit ihm" ' und mir armem Kerl wollte sie die Füße küssen, während
sie unter ihrem dichten Schleier weinte... Hoffentlich kommt nicht irgendein
Nachtschwärmer von Jerusalem, sonst... Wer würde uns dann retten?»
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«Unser Gewissen rettet uns vor
dem Gericht unseres Vaters und das ist genug», sagt Jesus. Er setzt sich an
den Tisch, nachdem er die Speisen gesegnet und dargebracht hat.
Alles ist zu Ende.
164. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST DIE FEIERTAGE HEILIGEN»
Das Wetter ist nicht mehr so
ungut, und obgleich es immer noch regnet, erlaubt es den Leuten wieder, zum
Meister zu kommen.
Jesus steht abseits und hört zwei
oder drei Personen an, die ihm Wichtiges anzuvertrauen haben, dann aber wieder
beruhigt an ihren Platz zurückkehren. Er segnet auch ein Knäblein, das seine
kleinen Beine so unglücklich gebrochen hat, daß kein Arzt es behandeln will
und alle sagen: «Es ist unmöglich, sie sind oben, bei der Wirbelsäule,
gebrochen,» erklärt die Mutter ganz in Tränen aufgelöst: «Es ist mit seinem
Schwesterchen auf der Dorfstraße herumgesprungen. Da ist ein Herodianer mit
seinem Wagen und den Pferden im Galopp dahergefahren, und das Kind kam unter
den Wagen. Zuerst habe ich gedacht, es wäre tot. Doch es ist schlimmer. Du
siehst es selbst. Ich lasse es auf dem Brett liegen, weil man nichts anderes
tun kann. Es leidet, leidet, denn der Knochen ist zerstört. Und wenn der
Knochen nicht mehr schmerzen wird, dann wird es dennoch leiden, weil es nur
noch auf dem Rücken liegen kann.»
«Tut es sehr weh?» fragt Jesus
mitleidig den weinenden Knaben.
«Ja.»
«wo?»
«Hier und hier», und er berührt
mit seinen unsicheren Händchen die beiden Hüftknochen. «Und dann hier und
hier», und er zeigt nach dem Rücken und den Schultern. «Das Bett ist hart, und
ich möchte mich bewegen, ich...», und er weint ganz verzweifelt.
«Möchtest du auf meine Arme
kommen? Willst du? Ich will dich mitnehmen dort hinauf, von wo du alle
beobachten kannst, während ich rede...»
«Ja...» (Dieses Ja ist voller
Verlangen.) Das arme Kind streckt bittend die Ärmchen aus.
«Komm also!»
«Aber das ist doch nicht möglich.
Meister, er kann doch nicht. Er hat zu starke Schmerzen... Ich darf ihn nicht
einmal beim Waschen bewegen...»
«Ich werde ihm nicht weh tun...»
«Aber der Arzt...»
32
«Der Arzt ist der Arzt. Ich bin
ich! Warum bist du gekommen?»
«Weil du der Messias bist»,
antwortet die Frau und wird weiß und rot im Gesicht, hin- und hergerissen
zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
«Also? Komm, Kleiner!» Jesus legt
einen Arm unter die leblosen Beinchen, den anderen unter die Schultern, hebt
das Kind hoch und fragt: «Tut es weh? Nein? Gut, dann sag Mama Lebewohl, und
wir wollen gehen.»
Dann geht er mit seiner Last
durch die Menge, die Platz macht, und erreicht eine Art von Podest, das sie
für ihn errichtet haben, damit ihn alle sehen können, auch jene im Hof. Er
läßt sich einen Hocker geben und setzt sich nieder, nimmt das Kind auf die
Knie und fragt es: «Gefällt es dir? Nun sei brav und höre auch du gut zu», und
Jesus beginnt zu sprechen. Seine Rede begleitet Jesus mit Gebärden der rechten
Hand, während er mit der Linken das Kind stützt, das die Menschen beobachtet,
glücklich darüber, etwas sehen zu können. Es lächelt der Mutter zu, die hinten
im Raum in bangender Hoffnung zittert. Das Kind spielt mit der Kordel am
Gewand Jesu und mit dem weichen, blonden Bart des Meisters und einer Locke
seiner langen Haare.
«Es steht geschrieben: "Deine
Arbeit sei ehrlich und den siebten Tag widme dem Herrn und deiner Seele." Dies
ist mit dem Gebot der Sabbatruhe gesagt worden.
Der Mensch ist nicht mehr als
Gott. Aber Gott vollendete seine Schöpfung in sechs Tagen und ruhte am
siebenten Tag. Weshalb erlaubt sich der Mensch, dem Beispiel des Vaters nicht
zu folgen und seinem Gebot nicht zu gehorchen? Ist es ein törichter Befehl?
Nein! Wahrlich, es ist ein heilsamer Befehl, sowohl in körperlicher, als auch
in moralischer und geistiger Hinsicht.
Der ermüdete Körper des Menschen
braucht Ruhe, wie derjenige jedes erschaffenen Wesens. Der Ochse, der auf dem
Felde gebraucht wird, der Esel, der als Lasttier nützlich ist, das Schaf, das
uns das Lamm gebärt und die Milch gibt, sie alle ruhen sich auch aus, und wir
lassen sie ruhen, um sie nicht zu verlieren. Auch die Erde des Feldes ruht,
damit sie sich in den Monaten, in denen sie ohne Saat bleibt, mit den Salzen,
die mit dem Regenwasser fallen oder aus dem Boden stammen, nähren und sättigen
kann. Sie alle ruhen, auch ohne unsere Einwilligung zu erbitten, die Tiere und
Pflanzen, die den ewigen Gesetzen einer weisen Erneuerung gehorchen. Warum
will denn der Mensch weder den Schöpfer nachahmen, der am siebten Tage ruhte,
noch die ihm unterlegene Schöpfung, sei es die Pflanzen- oder die Tierwelt,
die sich nach diesen Gesetzen zu richten weiß und ihnen gehorcht, ohne ein
anderes Gebot erhalten zu haben, als dasjenige, welches in ihrem Instinkt
verankert ist?
Es gibt auch eine sittliche
Ordnung außer der physischen. Sechs Tage lang dient der Mensch allem und
allen. Wie ein Faden im Triebwerk des
33
Webstuhls geht er auf und ab,
ohne je sagen zu können: "Jetzt beschäftige ich mich mit mir selbst und mit
meinen Lieben. Ich bin Vater, und heute gehöre ich meinen Kindern. Ich bin
Bräutigam, und heute widme ich mich meiner Braut. Ich bin Bruder und freue
mich an meinen Brüdern. Ich bin Sohn und kümmere mich heute um meine alten
Eltern."
Es ist ein Befehl für unsere
Seele. Die Arbeit ist heilig, noch heiliger ist die Liebe, am heiligsten ist
Gott. Dessen eingedenk soll wenigstens ein Tag der Woche unserem guten und
heiligen Vater geschenkt werden, der uns das Leben gegeben hat und es uns
erhält. Warum ihn weniger gut behandeln als den irdischen Vater, die Kinder,
die Brüder, die Braut, unseren eigenen Körper? Der Tag des Herrn gehöre ihm!
Wie angenehm ist es, sich am Abend nach der Tagesarbeit in einem Haus voller
Liebe auszuruhen. Wie angenehm, es nach langer Reise wieder zu erreichen.
Warum sollte man nach sechs Tagen der Arbeit nicht das Haus des Vaters
aufsuchen? Warum nicht wie der Sohn sein, der von einer sechstägigen Reise
zurückkehrt und sagt: "Siehe, da bin ich, um meinen Ruhetag mit dir zu
verbringen "?
Aber nun hört gut zu. Ich habe
gesagt: "Deine Arbeit sei ehrlich!"
Ihr wißt, daß unser Gesetz die
Nächstenliebe vorschreibt. Die Redlichkeit der Arbeit gehört zu dieser
Nächstenliebe. Der redliche Mensch tätigt keine betrügerischen Geschäfte,
unterschlägt dem Arbeiter nicht den gerechten Lohn und nützt ihn nicht auf
sündhafte Weise aus. Im Bewußtsein, daß der Diener und der Arbeiter Leib und
Seele haben wie er, behandelt er ihn nicht wie einen leblosen Stein, den man
mit dem Eisen schlagen oder mit dem Fuß stoßen darf. Wer nicht so handelt, der
liebt den Nächsten nicht und sündigt daher in den Augen Gottes. Verflucht ist
sein Gewinn, selbst wenn er davon die Abgabe für den Tempel zahlt.
Oh, welch verlogene Gabe! Wie
kann er es wagen, sie zu den Füßen des Altares niederzulegen, wenn sie trieft
vom Blut und den Tränen des ausgebeuteten Untergebenen oder wenn sie Diebstahl
genannt werden muß, oder: Verrat am Nächsten; denn der Dieb ist ein Verräter
an seinem Mitmenschen. Wahrlich, der Feiertag ist nicht geheiligt, wenn er
nicht dazu dient, daß der Mensch sich erforscht, und wenn er nicht damit
verbracht wird, sich zu bessern und die während den sechs Tagen begangenen
Sünden wieder gutzumachen.
Ja, das ist die Heiligung des
Feiertages! Das, und nicht eine andere, rein äußerliche Handlung, die eure
Denkweise nicht um ein Jota ändert. Gott will lebendige Werke, nicht
Trugbilder von Werken.
Vorgespielter Gehorsam gegenüber
dem Gesetz ist Scheinhandlung. Scheinhandlung ist die vorgetäuschte Heiligung
des Sabbats, die Ruhe, die gehalten wird, nur um damit den Gehorsam gegenüber
dem Gesetz öffentlich kundzutun, während man die Mußestunden dazu benützt, um
34
dem Laster in der Ausschweifung
und Schlemmerei zu frönen, sowie im Überlegen, wie man in der kommenden Woche
den Nächsten ausbeuten und ihm schaden könnte.
Die Heiligung des Sabbats, also
die körperliche Ruhe, ist eine Scheinhandlung, wenn sie nicht gepaart ist mit
einer inneren, seelischen, heiligen Arbeit ehrlicher Selbsterforschung, einer
demütigen Selbsterkenntnis seiner eigenen Erbärmlichkeit, einem ernsthaften
Vorsatz, sich während der kommenden Woche besser zu verhalten.
Ihr werdet sagen: "Doch wenn man
dann von neuem in die Sünde fällt?" Was würdet ihr von einem Kinde halten,
das, weil es gefallen ist, keinen Schritt mehr machen wollte, um nicht wieder
zu fallen? Daß es ein Dummkopf ist, daß es sich nicht zu schämen braucht wegen
seiner Unsicherheit beim Gehen, denn alle sind wir unsicher gewesen, als wir
noch klein waren, und daß unser Vater uns deswegen doch geliebt hat. Wer
erinnert sich nicht, wie uns das Umfallen eine Flut mütterlicher Küsse und
väterlicher Liebkosungen eintrug?
Dasselbe tut unser allergütigster
Vater, der im Himmel ist. Er neigt sich über seinen Kleinen, der am Boden
weint, und sagt: "Weine nicht! Ich werde dich aufheben. Das nächste Mal wirst
du vorsichtiger sein. Komm in meine Arme. Da wird alles Weh vergehen, und du
wirst gestärkt, geheilt und glücklich daraus hervorgehen." Das sagt unser
Vater, der im Himmel ist. Das sage ich euch. Wenn es euch gelingen würde, den
Glauben an den Vater zu haben, würde euch alles gelingen. Einen Glauben, gebt
acht, wie jener eines Kindes! Das Kind hält alles für möglich. Es fragt nicht,
ob und wie etwas geschehen kann. Es ermißt die Tragweite eines Geschehens
nicht. Es glaubt dem, der in ihm Vertrauen erweckt, und tut, was er ihm sagt.
Seid wie die Kinder vor dem Allerhöchsten. Wie liebt er diese verirrten
Engelchen, welche die Schönheit der Erde sind! Genauso liebt er die Seelen,
die einfach, gut und rein sind wie ein Kind.
Wollt ihr den Glauben eines
Kindes sehen, um zu lernen, wie man Vertrauen haben muß? Seht! Ihr alle habt
den Kleinen bemitleidet, den ich hier an meiner Brust halte und der, entgegen
den Aussagen der Ärzte und der Mutter, beim Sitzen auf meinem Schoß nicht
geweint hat. Seht ihr? Das Kind tat schon längere Zeit nichts anderes, als Tag
und Nacht zu weinen, ohne Ruhe zu finden; hier weint es nicht. Es ist
friedlich an meinem Herzen eingeschlafen. Ich habe es gefragt: "Willst du in
meine Arme kommen?" Es hat geantwortet: "Ja", ohne an seinen elenden Zustand
zu denken, an den möglichen Schmerz, den es infolge einer Bewegung hätte
empfinden können. Es hat in meinem Antlitz Liebe gesehen und "Ja" gesagt, und
ist gekommen. Es hat keinen Schmerz mehr empfunden. Es hat sich darüber
gefreut, hier oben zu sein, alles sehen zu können, auf einen weichen Körper
gesetzt zu werden und nicht mehr auf dem harten Brett liegen zu müssen. Es hat
gelächelt, gespielt und ist mit einer Locke meiner
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Haare in den kleinen Händen
eingeschlafen. Nun will ich das Kind mit einem Kuß wecken...» und Jesus küßt
das Kind auf die braunen Härchen, und es erwacht mit einem Lächeln.
«Wie heißt du?»
«Johannes.»
«Höre, Johannes, willst du gehen?
Willst du zu deiner Mutter gehen und ihr sagen: "Der Messias segnet dich
deines Glaubens wegen?"»
«Ja, ja», und der Kleine klatscht
in die Händchen und fragt: «Du machst, daß ich gehen kann? Auf die Wiesen?
Ohne das harte Brett? Ohne die Ärzte, die mir weh tun?»
«Nicht mehr, nie mehr!»
«Oh, wie ich dich liebe!», und
das Kind wirft seine Ärmchen um den Hals Jesu und küßt ihn, und um ihn noch
besser küssen zu können, kniet es mit einem Ruck auf die Knie Jesu, und eine
Menge unschuldiger Küsse fällt auf Stirn, Augen und Wangen Jesu.
Das Kind, mit seinen bis anhin
gebrochenen Knochen, bemerkt in seiner Freude nicht einmal, daß es sich
bewegen kann. Aber der Schrei der Mutter und der Menge wecken es auf und es
blickt erstaunt um sich. Seine großen, unschuldigen Augen im abgemagerten
Gesichtlein schauen fragend. Immer noch auf den Knien, sein rechtes Ärmchen um
den Hals Jesu gelegt, fragt es vertrauensvoll, indem es auf die aufgeregten
Menschen und auf die Mutter im Hintergrund zeigt, die in einem fort:
«Johannes, Jesus, Johannes, Jesus!» ruft, «warum schreien die Leute und die
Mutter? Was haben sie denn? Bist du Jesus?»
«Ich bin es. Die Leute schreien,
weil sie froh sind, daß du wieder gehen kannst. Leb wohl, kleiner Johannes.»
Jesus küßt und segnet das Kind. «Geh zu deiner Mutter und sei lieb!»
Das Kind rutscht selbstsicher von
den Knien Jesu, rennt zur Mutter, wirft sich ihr an den Hals und sagt: «Jesus
segnet dich. Warum weinst du?»
Als die Leute sich beruhigt
haben, ruft Jesus laut: «Macht es wie der kleine Johannes, ihr, die ihr in
Sünde fallt und euch verletzt. Glaubt an die Liebe Gottes. Der Friede sei mit
euch!»
Während sich die Hosannarufe der
Menge mit dem glücklichen Weinen der Mutter vermengen, verläßt Jesus, von den
Seinen geschützt, den Raum.
Das ist das Ende.
36
165. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT TÖTEN»; TOD DES DORAS
«"Du sollst nicht töten", steht
geschrieben.
Welcher der beiden Gebotsgruppen
gehört dieses Gebot an?
"Der zweiten?" sagt ihr. Seid ihr
sicher?
Ich frage euch ebenso: Besteht
die Schuld darin, daß man sich gegen Gott oder den Getöteten versündigt? Ihr
sagt: "Gegen den Getöteten?" Seid ihr dessen sicher?
Weiterhin frage ich euch: Geht es
nur um die Sünde des Mordes? Wenn man tötet, begeht man nur diese einzige
Sünde?
"Nur diese" ' sagt ihr? Hegt
niemand einen Zweifel? Antwortet mit lauter Stimme. Einer soll für euch alle
reden. Ich warte.» Jesus beugt sich nieder, um ein kleines Mädchen zu
streicheln, das ganz nah zu ihm hingetreten ist und ihn verzückt betrachtet
und dabei vergißt, in seinen Apfel, den ihm die Mutter gegeben hat, damit es
sich ruhig verhält, zu beißen.
Ein alter, stattlicher Mann
erhebt sich und sagt: «Höre, Meister! Ich bin ein alter Synagogenvorsteher,
und man hat mich gebeten, für sie zu sprechen. So spreche ich für alle. Es
scheint mir und es scheint uns, nach Gerechtigkeit geantwortet zu haben,
dementsprechend, was man uns gelehrt hat. Ich gründe meine Sicherheit auf das
Kapitel des Gesetzes über Mord und Schläge. Doch du weißt, daß wir gekommen
sind, um belehrt zu werden, da wir in dir Weisheit und Wahrheit erkennen. Wenn
ich mich irre, dann erleuchte meine Finsternis, damit der alte Diener zu
seinem lichtumkleideten König gehen kann. Wie an mir, so handle auch an ihnen,
die zu meiner Herde gehören und mit ihrem Hirten hergekommen sind, um an den
Quellen des Lebens zu trinken.» Der Mann verneigt sich mit größter Achtung,
bevor er sich wieder setzt.
«Wer bist du, Vater?»
«Kleophas von Emmaus, dein
Diener.»
«Nicht meiner. Der Diener
desjenigen, der mich gesandt hat, denn dem Vater gebührt jeglicher Vorrang und
alle Liebe im Himmel, auf Erden und in den Herzen. Der erste, der ihm diese
Ehre erweist, ist sein Wort, das auf dem makellosen Tisch, so, wie es der
Priester mit den Opferbroten macht, die Herzen der guten Menschen nimmt und
sie aufopfert. Aber höre, Kleophas, damit du ganz erleuchtet zu Gott hingehen
kannst, wie es dein heiliger Wunsch ist:
Um die Strafwürdigkeit einer
Sünde einzuschätzen, muß man die Umstände bedenken, die ihr vorangehen, ihr
den Weg bahnen, sie entschuldigen, sie erklären. Wen habe ich erschlagen? Was
habe ich erschlagen? Wo habe ich erschlagen? Womit habe ich erschlagen? Warum
habe ich erschlagen? Wie und wann habe ich erschlagen? All das muß sich jener
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fragen, der getötet hat, bevor er
vor Gott hintritt, um ihn um Vergebung zu bitten.
"Wen habe ich getötet?"
Einen Menschen. Ich sage: Einen
Menschen. Ich bedenke und berücksichtige nicht, ob er arm oder reich, frei
oder Sklave ist. Für mich gibt es keine Sklaven oder Machthaber. Es gibt nur
Menschen, die von einem Einzigen erschaffen worden und darum alle gleich sind.
Daher sind vor der Majestät Gottes auch die mächtigsten Herrscher der Erde
Staub, und in den Augen Gottes und in meinen Augen gibt es nur ein Sklaventum:
jenes der Sünde und daher unter Satan. Das alte Gesetz unterscheidet zwischen
Freien und Sklaven und bis ins kleinste gehend unterscheidet es zwischen dem
Töten durch einen Schlag und demjenigen, das es dem Opfer erlaubt, noch ein
bis zwei Tage zu überleben. In gleicher Weise macht es einen Unterschied, ob
der Stoß oder Hieb an einer schwangeren Frau zu deren Tod führt, oder ob nur
ihre Leibesfrucht getötet wird. Das aber ist gesagt worden, als das Licht der
Vollkommenheit noch fern war. Nun ist dieses Licht unter euch und sagt:
"Jeder, der seinesgleichen tötet, sündigt." Er sündigt nicht nur gegen den
Menschen, sondern auch gegen Gott.
Was ist der Mensch? Der Mensch
ist das überlegene Geschöpf, das Gott als König über alle Schöpfung gesetzt
hat. Gott hat es nach seinem Ebenbild und seiner Ähnlichkeit erschaffen; nach
seiner Ähnlichkeit, indem er ihm die Ähnlichkeit im Geiste verlieh, nach
seinem Ebenbild, indem der Mensch die Verkörperung seiner vollendeten Absicht
ist. Schaut in die Luft, auf die Erde und in die Gewässer. Seht ihr vielleicht
ein Tier oder eine Pflanze, die, so schön sie auch sein mag, dem Menschen
gleichkommt? Das Tier läuft, ißt, trinkt, schläft, zeugt, arbeitet, singt,
fliegt, schleicht und klettert, aber es hat keine Sprache. Auch der Mensch
kann laufen und springen, und im Sprung ist er so gewandt, daß er mit dem
Vogel wetteifert; er kann schwimmen und ist dabei so behend, daß er dem Fisch
gleicht; er kann schleichen und man könnte meinen, er wäre eine Schlange; er
kann klettern wie ein Affe, er kann singen wie ein Vogel. Er kann auch zeugen
und sich vermehren. Doch überdies kann er sprechen.
Sagt nicht: "Ein jedes Tier hat
seine Sprache." O ja, das eine muht, das andere blökt, das andere wiehert, das
andere zwitschert, eines trillert und ein anderes grunzt. Doch vom ersten bis
zum letzten Rind haben sie immer das gleiche und einzige Brüllen. So wird das
Schaf bis ans Ende der Welt blöken, und der letzte Esel wird genauso schreien,
wie der erste es getan hat, und der Sperling wird stets sein kurzes Zwitschern
von sich geben, während die Lerche immer dieselbe Hymne an die Sonne und die
Nachtigall die ihre an die Sternennacht singen werden, und dies bis zum
letzten Tag der Welt, so wie sie einst den ersten Sonnenaufgang und die erste
Nacht begrüßt hat. Der Mensch hingegen hat nicht nur eine Kehle und
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eine Zunge, sondern auch ein
ganzes System von Nerven, die im Gehirn, dem Sitz des Verstandes,
zusammenkommen. Der Mensch kann neue Eindrücke erfassen, sie gedanklich
verwerten und ihnen einen Namen geben.
Adam nannte seinen Freund "Hund"
und ihn, der ihm am meisten glich mit seiner dichten, hochstehenden Mähne über
dem schwach bärtigen Gesicht, "Löwe". Er nannte "Schaf" das Lamm, das ihn
sanft begrüßte, und "Vögel" die gefiederten Blumen, die wie ein Schmetterling
fliegen, dazu lieblich singen, was der Schmetterling nicht kann. Dann ersannen
die Nachkommen Adams im Verlauf der Jahrhunderte immer neue Namen, so wie sie
langsam die Werke Gottes in den Geschöpfen kennenlernten und erkannten, oder
weil sie durch den göttlichen Funken, der im Menschen ist, nicht nur Kinder
zeugten, sondern auch nützliche oder schädliche Gegenstände für sie anfertigen
konnten, je nachdem sie mit oder gegen Gott waren. Mit Gott sind alle, die
gute Werke schaffen und vollbringen. Gegen Gott sind jene, die schlechte Dinge
zum Schaden des Nächsten tun. Gott rächt die Qualen, die an seinen Kindern
durch einen verderbten menschlichen Geist verübt werden.
Der Mensch ist also das von Gott
bevorzugte Geschöpf. Auch wenn er jetzt schuldig ist, so ist er dennoch jenes,
das ihm am teuersten ist. Dafür legt er Zeugnis ab, indem er sein eigenes Wort
in die Welt gesandt hat: nicht einen Engel, nicht einen Erzengel, nicht einen
Cherub, nicht einen Seraph, sondern sein Wort, damit es in der Hülle
menschlichen Fleisches den Menschen erlösen soll. Er hat diese Hülle nicht für
unwürdig gehalten, um den leidensfähig zu machen, der, wie der Vater, ein ganz
reiner Geist ist und als solcher nicht hätte leiden und die Schuld des
Menschen sühnen können.
Der Vater hat mir gesagt: "Du
wirst Mensch sein: der Mensch! Ich hatte einen erschaffen, so vollkommen wie
alles, was ich vollbringe. Er war für ein schönes Leben und einen süßen Schlaf
ausersehen, für ein seliges Erwachen und einen glückseligen, ewigen Aufenthalt
in meinem himmlischen Paradies.' Aber, du weißt es: in dieses Paradies kann
nichts Unreines eingehen; denn in ihm haben Ich, Wir, der Dreieinige Gott,
unseren Thron, und vor ihm darf nur Heiligkeit sein. Ich bin der, der ich bin.
Meine göttliche Natur, unser geheimnisvolles göttliches Wesen, kann nur von
Seelen ohne Makel wahrgenommen werden. Nun ist der Mensch durch Adam und in
Adam unrein. Geh, reinige ihn! Ich will es! Du sollst von nun an der Mensch,
der Erstgeborene sein. Denn als erster wirst du hier mit sterblichem Fleische,
doch frei von jeder Sünde und mit einer
Der heiligsten Jungfrau Maria,
der hervorragenden Eva, welche die Vollkommenheit der Stammeltern nicht nur
erreichte, sondern weitaus übertraf, gewährte Gott von neuem einen sanften
Schlaf", ohne wirklichen und wesentlichen Tod, wie wir dies in diesem Werk
später noch erfahren werden.
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Seele ohne Erbsünde eingehen.
Jene, die dir vorausgegangen sind, und jene, die nach dir kommen, werden das
Leben haben durch deinen Tod als Erlöser!" Nur einer, der geboren worden ist,
kann sterben. Ich wurde geboren und ich werde sterben.
Der Mensch ist das bevorzugte
Geschöpf Gottes. Nun sagt mir: Wenn ein Vater viele Kinder hat, doch eines von
diesen sein bevorzugtes, sein Augenstern ist und getötet wird, leidet dann
jener Vater nicht mehr, als wenn ein anderes seiner Kinder getötet worden
wäre? So dürfte es zwar nicht sein, denn der Vater müßte allen Kindern
gegenüber gerecht sein. Doch es kommt vor, weil der Mensch unvollkommen ist.
Gott kann dies in Gerechtigkeit tun, denn der Mensch ist das einzige Geschöpf
unter den Erschaffenen, das gemeinsam mit dem Schöpfer-Vater eine geistige
Seele hat, ein unleugbares Zeichen göttlicher Vaterschaft.
Wenn man einem Vater das Kind
tötet, versündigt man sich dann nur gegen das Kind? Nein, auch gegen den
Vater! Der Tod trifft im Fleisch das Kind, im Herzen den Vater, und beiden
wird eine Wunde zugefügt. Wenn man einen Menschen tötet, sündigt man dann nur
gegen den Menschen? Nein, auch gegen Gott! Man sündigt gegen den Menschen im
Fleisch, gegen Gott aber in seinem Recht, weil Leben und Tod von ihm allein
gegeben und genommen werden. Töten heißt Gewalt antun: Gott und dem Menschen.
Töten ist Eindringen in den Bereich Gottes. Töten ist Fehlen gegen das Gebot
der Liebe. Wer tötet, liebt Gott nicht, denn er zerstört eines seiner Werke:
einen Menschen. Wer tötet, liebt den Nächsten nicht, denn er nimmt dem
Nächsten das, was der Mörder für sich selbst beansprucht: das Leben. Damit
sind die ersten beiden Fragen beantwortet.
"Wo habe ich getötet?"
Man kann unterwegs töten, im Haus
des Angegriffenen oder aber das Opfer ins eigene Haus gelockt haben. Dem einen
oder anderen Körperteil kann durch einen Schlag noch größerer Schmerz zugefügt
werden, oder man kann auch zwei Morde in einem begehen, wenn man eine
schwangere Frau mit ihrer Frucht umbringt.
Man kann unterwegs töten, ohne
die Absicht dazu zu haben. Ein Tier, über das man die Herrschaft verliert,
kann den Vorübergehenden töten, ohne daß man den Vorsatz hatte zu töten;
anders ist der Fall, wenn dagegen einer mit einem Dolch unter seinem
heuchlerischen Leinengewand ins Haus des Feindes dringt – und oft betrachtet
man zu unrecht einen Besseren als Feind – oder ihn in sein Haus einlädt, ihn
mit Ehren empfängt, dann aber erdrosselt und in die Zisterne wirft; dann liegt
Vorsätzlichkeit vor, und die Sünde ist vollständig in der Bosheit, Roheit und
Gewalttätigkeit.
Wenn ich die Leibesfrucht mit der
Mutter töte, wird Gott mich für zwei Leben zur Rechenschaft ziehen. Denn der
Leib, der einen neuen Menschen
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zeugt, ist gemäß dem Gebot Gottes
heilig, und heilig ist das kleine Leben, das in ihm heranreift und dem Gott
eine Seele gegeben hat.
"Womit habe ich getötet?"
Es ist umsonst, wenn einer sagt:
"Ich wollte nicht töten", und beim Hingehen eine ganz sichere Waffe
mitgenommen hat. Im Zorn werden selbst die Hände, die am Boden aufgelesenen
Steine oder der vom Baum heruntergerissene Ast zu Waffen. Wer aber kaltblütig
den Dolch oder die Axt betrachtet, sie wetzt, wenn sie ihn zu wenig scharf
dünken, sie unsichtbar auf seinem Leibe trägt, wo sie dennoch mit Leichtigkeit
gezückt werden können, und so vorbereitet zum Rivalen hingeht, der kann
bestimmt nicht sagen: "Ich hatte nicht die Absicht zu töten." Wer mit giftigen
Kräutern und Früchten, die er eigens dafür gepflückt hat, Pulver oder Getränke
bereitet und dann dem Opfer dieses Gift als Gewürz oder als Arznei anbietet,
kann bestimmt nicht sagen: "Ich wollte nicht töten."
Nun hört, ihr Frauen, ihr
verschwiegenen, unbestraften Mörderinnen so vieler kleiner Menschenleben! Mord
ist auch das Entfernen einer im Schoß sich entwickelnden Leibesfrucht, ob sie
nun aus dem Samen einer sündhaften Verbindung hervorgegangen oder sonst
unerwünscht ist, weil sie eine unnütze Bürde und eine eurem Reichtum
abträgliche Belastung bedeutet. Es gibt nur einen Weg, diese Last nicht tragen
zu müssen: keusch zu bleiben. Verbindet mit der Unkeuschheit nicht noch Mord,
mit dem Ungehorsam nicht noch Gewalt und glaubt ja nicht, daß Gott nicht
sieht, was den Menschen verborgen bleibt. Gott sieht alles und vergißt nichts.
Seid auch ihr dessen eingedenk!
"Warum habe ich getötet?"
Oh, so vieler Gründe wegen! Der
plötzliche Verlust des inneren Gleichgewichtes, der in euch eine heftige
Gemütsbewegung auslöst, wie etwa, das Ehegemach entehrt vorzufinden, der Dieb
im Haus, der Wüstling, welcher der eigenen Tochter Gewalt antun will, bis zur
kaltblütigen und wohlüberlegten Erwägung, sich eines gefährlichen Zeugens zu
entledigen, eines Menschen, der einem den Weg versperrt, dessen Posten oder
Geldbeutel man erstrebt: Das sind die vielen und abermals so vielen Gründe.
Wenn Gott demjenigen noch verzeihen kann, der in einem Anfall höchsten
Schmerzes zum Mörder wird, so verzeiht er dem nicht,' der aus Gier nach Macht
oder Ehrsucht tötet.
Handelt deshalb immer gerecht,
und ihr werdet niemals den Blick oder das Wort anderer zu fürchten haben. Seid
zufrieden mit dem, was euer eigen ist, und so werdet ihr nicht das Gut des
anderen begehren, um dadurch noch zum Mörder zu werden.
' d.h. wenn jemand unbußfertig
verbleibt. (siehe folgendes Kapitel, wo es bezüglich des grausamen Doras
heißt: «Die aufrichtige Reue hätte genügt... doch, er war der Unbußfertige
...» Also verzeiht Gott jedem Sünder, jedoch unter der Bedingung, daß er
bereut.)
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"Wie habe ich getötet?"
Bin ich nach dem ersten erregten
Gefühlsausbruch weiterhin grausam vorgegangen? Oftmals vermag sich der Mensch
nicht mehr zu beherrschen, denn Satan stürzt ihn ins Unglück wie ein
Schleuderer den Stein schleudert. Aber was würdet ihr von einem Stein sagen,
der, nachdem er das Ziel erreicht hat, von selbst zur Schleuder zurückkehrte
und noch einmal geschleudert werden wollte, um noch einmal zu treffen? Ihr
würdet sagen: "Er ist von einer höllischen und magischen Kraft besessen." So
ist der Mensch, der nach dem ersten Schlag noch einen zweiten, einen dritten,
einen zehnten Schlag versetzt, ohne daß sein Ingrimm nachläßt. Nach dem ersten
Ausbruch legt sich der Zorn und an seine Stelle tritt die Vernunft, wenn jener
aus noch gerechtfertigten Gründen hervorgerufen wurde. Während die Grausamkeit
sich steigert, je mehr der Überfallende das Opfer des wirklichen Mörders ist,
nämlich von Satan, der mit dem Bruder kein Mitleid hat und auch nicht haben
kann, da er Satan ist, eben Haß ist!
"Wann habe ich getötet?"
Im ersten Gefühlsausbruch ?
Nachdem dieser sich bereits gelegt hatte ? Als ich Verzeihung vortäuschte,
während die Rachegedanken immer erbitterter wurden? Habe ich vielleicht Jahre
mit dem Mord zugewartet, um doppeltes Leid zuzufügen, indem ich den Vater
durch die Kinder getötet habe?
Ihr seht, daß man beim Töten
sowohl gegen die erste als auch gegen die zweite Gruppe der Gebote verstößt,
weil ihr das Recht Gottes für euch beansprucht und euren Nächsten mit Füßen
tretet. Sünde also gegen Gott und den Nächsten! Ihr begeht nicht nur die Sünde
des Mordes. Ihr begeht auch die Sünde des Zornes, der Gewalttätigkeit, der
Anmaßung, des Ungehorsams, des Frevels und manchmal auch der Habgier, wenn ihr
tötet, um euch eines Postens oder eines Geldbeutels zu bemächtigen.
Ich deute dies nur an und werde
ein andermal genauer darauf eingehen. Man begeht einen Mord nicht nur mit der
Waffe und mit dem Gift, sondern auch durch die Verleumdung. Denkt darüber
nach.
Weiterhin sage ich euch: Der
Herr, der einen Sklaven schlägt und dies mit einer solchen Arglist, daß ihm
dieser nicht in den Händen stirbt, ist doppelt schuldig. Der Mensch als Sklave
ist nicht das Gut seines Meisters: es ist eine Seele, die Gott angehört. In
Ewigkeit sei jeder verflucht, der seinen Sklaven schlimmer als einen Ochsen
behandelt!»
Jesu Augen funkeln und er spricht
nun laut. Alle schauen ihn verwundert an, denn bisher hatte er sehr ruhig
gesprochen.
«Verflucht sei er! Das neue
Gesetz schafft diese Härte ab, die angemessen war, als es im Volk Israel noch
keine Heuchler gab, die Heiligkeit vortäuschen und ihren Scharfsinn nur dazu
anstrengen, das Gesetz Gottes auszunützen und zu umgehen. Aber jetzt, da es in
Israel wimmelt von
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diesen schlangenhaften Wesen, die
sich erlauben, was ihnen beliebt, nur weil sie es sind, diese elenden
Machthaber, die Gott mit Abscheu und Ekel ansieht; ich sage euch: Das gibt es
nicht mehr!
Die Sklaven sinken auf der
Scholle oder in der Mühle um. Sie fallen nieder mit gebrochenen Knochen oder
dem durch Geißelhiebe bloßgelegten Fleisch. Man bezichtigt sie unwahrer
Vergehen, um sie schlagen zu können und um den eigenen satanischen Sadismus zu
rechtfertigen. Sogar das Wunder Gottes wird als Anklage benützt, um sich das
Recht zu nehmen, sie zu schlagen. Weder die Macht Gottes noch die Heiligkeit
des Sklaven vermag ihre niederträchtige Seele zu bekehren. Sie kann nicht
bekehrt werden. Dort, wo eine Sättigung des Bösen vorliegt, kann das Gute
nicht eindringen. Doch Gott sieht es und sagt: "Genug!"
Zuviele Kaine gibt es, die Abel
töten. Was glaubt ihr, ihr unreinen, nach außen weiß übertünchten und mit
Worten des Gesetzes beschriebenen Gräber, in deren Innern König Satan wandelt
und aus denen der schauerlichste Satanismus hervorquillt, was glaubt ihr? Daß
nur Abel der Sohn Adams gewesen sei, und daß der Herr nur auf jene mit
Wohlgefallen blicken würde, die nicht Sklaven anderer Menschen sind, und das
einzige Opfer von sich stoße, das ein Sklave ihm darbringen kann: seine mit
Tränen gewürzte Rechtschaffenheit? Nein, in Wahrheit sage ich euch: Jeder
Gerechte ist ein Abel, auch wenn er mit Fesseln bedeckt ist, selbst wenn er
sterbend auf der Ackerscholle liegt oder wegen eurer Geißelhiebe aus allen
Wunden blutet; daß jedoch alle Ungerechten Kaine sind, die Gott aus Hochmut
opfern und nicht, um ihm Ehre zu erweisen, und das geben, was durch ihre
Sünden verunreinigt und vom Blut befleckt ist.
Ihr Wunderschänder!
Menschenschänder! Mörder! Frevler! Hinaus! Weg aus meinen Augen! Genug! Ich
sage euch: Genug! Es ist mein Recht, es zu sagen, denn ich bin das göttliche
Wort, das die göttliche Lehre verwirklicht. Hinaus!
Jesus steht aufrecht auf einem
primitiven Podium und wirkt dermaßen Achtung gebietend, daß er Furcht
einflößt. Den rechten Arm ausgestreckt, um zur Tür zu weisen, mit Augen, die
zwei blauen Feuern gleichen und die anwesenden Sünder zu durchbohren scheinen.
Das kleine Mädchen zu Jesu Füßen beginnt zu weinen und flüchtet. Die Jünger
betrachten sich erstaunt und blicken umher, um zu entdecken, an wen wohl die
Schmährede gerichtet ist. Auch das Volk dreht sich mit fragenden Blicken nach
allen Seiten.
Endlich klärt sich das Geheimnis.
Im Hintergrund, noch vor der Türe, halbverdeckt von einer Gruppe vornehmer
Persönlichkeiten, kommt Doras zum Vorschein.
Noch dünner, noch gelber, noch
runzliger geworden, ganz Nase und vorspringendes Kinn! Ein Diener begleitet
ihn und hilft ihm beim Gehen, denn Doras scheint halb gelähmt zu sein. Wer
hätte ihn schon dort mitten
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auf dem Hof gesehen? Mit seiner
heiseren Stimme wagt er zu fragen: «Zu mir sagst du dies, für mich ?»
«Für dich, ja! Verlasse mein
Haus!»
«Ich gehe. Aber bald rechnen wir
ab, du kannst dessen sicher sein 1»
«Bald? Sofort! Der Gott des
Sinai, ich habe es dir gesagt, erwartet dich.»
«Auch dich, du Unglückseliger,
der du das Unheil auf mich gelenkt und die Schädlinge in meine Äcker geschickt
hast. Wir werden uns wiedersehen. Es wird mir eine Freude sein.»
«Ja. Du aber wirst mich nicht
mehr wiedersehen wollen, denn ich werde dich richten.»
«Ha, ha, ha, verfl...» Doras
fuchtelt in der Luft herum, keucht und fällt hin.
«Er ist gestorben!» schreit der
Diener. «Mein Herr ist tot! Sei gepriesen Messias, unser Rächer!»
«Nicht ich! Gott, der ewige Herr!
Niemand beflecke sich. Nur der Diener kümmere sich um seinen Herrn. Sei gut
mit seinem Körper. Seid gut, ihr alle seine Diener. Frohlockt nicht haßerfüllt
über den Heimgesuchten, um nicht die Verdammnis zu verdienen. Gott und der
gerechte Jonas sollen stets eure Freunde sein, und ich mit ihnen. Lebt wohl!»
«Aber ist er durch deinen Willen
gestorben?» fragt Petrus.
«Nein. Aber der Vater kam über
mich ... 1) Es ist ein Geheimnis, das du nicht begreifen kannst. Merke dir
nur: es ist nicht erlaubt, Gott anzugreifen. Er rächt sich selbst dafür.»
«Aber könntest du nicht deinem
Vater sagen, daß er alle sterben lassen soll, die dich hassen?»
«Schweige! Du weißt nicht, wessen
Geistes du bist! Ich bin Barmherzigkeit und nicht Rache.»
Der alte Synagogenvorsteher tritt
vor: «Meister, du hast alle meine Fragen gelöst, nun ist das Licht in mir. Sei
gepriesen! Komm in meine Synagoge. Verweigere nicht einem armen Alten dein
Wort.»
«Ich werde kommen. Geh in
Frieden! Der Herr ist mit dir!»
Während das Volk langsam geht,
hat alles ein Ende.
___________
1) Dieser Ausspruch Jesu kann, in
Übereinstimmung mit verschiedenen Evangelien (Matth 21,12-17; Mark 11,15-19;
... ), im folgenden Sinn verstanden werden: Ich wurde vorn Eifer der
göttlichen Gerechtigkeit erfaßt, die auf schamloser Weise von jenem grausamen
(verstockten) Unbußfertigen beleidigt worden ist: einem Eifer, der die
Barmherzigkeit übersteigt, die bei jenem Menschen, der am Haß festhält,
unangebracht ist.
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166. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"; DIE DREI JÜNGER DES TÄUFERS
Ein ganz klarer Wintertag. Sonne
und Wind und ein heiterer Himmel ohne das geringste Anzeichen einer Wolke.
Noch ist es früh am Morgen. Ein leichter Schleier von Rauhreif, besser, von
beinahe gefrorenem Tau, liegt als Diamantenstaub auf Boden und Gräsern.
Es nähern sich dem Haus drei
Männer, die sicher und zielbewußt einherschreiten, daß man den Eindruck haben
könnte, sie seien des Ortes kundig. Sie sehen Johannes, der mit aufgefüllten
Wassereimern beladen vom Brunnen kommt und den Hof überquert. Sie rufen ihn.
Johannes dreht sich um, stellt
die Krüge ab und fragt: «Ihr seid hier? Willkommen! Der Meister wird sich
freuen, euch zu sehen. Kommt, kommt, bevor die Leute eintreffen. Es kommen
jetzt so viele! ...»
Es sind die drei Hirtenjünger des
Johannes des Täufers, Simeon, Johannes und Matthias, und sie folgen zufrieden
dem Apostel.
«Meister, drei Freunde sind da.
Schau», sagt Johannes, in die Küche eintretend, wo ein fröhliches Feuer
knistert und sich ein angenehmer Duft von verbranntem Gesträuch und Lorbeer
verbreitet.
«Oh! Der Friede sei mit euch,
meine Freunde! Weshalb kommt ihr zu mir? Ist dem Täufer ein Unglück
zugestoßen?»
«Nein, Meister. Wir sind mit
seiner Erlaubnis gekommen. Er läßt dich grüßen und dir sagen, du sollst Gott
den Löwen anempfehlen, der von den Häschern verfolgt wird. Er macht sich keine
Illusionen über sein Los. Doch zur Zeit ist er frei. Er ist glücklich, denn er
weiß, daß du viele Getreue hast. Auch solche, die früher seine waren. Meister,
es ist auch unser glühender Wunsch, es zu sein; ... doch wir wollen ihn, jetzt
wo er verfolgt wird, nicht verlassen. Verstehe uns...» sagt Simeon.
«Ich segne euch, weil ihr so
handelt. Der Täufer verdient jede Achtung und Liebe.»
«Ja, du sagst es gut. Er ist groß
und seine Größe wird immer überragender. Er gleicht der Agave, die vor dem
Sterben zum großen Kandelaber der siebenfachen Blume wird und mit ihr strahlt
und duftet. So auch er. Er sagt immer: "Ich möchte ihn nur noch einmal
sehen..." Dich sehen! Wir haben den Sehnsuchtsschrei seiner Seele vernommen,
und ohne ihm etwas davon zu sagen, bringen wir diesen Schrei zu dir. Er ist
der "Büßer", der "Faster" ' und er verzehrt sich noch im heiligen Verlangen,
dich zu sehen und zu hören. Ich bin Tobias, nun Matthias. Doch denke ich, daß
der Erzengel, der Tobias als Begleiter gegeben wurde, sich von ihm in nichts
unterschieden hat. Alles im Täufer ist Weisheit !»
«Es ist nicht gesagt, daß ich ihn
nicht sehen werde... Aber seid ihr nur deswegen gekommen? Bei dieser
Jahreszeit ist es beschwerlich, zu
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reisen. Heute ist es heiter...
aber bis vor drei Tagen! Wieviel Wasser auf den Straßen!»
«Nicht nur deswegen. Vor einigen
Tagen ist Doras, der Pharisäer gekommen um sich zu reinigen. Doch der Täufer
hat ihm die Taufe verweigert und gesagt: "Das Wasser kann dort nicht
eindringen, wo eine so dicke Kruste der Sünde ist. Ein Einziger allein kann
dir verzeihen, der Messias." Da hat Doras gesagt: "So werde ich zu ihm gehen.
Ich möchte geheilt werden und denke, daß mein Übel seine Verwünschung ist."
Daraufhin hat ihn der Täufer weggejagt, wie wenn er den Teufel vertrieben
hätte. Doras ist beim Weggehen Johannes begegnet, den er kannte, seitdem
Johannes zu Jonas gegangen war, mit dem er etwas verwandt ist, und hat zu ihm
gesagt: "Ich gehe zu Jesus. Alle gehen. Auch Manaen ist dort gewesen, und
sogar... ich sage Dirnen, doch er hat ein gemeineres Wort benützt, gehen
dorthin. Das "trügerische Gewässer" ist voll von Schwärmern. Wenn er mich nun
heilt und den Bann, den er über meine Ländereien verhängt hat, zurücknimmt,
dann will ich sein Freund werden. Mein Landgut sieht aus wie von
Kriegsmaschinen verwüstet, Maulwürfe, Würmer und Vampirgrillen wimmeln, die
das Saatgut fressen und die Wurzeln der Obstbäume und der Weinstöcke
zerstören, wogegen es kein Mittel gibt. Anderenfalls, wehe ihm!" Wir haben ihm
geantwortet: "Mit einer solchen Gesinnung willst du hingehen?" Er hat
geantwortet: "Wer glaubt denn schon an diesen Teufelskerl? Übrigens hat er
Dirnen im Haus und kann also auch mit mir ein Bündnis schließen." Wir sind
hergekommen, um dir dies zu berichten, damit du dich auf Doras vorbereiten
kannst.»
«Oh, es ist alles schon getan.»
«Schon getan? Wirklich?
Natürlich, er hat Pferd und Wagen, wir haben nur unsere Beine. Wann ist er
gekommen?»
«Gestern.»
«Was ist geschehen?»
«Dies: wenn ihr euch um Doras
kümmern wollt, könnt ihr in sein Haus nach Jerusalem gehen, um euer Beileid zu
bekunden. Sie bereiten ihn für die Beisetzung vor.»
«Er ist gestorben?»
«Gestorben! Hier. Doch sprechen
wir nicht über ihn.»
«Ja, Meister... Nur... sag uns:
ist es wahr, was er uns über Manaen gesagt hat?»
«Ja. Mißfällt es euch?»
«Oh, es ist uns eine Freude. Wir
haben ihm in der Burg Machaerus so viel von dir erzählt, und was wünscht sich
denn ein Apostel anderes, als daß sein Meister geliebt wird? Das ist der
Wunsch Johannes und auch der unsrige.»
«Du sprichst gut, Matthias. Die
Weisheit ist mit dir.»
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«Doch ... ich glaube es nicht.
Doch nun sind wir ihr begegnet (der Verschleierten)... Sie ist auch vor dem
Laubhüttenfest bei uns gewesen und hat dich gesucht. Wir haben ihr gesagt:
"Der, den du suchst, ist nicht hier; doch bald wird er zum Laubhüttenfest in
Jerusalem sein." So sagten wir, denn der Täufer hatte uns gesagt: "Seht jene
Sünderin. Sie ist eine Kruste von Schmutz, doch in ihr lodert eine Flamme, die
genährt wird. Sie wird so stark werden, daß sie die Kruste sprengen, und alles
entzünden wird. Die Kruste wird fallen und die Flamme wird allein
zurückbleiben." So hat er gesagt. Aber ist es wahr, daß sie hier schläft, wie
uns zwei einflußreiche Schriftgelehrte berichtet haben?»
«Nein, sie wohnt in einem der
Ställe des Verwalters, mehr als eine Stadie von hier entfernt.»
«Diese Teufelszungen! Hast du
gehört? Und sie...»
«Laßt sie nur reden. Die Guten
glauben ihren Worten nicht, sondern meinen Werken.»
«Das sagt auch Johannes. Vor
einigen Tagen haben ihm einige seiner Jünger in unserer Gegenwart gesagt:
"Rabbi, jener, der mit dir jenseits des Jordan war und für den du Zeugnis
abgelegt hast, tauft nun auch und alle gehen zu ihm, und du wirst bald keine
Getreuen mehr haben."
Doch Johannes hat geantwortet:
"Selig mein Ohr, das diese Nachricht vernimmt! Ihr wißt nicht, welche Freude
ihr mir damit bereitet. Ihr müßt wissen, daß sich der Mensch nichts aneignen
darf, wenn es nicht vom Himmel gegeben wird. Ihr könnt bezeugen, daß ich
gesagt habe: 'Ich bin nicht Christus, sondern jener, der vor ihm hergesandt
worden ist, um ihm den Weg zu bereiten.' Der gerechte Mann eignet sich nicht
einen Namen an, der nicht ihm gehört, selbst wenn man ihn loben will, indem
man sagt: 'Du bist jener" also der Heilige, entgegnet er: 'Nein, wahrhaftig
nein! Ich bin nur sein Diener.' Er hat aber dennoch eine große Freude, denn er
sagt sich: 'Ich gleiche ihm also ein wenig, wenn man mich für ihn halten kann.
Was kann sich denn ein Liebender Schöneres wünschen, als dem Liebsten zu
gleichen?' Nur die Braut freut sich des Bräutigams. Dem Brautführer würde dies
nicht anstehen, weil es unschicklich und Raub wäre. Doch der dem Bräutigam
nahestehende Freund, welcher die Worte hochzeitlichen Glückes vernimmt,
verspürt eine so lebhafte Freude, die fast jener gleichkommt, die die dem
Bräutigam angetraute Jungfrau erfüllt, denn er kostet darin im voraus die
Wonne hochzeitlichen Liebesglücks. Dies ist meine Freude, und sie ist
vollkommen. Was macht nun der Freund des Bräutigams, nachdem er monatelang dem
Freund gedient und ihn ins Haus der Braut begleitet hat? Er zieht sich zurück
und verschwindet. So auch ich, so auch ich! Ein Einziger bleibt zurück: der
Bräutigam mit der Braut! Der Mensch mit der Menschheit! Oh, welch
tiefgründiges Wort! Er muß wachsen, ich abnehmen. Derjenige, der vom Himmel
kommt, steht über allen. Patriarchen und Propheten verschwinden bei
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seinem Kommen, denn er ist wie
die Sonne, die alles erleuchtet, und dies mit so hellem Licht, daß Sterne und
Planeten, deren Licht erloschen, dadurch erstrahlen. Jene, die nicht erloschen
sind, verblassen jedoch vollends in der Fülle von Licht. Er kommt vom Himmel,
Patriarchen und Propheten hingegen werden in den Himmel eingehen, aber nicht
vom Himmel kommen. Derjenige, der vom Himmel kommt, ist über alle erhaben, und
er verkündet, was er gesehen und gehört hat. Aber niemand kann sein Zeugnis
annehmen von denen, die nicht nach dem Himmel streben, also Gott verleugnen.
Wer das Zeugnis desjenigen, der vom Himmel herabgekommen ist, annimmt,
besiegelt mit diesem Bekenntnis seinen Glauben, daß Gott wahrhaftig ist und
kein Märchen, das jeder Wahrheit entbehrt, und er spürt die Wahrheit, weil er
ein eifriges Verlangen nach ihr hat. Denn derjenige, den Gott gesandt hat,
spricht Worte Gottes, da Gott ihm den Geist in Fülle gibt, und der Geist
Gottes sagt: 'Siehe, da bin ich. Nimm mich dir zu eigen, denn ich will mit dir
sein, du Freude unserer Liebe.' Denn der Vater liebt den Sohn über alle Maßen
und hat alles in seine Hände gelegt. Daher wird, wer an den Sohn glaubt, das
ewige Leben besitzen. Wer jedoch den Glauben an den Sohn verweigert, der wird
das Leben nicht schauen, und der Zorn Gottes wird in ihm und über ihm sein!"
So hat er gesprochen, und ich
habe mir seine Worte eingeprägt, um sie dir zu sagen», sagt Matthias.
«Ich lobe dich und danke dir
dafür. Der letzte Prophet Israels ist nicht jener, der vom Himmel herabsteigt,
sondern jener, der dem Himmel am nächsten ist, weil er – ihr wißt es nicht,
doch sage ich es euch – bereits im Schoße der Mutter mit göttlichen Wohltaten
beschenkt wurde.»
«Was, was? Oh, erzähle! Er sagt
von sich selber: "Ich bin der Sünder."» Die drei Hirten sind begierig, mehr zu
erfahren, und auch die Jünger drängen.
«Als meine Mutter mich in sich
trug, mit Mir, Gott, schwanger war, begab sie sich zur Mutter des Johannes,
die mütterlicherseits ihre Base war und im fortgeschrittenen Alter ein Kind
erwartete, um ihr zu dienen, weil sie die Demütige und Liebreiche ist. Der
Täufer besaß bereits seine Seele, denn er war im siebten Monat seines Werdens.
Als die menschliche Frucht, eingeschlossen im mütterlichen Schoße, die Stimme
der Braut Gottes vernahm, hüpfte sie vor Freude. Auch darin ist er der
Vorläufer, weil er als erster Mensch erlöst wurde. Von Schoß zu Schoß übertrug
sich die Gnade, durchdrang ihn, und die Erbsünde fiel von der Seele des
Kindes. Somit sage ich euch, daß auf der Erde drei im Besitz der Weisheit
sind, wie es im Himmel drei sind, welche die Weisheit sind: das Wort, die
Mutter und der Vorläufer auf Erden; im Himmel der Vater, der Sohn und der
Heilige Geist.»
«Unser Herz ist voller Erstaunen.
Beinahe wie damals, als uns gesagt wurde: "Der Messias ist geboren"; denn du
warst der Abgrund der Barmherzigkeit, und dieser unser Johannes ist der
Abgrund der Demut.»
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«Und meine Mutter ist der Abgrund
der Reinheit, der Gnade, der Liebe, des Gehorsams, der Demut und jeder anderen
Tugend, die aus Gott ist und die Gott seinen Heiligen einflößt.»
«Meister», sagt Jakobus des
Zebedäus, «es sind schon viele Menschen hier.»
«Laßt uns gehen. Kommt auch ihr.»
Eine sehr große Menschenmenge ist
versammelt.
«Der Friede sei mit euch», sagt
Jesus und er lächelt, wie er dies nur selten tut. Die Menschen flüstern
miteinander und deuten auf ihn. Es herrscht viel Neugierde.
«Es steht geschrieben: "Du sollst
den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen."
Viel zu oft vergißt man dieses
Gebot. Man versucht Gott, wenn man ihm den eigenen Willen aufzwingen will. Man
versucht Gott, wenn man unklugerweise gegen die Regeln des Gesetzes, das
heilig und vollkommen und in seinem geistigen Bereich der wichtigste Teil ist,
verstößt, und man sich auch mit dem von ihm erschaffenen Leib übermäßig befaßt
und sich seinetwegen Sorgen macht. Man versucht Gott, wenn man, nachdem man
von ihm Verzeihung erlangt hat, von neuem zu sündigen anfängt. Man versucht
Gott, wenn man die von ihm verliehenen Wohltaten zum eigenen Schaden
verwendet, anstatt daß man diese Gaben ihrem Sinn entsprechend zum Guten nutzt
und sich auf deren Spender besinnt. Gott läßt seiner nicht spotten. Zu oft
geschieht dies! ...
Gestern habt ihr gesehen, welche
Strafe die Spötter Gottes erwartet. Der Ewige Gott, voller Mitleid mit den
Reuigen, ist andererseits ganz Strenge mit dem Unbußfertigen, der sich durch
nichts ändern läßt. Ihr kommt zu mir, um das Wort Gottes zu hören. Ihr kommt,
um Wunder zu erlangen. Ihr kommt, um Verzeihung zu erlangen, und der Vater
gibt euch das Wort, das Wunder und die Verzeihung. Ich bedaure nicht, den
Himmel verlassen zu haben, damit ich euch das Wunder und die Verzeihung
gewähren kann, und damit ihr durch mich Gott kennenlernen könnt.
Der Mensch gestern ist vom Feuer
des göttlichen Grolles niedergeschmettert worden, wie Nadab und Abiu (Num
3,1-4). Doch ihr sollt darauf verzichten, ihn zu richten. Dieser Vorfall, der
ein neues Wunder ist, möge nur bewirken, daß ihr euch darauf besinnt, wie man
handeln soll, um Gott zum Freund zu haben. Doras verlangte nach dem Wasser der
Buße, doch ihm fehlte der übernatürliche Geist. Sein Wunsch entsprang einer
menschlichen Denkweise. Wie ein magischer Zauber sollte es ihn von der
Krankheit heilen und von seinem Unglück befreien. Der Körper und die Ernte,
dies waren seine Ziele, nicht seine arme Seele. Sie hatte keinen Wert für ihn.
Leben und Geld waren seine Werte.
Ich sage euch, das Herz ist dort,
wo auch sein Schatz ist, und der Schatz ist dort, wo das Herz ist. Daher ist
der Schatz im Herzen. Er hatte in
49
seinem Herzen die Begierde zu
leben und viel Geld zu besitzen. Wie kann ich es mir nur beschaffen? Mit jedem
Mittel! Auch mit Verbrechen. War es also nicht ein Verhöhnen und Versuchen
Gottes, die Taufe zu erlangen? Eine aufrichtige Reue über sein langes,
sündiges Leben hätte genügt, ihm einen heiligen Tod zu gewähren, und auch das,
was im irdischen Leben angemessen war. Er jedoch war der Unbußfertige. Da er
außer sich selber nie jemand geliebt hatte, kam er soweit, daß er nicht einmal
mehr sich selber lieben konnte, da der Haß auch die animalische,
selbstsüchtige Liebe abtötet, die man für sich selber empfindet. Tränen
aufrichtiger Reue hätten sein reinigendes Wasser sein müssen. Dies gilt auch
für euch alle, die ihr hier zuhört; denn niemand unter euch ist ohne Sünde,
und deshalb habt ihr alle dieses Wasser nötig. Aus meinem Herzen ausgepreßt,
fließt es auf euch nieder und reinigt, gibt der entweihten Seele die
Jungfräulichkeit zurück, richtet auf, wer darniederliegt, und verleiht neue
Kraft, wo die Seele vor lauter Schuld verblutet.
Jeder Mensch sorgt sich nur um
das Elend dieser Erde. Doch nur ein einziges Elend sollte den Menschen
nachdenklich stimmen: nämlich jenes Ewige, Gott zu verlieren. Jener Mann hat
nie versäumt, die rituellen Gaben zu spenden; aber er hat es nicht verstanden,
Gott ein geistiges Opfer darzubringen, also der Sünde zu entsagen, Buße zu tun
und mit seinen Werken um Verzeihung zu bitten. Heuchlerische Gaben aus dem
unrechtmäßig erworbenen Reichtum sind wie Aufforderungen an Gott, er möge zum
Mittäter böser Werke des Menschen werden. Wäre so etwas je möglich? Ist es
nicht eine Verhöhnung Gottes, wenn man solches zu tun wagt? Gott stößt jenen
von sich, der sagt: "Hier, mein Opfer", dabei aber darnach brennt, in seiner
Sünde zu verharren. Nützt vielleicht die körperliche Enthaltsamkeit etwas,
wenn die Seele sich nicht der Sünde enthält?
Der Tod des Mannes, der sich hier
ereignet hat, möge euch über die notwendigen Bedingungen nachdenken lassen, um
von Gott geliebt zu werden. Nun halten in seinem reichen Palast die Verwandten
und die Klagenden die Totenwache bei dem Leichnam, der bald zu Grabe getragen
wird.
Oh, wahrlich eine echte
Totenklage und ein echter Leichnam! Wahrlich, nichts mehr als eine Leiche, und
eine Totenklage ohne Trost, denn die schon tote Seele wird auf immer getrennt
sein von jenen, die er wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen liebte oder
weil eine Gesinnungsgemeinschaft bestand. Auch wenn ein gleicher
Aufenthaltsort sie für ewig vereint, so wird der Haß, der dort herrscht, sie
trennen. Dieser Tod ist somit "wahrhaftige" Trennung. Es wäre besser, wenn der
Mensch, der seine Seele getötet hat, sich selbst beweinen würde, anstelle
jener, die ihn beweinen. Die Tränen seines reumütigen, demütigen Herzens
würden die Verzeihung Gottes erwirken, was ihm schließlich auch das Leben der
Seele zurückgeben würde.
50
Geht hin! Ohne Haß und ohne
Bemerkungen. Nur voller Demut. Wie ich, der ich ohne Haß und nur in
Gerechtigkeit über ihn gesprochen habe. Leben und Tod sind unsere Lehrmeister,
die uns lehren, gut zu leben und gut zu sterben und das ewige Leben zu
erlangen, wo es keinen Tod mehr gibt. Der Friede sei mit euch!»
Es sind keine Kranken da, es
geschehen keine Wunder. Petrus sagt zu den Jüngern des Täufers: «Es tut mir
leid für euch.»
«Oh, das soll dir nicht leid tun.
Wir glauben, ohne zu sehen. Wir haben das Wunder seiner Geburt geschaut; es
hat uns zu glauben gelehrt. Nun haben wir sein Wort, das uns im Glauben
bestärkt. Wir wünschen nichts anderes, als ihm dienen zu dürfen bis zum
Himmel, wie Jonas, unser Bruder.»
Alles ist zu Ende.
167. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT BEGEHREN DEINES NÄCHSTEN FRAU»
Jesus geht durch eine große
Volksmenge, die ihn von allen Seiten her ruft. Die einen zeigen ihre Wunden,
andere zählen ihre Schicksalsschläge auf, andere wiederum beschränken sich auf
den Ruf: «Erbarme dich meiner!», noch andere stellen ihren kleinen Sohn vor,
damit er gesegnet werde. Der windstille, heitere Tag hat viele Menschen
bewogen, Jesus aufzusuchen.
Als Jesus schon fast an seinem
Platz angekommen ist, ertönt vom Weg, der zum Fluß führt, ein
mitleiderregendes Jammern: «Sohn Davids, erbarme dich deines Unglücklichen!»
Jesus wendet sich in die Richtung
wie auch das Volk und die Jünger. Aber ein dichtes Gesträuch verdeckt den um
Hilfe Flehenden.
«Wer bist du? Komm nach vorne!»
«Ich kann nicht. Ich bin
angesteckt. Ich muß zum Priester, um von der Welt ausgeschlossen zu werden.
Ich habe gesündigt, und der Aussatz ist an meinem Körper ausgebrochen. Ich
hoffe auf dich!»
«Ein Aussätziger! Ein
Aussätziger! Fluch ihm! Steinigen wir ihn!»Die Menge tobt.
Jesus gibt ein Zeichen, das Ruhe
und Schweigen gebietet. «Er ist nicht unreiner als ein Sünder. In den Augen
Gottes ist der unbußfertige Sünder noch unreiner als der reumütige Aussätzige.
Wer glauben kann, soll mit mir kommen.»
Außer den Jüngern gehen noch
einige Neugierige Jesus nach. Die anderen strecken nur die Hälse, bleiben
aber, wo sie sind.
51
Jesus verläßt den Hof des Hauses
und geht den kleinen Weg in Richtung des Buchsbaumgebüsches, wo er stehen
bleibt und befiehlt: «Zeige dich!»
Es kommt ein junger Mann zum
Vorschein mit einem frischen, vollen Gesicht, auf dem noch kaum eine Spur von
Bart und Schnurrbart zu sehen ist, während die Augen vom Weinen stark gerötet
sind.
Ein lauter Schrei begrüßt ihn. Er
kommt von einer Gruppe von Frauen, die alle tief verschleiert sind, schon im
Hofe geweint haben und nun durch die Drohungen des Volkes noch mehr weinen.
«Mein Sohn!» ruft eine Frau und
sinkt in die Arme einer anderen Frau, von der ich nicht weiß, ob es deren
Verwandte oder Freundin ist.
Jesus nähert sich nun allein dem
Unglücklichen und sagt: «Du bist noch sehr jung. Wie kommt es, daß du
aussätzig bist?»
Der Jüngling senkt die Augen,
wird feuerrot und stammelt etwas, wagt aber nicht, mehr zu sagen.
Jesus wiederholt die Frage. Der
Kranke spricht nun etwas deutlicher, doch man versteht nur die Worte: «Der
Vater... ich ging... und wir sündigten... nicht nur ich allein...»
«Dort ist deine Mutter, die weint
und hofft. Im Himmel ist Gott, der alles weiß. Hier bin ich, auch ich weiß es.
Aber ich brauche deine Verdemütigung, damit ich Erbarmen mit dir haben kann.
Also sprich!»
«Sprich, mein Sohn! Habe Mitleid
mit dem Schoß deiner Mutter, der dich getragen hat», wimmert die Mutter, die
sich bis zu Jesus hingeschleppt hat und nun, auf den Knien liegend, ganz
unbewußt einen Zipfel des Gewandes Jesu in der Hand hält und mit der anderen
auf den Jungen weist und dabei ihr tränenüberströmtes Gesicht zeigt.
Jesus legt ihr die Hand aufs
Haupt und sagt noch einmal: «Sprich!»
«Ich bin der Erstgeborene und
helfe dem Vater in seinen Geschäften. Er hat mich schon oft nach Jericho
gesandt, um dort mit seiner Kundschaft zu reden und zu verhandeln... und...
und einer hatte eine schöne junge Frau. Sie gefiel mir. Ich ging öfter zu ihr,
als nötig war. Auch sie mochte mich. Wir hatten Gefallen aneinander und
sündigten in Abwesenheit ihres Ehemannes. Ich weiß nicht, wie es kam, denn sie
war gesund. Nicht nur ich war gesund und begehrte sie... auch sie war gesund
und verlangte nach mir. Ich weiß nicht, ob sie außer mir noch andere begehrte
und sich dabei ansteckte. Ich weiß nur, daß bei ihr bald das Siechtum ausbrach
und sie bereits in den Gräbern ist, um dort als Lebende zu sterben... Ich,
ich... Mutter, du hast es gesehen, es ist unscheinbar, aber man sagt, es wäre
Aussatz... und ich müßte daran sterben. Wann? ... Kein Leben mehr... ohne ein
Zuhause... ohne eine Mutter... Oh, Mutter, ich sehe dich und kann dich doch
nicht mehr küssen! Heute wollen sie kommen, um meine Kleider zu zerreißen und
mich aus dem Hause zu jagen... aus dem Dorfe. Ich bin schlimmer dran als ein
Toter. Nicht einmal meine Mutter
52
wird über meinem Leichnam weinen
können.» Der junge Mann weint bitterlich.
Die Mutter gleicht einem vom Wind
geschüttelten Baum, so sehr wird sie vom Schluchzen erschüttert. Die Leute
reagieren ganz unterschiedlich.
Jesus ist traurig. «Hast du beim
Sündigen nicht an deine Mutter gedacht ? Warst du so töricht zu vergessen, daß
du noch eine Mutter auf Erden und einen Gott im Himmel hast? Wenn nun der
Aussatz nicht ausgebrochen wäre, wäre dir je zum Bewußtsein gekommen, daß du
gegen Gott und den Nächsten gesündigt hast? Was hast du aus deiner Seele
gemacht, aus deiner Jugend?»
«Ich bin in Versuchung geführt
worden...»
«Bist du denn ein Kind, um nicht
zu wissen, daß diese Frucht verflucht war? Du würdest es verdienen, ohne
Mitleid sterben zu müssen.»
«Oh... hab Erbarmen; du allein
vermagst...»
«Nicht ich, Gott!' und nur, wenn
du hier schwörst, nicht mehr zu sündigen !»
«Ich schwöre es! Ich schwöre es!
Rette mich, Herr. Mir bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Verurteilung.
Mutter, Mutter! Hilf mir mit deinem Flehen! ... Oh! Meine Mutter!»
Die Frau hat keine Stimme mehr.
Sie umklammert die Füße Jesu und richtet ihre vom Schmerz weit aufgerissenen
Augen zu ihm auf: das verzweifelte Antlitz einer Ertrinkenden. Sie weiß, daß
es hier um den letzten Halt geht, der ihn retten kann.
Jesus sieht sie an und lächelt
ihr mitleidig zu. «Steh auf, Mutter! Dein Sohn ist geheilt. Aber deinetwegen!
Nicht seinetwegen!»
Die Frau kann es noch nicht
glauben. Es scheint ihr unmöglich, daß er auf diese Entfernung hätte geheilt
werden können, und sie macht verneinende Kopfbewegungen unter fortwährendem
Schluchzen.
«Mann, öffne die Tunika an der
Brust. Hier befand sich der Fleck. Nur damit deine Mutter getröstet ist.»
Der Jüngling legt die Tunika ab,
wodurch seine nackte Brust von allen gesehen werden kann. Er hat die glatte
Haut eines jungen, kräftigen Menschen.
«Schau, Mutter», sagt Jesus, und
er beugt sich, um der Frau aufzuhelfen; eine Gebärde, die auch dazu dient, sie
zurückzuhalten, falls sie sich in ihrer Mutterliebe und in der Freude über das
Wunder auf ihren Sohn stürzen wollte, ohne dessen Reinigung abzuwarten. Da es
ihr unmöglich ist, dorthin zu gehen, wo sie die mütterliche Liebe hinzieht,
bleibt sie an Jesu Herzen und küßt ihn in einem wahren Freudentaumel. Sie
weint, lacht, küßt und preist den Herrn, und Jesus streichelt sie voller
Mitleid.
' Ausdruck, der zu verstehen ist
im Sinne von Matth 19,16-17; Mark 10,17-18; Luk 18,18-19.
53
Dann sagt er zum Jüngling: «Geh
zum Priester und denk daran, daß Gott dich um deiner Mutter willen geheilt
hat, und damit du in Zukunft gerecht lebest. Geh!»
Nachdem der junge Mann seinen
Retter gepriesen hat, geht er weg, und in einiger Entfernung folgen ihm die
Mutter und ihre Begleiterinnen. Das Volk lobt und preist den Herrn.
Jesus kehrt an seinen Platz
zurück.
«Auch jener Mann hatte vergessen,
daß es einen Gott gibt, der Zucht in den Sitten fordert. Er hatte vergessen,
daß es verboten ist, sich Götter neben dem wahren Gott zu halten. Er hatte
vergessen, den Sabbat zu heiligen, wie ich es gelehrt habe. Er hatte die
liebevolle Ehrfurcht der Mutter gegenüber außer Acht gelassen. Er hatte
vergessen, daß er nicht Unkeuschheit treiben, nicht stehlen, nicht trügerisch
sein und nicht des Nächsten Frau begehren, sich nicht selbst und seine eigene
Seele töten und nicht Ehebruch begehen darf. Er hatte das alles vergessen. Nun
habt ihr gesehen, wie er bestraft worden ist.
"Du sollst nicht begehren eines
anderen Frau" ' steht in enger Verbindung mit dem Gebot: "Du sollst nicht
ehebrechen" ' weil die Begierde stets der Tat vorausgeht. Der Mensch ist zu
schwach, als daß es bei der bloßen Begierde bleiben und er seinem Verlangen
nicht nachgeben würde. Was letztlich sehr traurig ist: daß der Mensch nicht
imstande ist, sich ebenso zu verhalten, wenn es um gute Wünsche geht. Man
begehrt das Böse, und die böse Tat wird vollzogen. Gutes wünscht man zwar,
hält jedoch inne, wenn man nicht sogar vom guten Vorsatz ganz abkommt.
Was ich ihm gesagt habe, das sage
ich zu euch allen, denn die Sünde der Begehrlichkeit ist so verbreitet wie das
Unkraut, das sich von selbst vermehrt. Seid ihr so kindisch, daß ihr nicht
wißt, daß gerade jene Versuchung giftig ist und gemieden werden muß? "Ich bin
versucht worden!" Der alte Spruch. Aber da es auch ein altes Beispiel dafür
gibt, der erste Sündenfall, müßte der Mensch sich an die Folgen erinnern und
imstande sein, "Nein" zu sagen. In unserer Geschichte fehlt es nicht an
Vorbildern keuscher Menschen, die es blieben, trotz aller Versuchungen des
Fleisches und trotz aller Drohungen von Gewalttätern. Ist die Versuchung etwas
Böses? Nein, sie ist es nicht. Sie ist das Werk des Bösen. Doch sie verwandelt
sich in Ruhm für denjenigen, der sie besiegt.
Der Ehemann, der anderen
Liebschaften nachgeht, ist der Mörder seiner Ehefrau, der Kinder und seiner
selbst. Wer in das Haus eines anderen eindringt, um Ehebruch zu begehen, ist
ein Dieb und zwar einer der niederträchtigsten. Er ist wie ein Kuckuck, der
ohne eigenen Aufwand das Nest eines anderen genießt. Derjenige, welcher seinem
Freund das Vertrauen ablistet, ist ein Fälscher, weil er eine Freundschaft
bezeugt, die er in Wirklichkeit nicht hat. Wer so handelt, entehrt sich selbst
und seine Eltern. Kann auf diese Weise Gott mit ihm sein?
54
Ich habe das Wunder für jene arme
Mutter gewirkt. Doch Unkeuschheit erregt in mir einen derartigen Widerwillen,
daß ich darob angeekelt bin. Meine Seele hat einen Schrei der Abscheu vor der
Unkeuschheit ausgestoßen. Alles Elend umgibt mich und für alle bin ich der
Retter. Doch ziehe ich es vor, einen Toten zu berühren, einen Gerechten, der
schon zu verwesen anfängt und dessen Geist bereits in den Frieden eingegangen
ist, als mich einem zu nähern, der nach Unkeuschheit riecht. Ich bin der
Retter, aber ich bin der Unschuldige. Alle jene, die hierher kommen oder über
mich sprechen, sollen sich daran erinnern, wenn sie mich mit ihrem Schmutz
besudeln.
Ich verstehe, daß ihr anderes von
mir erwartet, doch ich kann nicht. Der Ruin einer kaum erblühten Jugend, die
durch die Wollust zerstört worden ist, hat mich mehr erschüttert, als wenn ich
den Tod berührt hätte. Laßt uns nun zu den Kranken gehen. Da ich wegen des
Ekels, der mich würgt, nicht das Wort sein kann, werde ich das Heil jener
sein, die auf mich hoffen. Der Friede sei mit euch!»
Jesus sieht wirklich sehr leidend
und blaß aus. Sein Lächeln kehrt erst wieder, wie er sich über die kranken
Kinder und über die Kranken auf den Bahren beugt. Dann wird er wieder er
selbst. Besonders jetzt, da er seinen Finger in den Mund eines kleinen Stummen
von etwa zehn Jahren legt und ihn "Jesus" und dann "Mutter" sagen läßt. Die
Leute gehen langsam weg. Jesus wandelt in der Sonne, die den Vorplatz
überflutet, bis ihn Iskariot einholt. «Meister, ich bin unruhig...»
«Warum, Judas ?»
«Wegen jenen aus Jerusalem. Ich
kenne sie. Laß mich für einige Tage dorthin gehen. Ich verlange nicht einmal,
daß du mich allein gehen läßt. Im Gegenteil, ich bitte dich, daß dies nicht
geschehe. Laß Simon und Johannes mit mir kommen. Sie waren so gut zu mir bei
der ersten Reise durch Judäa. Der eine mäßigt mich, der andere macht mich rein
und lauter auch im Denken. Du kannst dir nicht vorstellen, was mir Johannes
bedeutet. Er ist der Tau, der meine Leidenschaften besänftigt, und Öl für mein
sturmbewegtes Inneres... Glaube es mir!»
«Ich weiß es. Du brauchst dich
also nicht darüber zu wundern, wenn ich ihn überaus liebe. Er ist mein Friede!
Aber auch du, wenn du immer gut bist, wirst mein Trost sein. Wenn du die Gaben
Gottes auf die richtige Art benützest – und du hast deren viele – wie du es
seit einigen Tagen tust, dann wirst du ein wahrhaftiger Apostel werden.»
«Und wirst du mich wie Johannes
lieben?»
«Ich liebe dich ebensosehr,
Judas. Doch ich werde dich dann nur ohne Kummer und Schmerzen lieben.»
«Oh, Meister, wie bist du gut!»
«Geh nur nach Jerusalem. Es wird
nichts nützen, aber ich möchte deinen Wunsch, mir dienlich zu sein, nicht
enttäuschen. Ich werde es sofort
55
Simon und Johannes sagen. Laßt
uns gehen! Siehst du, wie dein Jesus gewisser Sünden wegen leidet? Mir ist,
wie wenn ich eine allzu schwere Last hochgehoben hätte. Verursache mir nie
einen solchen Schmerz! Nie mehr!»
«Nein, Meister! Nein! Ich liebe
dich, du weißt es. Aber ich bin ein Schwächling.»
«Die Liebe wird dich stärken.»
Sie betreten das Haus, und das
ist das Ende.
168. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"; ER HEILT DEN BESESSENEN RÖMER; ER SPRICHT ZU RÖMERN
Jesus ist heute mit den neun
Zurückgebliebenen zusammen, denn die drei anderen sind nach Jerusalem
abgereist. Thomas, der immerfrohe, ist mit seinem Gemüse und anderen,
geistigeren Obliegenheiten beschäftigt, während Petrus mit Philippus,
Bartholomäus und Matthäus sich um die Pilger kümmert, und die anderen zur
Taufe zum Fluß gehen, was bei diesem scharfen Winde wirklich eine Buße ist.
Jesus sitzt noch in seiner Ecke
in der Küche, während Thomas arbeitet und schweigt, um den Meister nicht zu
stören. Andreas kommt und sagt: «Meister, es ist ein Kranker da. Ich würde
vorschlagen, ihn sofort zu heilen, denn... sie sagen er sei geisteskrank, aber
sie sind nicht Israeliten. Wir würden sagen, er ist besessen. Er schreit,
grölt, verkrampft sich und schlägt um sich. Komm und sieh!»
«Sofort. Wo ist er?»
«Noch auf dem Felde. Hörst du
dieses Geheul? Das ist er. Es hört sich wie ein Tierlaut an, doch es ist er.
Er muß reich sein, denn sein Begleiter ist gut angezogen, und man hat ihn aus
einem prächtigen Fuhrwerk gehoben, das vornehm und von vielen Dienern umgeben
ist. Er muß ein Heide sein, denn er verflucht alle Götter des Olymps.»
«Laßt uns gehen.»
«Ich komme auch mit, um zu
sehen», sagt Thomas, mehr von der Neugier getrieben als um sein Gemüse
besorgt.
Sie verlassen das Haus, und
anstatt zum Fluß abzubiegen, gehen sie auf die Felder, welche das Bauernhaus
vom Hause des Verwalters trennen. Inmitten einer Wiese, auf der zuvor Schafe
geweidet haben, die nun verängstigt in alle Himmelsrichtungen geflohen sind
und vergeblich von den Hirten und einem Hund zusammengetrieben werden, ist ein
gefesselter Mann, der trotz der Fesseln Sprünge wie ein Rasender vollführt und
Schreie ausstößt, die immer heftiger werden, je mehr Jesus sich ihm nähert.
56
Petrus, Philippus, Matthäus und
Nathanael stehen ratlos in seiner Nähe. Auch Männer umstehen ihn, die Frauen
hingegen haben Angst.
«Du bist gekommen, Meister?
Siehst du, was für eine Furie ?» sagt Petrus.
«Es wird jetzt vorübergehen.»
«Aber weißt du, er ist Heide.»
«Was hat dies zu sagen?»
«Nun, wegen seiner Seele...»
Jesus lächelt und geht weiter. Er
kommt zur Gruppe mit dem Geistesgestörten, der sich immer wütender gebärdet.
Aus der Gruppe tritt ein Mann
vor, den das Gewand und das glattrasierte Gesicht als Römer erkenntlich
machen. Er grüßt: «Salve, Meister! Dein Ruhm ist bis zu mir gedrungen. Du bist
in der Heilkunst wunderbar wie Hippokrates und im Wunderwirken mächtiger als
das Bildnis des Äskulap. Ich weiß es, und deswegen komme ich. Mein Bruder ist,
wie du siehst, verrückt, aufgrund einer geheimnisvollen Krankheit. Kein Arzt
kann etwas finden. Ich bin mit ihm zum Tempel des Äskulap gegangen, doch
danach wurde es noch schlimmer. In Ptolemais habe ich einen Verwandten und
dieser sandte mir durch eine Galeere eine Botschaft. Er teilte mir mit, daß
hier einer wäre, der alle heilt. So bin ich gekommen. Welch eine schreckliche
Reise!»
«Das verdient Belohnung.»
«Aber sieh, wir sind nicht einmal
Neubekehrte. Wir sind Römer und den Göttern treu, also Heiden, wie ihr sagt.
Wir kommen aus Sybaris und sind jetzt auf Zypern.»
«Das ist wahr, ihr seid Heiden.»
«Also nichts für uns? Dein Olymp
verfolgt unseren Olymp, oder der deine wird von unserem verfolgt.»
«Mein Gott, der Eine und
Dreieinige Gott herrscht als Einziger und Alleiniger.»
«So bin ich umsonst gekommen»,
sagt der Römer enttäuscht.
«Warum?»
«Weil ich einem anderen Gott
angehöre.»
«Die Seele ist von einem Einzigen
erschaffen worden.»
«Die Seele? ...»
«Die Seele! Das göttliche Etwas,
das von Gott für jeden Menschen erschaffen wird als Gefährtin während unseres
irdischen Lebens. Nach unserem leiblichen Tod lebt sie weiter.»
«Wo ist sie denn?»
«Im Inneren des Menschen. Doch
obschon sie als etwas Göttliches im Inneren des heiligen Tempels wohnt, kann
man von ihr, jenem wahrhaftigen Wesen, welches jeder Ehrfurcht würdig ist,
sagen, daß sie nicht enthalten ist, sondern, daß sie enthält.»
57
«Beim Jupiter! Bist du denn
Philosoph?»
«Ich bin die mit Gott vereinigte
Vernunft.»
«Nach all dem, was du gesagt
hast, glaubte ich, du seiest Philosoph...»
«Und was ist Philosophie, wenn
sie ehrlich und wahr ist? Ist sie nicht die Erhebung der menschlichen Vernunft
zur unendlichen Weisheit und Macht, also zu Gott?»
«Gott! Gott! ... Ich habe den
Irren, der mich stört. Doch ich vergesse beinahe seinen Zustand, um dir,
Göttlicher, zuzuhören.»
«Ich bin nicht göttlich in dem
Sinne, wie du es meinst. Du nennst göttlich, was über dem Menschen steht. Ich
aber sage, daß diese Benennung nur dem zusteht, der aus Gott ist.»
«Wer ist Gott? Wer hat ihn je
gesehen?»
«Es steht geschrieben: "Du, der
du uns schufst, sei gegrüßt! Wenn ich die menschliche Vollkommenheit
schildere, die Harmonie unseres Körpers beschreibe, dann preise ich deine
Herrlichkeit." Es wurde gesagt: "Deine Güte erstrahlte darin, daß du deine
Gaben an alle, die leben, ausgeteilt hast, damit jeder Mensch habe, was ihm
notwendig ist. Deine Gaben legen Zeugnis ab für deine Weisheit, wie die
Erfüllung deines Willens Zeugnis ablegt für deine Macht." Erkennst du diese
Worte wieder?»
«Wenn Minerva mir hilft... sind
sie von Galenos. Woher kennst du sie? Ich wundere mich.»
Jesus lächelt und antwortet:
«Komm zum wahren Gott, und sein göttlicher Geist wird dich mit der wahren
Weisheit und Frömmigkeit ausstatten, die in der Erkenntnis seiner selbst und
in der Anbetung der Wahrheit besteht.»
«Aber das alles stammt ja von
Galenos! Nun bin ich ganz sicher, du bist nicht nur Arzt und Magier, du bist
auch Philosoph. Warum kommst du nicht nach Rom? ...»
«Weder Arzt, noch Zauberer, noch
Philosoph bin ich, wie du sagst, sondern derjenige, der Zeugnis ablegt für
Gott auf Erden. Bringt den Kranken zu mir.»
Unter Stößen und wilden Rufen
wird der Kranke herbeigebracht.
«Siehst du? Du bezeichnest ihn
als wahnsinnig und sagst, daß kein Arzt ihn heilen kann. Das ist wahr. Kein
Arzt! Denn er ist nicht wahnsinnig. Doch ein Geist aus der Unterwelt – so
nenne ich ihn für dich, der du ein Heide bist – ist in ihn gefahren.»
«Aber er hat nicht den Geist der
Wahrsagung, er sagt lauter unrichtige Dinge.»
«Wir nennen ihn "Dämon" und nicht
Geist der Wahrsagung. Es gibt den sprechenden und den stummen, jenen, der mit
Behauptungen, die nach Wahrheit aussehen, täuscht, und jenen, der sich nur im
Zustand geistiger Verwirrung kundtut. Der erstere ist der vollständigere und
gefährlichere. Dein Bruder hat den zweiten in sich. Doch nun wird er
ausfahren.»
58
«Wie?»
«Er selbst wird es dir sagen.»
Jesus befiehlt: «Verlasse diesen Menschen! Kehre in deinen Abgrund zurück!»
«Ich gehe, denn gegen dich ist
meine Macht zu schwach. Du verjagst mich und machst mich mundtot. Warum mußt
du uns immer besiegen? ...» Der böse Geist hat durch den Mund des Mannes
gesprochen, der nun völlig erschöpft zu Boden sinkt.
«Er ist geheilt. Befreit ihn nun
ohne Furcht von seinen Fesseln.»
«Geheilt? Bist du sicher? Aber...
ich bete dich an!» Der Römer will vor Jesus niederknien, doch Jesus hindert
ihn daran.
«Erhebe deinen Geist. Im Himmel
ist Gott. Ihn bete an und gehe zu ihm! Leb wohl.»
«Nein, so nicht... Nimm
wenigstens diese Gabe hier. Erlaube mir, dich zu behandeln wie die Priester
des Äskulap. Gestatte mir, dich anzuhören... Erlaube mir, über dich in meiner
Heimat zu berichten...»
«Tue es und komme mit deinem
Bruder.»
Der Bruder schaut verwundert um
sich und fragt: «Aber wo bin ich? Dies hier ist nicht Citium! Wo ist das
Meer?»
«Du warst...»
Jesus deutet ihm an zu schweigen
und sagt: «Du warst krank wegen eines hohen Fiebers; sie haben dich in ein
anderes Klima gebracht. Nun geht es dir besser. Komm.»
Alle gehen ins Haus, doch nicht
alle sind in gleicher Weise ergriffen, denn die einen bewundern und die
anderen tadeln die Heilung des Heiden. Jesus geht an seinen Platz, wobei die
Römer in den vorderen Reihen der Versammlung stehen.
«Es soll euch nicht mißfallen,
wenn ich einen Abschnitt aus dem Buch der Könige zitiere (2 Kön 5,1-20).
Es wird darin gesagt: Als der
König von Syrien im Begriff war, Krieg gegen Israel zu führen, hatte er in
seinem Gefolge einen einflußreichen Mann von hohem Ansehen namens Naaman, der
aussätzig war, und daß eine junge Israelitin, die von den Syrern geraubt
worden war und dessen Sklavin wurde, ihm sagte: "Wäre mein Herr beim Propheten
gewesen, der in Samaria ist, dann hätte dieser ihn bestimmt vom Aussatz
geheilt." Als Naaman die Erlaubnis des Königs erbeten hatte, folgte er dem Rat
des Mädchens. Aber der König Israels war darob sehr erzürnt und sagte: "Bin
ich vielleicht Gott, daß der König von Syrien die Kranken zu mir schickt ? Es
handelt sich nur um eine List, um mir den Krieg zu erklären." Doch der Prophet
Elisäus, der davon erfahren hatte, sagte: "Der Aussätzige möge zu mir kommen;
ich werde ihn heilen, und er wird erfahren, daß ein Prophet in Israel ist!"
Naaman ging also zu Elisäus. Doch Elisäus wollte ihn nicht empfangen. Er ließ
ihm nur sagen: "Wasche dich siebenmal im Jordan, und du wirst rein sein."
Naaman fühlte sich gekränkt, weil ihm
59
schien, er hätte den weiten Weg
umsonst zurückgelegt, und wollte empört wieder abreisen. Doch die Diener
sagten zu ihm: "Er hat dich nichts anderes geheißen, als dich siebenmal zu
waschen. Auch wenn er viel mehr von dir verlangt hätte, hättest du es tun
müssen, denn er ist der Prophet." Schließlich gab Naaman nach. Er ging, wusch
sich und war geheilt. Jubelnd kehrte er zum Diener Gottes zurück und sagte
ihm: "Nun kenne ich die Wahrheit: Es gibt keinen anderen Gott auf der ganzen
Erde, es gibt nur den Gott Israels." Als Elisäus keine Gaben nahm, bat Naaman,
wenigstens so viel Erde mitnehmen zu dürfen, daß er auf Israels Erde dem
wahren Gott opfern könne.
Ich weiß, daß es nicht alle von
euch gutheißen, was ich getan habe. Ich weiß aber auch, daß ich mich bei euch
nicht zu rechtfertigen habe. Aber da ich euch in wahrhaftiger Liebe zugetan
bin, möchte ich, daß ihr meine Tat versteht und daraus lernt, und daß von
eurer Seele jeglicher Geist des Tadels und des Ärgernisses weiche. Hier haben
wir zwei Untergebene eines heidnischen Staates. Einer war krank, und es wurde
ihm gesagt, durch einen Verwandten vielleicht, aber bestimmt durch den Mund
eines Israeliten: "Wenn du doch zum Messias von Israel gehen würdest! Er
könnte den Kranken heilen." So sind sie von sehr weit her zu mir gekommen. Ihr
Vertrauen war noch größer als jenes des Naamans; denn sie wußten nichts von
Israel und vom Messias, während der Syrer durch die Nachbarschaft des Landes
und den ständigen Kontakt mit den Sklaven aus Israel schon wußte, daß in
Israel Gott ist, der wahre Gott. Ist es nicht gut, wenn jetzt ein heidnischer
Mann in seine Heimat zurückkehrt und berichten kann: "Wahrlich, in Israel ist
ein Mann Gottes, und in Israel betet man den wahren Gott an"?
Ich habe nicht gesagt: "Wasche
dich siebenmal." Ich habe von Gott gesprochen und von der Seele, von zwei
Dingen, die ihnen unbekannt waren und die, gleich dem Sprudeln einer
unversiegbaren Quelle, die sieben Gaben mit sich führen; denn dort, wo der
Begriff Gott und Geist vorhanden ist und wo der Wunsch besteht, zu ihnen zu
gelangen, da wachsen die Pflanzen des Glaubens, der Hoffnung, der
Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit, der Kraft und der Klugheit.
Unbekannte Tugenden für jene, die von ihren Göttern nur die niederen
menschlichen Leidenschaften nachahmen können, und denen sie umso mehr frönen,
weil sie sich darauf berufen, daß auch höhere Wesen ihnen huldigen. Nun kehren
diese hier in ihre Heimat zurück. Doch größer noch als die Freude, erhört
worden zu sein, ist die Freude, sagen zu können: "Wir wissen, daß wir nicht
Unmenschen sind, denn nach diesem Leben gibt es noch eine Zukunft. Wir wissen,
daß der wahre Gott die Güte ist, daß er auch uns liebt und uns Wohltaten
erweist, um uns zu überzeugen, daß wir uns ihm zuwenden sollen!
Was glaubt ihr denn, daß nur sie
die Wahrheit nicht kennen? Gerade
60
erst meinte einer meiner Jünger,
daß ich den Kranken nicht heilen dürfe, weil er eine heidnische Seele hat.
Aber was ist die Seele? Von wem stammt sie ?
Die Seele ist die geistige Natur
des Menschen. Sie ist das Sein, das, in vollkommener Weise erschaffen, das
ganze körperliche Leben adelt, begleitet, belebt und weiterlebt, nachdem das
Fleisch zu leben aufgehört hat, weil sie unsterblich ist wie jener, der sie
erschaffen hat, nämlich Gott!
Da es nur einen Gott gibt, gibt
es auch nicht Seelen von Heiden oder Nichtheiden, da keine von anderen Göttern
erschaffen worden sind. Es gibt eine einzige Macht, die Seelen erschafft, und
es ist die unseres Schöpfers, unseres Gottes, des Einen, des Mächtigen,
Heiligen, Guten, die keine andere Leidenschaft kennt als die der Liebe, der
vollkommenen, rein geistigen Barmherzigkeit; und damit von diesen Römern hier
verstanden werden kann, was ich gesagt habe von der Liebe, füge ich hinzu:
eine absolut moralische Barmherzigkeit; denn der Begriff "Geist" wird von
diesen Kindern, die nichts von heiligen Worten wissen, nicht verstanden.
Glaubt ihr denn, ich sei nur für
Israel gekommen? Ich bin der, der die Geschlechter unter einem Hirtenstab
versammeln wird: unter dem des Himmels. Wahrlich, ich sage euch, die Zeit wird
bald kommen, in der viele Heiden sagen werden: "Gewährt uns das Nötige, damit
wir in unserer heidnischen Heimat dem wahren Dreieinigen Gott opfern können" '
dessen Wort Ich bin. Nun werden sie in ihre Heimat zurückkehren, überzeugter,
als wenn ich sie mit Verachtung weggejagt hätte. Sie spüren Gott im Wunder und
in meinen Worten, und sie werden überall, wo sie hinkommen, darüber berichten.
Weiter frage ich euch: War es
denn nicht gerecht, soviel Vertrauen zu belohnen? Verwirrt durch die Antworten
der Ärzte, enttäuscht von den nutzlosen Reisen zu den Tempeln, haben sie den
nötigen Glauben aufgebracht, zum Unbekannten zu gehen, zum großen Unbekannten
der Welt, dem Verspotteten, dem großen Verlachten und Verleumdeten in Israel,
um ihm zu sagen: "Ich glaube, daß du die Macht hast." Was ihrer neuen
Denkweise den Weg geebnet hat, liegt im Annehmenkönnen dieses Glaubens. Mehr
als von der Krankheit habe ich sie von ihrem Irrglauben geheilt, indem ich
einen Kelch an ihre Lippen geführt habe, der in ihnen einen Durst gelöscht
hat, der immer stärker wird, je mehr man daraus trinkt: es ist der Durst nach
der Erkenntnis des wahren Gottes.
Euch von Israel will ich zum
Schluß sagen: Möget ihr doch den Glauben haben, den diese Männer aufgebracht
haben.»
Der Römer steht mit dem Geheilten
auf. «Aber jetzt wage ich nicht mehr zu sagen: "Beim Jupiter!" So sage ich
fortan: "Bei der Ehre als römischer Bürger schwöre ich dir, daß ich diesen
Durst haben werde. Doch nun muß ich gehen. Wer wird mir in Zukunft zu trinken
geben?»
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«Dein Geist, die Seele, von der
du jetzt weißt, daß du sie hast, bis zu dem Tage, da ein Bote von mir zu dir
kommen wird.»
«Nicht du selbst ?»
«Ich... ich nicht. Doch werde ich
nicht abwesend sein, auch wenn ich nicht anwesend bin. Es werden kaum mehr als
zwei Jahre vergehen, bis ich dir ein Geschenk gebe, das größer ist als die
Heilung dessen, der dir lieb und teuer ist. Lebt wohl, ihr beiden! Bleibt
beharrlich in diesem Bewußtsein des Glaubens!»
«Salve, Meister. Der wahre Gott
möge dich behüten.» Die beiden Römer entfernen sich und man hört, wie sie die
Diener mit dem Gefährt herbeirufen.
«Sie wußten also nicht, daß sie
eine Seele haben», murmelt ein Greis.
«Ja, Vater! Aber sie haben es
verstanden, meine Worte besser aufzunehmen als viele in Israel. Nun, da sie
ein großes Almosen gespendet haben, wollen wir die Armen Gottes in doppeltem
und dreifachem Maß beschenken. Die Armen mögen für diese Wohltäter beten, die
ärmer als sie selbst sind, damit sie zum einzigen wahren Reichtum gelangen,
der darin besteht, Gott zu erkennen.»
Die Verschleierte weint unter
ihrem Schleier, der wohl verhindert, daß man die Tränen sieht, aber nicht, daß
man das Schluchzen hört.
«Jene Frau weint», sagt Petrus.
«Vielleicht hat sie kein Geld mehr. Sollen wir ihr welches geben?»
«Sie weint nicht deswegen. Doch
gehe und sage ihr: "Die Heimat ist vergänglich, doch der Himmel ist ohne Ende.
Er gehört denen, die es verstehen, Glauben zu haben. Gott ist die Güte und
liebt somit auch die Sünder. Er hilft dir, um dich zu überzeugen, daß du zu
ihm gehen sollst." Geh, Petrus, sprich so zu ihr und laß sie weinen. Es ist
das Gift, das aus ihr kommt.»
Petrus geht zu der Frau, die sich
schon in Richtung der Felder entfernt. Er spricht zu ihr und kehrt zurück.
«Nun weint sie noch stärker», sagt er. «Ich glaubte, sie getröstet zu
haben...», und er schaut Jesus an.
«Sie ist tatsächlich getröstet,
denn es gibt auch Freudentränen.»
«Hm, hm... ich würde ihr gerne
einmal ins Gesicht schauen. Werde ich es wohl einmal sehen?»
«Am Tage des Gerichtes.»
«Göttliche Barmherzigkeit! Aber
dann werde ich ja schon tot sein. Was nützt es mir dann noch? Dann werde ich
den Ewigen anschauen müssen.»
«Beginne sofort damit. Es ist die
einzige nützliche Sache.»
«Ja... aber Meister, wer ist
sie?»
Alle lachen.
«Wenn du noch einmal nach ihr
fragst, dann gehen wir sofort von hier weg; so wirst du sie vergessen.»
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«Nein, Meister! Ich bin
zufrieden, wenn du bleibst...»
Jesus lächelt. «Diese Frau», sagt
er, «ist ein Überbleibsel und ein Erstling.»
«Was soll das heißen ? Ich
verstehe nicht.»
Doch Jesus läßt ihn im Zweifel
und geht zum Dorf.
«Er geht zu Zacharias. Seine Frau
liegt im Sterben», erklärt Andreas. «Er hat mich gebeten, den Meister zu
rufen.»
«Du machst mich zornig. Du weißt
alles, machst alles, und mir sagst du nie etwas. Schlimmer als ein Fisch bist
du!» Petrus lädt seine Enttäuschung auf seinen Bruder ab.
«Bruder, nimm es nicht so
tragisch. Du sprichst auch für mich. Laßt uns die Netze einziehen. Komm.»
Die einen gehen nach rechts, die
anderen nach links, und das ist das Ende.
169. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST KEIN FALSCHES ZEUGNIS ABLEGEN»
«Wieviel Volk!» ruft Matthäus aus
und Petrus entgegnet: «Schau! Auch Galiläer sind da... Wir wollen es dem
Meister sagen. Es sind drei angesehene Gauner!»
«Sie kommen vielleicht
meinetwegen. Auch hier verfolgen sie mich...»
«Nein, Matthäus. Der Hai frißt
keine kleinen Fische. Er will den Menschen, eine edle Beute. Nur wenn er
keinen findet, schnappt er einen großen Fisch. Aber ich, du und die anderen,
wir sind kleine Fische... kleine Ware.»
«Du meinst, sie sind des Meisters
wegen gekommen?» fragt Matthäus.
«Für wen denn sonst? Siehst du
nicht, wie sie nach allen Seiten spähen ? Sie gleichen wilden Tieren, die die
Spur der Gazelle wittern.»
«Ich gehe und melde es.»
«Warte! Wir wollen es den Söhnen
des Alphäus sagen. Er ist zu gut. Eine vergeudete Güte, wenn sie in ihren
Rachen fällt.»
«Du hast recht.»
Die beiden gehen zum Fluß und
rufen Jakobus und Judas. «Kommt, hier sind einige Verdächtige. Sie sind
bestimmt gekommen, um den Meister zu belästigen.»
«So laßt uns gehen. Wo ist der
Meister ?»
«Noch in der Küche. Wir wollen
uns beeilen, denn wenn er es bemerkt, wäre er nicht einverstanden!»
«Ja, und er tut nicht gut daran.»
«Das sage ich auch.»
63
Sie kehren zum Dreschplatz
zurück. Die Gruppe aus Galiläa spricht steif und herablassend mit anderen
Leuten. Judas des Alphäus nähert sich ihnen zufällig und hört: «Worte müssen
auf Tatsachen beruhen.»
«Die erbringt er. Erst gestern
hat er einen besessenen Römer geheilt», entgegnet ein kräftiger Mann aus dem
Volk.
«Schrecklich! Einen Heiden
heilen! Skandal! Hast du gehört, Eli ?»
«Alle Sünden sind in ihm.
Freundschaften mit Zöllnern und Dirnen, Umgang mit Heiden und...»
«... und das Dulden von
Verleumdern! Auch das ist eine Sünde. In meinen Augen die schwerste. Doch da
er nichts davon weiß, kann und will er sich auch nicht verteidigen. Sprecht
mit mir. Ich bin sein Bruder und älter als er, und dieser ist der andere
Bruder und noch älter. Also sprecht.»
«Weshalb ärgerst du dich
eigentlich? Glaubst du, wir reden schlecht vom Messias? Nein! Wir sind von
sehr, sehr weit her gekommen, angezogen von seinem Ruf. Wir sagten es auch
diesen hier.»
«Lügner! Du ekelst mich so an,
daß ich dir den Rücken kehre», und Judas des Alphäus fürchtet, gegen die
Nächstenliebe Feinden gegenüber zu fehlen, und geht fort.
«Ist es vielleicht nicht wahr?
Ihr alle, bezeugt es selber.»
Aber "alle" ' das heißt, die
anderen, mit denen die Galiläer sprachen, schweigen. Sie wollen nicht lügen,
wagen jedoch nicht zu widersprechen, und darum sagen sie nichts.
«Wir wissen nicht einmal, wie er
ist...», sagt der Galiläer Eli.
«Hast du ihn nicht in meinem
Hause beschimpft?» fragt Matthäus spöttisch. «Oder hast du das Gedächtnis
wegen Krankheit verloren?»
Der "Galiläer" hüllt sich in
seinen Mantel ein und geht ohne zu antworten mit den anderen weg.
«Feigling!» ruft ihm Petrus nach.
«Sie wollten uns teuflische Dinge
über ihn erzählen...», erklärt ein Mann. «Aber wir haben seine Taten gesehen,
und wir wissen, wie sie sind, die Pharisäer. Wem soll man also glauben: dem
Guten, der wirklich gut ist, oder diesen Boshaften, die sich selbst als gut
bezeichnen, aber eine Landplage sind? Ich weiß nur, daß ich, seit ich hierher
komme, so verändert bin, daß ich mich selbst nicht wiedererkenne. Ich war ein
gewalttätiger Mensch, hart zu Weib und Kindern, rücksichtslos gegen meine
Mitmenschen, und nun? Alle im Dorf sagen: "Azarias ist nicht mehr der
gleiche." Habt ihr jemals gehört, daß ein Teufel die Menschen gut werden läßt?
Für wen arbeitet er denn? Für unsere Heiligung? Das ist aber ein eigenartiger
Teufel, der für den Herrn arbeitet.»
«Das ist richtig, Mann. Gott möge
dich beschützen, weil du wohl verstehst, gut siehst und recht handelst. Mach
so weiter, und du wirst ein echter Jünger des gebenedeiten Messias sein. Eine
Freude für ihn, der nur euer Bestes will und alles erträgt, um euch zum Guten
zu führen. Nur das
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wirklich Böse soll bei euch
Ärgernis erregen. Aber wenn ihr seht, wie Jesus im Namen Gottes wirkt, dann
nehmt keinen Anstoß und glaubt jenen nicht, die euch zum Ärgernisnehmen
überreden wollen, auch wenn ihr ihn Neues tun seht. Eine neue Zeit ist
angebrochen, wie eine Blume, die erblüht; nachdem die Wurzel sich
jahrhundertelang vorbereitet hat, ist dieser Tag gekommen. Wenn diese
Vorbereitungszeit nicht vorangegangen wäre, hätten wir sein Wort nicht
verstanden. Doch Jahrhunderte des Gehorsams gegenüber dem Gesetz des Sinai
haben uns jenes Minimum an Vorbereitung gegeben, das uns erlaubt, von dieser
göttlichen Blume, welche uns die Güte zu sehen gewährt hat, alle Düfte und
Säfte in uns aufzunehmen, um uns zu reinigen, zu stärken, zu heiligen und uns
den Wohlgeruch der Heiligkeit eines Altares zu verleihen. Da nun die neue Zeit
gekommen ist, bringt sie uns neue Formen, die aber nicht gegen das Gesetz
sind, jedoch von der Barmherzigkeit und Liebe geprägt, die vom Himmel
gestiegen ist.» Jakobus des Alphäus macht ein Zeichen des Grußes und geht zum
Haus.
«Wie gut du reden kannst», sagt
Petrus voller Bewunderung. «Ich weiß nie, was ich sagen soll. So sage ich nur:
seid gut, liebt ihn, hört auf ihn, glaubt ihm. Ich weiß wirklich nicht, wie er
mit mir zufrieden sein kann!»
«Er ist es aber sehr», antwortet
Jakobus des Alphäus.
«Sagst du das ehrlich oder nur
aus Güte?»
«Es ist wirklich wahr. Noch
gestern hat er es mir gesagt.»
«Ja? Dann bin ich heute
glücklicher als am Tag, da man meine Braut zu mir geführt hat. Aber sag, wo
hast du denn so gut reden gelernt ?»
«Auf den Knien seiner Mutter und
an seiner Seite. Was für Unterrichtsstunden! Was für Worte! Nur Jesus spricht
noch besser als sie. Doch was ihr an Macht fehlt, ersetzt sie durch ihre
sanfte Güte... und das dringt ein. Ihre Lehren? Hast du noch nie ein Tüchlein
gesehen, das man mit einem Zipfel in duftendes Öl getaucht hat? Ganz langsam
nimmt es nicht das Öl, sondern den Wohlgeruch in sich auf, und wenn das Öl
weggenommen wird, bleibt der Duft des Öls zurück, um zu sagen: "Ich war da."
So ist es uns mit ihr ergangen. Auch in uns, rauhe Stoffe und vom Leben
verwaschen, ist sie mit ihrer Weisheit und Gnade eingedrungen und ihr
Wohlgeruch ist in uns.»
«Warum läßt er sie nicht
hierherkommen ? Er sagte, er würde es tun. Wir würden besser werden, weniger
starrköpfig sein, ich wenigstens, und auch diese Leute... In ihrer Gegenwart
würden sich sogar diese Giftschlangen bessern, die ab und zu kommen...»
«Glaubst du? Ich nicht. Wir
würden besser werden und auch die Demütigen. Aber die Mächtigen und die Bösen!
... Oh, Simon des Jonas! Offenbare den anderen nie deine ehrlichen Gefühle. Du
könntest enttäuscht werden... Hier ist er! Wir sagen ihm nichts...»
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Jesus kommt aus der Küche und hat
einen kleinen Jungen an der Hand, der neben ihm dahertrottet und an einer mit
Öl getränkten Brotkruste nagt. Jesus richtet seinen langen Schritt nach den
Schrittchen seines kleinen Freundes. «Eine Eroberung», sagt Jesus fröhlich.
«Dieser kleine vierjährige Mann, der sich Asrael nennt, hat mir gesagt, er
möchte ein Jünger werden und alles lernen: predigen, die Kranken heilen,
machen, daß die Weinstöcke auch im Winter Trauben bekommen, und er will auf
einen hohen Berg steigen und aller Welt zurufen: "Kommt, der Messias ist da!"
Ist es nicht so, Asrael ?»
Das lachende Kind sagt mit vollem
Munde: «Ja, ja», und ißt weiter. Thomas neckt es: «Du hast eben erst gelernt,
allein zu essen, du weißt doch gar nicht, wer der Messias ist.»
«Jesus von Nazareth.»
«Was bedeutet denn "Messias" ?»
«Das heißt, das heißt: der Mann,
der gesandt worden ist, um gut zu sein und uns alle gut zu machen.»
«Was tut er, um uns alle gut zu
machen? Du als Lausbub, wie wirst du es machen?»
«Ich werde ihn lieben und alles
tun, und er wird alles tun, weil ich ihn lieb habe. Mache es du nun auch so
und du wirst gut werden.»
«So, da haben wir die Lektion,
Thomas. Die Regel lautet: "Liebe mich, und du wirst alles tun, weil ich dich
lieben werde, wenn du mich liebst, und die Liebe wird alles übrige tun." Der
Heilige Geist hat gesprochen. Komm, Asrael, gehen wir um zu predigen.»
Jesus ist so glücklich, wenn ein
Kind bei ihm ist, daß ich alle zu ihm führen möchte und wünsche, daß alle
Kinder ihn kennenlernen. Wie viele sind es doch, die nicht einmal seinen Namen
kennen?
Sie gehen an der Verschleierten
vorbei, doch bevor sie zu ihr gelangen sagt Jesus zum Kind: «Sag dieser Frau:
"Der Friede sei mit dir, Frau!»
«Warum?»
«Weil sie ein "Wehweh" hat wie
du, wenn du hinfällst. Sie weint. Aber wenn du so zu ihr redest, dann wird es
vergehen.»
«Der Friede sei mit dir, Frau.
Weine nicht! Der Messias hat es mir gesagt. Wenn du ihn lieb hast, dann hat er
dich auch lieb und du wirst gesund werden», ruft das Kind an Jesu Hand, der
weitergeht, ohne stehenzubleiben. Asrael hat wirklich das Zeug zum Missionar.
Auch wenn er jetzt noch ein bißchen voreilig in seinen Predigten ist und mehr
plappert, als ihm zu sagen aufgetragen wurde.
«Der Friede sei mit euch allen.
"Du sollst kein falsches Zeugnis
ablegen", steht geschrieben.
Was gibt es Abstoßenderes als
einen Lügner? Kann man nicht sagen, daß er Grausamkeit mit Unreinheit
verbindet? Ja, so ist es. Der Lügner, ich spreche vom Lügner in
schwerwiegenden Dingen, ist grausam. Er tötet
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das Ansehen einer Person mit
seiner Zunge. Also ist er vom Mörder nicht verschieden. Ich sage, daß er sogar
schlimmer als ein Mörder ist. Dieser tötet nur den Leib. Der Lügner tötet auch
den guten Ruf, das Andenken an einen Menschen. Daher ist er in zweifacher
Weise ein Mörder. Er ist ein unbestrafter Mörder, da er kein Blut vergießt,
sondern die Ehre des Verleumdeten und seiner ganzen Familie verletzt. Ich
denke dabei nicht einmal an den Fall, daß jemand durch Meineid den anderen dem
Tod ausliefert. Über diesem haben sich schon die Kohlen der Hölle angehäuft.
Ich spreche nur von jenen, die durch lügenhafte Äußerungen einem Unschuldigen
gewisse Dinge zu dessen Nachteil unterstellen und andere davon zu überzeugen
versuchen. Warum tut er das? Entweder aus grundlosem Haß oder aus Habsucht,
weil er des anderen Gut für sich haben möchte, oder aus Angst.
Aus Haß: Nur wer ein Freund
Satans ist, empfindet Haß. Der Gute haßt nicht, nie und aus keinem Grund.
Selbst wenn er verachtet wird, auch wenn er geschädigt wird, verzeiht er. Er
haßt nie. Der Haß ist das Zeugnis, das eine verirrte Seele sich selbst
ausstellt, und das klarste Zeugnis, das einem Unschuldigen gegeben wird, denn
der Haß ist die Auflehnung der Bosheit gegen das Gute. Einem, der gut ist,
wird nicht verziehen von den Bösen.
Aus Habgier: Einer hat, was ich
nicht habe. Ich will das, was er hat. Aber nur, wenn ich geringschätzige Worte
über ihn verbreite, kann ich seinen Platz erobern. Ich werde es tun, ich lüge?
Was macht das schon? Ich bestehle ihn? Was ist dabei? Eine ganze Familie
zugrunde richten? Was bedeutet das ? Unter den vielen Fragen, die sich der
arglistige Lügner stellt, vergißt er, weil er sie vergessen will, eine Frage,
nämlich diese: "Und wenn ich entlarvt würde?" Diese stellt er sich nicht.
Denn, erfüllt von Hochmut und Habgier, gleicht er dem, dessen Augen verbunden
sind. Er sieht die Gefahr nicht. Er ist wie betrunken vom Weine Satans und
überlegt nicht, daß Gott stärker ist als Satan und es auf sich nimmt, den
Verleumdeten zu rächen. Der Lügner hat sich der Lüge ausgeliefert und vertraut
törichterweise auf ihren Schutz.
Aus Angst: Oft verleumdet jemand,
um sich selbst zu rechtfertigen. Das ist die verbreitetste Art von Lüge. Das
Böse ist getan. Man fürchtet, daß es entdeckt und als unser Werk erkannt
werde. Also wird, gestützt auf die Wertschätzung, die man noch bei anderen
genießt, der Fall verdreht, und das, was wir getan haben, legen wir einem
anderen zur Last, bei dem man nur die Ehrlichkeit fürchtet. Man verleumdet,
weil vielleicht der andere einmal Zeuge einer unserer bösen Taten war und man
sich auf diese Weise gegen seine Zeugenaussage absichern will. Man klagt ihn
also an, um ihn unbeliebt zu machen, damit ihm niemand glaubt, wenn er etwas
sagt.
Handelt recht, damit ihr niemals
zu lügen nötig habt. Überlegt ihr denn beim Lügen nicht, daß ihr euch ein
schweres Joch aufbürdet? Dieses
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ergibt sich aus der Unterwerfung
unter Satan, aus der ständigen Angst davor, daß eure Aussagen widerlegt werden
könnten, und ihr euch gezwungen seht, euch der ausgesprochenen Lüge mit all
ihren Umständen und Einzelheiten selbst nach Jahren zu erinnern, ohne euch in
Widersprüche zu verwickeln. Die Last eines Galeerensträflings! Wenn sie
wenigstens dem Himmel dienen würde! Aber sie dient nur der Vorbereitung eines
Platzes in der Hölle!
Seid ehrlich! So schön ist der
Mund eines Menschen, der die Lüge nicht kennt. Ist er arm, ungebildet und
verkannt? Auch wenn er es ist, ist er doch immer ein König, denn er ist
aufrichtig. Die Aufrichtigkeit ist königlicher als das Gold und ein Diadem,
denn sie steht über die Maßen höher als ein Thron und hat ein größeres Geleit
von Guten, als ein Monarch sein eigen nennt. Ein aufrichtiger Mensch strömt
Trost und Geborgenheit aus, während die Freundschaft eines Unaufrichtigen oder
auch nur dessen Gegenwart Unbehagen verursacht. Denkt denn der Lügner nicht
daran, daß die Lüge über kurz oder lang aufgedeckt wird und daß man ihm
alsdann stets mit Argwohn begegnen wird? Wie kann man noch gelten lassen, was
er sagt? Auch wenn er die Wahrheit sagt, wird der, der ihn hört und ihm
glauben möchte, im Grunde doch immer einen Zweifel hegen: "Ob er wohl auch
jetzt wieder lügt?" Ihr werdet fragen: "Aber wo ist denn in all dem das
falsche Zeugnis?" Jede Lüge ist ein falsches Zeugnis. Nicht nur die Lüge vor
dem Richter.
Seid einfach, wie Gott und das
Kind einfach sind! Seid wahrheitsliebend in allen Augenblicken eures Lebens.
Wollt ihr den Ruf eines achtbaren Menschen haben? Seid es in Wahrheit! Auch
wenn ein Verleumder euch schlecht machen will, werden hundert Rechtschaffene
sagen: "Nein, das ist nicht wahr! Er ist ein aufrichtiger Mensch. Seine Werke
sprechen für ihn."
Im Buch der Weisheit steht
geschrieben: "Der abtrünnige Mensch ergeht sich in der Frevelhaftigkeit seines
Mundes... In seinem verderbten Herzen bereitet er das Böse vor und zu jeder
Zeit sät er Zwietracht! Sechs Dinge haßt der Herr und das siebte verabscheut
er: hochmütige Augen, lügnerische Zungen, Hände, die unschuldiges Blut
vergießen, ein Herz, das Frevelhaftes sinnt, Füße, die eiligst zum Bösen
rennen, den falschen Zeugen, der Lügen vorträgt, und jenen, der Zwietracht
unter die Brüder sät... Wegen der Zungensünden geht der Hinterhältige dem
Verderben entgegen. Wer lügt, ist ein betrügerischer Zeuge. Wahrheitsliebende
Lippen ändern sich ewig nicht, aber betrügerische Worte bauen auf den
Augenblick. Die Worte des Ohrenbläsers scheinen arglos, aber sie dringen ein
ins Herz. Der Feind wird an seinem Reden erkannt, wenn er Verrat schmiedet.
Wenn er jemandem etwas zuflüstert, traue ihm nicht, denn er trägt sieben böse
Absichten in seinem Herzen. Er verbirgt seinen Haß, aber seine Bosheit wird
offenbar werden... Wer anderen eine Grube gräbt,
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fällt selbst hinein, und der
Stein wird den treffen, der ihn ins Rollen bringt."
Alt wie die Welt ist die Sünde
der Lüge, und unwandelbar ist der Spruch des Weisen darüber, ebenso wie das
Urteil Gottes über den Lügner unverändert bleibt. Ich sage: habt immer nur
eine Sprache! Das Ja sei immer ein Ja, und das Nein immer ein Nein, auch vor
Mächtigen und Tyrannen, und ihr werdet dafür einen großen Lohn im Himmel
haben. Ich sage euch: Habt die Unbefangenheit des Kindes, das instinktiv zu
dem Menschen hingeht, den es für gut hält, das nichts anderes als Güte sucht
und sagt, was seine eigene Güte ihm zu sagen eingibt, ohne zu erwägen, ob es
zu viel sagt und darob einen Tadel ernten könnte.
Geht hin in Frieden, und die
Wahrheit werde euch zum Freunde.»
Der kleine Asrael, der die ganze
Zeit zu den Füßen Jesu gesessen und sein Köpfchen erhoben hatte wie ein
Vöglein, das auf den Gesang seiner Eltern hört, hat sehr liebliche Gebärden:
Er lehnt sein Gesichtchen an die Knie Jesu und sagt: «Ich und du, wir sind
Freunde, denn du bist gut, und ich habe dich gern. Jetzt will auch ich etwas
sagen.» Und seine Stimme erhebend, damit er im ganzen großen Raum gehört
werde, spricht er, die Gebärde Jesu nachahmend: «Hört mich alle. Ich weiß,
wohin die Menschen kommen, die keine Lügen sagen und Jesus von Nazareth
lieben. Sie steigen die Leiter Jakobs hinauf. Hinauf, hinauf, hinauf...
zusammen mit den Engeln, und dann bleiben sie stehen, wenn sie den Herrn
gefunden haben», und er lacht fröhlich, wobei er alle seine kleinen Zähnchen
zeigt.
Jesus streichelt ihn und geht
unter das Volk. Er bringt den Kleinen seiner Mutter: «Danke, Frau, daß du mir
diesen Knaben überlassen hast.»
«Ist er dir zur Last gefallen?»
«Nein, er hat mir Liebe
geschenkt. Er ist ein Kind des Herrn, und der Herr möge immer mit ihm und mir
dir sein. Lebt wohl!»
Alles ist zu Ende.
170. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT BEGEHREN DEINES NÄCHSTEN GUT»
«Gott gibt jedem das Nötige. Das
ist in Wahrheit so. Was braucht der Mensch? Den Prunk? Eine große Zahl von
Dienern? Landgüter, daß man deren Felder gar nicht zählen kann ? Gastmähler,
die bei Sonnenuntergang beginnen und bei Sonnenaufgang enden? Nein! Was der
Mensch braucht, ist ein Obdach, ein Brot und ein Gewand. Das Nötigste zum
Leben!
Schaut euch um. Wer sind die
fröhlichsten und gesündesten Menschen? Wer erfreut sich eines gesunden,
friedlichen Alters? Die Genießer? Nein,
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jene, die ehrbar leben, arbeiten
und sich das Angemessene wünschen. Sie kennen das Gift ungeordneter Begierden
nicht und bleiben kräftig. Sie kennen nicht das Gift der Unmäßigkeit und
bleiben beweglich. Sie kennen das Gift des Neides nicht und bleiben fröhlich.
Wer aber immer mehr haben will, verliert den eigenen Frieden, verliert die
Freude, wird vorzeitig altern, ausgebrannt von Haß und Unmäßigkeit.
Ich könnte die beiden Gebote "Du
sollst nicht stehlen" und "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut"
zusammenfassen. Denn das unbändige Verlangen treibt zum Diebstahl. Es ist nur
ein kurzer Schritt vom einen zum anderen. Ist jeder Wunsch unerlaubt? Das sage
ich nicht. Ein Familienvater, der auf den Feldern oder in der Werkstatt
arbeitet, sündigt nicht, wenn er wünscht, daß ihm seine Arbeit genug einträgt
um seinen Kindern die Nahrung zu gewährleisten, vielmehr erfüllt er seine
Pflicht als Vater. Aber wer nur danach verlangt, immer mehr zu genießen und
sich mit dem bereichert, was anderen gehört, der sündigt.
Der Neid! Warum? Ist er nicht das
Verlangen nach fremdem Gut, Geiz und Neid? Der Neid trennt von Gott, meine
Kinder, und bindet an Satan. Denkt ihr nicht daran, daß Luzifer der erste war,
der das Gut des anderen verlangte? Er war der schönste der Erzengel und konnte
sich an Gott erfreuen. Er hätte damit zufrieden sein müssen. Doch er wurde
neidisch auf Gott und wollte selbst Gott sein... und wurde zum Dämon, zum
ersten Dämon. Zweites Beispiel: Adam und Eva hatten alles und erfreuten sich
des irdischen Paradieses und der Freundschaft Gottes und waren selig in den
Gnadengaben, die Gott ihnen gegeben hatte. Sie hätten damit zufrieden sein
müssen. Doch sie beneideten Gott um die Erkenntnis des Guten und des Bösen und
wurden aus dem Garten Eden vertrieben und von Gott geächtet, sie, die in
Ungnade gefallen waren, sie waren die ersten Sünder. Drittes Beispiel: Kain
beneidete Abel ob seiner Freundschaft mit dem Herrn; er wurde zum ersten
Mörder. Maria, die Schwester von Aaron und Moses beneidete ihren Bruder und
wurde zur ersten Aussätzigen in der Geschichte Israels. Ich könnte euch
Schritt für Schritt durch die ganze Geschichte des Volkes Gottes führen, und
ihr würdet sehen, was die übertriebene Begehrlichkeit aus jenen macht, die ihr
nachgeben: einen Sünder und eine Geißel für die Nation, denn die Sünden der
einzelnen häufen sich an und führen Strafen herbei für ganze Völker, wie
Sandkorn auf Sandkorn, in Jahrhunderten angehäuft, einen Bergrutsch verursacht
und Dörfer und Menschen unter sich begräbt.
Ich habe euch oft die Kinder als
Beispiel angeführt, weil sie einfach sind und vertrauensvoll. Heute sage ich
euch: ahmt die Vögel nach in ihrer Wunschlosigkeit. Jetzt haben wir Winter.
Wenig Nahrung ist in den Obstgärten. Aber sorgen sie sich deswegen schon im
Sommer und hamstern? Nein. Sie vertrauen auf den Herrn. Sie wissen, daß sie
immer ein Würmchen, ein Körnchen, eine Larve, eine Spinne oder eine Fliege auf
dem
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Wasser für ihre Kehle erbeuten
können. Sie wissen, daß ein warmer Dachfirst oder eine Flocke Wolle immer für
ihren Winterunterschlupf zu finden ist, wie sie auch wissen, wann es Zeit ist,
Heu für die Nester und mehr Futter für die Brut zu sammeln, und daß es zur
rechten Zeit dieses Heu auf den Wiesen gibt und mehr Futter in den Obstgärten,
in den Furchen, und Luft und Erde reich an Insekten sein werden. Dann singen
sie leise: "Danke, Schöpfer, für alles, was du uns gibst und geben wirst",
bereit, aus voller Kehle ihr Hosanna zu singen, wenn sie sich in der
Frühlingszeit ihrer Liebe und ihrer Jungen erfreuen.
Welches Geschöpf ist fröhlicher
als der Vogel ? Doch was ist seine Intelligenz im Vergleich zur menschlichen?
Sie ist wie ein Sandkorn im Vergleich zu einem Berg. Doch könnt ihr vom Vogel
lernen. Wahrlich, ich sage euch: Wer ohne unlauteren Wunsch lebt, besitzt die
Fröhlichkeit des Vogels. Er stützt sich auf Gott und spürt in ihm den Vater.
Er lächelt dem beginnenden Tag und der hereinbrechenden Nacht zu, denn er
weiß, daß die Sonne seine Freundin, und die Nacht seine Ernährerin ist. Er
betrachtet die Menschen ohne Neid und hat nicht ihre Rache zu fürchten, denn
er schadet ihnen in keiner Weise. Er zittert nicht um seine Gesundheit, nicht
um seinen Schlaf, denn er weiß, daß ein ehrbares Leben Krankheiten fernhält
und einen sanften Schlaf gewährt. Schließlich fürchtet er den Tod nicht, denn
er weiß, daß er, wenn er gut gehandelt hat, Gottes Lächeln zu erwarten hat.
Auch der König muß sterben. Auch der Reiche muß sterben. Es ist nicht das
Zepter, das den Tod fernhält, noch kann man mit Geld Unsterblichkeit kaufen.
Vor dem König der Könige, vor dem Herrn der Herren sind Kronen und Münzen
nichtige Dinge, nur ein Leben nach den Zehn Geboten hat einen Wert.
Was sagen diese Männer im
Hintergrund? Habt keine Angst zu fragen!»
«Wir sagten: der Antipas, welcher
Sünde hat er sich schuldig gemacht, des Diebstahls oder des Ehebruchs?»
«Ich will nicht, daß ihr auf die
anderen blickt; blickt in euer eigenes Herz! Ich sage euch aber, daß er sich
des Götzendienstes schuldig macht, da er mehr das Fleisch als Gott anbetet,
und des Ehebruches, des Diebstahls, des unerlaubten Verlangens und bald des
Mordes.»
«Wird er von dir, dem Retter,
gerettet werden?»
«Ich werde jene retten, die
bereuen und zu Gott zurückkehren. Die Unbußfertigen werden keine Erlösung
finden.»
«Du hast gesagt, er sei ein Dieb.
Was hat er gestohlen?»
«Die Frau seines Bruders.
Diebstahl bezieht sich nicht nur auf das Geld. Diebstahl ist auch, dem
Menschen die Ehre nehmen, dem Mädchen die Jungfräulichkeit und einem Mann
seine Frau. Das ist genauso Diebstahl, wie wenn man dem Nächsten einen Ochsen
stiehlt oder eine Pflanze nimmt. Der Diebstahl, belastet durch Unzucht oder
durch das falsche
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Zeugnis, wiegt durch Ehebruch
oder Unkeuschheit oder durch die Lüge noch schwerer.»
«Eine Frau, die sich hergibt,
welche Sünde begeht sie?»
«Wenn sie verheiratet ist,
Ehebruch und Betrug dem Mann gegenüber. Wenn sie unverheiratet ist, diejenige
der Unreinheit und des Diebstahls an sich selbst.»
«An sich selbst? Sie gibt doch
nur vom Ihrigen etwas weg.»
«Nein. Unser Körper ist von Gott
geschaffen worden, um ein Tempel der Seele zu sein, die der Tempel Gottes ist.
Daher muß er in Sittsamkeit bewahrt werden, da sonst die Seele der
Freundschaft Gottes und des ewigen Lebens beraubt wird.»
«So kann eine Dirne nur noch
Satan gehören?»
«Jede Sünde ist Buhlschaft mit
Satan. Der Sünder gibt sich, einem gedungenen Weibe gleich, mit seinen
unerlaubten Neigungen Satan hin, indem er sich davon einen schmutzigen Nutzen
verspricht. Groß, sehr groß ist die Sünde der Prostitution, welche die
Menschen zu unreinen Tieren erniedrigt. Glaubt jedoch nicht, die übrigen
Todsünden wären weniger schlimm. Was müßte ich über den Götzendienst sagen!
Was über den Mord! Doch hat Gott den Israeliten verziehen, nachdem sie das
Goldene Kalb angebetet hatten. Er hat David eine Sünde verziehen, die eine
zweifache war. Gott verzeiht jedem, der bereut. Wenn nur die Reue im
Verhältnis zur Anzahl und Schwere der Sünden steht, sage ich euch: je mehr
einer bereut, um so mehr wird ihm vergeben werden, denn die Reue ist Ausdruck
der Liebe, der tätigen Liebe. Wer bereut, sagt mit seiner Reue zu Gott: "Ich
kann deinen Zorn nicht länger ertragen, denn ich liebe dich und möchte geliebt
werden." Gott liebt den, der ihn liebt. Deswegen sage ich: je mehr jemand
liebt, um so mehr wird er geliebt. Wer vollkommen liebt, dem wird alles
verziehen.
Das ist die Wahrheit. Geht nun!
Aber vorher sollt ihr noch wissen, daß am Eingang des Dorfes eine Witwe ist,
die mit ihrer Kinderschar in größter Not lebt. Der Schulden wegen hat man sie
aus dem Haus vertrieben, und sie kann dem Hausbesitzer noch "Danke" sagen,
weil er sie nur verjagt hat. Ich habe euer Almosen für ihr Brot verwendet.
Aber sie hat ein Obdach nötig. Die Barmherzigkeit ist das Gott wohlgefälligste
Opfer. Seid gütig, und in Gottes Namen verspreche ich euch die Belohnung.»
Die Leute flüstern, beraten sich
und diskutieren.
Jesus heilt indessen einen fast
Blinden und hört ein altes Mütterchen an, das von Doko gekommen ist und ihn
bittet, zu ihrer kranken Schwiegertochter zu kommen. (Eine lange, von Tränen
begleitete Geschichte, die ich heute, halbtot wie ich bin, nicht
niederschreiben kann.)
Und zum Glück endet alles, denn
ich fürchte, nochmals eine Herzkrise durchstehen zu müssen, wie die letzte,
die drei Stunden andauerte und auch meine Augen in Mitleidenschaft gezogen
hat.
72
171. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"; ABSCHLUSS DER ERKLÄRUNG ZUM "DE PROFUNDIS" UND "MISERERE"
«Meine Kinder im Herrn! – Das
Fest der Reinigung steht nahe bevor, und ich, das Licht der Welt, als das
wahre Licht des Festes, sende euch mit dem notwendigen Minimum an Vorbereitung
hin, um es würdig zu begehen, damit ihr daraus Licht für alle anderen Feste
schöpft. Wer sich vor nähme, viele Lichter anzuzünden, aber nicht einmal über
das Nötige verfügt, um das erste anzuzünden, wäre wirklich sehr töricht. Noch
törichter wäre der, der sich vornähme, seine Heiligung mit dem Schwierigsten
zu beginnen, und dabei das, was die Grundlage des unwandelbaren Bauwerkes der
Vollkommenheit darstellt, vernachlässigt, nämlich die Zehn Gebote.
Man liest in Makkabäer, daß
Judas, nachdem er mit den Seinen unter dem Schutz des Herrn den Tempel und die
Stadt wieder zurückerobert hatte, die Altäre der fremden Götter und die
Tempelchen zerstören und den Tempel reinigen ließ. Dann errichtete er einen
anderen Altar, und mit den Feuersteinen schlug er Feuer, brachte die Opfer
dar, huldigte dem Herrn mit Weihrauch, stellte Lampen und Brote auf, und dann
flehten alle, am Boden niedergeworfen, zum Herrn, daß er sie nicht mehr
sündigen lasse oder, wenn sie aufgrund ihrer Schwäche wieder sündigten, mit
göttlicher Barmherzigkeit behandeln möge. Dies geschah am 25. des Monats
Kislew.
Betrachten wir die an uns
gerichtete Erzählung und wenden wir sie auf uns selbst an; denn jedes Wort der
Geschichte Israels, des auserwählten Volkes, hat einen geistigen Sinn. Das
Leben ist immer eine Lehre. Die Geschichte ist nicht nur eine Lehre für die
irdischen Tage, sondern auch zur Erlangung der ewigen Tage.
"Sie zerstörten die Altäre und
die heidnischen Tempelchen."
Das war die erste ihrer Taten,
und dasselbe habe ich euch angeraten beim Aufzählen eurer persönlichen Götter,
die den wahren Gott ersetzen. Es ist dies die Abgötterei, welche der
Sinnenlust huldigt, dem Gold, dem Stolz: den Hauptlastern, die zur
Entheiligung und zum Tod an Seele und Leib führen und die Strafe Gottes nach
sich ziehen. Ich habe euch nicht erdrückt mit unzähligen Formeln, die die
Gläubigen heute einengen und gegen das wahre Gesetz ein Bollwerk sind, das
durch sie verdrängt und durch Unmengen rein äußerlicher Verbote überdeckt
wird, so daß die Gläubigen die klare, heilige Stimme des Herrn nicht mehr
wahrzunehmen vermögen, die sagt: "Nicht fluchen! Nicht Götzendienst treiben!
Die Feiertage nicht entheiligen! Die Eltern nicht verunehren! Nicht töten!
Nicht Unkeuschheit treiben! Nicht stehlen! Nicht lügen! Nicht fremdes Eigentum
begehren! Nicht die Frau des Nächsten begehren!" Zehn Gebote und keines
73
mehr. Sie sind die zehn Säulen
des Tempels der Seele. Darüber strahlt das Gold des heiligsten der heiligen
Gebote: "Liebe deinen Gott, liebe deinen Nächsten!" Das ist die Krönung des
Tempels, der Schutz der Fundamente und der Ruhm des Erbauers.
Niemand könnte die zehn Regeln
ohne Liebe befolgen, und die Säulen würden einstürzen, alle oder einige, und
der Tempel würde ganz oder teilweise zerstört. Jedenfalls wäre er eine Ruine
und nicht mehr geeignet, das Allerheiligste aufzunehmen. Tut also, was ich
euch gesagt habe, besiegt die drei Begehrlichkeiten! Gebt euren Lastern den
rechten Namen, so ehrlich, wie Gott klar und deutlich sagt: "Tut dies oder
jenes nicht!" Unnütz, die Formen mit Spitzfindigkeit zu zerreden. Wer eine
größere Liebe hat neben der Liebe zu Gott, der ist, wie diese Liebe auch immer
heißen mag, ein Götzendiener. Wer Gott anruft und sich somit als seinen Diener
bekennt, ihm aber dann den Gehorsam verweigert, ist ein Rebell. Wer aus
Habsucht am Sabbat arbeitet, ist ein Schänder, boshaft und anmaßend. Wer den
Eltern seinen Beistand versagt, selbst unter dem Vorwand, er vollbringe
gottgefällige Werke, der haßt Gott, der Vater und Mutter an seiner Statt auf
die Erde bestellt hat. Wer tötet, ist immer ein Mörder. Wer Unkeuschheit
treibt, ist immer ein Unzüchtiger. Wer stiehlt, ist immer ein Dieb. Wer lügt,
ist immer ein Niederträchtiger. Wer das begehrt, was nicht sein ist, ist immer
ein Unersättlicher. Wer das Ehegemach schändet, ist immer ein Unreiner.
So ist es! Und ich erinnere euch,
daß nach der Errichtung des Goldenen Kalbes der Zorn Gottes ausbrach; daß nach
dem Götzendienst Salomons die Spaltung kam, welche Israel teilte und
schwächte; daß nach dem angenommenen, besser gesagt, gut aufgenommenen und von
unwürdigen Juden unter Antiochus Epiphanes eingeführten Hellenismus, das
gegenwärtige geistige, schicksalhafte und nationale Unheil über uns kam. Ich
erinnere euch daran, daß Nadab und Abiu, die falschen Diener Gottes, von Jahwe
bestraft wurden. Ich erinnere euch daran, daß das Manna des Sabbats nicht
heilig war. Ich erinnere euch an Cham und Absalom. Ich erinnere euch an die
Sünde Davids gegen Urias und Absaloms gegen Amnon. Ich erinnere euch an das
Ende Absaloms und Amnons. Ich erinnere euch an das Los des Diebes Heliodor, an
Simon und Menelaus. Ich erinnere euch an das schmähliche Ende der beiden
falschen Ältesten, die falsches Zeugnis gegen Susanna ablegten. Ich könnte so
fortfahren, ohne je ein Ende für die Beispiele zu finden. Doch kehren wir zu
den Makkabäern zurück.
"Sie reinigten den Tempel."
Es genügt nicht, zu sagen: "Ich
zerstöre" ' vielmehr muß man sagen: "Ich reinige." Ich habe euch gesagt, wie
sich der Mensch reinigen soll: mit demütiger und aufrichtiger Reue. Es gibt
keine Sünde, die Gott nicht verzeihen würde, wenn der Sünder wirklich reumütig
ist. Habt Vertrauen in
74
die Güte Gottes. Wenn es euch
doch möglich wäre, zu begreifen, was diese Güte ist, dann würdet ihr nicht vor
Gott fliehen, auch wenn alle Sünden der Welt auf euch lasten würden, sondern
ihr würdet zu seinen Füßen eilen, weil nur der Allergütigste verzeihen kann,
was der Mensch nicht verzeiht.
"Sie errichteten einen anderen
Altar."
Oh, versucht nicht, den Herrn zu
betrügen. Seid nicht lügnerisch in eurem Handeln. Vermengt Gott nicht mit
Mammon. Ihr hättet einen leeren Altar: den Altar Gottes. Denn es ist unnütz,
einen neuen Altar zu errichten, wenn immer noch Reste des alten
weiterbestehen. Entweder Gott oder der Götze: wählt!
"Sie schlugen Feuer aus Stein und
Zunder."
Stein ist der feste Wille, Gott
anzugehören. Zunder ist der Wunsch, während des ganzen, euch noch
verbleibenden Lebens auch die Erinnerung an eure Sünden aus dem Herzen Gottes
zu tilgen. Auf diese Weise wird das Feuer, also die Liebe, entfacht. Ist es
nicht Liebe zum beleidigten Vater, wenn ihn der Sohn durch ein ehrenhaftes
Leben zu trösten versucht, jenen Vater, der vom Sohn erwartet, daß er ihn
wieder froh werden läßt, und der nun, nach Tagen des Leidens , wieder voll der
Freude ist?
Wenn ihr soweit seid, könnt ihr
das Opfer darbringen, Weihrauch anzünden, die Lampen und die Brote aufstellen.
Die Opfer werden Gott nicht verhaßt und die Gebete werden ihm wohlgefällig
sein, der Altar wird erleuchtet sein, reich an Brot von eurer täglichen
Opfergabe. Nun werdet ihr beten können und sagen: "Sei unser Beschützer", denn
er wird euer Freund sein. Doch seine Barmherzigkeit hat nicht gewartet, bis
ihr sein Erbarmen angerufen habt, sondern ist eurem Wunsch zuvorgekommen. Er
hat euch sein Erbarmen geschenkt um euch zu sagen: "Habt Hoffnung. Ich sage es
euch, Gott verzeiht. Kommt zum Herrn."
Ein Altar ist schon in eurer
Mitte: der neue Altar. Von ihm fließen Ströme des Lichtes und der Verzeihung
aus. Wie Öl breiten sie sich aus, lindern und kräftigen. Glaubt an das Wort,
das von ihm kommt. Weint mit mir über eure Sünden. Wie der Levit den Chor
leitet, so lenke ich eure Stimmen zu Gott, und eure Seufzer werden nicht
zurückgewiesen werden, wenn sie mit meiner Stimme vereinigt sind.
Mit euch verdemütige ich mich als
Bruder der Menschen im Fleische, Sohn des Vaters im Geist, und ich sage
euretwegen und mit euch: "Aus diesem tiefen Abgrund, in den Ich-Menschheit
gefallen bin, rufe ich zu dir: Herr, erhöre die Stimme dessen, der in sich
geht und seufzt, und verschließe deine Ohren meinen Worten nicht. Grauen
empfinde ich, mich zu sehen, Herr. Ein Greuel bin ich auch in meinen Augen!
Was werde ich in deinen Augen sein? Schau nicht auf meine Sünden, Herr; denn
ich könnte vor dir nicht bestehen, sondern erweise mir deine Barmherzigkeit.
Du hast gesagt: 'Ich bin die Barmherzigkeit', und ich glaube an dein Wort.
75
Meine Seele ist verwundet und
niedergeschlagen, aber vertraut nach deiner Verheißung auf dich; vom
Morgengrauen bis zur Nacht, von der Jugend bis ins Greisenalter werde ich auf
dich hoffen."
Schuldig des Mordes und des
Ehebruchs, von Gott verworfen, erhält David Verzeihung, nachdem er zum Herrn
gerufen hat: "Habe Erbarmen mit mir, nicht um mir Achtung zu verschaffen,
sondern zu Ehren deiner Barmherzigkeit, die unendlich ist. Um ihretwillen
tilge meine Schuld. Es gibt kein anderes Wasser, in dem ich mein Herz
reinzuwaschen vermöchte, wenn es nicht von den tiefen Wassern deiner heiligen
Güte strömt. Mit dieser Güte wasche mich von meiner Ungerechtigkeit und
reinige mich von meinem Schlamme. Ich leugne nicht, gesündigt zu haben,
sondern bekenne meine Missetaten, und wie ein anklagender Zeuge ist meine
Sünde vor dir. Ich habe mich am Menschen versündigt, an meinem Nächsten und an
mir selbst, doch besonders schmerzt es mich, dich beleidigt zu haben. Dies
soll dir bezeugen, daß ich dich als gerecht in deinen Worten anerkenne und
dein Gericht fürchte, das über jede menschliche Macht triumphiert. Doch
bedenke, o Ewiger Gott, in Sünde wurde ich geboren, und in Schuld empfing mich
meine Mutter. Doch du hast mich sehr geliebt, hast mir deine Weisheit
kundgetan und sie mir als Lehrerin gegeben damit ich die Geheimnisse deiner
erhabenen Wahrheit begreife. Soll ich mich nun vor dir fürchten, der du so
viel für mich getan hast? Nein! Ich fürchte nichts. Besprenge mich mit der
Bitterkeit des Schmerzes, und ich werde rein werden. Wasche mich mit Tränen,
und ich werde weißer als der Schnee der Firne. Laß mich deine Stimme hören,
und dein gedemütigter Diener wird frohlocken, denn deine Stimme ist Freude und
Frohsinn, selbst wenn sie rügt. Wende dein Antlitz auf meine Sünden. Dein
Blick wird meine Freveltaten tilgen. Das Herz, das du mir gegeben hast, ist
von Satan und meiner schwachen Menschlichkeit entweiht worden. Schaffe in mir
ein neues Herz, das rein ist, und zerstöre alle Verderbnis in der Brust deines
Dieners, damit nur ein reiner Geist in ihm herrsche. Doch verwirf mich nicht
vor deinem Angesicht und nimm deine Freundschaft nicht von mir, denn nur das
Heil, das von dir kommt, ist Freude für meine Seele, und dein Herrschergeist
ist Trost dem Gedemütigten. Mach, daß ich zu den Menschen gehen und sagen
kann: 'Schaut, wie gut der Herr ist! Wandelt auf seinen Wegen und ihr werdet
seinen Segen erfahren wie ich, als Mißgeburt des Menschen, der nun wieder Kind
Gottes wird durch die Gnade, die in mir neu auflebt.' So werden die Gottlosen
sich bekehren. Das Blut kocht und das Fleisch schreit in mir. Befreie mich von
ihnen, Herr, Heil meiner Seele, und ich werde dir lobsingen. Ich wußte es
nicht, doch nun habe ich verstanden. Du willst keine Opfer von Schafböcken,
sondern das Opfer eines zerknirschten Herzens. Ein reuevolles und gedemütigtes
Herz ist dir wohlgefälliger als Schafböcke und Widder, denn du hast uns für
dich erschaffen und willst, daß wir uns an das erinnern und
76
dir zurückgeben, was dir gehört.
Sei mir gnädig durch deine große Güte und baue mein und dein Jerusalem wieder
auf: das Jerusalem einer gereinigten Seele, der vergeben worden ist, und auf
der das Opfer der Sühne, des Dankes und des Lobes dargebracht werden kann.
Jeder neue Tag sei für mich eine Hostie der Heiligkeit, die sich auf deinem
Altare verzehrt, um mit dem Duft meiner Liebe bis zu dir hinaufzusteigen."
Kommt! Laßt uns zum Herrn gehen!
Ich voran, ihr hinter mir. Laßt uns zu den Quellen des Heiles gehen, zu den
heiligen Weiden, in die Gefilde Gottes. Vergeßt die Vergangenheit. Lächelt der
Zukunft zu. Denkt nicht an den Schlamm, sondern schaut auf zu den Sternen.
Sagt nicht: "Ich bin Finsternis", sondern sagt: "Gott ist Licht." Ich bin
gekommen, um euch den Frieden und den Sanftmütigen die Frohe Botschaft zu
verkünden, um jene zu pflegen, deren Herz durch zu viele Dinge gebrochen ist;
um allen Sklaven die Freiheit zu predigen, besonders jenen Mammons, und die
Gefangenen von der fleischlichen Begierde zu befreien.
Ich sage euch, das Jahr des Heils
ist gekommen. Weinet nicht, ihr, die ihr traurig seid über die Traurigkeit der
Sünder; trocknet eure Tränen, ihr, die ihr aus dem Reiche Gottes
ausgeschlossen seid. Ich ersetze Asche mit Gold und die Tränen mit Öl.
Festlich kleide ich euch, um euch dem Herrn vorzustellen und zu sagen: "Hier
sind die Lämmer, die zu suchen du mich ausgesandt hast. Ich habe sie
aufgesucht und versammelt, habe sie gezählt, habe die verirrten gesucht, sie
dir zurückgebracht und sie den Wolken und dem Nebel entrissen. Ich habe sie
aus allen Völkern und Regionen genommen und vereinigt, um sie in das Land zu
führen, das nicht mehr Erde ist und das du, o heiliger Vater, für sie
vorbereitet hast, um sie auf die paradiesischen Gipfel deiner hohen Berge zu
führen, wo alles Licht und Schönheit ist, längs der Ufer der himmlischen
Seligkeiten, wo die von dir geliebten Seelen sich an dir sättigen.
Ich bin auch auf die Suche der
Verwundeten gegangen, habe die gebrochenen Glieder geheilt, die Schwachen
gestärkt und keinen übergangen. Das den bissigsten Wölfen der Triebe
entrissene Lamm habe ich wie eine Bürde der Liebe auf meine Schultern gelegt
und lege es nun dir zu Füßen, gütiger, heiliger Vater, denn es kann nicht mehr
gehen, kennt deine Worte nicht, es ist eine arme, von Vorwürfen und Menschen
gequälte Seele, eine Seele, die bereut und zittert wie eine von der Flut
getriebene und zurückgeschlagene Woge am Strand. Es kommt voll Verlangen, und
wird von der Selbsterkenntnis zurückgehalten. Öffne dein Herz, Vater, der du
ganz Liebe bist, damit dieses verirrte Geschöpf in dir Frieden finde. Sage
ihm: 'Komm.' Sage ihm: 'Sei mein.' Es gehörte einem jeden. Nun aber ekelt und
fürchtet es sich davor. Es sagt: 'Jeder Herr ist ein gieriger Scherge.' Hilf,
daß es sagen kann: 'Dieser mein König hat mir die Freude gemacht, mich
angenommen zu haben.' Es weiß nicht, was Liebe ist, aber wenn du es aufnimmst,
wird es erfahren, was die himmlische Liebe ist, die bräutliche
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Liebe zwischen Gott und der
Seele, und wie ein aus den Käfigen grausamer Menschen befreiter Vogel wird es
aufsteigen, immer höher, bis zu dir, in den Himmel, zur Freude, in die
Herrlichkeit, und singen: 'Ich habe ihn gefunden, den ich suchte. Nun wünsche
ich nichts anderes mehr in meinem Herzen. In dir ruhe ich und jubiliere,
ewiger Herr, selig von Ewigkeit zu Ewigkeit."'
Geht! Feiert das Fest der
Reinigung mit einem neuen Geiste. Gottes Licht möge sich in euch entzünden!»
Jesus war am Ende seiner Rede
überwältigend. Ein leuchtendes Antlitz, strahlende Augen, ein Lächeln und eine
Stimme von außerordentlicher Anmut geprägt. Die Leute sind fast wie verzaubert
und bewegen sich erst, als er wiederholt: «Gehet hin! Der Friede sei mit
euch!» Da erst beginnt der Aufbruch der Pilger, die eifrig miteinander reden.
Die Verschleierte geht rasch wie
immer mit ihrem behenden und leicht wiegenden Gang von dannen. Es scheint, als
hätte sie Flügel, denn der Wind bläht ihren Mantel an den Schultern auf.
«Jetzt werde ich erfahren, ob sie
aus Israel ist», sagt Petrus.
«Warum?»
«Wenn sie hier bleibt, dann ist
das ein Zeichen, daß...»
«Sie ist eine arme Frau ohne ein
Zuhause, sonst nichts. Denk daran, Petrus!» Jesus geht zum Dorf.
«Ja, Meister, ich werde daran
denken... Was werden wir tun, wenn alle wegen des Festes in ihren Häusern
bleiben?»
«Unsere Frauen werden auch für
uns die Lampen anzünden.»
«Ich bedauere... Es ist das erste
Jahr, daß ich nicht in meinem Hause sehe, wie sie angezündet werden, oder daß
ich sie anzünde...»
«Du bist ein Kindskopf! Auch wir
werden die Lampen anzünden, dann wirst du nicht mehr so ein verdrießliches
Gesicht machen. Du selbst wirst sie anzünden.»
«Ich? Nein, Herr! Du bist das
Haupt unserer Familie, dir steht es zu.»
«Ich bin immer eine brennende
Lampe und wünsche, daß auch ihr eine seid. Ich bin das ewige Lichterfest,
Petrus. Weißt du, daß ich genau am 25. des Kislew geboren wurde?»
«Wer weiß, wieviele Lichter?»
fragt Petrus bewundernd.
«Man konnte sie nicht zählen...
Es waren alle Sterne des Himmels...»
«Nein! Hat man dich in Nazareth
nicht gefeiert?»
«Ich wurde nicht in Nazareth
geboren, sondern in einem Stall in Bethlehem. Ich sehe, daß Johannes zu
schweigen gewußt hat. Johannes ist sehr gehorsam.»
«Er ist nicht neugierig. Aber ich
bin es. Erzähle mir, deinem armen Simon. Wie werde ich sonst über dich
sprechen können? Oft werde ich von den Leuten gefragt und weiß nicht, was
antworten... Die anderen können es alle, ich meine deine Brüder und Simon,
Bartholomäus und Judas des
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Simon. Auch Thomas versteht es zu
sprechen, er kommt einem zwar vor wie ein Marktschreier, der eine Ware
verkauft, aber er kann es. Matthäus, nun... auch er ist in Ordnung. Er hat
Erfahrung am Steuereinnahmetisch zu rupfen und zwingt andere, zu sagen: "Du
hast recht." Aber ich! ... Armer Simon des Jonas. Was haben dich die Fische
gelehrt? Was der See? Zwei Dinge, aber die taugen nichts: die Fische lehrten
mich zu schweigen und Ausdauer zu haben. Sie sind ausdauernd im Versuch, aus
dem Netz zu fliehen, ich ausdauernd, sie wieder einzufangen. Der See lehrte
mich, Mut und wachsame Augen zu haben. Das Boot? Mich anzustrengen, keinen
Muskel zu schonen und aufrecht zu stehen, auch wenn der See bewegt und die
Gefahr zu fallen groß ist. Den Blick auf den Polarstern gerichtet, feste Hand
am Steuer, Stärke, Mut, Ausdauer, Aufmerksamkeit... das alles hat mich mein
armes Leben gelehrt.»
Jesus legt ihm eine Hand auf die
Schulter, schüttelt und betrachtet ihn liebevoll in echter Bewunderung über
soviel Bescheidenheit. Dann sagt er: «Das scheint dir wenig, Simon Petrus ? Du
hast alles, was du brauchst, um mein "Fels" zu sein. Nichts mehr gehört dazu
und nichts muß weggenommen werden! Du wirst der ewige Steuermann sein, Simon
Petrus. Dem, der nach dir kommt, wirst du sagen: "Den Blick auf den
Polarstern, auf Jesus gerichtet. Feste Hand am Steuer, Kraft, Mut, Ausdauer,
Aufmerksamkeit, harte Arbeit ohne Schonung, das Auge überall, und Geradestehen
auch bei hochgehenden Wellen..." Nun, was das Schweigen anbelangt, das haben
dich die Fische nicht gelehrt.»
«Aber für das, was ich sagen
müßte, bin ich stummer als die Fische... Andere Worte? ... Auch die Hennen
gackern, wie ich es tue... Aber sage mir, mein Meister, gibst du mir auch
einen Sohn? Wir sind alt. Aber du hast gesagt, daß der Täufer von einer alten
Mutter geboren wurde, und jetzt hast du gesagt: "Dem, der nach dir kommt,
wirst du sagen..." Wer kommt nach einem Mann, wenn nicht sein Nachkomme?»
Petrus macht ein bittendes und hoffnungsvolles Gesicht.
«Nein, Petrus... Sei darüber
nicht traurig. Du gleichst wirklich deinem See, wenn die Sonne durch eine
Wolke verdeckt ist und der lächelnde See plötzlich finster wird. Nein, mein
Petrus, nicht einen, sondern tausend und zehntausend Söhne wirst du haben, und
in allen Ländern. Hast du vergessen, was ich dir gesagt habe: "Du wirst
Menschenfischer sein."»
«O ja... aber... Es wäre schön
gewesen, ein Kind zu haben, das zu mir "Vater" sagt!»
«Du wirst so viele haben und sie
nicht mehr zählen können. Du wirst ihnen das ewige Leben geben, und ihnen im
Himmel wieder begegnen und zu mir sagen: "Es sind die Kinder deines Petrus,
und ich will, daß sie da sind, wo ich bin." Ich aber werde zu dir sagen: "Ja,
Petrus, wie du willst, so soll es geschehen. Denn du hast alles für mich
getan, und ich tue alles für dich."» Jesus ist überaus liebevoll bei diesen
Verheißungen.
79
Petrus schluckt den Speichel mit
den Tränen für die sterbende Hoffnung auf eine irdische Vaterschaft, und unter
den Tränen einer Verzückung, die sich schon ankündigt, sagt er: «Oh, Herr,
doch um ewiges Leben geben zu können, muß man die Seelen vom Guten
überzeugen... So sind wir immer am selben Punkt: ich kann nicht reden.»
«Du wirst zu reden wissen, wenn
die Stunde gekommen ist, besser als Gamaliel.»
«Ich will es glauben... Aber dann
mußt du schon ein Wunder an mir wirken; denn wenn ich es von mir aus erreichen
sollte...»
Jesus lächelt in seiner ruhigen
Art und sagt: «Heute gehöre ich ganz dir. Gehen wir ins Dorf zu jener Witwe.
Ich habe ein geheimes Almosen, einen Ring, zu verkaufen. Weißt du, wie ich ihn
bekommen habe? Ein Stein fiel zu meinen Füßen nieder, während ich betend bei
dieser Weide stand. Am Stein war ein Beutelchen mit einem kleinen
Pergamentstreifen. Im Beutelchen war der Ring. Auf dem Zettelchen das Wort:
Barmherzigkeit.»
«Laß sehen. Oh, schön... Von
einer Frau. Was für ein kleiner Finger! Doch wieviel Metall!»
«Nun wirst du ihn verkaufen. Ich
verstehe das nicht. Der Wirt kauft Gold, ich weiß es. Ich warte beim Backofen
auf dich. Geh, Petrus!»
«Aber... wenn ich nicht dazu
fähig bin? Ich und Gold... Ich verstehe nichts von Gold!»
«Du mußt denken, es ist Brot für
jemand, der hungert, dann wirst du dein Bestes tun. Leb wohl!»
Petrus geht nach rechts, während
Jesus langsamen Schrittes nach links zum Dorf geht, das in einiger Entfernung
hinter dem Wäldchen beim Haus des Verwalters zu sehen ist.
172. JESUS VERLÄSST DAS
"TRÜGERISCHE GEWÄSSER" UND GEHT NACH BETHANIEN
Beim "Trügerischen Gewässer" sind
keine Pilger. Es ist seltsam, alles so leer zu sehen: kein Biwak für die
Nacht, und niemand sitzt und ißt auf dem Vorplatz oder unter dem Vordach. Es
herrscht Sauberkeit und Ordnung ohne irgendwelche Spuren, die eine Ansammlung
von Menschen hinterläßt.
Die Jünger nützen ihre Zeit für
handwerkliche Arbeiten: die einen flechten Reusen für den Fischfang, andere
machen kleine Gräben, damit das Regenwasser von den Dächern nicht in den
Pfützen stehenbleibt und den Vorplatz überflutet. Jesus, aufrecht auf dem
Rasen, zerbröselt Brot für die Spatzen. Soweit das Auge reicht erblickt man
niemanden, obwohl
80
das Wetter heiter ist. Nun kommt
Andreas von einer Besorgung zurück und geht auf Jesus zu.
«Friede sei mit dir, Meister!»
«Auch mit dir, Andreas. Komm ein
wenig zu mir. Du kannst in der Nähe der Vögel bleiben, denn du bist wie sie.
Aber siehst du, wenn sie spüren, daß die Person, die sich ihnen nähert, sie
liebt, dann fürchten sie sich nicht mehr. Schau, wie zutraulich sie sind,
sicher und froh. Gerade waren sie noch zu meinen Füßen. Nun bist du gekommen,
und sie beobachten... Doch schau... schau den wagemutigen Sperling an, der
näher kommt. Er hat verstanden, daß keine Gefahr besteht. Hinter ihm die
anderen. Schau, wie sie sich sättigen. Ist es nicht auch bei uns, den Söhnen
des Vaters, so ? Er sättigt uns mit seiner Liebe. Wenn wir sicher sind, daß
wir geliebt werden und zu seiner Freundschaft eingeladen sind, warum dann noch
Angst vor ihm und vor uns selbst haben?
Seine Freundschaft soll uns mutig
machen, auch den Menschen gegenüber. Glaub mir: Nur der Übeltäter muß sich vor
Seinesgleichen fürchten. Nicht der Gerechte, wie du es bist.»
Andreas wird rot und sagt nichts.
Jesus zieht ihn an sich und sagt lachend: «Man müßte dich und Simon zusammen
in einen Trank vereinigen, euch auflösen, mischen und dann neu formen, und ihr
wäret vollkommen. Doch... Wenn ich dir sage, daß du am Ende deiner Mission
gleich Petrus sein wirst, so verschieden du anfänglich von deinem Bruder auch
sein magst, würdest du es glauben?»
«Du sagst es, und bestimmt ist es
so. Ich frage mich nicht, wie dies möglich sein wird; denn alles, was du
sagst, ist wahr. Ich wäre zufrieden, wie Petrus, mein Bruder, zu sein, denn er
ist ein Gerechter und er macht dich glücklich. Simon ist tüchtig, und ich bin
froh, daß er so tüchtig ist, so mutig und stark. Aber auch die anderen...»
«Du nicht?»
«Oh, ich! ... Nur du kannst dich
mit mir zufriedengeben.»
«Doch ich bemerke, wie ruhig und
gründlicher als die anderen du deine Arbeit verrichtest. Denn unter euch
Zwölfen sind welche, die viel Aufhebens um ihre Arbeit machen, andere, die
mehr Aufhebens machen, als nötig wäre, und wieder andere, die nur arbeiten.
Eine demütige Arbeit, mühsam und unbeachtet... Die anderen könnten annehmen,
daß sie nichts tun, doch der, der richtig sieht, weiß es. Diese Unterschiede
bestehen, weil ihr noch nicht vollkommen seid. Es wird immer so sein, auch bei
den künftigen Jüngern, die nach euch folgen, bis zum Zeitpunkt, da der Engel
verkünden wird: "Die Zeit ist abgelaufen." Es wird immer Diener Christi geben,
deren Wirken im Einklang steht mit der Aufmerksamkeit, die sie auf sich
lenken: die Lehrmeister. Es wird leider auch solche geben, die nur viel
Aufhebens machen, und bei denen alles reine Äußerlichkeit ist. Schauspieler,
falsche Hirten mit verstellten Mienen... Priester? Nein: Schauspieler,
81
sonst nichts. Es ist nicht das
äußere Gebaren, das den Priester ausmacht, und auch nicht das Gewand. Auch
nicht seine weltliche Bildung oder die gesellschaftlichen, einflußreichen
Verbindungen sind es, die den Priester ausmachen. Seine Seele ist es. Eine so
erhabene Seele, die über den Körper triumphiert. Mein Priester soll ganz
vergeistigt sein, so träume ich ihn. So werden meine heiligen Priester sein.
Der Geist hat keine schauspielerischen Gebärden und keine Stimme. Er ist
körperlos, weil er geistig ist und daher keine Zieraten kennt und Masken
anlegen kann. Er ist, was er ist: Geist, Flamme, Licht, Liebe. Er spricht zu
den Seelen. Er spricht mit der Keuschheit seiner Augen, seiner Handlungen.
Der Mensch betrachtet ihn und
sieht in ihm einen Menschen seinesgleichen. Aber was sieht er über dem Körper,
den er sieht ? Etwas, das seinen eilenden Schritt hemmt, ihn betrachten und
beschließen läßt: "Dieser Mensch, der mir gleicht, hat vom Menschen nur das
Aussehen. Die Seele ist die eines Engels." Wenn es ein ungläubiger Mensch ist,
kommt er zum Schluß: "Seinetwegen glaube ich, daß es einen Gott und einen
Himmel gibt." Wenn er ein Lebemensch ist, sagt er: "Dieser meinesgleichen hat
Augen des Himmels. Ich werde meine Begierde zügeln, um sie nicht zu
entweihen." Wenn er geizig ist, sagt er sich: "Um seines Beispiels willen,
nach welchem er sich nicht an irdische Güter klammert, höre ich auf, geizig zu
sein." Wenn er mächtig ist, wenn es ein Jähzorniger, Grausamer ist, wird jener
angesichts des Sanftmütigen zum friedlichsten Wesen werden. Dies alles vermag
ein heiliger Priester zu erreichen. Und glaube es: immer wird es unter den
heiligen Priestern solche geben, die bereit sind, aus Liebe zu Gott und dem
Nächsten auch zu sterben... und sie tun dies auf so schlichte Weise, wie sie
auch ein ganzes Leben lang in unauffälliger Weise die Vollkommenheit geübt
haben, so daß die Welt ihrer gar nicht gewahr wurde. Wenn die ganze Welt nicht
ein Sündenpfuhl und Götzendienerei ist, dann nur dank jener stillen Helden und
ihres treuen Eifers. Sie werden dein Lächeln haben: rein und scheu. Denn es
wird immer derartige Andreas geben. Durch die Gnade Gottes und zum Glück der
Welt wird es sie geben.»
«Ich kann es nicht glauben,
solche Worte zu verdienen... Ich habe nichts getan, um sie zu veranlassen...»
«Du hast mir geholfen, ein Herz
für Gott zu gewinnen. Es ist schon das zweite, das du zum Lichte führst.»
«Oh, warum hat sie gesprochen?
Sie hat doch versprochen...»
«Niemand hat gesprochen. Doch ich
weiß es. Wenn die Jünger ruhen, dann sind beim "Trügerischen Gewässer" drei,
die nicht schlafen: der Apostel mit seiner in der Stille wirkenden Liebe für
seine sündigen Brüder, das Geschöpf, das von seiner Seele zum Heile getrieben
wird, und der Retter, der betet und wacht, wartet und hofft. Meine Hoffnung:
daß eine Seele ihr Heil finde. Danke, Andreas! Mach so weiter und sei dafür
gesegnet.»
82
«Oh, Meister... Aber sage den
anderen nichts... Wenn ich allein an einem verlassenen Strand zu einer
Aussätzigen spreche, deren Gesicht ich nicht sehe, dann kann ich noch ein
wenig ausrichten. Doch wenn die anderen es erfahren, vor allem Simon, und er
mitkommen will, dann ist es aus mit mir, dann kann ich nichts mehr tun... Auch
du darfst nicht kommen... denn wenn ich in deiner Gegenwart reden soll, dann
schäme ich mich.»
«Ich werde nicht kommen. Jesus
wird nicht kommen, doch der Geist Gottes ist stets mit dir gewesen. Laßt uns
nach Hause gehen. Man ruft uns zur Mahlzeit.»
Alles ist zu Ende zwischen Jesus
und dem sanftmütigen Jünger.
Sie sind noch beim Essen und
haben die Lampen angezündet, denn der Abend bricht plötzlich herein; und die
Kühle rät, die Türe geschlossen zu halten, als an der Tür geklopft wird und
die fröhliche Stimme des Johannes hörbar wird.
«Willkommen!»
«Ihr habt rasch gemacht!»
«Was gibt es also?»
«Wie seid ihr beladen!»
Alle reden durcheinander und
helfen dabei den dreien, sich von den sehr schweren Taschen zu befreien, die
sie auf den Schultern haben.
«Langsam!»
«Laßt uns zuerst den Meister
grüßen.»
«Aber nur einen Augenblick!»
Es herrscht ein familiäres,
fröhliches Durcheinander, aus Freude, wieder beisammen zu sein.
«Ich grüße euch, Freunde. Gott
hat euch friedliche Tage geschenkt.»
«Ja, Meister, aber keine guten
Nachrichten. Ich sah es voraus», sagt Iskariot.
«Was gibt es? Was ist los?» Die
Neugierde ist erwacht.
«Laßt sie doch zuerst eine
Stärkung zu sich nehmen», sagt Jesus.
«Nein, Meister. Zuerst geben wir
ab, was wir für dich und die anderen mitgebracht haben. Zuerst... Johannes,
gib den Brief.»
«Den hat Simon. Ich hatte Angst,
ihn im Gepäck zu zerknittern.»
Der Zelote, der bis jetzt Thomas
zu untersagen versuchte, ihm Wasser für die müden Füße zu holen, eilt herbei
und sagt: «Ich habe ihn hier in der Gürteltasche», er öffnet die innere Tasche
seines breiten Gürtels aus rotem Leder und entnimmt ihr eine nun etwas
zerdrückte Schriftrolle.
«Sie ist von deiner Mutter. Als
wir bei Bethanien waren, sind wir Jonathan begegnet, der mit dem Brief und
vielen anderen Dingen auf dem Weg zu Lazarus war. Jonathan geht nach
Jerusalem, weil Chuza dort seinen Palast in Ordnung bringt. Vielleicht geht
Herodes nach Tiberias, und Chuza will seine Frau nicht in der Nähe des Herodes
wissen», erklärt Iskariot, während Jesus die Knoten der Papierrolle löst und
zu lesen beginnt.
83
Die Apostel flüstern, während
Jesus mit einem seligen Lächeln die Zeilen seiner Mutter liest.
«Hört», sagt Jesus. «Hier ist
auch für die "Galiläer" einiges. Meine Mutter schreibt: "Meinem Jesus, meinem
geliebten Sohn und Herrn, Friede und Segen! Jonathan, Diener seines Herrn, hat
mir schöne Geschenke von Johanna gebracht, die den Segen ihres Retters für
sich selbst, für den Gemahl und das ganze Haus erbittet. Jonathan sagt mir,
daß er auf Anordnung Chuzas nach Jerusalem geht, um dort den Palast in Sion
wieder zu öffnen. Ich preise Gott dafür, denn so habe ich die Möglichkeit, dir
meine Worte und meinen Segen zu senden. Auch Maria des Alphäus und Salome
senden ihren Söhnen Küsse und Segen. Da Jonathan über alle Maßen gut war, kann
ich auch die Grüße der Frau des Petrus an ihren Mann in der Ferne und der
Angehörigen von Philippus und Nathanael mit einschließen. Alle eure Frauen,
ihr lieben Männer in der Ferne, senden euch Kleider für die Wintermonate, die
sie mit ihrer Arbeit am Webstuhl und mit der Nadel gefertigt haben, Früchte
aus ihrem Garten, süßen Honig, den sie in heißem Wasser an den feuchten
Abenden zu trinken euch raten. Tragt Sorge für eure Gesundheit, lassen euch
die Ehefrauen und Mütter durch mich mitteilen, und ich sage es auch meinem
Sohn. Wir leiden keinen Mangel, glaubt es. Freut euch an den bescheidenen
Geschenken, die wir Jüngerinnen der Jünger Christi den Dienern des Herrn
senden. Gewährt uns nur die Freude, euch gesund zu wissen.
Mein geliebter Sohn, mir wird
bewußt, daß du seit nahezu einem Jahr nicht mehr mir allein gehörst. Mir
scheint, daß ich in die Zeit zurückversetzt bin, da ich wußte, daß du schon
lebtest, denn ich hörte dein kleines Herz in meinem Schoße schlagen; doch ich
konnte gleichwohl sagen, daß du noch nicht da warst, denn du warst durch eine
Schranke von mir getrennt, die mich daran hinderte, deinen geliebten Körper zu
liebkosen. So konnte ich nur deinen Geist anbeten, o mein teurer Sohn und
anbetungswürdiger Gott. Auch jetzt weiß ich, daß du da bist und daß dein Herz,
das nie von mir getrennt ist, selbst wenn wir voneinander getrennt sind, mit
meinem Herzen schlägt, doch ich kann dich nicht mehr liebkosen, dich nicht
hören, dir nicht dienen, dich nicht verehren, dich, den Messias des Herrn und
seiner armen Magd, während ich mich im vollendeten Licht befand, als ich dich,
mein Licht und Licht der Welt, in jenem dunklen Stall an mein Herz schmiegte.
Johanna wollte, daß ich mit ihr gehe, um während des Lichterfestes nicht
allein zu sein. Ich habe es jedoch vorgezogen, mit Maria hier zu bleiben und
mit ihr die Lichter anzuzünden: Für mich und für dich. Aber wenn ich auch die
größte Königin der Welt wäre und Tausende von Lichtern anzünden könnte, ich
wäre dennoch in der Finsternis, denn du bist nicht hier. Es wird das erste Mal
sein, daß ich mir sagen werde: 'Mein Kind ist heute ein Jahr älter geworden'
und mein Kind ist nicht bei mir. Es wird trauriger sein als an deinem ersten
Geburtstag in
84
Matarea. Doch du erfüllst deine
Sendung und ich die meine, und zusammen erfüllen wir den Willen des Vaters und
wirken zur Ehre Gottes. Dies trocknet jede Träne.
Lieber Sohn! Nach all dem, was
mir berichtet worden ist, mache ich mir ein Bild von deinen Werken. Wie die
Wogen eines offenen Meeres mit ihrem Rauschen bis in einen einsamen,
geschlossenen Meerbusen gelangen, so erreicht auch das Echo deines heiligen
Wirkens zur Ehre des Herrn unser ruhiges, kleines Haus und deine Mutter, die
sich freut und zittert; denn wenn alle von dir reden, so reden doch nicht alle
mit dem gleichen Herzen von dir. Es kommen Freunde und von dir mit Wohltaten
Beschenkte, um mir zu sagen: 'Der Sohn deines Leibes sei gepriesen' ' und es
kommen auch feindlich gesinnte Menschen, die mein Herz verwunden und sagen:
'Er soll verflucht sein.' Doch ich bete für diese, denn es sind Unglückliche,
sie sind schlimmer daran als die Heiden, die zu mir kommen und fragen: 'Wo ist
der Magier, der göttliche Zauberpriester?' In ihrem Irrtum sagen sie eine
große Wahrheit, denn du bist wahrlich Priester und erhaben, was der Sinn
dieser Benennung in der antiken Sprache ist, und du bist göttlich, o mein
Jesus. Ich sende sie zu dir mit den Worten: 'Er ist in Bethanien!' Denn so
werde ich wohl sagen müssen, solange du mir keinen anderen Bescheid gibst. Ich
bete für jene die kommen, um für ihren sterblichen Leib zu bitten, damit sie
das Heil für ihre unsterbliche Seele finden mögen. Ich bitte dich darum! Sei
nicht traurig meiner Schmerzen wegen. Sie werden ausgeglichen durch die große
Freude die mir durch die Worte der an Leib und Seele Geheilten zukommt. Doch
Maria hat einen noch größeren Schmerz als ich, denn man spricht nämlich nicht
nur zu mir. Joseph des Alphäus wünscht, daß du erfährst, er sei bei einer
unlängst unternommenen Geschäftsreise nach Jerusalem deinetwegen aufgehalten
und bedroht worden, durch Männer des Hohen Rates. Ich nehme an, daß eine
einflußreiche Person von hier diese auf ihn aufmerksam gemacht hat. Wie hätten
sie sonst Joseph als Familienoberhaupt und deinen Bruder erkennen können? Ich
teile dir dies im Gehorsam als Frau mit. Doch von mir aus sage ich dir: Ich
möchte in deiner Nähe sein, um dich trösten zu können. Doch entscheide du, o
Weisheit des Vaters, ohne auf meine Tränen zu achten. Simon, dein Bruder,
wollte nach diesem Vorfall beinahe zu dir kommen, und dies mit mir! Doch die
Jahreszeit hat ihn zurückgehalten und mehr noch die Befürchtung, er könne dich
nicht finden; denn es wurde wie eine Drohung herumgegeben, daß du dort, wo du
jetzt bist, nicht bleiben könnest.
Sohn! Mein Sohn! Mein
inniggeliebter, heiliger Sohn! Ich stehe wie Moses mit erhobenen Armen auf dem
Berg, um für dich zu beten im Kampf gegen die Feinde Gottes und gegen deine
Feinde, mein Jesus, den die Welt nicht liebt.
Hier ist Lia des Isaak gestorben.
Ich habe darunter gelitten, denn sie ist
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mir immer eine gute Freundin
gewesen. Doch der größte Schmerz bist du, fern und nicht geliebt... Ich segne
dich, mein Sohn, und so wie ich dir Friede und Segen wünsche, bitte ich dich,
ihn auch mir zu gewähren, Deine Mutter."»
«Sie drängen vor bis zu diesem
Haus, diese Unverschämten!» schreit Petrus.
Judas Thaddäus ruft aus: «Ach,
dieser Joseph! Er hätte doch diese Nachricht für sich behalten können, aber er
konnte es nicht erwarten.»
«Das Geschrei der Hyänen
erschreckt die Lebenden nicht», sagt Philippus.
«Das Schlimme ist, daß sie nicht
Hyänen, sondern Tiger sind. Sie suchen lebende Beute», sagt Iskariot und
wendet sich an den Zeloten: «Sag du, was wir alles erfahren haben.»
«Ja, Meister. Judas hatte Grund
zu Befürchtungen. Wir sind zu Joseph von Arimathäa und zu Lazarus gegangen,
ganz offen als deine Freunde. Dann sind wir, ich und Judas, als ob ich sein
Jugendfreund wäre, zu einigen seiner Freunde in Sion gegangen... und... Joseph
und Lazarus lassen dir sagen, sofort wegzugehen, um während dieser Feste
abwesend zu sein. Weigere dich nicht, Meister! Es ist zu deinem Wohl. Die
Freunde von Judas haben uns sogar gesagt: "Hört, sie haben schon beschlossen,
ihn festzunehmen, um ihn anzuklagen" gerade in diesen Tagen des Festes, wo
keine Menschen da sind. Er sollte sich für einige Zeit zurückziehen, um diesen
Vipern zu entgehen. Der Tod des Doras hat ihre Bosheit und ihre Angst
vermehrt, denn sie empfinden nicht nur Haß, sondern Angst, und diese Angst
läßt sie Dinge sehen, die nicht sind, und der Haß verleitet sie auch zur
Lüge.»
«Alles, aber auch alles wissen
sie über uns. Es ist eine häßliche Sache. Alles übertreiben sie, alles
verdrehen sie. Wenn es ihnen scheint, daß sie noch nicht genug zum Verfluchen
haben, dann erfinden sie etwas. Ich bin angeekelt und niedergeschlagen. Ich
bin versucht, auszuwandern, weit fort... Ich weiß nicht wohin... doch weg von
Israel, das ganz Sünde ist!»Iskariot ist ganz mutlos.
«Judas, Judas! Eine Frau braucht
neun Monate, um einem Kind das Leben zu schenken, und du möchtest der Welt die
Erkenntnis Gottes in einer noch kürzeren Zeit geben? Keine neun Monde, sondern
Tausende von Monden sind dazu erforderlich. Wie der Mond bei jedem Mondwechsel
zu- und abnimmt und erst als Neumond, dann als Vollmond und endlich als
abnehmender Mond erscheint, so wird es auch in der Welt, solange sie besteht,
Zeiten der Zunahme, der Fülle und der Abnahme der Religion geben. Aber auch
wenn die Religion tot zu sein scheint, lebt sie, so wie der Mond, wenn er
nicht leuchtet, doch da ist. Wer sich für die Religion bemüht und gewirkt hat,
dem wird ein volles Maß an Verdiensten zustehen, selbst wenn nur eine
unbedeutende Minderheit an treuen Seelen
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auf Erden übrigbleibt. Mut, Mut!
Nicht gleich Freudentaumel bei Erfolg, aber auch keine leichtfertige
Niedergeschlagenheit in den Niederlagen!»
«Aber... gehen wir fort! Wir sind
noch nicht stark genug, und wir spüren, daß wir vor dem Hohen Rat Angst
bekommen würden. Ich wenigstens; ob auch die anderen, das weiß ich nicht. Doch
meine ich, es wäre unklug, ihn zu reizen. Wir haben nicht den Mut der drei
Jünglinge vom Hofe Nabuchodonosors.»
«Ja, Meister, es ist besser.»
«Es ist vorsichtiger.»
«Judas hat recht.»
«Schau, auch deine Mutter und die
Verwandten...»
«Auch Lazarus und Joseph.»
«Wir lassen sie umsonst
herkommen.»
Jesus breitet die Arme aus und
sagt: «Es soll geschehen, wie ihr wollt. Doch dann werden wir hierher
zurückkehren, denn ihr seht, wie viele kommen. Ich zwinge und versuche eure
Seele nicht. Ich fühle, daß ihr noch nicht bereit seid... Doch sehen wir uns
die Arbeit der Frauen an.»
Doch während alle mit leuchtenden
Augen und freudevoller Stimme die Bündel mit den Kleidern, den Sandalen und
den Eßwaren der Mütter und Ehefrauen aus den Taschen ziehen und versuchen,
Jesus für soviel Güte Gottes zu interessieren, bleibt dieser ernst und
geistesabwesend. Er liest immer wieder den mütterlichen Brief. Er hat sich mit
einem Lämpchen in den vom Tisch, auf dem Kleider, Äpfel, Metallgefäße sowie
Käselaibe liegen, entferntesten Winkel zurückgezogen. Die Augen mit seiner
Hand abgeschirmt, scheint er nachzudenken, leidet aber sichtlich...
«Schau, Meister, welch schönes
Gewand und welchen Mantel mit Kapuze meine Frau, die Ärmste, gemacht hat. Wer
weiß, wieviel Mühe sie das gekostet hat, denn sie ist darin nicht so tüchtig
wie deine Mutter», sagt Petrus, der die Schätze auf den Armen wiegt.
«Schön. Ja, schön. Sie ist eine
tüchtige Frau», sagt Jesus höflich. Doch seine Augen sind weit entfernt von
den gezeigten Gegenständen.
«Für uns hat die Mutter zwei
doppelt gewobene Gewänder gemacht. Arme Mutter! Gefallen sie dir, Jesus ? Ist
es nicht eine schöne Farbe?»sagt Johannes des Zebedäus
«Sehr schön, Jakobus. Es wird dir
gut stehen.»
«Schau, ich wette, daß dieser
Gürtel von deiner Mutter gemacht worden ist. Nur sie kann so sticken. Auch
diese doppelt gewobene Kopfbedeckung, mit der man sich vor der Sonne schützt,
hat gewiß deine Mutter gemacht. Sie ist genau wie deine. Das Gewand nicht, das
hat bestimmt unsere Mutter gemacht. Arme Mutter! Nach all den vielen Tränen im
letzten Sommer sieht sie nur noch wenig, und oft reißt ihr der Faden ab. Die
Gute!» und Judas des Alphäus küßt das schwere Gewand von rotbrauner Farbe.
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«Du bist nicht froh, Meister»,
bemerkt schließlich Bartholomäus. «Du schaust nicht einmal die Sachen an, die
man dir gesandt hat.»
«Er kann nicht froh sein»,
entgegnet Simon der Zelote.
«Ich überlege... Aber... Packt
alles wieder zusammen und legt es beiseite. Noch ist die Stunde nicht
gekommen, ergriffen zu werden, und wir werden es auch nicht... Mitten in der
Nacht, beim Mondschein, wollen wir nach Doko gehen. Von dort nach Bethanien.»
«Warum nach Doko ?»
«Weil dort eine Frau im Sterben
liegt, die Heilung von mir erwartet.»
«Gehen wir nicht erst zum
Gutsverwalter ?»
«Nein, Andreas, zu niemandem. So
braucht niemand zu lügen, wenn er sagt, daß er nicht weiß, wohin wir gegangen
sind. Wenn euch daran gelegen ist, nicht verfolgt zu werden, dann liegt mir
daran, dem Lazarus keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.»
«Aber Lazarus erwartet dich.»
«Wir werden zu ihm gehen. Oder
besser... Simon, willst du mich im Haus deines alten Dieners beherbergen ?»
«Mit Freude, Meister. Du weißt
alles. Somit kann ich dir für Lazarus, für mich und im Namen dessen, der in
diesem Haus lebt, sagen: "Es ist dein Haus."»
«Laßt uns gehen. Macht schnell,
damit wir noch vor dem Sabbat in Bethanien sind.»
Während alle sich mit Lämpchen
daran machen, das Notwendige für die unvorhergesehene Abreise
zusammenzusuchen, bleibt Jesus allein.
Andreas kommt wieder herein, geht
zu seinem Jesus und sagt: «Aber jene Frau? Es tut mir leid, sie jetzt allein
zu lassen, da sie gewillt ist, zu kommen... Sie ist vorsichtig... hast du es
gesehen? ...»
«Geh und sage ihr, daß wir nach
einiger Zeit zurückkommen werden. Inzwischen soll sie über deine Worte
nachdenken...»
«Deine Worte, Herr! Ich habe nur
Deine gesagt.»
«Geh und beeile dich. Paß auf,
daß dich niemand sieht. In dieser Welt der Bösen müssen die Unschuldigen das
Aussehen der Treulosen annehmen...»
Alles endet mit dieser großen
Wahrheit.
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173. DIE HEILUNG DER KREBSKRANKEN
JERUSA IN DOKO
ich habe Ihnen vom unerfreulichen
Besuch und der Ankündigung, die ich gestern abend bekommen habe, erzählt. Sie
haben gesehen, daß ich einen erschrockenen Gesichtsausdruck hatte. Ich weiß
nicht, was für ein Gesicht ich gemacht habe. Doch bestimmt war es
beeindruckend, und noch Stunden danach ist die Erregung nicht gewichen.
Es ist nicht das erste Mal, wie
Sie wissen, daß Satan sich mir zeigt und mich zu diesem oder jenem versuchen
will. Jetzt, da er nicht mehr das Fleisch versucht, versucht er den Geist.
Seit einem Jahr ungefähr belästigt er mich in unregelmäßigen Abständen. Zum
erstenmal geschah es in den schrecklichen Tagen des April 1944, als er mir
Hilfe versprach, wenn ich ihn anbeten würde. Das zweite Mal, als er mich mit
der direkten und gewalttätigen, langen Versuchung am 4. Juli 1944 überfiel und
mich versuchte, die Sprechart des Meisters nachzuäffen, um damit die
einzuschüchtern, die mich beleidigt hatte. Das dritte Mal versuchte er mich,
als er mich veranlassen wollte, aus den diktierten Worten mein Werk zu machen
und sie als solches zu veröffentlichen, um daraus Geld und Nutzen zu schlagen.
Die vierte Versuchung erfolgte im Februar dieses Jahres (ich glaube, es war
schon Februar), als er mir erschien (zum ersten Mal sah ich ihn; die anderen
Male hatte ich ihn nur gehört) und mich mit seinem Aussehen und seinem Haß
erschreckte. Das fünfte Mal kam er nun gestern abend. Dies sind die großen
Manifestationen Satans. Doch ihm schreibe ich auch die kleinen Dinge zu, die
mir von anderen zugefügt werden, um mich zum Stolz, zum Selbstmitleid oder zum
Bekenntnis falscher Erscheinungen zu verleiten, oder auch, um mir einzureden,
daß ich nur eine Kranke sei und alles das Produkt einer Geistesgestörtheit
ist. Auch die Schwierigkeiten mit den Verwandten und den Behörden und selbst
mit den Kraftfahrern. (Andeutung auf das unmittelbare Kriegsende.) Alles
schreibe ich Satan zu. Er tut, was er nur kann, um mich zu quälen und mich zur
Unruhe und zur Auflehnung zu treiben, zur Überzeugung, daß Beten unnütz und
alles eine Lüge sei.
Ich muß Ihnen gestehen, daß er
mich gestern abend sehr verwirrt hat. Es ist nicht das erste Mal, daß er mir
Angst einjagt und sagt, daß ich das Opfer einer Täuschung sei und eines Tages
Gott und auch den Menschen dafür Rechenschaft ablegen müsse. Sie wissen, daß
dies meine große Angst ist... obwohl ich immer von Jesus und Ihnen, meinem
Seelenvater, getröstet und wieder aufgerichtet worden bin. Es waren meine
Überlegungen, die durch Satan geschürt worden, aber in mir selbst entstanden
sind. Gestern war es eine direkte Bedrohung. Er hat mir gesagt: «Tu es, tu es,
ich warte auf den rechten Augenblick, den letzten Augenblick. Dann werde ich
dich davon überzeugen, daß du immer Gott, die Menschen und dich selbst belogen
hast. Du bist eine Betrügerin, und du wirst noch einer großen Angst verfallen
und daran verzweifeln, verdammt zu sein. Du wirst es mit solchen Worten sagen,
daß, wer dir beisteht, denken muß, alles sei Widerruf, um weniger sündhaft vor
Gott treten zu können. Du und wer um dich ist, ihr werdet bei dieser
Überzeugung bleiben, und so wirst du sterben... und die anderen werden
erschüttert sein... Ich erwarte dich, und du erwartest mich. Ich verspreche
nichts, ohne es zu halten. Nun machst du mir einen grenzenlosen Ärger. Aber
dann werde ich es sein, der dir Ärger bereiten wird. Ich werde mich für alles
rächen, was du mir antust, so wie nur ich mich zu rächen weiß.» Dann ist er
weggegangen und hat mich so elend zurückgelassen...
Dann aber ist die zärtliche,
sanfte, liebreiche Mutter gekommen, in ihrem weißen Kleide, um mir zuzulächeln
und mich zu liebkosen, und mit seinem schönsten Lächeln hat mich mein Jesus
beschenkt. Doch gleich nachdem sie mich verlassen hatten, bin ich in meine
Bedrängnis zurückgefallen... Es ist hart. Wenn dieser Gedanke mich so stark
überfällt, fühle ich mich versucht, zu sagen: «Ich werde kein Wort mehr
schreiben, ungeachtet jeglichen Drängens.» Doch dann überlege ich und sage:
«Das ist es, was Satan erreichen will», und ich schenke dieser Einflüsterung
kein Gehör.
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Es ist die Zeit der Passion,
nicht wahr? Es wird solche geben, die aus einem falschen Personenkult heraus
dem Sprachrohr, als ihrem Abgott, eine übertriebene Ehre erweisen, weil die
Abgötterei dem Menschen, selbst dem guten, angeboren ist. Dabei vergessen sie,
daß es nur ein Werkzeug Gottes ist, und die Ehre Gott einzig und allein
gebührt.
Dann wird es jene geben, die mich
verspotten. Die einen wie die anderen erwarten in gleicher Weise, wenn auch
mit verschiedenen Absichten, wunderbare Ereignisse um mich, besonders während
der Zeit der Passion. Vielleicht erwarten sie solche Geschehnisse als etwas
Natürliches in meinem Fall, und ihre Erwartung ist gerechtfertigt, wogegen sie
für die anderen Gegenstand des Spottes oder der Abgötterei wären. Ich, Maria
Valtorta, versichere Ihnen, daß ich den Spott dem Kult meiner Person vorziehe.
Dieser läßt mich einen unbeschreiblichen Unmut verspüren. Mir ist, wie wenn
man mich auf einem Platz entkleiden und mich meiner kostbarsten Geheimnisse
berauben wollte, und ich leide darunter. Der Spott der mich trifft, schmerzt
mich weniger, wenn er nicht die Diktate beeinträchtigt und sie nicht als
Verrücktheit und Schabernack hinzustellen versucht.
Doch über den mehr oder weniger
aufrichtigen Wünschen vieler steht der Wille Gottes, oder, besser gesagt, die
Güte Gottes, der auf seine arme Maria hört, die stets gebetet hat und immer zu
beten fortfährt, indem sie spricht: «Siehe, hier ist dein Opfer. Alles
geschehe nach deinem Willen, doch ich möchte keine äußeren Merkmale.» Ich
selbst hätte mir nicht einmal diese Offenbarung Gottes gewünscht. Doch es war
sein Wille, daß ich sein Sprachrohr wäre. Nun also, in Gottes Namen. Etwas
anderes nicht, niemals. Alle diagnostizierbaren oder nicht diagnostizierbaren
Krankheiten, die es gibt, weil die charakteristischen Merkmale fehlen, alle
Leiden, die Jesus erlitten hat, will ich erleiden. Die Todesangst, die Jesus
niedergebeugt hat ... doch er allein soll es wissen, Sie, mein Seelsorger und
ich, und das genügt. Wenn ich aber während dieser Zeit der Passion Verehrer
und Spötter enttäusche, weil ich nicht die "körperlich Leidende" bin, so kann
ich Ihnen versichern, daß ich dennoch meine Passion erlebe. Schlimmer als die
vermehrten körperlichen Leiden – durch Schläge und durch die Mühsal Golgathas,
durch Kopfschmerzen, Zerren und Krämpfe in meinen Muskeln, Atemnot und
Blutandrang, Durst und Fieber, und die durch diese Qualen verursachte
Erschöpfung und Erregungen – ist meine eigentliche Passion, ist für mich stets
das, was ich "mein Gethsemani" nenne, nämlich die in mir aufsteigende
Verdunkelung, eine Finsternis voll von grauenerregenden Gestalten und Ängsten,
Furcht und Schrecken vor der Zukunft und vor Gott... die Nähe des Hasses,
während die Liebe mich verlassen hat. All das ist es, was schließlich zu Durst
und Fieber, zu Bluttränen, Stöhnen und zur Erschöpfung bei mir führt. Ich kann
Ihnen versichern, daß die Wucht dieser Qualen nicht geringer ist als das, was
ich im letzten Jahr ertragen mußte, als Gott mich alleinließ. Fast möchte ich
sagen, daß sie jetzt schlimmer sind, denn ich leide auch, obwohl Jesus bei mir
ist. Ich hoffe, daß ich mich gut ausgedrückt habe. Doch manche Qualen kann man
nicht beschreiben. Sie könnten auch falsch verstanden werden von einem
Seelsorger, einem abgöttischen Verehrer, von einem Neugierigen, einem
Gelehrten oder von einem Menschen, der über das Phänomen spottet. Die Gruppe
der drei Letztgenannten sollte nur eine Stunde das durchmachen, was ich
durchmachen muß... Auch die Verehrer, die mich vielleicht darum beneiden,
sollten das durchstehen. Besser, sie fühlen es nicht... Die abgöttischen
Verehrer würden weiß Gott wohin flüchten aus Angst vor einer weiteren Stunde
dieser Art, und die Neugierigen, die Begierigen und die Spötter kämen so weit,
Gott zu fluchen... Daher will ich mich unter das Joch beugen und trinke den
bitteren Kelch... und mache weiter.
Herr, nicht mein Wille, sondern
dein Wille geschehe. Siehe deine Dienerin und dein Opfer. Mir geschehe nach
deinem Willen. Doch gib mir in deiner Güte die Kraft, leiden zu können und laß
mich nicht allein. Bleibe bei mir, denn es will Abend werden, und der Tag hat
sich schon geneigt.
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Ich sehe:
Jesus betritt im Dämmerlicht
eines Wintertages das Städtchen Doko und fragt einen vorübergehenden
Frühaufsteher: «Wo wohnt Marianne, die alte Mutter, deren Schwiegertochter im
Sterben liegt?»
«Marianne? Die Witwe von Levi?
Die Schwiegermutter von Jerusa, der Frau des Josia?»
«Sie.»
«Schau, am Ende dieser Straße ist
ein Platz. In einer Ecke dieses Platzes befindet sich ein Brunnen, und von
dort gehen drei Wege aus. Nimm jenen, in dessen Mitte eine Palme steht und
gehe noch hundert Schritte. Du wirst zu einem Graben gelangen. Folge diesem
bis zur steinernen Brücke. Überquere sie. Du kommst zu einer überdeckten
Gasse. Nimm diese. Sobald der Weg und die Überdachung aufhören, weil ein Platz
sie ablöst, bist du am Ziel. Das Haus der Marianne ist durch die Jahre gelb
geworden und bei den Ausgaben, die sie haben, können sie es nicht verputzen
lassen. Du kannst nicht fehlgehen. Leb wohl. Kommst du von weit her?»
«Nicht so sehr.»
«Aber du bist Galiläer ?»
«Ja.»
«Doch diese? Kommst du zum Fest?»
«Es sind Freunde. Leb wohl. Der
Friede sei mit dir!» Jesus läßt den Schwätzer, der nun keine Eile mehr hat, im
Ungewissen. Er geht seines Weges und die Jünger folgen ihm.
Sie gelangen zum kleinen Platz,
einer mit Schlamm bedeckten Fläche, in deren Mitte eine junge Eiche steht, die
hier von selbst gewachsen und im Sommer vielleicht ganz angenehm ist. Jetzt
läßt sie den Platz nur düster erscheinen, so dicht breitet sie sich über die
armseligen Häuser aus, denen sie Licht und Sonne nimmt. Das Haus Mariannes ist
das armseligste. Breit und niedrig, doch sehr vernachlässigt. Die Tür ist voll
von Flicken über den abgesplitterten Brettern aus sehr altem Holz. Ein
rahmenloses Fenster stellt ein dunkles Loch zur Schau, wie eine leere
Augenhöhle.
Jesus klopft an die Tür. Ein etwa
zehnjähriges Mädchen kommt heraus, bleich, ungekämmt und mit verweinten Augen.
«Bist du die Enkelin Mariannes ?
Sag der alten Mutter, daß Jesus gekommen ist.»
Das Mädchen stößt einen Schrei
aus und rennt laut rufend davon. Die Greisin kommt, gefolgt von sechs Kindern
und dem Mädchen von vorhin. Das größte scheint ihr Zwillingsbruder zu sein.
Die kleinsten, barfuß und schmächtig, hängen am Kleid der alten Frau, denn sie
können noch kaum richtig gehen.
«Oh, du bist gekommen! Kinder,
gebt dem Messias die Ehre! Du bist zur rechten Zeit in ein armes Haus
gekommen. Meine Tochter liegt im
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Sterben... Weint nicht, Kinder,
damit sie es nicht hört. Arme Kinder! Sie sind erschöpft von den Wachen. Ich
mache alles, aber wachen kann ich nicht mehr. Ich falle vor Müdigkeit auf den
Boden. Seit Monaten gehe ich nicht mehr zu Bett. Nun schlafe ich auf einem
Stuhl, um bei ihr und den Kindern zu sein. Doch sie sind noch klein und leiden
sehr. Die Buben gehen Holz sammeln, um Feuer zu haben, und verkaufen Holz für
Brot. Sie gehen zugrunde... arme Enkelkinder! Doch was uns umbringt ist nicht
so sehr die Arbeit, als zusehen zu müssen, wie sie stirbt. Weint nicht mehr!
Jesus ist nun bei uns!»
«Ja, weint nicht! Die Mutter wird
gesund werden, und der Vater wird zurückkehren. Dann werdet ihr nicht mehr so
viele Ausgaben haben und Hunger leiden. Sind das die beiden Jüngsten?»
«Ja, Herr. Das schwache Geschöpf
hat dreimal Zwillinge geboren... und nun ist ihre Brust krank.»
«Den einen zu viele, den anderen
keine...», brummt Petrus in seinen Bart, nimmt einen Kleinen in die Arme und
gibt ihm einen Apfel, um ihn zum Schweigen zu bringen, und da auch der andere
einen will, stellt Petrus auch ihn zufrieden.
Jesus geht mit der alten Frau
durch das Tor in den Hof und steigt mit ihr die Treppe hinauf, um dann in ein
Zimmer zu treten, in dem eine junge, aber sehr abgemagerte Frau jammert. «Der
Messias, Jerusa! Du wirst nicht mehr leiden müssen. Siehst du, er ist wirklich
gekommen. Isaak lügt nie. Er hat es gesagt. Glaube nun, da er gekommen ist,
daß er dich auch heilen kann.»
«Ja, gute Mutter. Ja, mein Herr.
Aber wenn du mich nicht gesund machen kannst, so laß mich wenigstens sterben.
Ich leide Qualen an meiner Brust. Die Münder, denen ich Milch gegeben, haben
mir Schmerzen und Bitterkeit verursacht. Ich leide sehr, Herr, und verursache
viele Ausgaben! Der Mann ist fern, um das Brot zu verdienen, die alte Mutter
verbraucht sich. Ich sterbe... Was wird aus den Kindern werden, wenn ich an
dieser Krankheit sterbe, und meine Mutter an den Sorgen und an der Arbeit ?»
«Für die Vögel sorgt Gott und
auch für die kleinen Menschenkinder. Doch du wirst nicht sterben. Tut es dir
hier sehr weh ?» fragt Jesus, indem er seine Hand auf die verbundene Brust
legen will.
«Rühre mich nicht an. Vermehre
meine Schmerzen nicht!» schreit die Kranke auf.
Doch Jesus legt seine schmale
Hand behutsam auf die kranke Brust. «Deine Brust brennt und schmerzt dich wie
Feuer, arme Jerusa. Die Mutterliebe ist dir zum Feuer in der Brust geworden.
Doch du empfindest deshalb keinen Haß gegen deinen Mann und deine Kinder,
nicht wahr?»
«Warum sollte ich? Er ist gut und
hat mich immer geliebt. Mit weiser Liebe hat er mich geliebt, und die Liebe
erblüht in unseren Geschöpfen,
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und sie... es bedrückt mich, sie
verlassen zu müssen... aber Herr! Herr! Das Brennen hört auf! Mutter! Mutter!
Es ist mir, als ob ein Engel die Luft des Himmels auf meine Qualen hauchte.
Oh, welcher Friede! Nimm, o nimm deine Hand nicht weg, mein Herr! Lege sie
fest darauf. Oh, welche Kraft! Welche Freude! Meine Kinder! Kommt her, meine
Kinder! Ich will sie bei mir haben! Dina, Osias, Anna, Seba, Melchi, David,
Judas! Kommt her, kommt her... Die Mutter muß nicht mehr sterben. Oh! ...» Die
junge Frau kehrt sich auf dem Kissen um und weint vor Freude, während die
Kinder herbeieilen und die Greisin niederkniet, und da sie in ihrer Freude zu
nichts sonst fähig ist, stimmt sie den Lobgesang des Azarias im brennenden
Feuerofen an; sie singt ihn zu Ende mit ihrer zitternden, von Tränen gerührten
Greisenstimme.
«Ah, Herr! Was kann ich für dich
tun? Ich habe nichts, um dich zu ehren!» sagt sie endlich.
Jesus hilft ihr beim Aufstehen
und sagt: «Laß mich ein wenig von meiner Müdigkeit ausruhen. Erzähle niemandem
etwas davon... Die Welt liebt mich nicht. Ich muß für einige Zeit weggehen.
Von dir verlange ich Treue zu Gott und Schweigen, von dir, von der jungen Frau
und von den Kindern.»
«Oh, habe keine Sorge! Niemand
kommt zu den Armen. Du kannst hier bleiben und brauchst keine Angst haben,
gesehen zu werden. Die Pharisäer, nicht wahr? Doch ich habe nur ein wenig Brot
zu essen...»
Jesus ruft Iskariot herbei: «Nimm
Geld und kaufe ein, was nötig ist. Wir wollen hier bei den guten Leuten essen
und uns bis zum Abend ausruhen. Geh und schweige!» Dann wendet er sich an die
Geheilte: «Nimm den Verband ab, steh auf, hilf der Mutter und freue dich. Gott
hat dir aus Barmherzigkeit um deiner ehrlichen Tugenden willen seine Gunst
erwiesen. Wir wollen das Brot zusammen brechen, denn heute ist der Herr, der
Allerhöchste, in dein Haus eingekehrt, und das muß als wahres Fest gefeiert
werden.»
Jesus geht hinaus und erreicht
noch Judas, der gerade aufbrechen will. «Kaufe reichlich ein, damit sie auch
in den nächsten Tagen genügend haben. Uns wird es bei Lazarus an nichts
mangeln.»
«Ja, Meister, und wenn du
erlaubst... ich habe auch eigenes Geld mitgenommen. Ich habe gelobt, es zu
deiner Rettung vor den Feinden zu opfern. Ich werde es in Brot umwandeln.
Besser in die Münder dieser Brüder Christi geben als in den Rachen des Tempels
werfen. Erlaubst du? Gold war für mich immer die Schlange. Ich will diese
Versuchung nicht mehr -, denn es geht mir recht gut, nun, da ich ein
rechtschaffener Mensch bin. Ich fühle mich frei, und ich bin glücklich.»
«Mach, wie du willst, Judas, und
der Herr gebe dir Frieden.»
Jesus begibt sich zu den Jüngern,
während Judas weggeht, und alles ist zu Ende.
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174. IN BETHANIEN; IM HAUSE
SIMONS DES ZELOTEN
Als Jesus den letzten Anstieg
überwunden und die Hochebene erreicht hat, sieht er Bethanien in der klaren
Dezembersonne vor sich liegen. Die kahle Winterlandschaft scheint weniger
trostlos, und weniger düster erscheinen auch die dunklen Flecken der
Zypressen, der Eichen und der Johannisbrotbäume, die sich da und dort erheben
und Höflingen gleichen, die im Begriff sind, sich vor einer der sehr hohen
Palmen zu verneigen, die wahrhaft königlich in den schönsten Gärten stehen.
Denn Bethanien hat nicht nur das
schöne Haus des Lazarus, sondern auch andere Wohnsitze von Reichen,
wahrscheinlich von Bürgern Jerusalems, die es vorziehen, hier in der Nähe
ihrer Güter zu leben, und deren Häuser mit den gut gepflegten Gärten sich
deutlich von den Häusern der Ortsbewohner unterscheiden. Es mutet fremd an, in
einer solch gebirgigen Gegend die eine oder andere an den Orient erinnernde
Palme zu sehen, mit ihrem schlanken Stamm und den starren, wehenden Büscheln
von Blättern, hinter deren jadegrüner Farbe man instinktiv die gelbliche,
endlose Wüste vermutet. Hier jedoch bilden die silbergrünen Ölbäume, die
gepflügten Felder, die gerade noch frei vom geringsten Anzeichen keimenden
Getreides sind, und die skelettartigen Obstbäume mit den dunklen Stämmen und
den ineinander verschlungenen Ästen, die aussehen, als ob es sich unter
höllischer Qualen windende Seelen wären, den Hintergrund.
Jesus sieht plötzlich einen der
Diener des Lazarus, der als Wachtposten aufgestellt worden ist. Er grüßt
ehrerbietig und bittet um Erlaubnis, der Herrschaft seine Ankunft mitteilen zu
dürfen. Danach entfernt er sich rasch.
Derweil kommen Bauern und Bürger
herbei, um den Rabbi zu begrüßen. An einer Lorbeerhecke, die mit ihrem
duftenden Grün ein schönes Haus umgibt, zeigt sich eine junge Frau, die ganz
gewiß keine Israelitin ist. Ihr Gewand oder, wenn ich mich recht an die
Benennung erinnere, ihre Stola, die in ihrer Länge eine Schleppe bildet, ist
sehr weit, aus weichster, ganz weißer Wolle, belebt durch einen auf
griechische Art mit lebhaften Farben und Goldfäden gestickten Saum, und wird
in der Taille von einem ebensolchen Gürtel gehalten. Die Kopfbedeckung besteht
aus einem goldenen Netz, das eine komplizierte Haartracht zusammenhält, vorne
alles kleine Löckchen, dann glatt, und im Nacken ein großer Knoten. Dies alles
läßt mich an eine Römerin oder Griechin denken. Sie blickt neugierig herum,
denn die Zurufe der Frauen und die Hosannarufe der Männer lassen sie
aufmerksam werden. Doch sie hat nur ein verächtliches Lächeln, da sie sieht,
daß die Leute einem einfachen Mann entgegengehen, der nicht einmal einen Esel
hat und mit einigen Männern, die zu ihm passen, jedoch weniger interessant
sind, daherkommt. Sie hebt nur die
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Schultern, macht eine
gelangweilte Miene und entfernt sich, gefolgt von einer Schar bunter
Stelzvögel, die sie an Stelle von Hunden begleiten. Es sind weiße Ibisse und
bunte Flamingos, deren silberne Krönchen auf den Köpfen zittern, was der
einzige Schmuck dieser prächtigen, rotgelb gefiederten Vögel ist.
Jesus blickt diese Frau einen
Augenblick an, dann wendet er sich um, einen sehr alten Mann anzuhören, der
keine so schwachen Beine haben möchte. Jesus streichelt und ermuntert ihn,
Geduld zu haben, denn bald komme das Frühjahr und mit der warmen Aprilsonne
werde er sich bestimmt kräftiger fühlen.
Da taucht Maximinus auf, der
Lazarus um einige Schritte vorausgegangen ist. «Meister, Simon hat mir
gesagt... daß du in sein Haus gehen willst... Das schmerzt Lazarus... aber man
kann es begreifen...»
«Wir werden noch darüber reden.
Oh, mein Freund!» Jesus geht eilends Lazarus entgegen, der ganz verlegen ist,
und küßt ihn auf die Wange. Sie sind an einem kleinen Weg angelangt, der zu
einem Häuschen führt, das zwischen den Obstgärten des Lazarus und anderen
Gärten liegt.
«Willst du wirklich zu Simon
gehen?»
«Ja, mein Freund. Ich habe alle
meine Jünger bei mir und ziehe es vor...»
Lazarus verwindet diese
Entscheidung schweigend. Er wendet sich nun nach der kleinen Menschenschar um,
die ihnen nachgefolgt ist, und sagt: «Geht, der Meister braucht Ruhe!»
Hier sehe ich, wie mächtig
Lazarus ist. Alle verneigen sich bei seinen Worten und ziehen sich zurück,
während Jesus sie mit seinem sanften «Der Friede sei mit euch» grüßt und sagt:
«Ich werde euch Bescheid geben, wann ich predigen werde.»
«Meister», sagt Lazarus, da sie
allein sind und die Jünger sich mit Maximinus einige Meter hinter ihnen
unterhalten, «Meister, Martha weint bittere Tränen, deshalb ist sie nicht
gekommen. Sie wird später kommen. Ich weine nur im Herzen. Doch sagen wir: es
ist richtig so. Wenn wir gewußt hätten, daß sie kommen würde... Sie kommt doch
nie an den Festtagen... Ja, wann kommt sie schon? Ich behaupte, der Dämon hat
sie wohl heute hierher geführt...»
«Der Dämon ? Warum nicht ihr
Schutzengel auf Gottes Geheiß? Aber glaube mir, auch wenn sie nicht gekommen
wäre, ich wäre trotzdem in das Haus Simons gegangen.»
«Warum mein Herr? Hättest du in
meinem Haus nicht Frieden gefunden ?»
«So viel Friede, daß es mir nach
dem Haus in Nazareth das liebste ist. Doch antworte mir: Warum hast du mir
sagen lassen: "Geh weg vom Trügerischen Gewässer'?" Es ist wegen der sich
anbahnenden Verfolgung. Ist
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es nicht so? Darum begebe ich
mich auf die Ländereien von Lazarus, aber ich setze Lazarus nicht der Gefahr
aus, in seinem Haus angegriffen zu werden. Glaubst du, daß sie dich
respektieren würden? Um mich zu zertreten, würden sie sogar über die
Bundeslade herfallen... Laß mich gewähren. Wenigstens für jetzt. Später werde
ich kommen. Übrigens, niemand verbietet mir, bei dir zu speisen, und nichts
hindert dich daran, zu mir zu kommen. Doch nun mache bekannt, daß ich im Haus
eines meiner Jünger bin.»
«Bin ich denn kein Jünger?»
«Du bist der Freund und wegen
deiner Hochherzigkeit mehr als Jünger. Es ist für die Bösen nicht dasselbe.
Laß mich nur machen, Lazarus. Dieses Haus gehört dir... doch es ist nicht dein
Haus, das schöne und prachtvolle Haus des Sohnes des Theophilus und dies ist
für die Besserwisser von großer Bedeutung.»
«Du sagst das so... aber es
ist... es ist ihretwegen! Ich war gerade daran mich durchzuringen, ihr zu
vergeben... aber wenn sie dich zurückstößt, bei Gott, dann werde ich sie
hassen...»
«Dann würdest du mich ganz
verlieren! Laß diesen Gedanken sofort fallen, sofort, wenn du mich nicht
augenblicklich verlieren willst... Da kommt Martha. Der Friede sei mit dir,
meine gute Gastgeberin.»
«Oh, Herr!» Martha ist
niedergekniet und weint. Sie hat den Schleier herabgelassen, der auf der mit
einem Diadem hochgesteckten Haartracht befestigt war, um den anderen das von
Tränen überströmte Gesicht zu verbergen. Doch vor Jesus denkt sie nicht daran,
ihr Weinen zu verdecken.
«Warum diese Tränen? Wahrlich,
diese Tränen sind vergeudet. Es gibt vieles, worüber man weinen kann, und
vieles, um aus Tränen Kostbares zu machen. Aber aus diesem Grund zu weinen?
Oh, Martha, es scheint, als ob du nicht mehr wüßtest, wer ich bin. Du mußt
wissen, daß ich vom Menschen nur die Hülle habe. Das Herz ist göttlich und
göttlich ist sein Schlag. Steh auf und komm ins Haus; und sie... laßt sie
gewähren. Selbst wenn sie mich verhöhnen würde... laßt sie machen, sage ich
euch. Es ist nicht sie. Es ist er; jener, der sie gefangen hält und aus ihr
ein Werkzeug der Verwirrung macht. Aber hier ist einer, der stärker ist als
ihr ]Beherrscher. Jetzt entscheidet sich der Kampf zwischen ihm und mir. Ihr
aber betet, verzeiht, seid geduldig und hofft. Sonst nichts!»
Sie betreten das kleine Haus, das
quadratisch und von einem Säulengang umgeben ist, der es größer erscheinen
läßt. Es hat vier Zimmer, die durch einen kreuzförmigen Gang voneinander
getrennt sind. Eine äußere Treppe führt nach oben, zum Säulengang, der hier
allerdings einer größeren Terrasse gleicht, und zu einem großen Raum, der die
gesamte Fläche des Hauses einnimmt. Er muß wohl früher als Vorratsraum gedient
haben, ist aber nun ausgeräumt und gereinigt worden. Er ist vollkommen leer.
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Simon, der an der Seite eines
alten Dieners steht, den er Joseph nennt, heißt die Gäste willkommen und sagt:
«In diesem Raum könntest du zu den Menschen sprechen, oder man könnte hier die
Mahlzeiten einnehmen... Wie du willst...»
«Wir werden darüber nachdenken.
Geh also und sag den Leuten, daß sie nach der Mahlzeit nur kommen sollen. Ich
will diese guten Menschen hier nicht enttäuschen.»
«Wohin soll ich sie weisen?»
«Hierher. Der Tag ist mild. Der
Ort ist windgeschützt. Der Obstgarten nimmt jetzt, wo er kahl ist, keinen
Schaden, wenn die Menschen hineingehen. Von dieser Terrasse aus will ich
sprechen. Gehe nur.»
So bleibt nur Lazarus bei Jesus.
Martha, unter dem Zwang, so viele Personen zu versorgen, ist nun wieder "die
gute Gastgeberin" und arbeitet mit den Dienern und den Aposteln im Erdgeschoß,
um alles für die Mahlzeit und die Ruhelager vorzubereiten.
Jesus legt einen Arm um die
Schulter von Lazarus und führt ihn aus dem großen Raum hinaus, um auf der das
Haus umgebenden Terrasse in der schönen Sonne zu wandeln, die den Tag angenehm
macht. Von oben betrachtet er die arbeitenden Diener und Jünger und lächelt
Martha zu, die ab und zu mit ihrem ernsten Gesicht, das nun nicht mehr so
traurig ist, nach oben blickt. Jesus betrachtet auch das schöne Panorama, das
den Ort umgibt und nennt Lazarus verschiedene Ortschaften und Personen.
Plötzlich fragt er: «Also hat der Tod des Doras das Schlangennest
aufgescheucht?»
«Oh, Meister! Nikodemus hat mir
erzählt, daß es bei der Versammlung des Hohen Rates einen nie gesehenen
Aufruhr gegeben hat.»
«Was habe ich dem Hohen Rat nur
angetan, daß er sich so aufregen mußte? Doras ist von selbst, vor den Augen
des Volkes, durch den Zorn des Herrn gestorben. Ich habe nicht erlaubt, daß
dem Toten die Achtung versagt wurde. Also? ...»
«Du hast recht. Doch die
anderen... sie sind wahnsinnig vor Angst... Und weißt du, sie haben gesagt,
sie möchten dich bei einer Sünde ertappen, um dich zum Tod verurteilen zu
können!»
«Oh, da kannst du beruhigt sein.
Mit der Verurteilung müssen sie noch bis zur Stunde Gottes warten.»
«Aber Jesus, weißt du, von wem
gesprochen wird? Weißt du, wozu die Pharisäer und Schriftgelehrten fähig sind?
Kennst du die Gesinnung des Annas ? Weißt du, wer sein Helfer ist? Weißt du...
doch was sage ich? Du weißt es! Daher ist es unnötig, dir zu sagen, daß sie
ein Vergehen erfinden werden, um dich anzuklagen.»
«Sie haben es schon gefunden. Ich
habe schon mehr getan, als nötig war. Ich habe mit Römern gesprochen, ich habe
mit Sünderinnen gesprochen. Ja, mit Sünderinnen, Lazarus! Eine, blick mich
nicht so erschrocken
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an, eine kommt immer, um mir
zuzuhören, und sie haust in einem Stall deines Verwalters, auf meine Bitte
hin; denn, um in meiner Nähe sein zu können, hat sie in einem Schweinestall
Unterschlupf genommen.»
Lazarus ist vor Erstaunen zur
Statue erstarrt. Er rührt sich nicht mehr. Er schaut Jesus an, als würde er
einen ihn verwirrenden Fremden sehen. Jesus rüttelt ihn lächelnd. «Hast du den
Teufel gesehen?» fragt er.
«Nein, ich habe die
Barmherzigkeit gesehen. Aber ich verstehe. Die vom Hohen Rate verstehen aber
nicht. Nein! Sie sagten, daß es eine Sünde sei. Es ist also wahr! Ich
glaubte... Oh, was hast du getan!»
«Meine Pflicht, mein Recht, und
meinem Wunsch gemäß habe ich versucht, eine gefallene Seele zu erlösen. Du
siehst, daß deine Schwester nicht der erste gefallene Mensch sein wird, dem
ich mich nähere und über den ich mich neige, und sie wird auch nicht der
letzte sein. Im Schlamm will ich die Blumen säen und sie wachsen lassen: die
Blumen des Guten.»
«O Gott, mein Gott! Aber... Oh,
mein Meister! Du hast recht! Es ist dein Recht und deine Pflicht und dein
Wunsch. Diese Hyänen aber verstehen das nicht. Sie sind Aas, daß sie den Duft
der Lilien nicht wahrnehmen. Dort, wo sie blühen, riechen sie – jenes alles
durchdringende Aas – nur Sünde, und merken nicht, daß dieser Geruch aus ihrem
eigenen Pfuhl hervorkommt. Ich bitte dich, halte dich nicht mehr zu lange an
einem Ort auf. Gehe einmal dahin, einmal dorthin, ohne ihnen die Möglichkeit
zu geben, dich einzuholen. Sei wie ein nächtliches tanzendes Feuer, das
behende über Blumen und Gräser hinweghuscht und in seiner verwirrenden
Bewegung nicht zu erhaschen ist. Tu es! Nicht aus Feigheit, sondern aus Liebe
zur Welt, die dich nötig hat, um sich zu heiligen. Die Verderbtheit nimmt zu;
stelle ihr deine Heiligkeit entgegen. Hast du die neue Einwohnerin von
Bethanien gesehen? Eine mit einem Juden verheiratete Römerin. Er ist
gesetzestreu, doch sie ist Götzenanbeterin, und da sie nicht gut in Jerusalem
leben konnte, weil die Nachbarn sich wegen ihrer Tiere beklagten, so ist sie
hierher gekommen. Voller Tiere, die für uns unrein sind, ist ihr Haus, und die
Unreinste ist sie selbst; denn sie verlacht uns, und dies mit einer
Dreistigkeit... Doch ich darf nicht kritisieren, denn... Aber während man in
mein Haus keinen Fuß mehr setzt, weil Maria mit ihrer Sünde auf ihm und der
ganzen Familie lastet, geht man in das Haus der Römerin. Sie genießt die Gunst
von Pontius Pilatus und lebt ohne Ehemann. Er ist in Jerusalem, sie hier. So
heuchelt man vor, sich durch das Betreten des Hauses nicht zu entweihen und
daran nichts Anstößiges zu sehen. Scheinheiligkeit! Bis zum Hals stecken sie
in dieser Heuchelei, und bald werden sie daran ersticken. Jeder Sabbat ist Tag
der Feste... Auch Männer des Hohen Rates nehmen daran teil. Ein Sohn des Annas
ist der eifrigste.»
«Ich habe sie gesehen. Laß sie
und die anderen machen! Wenn ein Arzt eine Arznei zubereitet, mischt er die
Substanzen mit Wasser, und das
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Wasser wird trüb. Doch dann
setzen sich die unlöslichen Teilchen, und das Wasser wird wieder klar, ist
aber gesättigt vom Wirkstoff dieser heilsamen Substanzen. So ist es auch hier.
Alles wird vermischt, und ich arbeite mit allen. Später werden die toten Teile
ausgeschieden und fortgeworfen werden und die anderen, lebenden, bleiben aktiv
im großen Meer des Volkes Jesu Christi. Laßt uns hinuntergehen. Man ruft uns.»
... Und die Vision beginnt
wieder, als Jesus aufs neue zur Terrasse hinaufsteigt, um zu den Menschen von
Bethanien und den umliegenden Ortschaften zu sprechen, die sich bereits
versammelt haben.
«Der Friede sei mit euch!
Selbst wenn ich schweigen würde,
brächten euch die Winde Gottes die Worte meiner Liebe und die der Gehässigkeit
anderer. Ich weiß den Grund, weshalb ihr so erregt seid: es ist euch nicht
unbekannt, warum ich hier unter euch weile. Doch freut euch mit mir und preist
den Herrn, der das Böse dazu benützt, um seinen Kindern eine Freude zu
bereiten, denn er führt unter dem Stachel des Bösen sein Lamm unter die Lämmer
zurück, um es in Sicherheit vor den Wölfen zu bringen.
Seht, wie gut der Herr ist! Wie
Flüsse ins Meer, so gelangten ein Strom und ein Bach zu mir, wo ich wohnte:
ein Strom liebender Zuneigung und ein Bach tödlichen Hasses. Ersterer war eure
Liebe, angefangen bei Lazarus und Martha bis zum Letzten des Ortes; der Bach
war der ungerechte Groll jener, die der Einladung der Güte Gottes nicht zu
folgen vermögen und ihn deswegen des Verbrechens beschuldigen. Und der Strom
sagte: "Komm zurück zu uns. Unsere Wellen umgeben dich, schützen dich,
verteidigen dich. Sie sollen dir alles geben, was dir die Welt verweigert. Der
böse Bach ist gefährlich, er wollte dich mit seinem Gifte töten. Doch was ist
ein Bach im Vergleich zu einem Strom, und was ist ein Strom im Vergleich zu
einem Meer? Nichts!" Und zu einem Nichts ist das Gift des Baches geworden,
weil der Strom eurer Liebe ihm überlegen war, und ins Meer meiner Liebe hat
sich nur eure holde Liebe ergossen. Das Gift des Hasses hat sogar bewirkt, daß
es mich zu euch geführt hat. Preisen wir den höchsten Herrn dafür.»
Durch die friedliche Stille
erschallen kraftvoll seine Worte, die er durch Gebärden unterstreicht. Jesus
steht mit seiner schönen Gestalt in der Sonne und lächelt von der Terrasse
herab.
Unten hört ihm das Volk selig zu:
ein Blütenbeet von erhobenen Gesichtern, die dem Wohlklang seiner Stimme
zulächeln. Lazarus ist in Jesu Nähe, wie auch Simon und Johannes. Die anderen
haben sich unter die Menschenmenge gemischt. Martha ist auf die Terrasse
gestiegen und hat sich zu Füßen Jesu niedergelassen. Sie schaut nach ihrem
Haus, das hinter dem Garten zu sehen ist.
«Die Welt gehört den Bösen; das
Paradies den Guten. Das ist die Wahrheit und die Verheißung, und darauf gründe
sich eure sichere Kraft.
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Die Welt ist vergänglich, das
Paradies vergeht nicht. Wenn einer gut ist, wird er es erwerben und in
Ewigkeit besitzen. Also? Weshalb sich darüber aufregen, was die Bösen tun?
Erinnert ihr euch an die Klagen des Job? Es sind die ewigen Klagen der Guten
und Unterdrückten, weil das Fleisch immer klagt; doch es sollte nicht klagen,
und je mehr es unterdrückt wird, um so mehr müßte es sich mit den Flügeln der
Seele im Jubel zum Herrn erheben.
Glaubt ihr, daß jene glücklich
sind, die glücklich scheinen? Sie haben auf erlaubte und mehr noch auf
unerlaubte Weise ihre Scheunen gefüllt; die Weinfässer sind voll und die
Ölkrüge laufen über. Nein! Ihre Nahrung riecht nach Blut und Tränen ihrer
Mitmenschen, und ihr Lager kommt ihnen wie mit Dornen gefüllt vor; so sehr
verspüren sie die Heftigkeit ihrer Gewissensbisse. Sie betrügen die Armen und
berauben die Waisen. Sie bestehlen den Nächsten, um Schätze anzuhäufen, und
unterdrücken jene, die ihnen an Macht und Verderbtheit unterlegen sind. Das
tut nichts. Laßt sie machen. Ihr Reich ist von dieser Welt. Bei ihrem Tode,
was bleibt ihnen da? Nichts. Wenn man nicht die Anhäufung der Schuld Schatz
nennen will, die sie mit sich tragen und Gott vorweisen müssen... Laßt sie
gewähren. Sie sind die Kinder der Finsternis, die sich gegen das Licht
auflehnen und seinem leuchtenden Pfad nicht zu folgen vermögen. Wenn Gott den
Morgenstern erstrahlen läßt, dann nennen sie ihn Schatten des Todes, halten
ihn für unrein und ziehen es vor, im schmutzigen Schein ihres Goldes und ihres
Hasses zu wandeln, die nur flackern, weil die Dinge der Hölle vom Phosphor der
ewigen Seen der Verdammnis leuchten...»
«Meine Schwester, Jesus! ... Oh!»
Lazarus hat Maria entdeckt, die hinter einer Hecke des Obstgartens
dahinschleicht, um so nah als möglich heranzukommen. Sie geht gebückt. Doch
ihre blonden Haare glänzen wie Gold vor dem dunklen Buchsbaum im Hintergrund.
Martha will sich erheben, doch
Jesus legt eine Hand auf ihren Scheitel, und sie ist gezwungen zu bleiben, wo
sie ist. Jesus erhebt seine Stimme noch mehr:
«Was ist über diese Unglücklichen
zu sagen? Gott hat ihnen Zeit zur Buße gegeben, und sie mißbrauchen sie, um zu
sündigen. Aber Gott verliert sie nicht aus den Augen, auch wenn es so scheinen
mag; die Stunde kommt, da entweder die Liebe Gottes wie ein Blitz, der auch in
den Stein einschlägt, ihr hartes Herz sprengt, oder die Summe ihrer Missetaten
die Flut ihres Schlammes bis zu ihrer Kehle und Nase trägt... da sie beginnen,
die Widerlichkeit jenes Geruches und Gestankes wahrzunehmen, von dem ihr Herz
angefüllt ist, und der die anderen anwidert. Es kommt der Augenblick, da sie
selbst Ekel empfinden und in ihnen der Wunsch nach dem Guten aufsteigt, und
ihre Seele schreit auf: "Ach, könnte ich doch zurückkehren in jene Zeit von
damals, als ich in der Freundschaft Gottes war! Als sein Licht in meinem
Herzen leuchtete, und ich in seinem Schein
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wandelte. Als vor meiner
Gerechtigkeit die Welt bewundernd verstummte, und alle, die mich sahen, mich
selig priesen. Die Welt trank mein Lächeln, und meine Worte wurden angenommen
wie die Worte eines Engels, und das Herz meiner Angehörigen hüpfte voller
Stolz. Jetzt, was ist aus mir geworden? Spott der Jugend, Greuel der Alten.
Ich bin der Gegenstand ihrer Spottlieder, und der Auswurf ihrer Verachtung
zerfurcht mein Antlitz ... "
Ja, so spricht in gewissen
Stunden die Seele des Sünders, des wahren Job; denn es gibt kein größeres
Elend als dieses, auf ewig die Freundschaft Gottes und sein Reich verloren zu
haben. Sie müssen bemitleidet werden! Nur Erbarmen sollen wir für sie
empfinden. Es sind arme Seelen, die durch Müßiggang oder Leichtfertigkeit den
ewigen Bräutigam verloren haben. "Bei Nacht auf meinem Lager suchte ich den
Liebsten meiner Seele und fand ihn nicht." (HI 3,1). In der Finsternis kann
man den Bräutigam nicht erkennen, und die zur Liebe getriebene Seele irrt
umher, denn sie ist umgeben von geistiger Finsternis und sucht und will Trost
in ihrer Qual finden. Sie glaubt, ihn in irgendeiner Liebe zu finden... Nein!
Einer nur ist der Geliebte der Seele: Gott! Sie gehen, jene Seelen, von der
Liebe Gottes getrieben, und suchen Liebe. Es genügte, das innere Licht zu
wollen, und sie hätten den Liebsten als Gefährten. Sie gehen wie Kranke umher
und suchen Liebe und finden Liebeleien und schmutzige Bindungen, die die
Menschen als Liebe bezeichnen. Aber sie finden die Liebe nicht; denn Liebe,
das ist Gott, und nicht das Gold, nicht die Sinnenlust, nicht die Macht.
Arme, arme Seelen! Wären sie
weniger müßig gewesen, dann hätten sie sich schon beim ersten Ruf des ewigen
Bräutigams zu Gott erhoben, der sagt: "Folge mir", und weiterhin sagt: "Öffne
mir" ' und sie wären nicht soweit gekommen, die Türe erst zu öffnen, als der
enttäuschte Bräutigam bereits weg war. Sie hätten den heiligen Drang und das
Bedürfnis nach Liebe nicht geschändet und in den Schmutz gezogen, der selbst
dem unreinen Tier Abscheu verursacht, weil eine solche Liebe in ihrer
Sinnlosigkeit keine Blumen hervorbringt, sondern nur stechende Disteln, und
ohne Krönung verbleibt. Sie hätten nicht die Verachtung der Gesetzeswächter
und aller anderen erfahren müssen, die, wie Gott, doch aus entgegengesetzten
Gründen, den Sünder nicht aus den Augen verlieren, ihn jedoch bloßstellen,
verhöhnen und tadeln.
Arme gefolterte Seelen, entblößt,
gequält und verwundet von jedermann. Gott allein beteiligt sich nicht an einer
solchen Steinigung. Er läßt seinen Tränen freien Lauf, um die Wunden zu heilen
und sein Geschöpf, das immer sein Geschöpf bleibt, wieder mit einem
diamantenen Gewand zu bekleiden. Nur Gott... und die Kinder Gottes im Vater.
Preisen wir den Herrn! Er hat gewollt, daß ich der Sünder wegen hierher komme,
um euch zu sagen: "Verzeiht! Verzeiht jederzeit! Macht aus jedem Übel etwas
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Gutes. Macht aus jeder
Beleidigung eine Gnade." Ich sage euch nicht allein "macht", ich sage: "Ahmt
mich nach." Ich liebe und segne meine Feinde; denn ihretwegen habe ich zu
euch, meine Freunde, zurückkehren können. Der Friede sei mit euch allen!»
Die Leute winken Jesus mit
Schleiern und Zweigen und entfernen sich langsam.
«Haben sie wohl jene Unverschämte
gesehen?»
«Nein, Lazarus. Sie war hinter
der Hecke und gut verborgen. Nur wir konnten sie von oben her sehen, die
anderen nicht.»
«Sie hatte uns versprochen...»
«Warum hätte sie nicht kommen
sollen? Ist nicht auch sie eine Tochter Abrahams? Ich verlange von euch,
Geschwister, und von euch, meinen Jüngern, den Schwur, sie nichts merken zu
lassen. Laßt sie nur machen. Wird sie mich verspotten? Laßt sie es tun. Wird
sie weinen? Laßt sie machen. Wird sie fliehen? Laßt sie es tun. Das ist das
Geheimnis des Erlösers und der Erlöser: Geduld, Güte, Beharrlichkeit und
Gebet. Nichts weiter. Jede Handlung ist zuviel bei gewissen Krankheiten...
Gott befohlen, Freunde! Ich bleibe, um zu beten. Es gehe ein jeder seiner
Pflicht nach. Gott möge euch begleiten.»
Alles endet.
175. DAS LICHTERFEST IM HAUSE DES
LAZARUS IN ANWESENHEIT DER HIRTEN
Das an sich schon prächtige Haus
des Lazarus ist an diesem Abend herrlich geschmückt. Es scheint zu brennen
wegen der großen Zahl der angezündeten Lichter, und das Licht ergießt sich an
diesem Beginn der Nacht von den Sälen in die Vorhalle und aus dieser zum
Säulengang. Es taucht den Kies der Wege, die Pflanzen und die Gewächse der
Beete in Gold und steht im Wettstreit mit dem Mondschein, den es für einige
Meter besiegt, während in einer weiteren Entfernung alles engelgleich
erscheint im Gewand aus reinem Silber, das der Mond auf alles wirft.
Auch die Stille, die den
herrlichen Garten einhüllt, in dem man nur das harfenklangähnliche Plätschern
im Fischteich hört, scheint die Sammlung und den paradiesischen Frieden dieser
Mondnacht zu vermehren, während sich im Hause zahlreiche fröhliche Stimmen mit
den Geräuschen hin- und hergeschobener Möbel und des auf den Tisch gestellten
Geschirrs mischen, um daran zu erinnern, daß der Mensch immer noch Mensch und
noch nicht Geist ist.
Martha bewegt sich flink in ihrem
weiten, herrlichen und züchtigen Gewand von rotvioletter Farbe. Sie gleicht
einer Blume, einer schönen
102
Glockenblume oder einem
Schmetterling, der sich vor den purpurnen Wänden der Vorhalle oder vor jenen
feingemusterten des Speisesaals bewegt, die mit ihren winzigen Verzierungen
einem Teppich ähneln.
Jesus jedoch wandelt allein und
in Gedanken neben dem Fischteich und wird abwechselnd vom dunklen Schatten
eines Lorbeerbaumes, eines Baumriesen, eingehüllt und vom phosphoreszierenden
Mondlicht, das immer heller wird, angestrahlt. So lebhaft ist der Strahl des
Brunnens, daß er wie eine silberne Feder aussieht, die sich dann in
Brillantsplitter zerteilt, die auf die stille, silberne Wasserfläche des
Teiches fallen, um sich darin zu verlieren. Jesus betrachtet dieses Spiel und
lauscht dem Plätschern des Wassers in der Nacht. Sein Klang ist so melodisch,
daß sich eine Nachtigall im dichten Lorbeer einmischt und dem langsamen
Harfenklang der Tropfen mit einem hellen Flötenton antwortet, dann innehält,
als ob sie den richtigen Ton finden wolle, um sich dem Akkord des Wassers
anzupassen, und endlich als Königin des Gesangs ihren vollkommenen,
melodiösen, modulierten Hymnus der Freude anstimmt.
Jesus ist stehengeblieben, um
nicht mit dem Geräusch seiner Schritte die friedliche Freude der Nachtigall,
und ich glaube auch seine eigene, zu stören, denn er lächelt mit geneigtem
Haupte ein Lächeln wahrer, heiterer Freude. Als die Nachtigall aufhört zu
singen nach einer derart reinen, angehaltenen und modulierten Note, daß ich
sehr staunen muß, wie in einer so winzig kleinen Kehle so melodische Kunst
erzeugt werden kann, ruft Jesus aus: «Sei gepriesen, heiliger Vater, für
diesen vollendeten Gesang und für die Freude, die du mir geschenkt hast», und
er nimmt den langsamen Spaziergang wieder auf, ganz erfüllt von einer
Betrachtung, deren Tiefgründigkeit man wohl nicht zu ermessen vermag.
Simon holt ihn ein: «Meister,
Lazarus bittet dich, zu kommen. Alles ist bereit!»
«Laßt uns gehen. So möge auch der
letzte Zweifel fallen, daß ich ihn Marias wegen weniger liebe.»
«Wie viele Tränen, Meister! Nur
dein geheimes Wunder hat diesen Schmerz lindern können. Aber weißt du nicht,
daß Lazarus daran war, zu fliehen, nachdem sie bei ihrer Rückkehr das Haus
verließ und sagte, daß sie die Gräber mit der Lust eintauschen wolle und
andere Unverschämtheiten mehr? Ich habe ihn mit Martha beschworen, es nicht zu
tun, auch weil man die Reaktion eines Menschenherzens nie voraussehen kann.
Hätte er sie gefunden, ich glaube, er hätte sie ein für allemal bestraft. Er
hätte zumindest ihr Stillschweigen über dich verlangt.»
«Und das sofortige Wunder an
ihr», beendet Jesus den Satz. «Ich hätte es wirken können. Aber ich will keine
erzwungene Auferstehung der Herzen. Ich werde den Tod bezwingen, und er wird
mir seine Beute zurückgeben, denn ich bin der Herr über Leben und Tod. Die
Seelen jedoch, die nicht eine leblose Masse, die auch ohne Odem, aber
unsterbliche Wesen
103
sind, fähig, durch ihren eigenen
Willen wieder aufzuerstehen.... sie zwinge ich nicht zur Auferstehung. Ich
gebe den ersten Mahnruf und die erste Hilfe, wie einer, der ein Grab öffnet,
in dem ein bereits halbtoter Mensch eingeschlossen wäre, der sterben müßte,
wenn er lange im erstickenden Dunkel bliebe. Ich lasse Luft und Licht
eintreten und warte. Wenn die Seele willens ist herauszukommen, dann kommt
sie. Wenn nicht, dann sinkt sie immer tiefer. 1) Aber wenn sie kommt! Oh, wenn
sie kommt, wahrlich, ich sage euch, niemand wird größer sein als der im Geist
Auferstandene. Nur die vollkommene Unschuld ist größer als dieser Tote, der
wieder aufersteht durch die Kraft seiner eigenen Liebe und weil Gott ihn
beglückt. Das sind meine größten Triumphe.
Betrachte den Himmel, Simon. Du
siehst an ihm große und kleine Sterne und Planeten von verschiedener Größe.
Alle haben Leben und Glanz durch Gott, der sie erschaffen hat, und durch die
Sonne, die sie beleuchtet. Doch nicht alle sind gleich groß und gleich
prächtig. Auch in meinem Himmel wird es so sein. Alle Erlösten werden durch
mich das Leben haben und durch mein Licht erglänzen. Doch nicht alle werden
gleich prächtig und gleich groß sein. Einige werden ein einfacher Sternenstaub
sein, wie in der Milchstraße, und diese sind unzählig. Es sind jene, die von
Christus nur das unerläßliche Minimum erreicht oder erstrebt haben, um nicht
verdammt zu werden. Sie sind nur durch die unendliche Barmherzigkeit Gottes
und nach einem langen Fegefeuer in den Himmel gelangt. Andere werden
strahlender und vollendeter sein: die Gerechten, die ihren Willen, beachte:
Willen, und nicht guten Willen, mit dem Willen Christi vereinigt und meinen
Worten gehorcht haben, um sich nicht der Verdammnis auszusetzen. Dann wird es
die Planeten geben, die Seelen guten Willens! Oh, prachtvoll! Sie erstrahlen
im Licht der reinsten Diamanten oder im Glanz der verschiedensten Farben: im
Rot der Rubine, im Violett der Amethyste, im goldenen Gelb des Topas, im
leuchtenden Weiß der Perlen; es sind die Liebenden aus Liebe bis zum Tod, die
Bußfertigen aus Liebe, die aus Liebe Wirkenden und die ganz Reinen aus Liebe.
Einige dieser Planeten, in allen Schattierungen des Rubins, des Amethyst, des
Topas und der Perlen, werden mein Ruhm als Erlöser sein, weil sie alles sein
werden aus Liebe. Sie werden heldenhaft sein und es wird ihnen gelingen,
einander zu verzeihen, daß sie nicht bereits früher zu lieben imstande waren;
bußfertig zu sein, um sich an der Sühne zu sättigen, wie Esther, die sich in
Wohlgerüche hüllte bevor sie sich Achaschwerosch vorstellte; Büßer, die
unermüdlich nachholen wollen in der kurzen Zeit, die ihnen
_______
1) Dieses Gespräch verlangt ein
betrachtendes, sehr aufmerksames Lesen, weil es die Zusammenfassung dessen
ist, was in vielen Abschnitten durch das ganze Werk hindurch, über das Wirken
Gottes im Menschen und über den guten Willen und die Liebe des Menschen zu
Gott ausgesagt wird.
104
noch verbleibt, um zu ersetzen,
was sie in den Jahren, die sie in der Sünde verloren haben, unterlassen
hatten; Reine bis zum Heldentum, die vergessen, daß sie neben Seele und Geist
im eigenen Leibe ein Sinnesorgan haben. Sie sind es, die mit ihrem
vielfältigen Glanz die Augen der Gläubigen, der Reinen, der Büßer, der
Märtyrer, der Helden, der Asketen und der Sünder auf sich ziehen werden; und
für diese alle wird ihr Leuchten Aussage, Antwort, Einladung und Gewähr sein.
Doch laßt uns gehen. Wir reden, und dort warten sie auf uns.»
«Ja, wenn du sprichst, vergißt
man, daß man noch lebt. Kann ich dies alles Lazarus berichten? Mir scheint, es
liegt ein Versprechen in diesen Worten...»
«Du mußt es sogar sagen! Das Wort
des Freundes kann sich auf ihre Wunde legen, so werden sie sich nicht schämen,
vor mir errötet zu sein. Wir haben dich warten lassen, Martha. Aber ich sprach
mit Simon von Sternen, und wir haben darob die Lichter hier vergessen. Dein
Haus ist heute abend wahrlich ein Sternenhimmel.»
«Nicht nur für uns und für die
Diener, auch für dich und die Gäste, deine Freunde, haben wir die Lichter
angezündet. Hab Dank, daß du zum letzten Abend gekommen bist. Nun ist es ein
wahres Fest der Reinigung...»
Martha möchte noch mehr sagen,
doch sie fühlt Tränen in sich aufsteigen und schweigt.
«Friede sei mit euch allen», sagt
Jesus beim Eintreten in die Vorhalle, die von den überall aufgestellten
silbernen Leuchtern erstrahlt.
Lazarus kommt lächelnd: «Friede
und Segen dir, Meister, und viele Jahre heiliger Glückseligkeit.» Sie küssen
sich. «Einige unserer Freunde haben mir gesagt, daß du geboren wurdest,
während Bethlehem in einem fernen Lichtermeer erstrahlte. Wir freuen uns alle,
dich heute abend bei uns zu haben. Fragst du nicht, wer die Freunde sind?»
«Ich habe keine anderen Freunde
außer den Jüngern, den treuen Freunden von Bethanien, es wären denn die
Hirten. So sind es also die letzteren. Sind sie gekommen? Woher? Warum?»
«Um dich, unseren Messias,
anzubeten! Wir haben es von Jonathan erfahren, und wir sind hier mit unseren
Herden, die in den Ställen von Lazarus untergebracht sind, und mit unseren
Herzen, jetzt und immer zu deinen heiligen Füßen.» Isaak hat für Elias, Levi,
Joseph und Jonathan gesprochen, die sich alle zu Jesu Füßen niedergeworfen
haben. Jonathan im weichen Gewand des vom Herrn geschätzten Verwalters, Isaak
in jenem des unermüdlichen Pilgers aus grober, dunkelbrauner, wasserdichter
Wolle, Levi, Joseph und Elias in Gewändern, die ihnen Lazarus gegeben hat,
frisch und sauber, um sich an den Tisch setzen zu können, ohne ihre armen,
zerrissenen und nach Herde riechenden Gewänder tragen zu müssen.
105
«Deshalb habt ihr mich in den
Garten geschickt? Gott segne euch alle! Nun fehlt nur die Mutter zu meinem
Glück. Steht auf, steht auf! Es ist mein erstes Geburtstagsfest, das ich ohne
meine Mutter verbringe. Doch eure Gegenwart ist mir ein Trost in meiner
Traurigkeit und Sehnsucht nach ihrem Kusse.»
Alle betreten nun den Speisesaal.
Hier sind die Leuchter meist aus Gold, und das Metall funkelt im Schein der
Flammen, und die Flammen leuchten noch strahlender durch den Widerschein des
vielen Goldes. Die Tafel ist U-förmig aufgestellt worden, um so viele Menschen
unterbringen und bedienen zu können, ohne die Bewegungen des Küchenmeisters
und der Diener zu behindern. Außer Lazarus sind die Apostel, die Hirten und
Maximinus sowie der alte Diener des Simon anwesend.
Martha überwacht die Anordnung
der Plätze und möchte stehen bleiben.
Doch Jesus drängt sie: «Heute
bist du nicht die Gastgeberin, sondern die Schwester, und du wirst dich
setzen, als wärest du mir blutsverwandt. Wir sind eine Familie. Die Regeln
sollen fallen, um der Liebe Platz zu machen. Hier an meiner Seite ist dein
Platz und neben dir Johannes! Ich mit Lazarus. Doch gebt mir eine Lampe.
Zwischen mir und Martha soll ein Licht, eine Flamme wachen: für die Abwesenden
und dennoch Anwesenden, für die von uns Geliebten, die Erwarteten, die teuren
Frauen nah und fern. Für alle! Die Flamme spricht Worte des Lichtes. Die Liebe
hat flammende Worte, und diese Worte gehen in die Ferne auf den körperlosen
Wellen der Seelen, die sich jederzeit jenseits von Bergen und Meeren wieder
begegnen, um Küsse und Segnungen zu bringen... Alles bringen sie. Ist es
vielleicht nicht wahr?»
Martha stellt die Lampe hin, wo
Jesus sie wünscht, an einen Platz, der leer bleibt... und Martha versteht,
neigt sich, um die Hand Jesu zu küssen, die sich dann segnend und tröstend auf
ihr braunes Haupt legt.
Die Mahlzeit beginnt. Drei der
Hirten sind anfänglich etwas befangen, während Isaak schon sicherer ist und
Jonathan keinerlei Verlegenheit zeigt, doch sie werden immer gelöster, je
weiter die Mahlzeit vorangeht, und nachdem sie zuerst geschwiegen haben,
beginnen sie nun zu reden. Wovon sollten sie schon reden, wenn nicht von ihren
Erinnerungen?
«Wir hatten uns eben
zurückgezogen», sagt Levi, «und ich fror so sehr, daß ich mich bei den Schafen
verkrochen hatte und vor Sehnsucht nach der Mutter weinte...»
«Ich dachte an die junge Mutter,
der ich kurz zuvor begegnet war, und fragte mich: "Wird sie wohl eine
Unterkunft gefunden haben?" Wenn ich es gewußt hätte, daß sie in einem Stall
war... in unsere Scheune hätte ich sie begleitet! Sie war so lieblich: eine
Lilie unserer Täler, und es wäre mir wie eine Beleidigung vorgekommen, zu
sagen: "Komm zu uns!" Doch ich dachte an sie... und ich verspürte die Kälte
noch mehr, wenn ich
106
dachte, daß sie sehr darunter
leiden mußte. Erinnerst du dich an das Licht jenes Abends und an deine Angst?»
«Ja, aber dann... der Engel! Oh!»
Levi lächelt bei dieser Erinnerung etwas träumerisch.
«Oh, hört zu, Freunde! Wir wissen
nur wenig und dieses nur ungenau. Wir haben von Engeln reden hören, von
Krippen, Herden und Bethlehem, wir wissen von Jesus, daß er Galiläer und
Zimmermann ist... Es ist nicht recht, daß wir nichts darüber wissen. Ich habe
den Meister beim "Trügerischen Gewässer" gefragt; doch es wurde von anderem
geredet. Dieser da, der es weiß, hat mir nichts gesagt. Ja, ich spreche von
dir, Johannes des Zebedäus. Schöne Achtung hast du vor den Älteren. Du willst
alles für dich behalten, und mich läßt du als den Jünger "Dummkopf"
heranwachsen. Bin ich nicht schon dumm genug?»
Sie lachen alle über den Unwillen
des guten Petrus. Doch dieser wendet sich an seinen Meister: «Sie lachen, doch
ich habe recht», und dann wendet er sich an Bartholomäus, Philippus, Matthäus,
Thomas, Jakobus und Andreas: «Los, verlangt es auch, protestiert mit mir!
Warum wissen wir von nichts ?»
«Wahrlich... Wo wart ihr, als
Jonas starb? Wo im Libanon?»
«Du hast recht. Aber Jonas... ich
wenigstens habe geglaubt, es sei ein Fieberwahn des Sterbenden... und im
Libanon, nun da war ich müde und schläfrig. Verzeih, Meister, aber es ist die
Wahrheit.»
«Es wird die Wahrheit so vieler
sein! Die Welt der Evangelisierten wird dem ewigen Richter oft so antworten,
um trotz der Belehrungen durch meine Apostel, ihre Unwissenheit zu
entschuldigen... ja, sie wird antworten, was auch du sagst: "Ich glaubte, er
würde im Fieberwahn sprechen... Ich war müde und schläfrig..." Oft werden sie
die Wahrheit nicht annehmen, weil sie mit Wahnideen verwechselt wird, und sie
werden sich der Wahrheit nicht erinnern, weil sie müde und schläfrig sind,
vieler unnützer Dinge und vergänglicher Nichtigkeiten wegen, und sogar
sündhafter Dinge wegen. Eines allein ist notwendig: Gott zu kennen!»
«Jetzt aber, da du uns gesagt
hast, was gut ist, erzähle die Dinge, wie sie gewesen sind: deinem Petrus;
dann werde ich es den Leuten sagen. Wenn nicht, so habe ich dich gefragt: was
soll ich erzählen? Die Vergangenheit kenne ich nicht, die Prophezeiungen und
die Schrift kann ich nicht erklären, die Zukunft? ... Oh, ich Armer! Was
verkünde ich also?»
«Ja, Meister, bitte, damit auch
wir es wissen... Wir wissen, daß du der Messias bist, und glauben es. Aber
wenigstens für meinen Teil hatte ich einige Mühe, anzunehmen, daß aus Nazareth
Gutes kommen könnte. Warum hast du mir nicht sofort über deine Vergangenheit
Bescheid gesagt?» fragt Bartholomäus.
«Um deinen Glauben und die
Ungetrübtheit deines Geistes zu prüfen. Doch nun werde ich davon erzählen, ja,
wir werden von meiner
107
Vergangenheit reden. Ich werde
sogar sagen, was auch die Hirten nicht wissen, und sie werden erzählen, was
sie gesehen haben. Ihr werdet den Eintritt d
Christus ins Leben auf dieser
Erde kennenlernen.
Höret also: Nachdem die Zeit des
Heils gekommen war, bereitete Gott seine Jungfrau vor. Ihr werdet begreifen,
daß Gott sich nicht dort niederlassen konnte, wo Satan sein unauslöschliches
Siegel gesetzt hatte. Deshalb bewirkte die Allmacht, daß sein künftiger
Tabernakel ohne Makel sei, und Maria wurde, entgegen den allgemeinen Regeln
des Zeugens, von zwei Gerechten in hohem Alter gezeugt und ohne Makel
empfangen. Wer legte die Seele in das embryonale Fleisch, das den welken Schoß
Annas des Aaron, meiner Großmutter, verjüngte? Du, Levi, hast den Erzengel
aller Verkündigungen gesehen. Du kannst sagen: Er ist es, denn die "Kraft
Gottes" war immer der Siegreiche, der die Freudenbotschaft den Gerechten und
Propheten verkündete. Der Unbezwingbare, an dem selbst die größte Kraft Satans
wie ein dürrer Mooshalm zerbrach; der Geistvolle, der mit scharfer,
leuchtender Intelligenz die Hinterlist des anderen, doch böswilligen,
Intelligenten, zunichte machte und den Befehl Gottes unverzüglich ausführte.
Mit einem Freudenruf empfing der
Verkünder, der die Erdenwege kannte, da er bereits mehrmals herabgestiegen
war, um mit den Propheten zu sprechen, vom göttlichen Feuer den unversehrten
Funken: die Seele des Ewigen Mädchens, und schloß ihn ein in einen Kreis von
Engelsflammen, die seiner geistigen Liebe entsprangen, und brachte ihn zur
Erde in ein Haus, in einen Schoß. Von diesem Augenblick an hatte die Welt eine
Seele, die stets Gott anbetete, und Gott konnte von jener Stunde an ohne
Widerwillen auf einen Punkt der Erde schauen. So wurde ein Menschenkind
geboren: die Geliebte Gottes und der Engel, die Gottgeweihte, die heiligmäßig
von den Eltern Geliebte. "Abel opferte Gott die Erstlinge seiner Herde" (Gen
4,1-4). Oh, wahrlich, die Großeltern des ewigen Abel verstanden es, Gott den
Erstling ihrer Habe, ihrer ganzen Habe, zu opfern, und sie starben im Schmerz,
dieses Gut dem zurückgegeben zu haben, der es ihnen geschenkt hatte.
Meine Mutter war Tempeljungfrau,
vom dritten bis zum fünfzehnten Lebensjahr; sie beschleunigte die Ankunft
Christi mit der Macht ihrer Liebe. Jungfrau vor ihrer Empfängnis, Jungfrau im
Dunkel eines Schoßes, Jungfrau im Wimmern, Jungfrau bei den ersten
Gehversuchen: die Jungfrau gehörte immer Gott, Gott allein, und machte ihren
Anspruch geltend, der über der Vorschrift des Gesetzes Israels stand; so bekam
sie von ihrem Bräutigam, der ihr von Gott zugeführt wurde, das Recht
zugesprochen, auch nach der Vermählung unversehrt zu bleiben.
Joseph von Nazareth war ein
Gerechter! Nur ihm konnte die Lilie Gottes anvertraut werden, und er allein
besaß sie. Ein Engel im Fleische und im Geiste liebte er sie, wie die Engel
Gottes lieben. Diese abgrundtiefe Liebe
108
mit allen ehelichen
Zärtlichkeiten, ohne aber je die Schranken des himmlischen Feuers zu
überschreiten, hinter denen der Tabernakel Gottes war, werden nur wenige auf
dieser Welt begreifen. Sie ist das Zeugnis dessen, was ein Gerechter durch
seinen Willen zu tun vermag. Also, was er kann! Denn auch die durch die
Erbsünde noch geschädigte Seele hat mächtige Kräfte, sich zu erheben, und
erinnert sich ihrer Würde als Tochter Gottes und möchte zu ihm zurückkehren,
um in heiliger Weise aus Liebe zum Vater zu wirken.
Noch war Maria in ihrem Hause in
Erwartung des Bundes mit ihrem Bräutigam, als Gabriel, der Engel der
göttlichen Verkündigungen, wieder auf die Erde herabstieg und die Jungfrau
fragte, ob sie Mutter werden wolle. Er hatte zuvor dem Zacharias den Vorläufer
angekündigt, der ihm jedoch keinen Glauben schenkte. Doch die Jungfrau
glaubte, daß dies durch den Willen Gottes möglich sei, und in ihrer Unkenntnis
fragte sie nur: "Wie kann dies geschehen?" Der Engel antwortete ihr: "Du bist
die Gnadenvolle, o Maria! Fürchte daher nichts, denn du hast auch durch deine
Jungfräulichkeit bei Gott Gnade gefunden. Du wirst einen Sohn empfangen und
gebären, dem du den Namen Jesus geben wirst; denn er ist der dem Jakob und
allen Patriarchen und Propheten Israels verheißene Retter. Er wird groß sein
und Sohn des Allerhöchsten genannt werden, weil er durch das Wirken des
Heiligen Geistes empfangen wird. Der Vater wird ihm den Thron Davids geben,
wie es verheißen worden ist, und er wird über das Haus Jakobs ewig herrschen
und sein wahres Reich wird ohne Ende sein. Nun erwarten der Vater, der Sohn
und der Heilige Geist deinen Gehorsam, damit die Verheißung in Erfüllung gehe.
Schon ist der Vorläufer im Schoße der Elisabeth, deiner Base, empfangen
worden, und mit deiner Einwilligung wird der Heilige Geist über dich kommen,
und heilig wird der sein, der aus dir geboren wird, und er wird Sohn des
Allerhöchsten genannt werden."
Maria antwortete darauf: "Siehe,
ich bin die Magd des Herrn. Es geschehe mir nach deinem Worte." Und der Geist
Gottes ließ sich über seiner Braut nieder, und bei der ersten Berührung teilte
er ihr sein Licht mit, das in ihr die Tugenden des Schweigens, der Demut, der
Klugheit und der Liebe, welche sie im vollkommenen Maß besaß, aufs höchste
vervollkommnete, und sie wurde eins mit der Weisheit und unzertrennlich
verbunden mit der Liebe. Die Gehorsame und Reine verlor sich im Ozean des
Gehorsams, der ich bin, und durfte das Glück erleben, Mutter zu sein, ohne daß
ihre Unberührtheit dadurch beeinträchtigt wurde. Sie war Schnee, der zur Blume
wurde, und gab sich Gott als solche hin.»
«Aber der Ehemann?» fragt Petrus
erstaunt.
«Das Siegel Gottes verschloß
Maria die Lippen, und so wurde Joseph nichts vom Wunder bekannt, bevor Maria
vom Haus des Zacharias zurückkehrte und ihr Zustand als Mutter sichtbar
wurde.»
109
«Was hat er getan?»
«Er hat gelitten... und auch
Maria hat gelitten...»
«Wenn mir das geschehen wäre!
...»
«Joseph war ein Gerechter, Simon
des Jonas. Gott weiß schon, wem er seine Gnaden schenkt... Er litt bitter und
beschloß, sie zu verlassen, den Verdacht, ein Ungerechter zu sein, auf sich
nehmend. Doch der Engel stieg hernieder und sagte ihm: "Fürchte dich nicht,
Maria als deine Braut zu dir zu nehmen; denn, was in ihr sich bildet, ist der
Sohn Gottes, und durch das Wirken Gottes wurde sie Mutter. Wenn der Sohn
geboren ist, wirst du ihm den Namen Jesus geben, denn er ist der Rettet!»
«War Joseph gelehrt?» will
Bartholomäus wissen.
«Wie ein Nachkomme Davids.»
«Dann wird er eine Erleuchtung
gehabt und sich an den Propheten erinnert haben: "Eine Jungfrau wird
empfangen..."»
«Ja, er hatte sie. Auf die
Prüfung folgte die Freude.»
«Wenn ich es gewesen wäre...»
fängt Simon Petrus wieder an, «dann wäre es anders gekommen. Denn ich hätte...
Oh, Herr, wie gut, daß dies nicht mir geschehen ist! Ich hätte sie wie einen
Stengel geknickt, ohne ihr die Zeit zu lassen, etwas zu sagen, und, wenn ich
nicht zum Mörder geworden wäre, hätte ich nachher eine ängstliche Scheu vor
ihr gehabt. Die jahrhundertealte Angst ganz Israels vor dem Zelt der
Bundeslade!»
«Auch Moses empfand Furcht vor
Gott, und doch wurde ihm Hilfe zuteil, und er befand sich bei ihm auf dem Berg
(Ex 19,1-20). Joseph ging darauf in das heilige Haus seiner Braut und sorgte
für die Bedürfnisse der Jungfrau und des Ungeborenen. Und als für alle die
Zeit des Erlasses gekommen war, ging er mit Maria in das Land der Väter, und
Bethlehem wies ihn ab, denn das Herz der Menschen ist der Nächstenliebe
verschlossen. Jetzt müßt ihr weitererzählen.»
«Ich begegnete eines Abends einer
jungen lächelnden Frau, die rittlings auf einem Eselchen saß. Ein Mann war mit
ihr. Er bat mich um Milch und Auskunft. Ich sagte ihm, was ich wußte... Dann
kam die Nacht... und ein großes Licht... und wir gingen hinaus, und Levi sah
einen Engel beim Stall. Der Engel verkündete: "Der Retter ist geboren." Es war
gerade Mitternacht, der Himmel war voller Sterne. Aber ihr Licht verlor sich
im Licht des Engels, der Tausende von Engeln... (Elias weint immer wieder,
wenn er daran denkt.) Der Engel sagte: "Geht hin, um ihn anzubeten. Er ist in
einem Stall, in einer Krippe inmitten zweier Tiere. Ihr werdet ein kleines
Kind finden, in armselige Tücher eingewickelt..." Oh, wie strahlte der Engel,
als er diese Worte sprach! Aber erinnerst du dich, Levi, wie seine Flügel
Flammen sprühten, als er, nachdem er niedergekniet war um den Retter zu
nennen, sagte: "... der Christus, unser Herr ist!"»
«Oh, und ob ich mich erinnere!
Die Stimmen der Tausende von Engeln! Oh!... "Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede auf Erden den Menschen,
110
die guten Willens sind." Diese
Musik ist hier und trägt mich zum Himmel, jedesmal, wenn ich sie höre.» Levi
erhebt sein verzücktes Gesicht, auf dem Tränen glänzen.
«Dann gingen wir hin», sagt
Isaak, «beladen wie Saumtiere, froh wie zu einer Hochzeit, und dann... als wir
dein kleines Stimmchen hörten und die Stimme der Mutter, waren wir zu nichts
mehr fähig, und wir stießen den Knaben Levi vorwärts, damit er nachschaue. Wir
fühlten uns wie Aussätzige neben all dieser Reinheit. Levi lauschte, weinte
und lachte zugleich, und seine Stimme hörte sich an wie das Blöken eines
Lämmleins, so daß das Mutterschaf des Elias darauf antwortete. Joseph kam zum
Eingang und hieß uns eintreten... Oh, wie warst du klein und schön! Eine
fleischfarbene Rosenknospe auf dem rauhen Heu... und du weintest... Dann
lächeltest du, als du die Wärme des Lammfells spürtest, das wir dir anboten,
und in der Freude über die Milch, die wir für dich gemolken hatten... deine
erste Mahlzeit... Oh! ... und dann ... und dann küßten wir dich. Du duftetest
nach Mandeln und Jasmin ... und wir konnten uns nicht mehr von dir trennen...»
«Ihr habt mich nicht mehr
verlassen, wirklich!»
«Das ist wahr», sagt Jonathan.
«Dein Antlitz blieb in uns, und deine Stimme und dein Lächeln... Du wuchsest
heran und wurdest immer schöner... Die Welt der Guten kam, um sich an dir zu
erfreuen... Doch die Bösen konnten dich nicht erkennen... Anna... deine ersten
Gehversuche... die drei Weisen... der Stern!»
«Oh, jene Nacht! Welch ein Licht!
Die Welt schien mit tausend Lichtern zu brennen, während am Abend deines
Kommens das Licht unbeweglich und weiß wie eine Perle war... Jetzt war es der
Tanz der Sterne, bei deiner Geburt war es die Anbetung der Sterne. Wir sahen
von einer Anhöhe die Karawane vorbeiziehen und gingen hinterher, um zu sehen,
ob sie anhielt... Anderentags sah ganz Bethlehem die Anbetung der Weisen.
Dann... Oh, wir wollen das Schreckliche nicht nennen! ... Wir können es nicht
sagen! ...» Elias wird bleich bei der Erinnerung an dieses Ereignis.
«Ja, sagt es nicht. Schweigen
über den Haß.»
«Der größte Schmerz war, daß wir
dich nicht mehr hatten und nichts mehr von dir wußten. Nicht einmal Zacharias
konnte uns helfen, unsere letzte Hoffnung... Nichts mehr.»
«Warum, Herr, hast du deine
Diener nicht getröstet?»
«Du fragst mich nach dem "Warum"
' Philippus? Weil es vorsichtig war, so zu handeln. Du siehst, daß auch
Zacharias den Schleier nicht lüften wollte. Zacharias...»
«Aber du hast uns gesagt, daß er
es war, der sich der Hirten anzunehmen hatte. Warum sagte er nicht zuerst
ihnen und dann dir, daß die einen den anderen, dich, Jesus, suchten?»
«Zacharias war ein sehr
menschlicher Gerechter. Er wurde weniger
111
Mensch und mehr Gerechter in den
neun Monaten, da er stumm war. Er vervollkommnete sich in den Monaten nach der
Geburt des Johannes und er wurde ein wahrhaft Gerechter, als sein menschlicher
Stolz gebrochen wurde, als Gott seine Behauptung widerlegte. Er hatte gesagt:
"Ich, als Priester Gottes, sage, daß der Retter in Bethlehem leben muß." Doch
Gott hatte ihm gezeigt, daß das Urteil, auch das priesterliche, ein armseliges
Urteil ist, wenn es nicht von Gott erleuchtet ist. Unter dem Schrecken des
Gedankens: "Ich könnte durch mein Wort Jesus umbringen", wurde Zacharias der
Gerechte, der jetzt in Erwartung des Paradieses ruht. Gerechtigkeit lehrte ihn
Klugheit und Nächstenliebe. Liebe zu den Hirten. Klugheit der Welt gegenüber,
der Christus unbekannt bleiben mußte. Bei der Rückkehr in die Heimat, nach
Nazareth, vermieden wir Hebron und Bethlehem mit derselben Vorsicht, die
Zacharias leitete, und kehrten am Meere entlang nach Galiläa zurück. Nicht
einmal am Tage meiner Volljährigkeit war es Zacharias möglich, mich zu sehen,
der bereits am Vortage mit seinem Knaben dieselbe Zeremonie gefeiert hatte und
sofort danach abgereist war.
Gott wachte, Gott prüfte, Gott
sorgte vor, Gott machte alles gut. Gott zu besitzen, bedeutet auch Mühe, nicht
nur Freude. So wurden große Anforderungen an die Vaterliebe Josephs gestellt,
und meine Mutter mußte vielen Anforderungen an Leib und Seele gerecht werden.
Auch das Erlaubte wurde verboten, damit das Geheimnis des Knaben Messias
gewahrt blieb. Das ist auch die Erklärung für viele, die nicht die doppelte
Ursache des Kummers verstanden, als ich für drei Tage verlorengegangen war.
Liebe der Mutter, Liebe des Vaters für das verlorengegangene Kind! Furcht der
Hüter, daß der Messias vor der Zeit entdeckt werden könnte. Angst, den Erlöser
der Welt, das große Geschenk Gottes, zu wenig beschützt und behütet zu haben.
Dies ist die Ursache des ungewöhnlichen Ausrufs: "Sohn, warum hast du uns das
angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht!" Dein Vater,
deine Mutter... der Schleier, der auf die Herrlichkeit des menschgewordenen
Gottes geworfen worden war. Dann die versichernde Antwort: "Warum habt ihr
mich gesucht ? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters
ist?" Eine von der Gnadenvollen aufgenommene und in ihrer wahren Bedeutung
verstandene Antwort. Also: "Habt keine Angst! Ich bin noch klein, ein Knabe,
aber wenn ich als Mensch zunehme an Größe, Weisheit und Gnade, so bin ich in
den Augen der Menschen der Vollkommene, weil ich der Sohn des Vaters bin. Und
darum weiß ich, was ich zu tun habe: ich diene dem Vater, und seinen Glanz
lasse ich erleuchten, indem ich Gott diene und ihm den Retter bewahre." So
verhielt ich mich bis vor nunmehr einem Jahr.
Jetzt ist die Zeit gekommen; die
Schleier lüften sich, und der Sohn Josephs zeigt sich in seinem wahren Wesen:
als Messias der Frohen Botschaft, als Erlöser, Retter und König der künftigen
Zeiten.»
112
«Hast du Johannes nie
wiedergesehen?»
«Nur am Jordan, meinen Johannes,
als ich die Taufe erbat.»
«Somit hast du nicht gewußt, daß
Zacharias ihnen Gutes erwiesen hatte ?»
«Ich habe dir gesagt: Nach dem
Blutbad der Unschuldigen wurden die Gerechten Heilige und die Menschen
Gerechte. Nur die Dämonen bleiben, was sie immer waren. Zacharias lernte,
heilig zu werden in der Demut, der Nächstenliebe, der Klugheit und im
Stillschweigen.»
«Ich will mir dies alles merken.
Werde ich es können?» fragt Petrus.
«Sei beruhigt, Simon. Morgen
werde ich es mir von den Hirten wiederholen lassen. In Ruhe. Im Obstgarten.
Ein-, zwei-, dreimal, wenn es nötig ist. Ich habe ein gutes Gedächtnis, an der
Zollbank erprobt, und werde mich für alle erinnern. Wenn du dann willst, kann
ich es dir wiederholen. Ich habe in Kapharnaum nie etwas aufgeschrieben, und
doch...»
«Oh, du hast dich niemals auch
nur um eine Zehnteldrachme geirrt! Ich erinnere mich gut. Ich will dir deine
Vergangenheit verzeihen, von ganzem Herzen, wenn du diese Erzählung nicht
vergißt... und sie mir oft wiederholst. Ich will, daß sie sich in mein Herz
eingräbt, wie in ihres... wie bei Jonas... Oh, im Sterben noch seinen Namen
nennen!»
Jesus betrachtet Petrus und
lächelt. Dann steht er auf und drückt einen Kuß auf das angegraute Haar.
«Warum diesen Kuß, Meister?»
«Weil du zum Propheten geworden
bist. Du wirst mit meinem Namen auf deinen Lippen sterben. Ich habe den Geist
geküßt, der aus dir gesprochen hat.»
Dann stimmt Jesus laut einen
Psalm an, und alle erheben sich und stimmen mit ein: «Erhebt euch und lobt den
Herrn, euren Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gepriesen sei sein heiliger Name,
erhaben über allen Lobpreis. Du allein bist der Herr. Du hast den Himmel und
die Himmel der Himmel erschaffen und alle seine Heerscharen, die Erde und
alles, was auf ihr ist, usw.» (Es ist der Hymnus, der von den Leviten am Feste
der Weihe des Volkes gesungen wird. Kap. IX im 11. Buch Esdra.) Alles endet
mit diesem langen Gesang, und ich weiß nicht, ob dies der antike Ritus ist
oder ob Jesus ihn von sich aus angestimmt hat.
10.4.1945. Ich öffne die Bibel
nach einer Ruhe von drei Tagen. Ich öffne sie auf irgendeiner Seite, nur um
etwas zu lesen, das ein von Gott gekommenes Wort ist. Beim Öffnen fällt mein
Blick auf den 17. Psalm mit den Versen 25-31. Und der Herr spricht:
«Ist es vielleicht nicht das, was
du von mir sagen kannst? Einst liebte ich dich mit meiner vollendeten Liebe,
aber du liebtest mich nicht mit deiner vollendeten Liebe; denn, wenn auch der
Gedanke an mich in deinem Herzen war, so hattest du doch noch andere
menschliche Zuneigungen, die stärker waren als deine Liebe für mich, da warst
du meiner Belohnung nicht würdig. Erinnerst du dich noch an jene Zeit? Auch
ich erinnere mich noch daran. Du kamst aus deinem Mädchenpensionat, noch
duftend von Gott, wie eine Tempeljungfrau nach gottesdienstlichem Weihrauch
duftet. Und ich hatte dich schon erwählt. Wann habe
113
ich dich erwählt? Willst du es
wissen? Wahrlich, als deine Seele erschaffen wurde; denn keine menschliche
Bestimmung ist dem Ewigen Gedanken unbekannt. Aber meine kleine Maria,
ungeachtet der unglücklichen Umstände, in denen sie geboren wurde und die sie
umgaben, war als Säugling durch meinen Willen am Leben erhalten worden; sie
gehörte mir, als sie ihre ersten Tränen beim Anblick der Abnahme Christi vom
Kreuz vergossen hat. Du hast mich verlangt, und ich habe mich dir mit
wohlgefälligem Lächeln geschenkt. Er hat für dich im Himmel zum Vater und zum
Heiligen Geist gesagt: "Laßt die Kinder zu mir kommen!"
Nur die Kinderlippen können die
Schmerzen seiner Wunden lindern. Kinder dem Alter und Kinder dem Willen nach.
Kinder, die aus Liebe und Gehorsam zum Meister Kindern gleich werden, um des
Himmelreiches willen. Die Wonne Gottes, Maria, die jungfräuliche Mutter, ist
die vollkommene Kleine, die im Himmelreich jubiliert.
Die Seelen Erwachsener, die
"Kinder" blieben, sind so selten wie ganz vollkommen runde Perlen von
besonderer Größe. Doch die Kinder im Alter sind alle Besitzer von Seelen, die,
noch nicht entheiligt, die Freude Gottes und der Trost Christi sind. Von da an
verlangte der Sohn nach dir. Jede unschuldige Träne war ein Kuß von ihm wert;
jeder Kuß eine Gnade, jede Gnade eine Vereinigung mit der göttlichen Liebe. Es
ist kein Fehler, zurückzuschauen um das Magnificat und Miserere anzustimmen.
Bis zum Verlassen deines Erziehungsinstitutes konntest du dein Magnificat
singen. Du gehörtest ganz Gott. Nur ein Altar war in dir! Nur eine einzige
Liebe! Die Lilie mit halbgeöffnetem Kelch war nur von himmlischem Tau und
göttlichen Strahlen erfüllt. Dann kam die Welt, und mit ihr viele andere
Altäre und viele andere Lieben, die unrechtmäßigen Eroberer meines Platzes.
Doch sie blieben nur, solange ich wollte.
Ich hätte auch nicht wollen
können, und manch einer wird dazu sagen: "Es war ein gefährliches Experiment."
Nein! Es war notwendig. Die Apostel wurden gedemütigt durch ihr Versagen
Christus gegenüber, als jede Art verdorbenen Menschentums in ihnen Oberhand
gewann; sie wurden von neuem durch alles erschüttert, was Menschen verwirrt.
Da verstanden sie, daß ihre ganze Bekehrung nicht nur ihr Verdienst war,
sondern nur ihrem Verkehr mit Jesus zu verdanken war. Aber der Hochmut, die
Verdorbenheit des Menschen, wurde in ihnen vernichtet. Das ist notwendig bei
allen, die zu einer besonderen Aufgabe auserwählt sind, damit sie nicht meine
Auserwählung einbüßen, weil sie meiner Liebe unwürdig sind. Ein Rivale nach
dem anderen um meinen Platz mußte aus deinem Herzen weichen. Dein Gott wurde
wieder dein König, dem du das "Miserere" deiner weisen Reue sangest. Jetzt,
Tochter, schau auf die Vergangenheit und in die Gegenwart. Schau auf die Zeit
deiner Begeisterung für den Menschen, die Wissenschaft und dich selbst, und
dann blicke auf die gegenwärtige, wiederum einzige Liebe zu mir! Und sage...
laß aber nur die wahre und kostbare Stimme deiner Seele reden: Besitzest du
jetzt nicht alles? Seit du mein bist, hast du da nicht alles? Viele Törichte
werden sagen: "Sie hat nichts, weder Gesundheit, noch Freude, noch
Wohlbefinden." Aber deine Seele, die mit den Augen der Seele sieht, spricht:
"Ich habe alles, selbst einen heiligen Überfluß, wenn man Überfluß nennen
kann, was über das zum Heile Notwendige hinausgeht." Du hast deine besondere
Sendung als Sprachrohr. Und außerdem, was Gabe und nicht notwendig ist, hast
du noch die Zustimmung Gottes zur Erfüllung deiner Wünsche, gemäß dem Worte
des Psalmisten: "Der Herr hat mir vergolten nach meiner Gerechtigkeit, nach
der Reinheit meiner Hände vor deinen Augen" (Ps 17,21-25).
Ich bin unendlich, göttlich
freigebig gegenüber den Gerechten und denen, die reinen Herzens sind. Gut mit
den Schwachen und überaus gut mit den Starken aus Liebe zu mir. Und da ich die
Liebe bin, muß ich mir selbst Gewalt antun, um nicht schwach zu werden mit den
Fehlenden. Diesen gewähre ich die Barmherzigkeit meines Sohnes. Meinen Kindern
gewähre ich die Fülle meiner Gaben. Ich rette sie, erleuchte sie, befreie sie
und stärke sie mehr und mehr. Ich führe sie an meiner Hand auf meinem Weg der
Reinheit und belehre sie durch mein im Feuer der göttlichen Liebe gebildetes
Wort. So verfahre ich mit dir, meine Seele, die du mir deine Liebe geschenkt
und dein ganzes Vertrauen auf mich gesetzt hast. Fürchte darum nichts, du
Blüte Gottes. Es gibt keine Blume, angefangen bei den mikroskopisch kleinen
114
der eisigen Berge bis zu den
riesenhaften der Tropenländer, der ich nicht das für ihr edles Leben
Notwendige an Tau, Licht und Wärme zukommen ließe. Doch das sind nur Pflanzen!
Die Blumen meiner Seelen, was für eine Pflege erhalten sie von ihrem Schöpfer?
Hab keine Angst, du Blume Gottes, besprengt mit dem Blute und den Tränen des
Sohnes und der Jungfrau. Mit diesen Perlen und deiner Treue geschmückt, bist
du mir sehr teuer. Singe jederzeit das Magnificat! Der Vater, der Sohn und der
Tröster sind mit dir!»
Oh, Herr! Herr! Du sagst es, und
es muß wahr sein. Es wird alles notwendig gewesen sein. Aber was war nur im
vergangenen Jahre meine große Verlassenheit? Du weißt es! Du übersiehst die
Gefühle der Herzen nicht. Es gibt Wunden, die auch nach der Vernarbung bei der
geringsten Berührung schmerzen. Selbst das Mitgefühl anderer verursacht
oftmals Schmerzen, insbesondere dann, wenn man versucht, die Wunden zu
berühren. Die abgetrennten Nerven schmerzen noch, nachdem die Wunde vernarbt
ist. Deine Abkehr, auch wenn du mich wieder an dein Herz genommen hast, ist
eine immer wieder schmerzende Wunde, denn sie hat die Bande der Liebe
getroffen, die mich mit dir verbanden. Ich frage dich nicht, warum du es getan
hast. Ich sage dir nur: du weißt, was das Verlassensein von dir für mich
bedeutete. Heute habe ich gezittert beim Schreiben: 10. April. Denn seit dem
10. April des letzten Jahres ließest du deine arme Blume ohne Tau, ohne Licht
und ohne Wärme. Ich wäre daran beinahe gestorben. Denn ich habe dir alles
gegeben, und wenn ich noch mehr hätte, würde ich noch mehr geben. Aber schicke
mir nie mehr eine solche Prüfung. Du siehst, daß meine Armseligkeit dies nicht
ertragen kann. Ich singe, ja. Ich singe mein Magnificat! Ich sage dir auch:
ich habe es nicht verdient, daß du in mir große Dinge tust. Doch ist mein
Gesang immer mit Tränen vermischt; denn wie ein Kind, das in seinen jungen
Jahren traurige Zeiten durchgemacht hat, nicht mehr das frohe Lachen der
glücklichen Kindheit besitzt, so habe ich immer die Verlassenheit von dir im
vergangenen Jahr vor Augen. Jesus hat recht. Maria hat recht. Was wir in
"unseren Leiden" schwer ertragen, ist das Verlassensein von dir, mein Vater...
Während ich dies schreibe,
entzündet sich wieder das kleine Licht, das fortwährend vor Jesus brennt: das
Sternlein, das zusammen mit meinem Herzen vor meinem gekreuzigten Jesus
leuchtet. Seit einem Jahr war es erloschen... Meine Zelle... mein
Tabernakel... mein Paradies ohne Licht! Ich litt sehr darunter. Alles habe ich
von deiner Liebe bekommen, viel von deiner Strenge. Finsternis, Einsamkeit und
was dein Sohn als "Hölle" bezeichnet hat. Ich war wie ein Vöglein, das nur
durch reines Glück seinen Peinigern entrinnen konnte. Ich habe Angst...
Überall sehe ich Schlingen, Gitter und Qualen... Herr, erbarme dich...
Unter verschiedenen Daten folgen:
ein Diktat über die Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, mit Bezug auf die
Schreiberin: «... wenn du die vielen scheinbaren Gegensätze deines Daseins
betrachtest und das, was du hast, dann sage stets: "Jene Begebenheit, die im
scheinbaren Gegensatz zur nächsten und meiner heutigen Lage steht, hat dieser
den Weg vorbereitet, und ist das Ergebnis meiner früheren Zustimmung." Nimm es
an, wie wenn es für dich keinen Stillstand mehr gegeben hätte, seitdem du dir
aus dem Gebet Jesu "dein Wille geschehe" eine fruchtbare Regel gemacht hast.
Du bist vorangeschritten, und eilends hast du dich fliegend in die Höhe
erhoben. Je mehr du froh und bereitwillig Gottes Absichten gehorchtest, desto
gefestigter wurden dein Wille, deine Erkenntnis und dein Besserwerden.»Ein
anderes Diktat zum Zitat: «In der innigen Gemeinschaft mit der Weisheit liegt
die Unsterblichkeit» (Weish 8,17) und eine Erklärung zu einem Abschnitt der
Bibel (Ez 37,1-14) seitens der Schreiberin: «Ich verstehe weshalb Jesus mich
nicht fragt, ob die Toten am Jüngsten Tag auferstehen werden. Der Glaube lehrt
uns dies und hierüber besteht kein Zweifel. Er jedoch nennt diese arme
Menschheit von heute "Knochen", weil sie so sehr erdgebunden ist und ihr der
Geist fehlt. Ich verstehe es, denn sobald Gott mich dazu auffordert, sein
Sprachrohr zu sein, vermehrt und erhebt sich mein Intellekt zu einer Leistung,
welche die dem Menschengeschlecht zugestandene bei weitem übersteigt. Dann
sehe ich und verstehe ich dem Geist gemäß.» Das Diktat endet mit den Worten:
«Die Zeit wird kommen, da ich
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wiederum ein Volk von Lebenden
und nicht von Leichen haben werde. Vorläufig gebe ich den Besseren, jenen die
nicht gestorben, jedoch aus Mangel an geistiger Nahrung zu Skeletten abgezehrt
sind, die Nahrung meines Wortes. Ihr sollt nicht vor Entkräftung sterben. Mein
Wort ist das süße Manna, welches euch auf wunderbare Weise Kraft verleiht.
Nährt euch damit, Kinder meiner Liebe und meines Opfers! Warum muß ich sehen,
daß so viele Hunger leiden, da für sie vom Retter soviel Nahrung bereitet
worden ist, und daß jene Hungrigen sich nicht davon nähren? Nährt euch, steht
auf, kommt aus den Gräbern hervor. Kommt aus der Trägheit heraus, aus den
Lastern der Welt, kommt doch zum Bewußtsein, kommt, um den Herrn, eueren Gott,
von neuem zu erkennen. Ich habe es euch am Anfang dieses Werkes und während
dieses tragischen Krieges gesagt und wiederhole euch: dieser ist einer jener
Kriege, welche die Zeit des Antichrist einleiten. Danach wird das Zeitalter
des lebendigen Geistes kommen. Selig, die sich vorbereiten werden, um jener
Ära entgegenzugehen. Sagt nicht: "Wir werden jene Zeit doch nicht erleben."
Ihr nicht, nicht alle von euch. Aber es ist Torheit und Lieblosigkeit, nur an
sich selbst zu denken. Aus gottlosen Vätern gehen gottlose Kinder hervor,
träge Väter haben träge Kinder. Eure Kinder und Kindeskinder sind es, welche
dieser geistigen Kraft für jene Stunden sehr bedürfen. Im Grunde genommen ist
es ein Gebot der Menschenliebe, für das Wohl der Kinder und Enkelkinder
vorzusorgen. Dieser Vorsorge soll in religiösen Dingen nicht weniger Beachtung
geschenkt werden als in weltlichen Angelegenheiten. Wie ihr euren Kindern ein
Vermögen hinterlaßt, oder darum bemüht seid es zu tun, damit sie es einmal
leichter haben als ihr, so sollt ihr euch auch dafür einsetzen, ihnen eine
Erbschaft geistiger Kraft zu hinterlassen, die sie entwickeln und vermehren
können, um dann in Überfülle davon zu haben, wenn der Hagel der letzten
Schlachten der Welt und Luzifers mit einer solchen Wucht über die Menschheit
kommen wird, daß sie sich fragen werden muß, ob nicht die Hölle noch besser
wäre. Die Hölle! Die Welt wird sie erleben! Alsdann wird für die Treuen im
Geiste der Himmel kommen, die überirdische Erde: das Himmelreich.»
176. RÜCKKEHR ZUM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"
Jesus überquert mit seinen
Jüngern die flachen Felder beim "Trügerischen Gewässer" * Der Tag ist
regnerisch, der Ort menschenleer. Es muß gegen Mittag sein, denn der schwache
Schein der Sonne, der von Zeit zu Zeit den grauen Wolkenschleier durchbricht,
fällt senkrecht zur Erde. Jesus spricht mit Iskariot, dem er den Auftrag gibt,
für die nötigsten Besorgungen ins Dorf zu gehen. Wie er allein ist, eilt
Andreas auf ihn zu, der wie immer schüchtern und leise fragt: «Willst du mich
anhören, Meister?»
«Ja! Komm mit mir, wir wollen
vorausgehen», und Jesus beschleunigt den Schritt, vom Apostel gefolgt, um sich
einige Meter von den anderen zu entfernen.
«Die Frau ist nicht mehr da,
Meister», sagt Andreas traurig und erklärt: «Man hat sie geschlagen, und sie
ist geflohen. Sie wurde verwundet und blutete. Der Verwalter hat sie gesehen.
Ich bin vorausgegangen und habe gesagt, daß ich nachsehen wolle, ob der Weg in
Ordnung sei, doch es war nur, weil ich sofort zu ihr gehen wollte. Ich habe so
gehofft, sie zum
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Licht führen zu können! Ich habe
in diesen Tagen viel darum gebetet! Nun ist sie geflohen. Sie wird verloren
gehen. Wenn ich wüßte, wo sie ist, würde ich sie einholen. Ich würde es aber
den anderen nicht sagen, nur dir, weil du mich verstehst. Du weißt, daß ich
bei dieser Suche keine hintergründigen Gedanken hege, sondern nur vom großen
Wunsch erfüllt bin, der zur Qual wird, einer Schwester zur Rettung verhelfen
zu können.»
«Ich weiß es, Andreas, und ich
sage dir: auch so, wie die Dinge nun liegen, wird dein Wunsch dennoch erfüllt
werden. Ein Gebet in diesem Sinn ist nie verloren. Gott erhört es, und sie
wird gerettet werden.»
«Du sagst es? Oh, mein Schmerz
ist gelindert!»
«Wolltest du nicht wissen, wie es
um sie steht? Macht es dir nichts aus, daß nicht du es bist, der sie mir
zuführt ? Fragst du nicht, wie es geschehen wird?» Jesus lächelt sanft, und in
seinen blauen Augen leuchtet es auf, während er sich zu seinem Apostel neigt,
der an seiner Seite geht. Jener Blick und das Lächeln gehören zu den
Geheimnissen Jesu, mit denen er die Herzen gewinnt.
Andreas betrachtet Jesus mit
seinen sanften, braunen Augen und sagt: «Es genügt mir zu wissen, daß sie zu
dir kommt. Ich oder ein anderer, was macht das schon aus? Wie es geschehen
wird? Du weißt es, und ich brauche es nicht zu wissen. Deine Zusicherung
genügt mir, und ich bin glücklich!»
Jesus legt Andreas einen Arm um
die Schultern und zieht ihn in einer liebevollen Umarmung an sich, was den
guten Andreas völlig verzückt. In dieser Verfassung hört er Jesus sagen: «Das
ist die Begabung des wahren Apostels. Schau, mein Freund, in deinem Leben und
in jenem der zukünftigen Apostel wird es immer so sein. Manchmal werdet ihr
erfahren, daß ihr die "Retter" gewesen seid. Doch in den meisten Fällen werdet
ihr retten ohne zu wissen, daß die Menschen, welche euch am meisten am Herzen
lagen, durch euch gerettet worden sind. Erst im Himmel werdet ihr sie euch
entgegenkommen oder zum Ewigen Reich aufsteigen sehen: eure Geretteten, und
eure Freude wird sich mit jedem Erlösten steigern. Manchmal werdet ihr es
schon auf Erden vernehmen. Das sind die Freuden, die ich euch schenke, um euch
einen noch größeren Eifer für neue Eroberungen einzuflößen. Doch selig der
Priester, der einen Ansporn nicht nötig hat, um seine Pflicht zu erfüllen!
Selig jener, der nicht entmutigt wird, wenn er keinen Erfolg sieht, und nicht
sagt: "Ich tue nichts mehr, denn ich habe keine Genugtuung." Die apostolische
Genugtuung, als einziger Ansporn zur Arbeit, beweist ungenügende apostolische
Bildung und ist eine Herabwürdigung des Apostelamtes auf das Niveau einer
gewöhnlichen menschlichen Tätigkeit, das doch in einem geistigen Auftrag
besteht. Man darf niemals der Vergötterung des Berufes verfallen, indem das
Priestertum als Ziel einer Verehrung euer selbst betrachtet wird. Nicht ihr
sollt angebetet werden, sondern der Herr, euer Gott! Ihm allein gebührt die
117
Ehre der Geretteten... euch das
Werk der Rettung, indem ihr auf den Einzug in den Himmel wartet, um als
"Retter" gelobt zu werden. Doch du sagtest mir, daß der Verwalter sie gesehen
hat. Erzähle.»
«Drei Tage nach unserer Abreise
von hier kamen Pharisäer, um dich zu suchen. Sie fanden uns natürlich nicht.
Sie haben das ganze Dorf und die Häuser in den Feldern nach dir durchsucht und
haben sich dabei so benommen, als sehnten sie sich danach, dich zu sehen. Doch
niemand hat ihnen geglaubt. Sie sind in die Herbergen gegangen und haben
hochmütig von allen Anwesenden verlangt, daß sie diese unverzüglich verlassen,
denn sie wollten keine Kontakte mit unbekannten Fremden haben, welche sie
vielleicht noch entweihen könnten. Jeden Tag gingen sie zum Haus. Nach einigen
Tagen haben sie die Ärmste getroffen, die immer zum Haus ging und hoffte, dich
dort zu finden und den Frieden zu empfangen. Sie haben sie verjagt und sind
ihr bis zu ihrem Unterschlupf im Stalle des Verwalters nachgegangen. Sie haben
sie nicht sofort angegriffen, denn der Verwalter ist mit seinen Söhnen
herausgekommen, mit Knüppeln bewaffnet. Doch am Abend, als sie zum Brunnen
ging, sind sie mit anderen zurückgekehrt und haben Steine nach ihr geworfen
und gerufen: "Dirne! Dirne!" und sie als Schande des Dorfes bezeichnet. Als
sie flüchten wollte, haben sie sie eingeholt, mißhandelt, ihr den Schleier und
die Gewänder vom Leib gerissen, so daß sie von allen gesehen werden konnte.
Sie haben sie geschlagen, sich ihrer bemächtigt und sie dem Synagogenvorsteher
ausgeliefert, damit er sie verfluche und steinigen ließe, und damit er auch
dich verfluche, weil du sie hierher gebracht hast. Doch er hat es nicht tun
wollen und muß nun den Bannfluch des Hohen Rates gewärtigen. Der Verwalter ist
ihr zu Hilfe geeilt und hat sie den Händen dieser Wüstlinge entrissen. Doch in
der Nacht ist sie weggegangen und hat ein Armband dagelassen mit einigen
Worten auf einem Pergamentstreifen. Sie hat darauf geschrieben: "Danke! Bete
für mich." Der Verwalter sagt, sie sei noch jung und sehr schön, doch sehr
blaß und abgemagert. Er hat sie auf den Feldern gesucht, denn sie war schwer
verwundet. Doch er hat sie nicht gefunden, und er kann nicht verstehen, wie
sie sich in ihrem Zustand weit entfernen konnte. Vielleicht ist sie tot und
liegt irgendwo... und konnte sich nicht retten...»
«Nein.»
«Nein? Ist sie nicht gestorben?
Hat sie sich nicht verirrt?»
«Das Verlangen nach Erlösung ist
schon Sündenvergebung. Auch wenn sie gestorben wäre, so wäre ihr verziehen,
denn sie hat die Wahrheit gesucht und ihre Verfehlungen mit Füßen getreten.
Doch sie ist nicht tot. Sie steigt die ersten Stufen des Berges der Erlösung
empor. Ich sehe sie... Sie ist gebeugt unter den Tränen ihrer Reue. Doch das
Weinen macht sie immer stärker, während die Last sich verringert. Ich sehe
sie. Sie geht der Sonne entgegen. Wenn sie den Gipfel erreicht hat, dann wird
sie in der Herrlichkeit der Sonne Gottes stehen. Hilf ihr mit deinem Gebet!»
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«Oh, mein Herr!» Andreas ist
außer sich beim Gedanken, daß er einer Seele zur Heiligung verhelfen kann.
Jesus lächelt noch gütiger. Er
sagt: «Wir müssen dem verfolgten Synagogenvorsteher die Arme und das Herz
öffnen und zum guten Verwalter hingehen, um ihm zu danken und ihn zu segnen.
Wir wollen es den anderen mitteilen.»
Doch während sie auf die Zehn
zugehen, die stehengeblieben waren, weil sie begriffen hatten, daß Andreas
eine persönliche Aussprache mit Jesus hatte, kommt Iskariot angerannt. Er
gleicht einem großen Schmetterling, der über die Wiesen flattert, so rasch
eilt er im wehenden Mantel und mit fuchtelnden Armen herbei.
«Aber was hat er denn?» fragt
Petrus. «Ist er verrückt geworden?»
Bevor ihm jemand antworten kann,
schreit Iskariot, der nun nähergekommen ist: «Bleib stehen, Meister! Höre mich
an, bevor du ins Haus hineingehst. Sie haben dir einen Hinterhalt gelegt. Oh,
diese gemeine Bande!», und er kommt heran und sagt: «Oh, Meister, wir können
nicht mehr hingehen. Die Pharisäer sind im Dorf und gehen täglich zum Haus.
Sie warten auf dich, um dich zu belästigen. Sie schicken alle weg, die kommen
und dich suchen. Mit fürchterlichen Bannsprüchen schüchtern sie alle ein. Was
willst du tun? Hier würdest du verfolgt und dein Werk würde vernichtet werden.
Einer von ihnen hat mich gesehen und mich angegriffen. Ein häßlicher,
langnasiger Alter, der mich kennt, denn er ist einer der Schriftgelehrten des
Tempels. Ja, es sind auch Schriftgelehrte dort. Er hat mich angefallen, mich
mit seinen Krallenpfoten gepackt und mit seiner Geierstimme beschimpft.
Solange er mich gekratzt und beschimpft hat, schau (und er zeigt am Handgelenk
und an der Wange deutliche Nagelspuren), habe ich es ausgehalten, aber als er
über dich mit seinem Geschimpfe hergefallen ist, da habe ich ihn am Kragen
gepackt...»
«Aber Judas!» ruft Jesus.
«Nein, Meister, ich habe ihn
nicht erwürgt. Ich habe nur verhindert, daß er über dich fluchte. Dann habe
ich ihn losgelassen. Nun ist er dort und stirbt vor Angst wegen der
überstandenen Gefahr... Doch laß uns fortgehen, ich bitte dich! Es kann
ohnehin niemand mehr zu dir kommen...»
«Meister!»
«Das ist ja ein Greuel!»
«Judas hat recht!»
«Wie Hyänen auf der Lauer sind
sie.»
«Feuer vom Himmel, das über
Sodoma kam, warum kommst du nicht wieder?»
«Aber weißt du, du warst tapfer,
Junge! Schade, daß ich nicht dabei war, ich hätte dir geholfen.»
«Oh, Petrus, wenn du dabei
gewesen wärest, hätte dieser kleine Geier seine Federn und seine Stimme ein
für allemal eingebüßt.»
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«Aber wie hast du es
fertiggebracht, nicht bis zum Äußersten zu gehen ?»
«Bah... ein Geistesblitz. Ein
Gedanke aus weiß Gott welchen Tiefen des Herzens: "Der Meister verurteilt die
Gewalt", und ich habe mich beherrscht, obwohl es für mich ein noch härterer
Schlag war als der des Schriftgelehrten, der mich gegen die Wand geworfen hat,
als er mich angriff. Meine Nerven waren wie zerrissen, so daß ich nachher
keine Kraft mehr gehabt hätte, auf ihn einzuschlagen. Welch eine Anstrengung,
sich zu beherrschen!»
«Du bist wirklich tapfer gewesen!
Nicht wahr, Meister? Doch du sagst nicht, was du denkst.»
Petrus ist über die Tat des Judas
so glücklich, daß es ihm entgeht zu bemerken, daß das Antlitz Jesu von einem
leuchtenden Ausdruck zu einer Traurigkeit gewechselt hat, die seinen Blick
verdunkelt, seinen Mund verschließt und ihn schmäler erscheinen läßt.
Er öffnet ihn und spricht: «Ich
sage, daß ich mehr angewidert bin von eurer Art zu denken als vom Benehmen der
Judäer. Sie sind die Unglücklichen in der Finsternis. Ihr, die ihr mit dem
Lichte seid, seid hart, rachsüchtig, gewalttätig, murrt über andere und
billigt die Brutalität wie sie. Ich sage euch, ihr bestätigt mir nur immer
wieder, daß ihr dieselben geblieben seid, die ihr immer wart, als ihr mich zum
erstenmal saht. Das tut mir weh! Was die Pharisäer betrifft sollt ihr wissen,
daß Jesus Christus vor ihnen nicht flieht. Ihr zieht euch zurück, ich trete
ihnen entgegen. Ich bin kein Feigling. Wenn ich mit ihnen gesprochen habe und
sie nicht habe überzeugen können, dann werde ich mich zurückziehen. Man soll
von mir nicht sagen, daß ich nicht mit allen Mitteln versucht hätte, sie an
mich zu ziehen. Auch sie sind Kinder Abrahams. Ich tue meine Pflicht bis zum
Äußersten. Ihre Verdammnis soll einzig und allein ihrem bösen Willen
zugeschrieben werden und soll nicht durch irgendwelche Vernachlässigung
meinerseits ihnen gegenüber verursacht worden sein.» Jesus geht zum Hause, das
schon mit seinem niedrigen Dach hinter einer Reihe entlaubter Bäume zu sehen
ist.
Die Apostel folgen ihm mit
gesenktem Haupt und reden leise miteinander. Da ist das Haus. Sie betreten
schweigend die Küche und machen sich am Herd zu schaffen. Jesus versinkt in
Gedanken.
Sie sind gerade dabei, die
Mahlzeit einzunehmen, als eine Gruppe von Menschen an der Tür erscheint. «Sie
sind da», flüstert Iskariot.
Jesus erhebt sich sofort und geht
ihnen entgegen. Er ist so imponierend, daß die Gruppe einen Augenblick
zurückweicht. Doch der Gruß Jesu versichert ihnen: «Der Friede sei mit euch!
Was wollt ihr?»
Nun glauben die Feiglinge alles
wagen zu können, und sie schmeicheln arrogant: «Im Namen des heiligen Gesetzes
befehlen wir dir, diesen Ort zu verlassen. Du, der Aufwiegler der Gewissen,
Übertreter des Gesetzes,
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der Aufrührer der ruhigen Städte
von Judäa, fürchtest du nicht die Strafe des Himmels, du Nachäffer des
Gerechten, der am Jordan tauft! Du, der du die Dirnen unter deinen Schutz
nimmst, verlasse das Land Judäas! Damit dein Atem nicht von hier durch die
Mauern in die heilige Stadt eindringe!»
«Ich tue nichts Böses. Ich
belehre als Rabbi, heile als Wundertäter, treibe Dämonen aus als Exorzist: sie
alle gibt es in Judäa. Gott, der ihre Tätigkeit erlaubt, will, daß auch ihr
sie achtet und verehrt. Ich verlange keine Verehrung. Ich verlange nur, mich
Gutes tun zu lassen jenen, die körperlich, geistig und seelisch krank sind.
Warum verbietet ihr es mir?»
«Du bist ein Besessener! Geh
fort!»
«Die Beleidigung ist keine
Antwort. Ich habe euch gefragt, warum ihr mir verbietet, was ihr anderen
erlaubt.»
«Weil du ein Besessener bist und
mit Hilfe von Dämonen die Dämonen austreibst und Wunder wirkst.»
«Und eure Exorzisten ? Mit wessen
Hilfe tun sie es ?»
«Mit ihrem heiligen Leben. Du
aber bist ein Sünder, und um deine Macht zu steigern bedienst du dich der
Sünderinnen, denn in der Buhlschaft vermehrt sich der Besitz der dämonischen
Kraft. Unsere Heiligkeit hat das Gebiet von deinen Mitschuldigen gesäubert.
Aber wir erlauben nicht, daß du hierbleibst, damit nicht noch andere Weiber
herbeigelockt werden.»
«Aber ist dies eigentlich euer
Haus ?» fragt Petrus, der sich hinter Jesus gestellt und ein nicht sehr
vertrauenerweckendes Aussehen hat.
«Es ist nicht unser Haus, aber
ganz Judäa und ganz Israel ist in den heiligen Händen der Reinen Israels.»
«Das wäret also ihr?» fragt
Iskariot, der auch zur Türe gekommen ist und ein höhnisches Gelächter folgen
läßt. Dann fragt er: «Euer anderer Freund, wo ist er? Zittert er noch? Oh,
schämt euch, geht, und zwar sofort! Sonst werdet ihr es bereuen müssen...»
«Ruhe, Judas! Du, Petrus, geh an
deinen Platz! Hört, ihr Pharisäer und Schriftgelehrten. Zu eurem Heil und aus
Mitleid mit euren Seelen bitte ich euch, das Wort Gottes nicht zu bekämpfen.
Kommt zu mir. Ich hasse euch nicht. Ich verstehe eure Sinnesart und habe
Mitleid mit euch. Ich will euch aber zu einer anderen geistigen Haltung
führen, zu einer neuen, einer heiligen, die fähig ist, euch zu heiligen und
euch zum Himmel zu führen. Glaubt ihr, ich wäre gekommen, um euch zu
bekämpfen? O nein! Ich bin gekommen, um euch zu retten. Deswegen bin ich
gekommen. Ich rufe eure Großmut an. Ich bitte euch um Liebe und Verständnis.
Gerade weil ihr die Weisesten in Israel seid, müßt ihr die Wahrheit besser als
alle anderen verstehen. Seid Seele und nicht Leib! Wollt ihr, daß ich euch auf
den Knien bitte? Es geht um eure Seele und darum, sie für den Himmel zu
gewinnen. Dafür würde ich mich mit Füßen treten lassen, und ich bin
121
sicher, daß der Vater meine
Verdemütigung nicht als Irrtum betrachten würde. Sprecht! Sagt mir ein Wort,
ich warte darauf.»
«Sei verflucht, sagen wir!»
«Gut. Es ist gesagt! Geht nur!
Auch ich werde gehen.» Jesus kehrt ihnen den Rücken zu und geht an seinen
Platz zurück. Er neigt sein Haupt über den Tisch und weint. Bartholomäus
schließt die Tür, damit keiner der Grausamen, die ihn beleidigt haben und sich
nun fluchend und drohend auf den Weg machen, diese Tränen sehe.
Es folgt ein langes Schweigen.
Dann streichelt Jakobus des Alphäus das Haupt Jesu und sagt: «Nicht weinen!
Wir lieben dich! Auch für sie!»
Jesus erhebt sein Antlitz und
sagt: «Ich weine nicht meinetwegen. Ich weine ihretwegen. Sie töten sich
selbst, weil sie jeder Einladung gegenüber taub sind.»
«Was machen wir nun, Meister?»
fragt der andere Jakobus.
«Wir werden nach Galiläa gehen...
Morgen früh brechen wir auf.»
«Nicht heute schon, Herr?»
«Nein! Ich muß mich von den guten
Menschen im Ort verabschieden, und ihr werdet mit mir kommen.»
177. EIN NEUER JÜNGER; AUFBRUCH
NACH GALILÄA
«Herr, ich habe nur meine Pflicht
Gott, meinem Herrn und der Ehrlichkeit des Gewissens gegenüber getan. Ich habe
jene Frau während der Zeit, da sie mein Gast war, beobachtet und sie stets
ehrbar befunden. Sie mag einmal eine Sünderin gewesen sein. Nun ist sie es
bestimmt nicht mehr. Warum soll ich in eine Vergangenheit eindringen, die sie
selbst mit einem Gitter verschlossen hat, um sie auszulöschen? Ich habe
halbwüchsige Jungen, und sie sind nicht häßlich. Sie aber hat nie ihr wirklich
schönes Antlitz gezeigt oder ihre Stimme hören lassen. Ich muß sagen, daß ich
den silbernen Klang ihrer Stimme nur vernommen habe, als sie wegen ihrer
Verletzung aufschrie. Sonst hat sie das wenige, um das sie bat, nur hinter
ihrem Schleier mir oder meiner Frau zugeflüstert und zwar so leise, daß man es
kaum verstehen konnte. Siehst du, wie klug sie war? Als sie fürchtete, daß
ihre Anwesenheit schaden könnte, ging sie weg. Ich hatte ihr Hilfe und
Verteidigung versprochen, aber sie machte keinen Gebrauch davon. Nein, so
machen es verkommene Frauen nicht. Ich werde für sie beten, wie sie es
gewünscht hat, und auch ohne dieses Andenken. Nimm es, Herr! Mach Almosen
daraus, zu ihrem Heil! Von dir getan, wird es ihr gewiß Frieden bringen.»
Der Verwalter spricht ehrerbietig
zu Jesus. Er ist ein schöner Mann mit einem aufrichtigen Gesicht und von
untersetzter Gestalt. Hinter ihm
122
stehen die Kinder, die dem Vater
gleichen, sechs treuherzige und intelligente Gesichter, und die Mutter, eine
schlanke, sehr sanfte Frau, ganz Güte, die ihrem Manne lauscht, als wenn sie
einem Gott zuhören würde, und dabei immer zustimmend mit dem Kopf nickt.
Jesus nimmt das goldene Armband,
gibt es Petrus und sagt dabei: «Für die Armen.» Dann wendet er sich wieder an
den Verwalter: «Nicht alle in Israel haben deine Rechtschaffenheit. Du bist
weise, denn du kannst das Böse vom Guten unterscheiden und folgst dem Guten,
ohne zuvor abzuwägen, ob dir dies menschlich gesehen etwas einbringt oder
nicht. Im Namen des ewigen Vaters segne ich dich, deine Kinder, deine Gattin
und dein Haus. Bewahrt euch stets diese seelische Bereitschaft, und der Herr
wird immer mit euch sein, und ihr werdet das ewige Leben haben. Ich gehe jetzt
weg, aber es ist nicht gesagt, daß wir uns nie wiedersehen werden. Ich werde
zurückkommen, und ihr könnt immer zu mir kommen. Für alles, was ihr für mich
und jenes arme Geschöpf getan habt, möge euch Gott seinen Frieden geben.»
Der Verwalter, die Kinder und
zuletzt die Frau knien nieder und küssen die Füße Jesu, der sich nach einem
letzten Segenszeichen mit den Jüngern in Richtung des Dorfes entfernt.
«Wenn aber die Übeltäter noch
dort sind?» fragt Philippus.
«Man kann niemand daran hindern,
auf den Landstraßen der Heimat zu reden», antwortet Judas des Alphäus.
«Nein. Aber für sie sind wir
Verfemte!»
«Oh, laß sie machen. Sorgst du
dich deswegen?»
«Ich sorge mich nur deswegen,
weil der Meister gegen Gewaltakte ist. Sie wissen das und nützen es aus»,
brummt Petrus in den Bart. Er nimmt sicher an, daß Jesus, der mit Simon und
Iskariot in Gespräch ist, es nicht hört. Doch Jesus hört es und wendet sich
um, halb ernst, halb lächelnd, und sagt: «Du glaubst, daß ich unter Anwendung
von Gewalt siegen würde? Das ist eine elende, menschliche Methode. Sie bringt
vorübergehende, menschliche Siege. Aber wie lange dauert die Unterdrückung? So
lange, bis sie aus sich in den Unterdrückten Widerstand erzeugt, die vereint
eine stärkere Gewalt bilden und die vorherige Unterdrückung überwältigen. Ich
will kein vorübergehendes Reich! Ich will ein ewiges Reich: das Himmelreich!
Wie oft habe ich es euch schon gesagt? Wie oft werde ich es noch sagen müssen?
Werdet ihr es je begreifen? Doch, es wird die Zeit kommen, da ihr begreifen
werdet.»
«Wann, mein Herr? Ich habe es
eilig zu begreifen, um weniger unwissend zu sein», sagt Petrus.
«Wann? Wenn ihr wie das Korn
zwischen den Mühlsteinen des Schmerzes und der Reue gemahlen werdet. Ihr
könntet, ja, ihr solltet es vorher begreifen. Doch dazu müßtet ihr eure
Menschlichkeit abschütteln und euren Geist befreien. Diese Selbstüberwindung
vermögt ihr nicht
123
aufzubringen. Doch ihr werdet
verstehen,... ihr werdet verstehen. Dann werdet ihr auch verstehen, daß ich
keine Gewalt anwenden konnte, ein menschliches Mittel, um das Himmelreich zu
begründen: das Reich des Geistes. Doch habt jetzt keine Angst! Diese Menschen,
die euch bedenklich stimmen, werden uns nichts antun. Ihnen genügt es, daß sie
mich vertrieben haben.»
«Wäre es nicht einfacher gewesen,
den Synagogenvorsteher zum Verwalter kommen zu lassen oder ihn auf der
Hauptstraße zu erwarten?»
«Oh, welch ein vorsichtiger Mann
ist doch heute mein Thomas! Aber nein, es wäre nicht einfacher gewesen. Oder
besser, es wäre einfacher gewesen, aber nicht korrekt. Er hat meinetwegen
Heldenmut gezeigt und wurde in seinem Haus durch meine Schuld belästigt. Es
ist daher richtig, wenn ich ihn in seinem Haus besuche und dort tröste.»
Thomas zuckt mit den Schultern
und sagt nichts mehr.
Da ist nun die Ortschaft,
ausgedehnt, doch sehr ländlich, mit Häusern umgeben von Obstgärten, deren
Bäume kahl sind, und es hat viele Schafställe. Es muß ein gutes Weideland für
Schafzucht sein, denn überall hört man blöken und sieht Herden, die von den
Weiden in der Ebene kommen oder dorthin getrieben werden. Die übliche
Straßenkreuzung bildet in ihrer Erweiterung den Marktplatz mit dem Brunnen.
Hier ist auch das Haus des Synagogenvorstehers.
Es öffnet eine ältere Frau. Sie
hat Tränenspuren im Gesicht. Trotzdem huscht ein Zeichen der Freude darüber,
als sie den Herrn erblickt, und sie verneigt sich mit einem Segensgruß.
«Steh auf, Mutter. Ich bin
gekommen, um euch Lebewohl zu sagen. Wo ist dein Sohn?»
«Er ist dort», und sie deutet auf
ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses. «Bist du gekommen, um ihn zu trösten?
Mir gelingt es nicht!»
«Ist er so untröstlich ? Bedauert
er es, daß er mich verteidigt hat ?»
«Nein, Herr! Aber er ist von
Skrupeln geplagt. Doch du wirst ihn hören. Ich will ihn rufen.»
«Nein. Ich werde zu ihm gehen.
Ihr wartet hier. Laß uns gehen, Frau!»
Jesus geht die wenigen Schritte
durch die Vorhalle, öffnet die Tür und betritt das Zimmer. Er nähert sich
leise einem sitzenden, tief gebeugten Mann, der in schmerzliche Betrachtung
versunken ist.
«Der Friede sei mit dir,
Timoneus!»
«Herr! Du?!»
«Ich. Warum bist du so traurig?»
«Herr... ich... Sie haben mir
gesagt, ich hätte gesündigt. Sie haben gesagt, ich sei verfemt. Ich erforsche
mich und finde, daß es nicht so ist. Sie aber sind die Heiligen in Israel, und
ich bin der arme Synagogenvorsteher. Sicher haben sie recht. Jetzt wage ich
nicht mehr den Blick zum zornigen Antlitz Gottes zu erheben. Gerade jetzt wäre
es für mich so notwendig!
124
Ich diente ihm in wahrer Liebe
und war bestrebt, ihn zu verkünden. Nun werde ich dieses Gutes beraubt werden,
weil mich der Hohe Rat bestimmt verfluchen wird.»
«Doch, worin besteht dein
Schmerz? Darin, nicht mehr Synagogenvorsteher zu sein, oder darin, nicht mehr
die Möglichkeit zu haben, von Gott zu sprechen?»
«Das ist es, Meister, was mich
schmerzt. Bestimmt würdest du mir etwas sagen, wenn es mir mißfallen würde,
nicht mehr Synagogenvorsteher zu sein, weil mir dadurch Vorteil und Ehre
zukommen? Das macht mir wirklich nichts aus. Ich habe nur meine Mutter, und
sie stammt aus Aera, wo sie ein kleines Haus besitzt; das Dach und der
Lebensunterhalt sind ihr gesichert. Was mich betrifft... ich bin jung! Ich
werde arbeiten. Aber ich werde es nie mehr wagen, von Gott zu sprechen, weil
ich gesündigt habe.»
«Warum hast du gesündigt?»
«Sie sagen, ich sei ein
Verbündeter des... Oh, Herr! Laß es mich nicht aussprechen!»
«Nein. Ich verlange es nicht. Ich
spreche es nicht aus. Ich und du, wir kennen ihre Anklagen und wissen, daß sie
nicht wahr sind. Daher hast du nicht gesündigt, ich sage es dir!»
«So kann ich also noch den Blick
zum Allmächtigen erheben? Kann ich dir...»
«Was, mein Sohn?» Jesus ist ganz
Zärtlichkeit, während er sich über den Mann beugt, der plötzlich wie
eingeschüchtert innegehalten hat.
«Was? Mein Vater sucht deinen
Blick, er verlangt nach ihm, und ich möchte dein Herz und deine Gedanken. Ja,
der Hohe Rat wird dich beschuldigen. Ich öffne dir die Arme und sage: Komm!
Willst du einer meiner Jünger sein? Ich sehe in dir alles, was nötig ist, um
ein Arbeiter des Ewigen Herrn zu werden. Komm in meinen Weinberg...»
«Sagst du das im Ernst, Meister?
Mutter, hörst du? Mutter hörst du das? Oh, ich preise den Schmerz, der mir
diese Freude gebracht hat. Oh, laß uns nun ein großes Fest feiern, Mutter!
Nachher gehe ich mit dem Meister, und du wirst in dein Haus zurückkehren. Ich
komme sofort, Herr! Du hast alle Trauer in mir ausgelöscht, jeden Schmerz und
jede Angst vor Gott.»
«Nein. Du wirst den Entscheid des
Hohen Rates abwarten. Mit ruhigem Herzen und ohne Groll. Du bleibst an deinem
Platz, bis du entlassen wirst. Dann kommst du zu mir nach Nazareth oder
Kapharnaum. Leb wohl! Der Friede sei mit dir und mit deiner Mutter!»
«Dann hältst du dich nicht in
meinem Haus auf?»
«Nein, ich werde ins Haus deiner
Mutter kommen.»
«Es ist ein Dorf, das nicht sehr
gläubig ist.»
«Ich werde es den Glauben lehren.
Leb wohl, Mutter! Bist du nun
125
glücklich?» Jesus streichelt sie,
wie er es immer bei den alten Frauen tut, denen er meistens, wie ich
feststellen kann, den Namen "Mutter" gibt.
«Glücklich, Herr! Ich habe einen
Sohn für den Herrn großgezogen. Der Herr nimmt ihn mir als Diener für seinen
Messias. Der Herr sei dafür gepriesen! Gepriesen seist du, der du sein Messias
bist! Gepriesen sei die Stunde, in der du hierher gekommen bist. Gepriesen sei
mein Sohn, der zu deinem Dienste berufen ist.»
«Gepriesen sei die Mutter, die
heilig wie Anna des Elkana ist. Der Friede sei mit euch!»
Jesus geht, von den beiden
gefolgt, hinaus. Er erreicht die Jünger und grüßt nochmals zurück.
Nun beginnt die Rückkehr nach
Galiläa.
178. AUF DEN BERGEN BEI EMMAUS
Jesus ist mit den Seinen in einer
gebirgigen Gegend. Der Weg ist beschwerlich und steinig, und die Älteren haben
ihre Mühe. Die Jungen hingegen sind alle fröhlich um Jesus und steigen lachend
und plaudernd hinan. Die beiden Vettern, die beiden Söhne des Zebedäus und
Andreas, sind so begeistert, nach Galiläa zurückkehren zu können, daß sie auch
Iskariot anstecken, der seit einiger Zeit in bester Gemütsverfassung ist. Er
beschränkt sich darauf, zu sagen: «Meister, aber an Ostern, wenn wir zum
Tempel gehen, kommst du dann wieder nach Kerioth? Meine Mutter hofft immer
noch auf deinen Besuch. Sie hat mir es sagen lassen. Meine Mitbürger
ebenfalls!»
«Bestimmt. Jetzt, wenn ich auch
wollte, wäre die Jahreszeit zu rauh, um sich auf solch unwegsame Pfade zu
begeben. Seht, wie es auch hier mühsam ist. Ohne daß ich es müßte, hätte ich
diesen Marsch nicht unternommen... Aber man konnte nicht länger dort
bleiben...» Jesus schweigt, in Gedanken verloren.
«Doch danach, ich meine nach
Ostern, könnte man dann hingehen? Ich möchte Jakobus und Andreas deine Höhle
zeigen», sagt Johannes.
«Vergißt du die Liebe zu
Bethlehem etwa unseretwegen? mischt sich Judas Iskariot ein. «Wegen dem
Meister, meine ich.»
«Nein. Ich würde mit Jakobus und
Andreas hingehen. Jesus könnte in Jutta bleiben oder bei dir zu Hause.»
«Oh, das würde mir gefallen. Bist
du einverstanden, Meister? Sie werden nach Bethlehem gehen, und du bleibst mit
mir in Kerioth. Mit mir allein bist du noch nie dort gewesen... und ich möchte
dich so gern ganz für mich haben...»
«Bist du eifersüchtig? Weißt du
nicht, daß ich euch alle auf die gleiche
126
Weise liebe? Glaubst du nicht,
daß ich mit euch allen bin, auch wenn es scheint, daß ich weit entfernt
weile?»
«Ich weiß, daß du uns liebst.
Wenn du uns nicht liebtest, wärest du viel strenger, wenigstens mit mir. Ich
glaube, daß dein Geist immer über uns wacht. Doch wir sind nicht ganz Geist,
wir sind auch Mensch mit menschlichen Gefühlen, seinen Wünschen, seinen
Sorgen. Mein Jesus, ich weiß, daß nicht ich es bin, der dich besonders
glücklich macht. Aber ich glaube! Du weißt, wie lebhaft in mir der Wunsch ist,
dir zu gefallen, und das Bedauern für alle Stunden, in denen ich dich durch
meine Armseligkeit verliere...»
«Nein Judas, ich verliere dich
nicht. Ich bin dir näher als den anderen, gerade weil ich weiß, wie du bist.»
«Wie bin ich, mein Herr? Sage es
mir! Hilf mir zu verstehen, was ich bin. Ich verstehe mich selbst nicht. Es
scheint mir, daß ich wie eine Frau bin, die durch Schwangerschaftsgelüste hin-
und hergerissen wird. Ich habe heilige und widerliche Neigungen. Warum? Wer
bin ich?»
Jesus schaut ihn mit einem
unbeschreiblichen Blick an. Er ist traurig, doch seine Traurigkeit ist von
großem Mitleid erfüllt. Viel, viel Mitleid. Er gleicht einem Arzt, der den
Zustand eines Kranken feststellt und erkennt, daß es ein unheilbarer Kranker
ist. Aber er schweigt.
«Sag es mir, mein Meister. Dein
Urteil wird immer das mildeste von allen sein. Übrigens... wir sind unter
Brüdern. Es macht mir nichts aus, wenn sie wissen, aus welchem Holz ich bin.
Im Gegenteil, wenn sie es von dir erfahren, werden sie ihr Urteil über mich
berichtigen und mir helfen. Nicht wahr?»
Die anderen sind verlegen und
wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie schauen den Gefährten an und
betrachten auch Jesus. Jesus begibt sich in die Nähe Iskariots, an den Platz,
wo zuvor Vetter Jakobus war, und sagt: «Du bist völlig unausgewogen. Du hast
in dir die besten Eigenschaften; doch sie sind nicht gefestigt, und der
leiseste Windhauch bringt sie aus dem Gleichgewicht.
Soeben sind wir durch die
Schlucht gekommen, und ihre Bewohner haben uns die Schäden an den armseligen
Häusern des Dorfes gezeigt, die durch Wasser, Erdreich und von den Bäumen
herrühren. Das Wasser, das Erdreich und die Bäume sind nützliche Dinge, nicht
wahr? Trotzdem sind sie hier zum Fluch geworden. Warum? Weil das Wasser des
Flusses keinen geordneten Lauf hatte; und auch wegen der Nachlässigkeit der
Menschen hat sich das Wasser willkürlich und launenhaft mehrere Flußbette
gegraben. Es war gut, solange keine Stürme kamen. Es war wie die Arbeit eines
Goldschmiedes, dieses klare Wasser, das die Hügel in kleinen Bächen umfloß,
mit Diamantsplittern oder Smaragdketten, je nachdem sie das Licht oder den
Schatten der Gebüsche widerspiegelten. Der Mensch erfreute sich daran, denn
sie waren nützlich, diese plätschernden Wasseradern in
127
den Feldern. Wie auch die
Sträucher schön waren, die durch die Spielerei des Windes als kapriziöse
Büschel bald hier, bald dort gewachsen waren und Lichtungen voller Sonne
übrigließen.
Schön war das weiche Erdreich,
angeschwemmt von wer weiß wie weit herkommenden Überschwemmungen zwischen den
welligen Hügeln, und so fruchtbar für die Pflanzenkulturen, doch die Gewitter
vor einem Monat genügten, daß die launigen Wasserläufe sich vereinigten und in
ungeordneter Weise überquollen, die hinderlichen Büsche ausrissen und ins Tal
schwemmten. Wenn die Gewässer in Ordnung gehalten worden wären, wenn man die
Bäume als geordnete Wälder wachsen gelassen hätte, und den Boden auf geordnete
Weise mit einem guten Schutz gestützt hätte, dann wären die drei guten
Elemente Wasser, Holz und Erdreich nicht zum Tod und Verderben des Ortes
geworden. Du hast Intelligenz, Wagemut, Eifer, Bildung, Bereitwilligkeit, ein
gutes Aussehen, viele, viele gute Eigenschaften hast du... Doch sie sind in
dir verwildert, und du tust nichts dagegen. Schau, du bedarfst geduldiger,
ausdauernder Arbeit an dir selbst, um Ordnung zu schaffen, auch
Standhaftigkeit in deinen guten Eigenschaften, damit, wenn das Unwetter der
Versuchung kommt, das Gute, das in dir steckt, nicht zum Unheil für dich und
die anderen werde.»
«Du hast recht, Meister. Ab und
zu werde ich durch einen Sturm aufgewühlt und alles geht drunter und drüber,
und du sagst, ich könnte...»
«Der Wille ist alles, Judas!»
«Aber es gibt starke
Versuchungen... Man versteckt sich aus Angst, die Welt könnte sie aus dem
Gesicht lesen.»
«Genau hier liegt der Irrtum.
Dies wäre der Augenblick, sich nicht zu verkriechen, sondern unter die
Menschen zu gehen, die Guten, um Hilfe zu finden. Der Kontakt mit friedvollen
Menschen beruhigt das Fieber der Leidenschaften. Man muß auch die Welt der
Kritiker suchen, denn wegen des Hochmuts, der drängt, sich zu verstecken, um
sich nicht in unser versuchtes Herz sehen zu lassen, würde dies der
moralischen Schwäche entgegenwirken. Man würde nicht fallen.»
«Du bist in die Wüste gegangen.»
«Weil ich es konnte. Doch wehe
den Alleingängern, die in ihrer Einsamkeit nicht Vielfalt gegen Vielfalt
sind.»
«Wie? Das verstehe ich nicht.»
«Vielfalt der Tugenden gegen die
Vielfalt der Versuchungen. Wenn die Tugend nur gering ist, genügt es, es wie
diese schlaffe Efeupflanze zu machen: sich an den Zweigen der starken Bäume
festzuklammern, um sich hochzuranken.»
«Danke, Meister. Ich werde mich
an dir und meinen Gefährten festhalten. Aber ihr müßt mir alle helfen. Ihr
seid alle besser als ich.»
«Es war eine rechtschaffenere und
genügsamere Umgebung, in der wir aufgewachsen sind, Freund. Doch nun bist du
bei uns, und wir lieben
128
dich. Du wirst sehen... Es soll
dies keine Kritik an Judäa sein; aber glaube mir, in Galiläa, in unseren
Dörfern, ist weniger Reichtum und weniger Verderbtheit zu finden. Tiberias,
Magdala und andere Orte des Lasters sind in unserer Nähe. Doch wir leben mit
unserer einfachen Seele, ungehobelt, wenn du willst, doch arbeitsam und
heiligmäßig, zufrieden mit dem, was Gott uns gewährt», sagt Jakobus des
Alphäus.
«Aber die Mutter des Judas ist
eine heiligmäßige Frau, weißt du, Jakobus? Man liest es ihr aus dem
Gesicht...», bemerkt Johannes. Judas von Kerioth lacht glücklich über das Lob,
und sein Gesicht strahlt noch mehr, als Jesus bestätigt: «Du hast es gut
gesagt, Johannes. Sie ist ein heiliges Geschöpf.»
«O ja! Aber es war der Traum
meines Vaters, aus mir einen Großen der Welt zu machen, und er hat mich zu
früh und zu gewaltsam von meiner Mutter weggerissen...»
«Aber was habt ihr euch denn
heute zu sagen, daß ihr ohne Unterlaß redet?» fragt Petrus von ferne. «Haltet
an und wartet auf uns. Es ist nicht nett von euch, so zu rennen, ohne daran zu
denken, daß ich kurze Beine habe.»
Sie warten, bis die andere Gruppe
sie eingeholt hat.
«Uff, wie liebe ich dich, mein
Schifflein! Hier müht man sich ab wie Sklaven. Worüber habt ihr geredet?»
«Wir nannten die Eigenschaften,
um gut zu sein», antwortet Jesus.
«Mir sagst du sie nicht,
Meister?»
«Aber ja: Ordnung, Geduld,
Beharrlichkeit, Demut, Liebe... Ich habe es euch schon so oft gesagt.»
«Aber Ordnung hast du nicht
erwähnt. Wozu ist sie gut?»
«Unordnung ist nie eine gute
Eigenschaft. Ich habe es deinen Gefährten erklärt. Sie werden es dir sagen,
und ich habe sie als erste genannt und am Schluß die Liebe, denn es sind die
beiden Extreme einer Geraden in der Vollkommenheit. Nun weißt du, daß eine
Gerade auf einer Zeichnung weder Anfang noch Ende hat. So können beide Enden
sowohl Anfang als auch Ende sein, während es bei einer Spirale oder einer
anderen Zeichnung, die nicht in sich geschlossen ist, immer einen Anfang und
ein Ende gibt. Die Heiligkeit ist linear, einfach, vollkommen und hat nur zwei
äußere Enden, wie es die Gerade hat.»
«Es ist leicht, eine Gerade zu
ziehen...»
«Glaubst du? Du irrst dich. In
einer Zeichnung, besonders einer komplizierten, kann unmerklich ein Fehler
vorkommen. Doch bei einer Geraden sieht man sofort jeden Fehler; ob sie schief
oder unsicher gezogen ist.
Als mich Joseph das Handwerk
lehrte, bestand er sehr auf der geraden Linie der Bretter, und er sagte mir
mit Recht: "Siehst du, mein Sohn? Eine leichte Unvollkommenheit in einer
Verzierung oder in einer Drechslerarbeit kann noch durchgehen, denn ein
unerfahrenes Auge kann, wenn
129
es einen Punkt betrachtet, eine
bestimmte Stelle sehen, aber die andere nicht. Aber wenn ein Brett nicht
gerade ist, wie es sein soll, dann gelingt die einfachste Arbeit nicht, wie
zum Beispiel ein gewöhnlicher Bauerntisch. Entweder neigt er zur Seite oder er
wackelt. Er ist nur zum Feuern gut!" Wir können dies auch auf die Seele
anwenden.
Um nicht nur für das Feuer der
Hölle zu taugen, sondern für die Eroberung des Himmels, muß man so vollkommen
sein wie ein gehobeltes und winkelrechtes Brett. Wer seine geistige Arbeit mit
Unordnung beginnt, fängt mit unnützen Dingen an und hüpft wie ein unruhiger
Vogel von einer Sache zur anderen. Wenn er dann alles miteinander vereinigen
will, bringt er es nicht mehr fertig, weil die Teile nicht zusammenpassen.
Daher: Ordnung! Daher: Liebe! Wenn man nun diese Enden festgeschraubt hält,
damit sie einem nicht mehr entgleiten können, dann kann die übrige Arbeit in
Angriff genommen werden, ob dies nun Verzierungen oder Schnitzereien seien.
Hast du verstanden?»
«Ich habe verstanden.» Petrus
kaut schweigend an seiner Lektion und kommt plötzlich zu einem Schluß: «So ist
mein Bruder tüchtiger als ich. Er ist so ordentlich. Ein Schritt nach dem
anderen, still und ruhig. Es scheint, als ob er sich nicht von der Stelle
rühre. Ich hingegen... ich möchte schnell und viel machen, und dabei kommt
doch nichts heraus. Wer hilft mir?»
«Dein guter Wunsch. Hab keine
Angst, Petrus. Auch du wirst es schaffen.»
«Auch ich?»
«Auch du, Philippus.»
«Und ich? Mir scheint, ich tauge
zu gar nichts.»
«Nein, Thomas. Auch du arbeitest
an dir. Alle, alle arbeiten an sich. Ihr seid wilde Bäume. Doch die
aufgepfropften Äste verändern euch langsam, aber sicher, und ich habe an euch
meine Freude.»
«So ist es. Wenn wir traurig
sind, tröstest du uns, wenn wir schwach sind, stärkst du uns, wenn wir
ängstlich sind, ermutigst du uns. Für alles und in allen Fällen hast du Rat
und Trost bereit. Wie machst du es nur, Meister, immer so bereit und gut zu
sein?»
«Meine Freunde, ich bin deswegen
gekommen, denn ich wußte schon, was ich vorfinden würde und was ich zu tun
hätte. Ohne Illusionen gibt es keine Enttäuschungen, und man verliert den Mut
nicht. Man macht weiter. Denkt daran, wenn es einmal an euch sein wird zu
sehen, wieviel ihr noch zu arbeiten habt, um aus einem triebhaften Menschen
einen geistigen zu machen.»
130
179. IM HAUSE DES
SYNAGOGENVORSTEHERS KLEOPHAS
Johannes und sein Bruder klopfen
in einem Dorfe an eine Haustür. Ich erkenne jenes Haus wieder, in das die
beiden Jünger von Emmaus mit dem auferstandenen Jesus gegangen sind. Als ihnen
geöffnet wird, treten sie ein und reden mit jemandem, den ich nicht sehen
kann. Dann gehen sie hinaus auf einen Weg und erreichen Jesus, der mit den
anderen an einem abseits gelegenen Orte wartet.
«Er ist da, Meister und ist sehr
glücklich, daß du wirklich gekommen bist. Er hat gesagt: "Geht und sagt ihm,
daß mein Haus ihm gehört. Nun will auch ich kommen."»
«Dann wollen wir gehen.»
Sie gehen eine Zeitlang und
begegnen dem alten Synagogenvorsteher Kleophas, der mir schon vom
"Trügerischen Gewässer" her bekannt ist. Sie verneigen sich gegenseitig, doch
dann kniet der Greis, der einem Patriarchen gleicht, mit ehrerbietigem Gruße
nieder. Bewohner des Ortes, die es sehen, kommen neugierig herbei.
Der alte Mann erhebt sich und
sagt: «Seht, das ist der verheißene Messias. Erinnert euch an diesen Tag, ihr
Einwohner von Emmaus!»
Die einen betrachten ihn mit
menschlicher Neugier, die anderen schon mit Blicken frommer Ehrfurcht. Zwei
bahnen sich einen Weg, kommen zu ihm hin und sagen: «Der Friede sei mit dir,
Rabbi! Auch wir waren an jenem Tage dabei.»
«Der Friede sei mit euch und mit
allen! Ich bin zu euch gekommen, da mich euer Synagogenvorsteher darum gebeten
hat.»
«Wirst du auch hier Wunder
wirken?»
«Wenn hier Kinder Gottes sind,
die glauben und des Wunders bedürfen, werde ich bestimmt Wunder wirken.»
Der Synagogenvorsteher sagt: «Wer
den Meister hören will, und die, die Kranke daheim haben, mögen in die
Synagoge kommen. Darf ich dies bekanntgeben, Meister?»
«Du darfst es. Nach der sechsten
Stunde gehöre ich euch. Im Moment gehöre ich dem guten Kleophas.» Gefolgt von
einem Schwarm von Leuten, geht Jesus an der Seite des alten Mannes zu dessen
Haus.
«Hier ist mein Sohn, Meister, und
meine Frau, die Frau meines Sohnes und deren kleine Kinder. Es tut mir sehr
leid, daß mein anderer Sohn mit dem Schwiegervater meines Sohnes Kleophas und
einem Unglücklichen von hier in Jerusalem ist. Ich werde dir darüber
berichten. Tritt ein, Herr, mit deinen Jüngern.»
Sie treten ein und werden mit den
üblichen hebräischen Erfrischungen bedient. Dann gehen sie in die Nähe des
Feuers, das unter einem großen Kamin brennt; denn der Tag ist feucht und kalt.
«Gleich werden wir uns zu Tisch
begeben. Ich habe die Vornehmen des
131
Ortes eingeladen. Es wird ein
großes Fest heute. Nicht alle glauben an dich. Aber sie sind dir nicht
feindlich gesinnt. Sie warten ab... Sie möchten glauben... aber sie sind, was
den Messias anbelangt, in diesen letzten Jahren zu oft enttäuscht worden. Es
ist Mißtrauen. Es würde ein gutes Wort vom Tempel genügen, um jeden Zweifel zu
beheben. Aber der Tempel... Ich habe gedacht, daß man schon, wenn man dich
sieht und hört, viel in diesem Sinne tun könnte. Ich möchte dir echte Freunde
geben.»
«Du bist einer von ihnen.»
«Ich bin ein alter, armseliger
Mann. Wäre ich jünger, so würde ich dir nachfolgen. Doch die Jahre lasten auf
mir.»
«Du dienst mir schon mit deinem
Glauben. Du predigst über mich mit deinem Glauben. Sei getrost, Kleophas! Ich
werde deiner in der Stunde der Erlösung gedenken.»
«Dort kommt Simon mit Hermas»,
meldet der Sohn des Vorstehers. Alle erheben sich beim Eintreten zweier Männer
mittleren Alters von vornehmem Aussehen.
«Da sind Simon und Hermas,
Meister. Sie sind wahrhaftige Israeliten und sehr aufrichtig in ihren Herzen.»
«Gott wird sich ihren Herzen
enthüllen. Der Friede komme über sie. Ohne Frieden kann man Gott nicht
vernehmen!»
«Das steht auch im Buch der
Könige, wo von Elias die Rede ist.»
«Sind dies deine Jünger?» fragt
Simon.
«Ja.»
«Sie sind verschiedenen Alters
und aus allen Gegenden. Bist du Galiläer ?»
«Von Nazareth, doch in Bethlehem
geboren zur Zeit der Volkszählung.»
«Bethlehemit also. Das bestätigen
deine Gesichtszüge.»
«Es ist eine gütige Bestätigung
für die menschliche Schwäche. Doch die wahre Bestätigung liegt im
Übermenschlichen.»
«In deinen Werken, willst du
sagen?» fragt Hermas.
«In ihnen und in den Worten, die
der Geist auf meinen Lippen entzündet.»
«Sie wurden mir von denen
wiederholt, die dich sprechen gehört haben. Wahrlich groß ist deine Weisheit,
und mit dieser gedenkst du dein Reich zu gründen?»
«Ein König braucht Untertanen mit
der Kenntnis der Gesetze seines Reiches.»
«Aber deine Gesetze sind alle
geistiger Natur.»
«Du sagst es, Hermas! Alle sind
geistiger Natur. Ich werde ein geistiges Reich haben, daher habe ich ein
geistiges Gesetzbuch.»
«Doch wie steht es mit der
Wiederaufrichtung Israels?»
«Ihr dürft nicht in den üblichen
Irrtum fallen und den Namen "Israel"
132
im menschlichen Sinne verstehen.
"Israel" bedeutet "Volk Gottes". Ich werde die Freiheit und die wahre Macht
dieses Volkes Gottes wiederherstellen und es wiederaufbauen und gleichzeitig
dem Himmel die erlösten und über die ewigen Wahrheiten unterrichteten Seelen
wiederbringen.»
«Laßt uns zu Tisch gehen, ich
bitte euch», sagt Kleophas, der mit Jesus in der Mitte der Tafel Platz nimmt.
Zur Rechten Jesu sitzt Hermas und neben Kleophas ist Simon, dann kommt der
Sohn des Synagogenvorstehers, und auf den übrigen Plätzen sind die Jünger.
Vom Gastgeber dazu aufgefordert,
opfert und segnet Jesus die Speisen, und die Mahlzeit beginnt.
«Kommst du in diese Gegend,
Meister?» fragt Hermas.
«Nein. Ich gehe nach Galiläa. Ich
bin nur auf der Durchreise.»
«Wie, du verläßt das "Trügerische
Gewässer" ?»
«Ja, Kleophas.»
«Dort konnten dich die Scharen
ungeachtet des Winters besuchen. Warum enttäuschst du sie?»
«Nicht ich. So wollen es die
Reinen Israels.»
«Was? Warum? Was hast du Böses
getan? In Palästina gibt es viele Rabbis, die dort reden, wo sie wollen. Warum
sollte es dir nicht erlaubt sein?»
«Forsche nicht, Kleophas. Du bist
alt und weise. Laß nicht das Gift bitterer Erfahrung in dein Herz eindringen.»
«Vielleicht verkündest du neue
Lehren, die als gefährlich gelten... Oh, bestimmt durch Irrtum in der
Bewertung der Schriftgelehrten und Pharisäer. Soviel wir von dir wissen,
scheint uns dies der Fall zu sein... nicht wahr, Simon? Aber vielleicht wissen
wir nicht alles. Worin besteht nach dir die Lehre?» fragt Hermas.
«In der genauen Kenntnis der Zehn
Gebote Gottes. In der Liebe und der Barmherzigkeit. Die Liebe und die
Barmherzigkeit, der Atem und das Blut Gottes, sind die Richtlinien für mein
Verhalten und für meine Lehre. Ich wende sie bei allen Vorkommnissen meines
täglichen Lebens an.»
«Aber das ist doch nicht Sünde,
das ist Güte!»
«Es wird von den Schriftgelehrten
und Pharisäern als Sünde beurteilt! Aber ich kann meine Mission nicht
verraten, noch Gott gegenüber ungehorsam sein: Gott, der mich als
"Barmherzigkeit" auf die Erde gesandt hat. Die Zeit der Fülle der
Barmherzigkeit ist angebrochen, nach Jahrhunderten der Gerechtigkeit. Sie ist
die Schwester der ersteren. Sie sind beide aus einem Schoß hervorgegangen.
Doch während früher die Gerechtigkeit die stärkere war und die andere nur die
Strenge milderte -denn Gott kann nicht anders als lieben – ist nun die
Barmherzigkeit die Königin, und wie sehr freut sich nun die Gerechtigkeit, die
sehr darunter gelitten hatte, daß sie strafen mußte! Wenn ihr alles überdenkt,
dann erkennt ihr leicht, daß es sie immer gegeben hat, seit der Mensch Gott
dazu
133
gezwungen hat, streng zu sein.
Die Fortdauer der Menschheit ist nur die Bestätigung dessen, was ich sage.
Schon in der Bestrafung Adams lag Barmherzigkeit. Gott hätte die Menschen nach
der Sünde einäschern können. Aber er legte ihnen eine Sühne auf, und der Frau,
als der Ursache allen Unheils, die dadurch ihrer Würde verlustig gegangen war,
stellte er eine leuchtende Frauengestalt als Ursache des Heils entgegen.
Beiden gewährte er Nachkommen und die Erkenntnis ihres Daseins. Dem Mörder
Kain gewährte er zusammen mit der Gerechtigkeit das Zeichen der
Barmherzigkeit, damit er nicht getötet würde. Der verderbten Menschheit
schenkte er Noah, um ihren Fortbestand in der Arche zu retten, und versprach,
mit ihr alsdann einen ewigen Bund des Friedens zu schließen. Keine gewaltige
Sintflut mehr sollte es geben. Nie mehr! Die Gerechtigkeit wurde durch die
Barmherzigkeit bezwungen. Wollt ihr mit mir die heilige Geschichte bis zu
meiner Stunde zurückverfolgen? Ihr werdet sehen, wie großzügig die Wogen der
Liebe sich wiederholen und wie dies immer öfters geschehen wird. Das Meer
Gottes ist jetzt voll, es trägt dich, o Menschheit, auf seinen heiteren und
sanften Wassern und erhebt dich zum Himmel, gereinigt und schön, und sagt:
"Ich gebe dich meinem Vater zurück."»
Die drei sind ganz in Gedanken
versunken und staunen über so viel Licht und Liebe. Dann seufzt Kleophas: «So
ist es! Doch nur du allein bist so! Was wird mit Joseph geschehen? Er sollte
schon vernommen worden sein, nicht? Oder wird er es erst?»
Niemand antwortet. Kleophas
wendet sich an Jesus: «Meister, einer von Emmaus, dessen Vater vor langer Zeit
seine Frau verstoßen hat, die dann nach Antiochia ging, um dort bei einem
Bruder zu leben, einem Ladenbesitzer, ist in schwere Schuld verstrickt. Er
hatte diese Frau nie gekannt, und ich forsche nicht nach den Gründen, die zu
ihrer Vertreibung nach wenigen Monaten der Ehe geführt hatten. Er wußte nichts
von ihr, denn verständlicherweise war ihr Name in seinem Haus verpönt. Als er
zum Manne herangewachsen war und vom Vater den Handel und die Güter geerbt
hatte, dachte er daran, zu heiraten. Er hatte in Joppe eine Frau
kennengelernt, eine reiche Handelshausbesitzerin, und heiratete sie. Nun – ich
weiß nicht, wie er es erfahren hat – wurde ihm bekannt, daß jene Frau die
Tochter der Frau seines Vaters sei. Also eine schwere Sünde, ob gleich man
meiner Ansicht nach nicht sicher weiß, wer der Vater der Frau ist. Vom Gericht
verurteilt, hat Joseph seinen Frieden als Gläubiger und als Ehemann verloren.
Obwohl er mit großem Schmerz seine Frau, viel leicht seine Schwester,
verstoßen hat, die dann vom Fieber befallen wurde und gestorben ist, erhält er
keine Vergebung. Ich sage aufrichtig, daß er nicht so hart bestraft worden
wäre, wenn nicht Feinde hinter dem Besitz her wären. Was würdest du tun?»
«Der Fall ist sehr ernst,
Kleophas. Warum hast du mir nichts davon gesagt, als du bei mir warst ?»
134
«Ich wollte dich nicht von hier
fernhalten.»
«Oh, ich weiche solchen
Angelegenheiten nicht aus. Nun höre! Es liegt grundsätzlich eine Blutschande
vor, die strafbar ist. Doch die moralische Schuld setzt, um wirklich Schuld zu
sein, den Willen zu sündigen voraus. Hat dieser Mann bewußt eine Blutschande
begangen? Du sagst nein. Wo ist also die Schuld? Ich will sagen, die Schuld,
aus freiem Willen gesündigt zu haben. Es bleibt nur das Zusammenleben mit der
Tochter des eigenen Vaters. Aber du sagst, daß es ungewiß ist, daß es
überhaupt ihr Vater war. Selbst wenn dem so wäre, hätte die Schuld mit der
Beendigung des Zusammenlebens ein Ende. Hier ist Beendigung gegeben, nicht nur
durch die Verstoßung seiner jungen Frau, sondern auch wegen des
darauffolgenden Todes. Deshalb sage ich, daß dem Mann, trotz der scheinbaren
Schuld, verziehen werden sollte. Ich sage: Da es für königliche Inzucht keine
Bestrafung gibt, obgleich sie offenkundig ist, müßte man in diesem
schmerzlichen Falle Barmherzigkeit walten lassen; in diesem Fall, dessen
Ursprung auf die Erlaubnis der Verstoßung zurückgeht, die von Moses gegeben
wurde, um böse Folgen – wenn nicht schwerere, so doch zahlreichere – zu
verhüten. Diese Erlaubnis verurteile ich; denn der Mann, der eine gute oder
schlechte Ehe eingegangen ist, muß mit dem Ehepartner leben und darf die Frau
nicht verstoßen und damit den Ehebruch und ähnliche Situationen begünstigen.
Außerdem, wenn man schon streng sein will, dann muß man es mit allen und in
gleichem Maße sein, ja, zuerst mit sich selbst und mit den Mächtigen. Bis
jetzt hat, soviel ich weiß, außer dem Täufer noch niemand die Stimme gegen die
königlichen Sünder erhoben. Sind jene, die andere verurteilen, immun gegen
solche und noch schlimmere Sünden, oder dienen ihnen ihr Name und ihre Macht
dazu, sie zu verbergen, so wie ihr prunkvolles Gewand ihrem oft durch Laster
erkrankten Körper als Deckung dient?»
«Du hast gut gesprochen, Meister!
So ist es. Aber du... wer bist du eigentlich ?» fragen gleichzeitig die beiden
Freunde des Synagogenvorstehers. Jesus kann nicht antworten, denn die Tür geht
auf und Simon, der Schwiegervater des Sohnes des Kleophas, kommt herein.
«Gut zurückgekehrt? Nun?»
Die Neugier ist so lebhaft, daß
niemand mehr an den Meister denkt.
«Absolute Verurteilung. Sie
nehmen nicht einmal die Opfergabe an. Joseph ist aus Israel verstoßen!»
«Wo ist er?»
«Draußen. Er weint. Ich habe
versucht, mit den Mächtigsten zu reden. Sie haben mich wie einen Aussätzigen
verjagt. Nun... Aber... Es ist der Ruin dieses Mannes, was seine Seele und
seine Güter anbelangt... Was soll er tun?»
Jesus steht auf und geht wortlos
zur Türe.
Der alte Kleophas glaubt, daß
Jesus beleidigt sei, weil man ihm
135
momentan keine Beachtung
geschenkt hat, und sagt: «Oh, verzeih, Meister. Es ist der Schmerz über die
Angelegenheit, der mich erschüttert. Bleibe, ich bitte dich!»
«Ich bleibe, Kleophas. Ich gehe
nur zu jenem Unglücklichen. Ihr könnt mitkommen, wenn ihr wollt.» Jesus geht
in die Vorhalle.
Das Haus besitzt einen Vorgarten
mit kleinen Beeten, und davor ist die Straße. Am Eingang liegt ein Mann auf
dem Boden. Jesus geht mit offenen Armen auf ihn zu. Hinter ihm kommen alle
anderen, die versuchen, etwas zu sehen.
«Joseph, hat dir denn niemand
vergeben?» Die Stimme Jesu ist voller Güte. Der Mann richtet sich auf, als er
nach all den Verfluchungen diese neue, so gütige Stimme vernimmt. Er erhebt
das Antlitz und blickt Jesus erstaunt an.
«Joseph, hat dir niemand
vergeben?» wiederholt Jesus noch einmal und beugt sich über ihn, um die Hände
des Mannes zu ergreifen und ihm aufzuhelfen.
«Wer bist du?» fragt der
Unglückliche.
«Ich bin die Barmherzigkeit und
der Friede!»
«Für mich gibt es keine
Barmherzigkeit und keinen Frieden mehr.»
«Im Herzen Gottes gibt es sie
immer. Jenes Herz ist übervoll davon, besonders für seine unglücklichen
Kinder.»
«Aber meine Schuld wiegt so
schwer, daß ich nun von Gott verstoßen bin. Du, der du so gut bist, laß mich
los, damit ich dich mit meiner Unreinheit nicht beflecke.»
«Ich lasse dich nicht. Ich will
dich zum Frieden führen.»
«Aber ich bin... Wer bist du?»
«Ich habe es dir gesagt:
Barmherzigkeit und Friede! Ich bin der Retter. Jesus bin ich. Steh auf! Ich
kann, was ich will. Im Namen Gottes spreche ich dich los von der
unverschuldeten Befleckung. Ein anderes Unheil existiert nicht. Ich bin das
Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Mir ist alle Gewalt gegeben
in Ewigkeit. Wer an meine Worte glaubt, wird das ewige Leben haben. Komm,
armer Sohn Israels. Erquicke deinen müden Körper und stärke deine bedrückte
Seele! Ganz andere Sünden werde ich noch vergeben. Nein, nicht durch mich soll
Verzweiflung in die Herzen kommen. Ich bin das makellose Lamm; aber ich fliehe
nicht vor den verwundeten Schafen aus Angst, mich zu beflecken. Im Gegenteil,
ich suche sie und leite sie. Viele, zu viele gehen ins Verderben, weil sie mit
zuviel und auch mit unberechtigter Strenge verurteilt werden. Wehe jenen, die
mit unnachgiebiger Härte eine Seele zur Verzweiflung treiben. Sie wahren nicht
die Interessen Gottes, sondern die Interessen Satans. Ich denke jetzt an eine
Sünderin, die Sehnsucht nach der Erlösung hat und vom Erlöser ferngehalten
wird; ich denke an einen Synagogenvorsteher, der verfolgt wird, weil er
gerecht ist, und an einen Beschuldigten, der
136
ahnungslos in Sünde gefallen ist.
Zu viele Dinge sehe ich dort geschehen, wo Laster und Lüge herrschen. Wie eine
Mauer, die, Stein auf Stein gelegt, immer höher und zur Wand wird, so
geschehen Dinge – in diesem Jahr habe ich schon zu viele davon gesehen – die
zwischen mir und den anderen eine immer höhere Mauer der Härte bilden. Wehe
ihnen, wenn sie am höchsten geworden ist mit Materialien, die sie selbst
hierfür geliefert haben! Komm, trink und iß. Du bist erschöpft. Morgen wirst
du dann mit mir kommen. Habe keine Angst. Wenn du deinen Seelenfrieden wieder
gefunden hast, wirst du frei über deine Zukunft entscheiden können. Jetzt
könntest du es nicht, und es wäre gefährlich, es dich tun zu lassen.»
Jesus hat den Mann in den Saal
geführt und ihn gezwungen, sich an seinen Platz zu setzen. Er bedient ihn auch
und wendet sich dann an Hermas und Simon und sagt: «Das ist meine Lehre! Diese
und keine andere! Ich werde mich nicht darauf beschränken, sie zu predigen,
vielmehr werde ich sie verwirklichen. Wer nach Wahrheit und Liebe dürstet, der
komme zu Mir!»
Jesus sagt: «Hiermit endet mein
erstes Jahr der Verkündigung der Heilsbotschaft. Erinnert euch daran! Was soll
ich euch sagen? Ich habe euch dieses Werk gegeben, weil es mein Wunsch ist,
daß es bekannt werde. Doch wie mir mit den Pharisäern, so wird es auch diesem
Werk ergehen. Mein Wunsch, geliebt zu werden – kennen ist lieben – wird aus
vielen Gründen zurückgewiesen, und das ist ein großer Schmerz für mich, den
ewigen Meister, als
euer Gefangener ...»
137
180. UNTERWEISUNG DER JÜNGER AUF
DEM WEG NACH ARIMATHÄA
«Herr, was werden wir mit diesem
anfangen ?» fragt Petrus Jesus, indem er auf den Mann namens Joseph zeigt, der
ihnen folgt, seit sie Einmaus verlassen haben, und nun den beiden Söhnen des
Alphäus und des Simon zuhört, die sich seiner ganz besonders angenommen haben.
«Ich habe es schon gesagt. Er
wird mit uns bis nach Galiläa kommen.»
«Aber dann? ...»
«Dann... wird er bei uns bleiben.
Du wirst sehen, daß es so kommen wird.»
«Wird auch er ein Jünger werden?
Mit all dem, was er auf dem Gewissen hat ?»
«Bist auch du ein Pharisäer?»
«Ich... nein! Aber mir scheint,
daß die Pharisäer jeden unserer Schritte beobachten...»
«Wenn sie ihn bei uns sehen,
werden sie uns Unannehmlichkeiten bereiten. Das willst du sagen, nicht wahr?
Also, um uns nicht der Gefahr auszusetzen, belästigt zu werden, sollen wir
einen Sohn Abrahams seiner Verzweiflung überlassen? Nein, Simon Petrus. Es
geht um eine Seele, die verlorengehen oder gerettet werden kann, je nachdem,
wie ihre große Wunde behandelt wird.»
«Aber sind denn nicht schon wir
deine Jünger?»
Jesus schaut Petrus an und
lächelt fein. Dann sagt er: «Vor vielen Monaten sagte ich dir einmal: "Viele
andere werden noch hinzukommen." Das Feld ist sehr groß und weit. Die Arbeiter
werden immer zu gering an der Zahl sein für eine solche Ausdehnung... auch
weil viele das Los des Jonas teilen werden: sie werden bei der harten Arbeit
sterben. Doch ihr werdet immer meine Bevorzugten sein», schließt Jesus und
zieht den schmollenden Petrus an sich, der sich bei diesem Versprechen
beruhigt.
«Dann kommt er also mit uns?»
«Ja, solange sein Herz nicht
geheilt ist. Es ist mit Bitterkeit erfüllt durch all den Haß, den es erleiden
mußte.»
Auch Jakobus und Johannes
erreichen zusammen mit Andreas den Meister und hören ihm zu.
«Ihr könnt nicht ermessen, welch
großes Leid ein Mensch einem anderen Menschen durch feindselige
Unnachgiebigkeit zufügen kann. Bedenket stets, daß euer Meister immer sehr
gütig gegen die seelisch Kranken
141
gewesen ist. Ihr glaubt, daß
meine größten Wunder und die stärkste Wirkung meiner Kraft den Heilungen des
Körpers gelten. Nein, Freunde... Ja, kommt auch ihr näher, die ihr vorausgeht
oder hinten nachkommt. Die Straße ist breit, und wir können jetzt in einer
geschlossenen Gruppe gehen.»
Alle drängen sich um Jesus, der
fortfährt: «Meine bedeutendsten Werke, die am klarsten von meinem Wesen und
meiner Mission zeugen und die mein Vater mit Wohlgefallen betrachtet, sind die
Heilungen der Herzen; sei es, daß es sich um die Heilung von einem oder
mehreren Hauptlastern handelt, oder daß ich von der Trostlosigkeit befreie,
die einen Menschen dermaßen niederdrückt, daß er glaubt, von Gott heimgesucht
oder verlassen worden zu sein.
Was bleibt der Seele, die diese
Gewißheit der Hilfe Gottes verloren hat? Sie ist eine schwache Ackerwinde, die
im Staube dahinkriecht, da sie sich nicht mehr an ihre Überzeugung
festklammern kann, die vorher ihre Kraft und Freude war. Es ist schrecklich,
ohne Hoffnung leben zu müssen. Das Leben ist schön trotz seiner Härten, nur
weil es den Strahl der göttlichen Sonne empfängt. Das Ziel dieses Lebens ist
jene Sonne. Ist der menschliche Tag düster, von Tränen erfüllt und vom Blute
gezeichnet? Ja, aber dann wird die Sonne scheinen. Kein Schmerz, keine
Trennung, keine Bitterkeit, kein Haß, kein Elend und keine Einsamkeit mehr in
den bedrückenden Nebeln, sondern Licht und Gesang, Freude und Friede, Gott!
Gott, die Ewige Sonne! Schaut, wie traurig die Erde erscheint, wenn eine
Sonnenfinsternis eintritt. Wenn sich der Mensch sagen müßte: "Die Sonne ist
nicht mehr", wäre es dann nicht so, als ob er für immer in eine dunkle Gruft
eingemauert und begraben wäre; als ob er schon vor dem eigentlichen Tode
gestorben wäre? Aber der Mensch weiß, daß jenseits des Himmelskörpers, der die
Sonne verdeckt und die Erde verdunkelt, immer noch die heitere Sonne Gottes
leuchtet. Das ist das Bewußtsein der Gottverbundenheit während seines Lebens
auf Erden. Die Menschen verletzen, bestehlen und verleumden. Gott heilt,
vergilt und rechtfertigt in vollem Maße. Die Menschen sagen. "Gott hat dich
verstoßen." Die vertrauensvolle Seele aber denkt, ja muß denken: "Gott ist gut
und gerecht. Er kennt die Gründe und ist barmherzig, und seine Barmherzigkeit
ist größer als die des gütigsten Menschen. Sie ist unendlich. Deshalb wird er
mich nicht abweisen, wenn ich mein verweintes Antlitz an seiner Brust berge
und sage: 'Vater, du allein bleibst mir. Dein Kind ist betrübt und
niedergeschlagen. Gib mir deinen Frieden .... ..
Ich, der von Gott Gesandte,
sammle alle, die der Mensch verwirrt und Satan mit sich gerissen hat, und
rette sie. Dies ist meine Aufgabe. Dies ist sie wahrhaftig. Das Wunder am
menschlichen Leib ist göttliche Macht. Die Erlösung der Seelen ist das Werk
Jesu Christi, des Retters und Erlösers. Ich denke, und ich irre nicht, daß
alle, die ihre Würde in den Augen
142
Gottes und in ihren eigenen Augen
durch mich wiedergefunden haben, meine getreuen Jünger sein werden. Mit umso
größerer Überzeugungskraft werden sie das Volk zu Gott führen, indem sie
sagen: "Ihr seid Sünder? Ich auch. Ihr seid gedemütigt worden? Ich auch. Ihr
seid verzweifelt ? Ich auch, und doch, seht ihr? Der Messias hat sich meines
seelischen Elends erbarmt und mich als seinen Priester aufgenommen, denn er
ist die Barmherzigkeit und wünscht, daß sich die Welt davon überzeuge. Niemand
ist besser dafür geeignet, zu überzeugen, als der, der es an sich selbst
erfahren hat." Nun will ich meine Freunde und jene, die mich seit meiner
Geburt lieben, also die Hirten, mit diesen Menschen vereinigen. Besser noch:
ich geselle sie den Hirten und den Geheilten bei, allen, die auch ohne
besondere Erwählung, wie dies bei euch Zwölfen der Fall ist, sich auf meinen
Weg begeben und ihm bis zu ihrem Tode folgen werden. In der Nähe von Arimathäa
lebt Isaak. Ich werde ihn mit mir nehmen, damit er mit Timoneus geht, sobald
dieser angekommen ist. Joseph, unser Freund, hat mich darum gebeten. Wenn du
glaubst, daß in mir der Friede und das Ziel eines ganzen Lebens zu finden
sind, kannst du dich zu ihnen gesellen. Sie werden dir gute Brüder sein.»
«Oh, welch ein Trost für mich! Es
ist genau so, wie du sagst. Meine tiefen Wunden, als Mensch und als Gläubiger,
heilen von Stunde zu Stunde. Seit drei Tagen bin ich bei dir, und ich habe das
Gefühl, daß all das, was mich noch vor drei Tagen quälte, sich wie ein Traum
von mir entfernt. Ich habe diesen Traum gelebt, doch je mehr Zeit vergeht, um
so mehr verbleichen seine scharfen Umrisse vor deiner Wirklichkeit. In diesen
Nächten habe ich viel nachgedacht. In Joppe habe ich einen guten Verwandten.
Er ist... die unabsichtliche Ursache meines Unheils gewesen, weil ich durch
ihn jene Frau kennengelernt habe. Dies soll dir beweisen, ob wir wissen
konnten, wessen Tochter sie war... Von ihr, der ersten Frau meines Vaters, ja,
von ihr wird sie es wohl gewesen sein, aber nicht von meinem Vater. Sie hatte
einen anderen Namen und kam von weither. Sie lernte durch den Handel meinen
Verwandten kennen, und so lernte auch ich sie kennen. Der Verwandte ist sehr
auf mein Unternehmen aus. Ich werde es ihm anbieten, da es ohne Herrn eingehen
würde. Er wird es mir zweifellos abkaufen, um nicht mehr so sehr vom Gewissen
geplagt zu werden, die Ursache meines Unglücks zu sein. Ich werde mir genügen
und dir nachfolgen können. Ich bitte dich nur, mir Isaak, den du genannt hast,
beizugesellen. Ich habe Angst, mit meinen Gedanken allein zu sein. Sie sind
noch zu traurig...»
«Ich werde dir Isaak geben. Er
ist ein guter Mensch. Der Schmerz hat ihn veredelt. Dreißig Jahre lang hat er
sein Kreuz getragen. Er weiß, was leiden heißt... Wir werden indes
weitergehen, und ihr werdet uns in Nazareth einholen.»
«Werden wir nicht im Haus Josephs
verweilen?»
143
«Joseph ist wahrscheinlich in
Jerusalem... Das Hohe Rat hat viel zu tun. Aber wir werden es durch Isaak
erfahren. Wenn er da ist, werden wir ihm unseren Frieden bringen. Wenn nicht,
dann werden wir nur eine Nacht bleiben, um uns auszuruhen. Ich habe es eilig,
nach Galiläa zu kommen. Dort ist eine Mutter, die leidet. Denn vergeßt nicht,
es ist dort jemand, der alles daransetzt, um sie zu betrüben. Ich will sie
beruhigen.»
181. AUF DEM WEG NACH SAMARIA;
UNTERWEISUNG DER APOSTEL
Jesus ist mit seinen Zwölfen. Die
Gegend ist immer noch gebirgig, doch ist der Weg so breit, daß sie in einer
geschlossenen Gruppe gehen und miteinander reden können.
«Nun aber, da wir allein sind,
können wir es sagen: warum gibt es soviel Eifersucht zwischen zwei Gruppen?»
fragt Philippus.
«Eifersucht ? Aber das ist doch
nichts anderes als Überheblichkeit!»entgegnet Judas des Alphäus.
«Nein. Ich meine, es ist nur ein
Vorwand, um ihr ungerechtes Verhalten dem Meister gegenüber irgendwie zu
rechtfertigen. Unter dem Deckmantel des Eifers für den Täufer erreicht man es,
ihn fernzuhalten, ohne die Menge allzusehr zu verstimmen», sagt Simon der
Zelote.
«Ich würde sie entlarven.»
«Wir, Petrus, würden viele Dinge
tun, die Jesus nicht tut.»
«Warum tut er sie nicht?»
«Weil er weiß, daß es gut ist,
sie nicht zu tun. Wir brauchen ihm nur zu folgen. Es steht uns nicht an, ihn
zu führen, und wir sollten glücklich darüber sein. Es ist eine große
Erleichterung, nur gehorchen zu müssen...»
«Das hast du gut gesagt, Simon»,
sagt Jesus, der anscheinend in Gedanken versunken vorausgegangen war. «Du hast
recht, gehorchen ist leichter als befehlen. Es scheint nicht so, aber es ist
so. Sicher ist es für einen guten Menschen leicht, zu gehorchen, so, wie es
schwierig ist für einen rechtschaffenen Menschen, zu befehlen. Wenn einer aber
nicht rechtschaffen ist, gibt er unsinnige Befehle, ja, noch mehr als nur das.
Dann ist es leicht zu befehlen. Aber um wieviel schwerer wird es dann sein, zu
gehorchen! Wenn einer die Verantwortung trägt als Erster in einem Ort oder in
einer Gruppe von Menschen, dann muß er sich immer Liebe und Gerechtigkeit,
Klugheit und Demut, Mäßigkeit und Geduld, und Willensstärke ohne Starrsinn vor
Augen halten. Oh, das ist schwer! ... Ihr habt vorerst nur Gott und eurem
Meister zu gehorchen. Du, und nicht nur du allein, fragst dich, warum ich
gewisse Dinge tue und andere unterlasse, du fragst dich, warum Gott etwas
zuläßt oder nicht zuläßt. Schau, Petrus,
144
und auch ihr, Freunde, eines der
Geheimnisse des vollkommenen Gläubigen besteht darin, daß er Gott nie einem
Verhör unterzieht. "Warum tust du dies?" fragt einer, der unreif ist, seinen
Gott. Das ist wie wenn ein weiser Erwachsener vor einen Schuljungen hintreten
und ihm sagen würde: "Das macht man nicht, das ist eine Dummheit, das ist ein
Fehler." Wer ist größer als Gott?
Nun seht ihr, daß ich unter dem
Vorwand des Eifers für Johannes verjagt wurde, und ihr seid darüber empört.
Ihr möchtet, daß ich diesen Fehler richtigstelle, indem ich eine kämpferische
Haltung gegen die Verfechter dieses Argumentes einnehme. Nein, das wird
niemals geschehen. Ihr habt den Täufer durch den Mund seiner Jünger sprechen
gehört: "Er muß wachsen, und ich abnehmen." Er bedauert es nicht, er hängt
nicht an seiner Stellung. Der Heilige klammert sich nicht an diese Dinge. Er
arbeitet nicht, um eine möglichst große Anzahl von Jüngern zu haben. Er
besitzt keine eigenen Jünger. Er ist vielmehr darum bemüht, die Zahl der
Getreuen Gottes zu vermehren. Nur Gott allein hat ein Recht auf Getreue.
Deshalb bin ich ebensowenig darüber betrübt, daß einige in gutem oder
schlechtem Glauben Jünger des Täufers bleiben, wie er sich nicht darüber
grämt, daß einige von seinen Jüngern zu mir kommen, wie ihr es gehört habt! Er
geht auf solche zahlenmäßige Kleinlichkeiten gar nicht ein. Er schaut zum
Himmel, und auch ich schaue zum Himmel. Streitet also nicht weiter darüber, ob
es gerecht oder ungerecht sei, wenn Judäer mich beschuldigen, dem Täufer
Jünger zu entführen, und ob es richtig oder unrichtig sei, sie so reden zu
lassen. Das sind Streitereien geschwätziger Frauen am Brunnen. Die Heiligen
helfen sich gegenseitig, sie überlassen einander ihre Getreuen und tauschen
sie lächelnd und frohen Herzens im Gedanken, für den Herrn zu arbeiten, aus.
Ich habe getauft, und sogar euch
taufen lassen, da der Geist nun so schwerfällig ist, daß er greifbare
Beispiele der Barmherzigkeit, von Wundern und der Belehrung nötig hat. Wegen
dieser geistigen Schwerfälligkeit werde ich materielle Heilsmittel nehmen
müssen, wenn ich aus euch Wundertäter machen will. Aber glaubt mir, weder im
Öl, noch im Wasser, noch in einer anderen Zeremonie liegt der Beweis für die
Heiligkeit. Die Stunde steht nahe bevor, da etwas Ungreifbares, Unsichtbares,
den Materialisten Unfaßbares, als Königin walten wird. Es ist die
"zurückgekehrte" Königin, machtvoll und heilig durch das Heilige und in allem
Heiligen. Durch sie wird der Mensch wieder zum "Kind Gottes" werden, und sie
wird das wirken, was Gott vollbringt, denn Gott wird mit ihr sein. Es ist die
Gnade! Sie ist die wiederkehrende Königin! Dann wird die Taufe ein Sakrament
sein. Dann wird der Mensch die Sprache Gottes sprechen und verstehen. Er wird
Leben und das LEBEN geben, er wird Macht der Weisheit und der Stärke
verleihen, dann... oh, dann! Noch seid ihr unreif um zu begreifen, was euch
die Gnade gewähren wird. Ich bitte euch: fördert ihr
145
Kommen durch eine andauernde
Selbsterziehung, und überlaßt die nutzlosen Dinge den kleinlichen Menschen...
Seht dort, die Grenzgebiete von Samaria. Glaubt ihr, daß es gut wäre, wenn ich
dort sprechen würde?»
«Oh!» Alle sind mehr oder weniger
darüber entrüstet. 1)
«Wahrlich, ich sage euch, die
Samariter sind überall, und wenn ich nicht dort sprechen dürfte, wo ein
Samariter ist, dann dürfte ich nirgendwo mehr sprechen. Kommt also! Ich werde
nicht danach trachten, zu sprechen. Doch wenn man mich darum bittet, werde ich
mich nicht weigern, von Gott zu sprechen. Ein Jahr ist zu Ende. Das zweite
beginnt. Es bildet die Mitte zwischen einem Anfang und einem Ende. Anfangs war
der Meister noch vorherrschend. Nun offenbart sich der Retter. Das Ende wird
das Antlitz des Erlösers tragen. Laßt uns gehen. Der Strom wird um so größer,
je näher er zur Mündung kommt. Auch ich will das Werk der Barmherzigkeit
erweitern, denn die Mündung kommt näher.»
«Werden wir von Galiläa aus zu
irgendeinem großen Fluß gehen? Zum Nil vielleicht? Oder zum Euphrat?» flüstern
einige.
«Vielleicht gehen wir unter die
Heiden...», entgegnen andere.
«Redet nicht untereinander. Wir
nähern uns "meiner Mündung". Das heißt, wir nähern uns der Erfüllung meiner
Sendung. Seid sehr wachsam, denn ich werde euch einmal verlassen, und ihr
werdet in meinem Namen weiterwirken müssen.»
182. DIE SAMARITERIN FOTINAI
«Ich bleibe hier. Geht in die
Stadt und kauft, was wir für die Mahlzeit benötigen. Wir werden hier essen.»
«Sollen wir alle gehen?»
«Ja, Johannes. Es ist gut, wenn
ihr alle miteinander geht.»
«Du bleibst allein? ... Es sind
Samariter...»
«Sie werden nicht die Schlimmsten
unter den Feinden Christi sein. Geht, geht nur. Während ich hier auf euch
warte, will ich für euch und für sie beten.»
Die Jünger gehen schweren Herzens
davon; drei- oder viermal drehen sie sich nach Jesus um und betrachten ihn,
wie er auf einem kleinen, sonnenbeschienenen Mäuerchen sitzt, das sich in der
Nähe des breiten, niedrigen Randes eines Brunnens befindet; eines großen
Brunnens, fast einer Zisterne gleich, so breit ist er. Im Sommer ist er von
den großen, jetzt
____________-
1) Wegen der Gründe und der
Ursache der Abspaltung der Samariter von den Juden und der daraus
hervorgegangenen Opposition zwischen den beiden, und wegen der Haltung Jesu
und der entstehenden Kirche gegenüber den Samaritern.
146
kahlen, Bäumen beschattet. Das
Wasser des Brunnens kann man nicht sehen, doch zeigen kleine Pfützen und
Abdrücke der abgestellten Krüge auf dem Erdboden rundherum, daß Wasser
geschöpft worden ist. Jesus ist in seine Gedanken vertieft. Er hat die
gewohnte Haltung angenommen: die Ellbogen auf die Knie gestützt und die nach
vorne gerichteten Hände gefaltet, den Oberkörper leicht gebeugt und das Haupt
zur Erde geneigt. Er spürt die wärmende Sonne und läßt den Mantel vom Kopf und
den Schultern gleiten, hält ihn aber noch zusammengefaltet auf seinem Schoß.
Jesus hebt das Haupt und lächelt
einer Schar rauflustiger Spatzen zu, die sich um eine am Brunnen verlorene
Brotkrume streiten. Doch die Spatzen werden durch das Erscheinen einer Frau
aufgeschreckt und fliegen davon. Die Frau hält mit der linken Hand einen
leeren Krug am Henkel, während sie mit der rechten überrascht den Schleier zur
Seite schiebt, um zu sehen, wer der Mann ist, der dort sitzt. Jesus lächelt
der Frau zu, die um die 35-4O Jahre alt und hochgewachsen ist und markante,
doch schöne Gesichtszüge hat. Ein Menschenschlag, den wir als spanisch
bezeichnen möchten, wegen ihrer fahlen, olivfarbenen Haut, den gewölbten und
leuchtenden Lippen, ihren geradezu übermäßig großen und schwarzen Augen unter
den sehr dichten Augenbrauen und den rabenschwarzen Zöpfen, die durch den
leichten Schleier hindurchscheinen. Auch die etwas üppigen Körperformen sind
typisch orientalisch, wie bei den Araberinnen. Die Frau trägt ein
buntgestreiftes Kleid, welches in der Taille eng zusammengezogen ist und an
den molligen Hüften und der vollen Brust enganliegt und dann in einer Art
loser Falten bis zum Boden reicht. Viele Ringe und Armbänder schmücken ihre
fleischigen, braunen Hände, und unter den leinenen Unterärmeln kommen ihre mit
Armbändern geschmückten Handgelenke hervor. Am Halse trägt sie eine schwere
Kette, von der Medaillen, ich möchte fast sagen Amulette, da sie so
verschiedenförmig sind, herabhängen, während der reiche Ohrschmuck bis zum
Halse reicht und unter dem Schleier glitzert.
«Der Friede sei mit dir, Frau.
Willst du mir zu trinken geben? Ich habe einen weiten Weg hinter mir und bin
durstig.»
«Aber bist du denn nicht ein
Jude? Und du bittest mich, eine Samariterin, um Wasser? Was soll denn das
bedeuten? Ist unsere Ehre wieder hergestellt, oder seid ihr gar in Verfall
geraten? Es muß schon ein großes Ereignis stattgefunden haben, wenn ein Jude
höflich zu einer Samariterin spricht. Eigentlich sollte ich dir antworten:
"Ich gebe dir nichts, um an dir alle Beleidigungen zu rächen, die uns die
Juden seit Jahrhunderten zufügen."»
«Du hast recht. Etwas Großes hat
sich ereignet, und dadurch haben sich viele Dinge geändert, und mehr noch
werden sich ändern. Gott hat der Welt ein großes Geschenk gemacht und dadurch
hat sich vieles geändert. Wenn du dieses Geschenk kennen würdest und wüßtest,
wer zu dir
147
sagt: "Gib mir zu trinken" ' dann
hättest du ihn vielleicht selbst um Wasser gebeten, und er hätte dir
lebendiges Wasser gegeben.»
«Lebendiges Wasser gibt es in
unterirdischen Quellen. In diesem Brunnen ist solches, doch er gehört uns»,
entgegnet die Frau spöttisch und rechthaberisch.
«Das Wasser kommt von Gott, so
wie auch die Güte, das Leben und alles von einem einzigen Gott kommt, Frau.
Alle Menschen sind von Gott erschaffen worden: Samariter wie Juden. Ist dies
nicht der Brunnen Jakobs, und ist Jakob nicht der Stammvater unseres
Geschlechtes? 1) Wenn später ein Irrtum das Volk geteilt hat, so bleibt der
Ursprung doch derselbe.»
«Ein Irrtum unsererseits, nicht
wahr?» fragt die Frau herausfordernd.
«Weder unsererseits noch
eurerseits. Es war der Fehler eines Menschen, der Liebe und Gerechtigkeit aus
den Augen verloren hatte. Ich beleidige weder dich noch dein Geschlecht, warum
verhältst du dich also feindselig mir gegenüber?»
«Du bist der erste Jude, den ich
so reden höre. Die anderen... Der Brunnen, ja, es ist der Brunnen Jakobs, und
er hat so reichlich klares Wasser, daß wir von Sichar ihn allen anderen
Brunnen vorziehen. Doch er ist sehr tief, und du hast weder Krug noch einen
Schlauch. Wie könntest du für mich lebendiges Wasser schöpfen? Bist du
vielleicht mehr als Jakob, unser heiliger Patriarch, der diese reiche Quelle
für sich, seine Kinder und seine Herden gefunden und sie uns als Geschenk und
zu seinem Gedächtnis hinterlassen hat?»
«Das stimmt! Doch wer von diesem
Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen. Ich hingegen habe ein Wasser, das
bei dem, der es trinkt, keinen Durst mehr aufkommen läßt. Doch es gehört mir
allein. Und ich werde es denen geben, die mich darum bitten. Wahrlich, ich
sage dir, wer dieses Wasser besitzt, das ich ihm geben werde, wird immer von
ihm durchströmt werden und nie mehr Durst leiden, weil mein Wasser in ihm zur
sicheren ewigen Quelle werden wird.»
«Wie? Ich verstehe dich nicht.
Bist du ein Magier? Wie kann ein Mensch zu einem Brunnen werden? Das Kamel
trinkt und schafft sich Wasservorräte in seinem geräumigen Bauch. Doch dann
verbraucht es das Wasser und es genügt nicht für das ganze Leben. Du aber
sagst, daß dein Wasser für das ganze Leben reicht?»
_______
1) S. Geschichte Jakobs in Gen
25,19-37,36; 45,16-50,14. Jakob, dem Gott den Namen Israel gab, wurde zum
Oberhaupt des israelitischen Stammes. S. Gen 32,23-31. Er erwarb sich ein
Grundstück bei Sichern, schlug dort sein Zelt auf und baute einen Altar. In
der Genesis deutet nichts darauf hin, daß dort ein Brunnen war, es läßt sich
jedoch vermuten, daß es einen gab, da Jakob sich dort während einiger Zeit
niederließ. Sichern heißt auf Aramäisch Sichar.
148
«Mehr noch: es wird bis zum
ewigen Leben fließen. Es wird in denen, die es getrunken haben, bis zum ewigen
Leben fließen und aus ihm wird ewiges Leben sprießen, weil es eine Quelle des
Heils ist.»
«Gib mir von diesem Wasser, wenn
du es wirklich besitzest. Es ermüdet mich, bis hierher zu kommen. Ich werde so
keinen Durst mehr haben und werde nie krank oder alt werden.»
«Nur das ermüdet dich? Nichts
anderes? Hast du nur das Bedürfnis, für deinen armseligen Leib von diesem
Wasser zu schöpfen? Überlege, es gibt etwas, das mehr wert ist als der Körper.
Es ist die Seele. Jakob gab sich und den Seinen nicht nur das Wasser dieser
Erde, sondern er war auch darum besorgt, sich und den anderen die Heiligkeit,
nämlich das Wasser Gottes, zu vermitteln.»
«Ihr nennt uns Heiden... Wenn
das, was ihr sagt, wahr ist, dann können wir nicht heilig sein...» Die Frau
hat den unverschämten, ironischen Ton in der Stimme verloren und zeigt sich
nun unterwürfig und leicht verwirrt.
«Auch ein Heide kann tugendhaft
sein, und Gott, der gerecht ist, wird ihn für seine guten Werke belohnen. Es
wird keine vollkommene Belohnung sein, doch kann ich dir sagen, daß Gott auf
einen Heiden ohne Schuld mit weniger Strenge blickt als auf einen Gläubigen in
schwerer Schuld. Warum kommt ihr also nicht zum wahren Gott, wenn ihr doch
wißt, daß ihr ohne Schuld seid? Wie heißest du?»
«Fotinai.»
«Gut, Fotinai, antworte mir.
Schmerzt es dich, daß du nicht zur Heiligkeit streben kannst, weil du, wie du
sagst, Heidin bist, weil du, wie ich behaupte, noch immer von den Nebeln eines
alten Irrtums umgeben bist?»
«Ja, es schmerzt mich.»
«Warum lebst du dann nicht
wenigstens als tugendhafte Heidin?»
«Herr! ...»
«Ja. Kannst du es leugnen? Hole
deinen Mann und komme mit ihm hierher zurück.»
«Ich habe keinen Gatten...» Die
Frau wird immer verwirrter.
«Das stimmt, du hast keinen
Gatten. Fünf Männer hast du gehabt, und nun hast du einen bei dir, der nicht
dein Mann ist. War dies nötig? Auch deine Religion rät nicht zur Unzucht. Auch
ihr habt die zehn Gebote. Warum also führst du ein solches Leben, Fotinai?
Belastet es dich nicht, allen zu gehören, anstatt die ehrsame Gattin eines
Einzigen zu sein? Fürchtest du nicht deinen Lebensabend, an dem du allein mit
deinen schmerzlichen Erinnerungen sein wirst, mit deinen Ängsten, mit deinem
Bedauern? Ja, auch mit diesem. Angst vor Gott und den Schreckensbildern! Wo
sind deine Kinder?»
Die Frau senkt ihr Haupt tief und
schweigt.
«Du hast sie nicht auf dieser
Erde, aber ihre kleinen Seelen, denen du
149
es verwehrt hast, das Licht der
Welt zu erblicken, werden dich ohne Unterlaß anklagen. Schmuck, schöne
Kleider... ein prächtiges Haus... eine reichhaltige Tafel... Ja! Aber daneben
Leere, Tränen und innere Trostlosigkeit. Du bist ein unglücklicher Mensch,
Fotinai. Nur durch aufrichtige Reue, die Vergebung Gottes und mit ihr auch die
Verzeihung deiner Geschöpfe kannst du wieder reich werden.»
«Herr, ich sehe, daß du ein
Prophet bist, und ich schäme mich...»
«Doch vor dem Vater im Himmel
hast du dich nicht geschämt, als du Böses tatest ? Weine nicht aus Beschämung
vor dem Menschen... Komm her, neben mich, Fotinai, ich werde dir von Gott
erzählen. Vielleicht wußtest du zu wenig von ihm, und sicherlich hast du
deshalb so viele Fehler begangen. Wenn du den wahren Gott gekannt hättest,
dann hättest du dich nicht so entwürdigt. Er hätte dir zugesprochen und dir
geholfen...»
«Herr, unsere Väter haben auf
diesem Berge angebetet. Ihr sagt, daß man nur in Jerusalem anbeten soll. Doch
du sagst, es gibt nur einen Gott. Hilf mir zu verstehen, wo und wie ich es tun
soll...»
«Frau, glaube mir. Es naht die
Stunde, da man den Vater weder auf dem Berge von Samaria noch in Jerusalem
anbeten wird. Ihr betet den an, den ihr nicht kennt. Wir beten den an, den wir
kennen, denn das Heil geht aus den Juden hervor. Erinnerst du dich an die
Worte der Propheten? Doch es kommt die Stunde, vielmehr, sie hat schon
begonnen, da die wahren Verehrer Gottes den Vater im Geiste und in der
Wahrheit anbeten werden, und zwar nicht im alten, sondern nach einem neuen
Ritus, bei dem es keine Opfertiere mehr geben wird, sondern das ewige Opfer,
die sich im Feuer der Liebe verzehrende, unversehrte Opfergabe. Die Verehrung
Gottes wird sich in diesem geistigen Reich in geistiger Weise vollziehen und
von denen verstanden werden, welche fähig sind, Gott im Geist und in der
Wahrheit anzubeten. Gott ist Geist. Wer ihn anbetet, muß ihn in geistiger
Weise anbeten.»
«Du sprichst heilige Worte. Ich
weiß, denn auch wir wissen einiges, daß die Ankunft des Messias bevorsteht. Er
wird auch "Christus" genannt. Er wird uns alles lehren, wenn er da ist. Hier
in der Nähe lebt jener, den sie seinen Vorläufer nennen, und viele gehen zu
ihm, um ihn anzuhören. Aber er ist so streng! ... Du bist gütig... und die
armseligen Menschen fürchten dich nicht. Ich glaube, daß Christus gütig sein
wird. Sie nennen ihn den Friedensfürst. Werden wir noch lange auf ihn warten
müssen?»
«Ich habe dir gesagt, daß seine
Zeit schon da ist.»
«Wie kannst du das wissen? Bist
du vielleicht sein Jünger? Der Vorläufer hat viele Jünger. Auch Christus wird
sie haben.»
«Ich, der ich zu dir spreche, bin
Christus Jesus.»
«Du! ... Oh! ...» Die Frau, die
sich neben Jesus niedergelassen hatte, springt auf und will fliehen.
«Warum fliehst du, Frau?»
150
«Weil ich davor erschauere, bei
dir zu verweilen. Du bist heilig...»
«Ich bin der Retter. Ich bin
hierhergekommen – aus freiem Willen -da ich wußte, daß deine Seele des
Umherirrens müde ist. Deine "Speise" ekelt dich an... Ich bin gekommen, dir
eine neue Speise zu geben, die Ekel und Überdruß von dir nehmen wird... Da
kommen meine Jünger, die Brot für mich geholt haben. Doch ich bin schon
gesättigt, da ich dir die ersten Brosamen deiner Erlösung geben konnte.»
Die Jünger werfen der Frau mehr
oder weniger diskrete, verstohlene Blicke zu, doch keiner sagt ein Wort. Sie
geht davon, ohne weiter an das Wasser und den Krug zu denken.
«Hier sind wir, Meister», sagt
Petrus. «Sie haben uns gut behandelt. Da sind Käse, frisches Brot, Oliven und
Äpfel. Nimm, was du willst. Die Frau hat gut daran getan, den Krug
zurückzulassen. Damit wird es schneller gehen als mit unseren kleinen
Wasserbeuteln. Zuerst trinken wir, und dann füllen wir sie auf. So brauchen
wir die Samariter um nichts anderes zu bitten, nicht einmal darum, zu ihren
Brunnen gehen zu dürfen. Ißt du nicht? Ich wollte Fisch für dich kaufen, habe
aber keinen gefunden. Vielleicht hättest du ihn vorgezogen. Du bist müde und
bleich,»
«Ich habe eine Speise, die ihr
nicht kennt. Sie wird mir als Nahrung dienen und mich sehr erquicken.»
Die Jünger schauen sich fragend
an.
Jesus antwortet auf ihr stummes
Fragen: «Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat,
und das Werk zu Ende zu führen, von dem er wünscht, daß ich es vollende. Wenn
ein Sämann den Samen ausgestreut hat, kann er dann behaupten, er hätte schon
alles getan, um sagen zu können, er hätte geerntet? Nein. Wieviel bleibt ihm
noch zu tun, bis er sagen kann: "Nun ist meine Arbeit vollbracht!" Bis zu
jener Stunde kann er nicht ausruhen. Betrachtet diese kleinen Äcker unter der
heiteren Sonne der sechsten Stunde. Noch vor einem Monat, vor weniger als
einem Monat, war die Erde kahl und dunkel, weil sie vom Regen getränkt war.
Nun seht! Halme über Halme des kaum hervorgesprossenen Getreides, die von
zartem Grün sind und im grellen Licht noch heller erscheinen, bedecken den
Boden wie ein weißlicher leichter Schleier. Dies ist die zukünftige Ernte, und
ihr sagt, wenn ihr sie seht: "In vier Monaten ist Erntezeit. Die Sämänner
werden die Schnitter rufen, denn wenn auch nur einer für die Aussaat genügt,
so braucht es doch viele zum Ernten. Die einen wie die anderen sind zufrieden:
der eine, der einen kleinen Sack Körner ausgesät hat und nun die Kornkammern
vorbereiten muß, um sie aufzunehmen, und die anderen, die sich in wenigen
Tagen den Lebensunterhalt für einige Monate verdienen." Auch im Acker des
Geistes werden jene, die das ernten, was ich gesät habe, sich mit mir und wie
ich freuen, denn ich werde ihnen den Lohn und den gebührenden Anteil an der
Ernte geben. Ich werde ihnen geben, was sie für das Leben in meinem ewigen
151
Reich nötig haben. Ihr braucht
nur zu ernten. Die härteste Arbeit habe ich getan. Dennoch sage ich euch:
"Kommt, erntet von meinem Acker. Es freut mich, wenn ihr euch mit den Garben
meines Korns beladet. Wenn ihr all das Korn, das ich unermüdlich überall
ausgesät habe, eingebracht habt, dann wird der Wille Gottes erfüllt sein, und
ich werde mich zum Festmahl des himmlischen Jerusalem niedersetzen." Seht, da
kommen Samariter mit Fotinai. Übt Nächstenliebe an ihnen. Es sind Seelen, die
zu Gott kommen.»
183. BEI DEN BEWOHNERN VON SICHAR
Eine Gruppe von angesehenen
Samaritern, die von Fotinai angeführt wird, kommt auf Jesus zu. «Gott sei mit
dir, Rabbi. Die Frau hat uns gesagt, daß du ein Prophet bist und es nicht
unter deiner Würde hältst, mit uns zu sprechen. Wir bitten dich, bleibe bei
uns und versage uns dein Wort nicht, denn wenn es auch wahr ist, daß wir von
Judäa getrennt sind, so ist damit nicht gesagt, daß nur Judäa heilig und die
Sünde nur in Samaria sei. Auch bei uns gibt es Gerechte.»
«Diese Auffassung habe ich im
Gespräch mit dieser Frau vertreten... Ich dränge mich nicht auf, aber ich
verweigere mich auch nicht dem, der mich sucht.»
«Du bist gerecht. Die Frau hat
uns gesagt, daß du der Christus wärest. Ist das wahr? Antworte uns im Namen
Gottes.»
«Ich bin es. Die messianische
Zeit ist gekommen. Israel ist mit seinem König vereinigt, und nicht nur Israel
allein.»
«Aber du bist für jene gekommen,
die... die nicht im Irrtum sind wie wir», bemerkt ein stattlicher Greis.
«Mann, ich erkenne in dir das
Oberhaupt all dieser Menschen hier und sehe auch ein ehrliches Suchen nach der
Wahrheit. Höre nun, du, der du ein Gelehrter der Heiligen Schriften bist! Zu
mir wurde dasselbe gesagt, was der Geist zu Ezechiel sprach, als er ihm die
prophetische Sendung übertrug. "Menschensohn, ich sende dich zu den Kindern
Israels, zu den wiederspenstigen Völkern, die von mir abgefallen sind... Es
sind Kinder mit hartem Antlitz und verstocktem Herzen... Es kann sein, daß sie
dir zuhören und dann deine Worte, die ja meine sind, mißachten, denn es ist
ein rebellisches Volk; doch wenigstens werden sie wissen, daß unter ihnen ein
Prophet ist. Habe also keine Furcht vor ihnen und lasse dich nicht durch ihre
Reden erschrecken, denn sie sind ungläubig und widerspenstig... Überbringe
ihnen meine Worte, ob sie dich nun anhören wollen oder nicht. Tu, was ich dir
sage, höre auf das, was ich dir sage, damit nicht auch du widerspenstig wirst
wie sie. Iß daher jede Speise, die ich dir reiche." So
152
bin ich gekommen. Ich bilde mir
nichts ein und verlange nicht, wie ein Triumphator empfangen zu werden. Da
aber der Wille Gottes mein Honig ist, so will ich diesen Willen erfüllen und
euch, wenn ihr es wünscht, die Worte sagen, die der Geist in mich gelegt hat.»
«Wie kann der Ewige an uns
gedacht haben?»
«Weil er die Liebe ist, meine
Kinder!»
«So reden die Rabbis von Judäa
nicht.»
«Aber so spricht der Messias des
Herrn zu euch.»
«Es steht geschrieben, daß der
Messias von einer Jungfrau aus Judäa geboren würde. Wer ist deine Mutter und
wie wurdest du geboren?»
«Ich wurde in Bethlehem Ephrata
von Maria aus dem Stamme Davids, die mich vom Heiligen Geist empfangen hat,
geboren. Möget ihr es glauben!» Die schöne Stimme Jesu erschallt in freudigem
Triumph, als er die Jungfräulichkeit seiner Mutter verkündet.
«Dein Antlitz strahlt großes
Licht aus. Nein, du kannst nicht lügen. Die Kinder der Finsternis haben ein
finsteres Gesicht und trübe Augen. Du strahlst, dein Auge ist klar wie ein
Frühlingsmorgen, und deine Worte sind Güte. Kehre ein in Sichar, ich bitte
dich darum, und belehre die Söhne dieses Volkes. Dann wirst du wieder
weitergehen..., und wir werden uns des Sternes erinnern, der an unserem Himmel
vorüberzog...»
«Warum solltet ihr diesem nicht
folgen?»
«Wie könnten wir das?» Sie
sprechen, während sie sich auf die Stadt zu begeben. «Wir sind die
Abgespalteten. So sagt man wenigstens. Aber wir sind nun einmal in diesem
Glauben geboren und wissen nicht, ob es richtig ist, ihn aufzugeben.
Außerdem... gewiß, mit dir können wir reden, das fühle ich... Immerhin, auch
wir haben Augen, um zu sehen, und einen Verstand, um zu denken. Wenn wir auf
Reisen oder beim Handel euer Gebiet durchziehen, ist nicht alles, was wir
sehen, so heilig, daß es uns überzeugen könnte, daß Gott mit euch von Judäa
oder mit euch von Galiläa ist.»
«Wahrlich, ich sage dir, nicht
wegen der Beleidigungen und der Verwünschungen, sondern wegen des Beispiels
und des Mangels an Nächstenliebe wird Israel die Schuld zugeschrieben werden,
weil es nicht imstande war, euch zu überzeugen und euch zurückzuführen.»
«Welch eine Weisheit ist in dir!
Hört ihr?»
Alle stimmen mit einem Gemurmel
der Bewunderung Jesus zu. Inzwischen haben sie die Stadt erreicht, und viele
andere Menschen kommen hinzu, während sie sich zu einem Haus begeben.
«Höre, Rabbi. Du, der du weise
und gütig bist, befreie uns von einem Zweifel. Viel von unserer Zukunft kann
davon abhängen. Du, der du der Messias bist, also der Wiederhersteller des
Reiches Davids, müßtest dich gewiß freuen, dieses abgetrennte Glied wieder mit
dem Staat zu vereinigen. Ist es nicht so?»
153
«Ich bemühe mich nicht so sehr,
die beiden getrennten Glieder, die vergänglich sind, wiederzuvereinigen,
sondern vielmehr darum, alle Seelen wieder zu Gott zurückzuführen. Wenn ich in
einem Herzen die Wahrheit wiederherstellen kann, ist es mir eine große Freude.
Nun sage mir, welches sind deine Zweifel?»
«Unsere Väter haben gesündigt.
Seitdem sind die Seelen von Samaria Gott nicht mehr wohlgefällig. Welchen
Vorteil würde es uns also bringen, wenn wir dem Guten folgen würden? Wir sind
ja in den Augen Gottes für immer unrein.»
«Euer Los ist das aller
Schismatiker, die ewige, schmerzliche Erinnerung, die ständige
Unzufriedenheit. Doch ich will dir wieder mit Ezechiel antworten. "Alle Seelen
gehören mir" ' sagt der Herr. "Sowohl jene des Vaters als auch jene des
Sohnes. Doch nur die Seele, die gesündigt hat, wird sterben." Wenn ein Mensch
gerecht ist, wenn er nicht Götzen anbetet, nicht stiehlt und nicht Unzucht und
Wucher treibt, wenn er an Leib und Seele seines Nächsten Barmherzigkeit übt,
dann ist er in meinen Augen gerecht und wird das wahre Leben haben, und
weiter: wenn ein Gerechter einen widerspenstigen Sohn hat, wird dann auch
dieser Sohn das wahre Leben haben, weil sein Vater gerecht war? Nein, er wird
es nicht haben. Wenn der Sohn eines Sünders gerecht ist, wird er dann sterben
wie sein Vater, weil er dessen Sohn ist? Nein, er wird leben in Ewigkeit, weil
er gerecht gewesen ist. Es wäre ungerecht, wenn einer die Schuld des anderen
tragen müßte. Die Seele, die gesündigt hat, wird sterben. Jene, die nicht
gesündigt hat, wird nicht sterben. Wenn aber der, der gesündigt hat, seine
Sünden bereut und künftig in Gerechtigkeit lebt, dann wird auch er das wahre
Leben haben. Unser Gott, der Herr, der einzige und alleinige Herr, sagt: "Ich
will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und das wahre
Leben habe." Deshalb hat er mich gesandt, o ihr irrenden Söhne! Damit ihr das
wahre Leben habt. Ich bin das Leben. Wer an mich glaubt und an den, der mich
gesandt hat, wird das ewige Leben erlangen, selbst wenn er bis zur Stunde ein
Sünder war.»
«Hier ist mein Haus, Meister.
Verabscheust du es nicht, einzutreten?»
«Ich verabscheue nur die Sünde.»
«Dann komm und raste bei mir. Wir
werden zusammen das Brot brechen, und dann, wenn es dir nicht lästig fällt,
wirst du uns das Wort Gottes gewähren. Das von dir gegebene Wort hat einen
anderen Geschmack... und unsere Besorgnis liegt hierin: wir fühlen uns nicht
sicher, im Recht zu sein...»
«Alles würde sich in euch
beruhigen, wenn ihr es wagen würdet, offen zur Wahrheit zu kommen. Gott möge
zu euren Herzen sprechen, ihr Bewohner dieser Stadt. Es ist schon bald Abend.
Doch morgen zur dritten Stunde werde ich lange zu euch sprechen, wenn ihr
wollt. Gehet hin, und die Barmherzigkeit sei mit euch!»
154
184. VERKÜNDIGUNG DER
HEILSBOTSCHAFT IN SICHAR
Jesus spricht inmitten eines
Platzes zu einer großen Menschenmenge. Er ist auf eine kleine steinerne Bank
beim Brunnen gestiegen. Die Leute umringen ihn, und auch die Zwölf haben sich
um ihn geschart... und mit Gesichtern,... die Bestürzung, Ärger oder
offensichtliche Abscheu über Kontakte mit gewissen Leuten ausdrücken.
Besonders Bartholomäus und Judas
Iskariot zeigen offen ihren Unmut, und um sich in einer möglichst großen
Entfernung von den Samaritern zu halten, hat letzterer sich rittlings auf den
Ast eines Baumes gesetzt, als wolle er die Szene beherrschen, während
Bartholomäus sich in einer Ecke des Platzes an ein Haustor lehnt. Das
Vorurteil beherrscht alle. Jesus hingegen ist nicht anders als sonst. Vielmehr
würde ich sagen, daß er darauf bedacht ist, die Leute durch seine Würde nicht
einzuschüchtern und gleichzeitig versucht, seine Würde erstrahlen zu lassen,
um jeden Zweifel zu beseitigen. Er liebkost zwei oder drei kleine Kinder, die
er nach ihrem Namen fragt, kümmert sich um einen blinden Greis, dem er selbst
Almosen gibt, und antwortet auf zwei oder drei Fragen, die sich auf private
Angelegenheiten beziehen.
Die eine Frage ist von einem
Vater gestellt worden, dessen Tochter wegen einer Liebschaft von zu Hause
fortgelaufen ist und die nun um Verzeihung bittet.
«Gewähre ihr unverzüglich deine
Verzeihung.»
«Aber ich habe sehr darunter
gelitten, Meister, und leide immer noch! In weniger als einem Jahr bin ich um
zehn Jahre gealtert.»
«Die Verzeihung wird dir
Erleichterung bringen.»
«Das ist nicht möglich. Die Wunde
bleibt.»
«Das ist wahr. In der Wunde sind
zwei Dornen, die dir Schmerz bereiten. Der eine ist die unleugbare
Beleidigung, die dir deine Tochter zugefügt hat, der andere deine Bemühung,
ihr deine Liebe zu entziehen. Entferne wenigstens letzteren Dorn. Die
Verzeihung, die erhabenste Form der Liebe, wird ihn entfernen. Bedenke doch,
armer Vater, daß dieses Kind durch dich erzeugt wurde und allezeit Anrecht auf
deine Liebe hat. Wenn du sie von einer körperlichen Krankheit heimgesucht
sähest und wüßtest, daß nur du sie vor dem Tode bewahren könntest, würdest du
sie sterben lassen? Bestimmt nicht. Bedenke also, daß gerade du sie mit deiner
Verzeihung heilen und sie zu einem gesunden Empfinden zurückführen kannst.
Denn siehe, in ihr herrscht das, was es an Niedrigstem im Menschen gibt.»
«Du rätst mir also, zu
verzeihen?»
«Du mußt!»
«Aber wie werde ich es ertragen,
sie im Hause unter meinen Augen zu haben, ohne sie zu verfluchen nach all dem,
was sie begangen hat?»
155
«Dann hättest du ihr nicht
verziehen. Das Verzeihen besteht nicht darin, daß du ihr die Haustüre öffnest,
sondern daß du ihr dein Herz wieder öffnest. Sei gut zu ihr, Mann! Sollten wir
vielleicht die Geduld, die wir für ein störrisches Jungtier aufbringen, nicht
unserem eigenen Kind entgegenbringen ?»
Eine Frau hingegen will wissen,
ob sie den Schwager heiraten soll, um ihren Waisenkindern einen Vater zu
geben.
«Bist du sicher, daß er ein
wirklicher Vater wäre ?»
«Ja, Meister. Ich habe drei
Knaben, sie brauchen einen Mann, der sie führt.»
«Dann tue es und sei ihm eine
treue Gattin, wie du es deinem ersten Mann warst.»
Ein Dritter fragt, ob er eine
Einladung, nach Antiochien überzusiedeln, annehmen soll.
«Mann, warum willst du dorthin
gehen?»
«Hier fehlen mir die Mittel für
mich und die vielen Kinder. Ich habe einen Heiden kennengelernt, der mich
anstellen würde, weil er meine Fähigkeiten bei der Arbeit gesehen hat, und der
auch meinen Söhnen Arbeit gäbe. Doch ich möchte nicht... Du wirst dich
vielleicht über die Skrupel eines Samariters wundern, aber ich habe sie. Ich
möchte nicht, daß wir den Glauben verlieren. Denn jener Mann ist ja ein Heide,
weißt du.»
«Was hat das zu bedeuten? Nichts
verunreinigt, wenn man sich nicht verunreinigen will. Geh nur nach Antiochien
und bleibe dem wahren Gott treu. Er wird dich führen, und du wirst zudem zum
Wohltäter deines Herrn werden, der durch deine Rechtschaffenheit Gott
kennenlernen wird.»
Dann beginnt Jesus zu der Menge
zu sprechen.
«Ich habe viele von euch
angehört, und in allen habe ich einen geheimen Schmerz erkannt, ein Leid,
dessen ihr euch vielleicht selber nicht bewußt seid. Seit Jahrhunderten staut
sich dieses Leid in euren Herzen an, und weder die Erklärungen, die ihr euch
gebt, noch die Anschuldigungen, die euch treffen, können euch davon befreien.
Vielmehr verhärtet es sich und wird schwer und bedrückt euch wie Schnee, der
sich in hartes Eis verwandelt.
Ich bin nicht einer von euch und
auch nicht einer von denen, die euch anklagen. Ich bin Gerechtigkeit und
Weisheit und verweise euch zur Lösung eures Falles noch einmal auf Ezechiel
(vergl. Ez 23,1 u. ff.). Ezechiel spricht prophetisch von Samaria und
Jerusalem; er nennt sie Kinder ein und desselben Schoßes und gibt ihnen die
Namen Ohola und Oholiba. (Im ursprünglichen Sinne bedeutet Ohola "Ihr eigenes
Zelt" und Oholiba "Mein Zelt in ihr". Zelt, im religiösen alttestamentarischen
Sinne, heißt soviel wie Tabernakel, Tempel.) Die erste, welche dem
Götzendienst verfiel, war Ohola, die bereits nicht mehr mit dem Himmlischen
Vater vereint
156
und daher seiner geistigen Hilfe
beraubt war. Die Vereinigung mit Gott bedeutet immer Rettung. Ohola tauschte
den wahren Reichtum, die wahre Macht und die wahre Weisheit mit dem armseligen
Reichtum, der Macht und Weisheit eines, der Gott gegenüber noch armseliger war
als sie, und ließ sich von ihm derart verführen, daß sie von der Lebensart
ihres Verführers versklavt wurde. Sie glaubte sich stark, wurde aber schwach.
Sie glaubte sich mächtig, verlor aber an Ansehen, und durch ihr leichtsinniges
Benehmen wurde sie zur Törin. Wenn einer sich unvorsichtigerweise von einer
Seuche anstecken läßt, dann gelingt es ihm nur schwer, sich davon zu befreien.
Ihr werdet sagen: "Wir sollten
geringer sein? Nein, wir waren mächtig." Mächtig ja, aber wie? Um welchen
Preis? Ihr wißt es. Wie viele, auch Frauen, erwerben den Reichtum um den
schrecklichen Preis ihrer Ehrbarkeit! Sie erwerben etwas Vergängliches und
verlieren etwas Unvergängliches: den guten Ruf.
Oholiba, die sah, daß die Torheit
der Ohola Reichtum eingebracht hatte, wollte sie nachahmen und wurde noch
törichter als Ohola; und zwar versündigte sie sich in doppelter Weise, denn
der wahre Gott war mit ihr, und sie hätte nie die Kraft, die sie dank dieser
Vereinigung besaß, mit Füßen treten dürfen. Harte und furchtbare Strafe ist
die Folge gewesen, und eine noch größere wird die zweifach törichte und
unkeusche Oholiba treffen. Gott wird sich von ihr abwenden. Er tut es schon,
indem er sich jenen zuwendet, die nicht aus Judäa sind. Man kann Gott nicht
Ungerechtigkeit vorwerfen, denn er drängt sich nicht auf. Er öffnet allen
seine Arme und lädt alle ein, doch wenn einer sagt: "Geh weg!" dann geht er.
Er geht auf die Suche nach Liebe und lädt andere ein, bis er einen Menschen
findet, der sagt: "Ich komme."
Daher sage ich euch, daß euch
dieser Gedanke in eurer Trübsal trösten wird, ja, er muß euch Trost geben:
Ohola, gehe in dich, Gott ruft dich!
Die Weisheit des Menschen besteht
darin, daß er imstande ist, sein Unrecht einzusehen, die Weisheit der Seele
besteht in der Liebe zum wahren Gott und seiner Wahrheit. Schaut nicht nach
Oholiba, Phönizien, Ägypten oder Griechenland. Schaut auf zu Gott. Dort ist
die Heimat jeder gerechten Seele, dort, im Himmel! Es gibt nicht viele Gebote,
sondern nur eines: das Gebot Gottes. Mit diesem Gesetzbuch erlangt man das
ewige Leben. Sagt nicht: "Wir haben gesündigt", sondern sagt: "Wir wollen
nicht mehr sündigen." Daß Gott euch noch liebt, beweist er euch, indem er sein
"Wort" sendet, um euch zu rufen: "Kommt!" Kommt, sage ich euch. Werdet ihr
beleidigt und geächtet? Von wem? Von Geschöpfen, wie ihr es seid. Doch Gott
ist größer als diese, und er sagt euch: "Kommt." Es wird der Tag kommen, da
ihr darüber jubeln werdet, nicht im Tempel gewesen zu sein... In eurem Geiste
werdet ihr darüber jubeln. Aber noch mehr werden die Herzen darüber jubeln,
denn über die Herzen der Rechtschaffenen,
157
es in Samaria gibt, wird schon
das Verzeihen Gottes herabgekommen sein. Bereitet euch darauf vor. Kommt zum
Retter der Welt, o Kinder Gottes, die ihr vom rechten Weg abgekommen seid.»
«Aber selbst wenn einige kommen,
so werden uns die auf der anderen Seite nicht wollen.»
«Nochmals antworte ich euch mit
dem Priester und Propheten: "Ich nehme den Stab Josephs, der in der Hand
Ephraims ist, und der Stämme Israels, seiner Verbündeten, und lege zu ihnen
den Stab Judas und mache sie zu einem Stab, daß sie in meiner Hand eins
seien..." Ja, nicht zum Tempel, zu mir sollt ihr kommen. Ich weise euch nicht
zurück. Ich bin es, der, der König genannt wird, Herrscher über alle. Der
König der Könige bin ich. Ich werde euch alle reinigen, o Völker, die ihr
gereinigt werden wollt. Ich werde euch wieder vereinigen, ihr Herden ohne
Hirten oder mit götzendienerischen Hirten, denn ich bin der Gute Hirte. Ich
werde euch ein einziges Zelt geben und es mitten unter meinen Gläubigen
aufstellen. Dieses Zeit wird Quelle des Lebens und Brot des Lebens sein, es
wird Licht, Rettung, Schutz und Weisheit sein. Es wird alles sein, denn es
wird der "Lebendige" sein, der den Toten als Speise gereicht wird, um sie zum
Leben auferstehen zu lassen. Es wird Gott sein, der sich ausgießt mit seiner
Heiligkeit, um zu heiligen. Das bin ich, und ich werde es sein. Die Zeit des
Hasses, der Verständnislosigkeit und der Furcht ist überstanden. Kommt! Volk
Israels! Getrenntes Volk! Betrübtes Volk! Fernes Volk! Geliebtes, unendlich
geliebtes Volk, weil du krank und geschwächt bist, zu Tode verletzt durch
einen Pfeil, der dir die Adern deiner Seele durchschnitten und die lebendige
Vereinigung mit deinem Gott entweichen ließ: Komm! Komm zurück zum Schoße, aus
dem du geboren wurdest; komm an die Brust, die dir Leben spendet. Güte und
Wärme erwarten dich hier noch immer. Immer! Komm! Komm zum Leben und zum
Heil.»
185. DER ABSCHIED VON DEN
BEWOHNERN SICHARS
Jesus sagt zu den Samaritern
Sichars: «Bevor ich euch verlasse, denn ich habe auch anderen Menschen die
Frohe Botschaft zu verkünden, will ich euch lichtvolle Wege der Hoffnung
eröffnen und euch auf sie führen mit den Worten: Geht beruhigt, denn das Ziel
ist euch sicher. Heute führe ich nicht den großen Ezechiel an, sondern den
Lieblingsjünger des Jeremias, den sehr großen Propheten.
Baruch spricht zu euch. Wahrlich,
er tritt mit euren Herzen vor den erhabenen Gott im Himmel, und er tritt für
eure Herzen ein, nicht nur für jene der Samariter, sondern für alle, o ihr
Stämme des auserwählten
158
Volkes, die ihr euch in
vielfältiger Weise versündigt habt. Auch eure Herzen nimmt er, ihr heidnischen
Völker, die ihr fühlt, daß es unter den vielen Göttern, denen ihr dient, einen
unbekannten Gott gibt, den eure Seele erahnt als den Einzigen und Wahren, und
den nur eure Schwerfälligkeit euch zu suchen hindert, um ihn kennenzulernen,
so wie euer Herz es ersehnt. Wenigstens ein moralisches Gesetz wurde euch, o
Heiden, o Götzendiener, gegeben, weil ihr Menschen seid, und der Mensch hat in
sich etwas innewohnend, das von Gott kommt und den Namen Seele hat, das zum
Guten mahnt und zu einem gottgefälligen Leben anspornt. Ihr jedoch habt diese
Seele gezwungen, Sklavin eines lasterhaften Fleisches zu sein, indem ihr das
moralische Gesetz der Menschen, das in euch wohnte, übertreten habt. Auch
menschlich gesehen wurdet ihr zu Sündern, denn ihr habt euch selbst und eure
Glaubensauffassung auf eine Stufe der Bestialität herabgewürdigt, das euch
unter den Rang der vernunftlosen Geschöpfe erniedrigt. Hört mich trotzdem alle
an! Ihr werdet um so mehr begreifen, je mehr ihr nach eurer Kenntnis des
übernatürlichen Moralgesetzes handelt, das euch vom wahren Gott gegeben worden
ist.
Betet mit den Worten Baruchs, und
dieses sein Gebet soll aus euren gedemütigten Herzen in einer würdevollen
Demut kommen, die nicht Entwürdigung oder Feigheit ist, sondern klare
Erkenntnis der eigenen elenden Verfassung und der heilige Wunsch, das Mittel
für eine geistige Besserung zu finden. Baruch betet so: "Sieh, o Herr, von
deinem Heiligtum auf uns, neige dein Ohr zu uns und höre uns an! Öffne deine
Augen und bedenke, daß nicht die Toten in der Unterwelt, deren Geist vom Leib
getrennt ist, des Herrn Ehre und Gerechtigkeit preisen, sondern die von der
Wucht des Unglücks bedrückte Seele, die, gebeugt und schwach, mit
niedergeschlagenen Augen einhergeht. Die nach dir hungernde Seele, o Gott,
preist deine Ehre und Gerechtigkeit." Baruch weint demütig, und jeder Gerechte
muß mit ihm weinen, wenn er die Schicksalsschläge sieht und beim rechten Namen
nennt, die aus einem starken Volk ein trauriges, geteiltes und unterdrücktes
Volk gemacht haben: "Wir haben nicht auf deine Stimme gehört, und du hast
deine Worte erfüllt, die du durch deine Diener, die Propheten, verkündet
hast... Nun sind die Gebeine unserer Könige und unserer Väter aus den Gräbern
geworfen und der Glut der Sonne und der Kälte der Nacht ausgesetzt, und die
Bewohner sind unter schrecklichen Qualen durch den Hunger, das Schwert und die
Pest umgekommen. Sogar den Tempel, in dem dein Name angerufen wurde, hast du
wegen der Bosheit Israels und Judäas zu dem werden lassen, was er heute ist."
O Kinder des Vaters, sagt nicht:
"Sowohl unser als auch euer Tempel ist immer wieder aufs neue aufgebaut worden
und sie sind schön." Nein, ein Baum, der vom Gipfel bis zum Wurzelstock von
einem Blitz gespalten wurde, kann nicht überleben. Er kann wohl ärmlich
dahinvegetieren, und
159
in einem Aufbäumen der Triebe,
die aus den Wurzeln sprießen, weiterleben, doch er verbleibt ein unfruchtbares
Gestrüpp, niemals mehr wird es der üppige Baum sein, reich an gesunden,
köstlichen Früchten. Die Zersetzung, die mit der Trennung begann, wird immer
ausgeprägter, obwohl die materielle Struktur unversehrt, ja sogar schön und
neu erscheint. Die Gewissen derer, die in ihr wohnen, werden zerfallen. Dann
wird die Stunde kommen, da jede übernatürliche Flamme ausgelöscht ist und dem
Tempel, dem Altar aus kostbarem Metall, das unablässig durch die Wärme des
Glaubens und der Liebe seiner Diener erwärmt werden muß, das fehlt, was sein
Leben ausmacht. Kalt, leblos, verunreinigt und voll von Toten wird er in
Verwesung übergehen. Fremde Raben werden sich auf ihn stürzen und die Lawine
göttlicher Strafe wird aus ihm eine Ruine machen.
Söhne Israels, betet weinend mit
mir, eurem Retter. Meine Stimme soll eure Stimme unterstützen, und sie, die es
vermag, möge bis zum Throne Gottes vordringen. Wer mit Christus, dem Sohn des
Vaters, betet, wird von Gott, dem Vater des Sohnes, erhört. Laßt uns das alte,
gerechte Gebet Baruchs beten: "Herr, Allmächtiger, Gott Israels, jede
bedrängte Seele und jeder kummervolle Geist ruft zu dir. Erhöre uns, o Herr
und erbarme dich, denn du bist ein Gott der Barmherzigkeit. Erbarme dich
unser, denn wir haben gegen dich gesündigt. Du thronst in alle Ewigkeit und
wir sollten auf ewig vernichtet sein? Herr, Allmächtiger, Gott Israels, erhöre
das Gebet der Toten Israels und ihrer Kinder, die sich gegen dich versündigt
haben. Sie haben nicht auf die Stimme des Herrn, ihres Gottes gehört, und so
ist das Unheil über uns gekommen. Gedenke nicht der Bosheit unserer Väter,
sondern vielmehr deiner Macht und deines Namens, denn diesen Namen rufen wir
an und sagen uns los vom Unrecht unserer Väter. Erbarme dich unser!»
So sollt ihr beten und euch
wahrhaftig bekehren. Ihr sollt zurückkehren zur wahren Weisheit, die Gottes
ist und im Buch der Gebote Gottes und im Gesetz, das ewig währt, zu finden
ist. Ich, der Messias Gottes, bin von neuem gekommen, um dieses Gesetz in
seiner einfachen, unwandelbaren Form den armen Menschen dieser Erde zu
bringen, indem ich ihnen die Frohe Botschaft der Zeit der Erlösung, der
Vergebung, der Liebe und des Friedens verkünde. Wer diesen Worten glaubt, wird
das ewige Leben erlangen.
Ich verlasse euch nun, ihr
Einwohner von Sichar, die ihr gut zum Messias Gottes gewesen seid. Ich lasse
euch in meinem Frieden.»
«Bleibe noch!»
«Komm wieder!»
«Niemand wird jemals wieder so zu
uns sprechen, wie du gesprochen hast.»
«Sei gepriesen, guter Meister!»
«Segne mein Kind.»
160
«Bete für mich, du Heiliger.»
«Laß mich eine deiner Fransen als
Segenszeichen aufbewahren.»
«Vergiß Abel nicht.»
«Auch mich nicht, Timotheus.»
«Und mich, Jorai.»
«An euch alle, an euch alle werde
ich mich erinnern! Der Friede komme über euch!»
Sie begleiten ihn bis einige
hundert Meter vor die Stadt, erst dann kehren sie langsam zurück...
186. UNTERWEISUNG DER APOSTEL;
WUNDER AN DER FRAU VON SICHAR
Jesus geht allein voran, dicht an
einer Hecke von Kakteen entlang, die alle anderen entlaubten Pflanzen
verspottend, in der Sonne glänzen mit ihren dicken, stachelbewehrten
Schaufeln, an denen noch vereinzelte Früchte hängen, die die Witterung
ziegelrot werden ließ. Da und dort sind schon einige frühzeitige, rot und gelb
bemalte Blüten sichtbar.
Hinter ihm flüstern die Apostel
miteinander, und es scheint mir nicht gerade, daß sie ihren Meister loben.
Jesu wendet sich plötzlich um und sagt – «Wer auf den Wind achtet, kommt nicht
zum Säen, und wer nach den Wolken schaut, kommt nicht zum Ernten. Das ist ein
altes Sprichwort. Doch ich halte mich daran. Ihr seht, daß ich dort, wo ihr
widerwärtige Winde befürchtet habt und euch nicht aufhalten wolltet, Brachland
und Gelegenheit zum Säen gefunden habe. Trotz "eurer" Wolken bin ich der Ernte
schon sicher und möchte euch auch sagen, daß ihr gut daran tätet, diese Wolken
zu verbergen, wo die Barmherzigkeit ihre Sonne zeigen möchte.»
«Doch bis anhin hat dich doch
niemand um ein Wunder gebeten. Sie haben einen sehr seltsamen Glauben an
dich.»
«Glaubst du denn, Thomas, daß nur
die Bitte um ein Wunder beweist, daß der Glaube vorhanden ist? Du irrst dich.
Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wer ein Wunder verlangt, um glauben zu
können, bekundet damit, daß er ohne Wunder, also ohne einen greifbaren Beweis,
nicht glauben würde. Wer aber auf das Wort eines anderen hin sagt: "Ich
glaube", der bekundet den größten Glauben.»
«Das heißt also, daß die
Samariter besser sind als wir!»
«Das sage ich nicht. Doch in
Hinblick auf ihre beeinträchtigte seelische Verfassung ist ihre Fähigkeit,
Gott zu verstehen, viel größer als die vieler Gläubiger in Palästina. Diese
Erfahrung werdet ihr noch oft in eurem Leben machen und ich bitte euch,
erinnert euch auch an diese Begebenheit,
161
damit ihr imstande seid, den
Seelen, die zum Glauben an Christus kommen, ohne Vorurteile zu begegnen.»
«Jedoch verzeihe, Jesus, wenn ich
es dir sage: mir scheint, daß es bei all dem Haß, den man gegen dich hat,
gefährlich für dich ist, neue Anschuldigungen zu provozieren. Wenn die Männer
des Hohen Rates wüßten, daß du...»
«Sag es nur: "Liebe geschenkt
hast." Ja, Liebe habe ich gegeben und gebe ich, Jakobus. Und du, der du mein
Vetter bist, kannst verstehen, daß ich nur Liebe empfinden kann. Ich habe dir
gezeigt, daß ich auch für jene nur Liebe empfinde, die meine Verwandten und
Mitbürger und mir feindlich gesinnt sind. Sollte ich also für jene, die mich
verehrt haben ohne mich zu kennen, keine Liebe haben? Die Mitglieder des Hohen
Rates mögen soviel Böses tun, wie sie wollen, doch selbst wenn ich an ihre
künftigen Bosheiten denke, wird all dies kein Grund sein, meiner
allgegenwärtigen, überall wirkenden Liebe Schranken zu setzen. Übrigens, auch
wenn ich es tun wollte, würde es den Hohen Rat nicht daran hindern, in seinem
Haß neue Beschuldigungen zu finden.»
«Aber du, Meister, verlierst
deine Zeit in einem götzendienerischen Land, während man vielerorts in Israel
auf dich wartet. Du sagst, jede Stunde soll dem Herrn geweiht sein. Sind denn
dies nicht verlorene Stunden?»
«Der Tag, den man dazu verwendet,
verlorene Schafe zu sammeln, ist nicht vergeudet. Er ist nicht verloren,
Philippus. Es steht geschrieben: "Wer das Gesetz achtet, entrichtet viele
Opfer,... wer aber Wohltaten spendet, bringt ein Dankesopfer dar." Es steht
geschrieben: "Gib Gott, dem Allmächtigsten in gleicher Weise, wie er dir
gegeben, mit frohem Herzen, wie du es vermagst." Ich handle so, Freund. Die
Zeit, in der man Opfer bringt, ist nie vergeudete Zeit. Ich übe Barmherzigkeit
und benütze die mir gegebenen Fähigkeiten, indem ich meine Arbeit Gott weihe.
Seid also getrost. Und übrigens... diejenigen unter euch, die eine Bitte um
ein Wunder hören wollten, um sich zu überzeugen, daß man in Sichar an mich
glaubt, werden nun zufriedengestellt. Jener Mann dort folgt uns gewiß aus
irgendeinem Grund. Warten wir auf ihn.»
Tatsächlich nähert sich ihnen ein
Mann. Er scheint unter einer schweren Bürde gebeugt, die er, im Gleichgewicht,
auf beiden Schultern trägt. Als er sieht, daß die Gruppe stehenbleibt, hält er
ebenfalls inne.
«Er will uns Böses antun. Er
bleibt stehen, weil er sieht, daß wir ihn bemerkt haben. Oh, es sind eben
Samariter!»
«Bist du sicher, Petrus ?»
«Oh, ganz bestimmt!»
«Dann bleibt hier, ich will ihm
entgegengehen.»
«Das nicht, Herr. Wenn du gehst,
komme auch ich.»
«Dann komm also.»
162
Jesus geht dem Mann entgegen.
Petrus trottet, neugierig und ablehnend zugleich, an seiner Seite. Als sie nur
mehr wenige Meter voneinander entfernt sind, fragt Jesus: «Was willst du,
Mann? Was suchst du?»
«Dich.»
«Warum bist du nicht in der Stadt
zu mir gekommen?»
«Ich wagte es nicht... Es wäre
zuviel Schmerz und Scham für mich gewesen, wenn du mich in Anwesenheit aller
Leute zurückgewiesen hättest.»
«Du hättest mich rufen können,
als ich mit den Meinen wieder allein war.»
«Ich hoffte, dich einmal ganz
allein anzutreffen, wie Fotinai. Ich habe einen schwerwiegenden Grund, mit dir
allein zu sein...»
«Was willst du? Was trägst du mit
soviel Mühe auf den Schultern?»
«Meine Frau. Sie ist von einem
Geist besessen, der aus ihr einen leblosen Leib und umnachteten Geist gemacht
hat. Ich muß ihr das Essen eingeben, sie ankleiden und tragen wie ein Kind. Es
ist ganz plötzlich geschehen, ohne Krankheit... Sie nennen sie die
"Besessene". Ich leide sehr darunter. Es ist eine große Plage, und ich habe
auch viele Kosten. Schau.»
Der Mann stellt das Bündel mit
dem reglosen Körper, der in einen Mantel gehüllt ist und wie ein Sack
aussieht, auf den Boden. Er entschleiert das Antlitz einer noch jungen Frau,
die, wenn sie nicht atmen würde, tot schiene. Die Augen sind geschlossen, der
Mund ist halbgeöffnet... das Gesicht einer Toten.
Jesus beugt sich über die
Unglückliche, die am Boden liegt, und betrachtet sie. Dann sieht er den Mann
an. «Glaubst du, daß ich es kann? Warum glaubst du es?»
«Weil du der Christus bist.»
«Aber du hast nichts gesehen, was
dir das beweisen könnte.»
«Ich habe dein Wort gehört. Das
genügt.»
«Petrus, hörst du ? Was meinst
du, was ich nun angesichts eines solch starken Glaubens tun soll?»
«Aber... Meister... Du... Ich...
Tue du, was richtig ist.» Petrus ist sehr verlegen.
«Gewiß werde ich es tun. Mann,
schau!» Jesus nimmt die Hand der Frau und befiehlt: «Weiche von dieser Frau!
Ich will es!»
Die Frau, die unbeweglich dalag,
wird von einem heftigen Krampf befallen, der zuerst stumm verläuft, dann von
Wimmern und Klagen begleitet wird, die in einem lauten Aufschrei enden, bei
dem sie die bis anhin geschlossenen Augen aufreißt, wie jemand, der aus einem
Alptraum erwacht. Schließlich beruhigt sie sich, schaut ein wenig erstaunt um
sich und blickt Jesus an, den Unbekannten, der ihr zulächelt... Sie schaut auf
den Staub des Weges, auf dem sie liegt, auf ein Grasbüschel, das am Wegrand
wächst und auf dem die rotweißen Köpfchen der Gänseblümchen
163
wie Perlen leuchten und nahe
daran sind, sich in einem Kranz zu öffnen. Sie sieht die Kakteenhecke, den
blauen Himmel und erblickt dann ihren Mann... ihren Mann, der sie ängstlich
betrachtet und jede ihrer Bewegungen beobachtet. Sie lächelt, springt dann mit
der endgültig wiedererlangten Freiheit auf die Beine und flüchtet sich an die
Brust ihres Gatten, der sie weinend liebkost und umarmt.
«Was ist los ? Weshalb bin ich
hier ? Warum ? Wer ist dieser Mann ?»
«Es ist Jesus, der Messias. Du
warst krank. Er hat dich geheilt. Sage ihm, daß du ihn liebst.»
«Oh! Ja! Danke! ... Aber was
hatte ich denn? Meine Kinder... Simon... Ich erinnere mich nicht an den
gestrigen Tag, doch ich erinnere mich, daß ich Kinder habe...»
Jesus sagt: «Es ist nicht nötig,
daß du dich des gestrigen Tages erinnerst. Vergiß nie den heutigen Tag und sei
ein guter Mensch. Lebt wohl! Seid gute Menschen, und Gott wird mit euch sein.»
Jesus entfernt sich raschen Schrittes unter den Lobpreisungen der beiden.
Als Jesus die anderen wieder
erreicht, die bei der Hecke auf ihn warten, sagt er nichts zu ihnen. Dann aber
wendet er sich an Petrus: «Nun? Du, der du so sicher warst, daß jener Mann mir
etwas Böses antun wollte, was sagst du nun? Simon, Simon! Wieviel fehlt dir
noch, um vollkommen zu sein! Wieviel fehlt euch noch! Ihr habt, abgesehen vom
offenkundigen Götzenkult, dieselben Fehler wie sie hier und seid zudem noch
überheblich im Urteilen. Laßt uns unsere Mahlzeit einnehmen. Wir können den
Ort, wo ich noch vor Anbruch der Nacht eintreffen wollte, nicht mehr
erreichen. Wir werden in irgendeiner Scheune schlafen, wenn wir nichts
Besseres finden.»
Mit dem bitteren Nachgeschmack
des Tadels in den Herzen setzen sich die Zwölf wortlos nieder und nehmen ihre
Mahlzeit ein.
Die Sonne eines friedlichen Tages
bescheint die Landschaft, die in sanften Wellen zu einer Ebene abfällt.
Als die Mahlzeit beendet ist,
verweilen sie noch etwas, bis Jesus aufsteht und sagt: «Andreas und du, Simon,
kommt! Ich möchte sehen, ob die Bewohner des Hauses dort uns freundlich oder
feindlich gesinnt sind», und er macht sich auf den Weg, während die anderen
stillschweigend zurückbleiben, bis Jakobus des Alphäus zu Judas Iskariot sagt:
«Ist denn die Frau, die des Weges kommt, nicht von Sichar?»
«Ja, sie ist es. Ich erkenne sie
am Gewand. Was will sie wohl?»
«Ihres Weges gehen», antwortet
Petrus verärgert.
«Nein. Sie blickt zu sehr auf
uns, und schirmt sich die Augen mit der Hand ab.»
Die Jünger beobachten sie, bis
sie angekommen ist und ganz bescheiden fragt: «Wo ist euer Meister?»
«Nicht hier. Warum fragst du nach
ihm?»
164
«Ich sollte ihn sprechen...»
«Er verliert seine Zeit nicht mit
Frauen», entgegnet Petrus trocken.
«Ich weiß es, mit den Frauen
nicht, aber ich bin eine Frauenseele, die ihn nötig hat.»
«Laß sie machen», rät Judas des
Alphäus, und antwortet Fotinai: «Warte, er kommt gleich zurück.»
Die Frau stellt sich in die Ecke
einer Wegbiegung und schweigt, während die Jünger sich nicht mehr um sie
kümmern. Doch Jesus kehrt bald zurück, und Petrus sagt: «Da ist der Meister.
Sage ihm, was du ihm zu sagen hast und beeile dich.»
Die Frau antwortet ihm nicht,
sondern läßt sich vor Jesu Füßen auf die Knie nieder und verneigt sich
schweigend bis zur Erde.
«Fotinai, was willst du von mir?»
«Deine Hilfe, Herr. Ich bin so
schwach, und ich will nicht mehr sündigen. Ich habe dies dem Mann bereits
gesagt. Doch jetzt, da ich keine Sünderin mehr bin, komme ich nicht mehr
weiter. Das Gute ist mir fremd. Was soll ich tun? Sage du es mir. Ich bin nur
Schlamm. Aber dein Fuß betritt auch den Staub des Weges, um zu den Seelen zu
gelangen. Zertritt auch meinen Schlamm, aber komm und gib mir deinen Rat.» Sie
weint.
«Mir könntest du als
alleinstehende Frau nicht folgen. Doch wenn du wirklich nicht mehr sündigen
willst und die Weisheit, Sünden zu vermeiden, lernen möchtest, dann kehre mit
reuiger Gesinnung in dein Haus zurück und warte. Es wird der Tag kommen, da du
mit vielen anderen, ebenfalls geretteten Schwestern, bei deinem Erlöser sein
kannst, um die Wissenschaft des Guten zu erlernen. Geh und habe keine Furcht.
Bleibe deinem jetzigen Vorsatz, nicht mehr zu sündigen, treu. Leb wohl.»
Die Frau küßt den Staub, steht
auf, geht einige Schritte rückwärts und entfernt sich dann in Richtung
Sichar...
187. JESUS BESUCHT DEN TÄUFER BEI
ENNON
Es ist eine mondhelle Nacht, so
klar, daß die Landschaft in allen Einzelheiten erkennbar ist und die Felder
mit dem jungen Getreide einem Teppich aus grünsilbernem Filz gleichen, der von
den dunklen Bändern der Pfade durchzogen ist und von den Bäumen bewacht wird,
die auf der vom Mond beschienenen Seite ganz weiß, auf der Rückseite jedoch
tief schwarz erscheinen.
Jesus ist allein und geht
entschlossen und sehr schnell seines Weges, bis er zu einem Wasserlauf kommt,
der gurgelnd in nordöstlicher Richtung zur Ebene hinabfließt. Er folgt ihm bis
zu einer einsamen Stelle an einem wilden, steilen Ufer. Schließlich macht er
noch einen Bogen, steigt einen
165
Pfad empor und gelangt zu einem
natürlichen Unterstand am Hang des Hügels.
Er tritt ein und beugt sich über
ein liegendes Wesen, das kaum kenntlich ist, da der Mondschein, der den Pfad
erleuchtet, nicht in die Höhle eindringt. Jesus ruft: «Johannes!»
Der Mann erwacht und setzt sich,
noch vom Schlaf benommen, auf. Doch als ihm bewußt wird, wer ihn gerufen hat,
springt er auf, um sich gleich vor Jesus niederzuwerfen und zu sagen: «Wie
geschieht mir, daß mein Herr zu mir gekommen ist?»
«Ich bin gekommen, um dein und
mein Herz glücklich zu machen. Du sehntest dich nach mir, Johannes. Da bin
ich. Steh auf! Laßt uns in den Mondschein hinaustreten und uns zum Gespräch
auf den Felsblock bei der Grotte setzen.»
Johannes gehorcht, er steht auf
und tritt hinaus. Doch als Jesus sich gesetzt hat, kniet er in seinem
Schafsfell, das seinen sehr mageren Körper nur dürftig bedeckt, vor Christus
nieder und streicht sein langes, wirres Haar, das ihm vor die Augen gefallen
war, zurück, um den Sohn Gottes besser betrachten zu können.
Der Gegensatz ist kraß. Jesus ist
blaß und blond, hat weiches, geordnetes Haar und einen kurzen Bart an der
unteren Gesichtshälfte. Johannes hingegen hat ein wahres Gewirr von
pechschwarzem Haar, aus dem nur zwei tiefliegende, wie von Fieber glänzende
Augen hervorstechen.
«Ich bin gekommen, um dir "danke"
zu sagen. Du hast mit der Vollkommenheit der Gnade, die in dir ist, deine
Mission als mein Vorläufer erfüllt und wirst sie weiterhin erfüllen. Wenn die
Stunde gekommen ist, wirst du an meiner Seite in den Himmel eingehen, denn du
hast alles von Gott verdient. Doch in der Erwartung dieses Ereignisses wirst
du schon den Frieden des Herrn genießen, mein geliebter Freund.»
«Bald schon werde ich in den
Frieden eingehen. Mein Meister und mein Gott, segne deinen Knecht, um ihn für
die letzte Prüfung zu stärken. Es ist mir nicht unbekannt, daß diese nunmehr
sehr nahe ist, und daß ich noch ein Zeugnis abzulegen habe: jenes des Blutes.
Dir, mehr noch als mir, ist es bekannt, daß meine Stunde naht. Dein Kommen ist
Ausdruck der barmherzigen Güte deines Gottes-Herzens, das den letzten Märtyrer
Israels und den ersten Märtyrer der neuen Zeit stärken wollte. Aber sage mir
nur eins: werde ich lange auf dein Kommen warten müssen?»
«Nein, Johannes. Nicht viel
länger als die Zeit, die zwischen deiner und meiner Geburt verstrichen ist.»
«Der Allerhöchste sei dafür
gepriesen. Jesus... Darf ich so zu dir sagen?»
«Du darfst es, aufgrund unserer
Verwandtschaft und wegen deiner Heiligkeit. Dieser Name, den auch die Sünder
aussprechen, darf vom Heiligen Israels ausgesprochen werden. Jenen dient er
zur Rettung, für
166
dich soll er zärtliche Liebe
sein. Was willst du von Jesus, deinem Meister und Vetter?»
«Bald werde ich sterben. Doch,
wie ein Vater sich um seine Kinder sorgt, so sorge ich mich um meine Jünger.
Meine Jünger... Du bist Meister und weißt, welch eine Liebe wir für sie
empfinden. Die einzige Sorge ist, daß sie, wenn ich sterbe, sich wie Schafe
ohne einen Hirten verirren könnten. Nimm du sie auf. Ich gebe dir die drei,
die dir angehören und mir in deiner Erwartung vollkommene Jünger gewesen sind,
zurück. In ihnen, insbesondere in Matthias, ist die Weisheit wirklich
gegenwärtig. Andere habe ich noch, auch sie werden zu dir kommen. Doch gewähre
mir, daß ich dir diese persönlich anvertraue. Es sind die drei teuersten
Jünger.»
«Auch mir sind sie teuer. Sei
beruhigt, Johannes, sie werden nicht verlorengehen, weder diese noch die
anderen, die du als wahre Jünger hast! Ich nehme dein Erbe an und werde
darüber wachen wie über den kostbarsten Schatz, den ich von meinem
vollkommenen Freund und Diener des Herrn empfangen habe.»
Johannes wirft sich auf die Erde
und – was bei einer so strengen Persönlichkeit beinahe unmöglich scheint – er
weint laut schluchzend in seliger Freude.
Jesus legt ihm die Hand aufs
Haupt: «Deine Tränen der Freude und Demut haben in mir den Widerhall eines
Gesanges aus fernen Tagen geweckt, bei dessen Klang dein kleines Herz vor
Freude hüpfte. Jener Gesang und diese Tränen sind ein und derselbe Lobgesang
an den Ewigen Gott, der große Dinge vollbracht hat und machtvoll wirkt in den
Demütigen. Auch meine Mutter stimmt aufs neue den Lobgesang an, den sie damals
schon gesungen hatte. Doch danach wird auch für sie die unendliche
Herrlichkeit kommen, so wie für dich nach dem Martyrium. Ich bringe dir auch
ihren Gruß. All ihre Abschieds- und Trostworte. Du verdienst sie. Hier ist nur
die Hand des Menschensohnes auf deinem Haupt; doch durch den offenen Himmel
steigen die Liebe und das Licht auf dich hernieder, um dich zu segnen,
Johannes.»
«Ich bin dessen nicht würdig. Ich
bin dein Diener.»
«Du bist mein Johannes. Einst am
Jordan war ich der Messias, der sich offenbarte. Hier nun bin ich dein Vetter
und dein Gott, der dir die Wegzehrung seiner Liebe als Gott und Verwandter
mitgeben will. Erhebe dich, Johannes! Wir wollen uns den Abschiedskuß geben.»
«Ich bin nicht würdig... Ich habe
es wohl mein ganzes Leben lang gewünscht, doch ich wage es nicht, dich zu
küssen. Du bist mein Gott!»
«Ich bin dein Jesus. Leb wohl.
Meine Seele wird der deinen nahe sein, bis du in den Frieden eingehst. Lebe
und sterbe in der Gewißheit des Friedens um deine Jünger. Mehr kann ich dir
jetzt nicht geben, doch im Himmel werde ich dich hundertfach belohnen, denn du
hast vor den Augen Gottes jegliche Gnade gefunden.»
167
Jesus hat ihm aufgeholfen, ihn
umarmt und auf die Wangen geküßt und ist von Johannes geküßt worden. Dann
kniet Johannes nochmals nieder, und Jesus legt ihm die Hände aufs Haupt und
betet mit zum Himmel erhobenen Augen. Er scheint ihn zu weihen. Es ist
ergreifend. Stille herrscht während einiger Zeit. Dann verabschiedet sich
Jesus mit seinem liebevollen Gruß: «Mein Friede sei allezeit mit dir», und er
entfernt sich auf demselben Weg, auf dem er gekommen war.
188. JESUS UNTERWEIST DIE APOSTEL
«Herr, warum ruhst du dich nicht
aus in der Nacht? Heute nacht bin ich aufgestanden und habe dich nicht
gefunden. Dein Lager war leer.»
«Warum hast du mich gesucht,
Simon?»
«Um dir meinen Mantel zu geben.
Ich fürchtete, du könntest in dieser hellen, doch sehr frischen Nacht
frieren.»
«War dir nicht kalt?»
«Ich habe mich in vielen Jahren
des Elends daran gewöhnt, kaum bedeckt, schlecht ernährt und schlecht
untergebracht zu sein... Das Tal der Toten... Welch ein Schrecken! Diesmal ist
es nicht so, doch das nächste Mal, wenn wir nach Jerusalem gehen, Herr, dann
komm zu dieser Stätte des Todes. Es sind so viele Unglückliche dort... und die
körperliche Not ist noch nicht das Schlimmste... Das, was die Menschen dort
verzehrt, ist die Verzweiflung. Findest du nicht, mein Herr, daß die
Aussätzigen zu hart behandelt werden?»
Es ist Judas Iskariot, der Jesus
mit der Antwort zuvorkommt und zum Zeloten, der für seine früheren
Leidensgenossen eintritt, sagt: «Möchtest du sie vielleicht frei unter dem
Volk herumlaufen lassen? Es ist ihr Pech, wenn sie aussätzig sind.»
«Es fehlte nur noch das, um aus
den Juden Märtyrer zu machen! Auch noch der Aussatz auf den Straßen, zusammen
mit den Soldaten und all den anderen Dingen», ruft Petrus aus.
«Es scheint mir eine gerechte
Maßnahme der Vorsicht, sie abgesondert zu halten», bemerkt Jakobus des
Alphäus.
«Ja, doch dies sollte mit
Mitgefühl geschehen. Du kannst dir nicht vorstellen, was es heißt, aussätzig
zu sein. Du kannst darüber nicht sprechen. Wenn es gut ist, sich um die
Gesundheit des Leibes zu sorgen, wieso sollten wir uns nicht ebenso um die
Seelen der Aussätzigen kümmern? Wer spricht zu ihnen von Gott ? Nur Gott
allein weiß, wie nötig sie es hätten, in ihrer furchtbaren Trostlosigkeit an
einen Gott zu denken und wie sehr sie des inneren Friedens bedürfen!»
«Du hast recht, Simon. Ich werde
zu ihnen gehen, weil es gerecht ist
168
und um euch Barmherzigkeit zu
lehren. Bisher habe ich die Aussätzigen, denen wir zufällig begegnet sind,
geheilt. Bisher, das heißt, bis zu dem Augenblick, da ich aus Judäa vertrieben
wurde, habe ich mich an die Mächtigen von Judäa als die Entferntesten und der
Erlösung am meisten Bedürftigen gewandt, um dem Erlöser eine Hilfe zu sein.
Nun, da ich mich von der Nutzlosigkeit dieses Versuches überzeugt habe, werde
ich davon ablassen. Nicht zu den Großen, sondern zu den Geringsten, zu den
Elenden Israels will ich gehen, und unter diesen werden auch die Aussätzigen
im Tale der Toten sein. Ich werde den Glauben dieser Menschen an mich, die vom
dankbaren Aussätzigen die Heilsbotschaft vernommen haben, nicht enttäuschen.»
«Wie kannst du wissen, Herr, daß
ich dies getan habe?»
«So, wie ich auch weiß, was
Freunde oder Feinde, deren Herz ich erforsche, über mich denken.»
«Barmherzigkeit! Aber weißt du
wirklich alles von uns, Meister?» ruft Petrus aus.
«Ja, auch daß du, und nicht nur
du allein, Fotinai wegschicken wolltest. Aber weißt du denn nicht, daß es dir
nicht zusteht, eine Seele vom Guten fernzuhalten? Weißt du nicht, daß man,
wenn man in ein anderes Land kommt, auch für jene ein liebevolles Erbarmen
haben sollte, welche eine ungerechte Gesellschaft des Mitleids für unwürdig
erklärt, weil sie sich mit Gott nicht identifiziert. Doch beunruhige dich
nicht, weil ich alles weiß. Bedaure nur, daß dein Herz Regungen empfindet, die
Gott nicht billigt, und strenge dich an, sie nicht mehr aufkommen zu lassen.
Ich habe euch gesagt: das erste Jahr ist vorüber, und im neuen werde ich auf
eine andere Art und Weise auf meinem Weg weitergehen. Auch ihr müßt in diesem
zweiten Jahr Fortschritte machen. Sonst wäre es nutzlos, daß ich mich abmühe,
die Heilsbotschaft zu verkünden und euch, meine zukünftigen Priester,
besonders darin auszubilden.»
«Bist du beten gegangen, Meister?
Du hast uns versprochen, uns deine Gebete zu lehren. Wirst du es in diesem
Jahre tun?»
«Ich werde es tun. Doch ich will
euch auch lehren, gute Menschen zu sein, denn die Güte ist schon Gebet. Aber
ich werde es tun, Johannes.»
«Wirst du uns in diesem Jahr auch
lehren, Wunder zu wirken?» fragt Judas Iskariot.
«Das Wunderwirken kann man nicht
lehren. Es ist nicht das Spiel eines Zauberkünstlers. Das Wunder kommt von
Gott. Wer in Gottes Gnade steht, kann sie wirken. Wenn ihr lernt, gut zu sein,
wird die Gnade über euch kommen und ihr werdet Wunder erlangen.»
«Aber du antwortest nie auf
unsere Frage. Simon hat dich gefragt, Johannes hat dich gefragt, und du hast
uns noch nicht gesagt, wo du diese Nacht gewesen bist. Allein weggehen in
diesem heidnischen Land kann gefährlich sein.»
169
«Ich bin gegangen, um eine
gerechte Seele glücklich zu machen, und da es sich um einen Todgeweihten
handelt, sein Erbe zu übernehmen.»
«Ja? War es groß?»
«Sehr groß, Petrus, und sehr
wertvoll; die Frucht der Arbeit eines wahren Gerechten.»
«Aber ich habe nichts mehr als
sonst in deiner Tasche gesehen. Sind es vielleicht Edelsteine, die du an
deiner Brust verborgen hältst?»
«Ja, es sind Edelsteine, die
meinem Herzen sehr teuer sind.»
«Zeige sie uns, Meister.»
«Ich werde sie dann haben, wenn
der Todgeweihte gestorben sein wird. Vorerst dienen sie noch ihm und mir,
indem ich sie belasse, wo sie sind»
«Hast du sie gewinnbringend
angelegt?»
«Aber glaubst du denn, daß alles
Wertvolle gerade Geld sein muß? Das Geld ist die nutzloseste und schmutzigste
Sache, die es auf Erden gibt. Es dient nur der Materie, dem Verbrechen und der
Hölle. Nur selten benützt es der Mensch zum Guten.»
«Wenn es also nicht Geld ist, was
ist es denn?»
«Drei Jünger, die von einem
Heiligen herangebildet wurden.»
«Dann bist du beim Täufer
gewesen. Oh! Aber warum?»
«Warum? ... Ihr habt mich immer,
und ihr alle zusammen seid weniger wert als ein einziger Fingernagel des
Propheten. War es da nicht gerecht, daß ich zum Heiligen Israels gegangen bin,
um ihm den Segen Gottes zu überbringen und ihn für das Martyrium zu stärken?»
«Aber wenn er heilig ist... so
braucht er doch keine Stärkung. Er schafft es aus eigenen Kräften! ...»
«Es wird der Tag kommen, da
"meine" Heiligen vor die Richter geführt und zum Tode verurteilt werden. Sie
mögen heilig und von der Gnade Gottes erfüllt sein; sie werden im Glauben, in
der Hoffnung und in der Liebe Trost finden, und doch höre ich jetzt schon
ihren Schrei, den Schrei ihrer Seele: "Herr, hilf uns in dieser Stunde!"
Nur mit meiner Hilfe werden meine
Heiligen in den Verfolgungen stark sein.»
«Aber wir werden nicht unter
ihnen sein, nicht wahr? Denn ich bin wirklich nicht fähig zu leiden.»
«Das stimmt, du bist nicht fähig
zu leiden. Doch du bist noch nicht getauft, Bartholomäus.»
«Doch, ich bin getauft.»
«Mit Wasser. Es fehlt dir aber
noch eine andere Taufe. Nach dieser wirst du imstande sein zu leiden.»
«Ich bin schon alt.»
«Als sehr alter Mann wirst du
noch stärker sein als ein Jüngling.»
«Aber du wirst uns dennoch
beistehen, nicht wahr?»
«Ich werde immer bei euch sein.»
170
«Ich werde versuchen, mich an das
Leiden zu gewöhnen», sagt Bartholomäus.
«Ich werde von nun an immer darum
beten, daß ich diese Gnade von dir erhalte», sagt Jakobus des Alphäus.
«Ich bin alt und bitte nur darum,
daß ich dir vorangehen und mit dir in den Frieden eingehen darf», sagt Simon
der Zelote.
«Ich weiß nicht, was ich
möchte... dir vorangehen oder in deiner Nähe bleiben, um mit dir zu sterben»,
sagt Judas des Alphäus.
«Ich würde viel leiden, wenn ich
dich überleben sollte. Doch ich werde mich damit trösten, daß ich dich den
Völkern verkündige», bekennt Judas Iskariot.
«Ich denke darüber wie dein
Vetter», sagt Thomas.
«Ich hingegen wie Simon der
Zelote», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Und du, Philippus ?»
«Ich... ich will nicht daran
denken. Der Ewige wird mir das geben, was für mich am besten ist.»
«Oh, schweigt doch! Es scheint
gar, als müßte der Meister schon bald sterben. Laßt mich nicht an seinen Tod
denken!» ruft Andreas aus.
«Das hast du gut gesagt, mein
Bruder. Du bist jung und gesund, Jesus. Du wirst uns alle begraben müssen, die
wir älter sind als du.»
«Aber, wenn man mich töten
würde?»
«Das soll nie geschehen; ich
würde deinen Tod in jedem Fall rächen.»
«Wie? Mit einer Blutrache ?»
«Eh! ... Auch damit, wenn du mir
die Erlaubnis dazu gibst. Anderenfalls werde ich durch das Bekenntnis meines
Glaubens unter den Völkern die gegen dich erhobenen Anklagen tilgen. Die Welt
wird dich lieben, weil ich unermüdlich im Predigen sein will!»
«Das ist wahr. So wird es sein,
und du, Johannes? Und du, Matthäus ?»
«Ich muß leiden und warten, bis
meine Seele mit großer Mühe reingewaschen sein wird», sagt Matthäus.
«Ich... ich weiß nicht. Ich
möchte gleich sterben, um dich nicht leiden sehen zu müssen. Ich möchte an
deiner Seite sein, um dich in deinem Todeskampf zu trösten. Ich möchte lange
leben, um dir lange dienen zu können. Ich möchte mit dir sterben, um mit dir
in den Himmel einzugehen. Alles möchte ich, weil ich dich liebe. Ich glaube
auch, daß ich, als der geringste unter meinen Brüdern, dazu fähig sein werde,
wenn ich dich vollkommen liebe. Jesus, vermehre deine Liebe!» sagt Johannes.
«Du willst wohl sagen: "Vermehre
meine Liebe"», bemerkt Judas Iskariot. «Denn wir sind es, die immer mehr
lieben sollen...»
«Nein, ich meine: "Vermehre deine
Liebe", denn wir werden um so mehr lieben, je mehr er durch seine Liebe in uns
das Feuer der Liebe entzündet.»
171
Jesus zieht den reinen,
begeisterten Johannes an sich, küßt ihn auf die Stirn und sagt dann: «Du hast
ein göttliches Geheimnis über die Heiligung der Herzen enthüllt. Gott ergießt
seine Liebe über die Gerechten, und je mehr diese sich seiner Liebe ergeben,
um so mehr vermehrt er die Liebe in ihnen und läßt sie an Heiligkeit zunehmen.
Dies ist das geheimnisvolle und unergründliche Wirken Gottes und der Seelen,
das sich in mystischem Schweigen vollzieht, und seine Macht, die mit
menschlichen Worten nicht auszusprechen ist, schafft unbeschreibliche
Kunstwerke der Heiligkeit. Es ist kein Irrtum, sondern Weisheit, Gott zu
bitten, er möge seine Liebe in einem Herzen vermehren.»
189. JESUS IN NAZARETH; «SOHN,
ICH WERDE MIT DIR KOMMEN»
Jesus ist allein. Er schreitet
rasch auf der Hauptstraße, die nach Nazareth führt, dahin und wendet seine
Schritte beim Betreten der Stadt sogleich seinem Hause zu. Als er in dessen
Nähe angelangt ist, sieht er seine Mutter, die ebenfalls nach Hause geht und
vom Neffen Simon begleitet wird, der ein trockenes Reisigbündel auf den
Schultern trägt. Er ruft sie: «Mutter!»
Maria wendet sich um und ruft
aus: «Oh! Mein gesegneter Sohn!»und beide eilen einander entgegen, während
Simon, der seine Last zu Boden geworfen hat, Maria nachahmt und seinem Vetter
entgegengeht den er herzlich begrüßt.
«Meine Mutter, ich bin gekommen.
Bist du nun glücklich?»
«So sehr, mein Sohn. Aber... wenn
du nur auf meine Bitte hin gekommen bist, so möchte ich dir sagen, daß es
weder mir noch dir erlaubt ist, mehr der Stimme des Blutes als jener der
Sendung zu gehorchen.»
«Nein, Mutter, ich bin auch
anderer Dinge wegen gekommen.»
«Es ist also wahr, mein Sohn? Ich
glaubte – ich wollte glauben – daß es lügnerische Gerüchte wären, und daß man
dich nicht so hassen würde...» Tränen sind in der Stimme und in den Augen der
Mutter.
«Weine nicht, Mutter. Bereite mir
nicht diesen Schmerz. Ich brauche dein Lächeln.»
«Ja, Sohn, ja! Es ist wahr. Du
siehst so viele harte und feindliche Gesichter, daß du viel Liebe und Lächeln
brauchst. Aber hier, siehst du, ist jemand, der dich für alle liebt...»
Maria hat sich leicht an ihren
Sohn gelehnt, der ihr den Arm um die Schultern legt. Sie versucht auf dem Weg
nach Hause zu lächeln, um jede Sorge im Herzen Jesu auszulöschen. Simon hat
sein Reisigbündel wieder auf seine Schultern genommen und geht neben Jesus
einher.
172
«Du bist blaß, Mutter. Hat man
dir viel Kummer bereitet? Bist du krank gewesen? Hast du dich zu sehr
abgemüht?»
«Nein, Sohn, nein! Ich habe sonst
keine Sorgen. Mein einziges Leid ist, dich fern und nicht geliebt zu wissen.
Doch hier sind sie alle sehr gut zu mir. Ich meine nicht nur Maria und
Alphäus, du weißt ja, wie sie sind. Aber auch Simon, siehst du, wie gut er ist
? So gut ist er immer. Er war mir in den letzten Monaten eine große Stütze.
Nun versorgt er mich mit Holz. Er ist so lieb, und auch Joseph, weißt du? Sie
sind so aufmerksam gegenüber ihrer Maria.»
«Gott segne dich, Simon, und er
segne auch Joseph. Daß ihr mich noch nicht als Messias liebt, kann ich euch
verzeihen. Oh, zur Liebe Christi werdet ihr noch gelangen. Aber wie könnte ich
euch verzeihen, wenn ihr sie nicht lieben würdet?»
«Maria zu lieben ist gerecht und
bedeutet Friede, Jesus. Aber auch du wirst geliebt... nur, weißt du, wir
machen uns große Sorgen um dich.»
«Ja, ihr liebt mich auf
menschliche Weise, doch ihr werdet auch noch zur anderen Liebe gelangen.»
«Aber auch du, mein Sohn, bist
blaß und abgemagert.»
«Ja, du scheinst älter geworden
zu sein. Auch ich sehe es», bemerkt Simon.
Sie betreten das Haus, und Simon
zieht sich rücksichtsvoll zurück, nachdem er die Reisigbündel an ihren Ort
gebracht hat.
«Sohn, da wir nun allein sind,
sage mir die Wahrheit, die ganze. Warum hat man dich vertrieben?» Maria hat
beim Sprechen die Hände auf die Schultern Jesu gelegt und blickt ihm ins
abgemagerte Antlitz.
Jesus lächelt sanft und müde:
«Weil ich versucht habe, die Menschen zur Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und
zum wahren Glauben zu führen.»
«Wer aber beschuldigt dich? Das
Volk?»
«Nein, Mutter, die Pharisäer und
die Schriftgelehrten, mit Ausnahme einiger Gerechter unter ihnen.»
«Aber was hast du getan, um von
ihnen beschuldigt zu werden?»
«Ich habe die Wahrheit gesagt.
Weißt du nicht, daß dies als größtes Vergehen in den Augen der Menschen gilt?»
«Was haben sie denn sagen können,
um ihre Anklagen zu rechtfertigen?»
«Lügen! Solche, die du kennst,
und andere dazu.»
«Nenne sie deiner Mutter. Lege
deinen ganzen Schmerz in mein Herz. Ein Mutterherz ist an den Schmerz gewöhnt
und erträgt ihn gerne, wenn es damit das Herz des Sohnes erleichtern kann. Gib
mir deinen Schmerz, Jesus. Setze dich hierher, wie du es als Kind tatest, und
mach dich frei von aller Bitterkeit.»
Jesus setzt sich auf ein Bänkchen
zu Füßen der Mutter und berichtet
173
alles, was während der letzten
Monaten in Judäa geschehen ist, ohne Groll und ohne etwas zu verhüllen.
Maria streicht ihm sanft übers
Haar, während sie mit einem heroischen Lächeln auf ihren Lippen gegen die
Tränen ankämpft, die in ihren blauen Augen schimmern. Jesus spricht auch von
der Notwendigkeit, sich gewissen Frauen zu nähern, um sie retten zu können,
und von seinem Schmerz darüber, daß er daran der menschlichen Bosheit wegen
gehindert ist. Maria stimmt zu und beschließt dann: «Sohn, du darfst mir
meinen Wunsch nicht versagen: von nun an werde ich mit dir kommen, wenn du von
hier weggehst, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit und an jeden Ort, wo es
auch sei. Ich will dich vor Verleumdung schützen. Meine Gegenwart wird den
Schmutz abwehren. Maria wird mit dir kommen. Sie wünscht es so sehr. Das
braucht es neben dem Heiligen und gegen Satan und die Welt: das Herz der
Mütter.»
190. IN KANA IM HAUS DER SUSANNA;
DER KÖNIGLICHE BEAMTE
Jesus ist anscheinend auf dem Weg
zum See. Jedenfalls erreicht er nun Kana und begibt sich zum Haus der Susanna.
Es begleiten ihn die Vettern.
Während sie dort eine Mahlzeit
einnehmen und sich ausruhen, und während man den Worten Jesu mit Interesse
zuhört, wie dies bei Verwandten oder Freunden von Kana stets der Fall sein
sollte, belehrt er diese guten Menschen in schlichter Weise. Jesus tröstet
auch den Mann im Kummer um seine Susanna, die krank zu sein scheint, da sie
nicht anwesend ist und man wiederholt von ihren Leiden spricht, tritt ein gut
gekleideter Mann ein und wirft sich Jesus zu Füßen nieder.
«Wer bist du? Was willst du?»
Während dieser noch seufzt und
weint, zieht der Herr des Hauses Jesus an einem Zipfel seines Gewandes und
flüstert: «Es ist ein Beamter des Tetrarchen. Traue ihm nicht zu sehr.»
«So sprich denn, was willst du
von mir?»
«Meister, ich habe erfahren, daß
du zurückgekehrt bist. Ich habe dich erwartet, wie man auf Gott wartet. Komm
sofort nach Kapharnaum. Mein Junge liegt schwer krank darnieder und seine
Stunden sind gezählt. Ich bin Johannes, deinem Jünger, begegnet und habe von
ihm erfahren, daß du auf dem Weg nach Kapharnaum seiest. Komm, komm schnell,
bevor es zu spät ist.»
«Du, der du ein Diener des
Verfolgers des Heiligen Israels bist, wie kannst du an mich glauben? Ihr
glaubt nicht an den Vorläufer des Messias, wie könnt ihr also an den Messias
glauben?»
174
«Es ist wahr, auf uns lasten die
Sünden des Unglaubens und der Hartherzigkeit. Doch habe Erbarmen mit einem
Vater! Ich kenne Chuza, und habe Johanna gesehen, vor und nach dem Wunder habe
ich sie gesehen, und da habe ich den Glauben gefunden.»
«So ist es. Ihr seid ein so
ungläubiges und verdorbenes Geschlecht, daß ihr ohne Zeichen und Wunder nicht
glaubt. Es fehlt euch die erste notwendige Eigenschaft, um ein Wunder zu
erlangen.»
«Das ist wahr! Alles, was du
sagst, ist wahr! Doch du siehst, ich glaube nun an dich und bitte dich, komm,
komm sofort nach Kapharnaum. Ich werde dir in Tiberias ein Boot besorgen,
damit du rascher vorwärtskommst. Aber komm, bevor mein Kind stirbt!», und er
weint verzweifelt.
«Ich werde vorerst nicht kommen.
Doch, gehe nach Kapharnaum. Dein Sohn lebt und ist von diesem Augenblick an
gesund.»
«Gott segne dich, mein Herr. Ich
glaube dir. Doch da ich möchte, daß mein ganzes Haus dir ein Fest bereite,
komm nach Kapharnaum in mein Haus.»
«Ich werde kommen. Leb wohl! Der
Friede sei mit dir!»
Der Mann verläßt eilends den
Raum, und kurz darauf hört man den Hufschlag eines Pferdes.
«Ist der Junge nun wirklich
geheilt?» fragt Susannas Mann.
«Glaubst du denn, daß ich lügen
könnte?»
«Nein, Herr! Doch du bist hier,
und der Junge befindet sich dort.»
«Mein Geist kennt weder Schranken
noch Entfernungen.»
«Oh, mein Herr, wie du bei meiner
Hochzeit Wasser in Wein verwandelt hast, wandle nun auch meine Tränen in ein
Lächeln. Heile meine Susanna!»
«Was wirst du mir dafür geben?»
«Die Summe, die du verlangst.»
«Ich beschmutze das, was heilig
ist, nicht mit Mammons Blut. Ich frage deine Seele, was sie mir geben will.»
«Mich selbst, wenn du willst.»
«Doch, wenn ich von dir ohne
Worte ein großes Opfer verlangen würde?»
«Mein Herr, ich bitte dich um die
leibliche Gesundheit meiner Frau und um die Heiligung von uns allen. Ich
glaube, daß ich kein Opfer als zu groß erachten darf, um dies zu erlangen...»
«Du fürchtest für deine Frau.
Aber wenn ich ihr das Leben wiederschenkte und sie dadurch für immer als meine
Jüngerin gewänne, was würdest du dann sagen?»
«Daß... daß du das Recht dazu
hast... und daß... und daß ich Abraham in seiner Bereitschaft zum Opfer
nachahmen werde.»
«Du hast es gut gesagt. Hört ihr
alle: die Zeit meines Opfers naht. Wie ein Strom eilt sie schnell und rastlos
ihrer Mündung entgegen. Ich
175
muß alles erfüllen, wozu ich
beauftragt bin, doch die menschliche Härte verschließt mir viele Gebiete
meiner Sendung. Meine Mutter und Maria des Alphäus werden mich nun begleiten,
wenn ich von hier aufbreche, um mich unter Menschen zu begeben, die mich noch
nicht lieben oder nie lieben werden. Meine Weisheit sagt mir, daß die Frauen
dem Meister auf diesem ihm verschlossenen Gebiet helfen können. Ich bin
gekommen, auch die Frauen zu erlösen, und in der künftigen Zeit, in meiner
Zeit, wird es Frauen geben, die gleich Priesterinnen dem Herrn und den Dienern
des Herrn dienen werden. Ich habe meine Jünger erwählt; doch um die Frauen
erwählen zu können, die nicht frei sind, muß ich um die Zustimmung der Väter
und der Gatten bitten. Willst du es ?»
«Herr... ich liebe Susanna.
Bisher habe ich sie mehr dem Fleisch als dem Geist nach geliebt. Doch, durch
deine Belehrung hat sich bereits etwas in mir gewandelt, und nun betrachte ich
in meiner Frau auch das Seelische, nicht nur das Körperliche. Die Seele gehört
Gott, und du bist der Messias, der Sohn Gottes. Ich kann dir nicht versagen,
was Gottes ist. Wenn Susanna dir folgen will, werde ich sie nicht daran
hindern. Nur bitte ich dich, wirke ein Wunder, heile sie am Leib und mich an
der Seele...»
«Susanna ist geheilt. Sie wird in
wenigen Stunden hierher kommen, um dir ihre Freude mitzuteilen. Laß ihre Seele
ihrem inneren Drang folgen und sprich nicht mit ihr über das, was ich dir
jetzt gesagt habe. Du wirst sehen, daß ihre Seele freiwillig zu mir kommen und
wie eine Flamme aufsteigen wird. Dadurch wird aber ihre Liebe als Gattin nicht
erlöschen. Sie wird vielmehr eine höhere Stufe der Liebe erreichen, um in
erhabenster Weise zu lieben: mit dem Geist.»
«Susanna gehört dir, Herr! Sie
hätte sterben müssen, langsam und unter schrecklichen Qualen. Wäre sie
gestorben, hätte ich sie tatsächlich auf dieser Welt verloren. Nun hingegen
werde ich sie weiterhin an meiner Seite haben, und sie wird mich mit sich auf
deine Wege führen. Gott hat sie mir gegeben und Gott nimmt sie mir. Der
Allerhöchste sei gepriesen, in seinem Geben und Nehmen.»
191. IM HAUS DES ZEBEDÄUS; SALOME
ANGENOMMEN ALS JÜNGERIN
Jesus befindet sich im Haus des
Jakobus und des Johannes, wie ich den Gesprächen der Anwesenden entnehme. Mit
Jesus sind, außer den beiden Aposteln Petrus und Andreas auch Simon der
Zelote, Judas Iskariot und Matthäus. Die anderen sehe ich nicht.
Jakobus und Johannes sind selig.
Sie kommen und gehen von der Mutter zu Jesus und umgekehrt wie Schmetterlinge,
die nicht wissen, welche
176
Blume unter zwei gleich geliebten
sie vorziehen sollen, und Maria Salome liebkost jedesmal glücklich ihre großen
Söhne, während Jesus dazu lächelt. Sie müssen soeben gespeist haben, denn die
Tafel ist noch gedeckt. Doch die beiden wollen unbedingt, daß Jesus auch von
den weißen Trauben esse, die die Mutter eingemacht hat und die süß wie Honig
sein müssen. Was würden sie Jesus nicht alles geben!
Salome aber möchte etwas mehr
geben und erhalten als Weintrauben und Liebkosungen. Nachdem sie Jesus und
Zebedäus eine Zeitlang nachdenklich betrachtet hat, beschließt sie zu handeln.
Sie geht zum Meister, der mit dem Rücken an den Tisch gelehnt sitzt, und kniet
vor ihm nieder.
«Was willst du, Frau?»
«Meister, du hast beschlossen,
daß deine Mutter und die Mutter des Jakobus und des Judas mit dir kommen
werden, auch Susanna und natürlich die große Johanna des Chuza werden dir
folgen. Alle Frauen, die dich verehren, werden kommen, wenn vorerst eine
gekommen ist. Auch ich möchte dabei sein. Nimm mich, Jesus. Ich werde dir in
Liebe dienen.»
«Du mußt dich um Zebedäus
kümmern. Liebst du ihn nicht mehr?»
«Oh, und wie ich ihn liebe! Doch
noch mehr liebe ich dich! Oh, ich will nicht sagen, daß ich dich als Mann
liebe. Ich bin sechzig Jahre alt und seit fast vierzig Jahren Gattin, und ich
habe nie einen anderen Mann als den meinen angesehen. Nun, da ich eine alte
Frau bin, werde ich nicht töricht, noch wird meines Alters wegen die Liebe für
meinen Zebedäus sterben. Aber du... Ich habe nicht reden gelernt. Ich bin eine
arme Frau. Ich sage es, wie ich kann. Also: Zebedäus liebe ich mit all dem,
was zuvor in mir war. Dich liebe ich mit all dem, was du in mir mit deinen
Worten und mit denen, die mir Jakobus und Johannes gesagt haben, gewirkt hast.
Es ist etwas ganz anderes... aber etwas so Schönes.»
«Es wird niemals gleich schön
sein wie die Liebe eines vortrefflichen Gatten.»
«Oh! Nein! Viel mehr wird es
sein! ... Oh, sei mir nicht böse, Zebedäus! Ich liebe dich noch mit all meinem
Wesen. Doch ihn liebe ich mit etwas, das zwar auch Maria ist, aber nicht mehr
Maria, jene erbärmliche Maria, deine Frau, sondern viel mehr... Oh, ich kann
es gar nicht ausdrücken!»
Jesus lächelt der Frau zu, die
ihren Gatten nicht beleidigen will und dennoch ihre große, neue Liebe nicht
verschweigen kann.
Auch Zebedäus lächelt würdevoll
und nähert sich seiner Frau, die immer noch kniet und sich abwechselnd zum
Gatten und zu Jesus wendet.
«Aber bist du dir bewußt, Maria,
daß du dein Haus verlassen müßtest? Du, die du so sehr an ihm hängst! Deine
Tauben... deine Blumen... jener Weinstock, der die süßen Trauben hervorbringt,
auf die du so stolz bist... deine Bienenstöcke, die ertragreichsten des
Ortes... und der Webstuhl, auf dem du so viel Linnen und Wolle gewoben hast
für deine Lieben... und
177
erst deine Enkelkinder? Wie wirst
du ohne deine kleinen Enkelkinder leben können?»
«Oh, mein Herr! Was sind schon
Mauern, Tauben, Blumen, Reben, Bienenstöcke und ein Webstuhl – alles gute und
teure Dinge – aber im Vergleich zu dir und zur Liebe zu dir sind sie unendlich
klein! Die Enkelkinder... ja, es wird schmerzlich sein, sie nicht mehr auf dem
Schoß in den Schlaf wiegen zu können und sie nicht mehr rufen zu hören... Doch
du bedeutest mir mehr! Oh, du bist mehr als alle diese Dinge, die du mir
aufgezählt hast! Und auch, wenn sie mir in meiner Schwäche alle
zusammengenommen so lieb oder lieber wären als dir zu dienen und nachzufolgen,
so würde ich sie unter Tränen, den Tränen einer Frau, von mir schieben, um dir
mit lächelnder Seele nachzufolgen. Nimm mich, Meister! Sagt es ihm, Johannes,
Jakobus... und du, mein Gemahl! Seid gut zu mir und helft mir alle.»
«Also gut, auch du wirst mit den
anderen kommen. Ich wollte, daß du gut über die Vergangenheit und die
Gegenwart nachdenkst; über das, was du zurückläßt, und das, was du auf dich
nimmst. Doch komm, Salome. Du bist reif, in meine Familie aufgenommen zu
werden.»
«Oh! Reif! Weniger reif als ein
Kind bin ich. Doch wirst du mir meine Fehler verzeihen und mich an der Hand
führen. Du... denn, ungebildet wie ich bin, werde ich mich vor deiner Mutter
und Johanna sehr schämen müssen. Vor allen werde ich mich schämen, nur nicht
vor dir, denn du bist der Gütige, alles verstehst du, alles entschuldigst du,
alles verzeihst du.»
192. JESUS SPRICHT ZU DEN SEINEN
VOM APOSTOLAT DER FRAU
«Was hast du, Petrus ? Du
scheinst mir unzufrieden», sagt Jesus, der auf einem kleinen Feldweg unter
blühenden Mandelbäumen daherkommt, die den Menschen künden, daß die schlimmste
Jahreszeit vorüber ist.
«Ich denke nach, Meister.»
«Du denkst nach, ich sehe es.
Doch dein Ausdruck sagt mir, daß du nicht über erfreuliche Dinge nachdenkst.»
«Aber du, der du alles von uns
weißt, weißt auch, worüber ich nachdenke.»
«Ja, ich weiß es bereits. Auch
Gott Vater kennt die Bedürfnisse des Menschen, doch er verlangt vom Menschen
das Vertrauen, das die eigenen Nöte darlegt und ihn um Hilfe bittet. Ich kann
dir nur sagen, daß du unrecht hast, wenn du dir darüber Kummer machst.»
«Dann ist also meine Frau dir
nicht weniger lieb?»
1170
«Aber nein, Petrus! Warum sollte
sie mir weniger lieb sein? Im Himmel hat mein Vater viele Wohnungen. Es gibt
viele Aufgaben für die Menschen auf Erden, und wenn sie in heiliger Weise
erfüllt werden, sind sie alle segensreich. Sollte ich dir vielleicht sagen,
daß alle Frauen, die nicht dem Beispiel Marias und Susannas folgen, von Gott
nicht geliebt sind?»
«O nein! Auch meine Frau glaubt
an den Meister, aber sie folgt doch nicht dem Beispiel der anderen», sagt
Bartholomäus.
«Auch die meine mit ihren
Töchtern nicht. Sie bleiben zu Hause und sind immer bereit, Gastfreundschaft
zu gewähren, wie sie es gestern getan haben», sagt Philippus.
«Ich glaube, auch meine Mutter
wird so handeln. Sie kann nicht alles verlassen... sie ist allein», sagt
Judas.
«Es ist wahr! Es ist wahr! Ich
war so betrübt, weil mir schien, die meine wäre... so wenig... Oh, ich weiß es
nicht auszudrücken!»
«Kritisiere sie nicht, Petrus !
Sie ist eine rechtschaffene Frau», sagt Jesus.
«Sie ist sehr schüchtern. Ihre
Mutter hat alle, Töchter und Schwiegertöchter, wie dünne Ruten gebogen», sagt
Andreas.
«Doch nach einem so langen
Zusammenleben mit mir hätte sie sich ändern dürfen!»
«Oh, Bruder! Du bist nicht sehr
sanft, weißt du? Auf einen Schüchternen wirkst du wie ein Klotz zwischen den
Beinen. Meine Schwägerin ist eine sehr gute Frau, und das ist dadurch
bewiesen, daß sie die Mutter mit ihrer Bosheit und dich mit deiner
Überheblichkeit stets mit Geduld ertragen hat.»
Alle lachen über die
unverschleierte Folgerung des Andreas und über das erstaunte Gesicht des
Petrus, der sich einen Überheblichen nennen hört.
Auch Jesus muß herzlich lachen.
Dann sagt er: «Die treuen Frauen, die sich nicht dazu berufen fühlen, ihr Heim
zu verlassen, um mir nachzufolgen, dienen mir ebenso durch ihr Zuhausebleiben.
Hätten alle mit mir kommen wollen, hätte ich einigen gebieten müssen, zu Hause
zu bleiben. Jetzt, da die Frauen sich uns anschließen, werde ich auch an sie
denken müssen. Es wäre weder anständig noch klug, wenn die Frauen, die uns
hierhin und dorthin begleiten werden, auf einmal keine Unterkunft hätten. Wir
können uns überall ausruhen. Die Frau hat andere Bedürfnisse und braucht eine
Unterkunft. Uns genügt ein Schlafraum für uns alle, sie jedoch könnten nicht
unter uns sein, einmal aus Achtung und zum anderen aus Rücksicht auf ihre
zartere Beschaffenheit. Man darf die Vorsehung Gottes nie herausfordern und
die menschliche Natur nie über die gegebenen Grenzen hinaus versuchen. Nun
mache ich aus jedem befreundeten Haus, wo sich eine eurer Frauen befindet,
eine Raststätte für ihre Schwestern. Aus deinem, Petrus, aus deinem,
Philippus, aus deinem,
Bartholomäus, und aus deinem,
Judas. Wir werden den Frauen unser rastloses Wandern nicht zumuten können. Wir
werden sie am Ort zurücklassen, von dem wir jeweils am Morgen aufbrechen und
zu dem wir am Abend zurückkehren. Wir werden sie in unseren Ruhestunden
unterweisen, so werden die Leute nicht mehr murren können, wenn andere
unglückliche Geschöpfe zu mir kommen, und mir wird es nicht mehr verwehrt
sein, sie anzuhören. Die Mütter und Ehefrauen, die uns folgen, werden bestimmt
sein zur Verteidigung ihrer Schwestern und meiner selbst gegen die
Verleumdungen der Welt. Ihr seht, daß ich eilige Besuche machen will an Orten,
wo ich Freunde habe oder haben werde. Dies geschieht nicht meinetwegen,
sondern um der Schwächsten unter den Jüngern willen, die mit ihrer Schwäche
unsere Kraft unterstützen und sie für viele, viele Geschöpfe nützlich werden
lassen.»
«Doch jetzt wollen wir nach
Caesarea gehen, wie du gesagt hast. Wer ist denn dort?»
«Geschöpfe, die sich nach dem
wahren Gott sehnen, gibt es überall. Der Frühling kündet sich schon an mit
diesem rosa Schleier von blühenden Mandelbäumen. Die Tage des Frostes sind
vorüber. In wenigen Tagen werde ich die Orte für den Aufenthalt und die
Unterkunft unserer Jüngerinnen festgelegt haben, worauf wir unsere Wanderungen
wieder aufnehmen werden, um das Wort Gottes zu verbreiten, ohne uns um die
Schwestern sorgen und ohne Verleumdungen befürchten zu müssen. Ihre Geduld und
ihre Sanftmut wird euch eine Lehre sein. Auch für die Frau wird bald die
Stunde der Wiedererlangung ihrer Würde kommen. Ein großes Blumenbeet von
Jungfrauen, Bräuten und Müttern wird in meiner Kirche sein.»
193. JESUS IN CAESAREA AM MEER ER
SPRICHT ZU DEN GALEERENSKLAVEN
Jesus befindet sich in der Mitte
eines weiten und recht schönen Platzes, der in eine sehr breite Straße
ausläuft, die fast eine Verlängerung des Platzes zu sein scheint und bis zum
Meeresufer führt. Eine Galeere hat gerade den Hafen verlassen und wird vom
Wind und den Ruderschlägen ins offene Meer getrieben. Eine andere dreht bei,
um in den Hafen zu gelangen, denn die Segel werden eingezogen und die Ruder
nur von einer Gruppe bewegt, um das Schiff zu wenden und in die gewünschte
Stellung zu bringen. Der Hafen ist vom Platz aus nicht sichtbar, doch kann er
nicht weit entfernt sein. Der Platz ist von großen Gebäuden umgeben mit den
charakteristischen Außenmauern, welche kaum eine Öffnung aufweisen. Nirgends
ein Laden.
180
«Wohin gehen wir nun? Du hast
hierher kommen wollen, statt in den östlichen Teil der Stadt zu gehen, und
hier wohnen die Heiden. Wer will dir hier schon zuhören?» rügt Petrus.
«Gehen wir zu jenem Winkel am
Meer. Dort werde ich sprechen.»
«Zu den Wellen?»
«Auch die Wellen sind von Gott
erschaffen worden.»
Sie gehen. Nun sind sie an der
Bucht angelangt und können von dort aus den Hafen überblicken, in den die
Galeere, die sie vorher gesehen hatten, langsam einläuft und dann anlegt.
Einige Seeleute schlendern müßig den Kai entlang. Obstverkäufer wagen es, sich
dem römischen Schiff zu nähern, um ihre Ware anzubieten. Das ist alles.
Jesus, der mit dem Rücken zur
Mauer steht, scheint tatsächlich zu den Wellen zu sprechen. Die Apostel sind
nicht besonders zufrieden mit dieser ganzen Lage; sie umringen ihn, teils
stehend, teils auf den Felsbrocken sitzend, die da und dort herumliegen und
ihnen als Bank dienen.
«Töricht ist der Mensch, der sich
mächtig, gesund und glücklich fühlt und sagt: "Was brauche ich schon mehr? Wen
brauche ich? Niemanden! Nichts fehlt mir, ich genüge mir selbst, daher gelten
für mich die Gebote und die Vorschriften Gottes oder die Sittengesetze nichts.
Mein Gesetz ist, das zu tun, wozu ich fähig bin, ohne darüber nachzudenken, ob
es nun gut oder schlecht für die anderen sei."»
Ein Händler, der die klangvolle
Stimme hört, wendet sich um und geht auf Jesus zu, der fortfährt: «So spricht
der Mann und die Frau ohne Weisheit und Glauben. Aber wenn sie damit auch
zeigen, daß sie eine mehr oder weniger hohe Stellung in der Gesellschaft
einnehmen, so beweist dies ebenfalls eine Verwandtschaft mit dem Bösen.»
Männer verlassen die Galeere und
andere Boote und kommen zu Jesus.
«Der Mensch zeigt nicht durch
Worte, sondern durch Taten, daß er mit Gott und der Tugend verwandt ist, wenn
er darüber nachdenkt, daß das Leben noch wechselhafter ist als die
Meereswelle, die sich heute ruhig zeigt und morgen tobt. Ebenso können sich
Wohlstand und Macht von heute auf morgen in Elend und Ohnmacht verwandeln. Was
wird dann der Mensch tun, der ohne Bindung an Gott lebt? Wie viele auf dieser
Galeere waren einst glücklich und mächtig, und nun sind sie Sklaven und werden
als Schuldige angesehen! Schuldig sein heißt, Sklave sein: Sklave des
menschlichen Gesetzes, das im Leichtsinn verhöhnt wird, denn es besteht und
bestraft seine Übertreter, und Sklaven Satans, der sich auf ewig den
Schuldigen aneignet, der nicht dazu kommt, seine Schuld zu verabscheuen.»
«Sei gegrüßt, Meister! Wie kommt
es, daß du hier bist? Erkennst du mich wieder?»
«Gott möge zu dir kommen, Publius
Quintilianus. Du siehst, ich bin gekommen!»
181
«Gerade hierher, in das römische
Viertel. Ich hoffte nicht mehr, dich je wiederzusehen. Aber es freut mich,
dich zu hören.»
«Auch ich freue mich, dich zu
sehen. Sind auf der Galeere dort viele an den Rudern?»
«Viele! Hauptsächlich
Kriegsgefangene. Interessieren sie dich?»
«Ich würde gerne zu diesem Schiff
hingehen.»
«Komm. Macht Platz, ihr!»
befiehlt er den wenigen, die sich ihnen genähert haben. Sie treten zur Seite
und stoßen Verwünschungen aus.
«Laß sie nur. Ich bin es gewohnt,
von Menschen umringt zu sein.»
«Bis hierher kann ich dich
führen, weiter nicht. Es ist eine Militärgaleere.»
«Es genügt mir. Gott vergelte es
dir.»
Jesus beginnt wieder zu reden,
während der Römer an seiner Seite in der prächtigen Uniform sein Leibwächter
zu sein scheint.
«Sklave kann man auch infolge
eines schmerzlichen Ereignisses geworden sein. Doch jede Träne, die auf ihre
Ketten fällt, jeder Peitschenhieb, der niedersaust und schmerzhafte Spuren auf
ihrem Körper zurückläßt, läßt ihre Fesseln leichter werden, veredelt in ihnen
das Unsterbliche, und bringt ihnen schließlich den Frieden Gottes, denn Gott
liebt seine armen, unglücklichen Kinder und wird ihnen ebensoviel Freude
schenken, wie sie hier Schmerzen zu ertragen hatten.»
An den Bordwänden der Galeere
zeigen sich Männer der Besatzung und hören zu. Die Galeerensträflinge kann man
natürlich nicht sehen. Doch sicher dringt durch alle Öffnungen für die Ruder
die mächtige Stimme Jesu zu ihnen, die in dieser ruhigen Stunde der Ebbe
weithin hörbar ist. Publius Quintilianus, der von einem Soldaten gerufen
worden ist, hat sich entfernt.
«Ich möchte diesen Unglücklichen,
die von Gott geliebt werden, sagen, daß sie ihren Schmerz ergeben tragen und
aus ihm nichts anderes machen sollen als eine Flamme, die bald die Ketten der
Galeere und des Lebens lösen wird. Verbringt diesen armseligen Tag, diese
dunkle, stürmische Zeit voller Ängste und Nöte, wie sie das Leben ist, im
Verlangen nach Gott, damit ihr in das Licht Gottes eingehen könnt, in das
strahlende Licht, wo es keine Angst und keine Qualen mehr geben wird. Ihr
werdet in den großen Frieden, in die unendliche Freiheit des Paradieses
eingehen, ihr Märtyrer eines bitteren Loses, wenn ihr nur in eurem Leiden gute
Menschen zu sein versucht und nach Gott strebt.»
Publius Quintilianus kehrt mit
anderen Soldaten zurück. Es folgen Sklaven mit einer Sänfte, der die Soldaten
Platz schaffen.
«Wer ist Gott? Ich spreche zu
Heiden, die nicht wissen, wer Gott ist. Ich spreche zu Kindern unterdrückter
Völker, die nicht wissen, wer Gott ist. In euren Wäldern, ihr Gallier, ihr
Iberer, ihr Thrazier, ihr Germanen und ihr Kelten, habt ihr etwas, was euch
Gott offenbart. Die Seele fühlt
182
sich von selbst zur Anbetung
gezogen, weil sie sich an den Himmel erinnert. Doch ihr versteht es nicht, den
wahren Gott zu finden, der eine Seele in euren Körper gelegt hat; eine Seele,
die der der Israeliten gleich ist, und gleich wie jene der mächtigen Römer,
die euch unterjocht haben; eine Seele, welche dieselben Pflichten und
dieselben Rechte dem Guten gegenüber hat, und der gegenüber der Gute, das
heißt, der wahre Gott, treu sein wird. Seid auch ihr dem Guten treu. Der Gott
oder die Götter, dessen oder deren Namen ihr auf den Knien der Mutter gelernt
und den ihr angebetet habt, der Gott, an den ihr vielleicht nicht mehr denkt,
weil ihr keinen Trost von ihm in eurem Leid empfangt, und den ihr in eurer
Verzweiflung vielleicht sogar zu hassen und zu verfluchen beginnt, ist nicht
der wahre Gott.
Der wahre Gott ist Liebe und
Barmherzigkeit. Waren vielleicht eure Götter so? Nein. Auch sie waren Härte,
Grausamkeit, Lüge, Scheinheiligkeit, Laster und Raub. Nun haben sie euch ohne
den Trost gelassen, der in der Hoffnung besteht, geliebt zu sein und nach so
viel Leiden die Gewißheit der Ruhe zu haben. So ist es, weil eure Götter keine
Götter sind. Gott, der wahre Gott, der Liebe und Barmherzigkeit ist und von
dem ich euch versichere, daß er existiert, ist auch der, der den Himmel, die
Meere, die Berge, die Wälder, die Pflanzen, die Blumen, die Tiere und den
Menschen erschaffen hat. Er flößt dem siegreichen Menschen Barmherzigkeit und
Liebe ein, wie er sie selbst den Geringen der Erde entgegenbringt. O ihr
Mächtigen, ihr Gebieter, bedenkt, daß ihr alle aus demselben Stamme
hervorgegangen seid. Geht nicht grausam gegen jene vor, die ein unglückliches
Schicksal euch in die Hände gegeben hat, und seid auch gegen die menschlich,
die ein Vergehen an die Ruderbank der Galeere gekettet hat.
Der Mensch sündigt oft. Niemand
ist ohne mehr oder weniger geheime Sünden. Wenn ihr das bedenken würdet, wäret
ihr bestimmt gut zu euren Brüdern, die weniger Glück als ihr gehabt haben und
für Fehler bestraft worden sind, die ihr vielleicht auch begangen habt, ohne
dafür bestraft worden zu sein. Die menschliche Gerechtigkeit ist in ihrem
Urteil äußerst fragwürdig, daß es schlimm wäre, wenn die göttliche
Gerechtigkeit auch so wäre. Es gibt Schuldige, die unschuldig zu sein
scheinen, und Unschuldige, die für schuldig befunden werden. Ich will hier
nicht die Ursachen dieser Ungerechtigkeiten untersuchen. Es ergäbe sich daraus
eine zu schwere Anklage gegen den ungerechten Menschen, der voll Haß gegen
seinen Nächsten ist! Es gibt Schuldige, die zwar solche sind, die aber unter
dem Drang übermächtiger Kräfte zum Verbrechen neigen, was ihre Schuld
teilweise vermindert. Seid also menschlich, ihr, die ihr in den Galeeren
gebietet. Über der menschlichen Gerechtigkeit steht eine weit erhabenere,
göttliche Gerechtigkeit, jene des wahren Gottes, des Schöpfers des Königs und
des Sklaven, des Felsens und des Sandkorns. Er sieht euch, euch, die ihr
rudert, und euch, die ihr der Rudermannschaft vorsteht, und
183
wehe, wenn ihr ohne Grund grausam
seid! Ich, Jesus Christus, der Messias des wahren Gottes, versichere euch:
Gott wird euch bei eurem Tod an eine ewige Galeere ketten und den Dämonen die
blutbeschmierte Peitsche überlassen, und ihr werdet geschlagen und gequält
werden, wie ihr selber geschlagen und gequält habt. Denn wenn es auch ein
menschliches Gesetz gibt, daß der Schuldige bestraft werde, so darf man in der
Strafe doch nicht das Maß überschreiten. Vergeßt dies nicht, denn der Mächtige
von heute kann der Elende von morgen sein. Gott allein ist ewig.
Ich möchte euer Herz umwandeln
und vor allem eure Ketten lösen, euch die verlorene Freiheit und Heimat
wiedergeben. Aber, ihr Galeerensträflinge, die ihr meine Brüder seid, und die
ihr mein Antlitz nicht sehen könnt, während ich euer Herz mit all seinen
Wunden und seiner Sehnsucht nach der irdischen Freiheit und Heimat, die ich
euch nicht geben kann, kenne, ihr armen Sklaven der Mächtigen, ich werde euch
eine weit wertvollere Freiheit und Heimat schenken. Euretwegen bin ich zum
Gefangenen und Heimatlosen geworden, und um euch loszukaufen werde ich mich
selbst hingeben, und für euch, auch für euch, die ihr nicht der Auswurf der
Menschheit seid, wie ihr genannt werdet, sondern eine Schande seid für den,
der das Maß in der Härte des Krieges und der Gerechtigkeit verliert: für euch
werde ich ein neues Gesetz auf Erden geben und eine herrliche Wohnstätte im
Himmel bereiten. Erinnert euch meines Namens, Kinder Gottes, die ihr jetzt
weint! Es ist der Name eures Freundes. Sprecht ihn aus in euren Qualen. Seid
versichert, daß ihr mich durch eure Liebe zu mir besitzen werdet, auch wenn
wir uns auf Erden nie sehen werden. Ich bin Jesus Christus, der Retter, euer
Freund.
Im Namen des wahren Gottes
schenke ich euch Trost. Möge der Friede bald über euch kommen.»
Die Menge, die großenteils aus
Römern besteht, hat sich um Jesus geschart, dessen neue Gedanken alle in
Erstaunen versetzt haben.
«Beim Jupiter! Du hast mich an
Dinge denken lassen, die mir nie in den Sinn gekommen wären, von denen ich
aber fühle, daß sie wahr sind...»
Publius Quintilianus betrachtet
Jesus nachdenklich und ergriffen zugleich.
«So ist es, Freund. Wenn der
Mensch den Verstand gebrauchte, dann würde er nicht soweit kommen und
Verbrechen begehen.»
«Beim Jupiter! Beim Jupiter!
Welch ein Wort! Ich muß es mir merken. Du hast gesagt: "Wenn der Mensch seinen
Verstand gebrauchte..."»
«... dann käme er nicht so weit,
Verbrechen zu begehen.»
«Das ist wahr, beim Jupiter!
Weißt du, du bist wirklich großartig.»
«Jeder Mensch könnte wie ich
sein, wenn er es wollte und mit Gott eins wäre.»
Der Römer wiederholt immer aufs
neue und mit wachsender Bewunderung seinen Ausruf: «Beim Jupiter!»; doch Jesus
fragt ihn: «Könnte ich
184
den Galeerensträflingen etwas
Trost spenden? Ich habe Geld... eine Frucht, eine Erleichterung, damit sie
wissen, daß ich sie liebe.»
«Gib her! Ich kann es tun, und
übrigens ist dort eine sehr einflußreiche Dame, die viel vermag; ich werde sie
fragen.» Publius geht zur Sänfte und spricht durch den ein wenig beiseite
geschobenen Vorhang. Dann kehrt er zurück. «Ich habe volle Befugnis und werde
selbst die Verteilung vornehmen, damit die Galeerenaufseher nicht mit deiner
Güte Mißbrauch treiben. Es wird das einzige Mal sein, daß ein kaiserlicher
Soldat Kriegsgefangenen Barmherzigkeit erweist.»
«Das erste, nicht das einzige
Mal. Es wird der Tag kommen, an dem es keine Sklaven mehr geben wird, und
zuvor werden meine Jünger unter die Galeerensträflinge und übrigen Sklaven
gegangen sein, um sie Brüder zu nennen.» Publius stößt wieder eine Reihe von
«Beim Jupiter!» aus, während er darauf wartet, daß ihm genügend Obst und Wein
für die Sträflinge gebracht wird. Bevor er dann die Galeere besteigt, nähert
er sich Jesus und flüstert ihm ins Ohr: «Dort drinnen sitzt Claudia Procula.
Sie möchte dich noch sprechen hören. Doch vorerst möchte sie dich etwas
fragen. Geh zu ihr.»
Jesus geht zur Sänfte.
«Sei gegrüßt, Meister!» Der
Vorhang wird ein wenig beiseite geschoben, und eine schöne Frau um die dreißig
wird sichtbar.
«Es möge in dir der Wunsch nach
Weisheit erwachen!»
«Du hast gesagt, daß sich die
Seele des Himmels erinnert. Ist das, von dem ihr sagt, daß es in uns ist, also
ewig?»
«Es ist ewig, unsterblich, und
deshalb erinnert es sich an Gott, an Gott, der es erschaffen hat.»'
«Was ist die Seele?»
«Die Seele ist der wahre Adel des
Menschen. Du bist ruhmreich, weil du aus dem Geschlecht der Claudier bist. Der
Mensch ist es in noch höherem Maße, weil sein Ursprung in Gott ist. Es handelt
sich um eine mächtige Familie, die jedoch einen Anfang nahm und ein Ende haben
wird. Im Menschen fließt, seiner Seele wegen, das Blut Gottes, denn die Seele
ist – da Gott reinster Geist ist – das geistige Blut des Schöpfers des
Menschen: des ewigen, mächtigen und heiligen Gottes. Der Mensch ist also ewig,
mächtig und heilig durch die Seele, die in ihm ist und die lebt, solange sie
mit Gott vereint ist.»
«Ich bin Heidin. Somit habe ich
keine Seele...»
«Du hast sie, doch sie ist in
einen tiefen Schlaf gefallen. Erwecke sie zur Wahrheit und zum Leben...»
' In seiner unendlichen Vatergüte
bewirkt Gott, daß in jeder Menschenseele ein Drang zum Urquell hin besteht,
aus dem sie hervorgeht, was die Grundlage des Naturgesetzes bildet, welches
auch im Wilden vorhanden ist.
185
«Leb wohl, Meister!»
«Die Gerechtigkeit möge dich für
sich gewinnen. Leb wohl!»
«Wie ihr seht, habe ich auch hier
Zuhörer gefunden», sagt Jesus zu den Jüngern.
«Ja, aber wer wird dich außer den
Römern verstanden haben? Es sind doch Barbaren!»
«Wer? Alle. Der Friede ist in
ihnen eingekehrt, und sie werden sich mehr als viele in Israel meiner
erinnern. Laßt uns zu dem Haus gehen, wo man uns zur Mahlzeit einlädt.»
«Meister, die Frau ist dieselbe,
die am Tag, als du den Kranken geheilt hast, mit mir gesprochen hat. Ich habe
sie gesehen und wiedererkannt», sagt Johannes.
«So seht ihr also, daß auch
jemand hier war, der auf uns gewartet hat. Doch scheint ihr mir nicht sehr
glücklich darüber zu sein. Viel habe ich an jenem Tag erreicht, an dem ich
euch zu überzeugen vermag, daß ich nicht nur für die Juden, sondern für alle
Völker gekommen bin, und daß ich euch für sie alle vorbereitet habe. Ich sage
euch jedoch, erinnert euch an alles, was euer Meister sagt und tut. Nichts
davon ist so unbedeutend, daß es nicht eines Tages zur Regel für euer
Apostolat werden müßte.»
Niemand antwortet, und Jesus
lächelt traurig und voller Mitleid.
194. HEILUNG DER KLEINEN RÖMERIN
IN CAESAREA
Jesus sagt:
«Kleiner Johannes, komm mit mir,
denn ich will dich eine Belehrung für die Gottgeweihten von heute schreiben
lassen. Bereite dich vor und schreibe.»
Jesus ist noch in Caesarea am
Meere. Er befindet sich nicht mehr auf jenem Platz von gestern, sondern mehr
im Innern der Stadt, von wo aus man jedoch ebenfalls den Hafen und die Schiffe
sehen kann. Hier gibt es viele Warenlager und Geschäfte, und auch auf der
Straße liegen Matten, auf denen verschiedene Waren zu Schau gestellt werden.
Ich nehme an, daß es in der Nähe des Marktes sein muß, der zur Bequemlichkeit
der Schiffsleute und der Käufer der auf dem Wasserwege transportierten Waren
nicht weit vom Hafen und von den Lagerhäusern gelegen ist. Hier herrscht viel
Lärm, der von einem andauernden Kommen und Gehen von Leuten begleitet wird.
Jesus wartet mit Simon und den
Vettern darauf, daß die anderen Jünger die nötigen Lebensmittel gekauft haben.
Kinder betrachten neugierig Jesus, der sie zärtlich liebkost, während er mit
seinen Aposteln spricht. Jesus sagt: «Es tut mir leid, Unzufriedenheit
bemerken zu müssen, wenn
186
ich mich Heiden nähere. Aber ich
kann nichts anderes als das tun, was ich tun muß, und mit allen gut sein.
Bemüht auch ihr euch, gut zu sein, wenigstens ihr drei und Johannes, die
anderen werden euch dann nachahmen.»
«Aber wie kann man zu allen gut
sein? Schließlich verachten und unterdrücken sie uns, sie verstehen uns nicht
und sind so lasterhaft...» entschuldigt sich Jakobus des Alphäus.
«Wie man zu allen gut sein soll?
Du bist doch zufrieden, der Sohn des Alphäus und der Maria zu sein?»
«Ja, sicher, aber warum fragst du
mich danach?»
«Wenn du von Gott vor der
Empfängnis gefragt worden wärest, hättest du als ihr Kind zur Welt kommen
wollen?»
«Aber ja. Ich verstehe nicht...»
«Wenn du nun aber der Sohn eines
Heiden gewesen wärest und man dich angeklagt hätte, daß du der Sohn eines
Heiden hast sein wollen, was hättest du dann gesagt ?»
«Ich hätte gesagt... Ich hätte
gesagt: "Es ist nicht meine Schuld. Ich bin sein Sohn, doch ich hätte
ebensogut der Sohn eines anderen sein können." Ich hätte auch gesagt: "Ihr
klagt mich ungerechterweise an. Wenn ich nichts Böses tue, warum haßt ihr mich
dann?"»
«Du hast es gesagt. Auch sie, die
ihr als Heiden verachtet, könnten dasselbe sagen. Es ist nicht dein Verdienst,
daß du der Sohn des Alphäus, eines wahren Israeliten, bist. Du kannst dem
Ewigen für diese große Gnade nur danken und dich aus Dankbarkeit und Demut
darum bemühen, andere, die diese Gnade nicht haben, zum wahren Gott zu führen.
Man muß gut sein.»
«Es ist schwer zu lieben, wenn
man einen Menschen nicht kennt!»
«Nein. Schau... Du, Kleiner, komm
einmal her.»
Ein etwa achtjähriger Junge, der
mit zwei anderen Knaben in einem Winkel gespielt hat, kommt herbei. Es ist ein
kräftiges Kind mit dunkelbraunem Haar und einer sehr hellen Hautfarbe.
«Wer bist du?»
«Ich bin Lucius, Cajus Lucius des
Cajus Marius. Ich bin Römer, der Sohn des Hauptmanns der Wachmannschaft, der
nach seiner Verletzung hier geblieben ist.»
«Wer sind diese beiden?»
«Es sind Isaak und Tobias. Aber
man darf es nicht sagen, denn es ist verboten... Sie würden Schläge bekommen.»
«Warum?»
«Weil sie Juden sind, und ich bin
Römer. Das ist nicht erlaubt.»
«Aber du bist doch mit ihnen
zusammen. Warum?»
«Weil wir uns gern haben. Wir
spielen immer zusammen, mit den Würfeln und dem Springseil. Aber so, daß man
uns nicht sieht.»
187
«Würdest du mich auch gern haben?
Ich bin ebenfalls Jude, bin aber kein Kind mehr. Denk einmal, ich bin ein
Lehrmeister, sozusagen ein Priester.»
«Das macht mir nichts aus. Wenn
du mich liebhast, so liebe ich dich auch... und ich habe dich gern, weil du
mich gern hast.»
«Woher weißt du das?»
«Weil du gut bist. Wer gut ist,
der liebt.»
«Seht ihr, Freunde? Dies ist das
Geheimnis der Liebe: gut sein! Wer gut ist, liebt, ohne sich Gedanken darüber
zu machen, ob der andere unsere religiöse Überzeugung hat oder nicht.»
Jesus, der den kleinen Cajus
Lucius an der Hand hält, geht hin und liebkost die kleinen erschrockenen
Judenknaben, die sich hinter einem Toreingang versteckt haben, und sagt: «Die
guten Kinder gleichen Engeln, und Engel haben nur eine Heimat: den Himmel. Sie
haben alle denselben Glauben: jenen an den einzigen Gott. Sie haben nur einen
Tempel: das Herz Gottes. Liebet euch immer wie Engel.»
«Aber wenn sie uns sehen,
schlagen sie uns...»
Jesus schüttelt traurig das Haupt
und antwortet nicht...
Eine hochgewachsene,
wohlgestaltete Frau ruft Lucius, und dieser löst sich von Jesus und ruft aus:
«Die Mutter!» und dann zur Frau: «Ich habe einen großen Freund, weißt du ? Er
ist ein Lehrmeister...»
Die Frau entfernt sich nicht mit
dem Kind, sondern geht vielmehr auf Jesus zu und fragt ihn: «Sei gegrüßt! Bist
du nicht der Mann aus Galiläa, der gestern unten am Hafen gesprochen hat?»
«Ich bin es.»
«Dann warte hier auf mich, ich
komme gleich zurück», und sie geht mit ihrem Kleinen davon.
Die anderen Apostel – außer
Matthäus und Johannes – sind inzwischen eingetroffen und wollen wissen: «Wer
war diese Frau?»
«Eine Römerin, glaube ich»,
antworten Simon und die anderen.
«Was wollte sie?»
«Sie hat gesagt, wir sollen hier
auf sie warten. Wir werden es gleich erfahren...»
Andere Leute haben sich
hinzugesellt und warten neugierig.
Die Frau kehrt mit anderen Römern
zurück. «Du bist also der Meister ?» fragt einer, der wie ein Diener aus einem
herrschaftlichen Hause aussieht. Nachdem ihm dies bestätigt worden ist, fragt
er weiter: «Würdest du Abscheu empfinden, die Tochter einer Freundin von
Claudia zu heilen? Das Kind hat Erstickungsanfälle und liegt im Sterben, und
der Arzt kennt die Ursache seines Leidens nicht. Gestern war es noch gesund.
Heute morgen liegt es im Todeskampf.»
«Laßt uns zu ihm gehen.»
Sie gehen nur einige Schritte auf
einer Straße, die zum Platz führt, wo
188
sie gestern waren, und kommen zum
weitgeöffneten Tor eines Hauses, das von Römern bewohnt zu sein scheint.
«Warte einen Augenblick.» Der
Mann geht rasch hinein und erscheint gleich wieder: «Komm!» sagt er.
Bevor Jesus jedoch eintreten
kann, kommt eine junge Frau von vornehmem Aussehen aus dem Haus, die sichtlich
verzweifelt ist. Sie trägt ein nur wenige Monate altes Kind auf den Armen, das
blau wie ein Erstickender ist. Ich würde sagen, daß es eine tödliche
Diphtherie hat und in den letzten Zügen liegt. Die Frau flüchtet sich an die
Brust Jesu wie ein Schiffbrüchiger auf eine Klippe. Sie schluchzt so stark,
daß sie nicht zu sprechen vermag.
Jesus nimmt das Kind, dessen
wächserne Händchen mit den schon ganz violetten Nägelchen verkrampft sind, und
hält es hoch. Das Köpflein fällt kraftlos nach hinten. Die Mutter ist – ohne
den Hochmut der Römerin gegenüber dem Juden – zu den Füßen Jesu in den Staub
niedergesunken und schluchzt mit erhobenem Antlitz. Ihre Haare sind halb
aufgelöst, während sie mit ausgestreckten Armen das Gewand und den Mantel des
Meisters zu berühren sucht. Hinter ihr und um sie herum stehen Römer aus dem
Hause und Jüdinnen aus der Stadt und schauen zu.
Jesus benetzt seinen rechten
Zeigefinger mit Speichel, steckt ihn in den kleinen keuchenden Mund und führt
ihn tief hinein. Das Kind schüttelt sich und wird noch dunkler. Die Mutter
schreit: «Nein! Nein!» und gleicht einer sich unter einer Klinge Krümmenden,
die sie verletzt. Die Menge hält den Atem an. Doch der Finger kommt mit einer
Ansammlung von eitrigem Schleim wieder zum Vorschein, und das Kind schlägt
nicht mehr um sich und beruhigt sich mit einem unschuldigen Lächeln. Es bewegt
die Händchen und die Lippen wie ein Vöglein, das in der Erwartung des Futters
piepst und mit den Flügeln schlägt.
«Nimm es, Frau. Gib ihm Milch. Es
ist geheilt.»
Die Mutter ist so außer sich, daß
sie das Kind nimmt und es, noch im Staube kniend, ganz närrisch küßt,
liebkost, ihm die Brust reicht und alles vergißt, was nicht ihr Kind ist.
Ein Römer fragt Jesus: «Wie hast
du das fertiggebracht? Ich bin der Arzt des Statthalters und habe studiert.
Ich habe versucht, das Hindernis zu entfernen, doch es war zu tief unten...
und du... einfach so...»
«Gelehrt bist du, doch der wahre
Gott ist nicht mit dir. Er sei gepriesen! Leb wohl!» Jesus will gehen.
Aber da ist eine kleine Gruppe
von Israeliten, die das Bedürfnis haben, sich einzumischen: «Wie kannst du dir
erlauben, dich Fremden zu nähern? Sie sind verderbt und unrein, und jeder, der
in ihre Nähe kommt, wird es selbst.»
Jesus blickt sie an – es sind
ihrer drei – eindringlich und streng und sagt – «Bist du nicht Aggäus, der
Mann aus Azot, der am letzten Tischri
189
hierher kam, um zu versuchen, mit
dem Händler, der am alten Brunnen wohnt, Geschäfte zu machen? Du, bist du
nicht Joseph aus Rama, der sich in diese Stadt begeben hat, um den römischen
Arzt aufzusuchen? Weißt du, warum ich den Grund hierfür kenne? Also, fühlt ihr
euch nicht unrein?»
«Der Arzt ist nie ein Fremder. Er
sorgt sich um den Körper, und der Körper ist bei allen gleich.»
«Die Seele ist es noch mehr als
der Körper. Übrigens, was habe ich denn geheilt? Den unschuldigen Körper eines
Säuglings; und dadurch hoffe ich, die nicht unschuldigen Seelen der Fremden zu
heilen. Folglich kann ich mich als Arzt und als Messias allen nähern.»
«Nein, das ist dir nicht
erlaubt.»
«Nein, Aggäus? Warum treibst du
mit einem römischen Kaufmann Handel?»
«Ich nähere mich ihm nur mit der
Ware und dem Geld.»
«Da du also sein Fleisch nicht
berührst, sondern nur das, was von seiner Hand berührt worden ist, glaubst du,
dich nicht zu verunreinigen? O ihr Blinden und Grausamen!
Hört alle zu: im Buche des
Propheten (Aggäus = Haggaj), dessen Name dieser Mann hier trägt, steht
geschrieben: "Richte an die Priester diese Gesetzesfrage: 'Wenn jemand
heiliges Opferfleisch im Zipfel seines Gewandes trägt und mit seinem Gewand
Wein oder Speise, Brot, Öl oder andere Nahrungsmittel berührt, sind diese dann
heilig?' Die Priester antworteten: 'Nein!' Alsdann fragte Aggäus: 'Wenn einer
durch die Berührung eines Toten verunreinigt worden ist und eines dieser Dinge
berührt, wird es dann unrein?' Die Priester antworteten: 'Ja."'
Durch diese zweideutige,
lügenhafte und widersprüchliche Verhaltensweise schließt ihr das Gute aus und
verurteilt es. Ihr anerkennt nur, was euch selbst zum Nutzen ist. Dann
schwinden Verachtung, Ekel und Abscheu. Nur solange es euch keinen
persönlichen Schaden verursacht unterscheidet ihr, ob etwas unrein ist und
unrein macht oder nicht. Wie könnt ihr, lügnerische Zungen, erklären, daß das,
was durch die Berührung mit heiligem Fleisch oder anderen heiligen Dinge
geheiligt worden ist, nicht auch heiligt, was es berührt ? Wie könnt ihr
behaupten, daß das, was durch die Berührung mit etwas Unreinem verunreinigt
worden ist, unrein macht, was mit ihm in Berührung kommt?
Seht ihr es denn nicht ein, daß
ihr euch selbst widersprecht, ihr lügnerischen Hüter eines Gesetzes der
Wahrheit und Nutznießer desselben? Ihr dreht es wie Hanf, wenn euch daran
gelegen ist, einen Vorteil daraus zu ziehen, ihr heuchlerischen Pharisäer, die
ihr unter dem Vorwand der Religion eurer menschlichen, nur rein menschlichen
Gehässigkeit freien Lauf laßt. Ihr Schänder dessen, was Gottes ist, ihr
Beleidiger und Feinde des Gesandten Gottes! Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
daß jede eurer
190
Handlungen, jeder eurer
Beschlüsse, jede eurer Gebärden durch ein ganzes Triebwerk an Verschlagenheit
zustandekommt, dem eure Selbstsucht, Leidenschaft, Unaufrichtigkeit, euer Haß,
Neid und eure Herrschsucht als Räder und Federn, als Zugschnur und Gewicht
dienen.
Schande! Habgierig, ängstlich
zitternd und mißgünstig lebt ihr in Hochmut und Furcht, daß einer euch
übertreffen könnte, selbst wenn dieser nicht einmal eurer Kaste angehört.
Deshalb verdient ihr, daß es euch genau so ergehe wie es jener androht, der
euch in Angst und Wut versetzt. Ihr, die ihr, wie Aggäus sagt, aus einem
Getreidehaufen von zwanzig Scheffel einen von zehn und aus fünfzig Fässern
zwanzig macht, und den Gewinn, der sich aus der Differenz ergibt, in eure
Tasche steckt, statt um den Menschen ein Beispiel zu geben und aus Liebe zu
Gott zu der Anzahl der Scheffel und der Fässer noch etwas für die Hungernden
hinzuzufügen. Ihr verdient, daß alle Werke eurer Hände durch einen glühend
heißen Wind, durch Rost und Hagel unfruchtbar bleiben.
Wer von euch kommt zu mir? Leute,
die für euch Schmutz und Abfall sind, die vollkommen Unwissenden, die nicht
einmal wissen, daß es einen wahren Gott gibt. Sie kommen zu dem, der ihnen
Gott in Worten und Werken vor Augen führt. Aber ihr, aber ihr! Ihr habt euch
eine Nische bereitet und bleibt dort wo ihr seid, teilnahmslos und kalt wie
Götzen in Erwartung der Beweihräucherung und Anbetung. Da ihr euch einbildet,
Götter zu sein, haltet ihr es für unnütz, euch in gebührender Weise um den
wahren Gott zu kümmern; und es scheint euch gefährlich, daß andere wagen, was
ihr selbst nicht wagen würdet. Ihr könnt es in der Tat nicht wagen, denn ihr
seid Abbilder von Götzen und Götzendiener zugleich. Wer aber wagt, ist auch
fähig, denn nicht er, sondern Gott wirkt in ihm.
Geht und berichtet denen, die
euch aufgetragen haben, mir auf den Fersen zu sein, daß ich empört bin über
jene Händler, die es nicht als Verunreinigung betrachten, die Güter, die
Heimat oder den Tempel denen zu verkaufen, die ihnen Geld geben. Sagt ihnen,
daß ich Abscheu vor Unmenschen empfinde, deren Kult nur dem eigenen Fleisch
und Geblüt gilt, und die es, um deren Heilung zu erlangen, nicht für eine
Verunreinigung erachten, den fremden Arzt aufzusuchen. Sagt ihnen, daß es nur
ein und nicht zwei Maße gibt. Sagt ihnen, daß ich, der Messias, der Gerechte,
der Ratgeber, der Bewunderungswürdige bin; der über sich den Geist des Herrn
mit seinen sieben Gaben hat; der nicht nach dem Anschein richtet, sondern nach
dem, was Geheimnis des Herzens ist; der nicht verurteilt, weil ihm etwas zu
Ohren gekommen ist, sondern der auf die Stimme des Geistes achtet, die er im
Innern eines jeden Menschen vernimmt; der die Geringen in seinen Schutz nimmt
und die Armen in Gerechtigkeit richten wird. Ich bin es, der bereits schon
jetzt richtet und heimsucht, die auf dieser Erde nichts als Erde sind. Der
Hauch meines Atems wird den Gottlosen vernichten und sein Nest zerstören,
während er Leben und Licht, Freiheit
191
und Friede für jene sein wird,
die von Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Glauben erfüllt, zu meinem heiligen
Berg kommen, um sich an der Wissenschaft des Herrn zu sättigen. So steht es
bei Isaias, nicht wahr?
Mein Volk! Alle Menschen stammen
von Adam ab, und Adam ist aus meinem Vater hervorgegangen. Alle sind das Werk
meines Vaters, und meine Aufgabe ist es, alle vor dem Vater zu versammeln. Ich
führe sie zu dir, o heiliger, ewiger, mächtiger Vater. Ich führe diese
irrenden Kinder, nachdem ich sie mit der Stimme der Liebe um mich versammelt
habe, vereint unter meinem Hirtenstab, gleich jenem, den Moses einst gegen die
tödlichen Schlangen erhob, auf daß du dein Reich und dein Volk besitzest. Ich
mache keine Unterschiede, denn im Innersten eines jeden Menschen sehe ich
einen Punkt, der heller leuchtet als Feuer: die Seele, einen Funken von dir,
du ewiger Glanz. O meine ewige Sehnsucht! O mein unermüdliches Verlangen!
Dies will ich. Danach sehne ich
mich glühend. Eine ganze Welt, die deinen Namen lobpreist. Eine Menschheit,
die dich Vater nennt. Eine Erlösung, die alle rettet. Einen gestärkten Willen,
der alle deinem Willen gehorsam macht. Einen ewigen Triumph, der das Paradies
mit einem Hosanna ohne Ende erfüllt...
O Vielzahl der Himmel! ... Ja,
ich sehe das Lächeln Gottes... es ist der Lohn für jede menschliche Härte.»
Die drei Israeliten sind unter
dem Hagel der Vorwürfe geflohen. Die anderen, Römer wie Juden, sind mit
offenem Munde stehengeblieben. Die Römerin mit dem kleinen Mädchen, das
gestillt und friedlich im Schoß der Mutter schläft, kniet noch immer zu Jesu
Füßen und weint aus mütterlicher Freude und seelischer Ergriffenheit. Viele
weinen, gerührt durch die mitreißenden Schlußworte Jesu, der in seiner
Entrückung zu lodern scheint.
Jesus, der seine Augen und seinen
Geist vom Himmel wieder der Erde zuwendet, sieht das Volk, sieht die Mutter...
und nach einem Zeichen des Abschieds an alle, streift seine Hand die junge
Römerin so, als wolle er sie für ihren Glauben segnen. Dann entfernt er sich
mit den Seinen, während die Menschen immer noch voller Staunen an derselben
Stelle verharren...
(Die junge Römerin könnte – wenn
es sich nicht um eine zufällige Ähnlichkeit handelt – eine der Römerinnen
sein, die mit Johanna des Chuza auf dem Weg zum Kalvarienberg waren. Da sie
dort niemand beim Namen gerufen hat, bin ich aber nicht ganz sicher.)
192
195. ANNALIA LEGT DAS GELÜBDE DER
JUNGFRÄULICHKEIT AB
Jesus, von Petrus, Andreas und
Johannes begleitet, klopft an die Tür seines Hauses in Nazareth. Seine Mutter
öffnet sofort, und ihr Antlitz leuchtet in einem strahlenden Lächeln, als sie
ihren Jesus sieht.
«Gut, daß du kommst, mein Sohn.
Seit gestern ist eine reine Taube bei mir, die auf dich wartet, Sie kommt von
weither, und ihre Begleitung konnte sich hier nicht länger aufhalten. Da sie
um Rat fragte, habe ich ihr so gut ich konnte geantwortet. Doch du allein,
mein Sohn, bist die Weisheit. Auch ihr anderen, seid willkommen. Kommt und
erquickt euch gleich.»
«Ja, bleibt hier. Ich will
sogleich zu diesem Geschöpf gehen, das auf mich wartet.»
Die drei sind neugierig, doch
jeder auf seine Art. Petrus schielt mit Interesse in alle Ecken und würde
wahrscheinlich auch gerne sehen, was jenseits der Mauern ist. Johannes scheint
auf dem lächelnden Antlitz Marias den Namen der Unbekannten lesen zu wollen.
Andreas hingegen, der feuerrot geworden ist, sieht Jesus fest an, und ein
stummes Flehen zittert in seinem Blicke und auf seinen Lippen.
Jesus aber achtet auf niemanden.
Während die drei sich schließlich in die Küche begeben, wo Maria ihnen mit
Speisen und Wärme des Feuers aufwartet, hebt Jesus den Vorhang, der die
Öffnung zum Garten verhüllt, und geht hinaus. Eine milde Sonne läßt die
blühenden Äste des hohen Mandelbaumes noch duftiger und unwirklicher
erscheinen. Der höchste Baum des Gartens ist auch der einzige, der schon in
Blüte steht, und die Pracht seines rosaweißen Seidenkleides hebt sich von der
Kahlheit der Birn-, Apfel-, Feigen-, Granatapfelbäume und der Weinstöcke ab.
Alle sind noch unbelaubt, während er reich in seinem duftigen Schleier und
lebendig im Vergleich zur grauen und eintönigen Bescheidenheit der Olivenbäume
erscheint. Seine langen Äste haben wohl ein leichtes Wölkchen eingefangen, das
sich am blauen Himmelszelt verirrt hatte, und sich damit geschmückt, um so
allen zu verkünden: «Die Hochzeit des Frühlings naht. Frohlockt, ihr Pflanzen
und Tiere. Die Zeit der Küsse mit den Winden, den Bienen und den Blumen ist
gekommen. Die Zeit der Küsse unter den Dachziegeln und im dichten Gestrüpp, o
ihr Vöglein Gottes, o ihr weißen Schafe! Heute die Küsse, morgen der
Nachwuchs, um das Werk unseres Schöpfergottes fortzuführen.»
Jesus steht mit über der Brust
gekreuzten Armen in der Sonne und lächelt der reinen, friedvollen Anmut des
Gartens der Mutter zu. Die Lilienbeete künden sich bereits mit den ersten
Trieben der Blätter an; die Rosenstöcke sind noch kahl, der silberne
Olivenbaum ist von anderen Blumen- und Gemüsebeeten umgeben. Rein, geordnet
und freundlich,
193
wie der Garten ist, scheint auch
er die keusche Reinheit vollkommener Jungfräulichkeit auszuströmen.
«Sohn, komm in mein Zimmer. Ich
werde sie zu dir führen, denn sie hat sich dort hinten verborgen, als sie die
vielen Stimmen hörte.»
Jesus betritt das Zimmer der
Mutter, den keuschen Raum, der die Worte des Zwiegesprächs mit dem Engel
vernommen hat, und noch mehr als der Garten den jungfräulichen, engelhaften,
heiligen Duft jener ausströmt, die ihn seit Jahren bewohnt, und den des
Erzengels, der hier seine Königin verehrt hat. Sind wirklich schon mehr als
dreißig Jahre seit dieser Begegnung vergangen, oder hat sie erst gestern
stattgefunden? Auch heute trägt der Spinnrocken sein weiches, silbrig
schimmerndes Wollfaserbündel, der Spindelstock ist voller Fäden, und eine
zusammengefaltete Stickerei liegt auf der Konsole bei der Tür, zwischen einer
Pergamentrolle und einem kupfernen Krug, in dem ein blühender Mandelzweig
steckt. Auch jetzt flattert der gestreifte Vorhang, der das Geheimnis der
jungfräulichen Wohnung verhüllt, beim leisesten Windhauch, und das Ruhelager,
das wohlgeordnet in seiner Ecke steht, sieht immer noch so hübsch aus, wie das
eines Mädchens an der Schwelle zur Jugend. Was für Träume wurden und werden
wohl auf dem flachen Kopfkissen noch geträumt? ...
Die Hand Marias hebt langsam den
Vorhang empor, und Jesus, der mit dem Rücken zur Tür diese Stätte der Reinheit
betrachtete, wendet sich
UM.
«Hier, mein Sohn. Ich führe sie
zu dir. Ein Lamm, und du bist ihr Hirte.» Maria, die mit einem dunkelhaarigen,
schlanken, jungen Mädchen an der Hand eingetreten ist, das beim Anblick Jesu
stark errötet, zieht sich behutsam zurück und läßt den Vorhang wieder
zurückfallen.
«Der Friede sei mit dir,
Mädchen!»
«Der Friede... Herr!» Das
Mädchen, das sehr erregt scheint, ist sprachlos geworden und kniet nieder, das
Haupt bis zum Boden geneigt.
«Erhebe dich! Was möchtest du von
mir? Hab keine Angst...»
«Ich habe keine Angst... nur...
nun, da ich vor dir stehe... nachdem ich mich so sehr danach gesehnt habe....
finde ich alles, von dem ich dachte, daß es so leicht und nötig sei, dir zu
sagen, nicht mehr... Es scheint mir nicht mehr dasselbe zu sein... Töricht bin
ich... verzeihe, mein Herr...»
«Möchtest du Gnaden für diese
Welt? Brauchst du ein Wunder? Hast du Seelen zu bekehren? Nein? Was dann? Nur
Mut, sprich! So viel Mut hast du gehabt, und nun fehlt er dir? Weißt du nicht,
daß ich derjenige bin, der die Tapferkeit vermehrt? Ja? Du weißt es? Also,
dann sprich wie zu einem Vater. Du bist jung. Wie alt bist du?»
«Sechzehn, mein Herr.»
«Woher kommst du?»
«Von Jerusalem.»
«Wie heißt du?»
194
«Annalia...»
«Der teure Name meiner Großmutter
und vieler heiliger Frauen Israels, und – mit diesen Frauen durch den Namen
vereint – der der guten, treuen, liebevollen und sanften Frau des Jakob. Er
wird dir Glück bringen. Du wirst eine vorbildliche Braut und Mutter werden.
Nein? Du schüttelst den Kopf? Du weinst? Bist du vielleicht zurückgewiesen
worden 9 Auch das nicht? Ist dein Verlobter gestorben? Oder hat dich noch
keiner erwählt ?»
Das junge Mädchen schüttelt
jedesmal den Kopf. Jesus macht einen Schritt auf es zu, streichelt und nötigt
es, das Haupt zu erheben und ihn anzusehen... Das Lächeln Jesu besiegt die
Aufregung des Mädchens. Es faßt Mut: «Mein Herr, ich könnte dank dir schon
Braut und glücklich sein. Erkennst du mich nicht wieder, mein Herr? Ich bin
die ehemals Lungenkranke, die Braut, die im Sterben lag, und die du auf die
Bitte deines Johannes hin geheilt hast... Nach der mir gewährten Gnade hatte
ich einen neuen, gesunden Körper anstelle des sterbenden, den ich vorher
hatte, und auch eine andere Seele... Ich weiß nicht, ich hatte das Gefühl,
nicht mehr ich selber zu sein... Doch die Freude, gesund zu sein und endlich
heiraten zu können – denn es war mein Schmerz im Sterben, daß ich nicht mehr
heiraten konnte – hat nur wenige Stunden gedauert. Doch dann...» Das Mädchen
wird immer ungezwungener und findet die Worte und Gedanken wieder, die es in
der Verwirrung, allein mit dem Meister zu sein, vergessen hatte. «Dann habe
ich erkannt, daß ich nicht selbstsüchtig sein, nicht einfach denken darf: "Nun
werde ich glücklich sein", sondern daß ich an etwas Höheres denken muß, an
etwas, das von dir und von Gott stammt, der dein und mein Vater ist, an einen
kleinen Beweis meiner Dankbarkeit. Ich habe viel darüber nachgedacht, und als
ich dann am ersten Sabbat nach der Heilung meinen Bräutigam sah, da sagte ich
zu ihm: "Höre, Samuel! Ohne das Wunder wäre ich in einigen Monaten gestorben,
und du hättest mich für immer verloren. Nun würde ich gerne mit dir zusammen
Gott ein Opfer darbringen, um ihm zu sagen, daß ich ihn preise und ihm danke!"
Da Samuel mich liebt, hat er sofort gesagt: "Laß uns zusammen zum Tempel gehen
und ein Opfer darbringen." Doch ich wollte nicht dies. Ich bin ein armes Kind
aus dem Volk, mein Herr. Ich weiß wenig und noch weniger vermag ich zu tun.
Doch als du deine Hand auf meine kranke Brust gelegt hast, ist nicht nur in
meine angegriffenen Lungen, sondern auch in mein Herz etwas eingedrungen: in
die Lungen die Gesundheit, ins Herz Weisheit. So habe ich verstanden, daß das
Opfer eines Lammes nicht das von meiner Seele gewollte Opfer sei, denn meine
Seele... meine Seele liebt dich.» Das Mädchen errötet und schweigt nach diesem
Liebesbekenntnis.
«Hab keine Furcht und sprich
weiter. Was war es, das deine Seele wünschte?»
195
«Dir, dem Sohn Gottes, etwas zu
opfern, das deiner würdig ist. Darum... darum dachte ich, daß es, da es für
Gott ist, etwas Geistiges sein sollte, nämlich das Opfer, mit unserer
Hochzeit, aus Liebe zu dir, meinem Retter, zu warten. Groß ist die Vorfreude
auf die Hochzeit, weißt du? Wenn man sich liebt, dann ist sie etwas Großes.
Ein Wunsch, eine Sehnsucht, sie zu vollziehen! ... Doch ich hatte mich in den
wenigen Tagen verändert. Die Hochzeit war für mich nicht mehr das
Erstrebenswerteste... Ich habe dies Samuel gesagt... und er hat mich
verstanden. Auch er hat für ein Jahr lang als Nasiräer leben wollen, beginnend
mit dem Tage, an dem die Hochzeit hätte stattfinden sollen, also dem Tag nach
den Kalenden des Adar. Derweilen ist er auf die Suche nach dir gegangen, um
den zu lieben und kennenzulernen, der ihm seine Braut wiedergegeben hat. Er
hat dich nach vielen Monaten am "Trügerischen Gewässer" gefunden. Auch ich war
mit ihm... und dein Wort hat mir mein Herz vollends umgewandelt. Nun genügt
mir das Gelübde von vorher nicht mehr... So wie der Mandelbaum draußen, der
nach einem monatelangen Scheintod unter der immer wärmer werdenden Sonne zu
neuem Leben erwacht ist und Blüten und dann Blätter und Früchte trägt, so hat
mein Wissen über das, was besser ist, zugenommen. Als ich schließlich nach
langem Nachdenken meiner und meines Wollens sicher war – denn ich hatte all
diese Monate hindurch nachgedacht – und das letzte Mal zum "Trügerischen
Gewässer" kam, warst du nicht mehr dort... Sie hatten dich fortgejagt. Ich
habe so viel geweint und gebetet, daß der Allerhöchste mich erhört und meine
Mutter dazu bewogen hat, mich einem Verwandten anzuvertrauen, der nach
Tiberias ging, um dort mit den Höflingen des Tetrarchen zu sprechen. Der
Gutsverwalter hatte mir gesagt, daß ich dich hier finden würde. Ich habe deine
Mutter dort gefunden... und ihre Worte und ihre Gegenwart in diesen Tagen
haben die Frucht deiner Gnade zur Reife gebracht.» Das Mädchen kniet nieder
wie vor einem Altar, mit über der Brust gekreuzten Armen.
«Gut, aber was möchtest du genau?
Was kann ich für dich tun?»
«Herr, ich möchte... ich möchte
etwas Großes, und du allein, der Spender des Lebens und der Gesundheit kannst
es mir geben, denn ich glaube, daß du das, was du geben, auch wieder nehmen
kannst... Ich möchte, daß du das Leben, das du mir geschenkt hast, wieder
nimmst, bevor das Jahr des Gelübdes verflossen ist...»
«Aber warum? Bist du Gott für die
erlangte Gesundheit nicht dankbar?»
«Doch, mein Dank kennt keine
Grenzen! Aus einem einzigen Grunde wünsche ich den Tod: da ich durch Gottes
Gnade und dein Wunder leben durfte, habe ich das Bessere erkannt.»
«Was ist das?»
«Als Engel zu leben. Wie deine
Mutter, mein Herr... wie du lebst... wie
196
dein Johannes lebt... Die drei
Lilien, die drei weißen Flammen, die drei Seligkeiten der Erde, Herr! Ja, denn
ich denke, daß der selig ist, der Gott besitzt, und daß Gott den Reinen
gehört. Der Reine ist, wie ich glaube, ein Himmel, mit seinem Gott in der
Mitte und Engeln um ihn herum... Oh, mein Herr! Dies möchte ich! ... Wenig
habe ich dich gehört, wenig deine Mutter, den Jünger und Isaak. Zu anderen,
die mir deine Worte hätten wiederholen können, bin ich nicht gegangen. Doch es
ist mir, als ob meine Seele dich immerfort vernehmen würde und du mein Meister
wärest... Nun habe ich es gesagt, mein Herr...»
«Annalia, du verlangst viel und
du gibst viel... Tochter, du hast Gott und die Vollkommenheit, zu der ein
Geschöpf aufsteigen kann, begriffen, um so dem Reinsten ähnlich und
wohlgefällig zu sein.» Jesus hat den braunhaarigen Kopf des vor ihm knienden
Mädchens zwischen seine Hände genommen und spricht vornübergebeugt zu ihm:
«Er, der aus einer Jungfrau geboren wurde – denn er konnte nur dort, wo Lilien
ihn umgaben, seine Wohnung nehmen – ist angeekelt von der dreifachen
Lüsternheit der Welt, Tochter. Er würde von soviel Ekel erdrückt werden, wenn
der Vater, der weiß, wovon sein Sohn lebt, seiner betrübten Seele nicht
liebevoll beistehen und sie stärken würde. Die Reinen sind meine Freude. Du
gibst mir das wieder, was mir die Welt mit ihrer endlosen Niederträchtigkeit
versagt. Der Vater sei gepriesen, und du, Mädchen, sei gesegnet! Geh hin und
sei getrost! Es wird etwas geschehen, was dein Gelübde ewig macht. Sei eine
der Lilien auf dem blutigen Wege des Christus.»
«Oh, mein Herr... ich möchte noch
etwas...»
«Was?»
«Ich möchte bei deinem Tod nicht
zugegen sein... Ich könnte es nicht ertragen, den sterben zu sehen, der mein
Leben ist.»
Jesus lächelt sanft und trocknet
mit seiner Hand zwei Tränen, die über ihr dunkelhäutiges Gesicht rinnen.
«Weine nicht. Die Lilien sind nie in Trauer. Du wirst mit allen Perlen deiner
Engelskrone lächeln, wenn du den gekrönten König in sein Reich eintreten
siehst. Geh nun! Der Geist des Herrn möge dich belehren, zwischen diesem und
dem anderen Kommen Christi. Ich segne dich mit den Flammen der ewigen Liebe.»
Jesus wendet sich dem Garten zu
und ruft: «Mutter! Hier ist eine kleine Tochter, ganz für dich. Nun ist sie
glücklich; doch tauche sie in deine Reinheit, jetzt und jedesmal, wenn wir zur
Heiligen Stadt gehen werden, damit sie als Schnee himmlischer Blüten den Thron
des Lammes schmücke.» Jesus kehrt zu den Seinen zurück, während Maria das
Mädchen liebkost und bei ihm bleibt.
Petrus, Andreas und Johannes
blicken Jesus fragend an. Das strahlende Antlitz Jesu verrät ihnen, daß er
glücklich ist. Petrus kann sich nicht der Frage enthalten: «Mit wem hast du so
lange gesprochen, mein Meister, und was hast du denn gehört, daß du vor Freude
strahlst?»
197
«Mit einer Frau, am Anfang ihres
Lebens, habe ich gesprochen, mit einer, die für viele, die noch kommen werden,
den Anfang darstellt.»
«Für wen?»
«Für die Jungfrauen.»
Andreas murmelt leise vor sich
hin: «Sie ist es nicht...»
«Nein, sie ist es nicht. Doch
werde nicht müde, geduldig und gut zu beten. Jedes Wort deines Gebetes ist wie
ein Ruf, wie eine Leuchte in der Nacht, die sie tröstet und führt.»
«Aber auf wen wartet denn mein
Bruder?»
«Auf eine Seele, Petrus. Es
handelt sich um ein großes Elend, das er in einen großen Reichtum verwandeln
will.»
«Wo hat Andreas sie denn
gefunden, da er sich doch nie rührt, nie spricht und nie etwas unternimmt?»
«Auf meinem Weg. Komm mit mir,
Andreas! Wir wollen zu Alphäus gehen und ihn und seine vielen Enkel segnen.
Ihr könnt im Hause des Jakobus und des Judas auf mich warten. Meine Mutter hat
es nötig, den ganzen heutigen Tag allein zu bleiben.» So trennen sie sich,
während das Geheimnis die Freude der ersten Seele, die aus Liebe zu Christus
das Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt hat, umhüllt.
196. DIE UNTERWEISUNG DER
JÜNGERINNEN IN NAZARETH
Jesus ist immer noch in seinem
Haus in Nazareth. Genauer gesagt, befindet er sich in der ehemaligen
Schreinerwerkstätte. Bei ihm sind die zwölf Apostel und seine Mutter sowie
Maria, die Mutter des Jakobus und des Judas, Salome, Susanna und zum ersten
Mal auch Martha. Eine sehr betrübte Martha mit deutlichen Tränenspuren unter
den Augen. Eine scheue und verängstigte Martha, weil sie sich so allein unter
fremden Menschen und vor allem bei der Mutter des Herrn befindet. Maria
versucht, sie mit den anderen Frauen bekannt zu machen und sie von dem Gefühl
des Unbehagens, unter dem sie leidet, zu befreien. Doch ihre zärtlichen
Bemühungen lassen das Herz der armen Martha anscheinend nur noch mehr
anschwellen. Immer neues Erröten und große Tränen wechseln sich ab unter dem
tief herabgezogenen Schleier, der ihren Schmerz verbirgt.
Johannes und Jakobus des Alphäus
treten ein. «Sie ist nicht da, Herr. Die Diener haben uns mitgeteilt, daß sie
mit ihrem Mann von einer Freundin eingeladen worden ist», sagt Johannes. «Sie
wird es sicher sehr bedauern. Aber sie wird dich immer wieder sehen können, um
von dir belehrt zu werden», beschließt Jakobus des Alphäus.
«Gut! Die Gruppe der Jüngerinnen
ist nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Aber ihr seht: für die
abwesende Johanna haben wir Martha,
198
die Tochter des Theophilus und
Schwester des Lazarus. Die Jünger wissen, wer Martha ist. Auch meine Mutter
weiß es. Auch du Maria, und vielleicht auch du, Salome, ihr wißt von euren
Söhnen, wer Martha ist, dies nicht so sehr als Frau nach weltlichen Begriffen,
sondern als Geschöpf in den Augen Gottes. Du, Martha, weißt deinerseits, wer
diese Frauen hier sind, die dich als Schwester betrachten und dich als
Schwester und Tochter sehr lieben werden. Du hast dies dringend nötig, gute
Martha, denn du brauchst auch den menschlichen Trost aufrichtiger Zuneigung,
den Gott nicht verurteilt, sondern dem Menschen gegeben hat, damit er ihm in
den Mühen des Lebens als Stütze diene.
Gott hat dich gerade in der von
mir gewählten Stunde hierher geführt, um so die Grundlage zu schaffen, ich
möchte sagen, das Leinengewebe, das ihr mit eurer Vollkommenheit als
Jüngerinnen besticken werdet. Jünger ist, wer der Regel seines Meisters und
seiner Lehre Folge leistet. Deshalb werden im weiteren Sinne alle jene Jünger
genannt werden, die nun ' und in den kommenden Jahrhunderten, meine Lehre
befolgen. Um nicht sagen zu müssen, Jünger Jesu gemäß der Lehre des Petrus
oder des Andreas, des Jakobus oder des Johannes, des Simon oder des Philippus,
des Judas oder des Bartholomäus, des Thomas oder des Matthäus, wird man sie
mit einem einzigen Namen benennen, der sie alle unter einem einzigen Zeichen
zusammenfaßt: man wird sie Christen nennen. Doch unter den vielen Menschen,
die sich meiner Regel unterordnen, habe ich schon die Ersten und die Zweiten
erwählt, und so wird es zu meinem Gedächtnis auch in den kommenden
Jahrhunderten weiter gehalten werden. Wie es im Tempel – und zuvor schon bei
Moses 1) – Hohepriester, Priester, Leviten,
____________
1) Von den vielen biblischen
Textstellen, die die Figur der Diener Gottes im Alten Gesetz und im Neuen
Gesetz vorbereiten, darstellen oder beschreiben, können folgende betrachtet
werden: Gen 4,1-6; 8,13-9,17; 14,17-24; 22,1-18; Ex 25-31; 35-40; Lev 8-10;
13-14; 16; 21-22; Num 3-4; 8; 11,16-30; 18; Dt 16,18-18,8; Matth 4,17-23; 9,9;
9,36-10,40; 16,13-20; 18,15-20; 28,16-20; Mark 1,14-22; 2,13-17; 3,13-19;
6,7-13; 16,14-20; Luk 5,1-32; 6,12-16; 9,1-6; 10,1-24; 24,44-53; Job 1,35-51;
10,1-21; 20,19-29; 21,1-23.
Wunderbar ist die Harmonie
zwischen dem Alten und dem Neuen Bund, denn es ist ein und derselbe Gott im
einen wie im anderen. Jesus kam nicht, um zu zerstören oder aufzuheben,
sondern um zu vervollkommnen, wie Matthäus in 5,17 sagt. Im Licht dieser
biblischen Zeugnisse und vieler anderer, und ihrer Übereinstimmung, erscheint
ganz deutlich, daß das Priestertum und die Hierarchie von Gott selbst
eingesetzt wurden: Er hat die körperlichen und geistigen Voraussetzungen dafür
festgelegt. In offenkundiger oder in geheimnisvoller Weise beruft er seine
Diener, weiht seine Auserwählten durch seine Stellvertreter, jedoch mit Riten,
die in ihrer wesentlichen Bedeutung auf Christus zurückgehen und heilige
Handlungen sowie Gebete enthalten, die unter seinem Einfluß entstanden sind;
und er bestimmt seine Diener zur mannigfaltigen Aufgabe, Mitwirkende Christi
zu sein: des Höchsten und Ewigen Priesters, in der Verherrlichung Gottes, zur
Belehrung, zur Heiligung und zum Heil des Volkes. Eine maßgebende
Zusammenfassung dieser Konzepte findet man in der Hl. Messe zu Ehren unseres
Herrn Jesus Christus, des Höchsten und Ewigen Priesters.
199
Vorsteher der verschiedenen
Dienste, Ämter und Behörden, Sänger usw., gab, so wird es auch in meinem neuen
Tempel, der groß wie die Erde sein und ebensolange dauern wird, Höhergestellte
und Untergeordnete geben, die alle nützlich und mir teuer sein werden.
Außerdem wird es auch einen neuen Stand geben: den der Frauen, die Israel
stets mißachtete, deren Wirken auf Gesang und Unterricht im Tempel beschränkt
war und denen niemals eine andere Aufgabe übertragen wurde.
Streitet euch nicht darüber, ob
dies gerecht war. Im geschlossenen Kult Israels und in der Zeit des göttlichen
Zorns war es richtig. Die ganze Schmach lastete auf der Frau, als der
Urheberin der Sünde. In der Weltreligion Christi und in der Zeit der Vergebung
wird nun alles anders. Alle Gnade hat sich in einer Frau vereinigt, und sie
hat diese der Welt geschenkt, auf daß die Welt erlöst werde. Die Frau ist
somit nicht mehr in Ungnade bei Gott, sondern sie ist seine Helferin. Dank
dieser einen Gott wohlgefälligen Frau, können nun alle Frauen Jüngerinnen des
Herrn werden; nicht auf die Art, wie es die Mehrheit ist, sondern als den
Priestern unterstellte Mitarbeiterinnen, als ihre Dienerinnen und wertvollen
Helferinnen. Auch der Gläubigen und Nichtgläubigen werden sie sich annehmen
und ihnen helfen, besonders denen, die nicht durch die Strenge des heiligen
Wortes, aber durch das heilige Lächeln einer meiner Jüngerinnen zu Gott
geführt werden können.
Ihr Frauen habt mich darum
gebeten, mir wie die Männer nachfolgen zu dürfen. Aber nur zu mir kommen, mich
anhören, meine Weisungen befolgen, das ist mir zu wenig von eurer Seite. Es
würde eure Heiligung bedeuten, das ist gewiß etwas Großes, und doch wäre es
mir noch zu wenig. Ich bin der Sohn des Absoluten und verlange von meinen
Auserwählten das Absolute. Alles verlange ich, weil ich alles gegeben habe.
Außerdem gibt es nicht nur mich,
sondern es gibt auch die Welt, dieses Ungeheuerliche, das die Welt ist.
Ungeheuerlich sollte sie sein, was ihre Heiligkeit anbelangt, unermeßlich in
Anzahl, Macht und Heiligkeit der vielen Kinder Gottes. Doch diese Welt ist
schrecklich in ihrer Bosheit. Ihre völlige Bosheit ist tatsächlich grenzenlos
in ihren Ausdrucksformen und in der Macht des Lasters. Alle Sünden sind in
dieser Welt, die nicht mehr aus einer Vielzahl von Kindern Gottes, sondern aus
einer Vielzahl von Kindern Satans besteht. Besonders die Sünde regiert, die
das deutliche Zeichen der Urheberschaft Satans trägt: der Haß. Die Welt haßt.
Wer haßt, sieht in allem, auch in den heiligsten Dingen, nur Schlechtes und
will dies auch den zu glauben machen, der es nicht sieht. Wenn ihr die Welt
fragt, warum ich auf diese Welt gekommen bin, so wird sie nicht sagen: "um
Gutes zu tun und zu erlösen" ' sondern: "um sie zu verderben und um sie
widerrechtlich an sich zu ziehen." Wenn ihr die Welt fragt, was sie von euch,
die ihr mir nachfolgt, denkt, so wird sie nicht sagen: "Ihr folgt ihm, um euch
zu heiligen und euren Meister mit eurer Heiligkeit und
200
Reinheit zu trösten", sondern sie
wird sagen: "Ihr folgt ihm, weil ihr von dem Manne verführt worden seid."
So ist die Welt, und ich sage
euch dies, damit ihr alles wohl erwägt, bevor ihr euch der Welt als
auserwählte Jüngerinnen, die ersten der zukünftigen Jüngerinnen und der Diener
des Herrn, zeigt. Nehmt euer Herz gut in die Hand und sagt ihm, diesem
feinfühligen Frauenherzen, daß ihr mit ihm von der Welt mit ihrer Verachtung,
Lüge und Grausamkeit verlacht, verleumdet und geschmäht sein werdet. Fragt
euer Herz, ob es sich stark genug fühlt, um alle Beleidigungen ohne
Entrüstungsschreie zu ertragen, und ohne jene zu verfluchen, die es verletzen.
Fragt es, ob es sich imstande fühlt, das moralische Martyrium der Verleumdung
zu ertragen, ohne schließlich die Verleumder zu hassen und sogar den, der die
Ursache dieser Behandlung ist. Fragt es, ob es, von der Mißgunst der Welt
getränkt, immer noch Liebe auszuströmen vermag; ob es, von Bitterkeit
vergiftet, immer noch fähig wäre, sanftmütig zu sein; ob es unter der Marter
des Unverstandenseins, des Spottes und der üblen Nachrede, immer noch lächeln
könnte, indem es zum Himmel weist als seinem Ziel, zu dem ihr die Menschen mit
eurer fraulichen Liebe hinführen wollt. Diese frauliche Liebe ist schon im
jungen Mädchen mütterlich; und mütterlich ist sie selbst, wenn sie älteren
Menschen gilt, die eure Großeltern sein könnten, die aber geistig wie
Neugeborene sind, unfähig zu verstehen und den Weg des Lebens, der Wahrheit
und der Weisheit zu erkennen, den ich euch durch die Hingabe meiner selbst,
der ich der Weg, die Wahrheit, das Leben und die Weisheit Gottes bin,
geschenkt habe. Ich werde euch immer lieben, selbst wenn ihr mir sagt: "Herr,
ich habe nicht die Kraft, für dich der ganzen Welt entgegenzutreten!"
Gestern hat mich ein junges
Mädchen gebeten, sie als Opfer anzunehmen, noch bevor die Stunde der Hochzeit
gekommen ist, da sie mich liebt, wie Gott geliebt werden soll; das heißt mit
ihrem ganzen Sein und mit der vollkommenen Hingabe ihrer selbst. Ich werde das
Opfer annehmen, aber ich verberge ihr die Stunde, damit ihre Seele, und mehr
noch das Fleisch als die Seele, nicht vor Angst erzittere. Ihr Tod wird dem
einer Blume gleichen, die ihre Blütenkrone eines Abends schließt im Glauben,
sie am nächsten Morgen wieder öffnen zu können. Dies wird sie aber nicht tun,
da der Kuß der Nacht ihr Leben in sich aufgenommen hat. Ich werde ihrem Wunsch
entsprechen und ihren Todesschlaf dem meinen nur um wenige Tage vorausgehen
lassen, damit sie nicht in der Vorhölle warten muß, sie, meine erste Jungfrau;
ich will sie nach meinem Sterben gleich dort finden...
Weinet nicht! Ich bin der
Erlöser... Doch jenes heilige Mädchen hat sich nicht darauf beschränkt, nach
dem geschehenen Wunder das Hosanna anzustimmen, sondern es verstand, mit dem
Wunder zu wirken -so wie man Geld nutzbringend anlegt – indem es von
menschlicher zu
201
übernatürlicher Dankbarkeit
aufstieg, von einem irdischen zu einem überirdischen Wunsch, und dabei eine
Reife zeigte, die der fast aller Menschen überlegen ist; ich sage, "fast",
denn unter euch, die ihr mir zuhört, gibt es einige, die diesem Mädchen in der
Vollkommenheit ebenbürtig, ja sogar überlegen sind. Es hat mich nicht gebeten,
mir folgen zu dürfen, vielmehr wünscht es, in der Verborgenheit seines Heimes
die Wandlung vom Mädchen zum Engel zu vollziehen. Dennoch liebe ich es so
sehr, daß ich mich in den Stunden der Abscheu vor der Welt dieses liebevollen
Geschöpfes erinnern und den Vater preisen werde, weil er mit diesen Blumen der
Liebe und der Reinheit meine Tränen und meinen Schweiß als Meister einer Welt,
die mich ablehnt, trocknet.
Doch wenn ihr wollt, wenn ihr den
Mut habt, die erwählten Jüngerinnen zu bleiben, dann will ich euch die Arbeit
anweisen, die ihr tun müßt, um eure Berufung und eure Anwesenheit bei mir und
den Heiligen des Herrn zu rechtfertigen. Ihr vermögt viel bei euren
Mitmenschen und bei den Dienern des Herrn.
Ich habe dies schon vor vielen
Monaten Maria des Alphäus angedeutet. Wie notwendig ist doch die Frau beim
Altare Christi! Das unendliche Elend der Welt kann von einer Frau viel besser
gemildert werden als von einem Mann; der Mann kann dann bei seiner endgültigen
Beseitigung noch mithelfen. Euch, meine Jüngerinnen, werden sich viele Herzen
offenbaren und besonders Frauenherzen. Ihr müßt sie aufnehmen wie wenn es eure
teuren, auf Abwege geratenen Kinder wären, die zum Vaterhause zurückkehren und
es nicht wagen, vor das Angesicht des Vaters zu treten. Ihr werdet jene sein,
die den Schuldigen trösten und den Richter besänftigen. Viele werden auf der
Suche nach Gott zu euch kommen. Ihr werdet sie wie müde Pilger aufnehmen und
ihnen sagen: "Hier ist das Haus des Herrn. Er wird gleich kommen", und bis
dahin werdet ihr sie mit eurer Liebe umgeben. Wenn ich nicht selbst komme, so
wird es ein Priester sein.
Es ist der Frau gegeben zu
lieben. Sie ist für die Liebe geschaffen. Sie hat die Liebe erniedrigt und sie
in Sinnlichkeit verkehrt; doch in ihrem Innersten ist immer noch die wahre
Liebe verankert, die Zierde ihrer Seele: die Liebe, frei vom herben Schlamm
der Sinne, mit Engelsflügeln versehen und von himmlischen Düften umgeben, eine
reine Flamme, nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen und aus Schöpferhand
hervorgegangen. Die Frau: das Meisterwerk der Güte im Meisterwerk der
Erschaffung des Menschen, von der es heißt: "Lasset uns Adam eine Gefährtin
schaffen, auf daß er nicht allein sei." (Gen 2,18-24) Sie darf also Adam nicht
verlassen. Bedient euch daher dieser Fähigkeit zu lieben und wirkt durch sie
in der Liebe zu Christus und für Christus zum Wohl des Nächsten. Seid
barmherzig gegen reuige Sünder. Sagt ihnen, daß sie Gott nicht fürchten
dürfen. Wie solltet ihr dazu nicht fähig sein, ihr, die ihr Mütter und
Schwestern seid? Wie oft waren eure kleinen Kinder, eure Geschwisterchen
202
krank und hatten einen Arzt
nötig! Und sie fürchteten sich. Ihr aber habt ihnen mit Liebkosungen und
liebevollen Worten die Angst genommen, und mit dem Händchen in eurer Hand wich
die Angst von ihnen, und sie ließen sich behandeln. Die Sünder sind eure
Brüder und kranken Kinder, und sie fürchten die Hand des Arztes und sein
Urteil... Nein, nicht so soll es sein; ihr, die ihr wißt wie gut Gott ist,
sagt es ihnen, und daß man sich vor ihm nicht zu fürchten braucht. Selbst wenn
er bestimmt und entschieden sagt: "Das darfst du nie mehr tun", so wird er
doch eine kranke Seele wegen ihrer früheren Sünden nicht abweisen. Er wird sie
vielmehr pflegen, und sie heilen.
Seid Mütter und Schwestern für
die Gerechten. Auch sie bedürfen der Liebe. Sie werden in der Verkündigung des
Wortes Gottes ermüden und sich verzehren. Sie können nicht alles bewältigen,
was zu tun sein wird. Helft ihnen diskret und emsig. Die Frau versteht es zu
arbeiten: im Haus, an Herd und Tisch, am Krankenlager, am Webstuhl und bei all
dem, was das tägliche Leben mit sich bringt. Die Zukunft der Kirche wird ein
ununterbrochenes Kommen von Pilgern zu den Stätten Gottes sein. Ihr selbst
sollt die ersten frommen Gastgeberinnen sein, und alle Arbeiten, auch die
niedrigsten, übernehmen, um den Dienern Gottes die Freiheit zu lassen, das
Werk des Meisters fortzusetzen.
Dann werden auch schwere, blutige
und grausame Zeiten kommen. Die Christen, auch die Heiligen, werden Stunden
des Schreckens und der Schwäche erleben. Der Mann ist nie sehr stark im
Leiden. Verglichen mit ihm, ist dagegen die Frau unübertroffen in ihrer
Leidensfähigkeit. Lehrt es den Mann, indem ihr ihn in diesen Stunden der
Angst, der Trostlosigkeit, der Tränen, des Überdrusses und des Blutes
ermutigt. In unserer Geschichte haben wir Beispiele wunderbarer Frauen, die
als Befreierinnen mutige Taten vollbracht haben. Wir haben Judith, Jaël...
Aber glaubt mir, keine ist bisher größer als die achtfache Märtyrerin, deren
sieben Söhne, und sie selbst, zur Zeit der Makkabäer den Heldentod starben.
Nach ihr wird eine andere kommen... Doch nach dieser wird es immer mehr Frauen
geben, die Heldinnen des Schmerzes und Heldinnen im Schmerz sein werden;
Frauen, die der Trost der Märtyrer und der Märtyrerinnen und die Engel der
Verfolgten sein werden; Frauen, stumme Priesterinnen, die durch ihre
Lebensweise Gott verkündigen und die, ohne eine andere Weihe als die der Liebe
Gottes, geweiht sein werden und dieser Weihe würdig sind.
Dies sind in großen Zügen eure
wichtigsten Aufgaben. Ich werde nicht viel Zeit haben, mich euch im besonderen
zu widmen. Doch ihr werdet euch bilden, indem ihr mir zuhört, und noch mehr
werdet ihr euch unter der vollkommenen Führung meiner Mutter bilden.
Gestern hat diese mütterliche
Hand (Jesus nimmt die Hand Marias in seine Hand) mir das Mädchen zugeführt,
von dem ich euch gesprochen
203
habe, und es hat gesagt, das
bloße Zusammensein mit meiner Mutter und das Ihrzuhören während weniger
Stunden habe genügt, um in ihr die Frucht der erlangten Gnade heranreifen zu
lassen und zu vervollkommnen. Es ist nicht das erste Mal, daß meine Mutter für
Christus, ihren Sohn, wirkt. Du und du, meine Jünger und meine Vettern
zugleich, ihr wißt, was Maria für die Seelen auf dem Weg zu Gott bedeutet, und
ihr könnt es denen sagen, die sich, wenn ich einmal nicht mehr unter euch sein
werde, sorgen, von mir für ihre Sendung nicht oder nur ungenügend vorbereitet
worden zu sein. In den Stunden, da ich nicht bei euch bin und später, wenn ich
einmal nicht mehr unter euch weilen werde, wird sie, meine Mutter, bei euch
sein. Sie wird bleiben, und mit ihr bleibt die Weisheit mit all ihren
Tugenden. Befolgt von nun an all ihre Ratschläge.
Gestern abend, als wir allein
waren und ich bei ihr saß, den Kopf an die so zarte und doch so starke
Schulter gelehnt wie einst, als ich noch ein Kind war, sagte sie mir – wir
hatten gerade von dem jungen Mädchen gesprochen, das in den ersten
Nachmittagsstunden weggegangen war mit einem Strahlen in ihrem jungfräulichen
Herzen, das schöner als jenes der Sonne am Himmel war – da sagte meine Mutter:
"Wie süß ist es doch, die Mutter des Erlösers zu sein!" Ja, wie wunderbar ist
es, wenn ein Geschöpf, das zum Erlöser kommt, schon ein Geschöpf Gottes ist,
in dem nichts als der Makel der Erbsünde ist, der nur durch mich abgewaschen
werden kann. Alle anderen kleinen Flecken der menschlichen Unvollkommenheit
sind bereits durch die Liebe getilgt.
Doch, meine süße Mutter, reinste
Führerin der Seelen zu deinem Sohne, heiliger Leitstern, sanfte Lehrmeisterin
der Gerechten, barmherzige Ernährerin der Geringsten, heilbringende Arznei der
Kranken: nicht immer werden zu dir nur solche kommen, die der Heiligkeit nicht
widerstehen... Aussätzige, grauenhaft vom Schmutz der Sünde verunreinigte
Geschöpfe, ganze Schlangengewirre voller Unrat werden bis zu deinen Füßen
kriechen, o Königin des Menschengeschlechts, um dir zuzurufen: "Erbarmen! Hilf
uns! Führe uns zu deinem Sohn!" und du wirst deine reinste Hand auf ihre
Wunden legen, deine Blicke paradiesischer Taubeneinfalt auf die höllischen
Auswüchse senken und den Gestank der Sünde einatmen müssen, ohne davor zu
flüchten. Ja, du wirst sogar diese von Satan verstümmelten Seelen, diese
Mißgeburten, diese Verwesenden an dein Herz drücken, sie mit deinen Tränen
reinwaschen und zu mir hinführen... Dann wirst du sagen: "Wie schwer ist es,
die Mutter des Erlösers zu sein!" Doch du wirst es tun, weil du die Mutter
bist... Ich küsse und segne diese deine Hände, die mir viele Menschen zuführen
werden, von denen jeder zu meinem Ruhme beitragen wird. Doch noch vor meinem
Ruhm wird es der deine sein, heilige Mutter.
Ihr, teure Jüngerinnen, folgt dem
Beispiel meiner Meisterin, die auch die Lehrerin des Jakobus, des Judas und
all derer ist, die sich in der Gnade
204
und der Weisheit heranbilden
wollen. Befolgt ihr Wort. Es ist mein Wort, nur klingt es süßer. Nichts ist
diesem Wort beizufügen, weil es das Wort der Mutter der Weisheit ist.
Ihr, meine Freunde, lernt von den
Frauen Demut und Beharrlichkeit und werft den männlichen Stolz ab, verachtet
die weiblichen Jünger nicht, sondern mäßigt eure Kraft, ich könnte auch sagen,
eure Härte und Unnachgiebigkeit, wenn ihr mit der Feinfühligkeit der Frauen in
Berührung kommt. Vor allem lernt von ihnen zu lieben, zu glauben und für den
Herrn zu leiden, denn in Wahrheit sage ich euch, daß sie, die Schwachen, die
Stärkeren im Glauben, in der Liebe, im Heldenmut und im Sichopfern für ihren
Meister sein werden. Sie lieben mit ihrem ganzen Wesen, ohne etwas zu
verlangen oder einen Lohn zu erwarten, einzig und allein um mir Trost und
Freude zu spenden.
Geht nun in eure Häuser oder in
jene, in denen ihr Gastfreundschaft gefunden habt. Ich bleibe bei meiner
Mutter. Gott sei mit euch!»
Alle entfernen sich, außer
Martha.
«Du kannst bleiben, Martha. Ich
habe mit deinem Diener bereits gesprochen. Heute ist es nicht Bethanien, das
Gastfreundschaft gewährt, sondern das kleine Haus Jesu. Komm! Du wirst an der
Seite Mariens zu Tische sitzen und im Kämmerchen neben dem ihrigen ruhen. Der
Geist Josephs, unser Trost, wird dich trösten, während du ruhst, und morgen
wirst du gestärkt und entschlossener nach Bethanien zurückkehren, um auch dort
Jüngerinnen heranzubilden, in Erwartung jener Frau, die mir und dir am
liebsten ist. Zweifle nicht, Martha. Ich verspreche nie etwas, ohne es zu
halten. Aber um aus einer Wüste voller Vipern einen Paradiesgarten zu machen,
braucht es viel Zeit... Die erste Arbeit sieht man nicht und man hat das
Gefühl, nichts wäre geschehen, und doch ist der Same bereits in die Erde
gelegt. Die Samen. Alle! Dann werden die Tränen kommen und wie der Regen die
Samen zum Keimen bringen... und die guten Bäume werden heranwachsen... Komm!
... Weine nicht mehr!»
197. JESUS SPRICHT AUF DEM SEE
MIT JOHANNA DES CHUZA
Jesus befindet sich im Boot des
Petrus auf dem See. Hinter ihm folgen zwei weitere Boote; das eine, ein
gewöhnliches Fischerboot, sieht dem des Petrus ähnlich; das andere hingegen
ist ein schmales, prächtiges Vergnügungsschiff und gehört Johanna des Chuza.
Doch sie selbst ist nicht in ihrem Boot. Sie sitzt zu Jesu Füßen im
schwerfälligen Boot des Petrus.
Der Zufall, möchte ich sagen, hat
sie wohl an einer Stelle des blühenden Seeufers von Genesareth
zusammengeführt. Das Ufer ist wundervoll im nun in Palästina erwachenden
Frühling, der mit Wolken erblühter
205
Mandelbäume die Gegend schmückt
und Knospen wie Perlen auf Apfel-, Granatapfel-, Birn- und Quittenbäume setzt.
Alles Bäume, die ihre volle Schönheit besonders in der Blüte- und Früchtezeit
entfalten. Vom Boot aus, das nun nahe an den sonnigen Gestaden entlanggleitet,
erblickt man Millionen von prallen Blütenknospen, die in Erwartung des
Aufbrechens zur Blüte an den Ästen schwellen, während die Blütenblätter der
frühen Mandelbaumblüten durch die stille Luft gaukeln, um sich dann auf den
klaren Wellen des Sees niederzulassen.
Die Ufer mit ihrem frischen Gras,
das grüner Seide gleicht, sind mit goldgelbem Hahnenfuß und strahlenden
Sternchen kleiner Margeriten übersät. An steifen Stielen, wie gekrönte
Königinnen, lächeln sanft und still wie kindliche Augensterne, die
himmelblauen Vergißmeinnicht. In ihrer Lieblichkeit scheinen sie der Sonne,
dem See und den anderen Blumen bejahend zuzunicken, glücklich darüber, blühen
zu dürfen; unter den gütigen Augen des Herrn blühen zu dürfen.
Zu Beginn des Frühlings erscheint
der See noch nicht in jener Üppigkeit, die ihn in den folgenden Monaten so
festlich kleidet, wenn die Natur in ihrer Pracht triumphiert. Es fehlt ihr
noch, ich möchte fast sagen, die sinnliche Pracht der abertausend Rosenstöcke,
die als kräftige Büsche die Gärten zieren oder als geschmeidige Ranken die
Mauern schmücken. Noch fehlen Tausende von Dolden des Goldregens und der
Akazien, Tausende von blühenden Nachthyazinthen, Tausende von wächsernen
Blumensterne der Zitrusfrüchte und jenes ganze Verschmelzen von Farben und
starken, milden und berauschenden Düften. All das, was die menschliche Gier
nach Genuß steigert und so diesen reinen Winkel der Erde entweiht, zu sehr
entweiht – den See von Tiberias, der von Ewigkeit her auserwählt war,
Schauplatz der vielfältigsten Wunder unseres Herrn Jesus Christus zu sein.
Johanna betrachtet Jesus, der von
der Schönheit seines galiläischen Sees entzückt ist, und ihr lächelndes
Antlitz ist der getreue Abglanz des Lächelns Jesu. In den anderen Booten wird
geredet. Hier herrscht Schweigen. Nur die nackten Füße des Petrus und des
Andreas, die das Boot manövrieren, erzeugen ein dumpfes Geräusch, und das
durch den Bug geteilte Wasser seufzt seinen Schmerz den Bootswänden entlang,
um dann hinter dem Heck, wo sich die Wunde wieder zu einem silbernen Schweif
schließt, fröhlich zu lachen. Diesen Schweif entzündet die Sonne, als wäre er
aus Diamantenstaub.
Schließlich unterbricht Jesus
seine Betrachtung und blickt seine Jüngerin an. Er lächelt ihr zu und fragt
sie: «Wir sind bald angekommen, nicht wahr? Du wirst denken, daß dein Meister
ein wenig liebenswürdiger Begleiter ist. Ich habe die ganze Zeit kein Wort zu
dir gesagt.»
«Doch ich habe die Worte auf
deinem Antlitz gelesen, Meister, und habe verstanden, was du zu den Dingen,
die uns umgeben, gesagt hast.»
206
«Was habe ich ihnen gesagt?»
«Liebet, seid rein und gut. Denn
ihr kommt von Gott, und aus seiner
Hand ist nie etwas Böses oder
Unreines hervorgegangen.»
«Du hast gut gelesen.»
«Aber, mein Herr, die Gräser tun
es wohl, die Tiere werden es tun. Und
der Mensch... warum tut er es
nicht, da er doch das vollkommenere Geschöpf ist?»
«Weil der Zahn Satans nur in den
Menschen allein eingedrungen ist.
Der Böse hat sich eingebildet,
den Schöpfer in seinem größten Wunderwerk, das ihm am ähnlichsten ist,
vernichten zu können.»
Johanna neigt das Haupt und denkt
nach. Es sieht so aus, als kämpften zwei gegensätzliche Gedanken in ihr. Jesus
beobachtet sie. Endlich blickt sie auf und sagt: «Herr, würdest du es
ablehnen, mit meinen heidnischen
Freundinnen zusammenzutreffen? Du
weißt... Chuza gehört dem Hofstaat an. Der Tetrarch, und mehr noch die wahre
Herrin des Hofes, Herodias, deren Willen Herodes sich fügt, schmeichelt, ja
huldigt den Römern aus dem Hause des Prokonsuls... weil es so Sitte ist, um zu
zeigen, daß man feiner ist als die übrigen Palästinenser, und um den Schutz
Roms zu genießen – und drängt sie auch uns fast auf. In der Tat muß ich
gestehen, daß die heidnischen Frauen nicht schlechter sind als wir. Auch unter
uns, besonders an diesen Gestaden, sind einige tief, ja sehr tief gefallen.
Doch
worüber können wir reden, wenn
nicht über Herodias? ... Als ich mein Kind verlor und erkrankte, waren sie
sehr gut zu mir, obwohl ich sie gar nicht gesucht hatte, und danach hat sich
diese Freundschaft erhalten.
Aber wenn du mir sagst, daß sie
nicht gut ist, will ich sie aufgeben. Nein? Danke, Herr! Vorgestern war ich
bei einer dieser Freundinnen. Es war ein Freundschaftsbesuch für mich, ein
Pflichtbesuch für Chuza. Es war ein
Befehl des Tetrarchen, der ...
hierher zurückkehren möchte, sich aber nicht sicher fühlt und so ...
eigennützige Verbindungen mit Rom anknüpft, um Rückendeckungen zu haben.
Außerdem... ich bitte dich... du bist doch ein Verwandter des Täufers, nicht
wahr? Sage ihm, er möge sich sehr in Acht nehmen. Er soll die Grenzen von
Samaria nie überschreiten. Vielmehr sollte er sich, wenn es ihm nicht unwürdig
erscheint, eine Zeitlang verbergen. Die Schlange nähert sich dem Lamm, und das
Lamm hat
viel zu befürchten. Von allen
Seiten. Er soll auf der Hut sein, Meister! Doch niemand darf erfahren, daß ich
es gesagt habe. Dies wäre der Ruin
Chuzas.»
«Sei beruhigt, Johanna. Ich werde
den Täufer auf eine Art warnen, die
ihm nützen und niemand schaden
wird.»
«Danke, Herr. Ich will dir
dienen... doch möchte ich damit nicht meinem Manne schaden. Ich... ich werde
auch nicht immer mit dir kommen können. Manchmal werde ich daheim bleiben
müssen, weil er es wünscht, und es ist recht so...»
207
«Das wirst du auch tun, Johanna.
Ich verstehe alles. Es ist nicht nötig, mehr darüber zu sagen.»
«Doch möchtest du sicher, daß ich
in den für dich gefahrvollen Zeiten bei dir bin?»
«Ja, Johanna, gewiß!»
«Oh, wie schwer ist es mir
gefallen, dir diese Dinge zu sagen und sagen zu müssen! Doch nun fühle ich
mich erleichtert...»
«Wenn du an mich glaubst, wirst
du dich immer erleichtert fühlen. Aber du sprachst von einer römischen
Freundin...»
«Ja, sie ist mit Claudia sehr
befreundet und, soviel ich weiß, auch mit ihr verwandt. Sie möchte gerne mit
dir sprechen oder dich wenigstens sprechen hören. Nicht nur sie allein wünscht
dies. Nachdem du die Tochter der Valeria geheilt hast und die Nachricht sich
mit Blitzesschnelle verbreitet hat, ist der Wunsch in ihnen noch lebhafter
geworden. Während des Gastmahls am vergangenen Abend wurden viele Stimmen für
und gegen dich laut, denn es waren auch Herodianer und Sadduzäer anwesend...
doch sie würden es leugnen, wenn man sie danach fragte... Es waren auch Frauen
da... reiche, aber... nicht ehrbare Frauen. Es war auch – und ich sage es dir
nur ungern, da ich weiß, daß du der Freund ihres Bruders bist -es war auch
Maria von Magdala mit ihrem neuen Freund und einer anderen Frau, ich glaube,
einer Griechin, die sich ebenso unzüchtig benahm wie sie, zugegen. Weißt du...
bei den Heiden sitzen die Frauen mit den Männern am gleichen Tisch, und das
ist sehr... sehr... Welch ein Unbehagen! Die Höflichkeit meiner Freundin hatte
mich zur Tischgenossin meines eigenen Mannes bestimmt; das war sehr beruhigend
für mich. Aber die anderen... oh! ... Nun, man sprach von dir, weil das Wunder
an Faustina Aufsehen erregt hat, und während die Römer in dir den großen Arzt
und Magier bewundern – verzeih, Herr – spuckten die Herodianer und die
Sadduzäer Gift und Galle auf deinen Namen, und Maria... oh, Maria! ... Welche
Schande! ... Sie hat mit dem Spott begonnen und dann... Nein, das kann ich dir
nicht sagen. Ich habe deswegen die ganze Nacht geweint ...»
«Laß sie nur machen. Sie wird
geheilt werden.»
«Aber es geht ihr gut, weißt du?»
«Körperlich. Alles übrige ist
vollkommen verseucht. Doch sie wird gesund werden.»
«Du sagst es... Die Römerinnen,
du weißt, wie sie sind... haben gesagt: "Wir fürchten uns nicht vor der
Zauberei, noch glauben wir an Märchen. Wir wollen uns selbst ein Urteil
bilden", und nachher haben sie mich gefragt: "Könnten wir ihn nicht einmal
hören?"»
«Sag ihnen, daß ich am Ende des
Monats Schebat in deinem Hause sein werde.»
«Ich werde es ihnen sagen, Herr.
Glaubst du, daß sie sich zu dir bekehren würden?»
208
«Es gibt unendlich viel in ihnen
zu erneuern. Zuerst muß zerstört werden, dann kann man wieder aufbauen. Doch
es ist nicht unmöglich. Johanna, da ist dein Haus mit seinem Garten. Wirke
darin für deinen Meister, so wie ich es dir aufgetragen habe. Leb wohl,
Johanna! Der Herr sei mit dir! Ich segne dich in seinem Namen.»
Die Barke legt an. Johanna
bittet: «Willst du wirklich nicht kommen ?»
«Vorerst nicht. Es gilt, die
Flammen in den Seelen neu anzufachen. In den wenigen Wochen meiner Abwesenheit
sind sie fast erloschen, und die Zeit drängt!»
Das Boot hält in einer kleinen
Bucht, die in den Garten des Chuza hineinreicht. Diener eilen herbei, um der
Herrin beim Aussteigen zu helfen. Das herrschaftliche Boot folgt jenem von
Petrus zum Landesteg, und nachdem Johannes, Matthäus, Judas Iskariot und
Philippus in das Boot des Petrus umgestiegen sind, stößt es ab und nimmt
seinen Kurs zum gegenüberliegenden Ufer.
198. JESUS IN GERGESA; DIE JÜNGER
DES JOHANNES
Jesus spricht in einer Stadt, die
ich noch nie gesehen habe. So scheint es mir jedenfalls, denn mehr oder
weniger gleichen sich die Städte alle, und es ist nicht leicht, sie auf den
ersten Blick auseinanderzuhalten. Auch hier führt eine Straße am See entlang,
und am Ufer liegen Boote. Häuser und Häuschen reihen sich längs der Straße
aneinander, doch die Hügel sind hier viel weiter entfernt, und das Städtchen
liegt in einer anmutigen Ebene, die bis zum Ostufer reicht und durch die
Hügelkette vor den Winden geschützt ist. So hat die Sonne die Bäume hier mehr
noch als in anderen Gegenden zu voller Blüte gebracht.
Mir scheint, die Predigt habe
schon begonnen, denn Jesus sagt: «... Es ist wahr. Ihr sagt: "Wir werden dich
nie verlassen, denn dich verlassen würde bedeuten, Gott verlassen." Aber, ihr
Leute von Gergesa, bedenkt, daß nichts wandelbarer ist als das menschliche
Denken. Ich bin überzeugt, daß ihr es in diesem Augenblick wirklich ehrlich
meint. Mein Wort und das Wunder haben euch in diesem Sinn begeistert, und
daher seid ihr jetzt aufrichtig in dem, was ihr bezeugt. Doch ich möchte euch
an eine Begebenheit erinnern, eine der vielen aus Gegenwart und Vergangenheit,
die ich hier anführen könnte:
Josua, der Diener des Herrn,
versammelte vor seinem Tod alle Stämme mit ihren Ältesten, Oberhäuptern,
Richtern und Amtspersonen und sprach zu ihnen von Gott. Er erinnerte sie an
alle Wohltaten und Wunder, die ihnen vom Herrn durch seinen Diener gewährt
wurden. Nachdem er
209
ihnen alles aufgezählt hatte,
ermahnte er sie, alle Götter zurückzuweisen und dem Herrn allein zu dienen,
oder wenigstens so aufrichtig im Glauben zu sein, sich in ehrlicher Weise für
den wahren Gott oder für die Götter Mesopotamiens und der Amoriter zu
entscheiden, auf daß eine klare Trennung zwischen den Söhnen Abrahams und
jenen, die zum Heidentum übergegangen sind, bestehe.
Besser ein mutiger Fehler, als
ein scheinheiliges Bekenntnis und ein Glaubensgewirr, das Gott ein Greuel ist
und für die Seelen den Tod bedeutet. Nichts ist einfacher und verbreiteter als
dieses Durcheinander aus verschiedenen Religionen. Dem Anschein nach handelt
es sich um etwas Gutes, doch sein Kern ist nicht gut. Auch heute noch, Brüder,
immer noch gibt es jene Gläubigen, welche die Erfüllung des Gesetzes mit dem
vermischen, was von Gesetzes wegen verboten ist. Immer noch gibt es jene
Unglücklichen, die wie Betrunkene zwischen Gesetzestreue und den vorteilhaften
Geschäften und Kompromissen mit den Übertretern des Gesetzes umhertaumeln und
sich bereichern. Es gibt jene Priester, jene Schriftgelehrten und Pharisäer,
die aus dem Dienst Gottes nicht mehr Zweck und Ziel ihres Lebens machen,
sondern eine geschickte Politik, um über die anderen zu triumphieren und die
Ehrbaren ihrer Gewalt zu unterwerfen. Sie sind eben nicht Diener Gottes,
sondern Diener einer zur Verwirklichung ihrer Absichten starken und wertvollen
Macht. Sie sind nur Heuchler, die unsern Gott mit fremden Göttern vermischen.
Da antwortete das Volk Josua:
"Nie werden wir den wahren Gott verlassen, um fremden Göttern zu dienen."
Josua entgegnete ihm das, was ich euch über die heilige Eifersucht des Vaters
gesagt habe, über seine Forderung, als Einziger geliebt zu werden und mit
unserem ganzen Sein und über seine gerechte Strafe, die die Lügner trifft. Die
Strafe! Gott kann strafen, wie er Wohltaten spenden kann. Man wird nicht nur
nach dem Tode belohnt oder bestraft. Schau, Volk der Hebräer, ob Gott dich
nicht einmal, zweimal, ja zehnmal für deine Missetaten bestraft hat, nachdem
er dir soviel Gutes erwiesen hatte: er befreite dich von den Pharaonen, er
führte dich durch die Wüste und alle Gefahren zur Sicherheit, er rettete dich
vor den Nachstellungen der Feinde und gewährte dir, eine große, geachtete und
ruhmreiche Nation zu werden! Betrachte, was nun aus dir geworden ist! Ich, der
ich dich dem frevelhaftesten Götzendienst ergeben sehe, erkenne auch den
Abgrund, in den du infolge deines Verharrens in den alten Sünden stürzen
wirst. Ich ermahne dich daher, Volk, das ich zweifach mein Eigen nenne, da ich
dein Erlöser bin und aus dir geboren wurde. Ich spreche nicht aus Haß, Groll
oder Unnachgiebigkeit. Diese meine Mahnung entspringt, wenn sie auch streng
ist, meiner Liebe.
Josua sagte alsdann: "Ihr seid
Zeugen: ihr habt den Herrn gewählt", und alle antworteten: "Ja." Josua, der
nicht nur tapfer, sondern auch weise war und wußte, wie wankelmütig der Wille
des Menschen ist, schrieb
210
hierauf in das Buch alle Worte
des Gesetzes und des Bundes und legte diese Satzungen in den Tempel und auch
ins Heiligtum des Herrn zu Sichern, das zu dieser Feier das Zelt enthielt. Er
richtete einen großen Stein zum Zeugnis auf und sprach: "Dieser Stein, der
eure Worte an den Herrn vernommen hat, soll Zeuge sein, auf daß ihr den Herrn,
euren Gott, nicht verleugnen und belügen könnt."
Ein Stein, so groß und hart er
auch sein mag, kann vom Menschen, von einem Blitz, vom Wasser und von der
Witterung in Staub verwandelt werden. Ich aber bin der ewige Eckstein und kann
nicht vernichtet werden. Belügt nicht diesen lebendigen Stein. Liebt ihn nicht
nur deshalb, weil er Wunder wirkt. Liebt ihn, weil ihr durch ihn den Himmel
erlangen werdet. Ich wünschte, daß ihr gläubiger und dem Herrn getreuer wäret.
Ich sage nicht "mir", denn ich bin nur, weil ich die Stimme des Vaters bin.
Doch wenn ihr mich schmäht, beleidigt ihr auch den, der mich gesandt hat. Ich
bin das Mittel. Er ist alles. Sammelt von mir und bewahrt in euch, was heilig
ist, um zu diesem Gott zu gelangen. Liebt nicht den Menschen in mir, liebt den
Messias des Herrn nicht der Wunder wegen, sondern weil er in euch das innere
und erhabene Wunder eurer Heiligung wirken will.»
Jesus segnet das Volk und begibt
sich zu einem Haus. Er ist schon fast auf der Schwelle, als er von einer
Gruppe älterer Männer aufgehalten wird, die ihn ehrfürchtig grüßen und sagen:
«Dürfen wir dir einige Fragen stellen, Herr? Wir sind Jünger des Täufers, und
da dieser immer von dir spricht und auch, weil der Ruf deiner Wunder zu uns
gelangt ist, wollten wir dich kennenlernen. Nun, da wir dich gehört haben,
möchten wir dir eine Frage stellen.»
«Sprecht sie nur aus. Wenn ihr
Jünger des Johannes seid, befindet ihr euch bereits auf dem Weg der
Gerechtigkeit.»
«Als du über die allgemeine
Abgötterei der Gläubigen gesprochen hast, hast du gesagt, daß es unter uns
einige gibt, die sowohl mit gesetzestreuen Leuten als auch mit solchen, die
dem Gesetz nicht unterstellt sind, Handel treiben. Und auch du bist ein Freund
von letzteren. Wir wissen, daß du die Römer nicht verachtest. Also? ...»
«Ich leugne es nicht. Doch könnt
ihr behaupten, daß ich es tue, um einen Gewinn daraus zu ziehen? Könnt ihr
sagen, daß ich ihnen schmeichle, um ihre Gunst zu genießen?»
«Nein, Meister, dessen sind wir
mehr als sicher. Doch die Welt besteht nicht nur aus Menschen wie wir, die nur
an das Böse glauben wollen, das sie mit eigenen Augen sehen, und nicht an das,
was andere erzählen. Sage uns nun die Gründe, die einen Kontakt mit den Heiden
rechtfertigen, damit wir von dir lernen und dich verteidigen können, wenn dich
jemand in unserer Gegenwart verleumden sollte.»
«Es ist schlecht, um menschlicher
Ziele willen solche Kontakte zu pflegen, doch wenn sie dazu dienen, diese
Menschen zu unserem Herrn und
211
Gott zu führen, ist es nicht
schlecht. Das tue ich. Wäret ihr Heiden, würde ich euch erklären, daß jeder
Mensch von einem einzigen Gott kommt. Doch ihr seid Hebräer und Jünger des
Johannes. Ihr seid die Auslese der Hebräer, und es ist nicht nötig, daß ich es
euch erkläre. Ihr könnt also verstehen und glauben, daß es meine Pflicht ist –
da ich das Wort Gottes bin – das Wort dieses Vaters allen Menschen, allen
Kindern des Vaters, zu verkünden.»
«Aber sie sind doch keine Kinder
Gottes, wenn sie Heiden sind ...»
«Was die Gnade anbelangt, sind
sie es nicht. Wegen ihres Irrglaubens sind sie es nicht, das ist wahr. Aber
solange ich euch nicht erlöst habe, bleibt auch der Hebräer ohne Gnade, denn
der Makel der Erbsünde hindert den göttlichen Strahl der Gnade, in die Herzen
niederzusteigen. Dank seiner Erschaffung bleibt der Mensch das Kind Gottes.
Von Adam, dem Stammvater der ganzen Menschheit, stammen sowohl die Hebräer als
auch die Römer ab, und Adam ist Kind des Vaters, der ihm seine geistige
Ähnlichkeit gegeben hat.»
«Das ist wahr. Noch eine Frage,
Meister. Warum fasten die Jünger des Johannes so oft und die deinen nicht? Wir
wollen nicht sagen, daß du nicht essen sollst. Auch der Prophet Daniel war in
den Augen Gottes heilig, trotz seines hohen Ansehens am Hofe von Babylon; und
du bist größer als er. Aber sie ...»
«Was man mit Strenge oft nicht
erreicht, erreicht man mit Freundlichkeit. Es gibt Menschen, die nie von
selbst zum Meister kommen würden, daher muß der Meister zu ihnen gehen. Andere
würden wohl zum Meister kommen, aber sie schämen sich vor den Mitmenschen, und
auch sie muß der Meister aufsuchen. Da sie mir sagen: "Sei mein Gast, damit
ich dich kennenlernen kann" ' gehe ich zu ihnen, nicht der reichen Tafel und
der für mich oft so mühsamen Reden wegen, sondern wiederum und stets nur im
Interesse Gottes. Dies gilt für mich. Da sich oft wenigstens eine der Seelen,
denen ich mich nähere, bekehrt, und jede Bekehrung ein Hochzeitsfest für meine
Seele bedeutet, ein großes Fest, an dem alle Engel des Himmels teilnehmen und
das dem ewigen Gott zum Ruhm und zur Freude gereicht, so frohlocken auch alle
meine Jünger als Freunde des Bräutigams vereint mit dem Bräutigam und Freund.
Sollen die Freunde trauern, während ich frohlocke und noch unter ihnen weile?
Doch die Zeit wird kommen, da ich nicht mehr unter ihnen weile, und dann
werden sie streng fasten. Die neuen Zeiten werden neue Methoden mit sich
bringen. Bis gestern, bis zur Zeit des Täufers, war es die Asche der Buße.
Heute jedoch, in meiner Zeit, gibt es das süße Manna der Erlösung, der
Barmherzigkeit und Liebe. Die Methoden früherer Zeiten könnten nicht auf meine
Zeit übertragen werden, so wie meine Methode früher nicht gelten konnte, weil
damals die Barmherzigkeit noch nicht auf Erden war. Jetzt ist sie unter euch.
Nicht mehr der Prophet, sondern der Messias, dem Gott alles
212
übergeben hat, ist auf der Erde.
Jede Zeit hat die für sie nützlichen Dinge. Niemand näht ein Stück neuen
Tuches auf ein altes Gewand, denn beim Waschen geht der neue Stoff ein und
wird der Riß im alten noch größer. Ebenso füllt niemand jungen Wein in alte
Schläuche, denn die alten Schläuche würden durch die Gärung des Weines bersten
und der Wein würde auslaufen. Der alte Wein, der schon alle seine Umwandlungen
durchgemacht hat, gehört in alte Behälter, und der neue Wein in neue. Daher
soll eine Kraft einer anderen, ebenso starken gegenübergestellt werden. Dies
geschieht jetzt. Die Kraft der neuen Lehre erfordert neue Methoden ihrer
Verbreitung, und ich, der ich es weiß, bediene mich ihrer.»
«Danke, Herr, nun sind wir
zufrieden. Bete für uns. Wir sind alte Schläuche. Werden wir deine Kraft in
uns aufnehmen können?»
«Ja, denn der Täufer hat euch
schon vorbereitet, und seine Gebete, vereint mit den meinen, werden euch zu
vielem fähig machen. Geht mit meinem Frieden und sagt Johannes, daß ich ihn
segne.»
«Aber ... ist es besser für uns,
beim Täufer zu bleiben oder bei dir?»
«Solange es den alten Wein gibt,
soll man von diesem trinken, da der Gaumen sich an den Geschmack gewöhnt hat.
Später... wenn euch das faule Wasser, das ihr überall vorfindet, anekelt,
werdet ihr den neuen Wein schätzen.»
«Glaubst du, daß der Täufer
wieder gefangengenommen wird?»
«Ganz sicher. Ich habe ihn schon
warnen lassen. Geht nun, geht. Freut euch eures Johannes, solange es möglich
ist, und macht im Freude. Später werdet ihr mich lieben, und dies wird euch
nicht einmal leicht fallen... denn niemand, der sich an den alten Wein gewöhnt
hat, möchte plötzlich zum neuen Wein übergehen. Er sagt: "Der alte war besser"
' und tatsächlich wird es Unterschiede geben, die euch bitter erscheinen. Doch
mit der Zeit werdet ihr euch mit dem lebendigen Geschmack vertraut machen.
Lebt wohl, Freunde. Gott sei mit euch!»
199. VON NEPHTHALI NACH GISCHALA
BEGEGNUNG MIT DEM RABBI GAMALIEL
«Meister! Meister! Weißt du
eigentlich nicht, wer vor uns ist? Der Rabbi Gamaliel! Er sitzt mit seinen
Dienern im Schatten des Waldes, der sie auch vor dem Winde schützt. Sie braten
gerade ein Lamm. Nun, und was werden wir tun?»
«Das, was wir geplant hatten,
Freunde. Wir gehen weiter ...»
«Aber Gamaliel gehört dem Tempel
an.»
«Gamaliel ist nicht heimtückisch.
Habt keine Angst. Ich werde vorausgehen.»
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«Oh, ich komme mit dir», sagen
die Vettern, alle Galiläer und Simon. Nur Judas Iskariot und auch Thomas
scheinen wenig Lust zu haben, weiterzugehen. Doch sie schließen sich den
anderen an.
Sie gehen noch einige Schritte
auf dem zwischen den steilen Wänden der Berghänge verlaufenden Pfad weiter.
Nach einer Biegung mündet der Weg in eine Art Hochebene, die er, breiter
werdend, überquert, um sich dann wieder unter einem Gewölbe von Zweigen zu
verengen. In der von den ersten Blättern des Waldes beschatteten Lichtung sind
viele Menschen unter einem prächtigen Zelt versammelt, während andere in einer
Ecke ein Lamm über dem Feuer braten.
Gamaliel läßt es sich wirklich an
nichts fehlen. Für seine Reise hat er ein Regiment von Dienern aufgeboten und
eine Unmenge von Gepäck mitgenommen. Nun sitzt er da, unter seinem Zelt, unter
einem über vier vergoldete Stangen gespannten Tuch, einer Art Baldachin. Es
sind da niedrige, mit Polstern versehene Hocker und eine auf zwei geschnitzten
Holzgestellen ruhende und mit einem damastenen Tischtuch bedeckten Tafel, auf
die die Diener wertvolles Geschirr stellen. Gamaliel gleicht einem Götzen. Mit
den Händen auf den Knien, sitzt er steif und würdevoll da wie eine Statue.
Seine Diener schwirren um ihn herum wie große Schmetterlinge. Doch er kümmert
sich nicht um sie. Die Lider über seine strengen Augen gesenkt, scheint er
nachzudenken. Wenn er aufblickt, zeigen sich die schwarzen, tiefblickenden und
geistvollen Augen in ihrer ganzen ernsten Schönheit. Seine Nase ist fein und
drei parallelverlaufende Falten durchfurchen die durch eine leichte Glatze
noch höher gewordene Stirn des Greises. Eine dicke bläuliche Vene zeichnet ein
V mitten auf seine rechte Schläfe.
Das Geräusch der Schritte der
Näherkommenden läßt die Diener sich umschauen. Auch Gamaliel wendet sich um.
Er sieht zuerst Jesus und macht eine Gebärde der Überraschung. Dann steht er
auf und geht bis an den Rand des Zeltes, nicht weiter. Doch dort macht er mit
über der Brust gekreuzten Armen eine tiefe Verneigung. Jesus erwidert den Gruß
in gleicher Weise.
«Du bist hier, Rabbi?» fragt
Gamaliel.
«Hier bin ich, Rabbi», antwortet
Jesus.
«Darf ich dich fragen, wohin du
gehst?»
«Ich antworte dir gerne. Ich
komme von Nephthali und begebe mich nach Gischala.»
«Zu Fuß? Der Weg über dieses
Gebirge ist lang und beschwerlich. Du strengst dich zu sehr an.»
«Glaube mir, wenn ich angenommen
und angehört werde, verspüre ich keine Müdigkeit mehr.»
«Erlaube mir also, und laß es
einmal mich sein, der dich die Müdigkeit vergessen läßt. Das Lamm ist bereit,
wir hätten die Überreste den Vögeln
214
gelassen, denn wir nehmen nie
mit, was übrigbleibt. Du siehst also, daß ich keine Umstände mache, um dir und
deinem Gefolge davon anzubieten. Ich bin dein Freund, Jesus. Du bist nicht
geringer als ich, sondern du stehst über mir.»
«Ich glaube dir und nehme deine
Einladung an.»
Gamaliel spricht zu einem Diener,
der der erste in der Rangordnung zu sein scheint, und dieser gibt den Befehl
weiter. Das Zelt wird verlängert, und von den zahlreichen Tragtieren werden
Hocker und Geschirr für die Jünger Jesu abgeladen. Schalen für die Reinigung
der Finger werden gereicht. Jesus vollzieht den Ritus mit vollendeter
Vornehmheit, während die Jünger, von Gamaliel aufmerksam gemustert, sich
ungeschickt anstellen. Nur Simon, Judas Iskariot, Bartholomäus und Matthäus
sind in den jüdischen Bräuchen gut bewandert.
Jesus nimmt neben Gamaliel Platz,
der allein an einer Seite der Tafel sitzt. Ihm gegenüber sitzt der Zelote.
Nach dem Aufopferungsgebet, das Gamaliel feierlich und langsam spricht,
zerlegen die Diener das Lamm, verteilen es unter die Gäste und füllen die
Becher, je nach Wunsch mit Wein oder Honigwasser.
«Der Zufall hat uns
zusammengeführt, Rabbi. Ich hätte nie gedacht, dich auf dem Weg nach Gischala
zu treffen.»
«Ich bin auf dem Weg nach aller
Welt.»
«Ja, du bist der unermüdliche
Prophet. Johannes ist der seßhafte, du der pilgernde Prophet.»
«So ist es für die Seelen
leichter, mich zu finden.»
«Das würde ich nicht sagen. Wenn
du von Ort zu Ort gehst, wissen sie nicht mehr, wo du bist.»
«Das trifft nur für meine Feinde
zu, doch die, die zu mir kommen wollen, weil sie das Wort Gottes lieben,
finden mich. Nicht alle können zum Meister kommen, doch der Meister, der sich
nach allen sehnt, geht zu ihnen und erweist damit den Guten Wohltaten und
entgeht der Verschwörung derer, die ihn hassen.»
«Sagst du dies meinetwegen? Ich
hasse dich nicht.»
«Ich sage es nicht deinetwegen.
Aber da du gerecht und aufrichtig bist, kannst du bestätigen, was ich sage.»
«Ja, so ist es. Aber ... du weißt
... es geschieht nur, weil wir Älteren dich schlecht verstehen.»
«Ja, das alte Israel versteht
mich schlecht, zu seinem Unglück... und aus eigenem Willen.»
«Nein! ...»
«Doch, Rabbi, es gibt sich keine
Mühe, den Meister zu verstehen und wer sich darauf beschränkt, handelt zwar
nicht gut, doch wenigstens nur relativ nicht gut. Viele aber wenden ihren
ganzen Willen auf, um mein Wort falsch zu verstehen und zu verdrehen und damit
Gott zu schaden.»
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«Gott? ... Gott steht über den
menschlichen Nachstellungen.»
«Ja. Aber jede Seele, die
irregeht oder irregeführt wird, schadet Gott durch den Verlust dieser Seele;
denn es ist ein Abweichen vom rechten Weg, wenn man mein Wort und mein Werk
vor sich selbst und den anderen entstellt. Jede Seele, die verlorengeht, ist
eine Gott zugefügte Wunde.»
Gamaliel senkt das Haupt und
denkt mit geschlossenen Augen nach. Dann greift er mit seinen langen, schmalen
Fingern in einer unwillkürlichen Gebärde des Unbehagens an seine Stirn. Jesus
schaut ihn forschend an.
Gamaliel hebt das Haupt, öffnet
die Augen, betrachtet Jesus und sagt: «Aber du weißt, daß ich nicht einer von
diesen bin.»
«Ich weiß es. Doch du gehörst zur
ersten Gruppe.»
«Oh, das ist wahr! Aber man kann
nicht sagen, daß ich mich nicht bemühe, dich zu verstehen. Dein Wort verharrt
in meinem Geist, dringt aber nicht tiefer. Mein Geist bewundert dein Wort als
das eines Gelehrten, und die Seele ...»
«Doch die Seele kann es nicht
aufnehmen, Gamaliel, weil sie von zu vielem erfüllt ist, und von verderbten
Dingen. Auf dem Weg von Nephthali nach hier bin ich über einen Gipfel
gegangen, der die Bergkette überragt. Und es hat mich gefreut, die beiden Seen
von Genesareth und von Meron in all ihrer Schönheit aus der Höhe zu sehen, so
wie sie die Adler und die Engel des Herrn sehen, um einmal mehr dem Schöpfer
zu sagen: "Danke, Schöpfer, für all das Schöne, das du uns schenkst." Während
die Berge mit ihren Wiesen, Obstgärten, Feldern und Wäldern zu sprießen und
blühen beginnen, die Lorbeeren neben den Olivenbäumen ihren Duft verströmen
und schon den Schnee von tausend Blüten vorbereiten, und die Sommereiche sich
mit Kränzen von Waldreben und Geißblatt schmückt, sind hier oben dem Wachsen
und Blühen der Natur Grenzen gesetzt; und auch der Mensch vermag nichts.
Jegliche Bemühung des Windes und des Menschen ist hier nutzlos, weil die
zyklopischen Ruinen des antiken Hazor alles bedecken und zwischen ihren
Steinen nur Nesseln, Brombeeren und Schlangennester gedeihen. Gamaliel ...»
«Ich verstehe dich. Auch wir sind
Trümmer... Ich verstehe das Gleichnis, Jesus. Aber ... ich kann nicht ... ich
kann nicht anders. Die Steine liegen zu tief.»
«Einer, an den du glaubst, hat
dir gesagt: "Die Steine werden bei meinen letzten Worten erbeben." Aber warum
die letzten Worte des Messias abwarten? Wird dich dann nicht dein Gewissen
quälen, weil du mir nicht schon früher nachgefolgt bist? Die letzten...
Traurige Worte auch deshalb, weil es die eines sterbenden Freundes sind, auf
die man zu spät gehört hat; aber meine Worte sind noch mehr als das eines
Freundes.»
«Du hast recht ... aber ich kann
nicht. Ich warte auf das Zeichen, um zu glauben.»
216
«Ist ein Gelände öde, genügt
nicht ein Blitz allein, um es fruchtbar zu machen. Er berührt nur die Steine
an der Oberfläche, nicht aber das darunterliegende Erdreich. Gamaliel, beginne
wenigstens damit, die Steine wegzuräumen. Denn wenn sie so tief in deinem
Herzen liegen, wird das Zeichen sonst nicht ausreichen, um dich zum Glauben zu
führen.»
Gamaliel schweigt, in Gedanken
versunken. Die Mahlzeit ist beendet. Jesus erhebt sich und sagt: «Ich danke
dir, mein Gott, für die Speise und auch dafür, daß ich zum Weisen sprechen
konnte. Dank sei auch dir, Gamaliel.»
«Meister, geh nicht so von mir.
Ich fürchte, daß du über mich erzürnt bist.»
«O nein! Glaube mir!»
«Dann geh nicht fort. Ich gehe
zum Grabe Hillels. Würdest du es ablehnen, mit mir zu kommen? Wir werden
schnell dort sein, denn ich habe Maultiere und Esel für alle. Wir müssen die
Tiere nur ihrer Last entledigen und sie den Dienern zu tragen geben. Dies wird
dir den beschwerlichen Teil deiner Reise abkürzen.»
«Ich lehne es nicht ab; es ist
mir vielmehr eine Ehre, mit dir zum Grabe Hillels zu gehen. Laßt uns
aufbrechen!»
Gamaliel gibt Anweisungen, und
während alle damit beschäftigt sind, den provisorischen Speisesaal
abzubrechen, setzen sich Jesus und der Rabbi rittlings auf einen Maulesel und
reiten nebeneinander den steilen und stillen Weg voran, auf dem nur der Trab
der Hufe zu hören ist.
Gamaliel schweigt. Er fragt Jesus
nur zweimal, ob er bequem im Sattel sitze. Jesus antwortet und schweigt dann
wieder, in Gedanken versunken. Jesus ist so sehr in sich gekehrt, daß er nicht
bemerkt, daß Gamaliel, der sein Maultier etwas zurückhält, ihn nun um eine
ganze Halslänge voranreiten läßt, um jede seiner Bewegungen zu beobachten. Die
Augen des Rabbi gleichen den Augen des Falken, der seine Beute beobachtet, so
starr und unverwandt sind sie auf ihn gerichtet. Doch Jesus nimmt keine Notiz
davon. Ruhig reitet er seines Weges und paßt sich der schaukelnden Bewegung
des Tieres an. Obwohl er ganz in Gedanken dahinreitet, nimmt er dennoch alles
wahr, was ihn umgibt. Er streckt seine Hand aus, um die herabhängende
Blütentraube eines Goldregenbaumes zu pflücken. Er lächelt zwei Vögelein zu,
die im Dickicht eines Wacholderstrauches ihr Nestchen bauen. Dann hält er das
Maultier an, um einer Grasmücke zuzuhören, und stimmt dem aufmunternden Gurren
einer Wildtaube zu, die ihren Gefährten zur Arbeit antreibt. Es ist, wie wenn
Jesus diese Tierchen segnen würde.
«Du liebst Pflanzen und Tiere,
nicht wahr?»
«Sehr. Sie sind mein lebendiges
Buch. Der Mensch hat in ihnen stets die Grundlagen des Glaubens vor sich. Die
Genesis lebt fort in der Natur. Wenn einer zu sehen versteht, vermag er auch
zu glauben. Diese Blume,
217
die in der ganzen Lieblichkeit
ihres Duftes und ihrer herabhängenden Blüten einen so starken Gegensatz zu dem
stacheligen Wacholder und dem Stechginster dort bildet, kann sie von selbst
erstanden sein? Schau, das Rotkehlchen mit dem Tropfen getrockneten Blutes an
seiner weichen Kehle, konnte es von selbst entstanden sein? Siehe die beiden
Turteltauben; wo und wie haben sie den dunklen Onyxkragen auf ihr graues
Federkleid gemalt? Die beiden Schmetterlinge dort, ein schwarzer mit großen
goldenen und rubinroten Punkten, der andere weiß mit blauen Streifen, wo haben
sie wohl die Edelsteine und Bänder für ihre Flügel gefunden? Betrachte den
Fluß, ja, es ist Wasser, doch woher kommt es, und welches ist der Urquell des
Wassers als Element? Oh! Betrachten heißt glauben, wenn man zu sehen
versteht.»
«Betrachten heißt glauben. Wir
betrachten die lebendige Genesis rings um uns zu wenig.»
«Zu viel Wissenschaft, Gamaliel,
und zu wenig Liebe und Demut.»
Gamaliel seufzt und schüttelt den
Kopf.
«Ich bin am Ziel, Jesus. Dort
liegt Hillel begraben. Wir können absteigen und die Reittiere hier
zurücklassen. Ein Diener wird sich um sie kümmern.»
Sie steigen ab, binden die zwei
Maulesel an einen Stamm und begeben sich zu einer Begräbnisstätte, die sich
neben einem geräumigen und ganz verschlossenen Haus über das Niveau des Bodens
erhebt.
«Ich komme hierher, um zu
meditieren als Vorbereitung auf die Feste Israels», sagt Gamaliel und zeigt
auf das Haus.
«Möge sich dir die Weisheit mit
ihrem Licht mitteilen.»
«Hierher komme ich – Gamaliel
zeigt auf das Grab – um mich auf den Tod vorzubereiten. Hillel war ein
Gerechter.»
«Ja, er war ein Gerechter. Ich
bete gerne bei seiner Asche. Aber Hillel soll dich nicht nur lehren zu
sterben, er soll dich auch lehren zu leben, Gamaliel.»
«Wie, Meister?»
«"Der Mensch ist groß, wenn er
sich verdemütigt", war sein bevorzugter Wahlspruch.»
«Wie kannst du das wissen, da du
ihn nicht gekannt hast?»
«Ich habe ihn gekannt ... und
übrigens, auch wenn ich Hillel, den Rabbi, nicht persönlich gekannt hätte, so
würde ich doch seine Denkweise kennen, denn mir bleibt kein menschlicher
Gedanke verborgen.»
Gamaliel neigt sein Haupt und
murmelt: «Gott allein kann dies von sich sagen.»
«Gott und sein Wort. Denn das
Wort kennt den Gedanken Gottes, und der Gedanke Gottes kennt das Wort und
liebt es und teilt sich ihm mit seinen Schätzen mit, um es an ihm teilhaben zu
lassen. Die Liebe Gottes festigt die Bande und macht daraus eine einzige
Vollendung. Dies ist die
218
Dreiheit, die sich liebt und sich
auf göttliche Weise bildet, zeugt, wirkt und ergänzt.» 1)
Sie beten lange vor dem
verschlossenen Grab. Inzwischen sind die Jünger und danach die Diener mit den
Tieren angekommen, die ersteren auf den Reittieren, die anderen mit der Last
der Gepäckstücke. Doch sie sind am Rande der Wiese, auf deren anderer Seite
das Grabmal liegt, geblieben. Das Gebet ist beendet.
«Leb wohl, Gamaliel. Schwinge
dich empor wie Hillel!»
«Was meinst du damit?»
«Wachse. Er ist dir voraus, denn
er verstand mit größerer Demut zu glauben als du. Der Friede sei mit dir!»
200. DIE HEILUNG DES ENKELS DES
PHARISÄERS ELI IN KAPHARNAUM
Jesus kommt mit dem Boot in
Kapharnaum an. Der Tag geht zur Neige und der See funkelt in rotem Gold.
Während die beiden Boote anlegen, sagt Johannes: «Ich gehe gleich zum Brunnen
und hole Wasser für deinen Durst.»
«Das Wasser ist hier sehr gut»,
ruft Andreas aus.
«Ja, es ist gut, und eure Liebe
läßt es noch besser werden.»
«Ich bringe die Fische nach
Hause. Die Frauen werden sie für das Nachtmahl zubereiten. Wirst du danach zu
uns und zu ihnen sprechen?»
«Ja, Petrus.»
«Es ist nun viel schöner, nach
Hause zurückzukehren. Vorher waren wir wie eine Gruppe von Nomaden. Jetzt
hingegen, mit den Frauen, ist mehr Ordnung und Liebe da, und dann... deine
Mutter zu sehen, läßt gleich meine Müdigkeit verfliegen. Ich weiß nicht ...»
Jesus lächelt und schweigt.
Das Boot gleitet mit dem Kiel
über den Kies. Johannes und Andreas, die in kurzen Unterkleidern arbeiten,
springen ins Wasser, ziehen mit Hilfe einiger Burschen das Boot ans Ufer und
legen ein Brett als Laufsteg an.
______________
1) Triade = Dreiheit... und
ergänzt: sind Ausdrücke, die keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben,
jedoch auf das erhabene innere und äußere Wirken Gottes, der die Liebe ist,
hinweisen; ein Wirken, das nach innen und außen in höchstem Maße fruchtbar
wird: deshalb sind Vater – Sohn die gegenseitige Liebe, d.h. der Hl. Geist,
der erste Ursprung jeder erschaffenen Vollkommenheit und daher jedes
menschlichen Gedankens. Der Ausdruck "sich ergänzt" ist, wenn dies auch
anfänglich schwer verständlich erscheint, in der theologischen Sprache nicht
unbekannt. Die heiligste Jungfrau Maria, deren Bedeutung genau definiert ist,
wird (als erste unter allen Geschöpfen) die "Vervollständigung der Heiligsten
Dreifaltigkeit" genannt.
219
Jesus geht als erster an Land und
wartet, bis auch das zweite Boot am Ufer ist, um sich mit all den Seinen zu
vereinen. Dann gehen sie langsam zum Brunnen. Es ist eine natürliche Quelle,
die etwas außerhalb der Ortschaft entspringt und frisch, reichlich und silbern
in das steinerne Becken fließt. Ihr klares Wasser lädt zum Trinken ein.
Johannes, der mit dem Krug vorausgelaufen ist, kehrt schon zurück und reicht
den tropfenden Krug Jesus, der ausgiebig trinkt.
«Wie durstig du gewesen bist,
mein Meister! Ich Dummkopf hatte nicht für Wasser gesorgt.»
«Das macht nichts, Johannes. Nun
ist alles vorbei», und er liebkost ihn.
Sie wollen gerade zurückkehren,
als sie Petrus in aller Eile (zu der er in seiner Schwerfälligkeit fähig ist)
ankommen sehen. Simon Petrus war nach Hause gegangen, um dort die Fische
abzugeben.
«Meister, Meister!» schreit er
außer Atem. «Das ganze Dorf ist in Aufruhr, weil der einzige Enkel des
Pharisäers Eli wegen eines Schlangenbisses im Sterben liegt. Das Kind war mit
dem Greis gegen den Willen der Mutter in ihren Olivenhain gegangen. Eli
überwachte dort die Arbeiten und das Kind spielte zwischen den Wurzeln eines
alten Olivenbaumes. Es hat die Hand in ein Loch gesteckt in der Hoffnung, eine
Eidechse zu finden, und ist auf eine Schlange gestoßen. Der Alte ist ganz
außer sich. Die Mutter des Kindes, die den Schwiegervater verabscheut, und das
mit Recht, klagt ihn nun als Mörder an. Das Kind wird von Augenblick zu
Augenblick kälter. Die Verwandten lieben sich nicht. Schöne Verwandtschaft!»
«Es ist schlimm, wenn es
Streitereien in einer Familie gibt.»
«Aber Meister, ich würde sagen,
die Schlangen mochten die Schlange nicht und deshalb haben sie die kleine
Schlange umgebracht. Ich bedauere, daß er mich gesehen und mir nachgerufen
hat: "Ist der Meister da?" Der Kleine tut mir leid. Er war ein schönes Kind
und kann nichts dafür, daß er der Enkel eines Pharisäers ist.»
«Gewiß kann er nichts dafür ...»
Sie gehen zur Ortschaft und
sehen, daß ihnen eine Gruppe schreiender und weinender Menschen entgegenkommt,
die von Eli angeführt wird.
«Er hat uns gefunden. Laßt uns
umkehren!»
«Warum denn? Der alte Mann
leidet.»
«Dieser alte Mann haßt dich,
vergiß das nicht. Er ist einer deiner ersten und erbittertsten Ankläger im
Tempel.»
«Ich vergesse nicht, daß ich die
Barmherzigkeit bin.»
Der alte Eli, ungekämmt und mit
von Schmerz verzerrtem Gesicht, seine Kleider in Unordnung, eilt Jesus mit
ausgestreckten Armen entgegen, wirft sich zu seinen Füßen nieder und heult:
«Barmherzigkeit, Barmherzigkeit! Verzeihung! Räche dich nicht an einem
Unschuldigen wegen meiner Härte. Du allein kannst ihn retten! Gott, dein
Vater, hat dich
220
hierher geführt. Ich glaube an
dich! Ich verehre dich! Ich liebe dich! Verzeihung! Ich bin ungerecht und
lügnerisch gewesen! Doch nun bin ich bestraft. Allein diese Stunden sind
Strafe genug. Hilfe! Es ist der Junge, das einzige Kind meines verstorbenen
Sohnes, und sie beschuldigen mich, es getötet zu haben», und er weint und
schlägt dabei den Kopf rhytmisch auf den Boden.
«Aber weine doch nicht so! Willst
du sterben, ohne dich weiterhin um das Heranwachsen deines Enkels zu kümmern?»
«Er stirbt! Er stirbt! Vielleicht
ist er schon gestorben. Laß auch mich sterben. Ich könnte in dem leeren Haus
nicht weiterleben. Oh, diese meine traurigen letzten Tage!»
«Eli, steh auf und laß uns gehen
...»
«Du, du ... willst du wirklich
kommen? Aber weißt du, wer ich bin?»
«Ein Unglücklicher. Laßt uns
gehen.»
Der Greis steht auf und sagt:
«Ich will vorausgehen, aber du, komm rasch, komm sofort!» Er rennt davon mit
der Verzweiflung im Herzen, die ihn vorantreibt.
«Aber Meister, glaubst du, daß du
ihn damit ändern wirst? Das ist ein vergeudetes Wunder! Laß doch die kleine
Schlange sterben, dann wird auch der Alte aus Kummer sterben, und du hast
einen weniger auf deinem Wege. Gott hat dafür gesorgt, daß ...»
«Aber Simon! Wahrlich, nun bist
du die Schlange.» Jesus stößt Petrus streng von sich, der daraufhin den Kopf
hängen läßt und weitergeht.
Am größten Platze in Kapharnaum
steht ein schönes Haus, vor dem eine Menschenmenge lärmt. Jesus begibt sich
dorthin und erreicht das Gebäude gerade in dem Augenblick, als aus der
aufgerissenen Türe der Greis heraustritt, gefolgt von einer Frau mit
zerzaustem Haar, die in ihren Armen ein kleines sterbendes Geschöpflein trägt.
Das Gift lähmt bereits seine Organe und der Tod steht bevor. Das kleine
verwundete Händchen hängt mit den Spuren des Bisses an der Daumenwurzel leblos
herab. Eli schreit nur immerzu: «Jesus ! Jesus !»
Jesus, umringt von der Menge, die
ihn durch Stoßen und Drücken fast an jeglicher Bewegung hindert, ergreift die
kleine Hand, führt sie an seinen Mund, saugt an der Wunde und haucht dann in
das wachsbleiche Gesichtlein mit den halboffenen, gläsernen Augen. Dann
richtet er sich auf. «Jetzt wird das Kind erwachen.» Und zur Menge gewandt
sagt er: «Ihr dürft es nicht erschrecken mit euren entsetzten Gesichtern. Es
wird Angst haben, weil es sich noch an die Schlange erinnert.»
Der Kleine, dessen Gesichtlein
sich nun rosig färbt, öffnet den Mund zu einem langen Gähnen, reibt sich die
Äuglein, schlägt sie auf und blickt verwundert auf die vielen Menschen. Dann
erinnert er sich der Schlange, möchte fliehen und macht eine so ruckartige
Bewegung, daß er auf den Boden gefallen wäre, hätte Jesus ihn nicht in seinen
Armen aufgefangen.
221
«Schön ruhig, schön ruhig! Vor
wem hast du noch Angst? Schau, die schöne Sonne! Dort ist der See, dort ist
dein Haus, hier sind deine Mutter und dein Großvater.»
«Und die Schlange?»
«Sie ist nicht mehr da. Ich bin
da.»
«Du, ja ...» Das Kind denkt nach
... dann sagt es in der Sprache der kindlichen Unschuld: «Mein Großvater hat
gesagt, ich solle zu dir "Verfluchter" sagen. Doch ich sage es nicht. Ich habe
dich lieb.»
«Ich? Ich soll das gesagt haben?
Der Kleine phantasiert. Glaub ihm kein Wort, Meister. Ich habe dich immer
geachtet.» Da die Angst nun geschwunden ist, kommt schon wieder die alte Natur
zutage.
«Die Worte haben Wert und haben
auch keinen Wert. Ich nehme sie für das, was sie bedeuten. Mit Gott, Kleiner,
mit Gott, Frau, mit Gott, Eli. Liebet einander, und wenn ihr könnt, liebt auch
mich.» Jesus wendet sich um und geht zu dem Haus, in dem er wohnt.
«Meister, warum hast du nicht ein
erschütterndes Wunder gewirkt, das Aufsehen erregt hätte? Du hättest dem Gift
gebieten sollen, das Kind zu verlassen. Du hättest dich als Gott offenbaren
sollen. Indes hast du das Gift ausgesaugt wie irgendein armseliger Mensch!»
Judas Iskariot ist unzufrieden. Er wollte etwas Eindrucksvolleres und auch die
anderen sind der gleichen Meinung.
«Zermalmen hättest du deinen
Feind sollen mit deiner ganzen Macht. Hast du ihn gehört? Er hat sofort wieder
Gift gespieen!»
«Auf dieses Gift kommt es nicht
an. Aber überlegt einmal. Wenn ich so gehandelt hätte wie ihr es wollt, dann
hätte er gesagt, daß Beelzebub mein Helfer sei. Seine verderbte Seele kann
vielleicht meine Macht als Arzt anerkennen ... aber nicht mehr. Das Wunder
führt die zum Glauben, die bereits auf dem Weg zu ihm sind. Doch jene ohne
Demut – denn der Glaube ist immer ein Zeichen von Demut – treibt es zur
Gotteslästerung. Es ist daher besser, diese Gefahr zu vermeiden und Formen
anzuwenden, die nach außen menschlich erscheinen. Das ist das Elend der
Ungläubigen, das unheilbare Elend! Es gibt kein Mittel, um dieses Elend aus
der Welt zu schaffen, denn kein Wunder bringt sie zum Glauben und zum Gutsein.
Das ist nun einmal so. Ich erfülle meine Aufgabe. Sie aber gehen einem
unglücklichen Schicksal entgegen!»
«Warum hast du es dann überhaupt
getan?»
«Weil ich die Güte bin und damit
niemand sagen kann, daß ich meinen Feinden gegenüber rachsüchtig bin und die
Hetzer herausfordere. Auf ihre Häupter häufe ich glühende Kohlen, und sie
reichen sie mir dazu. Beruhige dich, Judas des Simon. Du aber bemühe dich,
nicht so zu handeln wie sie! Das soll genügen! Laßt uns zu meiner Mutter
gehen. Sie wird sich freuen, wenn sie erfährt, daß ich ein Kind geheilt habe.»
222
201. JESUS IM HAUSE VON
KAPHARNAUM NACH DEM WUNDER AN ELISÄUS
Aus einem Garten kommend, in
dessen Beeten es überall zu sprießen beginnt, betritt Jesus eine große Küche,
in der die beiden älteren Marien (Maria ,Kleophä und Maria Salome) das
Nachtessen zubereiten.
«Der Friede sei mit euch!»
«Oh, Jesus ! Meister!» Die beiden
Frauen drehen sich um und begrüßen ihn. Die eine hat einen großen Fisch in der
Hand, den sie gerade ausnimmt, die andere einen Kessel voll dampfenden
Gemüses, den sie vom Feuer genommen hat, um nachzusehen, ob das Gemüse schon
gar ist. Ihre gütigen, verblühten, von der Flamme und der Arbeit erhitzten
Gesichter lächeln vor Freude und scheinen jünger und schöner in ihrem Glück.
«Es ist gleich alles bereit,
Jesus. Bist du müde ? Du wirst hungrig sein», sagt Tante Maria in
verwandtschaftlichem Zutrauen, und es scheint, daß sie Jesus noch mehr als
ihre eigenen Söhne liebt.
«Nicht mehr als sonst. Aber
natürlich werde ich sehr gerne die guten Sachen essen, die du mit Maria
zubereitet hast, und so auch die anderen. Da kommen sie schon.»
«Deine Mutter ist im oberen
Zimmer. Weißt du ... Simon ist gekommen. Oh, ich bin heute abend vollkommen
glücklich! Nein, nicht vollkommen, denn ... du weißt schon, wann ich ganz
glücklich sein werde.»
«Ja, ich weiß es.» Jesus zieht
seine Tante an sich, küßt sie auf die Stirn und sagt dann: «Ich kenne deinen
Wunsch und deinen Neid ohne Sünde auf Salome. Doch der Tag wird kommen, da
auch du wie sie sagen kannst: "Alle meine Söhne gehören Jesus." Ich will nun
zu meiner Mutter gehen.»
Er geht hinaus und steigt auf
einer kleinen Außentreppe zur höher gelegenen Terrasse hinauf, die mehr als
die Hälfte der Hausoberfläche einnimmt. Auf der anderen Hälfte befindet sich
ein großer Raum, aus dem laute Männerstimmen dringen, zeitweilig unterbrochen
von der sanften Stimme Marias, von der klaren, jungfräulichen Mädchenstimme,
der die Jahre nichts anzuhaben vermochten und die immer noch dieselbe ist, die
sagte: «Ich bin die Magd des Herrn», und die ihrem Kinde das Wiegenlied sang.
Jesus nähert sich lautlos. Er
lächelt, denn er hört, wie seine Mutter soeben sagt: «Meine Heimat ist mein
Sohn. Und ich leide unter dem Fernsein von Nazareth nur, wenn er nicht bei mir
ist. Doch wenn er in meiner Nähe ist ... oh, dann fehlt mir nichts. Ich sorge
mich nicht um mein Haus, denn ihr seid ja dort ...»
«Oh, schau, Jesus kommt!» ruft
Alphäus der Sara aus, der sich zur Tür gewandt und als erster Jesus gesehen
hat. «Ja, ich bin hier. Der Friede sei
223
mit euch allen. Mutter!» Er küßt
seine Mutter auf die Stirn, und sie küßt ihn. Dann wendet er sich den
unerwarteten Gästen zu, dem Vetter Simon, Alphäus der Sara, dem Hirten Isaak
und jenem Joseph, der von Jesus in Emmaus nach der Verurteilung durch den
Hohen Rat angenommen wurde.
«Wir sind nach Nazareth gegangen,
aber Alphäus hat uns gesagt, daß wir dich hier finden würden. So sind wir
hierher gekommen. Alphäus hat uns begleitet, und Simon ebenfalls», erklärt
Isaak.
«Ich konnte es kaum fassen,
mitkommen zu dürfen», sagt Alphäus.
«Auch ich wollte dich grüßen und
eine Weile mit dir und Maria zusammensein», fügt Simon hinzu.
«Ich bin sehr glücklich, mit euch
hier zu sein. Es war gut, daß wir nicht länger fortgeblieben sind, wie es die
Bewohner von Kedesch wollten, wohin ich auf dem Wege von Gergesa nach Meron
und dann auf der anderen Seite weitergehend gekommen war.»
«Von dort kommst du ?»
«Ja, ich habe mich an den Orten
wieder gezeigt, wo ich bereits gewesen bin, und auch an anderen. Bis nach
Gischala bin ich gekommen.»
«Was für ein weiter Weg!»
«Doch welche Ernte! Weißt du,
Isaak, wir waren Gäste des Rabbi Gamaliel. Er war sehr gut zu uns. Dann habe
ich den Synagogenvorsteher vom "Trügerischen Gewässer" angetroffen. Auch er
wird kommen. Ich vertraue ihn dir an. Und dann ... und dann ... habe ich drei
Jünger gewonnen ...» Jesus lächelt selig und voller Freude.
«Wer sind sie?»
«Der eine ist ein Greis von
Chorazim. Ich habe ihn eine Zeitlang versorgt, und der Arme, ein wahrer,
unvoreingenommener Israelit, hat mir, um mir seine Liebe zu bezeugen, die
ganze Gegend wie ein perfekter Ackersmann bearbeitet. Der andere ist ein
ungefähr fünf Jahre altes Kind. Intelligent und sehr eifrig. Auch mit ihm habe
ich schon bei meinem ersten Aufenthalt in Bethsaida gesprochen, und der Junge
erinnert sich noch besser an alles als die Erwachsenen. Der dritte ist ein
ehemaliger Aussätziger. Ich hatte ihn an einem nun schon weit zurückliegenden
Abend in der Nähe von Chorazim geheilt und bin dann weggegangen. Nun habe ich
ihn als meinen Verkünder im Gebirge von Nephthali wiedergefunden. Als Beweis
für seine Worte erhebt er seine geheilten, doch verstümmelten Hände und zeigt
seine geheilten, verunstalteten Füße, mit denen er dennoch schon weite Wege
zurückgelegt hat. An seinen Verstümmelungen erkennen die Menschen, wie krank
er einmal gewesen sein muß, und glauben seinen mit Tränen der Dankbarkeit
gewürzten Worten. Es war einfach für mich, dort zu sprechen, denn man hatte
mich schon bekannt gemacht und andere zum Glauben an mich geführt. Ich habe
viele Wunder wirken können. So viel vermag ein Mensch, der wirklich glaubt
...»
224
Alphäus, immer mit dem Kopfe
nickend, stimmt Jesus wortlos zu, während Simon unter dem unausgesprochenen
Tadel das Haupt neigt und Isaak sichtlich an der Freude des Meisters
teilnimmt, der gerade vom Wunder am kleinen Enkel des Eli berichtet, das er
kurz zuvor gewirkt hat.
Das Nachtmahl ist bereit, und die
Frauen decken zusammen mit Maria den Tisch im Saale und stellen die Gerichte
darauf. Dann ziehen sie sich ins Untergeschoß zurück. Die Männer bleiben oben
allein, und Jesus opfert, segnet und verteilt die Speisen.
Doch schon nach dem ersten Bissen
kommt Susanna herein und sagt: «Eli steht mit seinen Dienern und vielen
Geschenken vor der Tür. Er möchte mit dir sprechen.»
«Ich komme sofort, oder besser:
er soll heraufkommen.»
Susanna geht und kehrt kurz
darauf zurück mit dem alten Eli, den zwei seiner Diener, die einen großen Korb
schleppen, begleiten. Hinter ihnen erscheinen die neugierig spähenden Frauen,
mit Ausnahme von Maria, der heiligsten Mutter.
«Gott sei mit dir, mein
Wohltäter», grüßt der Pharisäer.
«Und mit dir, Eli. Komm herein.
Was willst du? Geht es deinem Enkel noch nicht gut?»
«Oh, sehr gut! Er springt wie ein
Böcklein im Garten herum. Doch im ersten Augenblick war ich so erstaunt, so
verwirrt, daß ich meine Pflicht vernachlässigt habe. Ich möchte dir meine
Dankbarkeit bezeugen und bitte dich, diese Kleinigkeiten, die ich dir anbiete,
nicht abzulehnen. Es sind nur Lebensmittel für dich und die Deinen,
Erzeugnisse meiner Felder. Dann... dann... möchte ich... dich für morgen zu
Tische laden, um dir nochmals vor den Freunden Dank und Ehre zu erweisen.
Lehne nicht ab, Meister. Ich müßte sonst daraus schließen, daß du mich nicht
liebst und Elisäus nur geheilt hast, weil du ihn liebst... nicht meinetwegen.»
«Ich danke dir. Doch Geschenke
wären nicht nötig gewesen.»
«Jeder angesehene Mann und jeder
Gelehrte nimmt Geschenke an. Es ist so Sitte.»
«Ich auch. Doch ich bevorzuge
eine einzige Gabe, ja ich bitte sogar darum.»
«Was wäre das? Sag es mir. Wenn
ich kann, werde ich es dir geben.»
«Euer Herz, eure Gedanken; gebt
sie mir zu eurem eigenen Wohl!»
«Oh, ich weihe sie dir,
gebenedeiter Jesus! Zweifelst du daran? Ich habe... ja... ich habe dir Unrecht
getan. Doch nun habe ich verstanden. Ich habe auch vom Tode des Doras gehört,
der dich beleidigt hatte... Warum lächelst du, Meister?»
«Ich bin einer Erinnerung
nachgegangen.»
«Ich dachte schon, du würdest an
meinen Worten zweifeln.»
«O nein. Ich weiß, daß der Tod
des Doras dich bewegt hat, mehr noch als das Wunder von heute abend. Doch du
brauchst Gott nicht zu fürchten,
225
wenn du wirklich begriffen hast
und wirklich von nun an mein Freund sein willst.»
«Ich sehe, daß du wahrhaft ein
Prophet bist. Ich, das ist wahr, ich fürchtete mehr, ich kam aus Angst... weil
ich befürchtete, dieselbe Strafe zu erleiden wie Doras... und heute habe ich
gesagt: "So, das ist die Strafe, und sie ist noch schrecklicher, weil sie die
alte Eiche nicht in ihrem Lebensmark getroffen hat, sondern in ihrer Liebe, in
ihrer Lebensfreude; sie hat den Eichenschößling geknickt, an dem ich mich
erfreute." Ich verstand, daß auch mir, wie Doras, recht geschehen wäre.»
«Du hast verstanden, daß es
gerecht gewesen wäre, doch du glaubtest immer noch nicht an den, der die Güte
ist.»
«Du hast recht. Doch nun ist es
anders. Jetzt habe ich verstanden. Wirst du also morgen in mein Haus kommen?»
«Eli, ich hatte vor, bei
Sonnenaufgang aufzubrechen. Aber damit du nicht denken kannst, daß ich dich
geringschätze, verschiebe ich meine Abreise um einen Tag. Morgen werde ich bei
dir sein.»
«Oh, du bist wirklich gütig, ich
werde es nie vergessen!»
«Mit Gott, Eli. Danke für alles.
Diese Früchte sind herrlich, und wie Butter müssen die kleinen Käse sein, und
ganz sicher ist auch dein Wein vorzüglich. Doch du hättest alles in meinem
Namen den Armen geben können.»
«Es ist auch für sie etwas dabei,
wenn du willst. Unter all den Dingen ist eine Gabe, die speziell für dich
gedacht war.»
«Wir werden sie dann morgen
verteilen, vor oder nach dem Gastmahl, nach deinem Gutdünken. Eine friedliche
Nacht, Eli!»
«Auch dir. Mit Gott.» Eli geht
mit seinen Dienern fort.
Petrus, der mit einem
sehenswerten Mienenspiel alles aus dem Korb herausgenommen hat, um ihn den
Dienern wieder mitzugeben, legt den Beutel vor Jesus auf den Tisch und sagt,
als beende er ein innerliches Gespräch: «Es ist wohl das erste Mal, daß dieser
alte Kauz Almosen gibt.»
«Das ist wahr», bestätigt
Matthäus. «Ich war habgierig, doch er übertraf mich. Er hat seine Habe durch
Wuchergeschäfte verdoppelt.»
«Nun ja... wenn er in sich geht,
ist das doch etwas Schönes, nicht wahr?» sagt Isaak.
«Sicher ist das schön, und es
scheint, daß dem so ist», bestätigen Philippus und Bartholomäus.
«Der alte Eli bekehrt! Ha, Ha!»
Petrus lacht herzlich.
Vetter Simon, der die ganze Zeit
nachdenklich gewesen ist, sagt: «Jesus, ich möchte... ich möchte dir
nachfolgen. Nicht so wie diese hier... aber wenigstens wie die Frauen.
Erlaube, daß ich mich deiner und meiner Mutter anschließe. Alle kommen... Ich,
ich als Verwandter verlange nicht, einen Platz unter diesen zu haben. Aber
wenigstens so, als guter Freund...»
226
«Gott segne dich, mein Sohn! Wie
lange habe ich schon auf dieses Wort von dir gewartet!» ruft Maria des Alphäus
aus.
«Komm, ich weise niemanden zurück
und zwinge auch niemanden. Ich verlange auch nicht alles von allen. Ich nehme,
was ihr mir geben könnt. Es ist gut, daß die Frauen nicht immer allein sind,
wenn wir in Gebiete kommen, die sie nicht kennen. Danke, Bruder!»
«Ich will gehen und es Maria
mitteilen», sagt die Mutter Simons und fügt hinzu: «Sie ist unten in ihrem
Kämmerchen und betet. Sie wird sehr glücklich darüber sein.»...
* .. Der Abend bricht plötzlich
herein. Man zündet eine Laterne an, um die Treppe hinunterzusteigen, auf der
es in der Dämmerung schon dunkel ist. Dann gehen die einen nach rechts, die
anderen nach links, um sich für die Nacht zurückzuziehen.
Jesus geht hinaus zum Ufer des
Sees. Das Dorf liegt in tiefer Stille, die Straßen und das Ufer sind
menschenleer, der See ruht einsam in dieser mondlosen Nacht. Nur die Sterne
leuchten am Himmel, und man hört das leise Rauschen der Brandung. Jesus steigt
in das ans Ufer gezogene Boot, setzt sich, legt einen Arm auf den Bootsrand,
stützt das Haupt darauf und verweilt in dieser Haltung. Ob er betet oder
nachdenkt, ich weiß es nicht.
Matthäus kommt mit vorsichtigen
Schritten näher. «Meister, schläfst du?» fragt er leise.
«Nein, ich denke nach. Komm zu
mir, wenn du nicht schlafen kannst.»
«Es kam mir so vor, als ob du
bekümmert wärest, deshalb bin ich dir gefolgt. Bist du mit deinem Tagewerk
nicht zufrieden? Du hast doch das Herz des Eli gerührt, hast Simon des Alphäus
als Jünger gewonnen...»
«Matthäus, du bist kein so
einfacher Mann wie Petrus und Johannes. Du bist klug und gebildet. Sei nun
auch aufrichtig. Wärest du über diese Eroberungen glücklich?»
«Aber... Meister... Sie sind
immer noch besser als ich, und du hast am Tag meiner Bekehrung zu mir gesagt,
daß du sehr glücklich bist...»
«Ja, aber du hattest dich
wirklich bekehrt und warst ehrlich in deiner Entwicklung zum Guten. Du kamst
zu mir ohne vielerlei Überlegungen. Dein Kommen entsprang dem Verlangen deiner
Seele. Bei Eli ist es nicht so, und auch bei Simon nicht. Der Erstere ist nur
äußerlich gerührt, der Mensch Eli ist ergriffen, nicht aber die Seele Eli. Sie
ist dieselbe Seele geblieben. Wenn die Erregung, die der Tod des Doras und das
Wunder am Enkelkind bewirkt haben, abgeklungen ist, wird er wieder der Eli von
gestern und von jeher sein. Simon! ... Auch Simon ist immer noch nichts mehr
als ein Mensch. Hätte er gesehen, daß ich anstatt gefeiert beleidigt worden
wäre, dann hätte er nur Mitleid mit mir empfunden und wäre einfach, wie immer,
gegangen. Heute abend hat er vernommen, daß ein Greis, ein Kind und ein
Aussätziger das tun können, was er als Verwandter
227
nicht fertigbringt, und er hat
gesehen, daß sich der Stolz eines Pharisäers mir gebeugt hat; da erst hat er
sich entschlossen: "Auch ich werde es tun."
Solche menschlichen Erwägungen
entsprungenen Bekehrungen machen mir keine Freude, im Gegenteil, sie sind eine
Demütigung für mich. Bleibe bei mir, Matthäus! Der Himmel ist ohne Mond, doch
es strahlen die Sterne. Mein Herz ist heute abend nur von Tränen erfüllt.
Deine Gesellschaft sei der Stern in der Betrübnis deines Meisters...»
«Gern, Meister, wenn ich es
darf... Leider bin ich immer noch ein Unglücklicher, ein armer Taugenichts.
Ich habe zu viel gesündigt, um dir gefallen zu können. Ich verstehe es nicht,
mich richtig auszudrücken und die neuen reinen, heiligen Worte auszusprechen,
da ich nun meine ehemalige Redeweise des Betruges und der Unzucht aufgegeben
habe. Ich fürchte, daß ich nie imstande sein werde, mit dir und über dich zu
sprechen.»
«Nein, Matthäus. Du bist ein
Mensch mit all seinen schmerzlichen Erfahrungen als Mensch. Du bist, da du den
Schlamm gekostet hast und nun meinen himmlischen Honig genießt, einer, der
beides in seinem wahren Wesen kennengelernt hat. Du hast begriffen und wirst,
was du erfahren hast, deinen Mitmenschen von heute und morgen weitergeben
können. Man wird glauben, gerade weil du Mensch bist, der arme Mensch, der
durch seinen Willen zum Menschen, zum gerechten Menschen wird, wie ihn Gott
sich erträumt hat. Laß mich, den Gott-Menschen, mich an dich anlehnen, du,
Menschheit, die ich so sehr liebe, daß ich deinetwegen den Himmel verlassen
habe, um für dich zu sterben.»
«Nicht sterben, nein! Sage nicht,
daß du meinetwegen sterben wirst.»
«Nicht nur für dich allein,
Matthäus, sondern für jeden Matthäus der Erde und aller Jahrhunderte. Umarme
mich, Matthäus, küsse deinen Christus, für dich und für alle Menschen. Nimm
den Überdruß des unverstandenen Erlösers von mir. Ich habe dich von deinem
Überdruß als Sünder befreit. Trockne meine Tränen... denn meine Bitterkeit ist
es, Matthäus, so wenig verstanden zu werden.»
«Oh, Herr, Herr! Ja! ja! ...»
Matthäus, der sich neben den Meister gesetzt hat, legt nun einen Arm um seine
Schultern und tröstet ihn mit seiner Liebe...
202. DAS MAHL IM HAUSE DES
PHARISÄERS ELI IN KAPHARNAUM
Heute gibt es im Hause Eli viel
zu tun. Diener und Dienerinnen kommen und gehen, und unter ihnen ist ein
fröhlicher kleiner Wildfang, Elisäus. Dann treffen zwei prunkvoll gekleidete
Persönlichkeiten ein und nach ihnen gleich noch zwei weitere. Die beiden
ersten erkenne ich als die,
228
die zusammen mit Eli im Hause von
Matthäus waren. Die beiden anderen kenne ich nicht, doch höre ich, daß man sie
Samuel und Joachim nennt. Zuletzt kommt Jesus mit Judas Iskariot.
Große gegenseitige Begrüßung,
dann die Frage von Eli: «Nur mit diesem einen Jünger? Wo sind die anderen?»
«Die anderen sind auf den
Feldern. Sie werden am Abend kommen.»
«Oh, das ist aber schade. Ich
befürchtete schon, daß... Gestern abend habe ich nur dich eingeladen, doch
habe ich damit auch sie gemeint. Nun fürchtete ich schon, sie hätten sich
beleidigt gefühlt oder sie würden es wegen vergangener Unstimmigkeiten
verschmähen, zu mir zu kommen... ha ... ha! Und der Alte lacht.
«O nein, meine Jünger kennen
weder stolze Empfindlichkeiten, noch unheilbare Gefühle des Grolls.»
«Ja, ja. Sehr gut. Laßt uns also
eintreten.»
Es folgt die übliche Zeremonie
der Reinigung, dann betreten sie den Speisesaal, der zum geräumigen Hof hin,
dem die ersten Rosen ein fröhliches Gepräge geben, geöffnet ist. Jesus
liebkost den kleinen Elisäus, der im Hof spielt und von der vergangen Gefahr
nur noch vier kleine, rote Spuren auf seinem Händchen hat. Sogar die erlittene
Angst hat er vergessen, aber an Jesus erinnert er sich genau, und in
kindlicher Unbefangenheit möchte der Kleine ihm einen Kuß geben und von ihm
geküßt werden. Sein Ärmchen um den Hals Jesu gelegt, flüstert er ihm ins Ohr,
daß er, wenn er einmal groß sein werde, mit ihm kommen möchte und fragt:
«Willst du mich?»
«Alle will ich. Sei lieb, und du
wirst mit mir kommen.»
Das Kind springt davon.
Sie gehen zu Tisch, und Eli, der
unbedingt einen guten Eindruck machen will, läßt Jesus zu seiner Rechten und
Judas zu seiner Linken Platz nehmen. Judas sitzt nun zwischen Eli und Simon,
während Jesus sich zwischen Eli und Urias befindet.
Die Mahlzeit beginnt. Zunächst
geht es bei den Gesprächen nur um allgemeine Themen, aber mit der Zeit werden
sie interessanter. Da die Wunden schmerzen und die Ketten drücken, beginnt das
stets wiederkehrende Gespräch über die Knechtschaft Palästinas unter den
Römern, ob absichtlich oder zufällig, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sich
die fünf Pharisäer über neue römische Unterdrückungsmaßnahmen beklagen, die
sie als Skandal empfinden, und daß sie Jesus in dieses Gespräch miteinbeziehen
wollen.
«Verstehst du? Unsere Einkünfte
wollen sie bis auf den letzten Heller überprüfen, und da sie dahintergekommen
sind, daß wir uns in den Synagogen treffen, um über diese Dinge und über sie
zu reden, drohen sie uns, daß sie ohne Ehrfurcht in diese eindringen werden.
Ich fürchte, daß sie eines Tages auch in die Häuser der Priester kommen»,
schreit Joachim.
229
«Was sagst denn du dazu ? Stößt
dich das nicht ab ?» fragt Eli.
Jesus, der direkt gefragt worden
ist, antwortet: «Als Israelit schon, als Mensch nicht.»
«Warum diese Unterscheidung? Ich
verstehe dich nicht. Bist du zwei in einem?»
«Nein, aber ich bin aus Fleisch
und Blut, also ein Lebewesen, und habe auch eine Seele. Die gesetzestreue
Seele des Israeliten leidet unter dieser Entweihung. Das Fleisch und das Blut
nicht, denn bei mir fehlt der Stachel, der euch verwundet.»
«Welcher?»
«Die Gewinnsucht. Ihr sagt, daß
ihr euch in den Synagogen versammelt, um über Geschäfte zu sprechen, ohne euch
vor indiskreten Ohren fürchten zu müssen. Nun fürchtet ihr, dies in Zukunft
nicht mehr tun zu können. Ihr habt also Angst, daß ihr mit den Steuern nicht
mehr betrügen könnt und sie im genauen Verhältnis zu eurem Besitz entrichten
müßt. Ich habe nichts. Ich lebe von der Güte des Mitmenschen, dem ich meine
Liebe schenke. Ich habe weder Gold noch Äcker, noch Weinberge, noch Häuser,
wenn man von dem kleinen Haus meiner Mutter in Nazareth absieht, das so klein
und ärmlich ist, daß die Steuer sich nicht einmal dafür interessiert. Deshalb
quält mich nicht die Furcht, wegen falscher Angaben entdeckt und noch stärker
besteuert oder bestraft zu werden. Alles was ich habe ist das Wort, das Gott
mir gegeben hat und das ich weitergebe. Doch dieses ist so erhaben, daß es
durch nichts beeinträchtigt werden kann.»
«Aber wenn du an unserer Stelle
wärest, wie würdest du dich verhalten ?»
«Nun, nehmt es mir nicht übel,
wenn ich meine Meinung deutlich sage, die ganz im Gegensatz zur eurigen steht.
Wahrlich, ich sage euch, ich würde anders handeln.»
«Wie denn?»
«Nicht so, daß die heilige
Wahrheit verletzt wird. Sie ist immer eine erhabene Tugend, selbst in so
menschlichen Dingen wie den Steuern.»
«Ja, aber dann, aber dann! Wie
würden wir auf diese Weise geschröpft werden! Du vergißt wohl, daß unser
Besitz groß ist und die Abgaben dementsprechend hoch wären.»
«So ist es: Gott hat euch viel
gewährt, entsprechend viel müßt ihr daher auch geben. Warum handeln die
Menschen so schlecht und besteuern die Armen unverhältnismäßig hoch? Wir
wissen, wie viele Steuern es in Israel gibt, Steuern, die wir selbst
einziehen, und auch ungerechte. Sie dienen nur den Reichen, die bereits viel
besitzen, während sie die Armen zur Verzweiflung treiben, da sie bis zum
Letzten ausgepreßt werden. Die Nächstenliebe rät uns nicht, so zu handeln. Die
Sorge von uns Israeliten sollte es sein, die Last der Armen auf unsere
Schultern zu nehmen.»
«Du sprichst nur so, weil du
selber arm bist.»
230
«Nein, Urias. Ich rede so, weil
es gerecht ist. Warum konnte und kann Rom uns so auspressen? Weil wir
gesündigt haben und weil wir durch die Mißgunst entzweit sind. Der Reiche haßt
den Armen, der Arme haßt den Reichen, weil es keine Gerechtigkeit gibt; und
der Feind nützt diese Lage aus, um uns zu unterdrücken.»
«Du hast mehrere Gründe
erwähnt... Welches sind die anderen?»
«Ich verstoße nicht gegen die
Wahrheit, wenn ich sage, daß die dem Gottesdienst geweihten Stätten ihrem
Zweck entfremdet werden, da sie als sicherer Zufluchtsort für menschliche
Angelegenheiten mißbraucht werden.»
«Du machst uns einen Vorwurf ?»
«Nein, ich antworte euch nur. Ihr
solltet auf euer Gewissen hören. Ihr seid Lehrmeister und darum...»
«Ich würde sagen, daß es an der
Zeit wäre, sich zu erheben, sich aufzulehnen, den eingedrungenen Feind zu
bestrafen und unser Reich wieder herzustellen.»
«Das ist wahr! Du hast recht,
Simon. Aber hier ist der Messias, an ihm ist es, dies zu tun», antwortet Eli.
«Doch der Messias – verzeih Jesus
– ist im Augenblick nur Güte. Er rät zu allem, nur nicht zum Aufstand. Wir
werden...»
«Simon, höre zu. Denke an das
Buch der Könige. Saul war in Gilgal, die Philister in Machmas, das Volk
fürchtete sich und ließ sich gehen, da der Prophet Samuel nicht kam. Saul
wollte dem Diener Gottes zuvorkommen und selbst das Opfer darbringen.
Erinnerst du dich an das, was Samuel bei seiner Ankunft zum unklugen König
Saul sagte? "Du hast töricht gehandelt und die vom Herrn erteilten Befehle
nicht befolgt. Hättest du nicht so gehandelt, würde der Herr dein Königtum
über Israel nun für ewig begründen. Doch so wird dein Königtum nie wieder
bestehen können." Eine unzeitige, stolze Tat hat weder dem König noch dem Volk
genützt. Gott kennt die Stunde, nicht der Mensch. Gott kennt die Mittel, nicht
der Mensch. Laßt Gott handeln und verdient euch seine Hilfe durch ein
gottesfürchtiges Betragen. Mein Reich ist kein Reich der Auflehnung und der
Gewalt, und doch wird es errichtet werden. Es wird nicht ein Vorrecht weniger
Menschen, sondern ein weltumspannendes Reich sein. Selig jene, die zu ihm
kommen werden und sich nicht durch meine äußere Armut, nach dem Geist der
Welt, täuschen lassen und in mir den Retter erkennen. Habt keine Angst. Ich
werde König sein, der aus Israel hervorgegangene König, dessen Reich die ganze
Menschheit umfaßt. Doch ihr, Lehrmeister Israels, mißversteht nicht meine
Worte und jene der Propheten, die mich ankündigen. Kein menschliches Reich,
und mag es auch noch so mächtig sein, ist weltumspannend und ewig; was aber
von meinem Reich durch die Propheten bezeugt wird. Dies möge euch erleuchten
über die Wahrheit und die geistige Natur meines Reiches. Ich verlasse
231
euch nun, doch möchte ich noch
eine Bitte an Eli richten: Hier ist dein Beutel. Im Armenhaus Simons des Jonas
sind Arme, die von überall hergekommen sind, untergebracht. Begleite mich und
bringe ihnen diese Gabe der Liebe. Der Friede sei mit euch allen.»
«Bleibe noch», bitten die
Pharisäer.
«Ich kann nicht. Es gibt Kranke
an Leib und Seele, die darauf warten, getröstet zu werden. Morgen werde ich
eine weite Reise antreten. Ich möchte, daß mich alle ohne Enttäuschung
weggehen sehen.»
«Meister, ich bin alt und müde.
Geh du in meinem Namen. Du hast Judas des Simon bei dir, den wir gut kennen...
Tue es selbst. Gott sei mit dir.»
Jesus geht mit Judas hinaus. Kaum
auf dem Platz angelangt, sagt dieser: «Alte Schlange! Was hat er wohl damit
sagen wollen?»
«Aber denk doch nicht daran, oder
denke, daß er dich damit loben wollte!»
«Unmöglich, Meister. Diese Mäuler
loben niemanden, der Gutes tut, aufrichtig, will ich sagen. Was das Mitkommen
betrifft... nur weil er sich vor den Armen ekelt und fürchtet, von ihnen
verflucht zu werden... ! Er hat die Armen hier oft genug gequält. Ich kann
dies ohne weiteres beschwören. Darum..»
«Laß es gut sein, Judas.
Überlasse Gott das Urteil.»
203. UNTERWEGS IN DIE EINSAMKEIT
DER BERGE VOR DER ERWÄHLUNG DER APOSTEL
Die Barken des Petrus und des
Johannes segeln ruhig auf dem See dahin. Und sämtliche Boote, die in Tiberias
aufzutreiben waren, folgen ihnen. Mir scheint, daß alle diese Boote und Kähne,
die kommen und gehen, versuchen, sich gegenseitig zu überholen und das Boot
Jesu zu erreichen, um sich dann wieder am Ende der Reihe anzuschließen.
Bitten, Flehen, Rufe und Fragen kreuzen sich auf den blauen Wellen.
Jesus – in dessen Boot auch
Maria, seine Mutter, und die Mutter des Jakobus und des Judas sitzen, während
sich im anderen Boot Maria Salonie mit ihrem Sohn Johannes und Susanna
befinden – verspricht, antwortet und segnet unermüdlich. «Ich werde
wiederkommen. Ja, ich verspreche es euch. Seid gut! Denkt an meine Worte und
versteht ihren Zusammenhang mit denen, die ich euch noch sagen werde. Es wird
nur eine kurze Trennung sein. Seid nicht selbstsüchtig, ich bin auch für die
anderen gekommen. Seid gut! Ihr werdet euch weh tun. Gewiß, ich werde für euch
beten. Ihr werdet mich immer in eurer Nähe haben. Der Herr sei mit euch!
Sicherlich werde ich mich deiner Tränen erinnern, und du wirst getröstet
werden. Hoffe, habe Glauben!»
232
So segnet und verspricht er
immerzu, bis das Boot das Ufer erreicht. Es ist nicht Tiberias, sondern ein
ganz kleiner Weiler, nur eine Handvoll Häuser, arm, beinahe verlassen. Jesus
und die Seinen steigen aus, und Zebedäus und die Schiffsjungen kehren in den
Booten zurück. Die anderen Boote tun es ihnen nach, doch viele, die in ihnen
saßen, sind ebenfalls ausgestiegen und wollen Jesus unbedingt folgen. Unter
ihnen sehe ich Isaak mit seinen beiden Schützlingen Joseph und Timoneus.
Andere erkenne ich nicht unter den vielen Leuten jeden Alters, vom Kind bis
zum Greis.
Jesus verläßt den Weiler, dessen
wenige, zerlumpte Einwohner gleichgültig bleiben. Jesus läßt ihnen Almosen
geben. Als er die Hauptstraße erreicht hat, bleibt er stehen.
«Nun wollen wir uns trennen»,
sagt er. «Mutter, geh nun auch du mit Maria und Salome nach Nazareth. Susanna
kann nach Kana zurückkehren. Ich werde bald wiederkommen. Ihr wißt, was zu tun
ist. Gott sei mit euch!»
Doch für seine Mutter hat er
einen Abschiedsgruß mit einem ganz besonders liebevollen Lächeln; und auch als
Maria niederkniet, um von Jesus gesegnet zu werden, und die anderen ihrem
Beispiel folgen, lächelt ihr Jesus voll Zärtlichkeit zu. Die Frauen machen
sich in Bereitung von Alphäus der Sara und Simon auf den Weg nach ihrer Stadt.
Jesus wendet sich an die
Zurückgebliebenen: «Ich verlasse euch nun, doch ich schicke euch nicht fort.
Ich verlasse euch für einige Zeit, um mich mit meinen Jüngern, die ihr dort
seht, in die Schluchten zurückzuziehen. Wer auf mich warten will, soll in
dieser Ebene warten, wer nicht warten möchte, kehre nach Hause zurück. Ich
werde mich zum Gebet zurückziehen, weil ich am Vorabend großer Dinge stehe.
Wer die Sache des Vaters liebt, möge beten und sich geistig mit mir
vereinigen. Der Friede sei mit euch, Söhne! Isaak, du weißt, was du zu tun
hast. Ich segne dich, kleiner Hirte.» Jesus lächelt dem mageren Isaak zu, der
nun zum Hirten der Menschen geworden ist, die sich um ihn scharen.
Jesus wendet dem See den Rücken
und begibt sich festen Schrittes zu einer der Schluchten zwischen den Hügeln,
die sich westlich vom See sozusagen parallel zueinander erheben. Durch diese
fjordartige Schlucht zwischen den beiden felsigen Hügeln fließt mit großem
Getöse ein schäumender Bach, und darüber erhebt sich ein öder Berg mit wilden
Sträuchern, die willkürlich und wirr durcheinander zwischen Steinen und Felsen
gewachsen sind. Ein Ziegenpfad klettert den schrofferen der beiden Hügel
empor, und Jesus schlägt gerade diesen Weg ein.
Die Jünger folgen ihm mühsam im
Gänsemarsch, in vollkommenem Schweigen. Nur wenn Jesus an einer etwas
breiteren Stelle des Pfades, der einer Kratzspur auf dieser unwegsamen Anhöhe
gleicht, stehenbleibt, um sie Luft holen zu lassen, schauen sie einander
schweigend an. Ihre Blicke
233
fragen: «Wohin wird er uns wohl
führen?» Doch sie bleiben stumm. Sie sehen sich nur an und werden jedesmal
unglücklicher, wenn sie feststellen, daß Jesus wieder den Weg durch die wilde
Schlucht, voller Höhlen, Spalten und Felsbrocken aufgenommen hat. Steine,
Brombeersträucher und tausend andere lästige Gewächse machen ein
Vorwärtskommen sehr mühsam. Die stacheligen Sträucher hängen sich von allen
Seiten an die Kleider, kratzen, bringen zum Stolpern und schlagen ins Gesicht.
Auch die Jüngeren, die schwere Taschen tragen, haben ihre gute Laune verloren.
Endlich bleibt Jesus stehen und
sagt: «Hier werden wir nun eine Woche lang im Gebet verweilen, um euch auf
etwas Großes vorzubereiten. Deshalb habe ich einen so verlassenen Ort gewählt,
fern von allen Karawanen und Dörfern. Hier gibt es Höhlen, die früher schon
den Menschen gedient haben. Sie werden auch uns dienen. Hier gibt es reichlich
frisches Wasser, aber das Erdreich ist trocken. Wir haben genügend Brot und
Nahrungsmittel für diesen Aufenthalt. Die, die im vorigen Jahre mit mir in der
Wüste waren, wissen, wie ich dort gelebt habe. Die hier ist ein Palast im
Vergleich zu jenem Ort, und die nun schon angenehme Jahreszeit nimmt der Kälte
ihre Härte und der Sonne ihre Hitze. Seid daher guten Mutes. Vielleicht werden
wir niemals mehr alle so beisammen sein und so unter uns.
Dieser Aufenthalt möge euch
verbinden, damit ihr nicht mehr zwölf Männer seid, sondern eine Einheit.
Habt ihr nichts zu sagen? Habt
ihr keine Fragen? Legt eure Lasten, die ihr tragt, auf den Felsen dort und
werft auch die andere Last, die ihr auf dem Herzen tragt, zu Tal: eure
Menschlichkeit. Ich habe euch hierher geführt, um zu eurer Seele zu sprechen,
um euren Geist zu nähren, um euch zu vergeistigen. Ich werde nicht viel zu
euch sprechen, denn ich habe schon viel zu euch gesprochen in diesem Jahr,
seit ich bei euch bin. Das soll euch genügen. Wollte ich euch mit Worten
ändern, müßte ich euch zehn, ja hundert Jahre bei mir behalten, und immer noch
wäret ihr unvollkommen. Nun ist die Zeit gekommen, da ich euch heranziehe;
denn um euch einsetzen zu können, muß ich euch formen. Ich greife daher zur
großen Arznei, zur mächtigen Waffe: zum Gebet. Ich habe immer für euch
gebetet. Nun will ich, daß ihr selbst betet. Ich werde euch mein Gebet noch
nicht lehren, aber ich lehre euch, wie man betet und was das Gebet ist. Das
Gebet ist ein Gespräch der Kinder mit dem Vater, von Geist zu Geist, offen,
innig, vertrauensvoll, gesammelt und aufrichtig. Das Gebet ist alles: es ist
Bekenntnis, Selbsterkenntnis, Selbstanklage; es ist ein Gott und sich selbst
gegebenes Versprechen, eine Bitte an Gott, und dies alles zu Füßen des Vaters.
Beten kann man nicht inmitten des Lärms und der Zerstreuung der Welt, es sei
denn, man wäre ein Riese im Beten. Und selbst die Riesen leiden in den Stunden
ihres Gebetes unter diesem Lärm und der Gegensätzlichkeit der Welt. Ihr aber
seid keine Riesen, sondern
234
Zwerge. Ihr seid noch Kinder im
Glauben, seid noch in den Anfängen. Hier werdet ihr das Alter der geistigen
Vernunft erlangen. Das übrige wird später kommen.
Morgens, mittags und abends
werden wir uns jeweils versammeln, um miteinander die alten Worte Israels zu
beten und das Brot zu brechen. Dann wird jeder in seine Höhle zurückkehren und
mit Gott und seiner Seele und mit dem, was ich euch über euere Sendung und
euere Fähigkeiten gesagt habe, allein sein. Erwägt, hört auf eure innere
Stimme und entscheidet. Ich sage euch dies zum letzten Mal. Danach müßt ihr so
vollkommen als möglich sein, ohne Müdigkeit und menschliche Schwächen. ihr
werdet dann nicht mehr Simon des Jonas und Judas des Simon sein. Ihr werdet
nicht mehr Andreas oder Johannes, Matthäus oder Thomas sein, sondern ihr
werdet meine Verwalter sein. Geht nun, ein jeder für sich allein. Ich werde
immer dort in der Höhle sein. Doch kommt nicht ohne ernsthaften Grund zu mir.
Ihr müßt lernen, selbständig zu handeln und allein zu sein. Denn in Wahrheit
sage ich euch: vor einem Jahr haben wir uns kennengelernt, und in zwei Jahren
werden wir uns trennen. Wehe euch und wehe mir, wenn ihr dann noch nicht
gelernt habt, selbständig zu handeln. Gott sei mit euch! Judas, Johannes,
tragt die Lebensmittel in meine Höhle. Sie müssen ausreichen, und ich werde
sie selbst verteilen.»
«Viel wird es nicht sein...»,
entgegnet jemand.
«Genug, um nicht zu sterben. Ein
satter Bauch belastet den Geist. Ich will euch erheben und nicht belasten.»
204. DIE ERWÄHLUNG DER ZWÖLF
JÜNGER ZU APOSTELN
Die aufgehende Sonne färbt die
Berge weiß und mildert das Aussehen der Wildnis. Nur das Rauschen des in der
Tiefe schäumenden Bächleins hallt von den höhlenreichen Bergwänden wider.
Dort, wo die Jünger sich niedergelassen haben, ist zwischen den Stauden und
Gräsern immer wieder ein vorsichtiges Rascheln zu hören. Es sind die ersten
erwachenden Vögel und letzten Tiere der Nacht, die sich verkriechen. Ein paar
Hasen, die an einer niedrigen Brombeerstaude nagen, flüchten erschreckt, als
ein Stein den Abhang herabrollt. Nach einer Weile kehren die Tiere vorsichtig
zurück. Sie spitzen die Ohren, um jeden Laut einzufangen, und da tiefer Friede
herrscht, sind sie bald wieder an ihrem Strauch. Der Tau wäscht alles Laub,
alle Steine, und aus dem Wald steigen die starken Düfte des Mooses, der Minze
und des Majorans auf.
Ein Rotkehlchen wagt sich bis an
den Eingang einer Höhle heran, der ein Felsvorsprung als Vordach dient. Es
steht aufrecht auf seinen seidenen Füßchen, jederzeit zu Fliehen bereit,
wendet das Köpfchen nach links und
235
nach rechts, äugt in die Höhle,
schaut auf den Boden, flüstert sein fragendes «piep, piep» ... und wagt nicht,
bis zu den Brotkrümchen vorzudringen. Erst als eine große Amsel, die sich wie
ein Lausbub gebärdet und in ihrem Profil einem alten Notar gleicht, dem nur
die Brille fehlt, es ihm vormacht, folgt das Rotkehlchen dem kühnen Herrn, der
auf der Futtersuche immer wieder seinen gelben Schnabel in die feuchte Erde
steckt und dann nach einem «tschiep» oder einem kurzen, schelmischen Pfiff
weiterhüpft. Das Rotkehlchen verspeist fleißig Brosamen und ist sichtlich
erstaunt, als es sieht, daß die Amsel, die selbstsicher in die stille Höhle
hineinspaziert, nun mit einer Käserinde herauskommt, die sie immer wieder
gegen einen Stein schlägt, um sie zu zerkleinern und daraus ein Festmahl zu
machen. Schließlich kehrt sie noch einmal in die Höhle zurück, späht in alle
Richtungen, und da nichts mehr zu finden ist, stößt sie einen spöttischen
Pfiff aus und fliegt davon, um ihren Gesang auf einer Steineiche, die ihren
Gipfel in das Blau des Morgenhimmels taucht, zu beenden. Auch das Rotkehlchen
fliegt davon, als es im Inneren der Höhle ein Geräusch vernimmt, und läßt sich
auf einem dünnen, über dem Abgrund schaukelnden Zweig nieder.
Jesus erscheint am Eingang der
Höhle, streut Brosamen und ahmt ganz sachte mit einem gedämpften Pfeifen das
Zwitschern der Vögelchen nach um sie anzulocken.
Dann geht er einige Schritte auf
dem Pfad weiter und lehnt sich unbeweglich an eine Felswand, um seine Freunde,
die herunterkommen, nicht zu erschrecken. Zuerst kommt das Rotkehlchen und
dann folgen noch viele andere Vögelchen verschiedenster Art. Die
Regungslosigkeit Jesu und vielleicht auch sein Blick – ich denke gerne so,
weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß auch sehr mißtrauische Tiere sich
denen nähern, die sie instinktiv nicht als Feinde, sondern als Beschützer
erkennen – bewirken, daß die Vöglein kurz darauf wenige Zentimeter von Jesus
entfernt herumhüpfen. Das inzwischen satte Rotkehlchen fliegt hinauf zum
Felsen, an dem Jesus lehnt, läßt sich auf einem dünnen Waldrebenzweig nieder
und schaukelt über dem Haupte Jesu als ob es Lust hätte, sich auf seinen
blonden Kopf oder seine Schulter zu setzen. Die Mahlzeit ist zu Ende. Die
Sonne vergoldet den Gipfel des Berges und gleich danach die höchsten Zweige
des Waldes, während im Tale noch alles im fahlen Morgenlichte liegt. Die
Vöglein fliegen satt und zufrieden der Sonne entgegen und singen aus voller
Kehle.
«Nun ist es an der Zeit, meine
anderen Kinder zu wecken», sagt Jesus und geht den Pfad hinab, denn seine
Höhle liegt am höchsten. Von einer Höhle zur anderen gehend, ruft er die zwölf
Schläfer beim Namen.
Simon, Bartholomäus, Philippus,
Jakobus und Andreas antworten sofort. Matthäus, Petrus und Thomas sind
langsamer im Antworten. Während Judas Thaddäus schon bereit und munter ist und
Jesus entgegengeht,
236
als er ihn am Eingang erblickt,
schlafen die anderen Vettern, Judas Iskariot und Johannes noch so tief, so daß
Jesus sie auf ihren Lagern aus trockenem Laub wachrütteln muß.
Johannes, der zuletzt Gerufene,
schläft so tief, daß ihm nicht bewußt wird, wer ihn ruft, und er im Halbschlaf
murmelt: «Ja, Mutter, ich komme gleich...», um sich dann wieder umzudrehen und
weiterzuschlafen. Jesus lächelt. Er setzt sich an das Lager aus im Walde
gesammelten Laub, beugt sich nieder und küßt seinen Johannes auf die Wange.
Dieser öffnet die Augen und starrt seinen Meister erstaunt an. Dann setzt er
sich mit einem Ruck auf und sagt: «Brauchst du mich? Da bin ich.»
«Nein. Ich habe dich wie alle
anderen geweckt. Doch du hast geglaubt, es wäre deine Mutter. So habe ich dich
geküßt, um das zu tun, was die Mütter tun.»
Johannes, halbnackt im
Unterkleide, denn er hat das Gewand und den Mantel als Decke benützt, hängt
sich an den Hals Jesu, lehnt das Haupt an seine Schulter und sagt: «Oh, du
bedeutest mir weit mehr als die Mutter. Ich habe sie deinetwegen verlassen.
Dich aber würde ich ihretwegen nie verlassen. Sie hat mir das irdische Leben
geschenkt, du aber schenkst mir das ewige Leben. Oh, ich weiß es!»
«Was weißt du denn mehr als die
anderen?»
«Das, was der Herr mir in dieser
Höhle gesagt hat. Sieh, ich bin nie zu dir gekommen und nehme an, daß die
Gefährten von mir gesagt haben, daß ich gleichgültig und hochmütig bin. Doch
ich mache mir nichts aus dem, was sie denken. Ich weiß, daß du die Wahrheit
kennst. Ich kam nicht zu Jesus Christus, dem menschgewordenen Sohn Gottes,
sondern zu dem, was du im Schoße des Feuers, der ewigen Liebe der Heiligen
Dreifaltigkeit, bist, zu ihrer Natur, ihrem Wesen, ihrem wahren Wesen: der
zweiten Person des unaussprechlichen Geheimnisses, das Gott ist, und in das
ich eindringe, weil Gott mich an sich gezogen hat und so immer bei mir war...
Oh, ich kann in Worten nicht ausdrücken, was ich in dieser dunklen, düsteren
Höhle begriffen habe, die für mich so voller Licht geworden ist; in dieser
kalten Höhle, in der ich von einem unsichtbaren Feuer entbrannt bin, das in
mein Innerstes eingedrungen ist und dort ein süßes Martyrium entzündet hat; in
dieser stillen Höhle, die mir doch himmlische Wahrheiten verkündet hat. Alle
meine Wünsche, alle meine Tränen und alle meine Fragen habe ich an deiner
göttlichen Brust, dem Wort Gottes, ausgeschüttet, und nie habe ich, trotz
allem, was ich von dir vernommen habe, so unermeßlich erhabene Dinge erfahren,
wie du sie mir mitgeteilt hast, Sohn Gottes. Du, Gott gleich dem Vater, du,
Gott gleich dem Heiligen Geist, du, der Angelpunkt der Dreiheit... Oh,
vielleicht lästere ich! Doch ich erkenne es so, denn wenn du nicht wärest, du,
der du die Liebe des Vaters und die Liebe zum Vater bist, dann würde auch die
Liebe, die göttliche Liebe fehlen, und Gott wäre nicht mehr der Dreieinige,
und es würde ihm
237
die grundlegende Eigenschaft
Gottes, nämlich seine Liebe, fehlen! Oh, so viel habe ich in mir, aber es ist
wie ein Wasser, das gegen eine Schleuse sprudelt und wallt und keinen Abfluß
findet... Es ist mir, als ob ich darob sterben müßte, so gewaltig und erhaben
ist die Erregung, die über mein Herz gekommen ist, seitdem ich dich verstanden
habe... Doch um nichts in dieser Welt möchte ich davon befreit werden... Laß
mich an dieser Liebe sterben, mein süßer Gott!»
Johannes, von Liebe entflammt,
lächelt, weint, und ruht ermattet an der Brust Jesu, als ob ihn die Glut
verzehren würde. Jesus, seinerseits ganz von Liebe erfüllt, liebkost ihn.
Johannes erholt sich wieder in
einer Aufwallung von Demut und bittet: «Sag den anderen nichts von dem, was
ich dir gesagt habe. Gewiß haben auch sie, wie ich, in diesen Tagen in Gott
gelebt. Laß den Schleier des Schweigens mein Geheimnis bedecken...»
«Sei versichert, Johannes,
niemand wird von deiner Vermählung mit der Liebe erfahren. Kleide dich an und
komm. Wir müssen aufbrechen.»
Jesus tritt auf den Pfad hinaus,
wo die anderen schon warten. Ihre Gesichter haben einen würdevolleren und
gesammelteren Ausdruck. Die Älteren gleichen Patriarchen, die Jüngeren haben
eine gewisse Reife und Würde erlangt, die ihnen zuvor wegen ihrer Jugend noch
fehlte. Judas Iskariot betrachtet Jesus mit einem scheuen Lächeln auf dem von
Tränen gezeichneten Gesicht. Jesus liebkost ihn im Vorbeigehen. Petrus... sagt
kein Wort. Das ist so befremdend an ihm, daß es mehr als jede andere
Veränderung in Staunen versetzt. Er betrachtet Jesus aufmerksam, jedoch mit
einer neuen Würde, die seine Stirn mit den etwas kahl gewordenen Schläfen
höher und seine Augen, die bisher voller Geist funkelten, ernster erscheinen
läßt. Jesus ruft ihn zu sich und behält ihn in seiner Nähe in Erwartung des
Johannes, der endlich erscheint mit einem Gesicht, von dem ich nicht sagen
kann, ob es röter oder blasser ist, doch sicher ist es von einer inneren Glut
entflammt, die seine Gesichtsfarbe zwar nicht verändert, aber deutlich
bemerkbar ist. Alle schauen ihn an.
«Komm her zu mir, Johannes, auch
du Andreas, und du, Jakobus des Zebedäus, und du, Simon, und du, Bartholomäus,
und du Philippus, und ihr, meine Brüder, und du Matthäus. Judas des Simon, mir
gegenüber. Thomas hierher. Setzt euch. Ich muß mit euch reden.»
Sie setzen sich alle hin wie
ruhige Kinder, noch halb vertieft in ihre innere Welt, und dennoch hören sie
Jesus so aufmerksam zu wie nie zuvor.
«Wißt ihr, was ich in euch
bewirkt habe? Alle wißt ihr es. Die Seele hat es dem Verstand gesagt. Die
Seele, die in diesen Tagen Königin war, hat den Verstand zwei große Tugenden
gelehrt: die Demut und das Schweigen. Das Schweigen, das ein Kind der Demut
und der Klugheit ist, die ihrerseits Töchter der Nächstenliebe sind.
Vor acht Tagen noch wäret ihr
gekommen, um wie echte Kinder, die in
238
Erstaunen versetzen und ihr
Gegenüber übertreffen wollen, eure Tüchtigkeit und eure neuen Erkenntnisse zu
verkünden. Nun schweigt ihr. Vom Kind habt ihr euch zum Jüngling gewandelt und
wißt nun, daß so etwas eure Gefährten, die vielleicht von Gott nicht so sehr
mit Wohltaten bedacht wurden, beschämen könnte; deshalb sagt ihr nichts. Auch
seid ihr wie Mädchen, die zur Reife gelangt sind. In euch ist die heilige
Scham vor der Wandlung erwacht, die euch das Geheimnis der Vermählung der
Seelen mit Gott geoffenbart hat. Diese Höhlen schienen euch am ersten Tage
kalt, unwirtlich, abstoßend... Nun betrachtet ihr sie wie duftende, lichtvolle
Hochzeitsgemächer. In ihnen habt ihr Gott kennengelernt. Vorher wußtet ihr von
ihm, doch ihr hattet mit ihm noch nicht die Vertrautheit, die aus zwei Wesen
eines macht. Unter euch sind Männer, die seit Jahren verheiratet sind; andere,
die nur trügerische Beziehungen mit Frauen hatten, und wieder andere, die aus
verschiedenen Gründen keusch geblieben sind. Die Keuschen aber wissen nun, was
die vollkommene Liebe ist, so wie es die Verheirateten wissen. Ich kann euch
sogar sagen, daß keiner so gut weiß, was die vollkommene Liebe ist, wie der,
der die fleischliche Lust nicht kennt. Denn Gott offenbart sich dem Keuschen
in seiner ganzen Fülle, aus Freude, sich dem Reinen schenken zu können, da er,
der Reinste, in diesem jungfräulichen Geschöpf etwas von sich selbst
wiederfindet, und um es für seinen Verzicht aus Liebe zu ihm zu entschädigen.
Wahrlich, ich sage euch, hätte
ich nicht die Aufgabe, das Werk des Vaters zu vollbringen, so würde ich euch
in meiner Liebe und meiner Weisheit hier behalten und mit euch abgesondert
leben. Und gewiß würde ich aus euch bald große Heilige machen, die nicht mehr
weggehen, nicht mehr fallen und in ihrem Eifer nicht mehr nachlassen würden.
Doch ich kann nicht. Ich muß gehen und auch ihr müßt gehen. Die Welt erwartet
uns, die entheiligte und entheiligende Welt, die Lehrer und Retter braucht.
Ich wollte euch Gott erkennen lassen, damit ihr ihn mehr liebt als die Welt,
die mit all ihren Gefühlen nicht ein einziges Lächeln Gottes wert ist. Ich
wollte, daß ihr darüber nachdenkt, was die Welt ist und was Gott ist, damit
ihr nach dem Besseren strebt. In diesem Augenblick sehnt ihr euch nur nach
Gott. Oh, könnte ich euch auf ewig in dieser Stunde und in dieser Sehnsucht
festhalten!
Doch die Welt wartet auf uns, und
wir werden in die Welt, die uns erwartet, gehen, um der heiligen
Barmherzigkeit willen, die, wie sie mich in die Welt entsandt hat, nun euch
durch meinen Befehl in die Welt aussendet. Aber ich beschwöre euch: Bewahrt
den Schatz dieser Tage in euch wie Perlen in einem Schrein, dieser Tage, die
ihr der Betrachtung und euren Seelen gewidmet habt, in denen ihr euch Gott
übergeben, euch erhoben und einen neuen Menschen angezogen habt. Wie die
Patriarchen zum Andenken und zum Zeugnis der Bündnisse mit Gott Steine
errichtet haben, so sollt ihr dieses kostbare Andenken in eurem Herzen hüten.
239
Von heute an seid ihr nicht mehr
die bevorzugten Jünger, sondern die Apostel, die Leiter meiner Kirche. Von
euch wird für alle Zeiten ihre Hierarchie abstammen, und ihr werdet Lehrer
genannt werden und euren Gott in seiner dreifachen Macht, Weisheit und Liebe
zum Meister haben. Ich habe euch nicht erwählt, weil ihr es am meisten
verdient, sondern aus vielerlei Gründen, die ihr im Augenblick noch nicht zu
wissen braucht. Ich habe euch statt der Hirten erwählt, die meine Jünger sind,
seit ich auf Erden bin. Warum habe ich das getan? Weil es gut so war. Unter
euch sind Galiläer und Juden, Gebildete und Ungebildete, Vermögende und Arme
in den Augen der Welt, damit man nicht sagen kann, ich hätte eine einzelne
Volksschicht bevorzugt. Doch eure Zahl ist zu gering für all das, was zu tun
ist, sowohl jetzt als auch später.
Nicht alle von euch werden sich
an eine Stelle der Schrift im zweiten Buch Paralipomenon, 29. Kapitel,
erinnern, und so möchte ich sie euch ins Gedächtnis rufen. Dort steht
geschrieben wie Ezechias, König von Juda, den Tempel reinigen ließ. Hierauf
ließ er Opfer darbringen, als Sündopfer für das Königshaus, das Heiligtum und
für Juda; danach begann jeder einzelne, sein Opfer darzubringen. Da aber für
die Darbringung so vieler Opfer die Priester nicht ausreichten, rief man
Leviten zu Hilfe, die in einem einfacheren Ritus als die Priester geweiht
worden waren.
Sowohl das eine als auch das
andere werde ich tun. Ihr seid die Priester, die ich, als Ewiger Hohepriester,
lange Zeit mit unermüdlicher Sorgfalt vorbereitet habe. Doch ihr seid zu
wenige für die immer zunehmende Arbeit, die sich ergibt, weil sich so viele
einzelne Menschen ihrem Herrn und Gott opfern. Somit geselle ich euch die
Jünger bei, die weiterhin Jünger bleiben werden. Es sind jene, die am Fuße des
Berges warten, jene, die schon etwas höher stehen, jene, die über das Land
Israel und bald über die ganze Welt verstreut sein werden. Sie werden
dieselben Aufgaben haben, denn die Mission ist ein und dieselbe. Verschieden
wird ihr Rang nur in den Augen der Welt gewertet, nicht aber in den Augen
Gottes. Bei Gott gilt die Gerechtigkeit, und so ist der bescheidene, von
Aposteln und Mitbrüdern unbeachtete Jünger, der durch sein heiligmäßiges Leben
viele Seelen für Gott gewinnt, in seinen Augen größer als der bekannte
Apostel, der nur dem Namen nach Apostel ist, seine Apostelwürde jedoch zu
menschlichen Zwecken mißbraucht.
Die Aufgabe der Apostel und der
Jünger wird immer die der Priester und Leviten des Ezechias sein:
Gottesdienste halten, den Götzendienst ausrotten, die Herzen und die Stätten
reinigen, den Herrn und sein Wort verkünden. Eine heiligere Aufgabe gibt es
auf dieser Welt nicht! Daher habe ich zu euch gesagt: "Hört auf eure innere
Stimme, prüft euch!" Wehe dem Apostel, der fällt! Er zieht viele Jünger mit
sich, und diese ziehen eine noch größere Anzahl von Gläubigen mit sich, und
das Verderben wird immer größer, wie eine vom Berg herabstürzende Lawine oder
ein ins
240
Wasser geworfener Stein, der
immer weitere Kreise zieht, wenn man noch mehr Steine auf die gleiche Stelle
wirft.
Werdet ihr alle vollkommen sein?
Nein. Wird der Geist von heute bleiben? Nein. Die Welt wird ihre Netze
auswerfen, um euch zu Fall zu bringen. Es wird der Sieg der Welt sein, die als
Tochter Satans zu fünf Zehntel, Sklaven Satans zu noch drei Zehntel und
gleichgültig Gott gegenüber zu den übrigen zwei Zehntel sein wird; ein Sieg,
der das Licht in den Herzen der Heiligen löschen wird. Verteidigt euch vor
allem gegen euch selbst, gegen die Welt, das Fleisch, den Teufel. Doch ganz
besonders verteidigt euch gegen euch selbst. Wehrt euch, meine Kinder, gegen
den Stolz, die Sinnlichkeit, die Doppelzüngigkeit, die Lauheit, die geistige
Trägheit, gegen den Geiz! Wenn sich euer niedriges Ich gegen scheinbar
unmenschliche Härte auflehnt und sich beklagt, dann bringt es zum Schweigen
und sagt: "Für die Entbehrung, die ich dir für kurze Zeit auferlege,
verschaffe ich dir auf ewig das Gastmahl der Verzückung, das du in der
Berghöhle am Ende des Mondes Schebat erlebt hast."
Laßt uns gehen! Laßt uns den
anderen entgegengehen, die in großer Zahl auf mein Kommen warten. Ich werde
dann für einige Stunden in Tiberias sein, und ihr erwartet mich predigend am
Fuße des Berges auf der Straße von Tiberias zum Meer. Ich werde dorthin kommen
und auf den Berg steigen, um zu predigen. Nehmt eure Taschen und Mäntel. Der
Aufenthalt ist beendet, und die Erwählung ist erfolgt.»
205. DIE ERSTE PREDIGT SIMONS DES
ZELOTEN UND DES JOHANNES
Als Jesus den Berghang
herabkommt, sieht er auf halber Höhe viele Jünger und viele andere, die sich
nach und nach den Jüngern angeschlossen haben und ihnen an diesen abseits
gelegenen Ort gefolgt sind, weil sie Wunder hoffen oder Jesus hören wollen,
sei es auf Anraten von anderen, sei es aus eigenem seelischen Antrieb. Ich
glaube, daß die Schutzengel diese Menschen in ihrer Sehnsucht nach Gott zum
Sohn Gottes geführt haben. Ich glaube nicht, mit dieser Überzeugung eine
fromme Legende zu erzählen. Wenn man bedenkt, mit welch stetiger und listiger
Hartnäckigkeit Satan die Feinde Gottes zu Jesus führt, sobald es dem
dämonischen Geist gelingt, ihnen die Schuld Christi vorzutäuschen, ist es auch
erlaubt zu glauben, daß die Engel den Teufel nicht nachstehen und die guten
Seelen zu Christus führen.
Jesus kommt allen, die, ohne müde
oder ängstlich zu werden, auf ihn gewartet haben, mit Wundern und Worten zu
Hilfe. Wie viele Wunder! So viele Wunder wie Blumen an den Berghängen, und so
großartige
241
Wunder wie das an dem Kind, das
schwer verbrannt aus einem brennenden Strohschober gezogen und dann auf einer
Bahre zu Jesus gebracht wurde. ein Häuflein verbrannten Fleisches, ein
sterbendes, wimmerndes Kind, dessen Anblick so entsetzlich war, daß man es
unter einem Linnen verbarg. Jesus heilt es mit einem Hauch auf seinen Leib und
die Brandwunden verschwinden. Es steht auf und, nackt wie es ist, eilt es zu
seiner Mutter, die seinen geheilten, narbenlosen Körper unter Freudentränen
liebkost. Sie küßt seine Augen, die versengt zu sein schienen und nun vor
Freude lebhaft funkeln, seine Haare, die zwar kurz, aber nicht ganz verbrannt
sind, als wäre kein zerstörendes Feuer, sondern nur ein Rasiermesser an sie
gekommen. Als unscheinbares Wunder sei hier noch die Heilung eines hustenden
Greises erwähnt, der gesagt hatte: «Nicht meinetwegen, sondern weil ich den
Enkelkindern den Vater ersetzen muß und die Erde nicht bearbeiten kann mit
diesem festsitzenden Schleim im Hals, der mich zu ersticken droht.»
Schließlich das unsichtbare und
doch echte Wunder, das die Worte Jesu bewirken: «Unter euch ist jemand, der in
seinem Herzen weint, und nicht zu sagen wagt: "Habe Erbarmen!" Ich antworte
ihm: "Es geschehe nach deinem Wunsche. Ich schenke dir meine ganze erbarmende
Liebe, damit du erkennst, daß ich die Barmherzigkeit bin." Meinerseits sage
ich: Sei großmütig! Sei großmütig gegenüber Gott. Zerreiße alle Bande mit der
Vergangenheit. Du hörst Gottes Stimme, und zu ihm, den du hörst, gehe mit
freiem Herzen und vollendeter Liebe.»
Ich weiß nicht, ob diese Worte an
einen Mann oder an eine Frau in der Menschenmenge gerichtet sind. Jesus sagt
dann: «Dies sind meine Apostel; jeder von ihnen ist ein anderer Christus, denn
ich habe sie erwählt. Wendet euch mit Vertrauen an sie. Von mir wissen sie
alles, was ihr für eure Seelen braucht...» Die Apostel betrachten Jesus ganz
erschrocken, doch er lächelt und fährt fort: «... und durch sie werden eure
Seelen Sternenlichter und mit so viel Tau erquickt, daß ihr nicht in der
Finsternis schmachten müßt. Danach werde ich kommen und euch die Fülle der
Sonne und der Strahlen bringen: die ganze Weisheit, um euch in der
übernatürlichen Kraft und Freude zu stärken und zu beglücken. Der Friede sei
mit euch, Kinder. Andere warten auf mich, die noch unglücklicher und ärmer
sind als ihr. Doch ich lasse euch nicht allein. Meine Apostel werden bei euch
bleiben, und es ist, wie wenn ich die Kinder meiner Liebe der Obsorge der
zärtlichsten und vertrauenswürdigsten Ammen überlassen würde.»
Jesus macht ein Zeichen des
Abschieds und des Segens und bahnt sich dann einen Weg durch die Menge, die
ihn nicht gehen lassen will. Da geschieht ein letztes Wunder. Eine
halbgelähmte alte Frau, die von ihrem Enkel begleitet wird und nun jubelnd den
eben noch steifen Arm bewegt, ruft aus: «Jesus hat mich im Vorbeigehen mit
seinem Mantel gestreift,
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und ich bin geheilt worden. Ich
habe ihn nicht einmal darum gebeten, denn ich bin alt... Doch er hatte
Erbarmen mit mir und hat meinen geheimen Wunsch erfüllt, indem er mit dem
Zipfel seines Mantels meinen unheilbaren Arm gestreift und geheilt hat! Oh,
welch großer Sohn ist unserem heiligen David erstanden! Ehre seinem Messias!
Doch seht, seht! Auch das Bein kann ich nun wie den Arm bewegen... Oh, nun
fühle ich mich wie eine Zwanzigjährige!»
Da viele Menschen auf die alte
Mutter zudrängen, die mit lauter Stimme ihr Glück verkündet, gelingt es Jesus,
sich ohne weitere Behinderung zu entfernen. Die Apostel folgen ihm. An einer
einsamen Stelle in der Ebene, von dem sich eine satte Weide bis zum See
erstreckt, verweilen sie einen Augenblick. Jesus sagt: «Ich segne euch! Kehrt
nun zu eurer Arbeit zurück und verrichtet sie, bis ich wiederkomme, wie ich
euch gesagt habe.»
Petrus, der bis dahin kein Wort
gesagt hat, platzt heraus: «Aber, mein Herr, wie kannst du sagen, wir hätten
alles, was die Seelen brauchen? Es ist wahr, du hast uns vieles gesagt. Aber
wir sind Dummköpfe, ich wenigstens bin einer... und von all dem, was du mir
gegeben hast, habe ich wenig, sehr wenig im Kopf behalten. Es ist wie bei
einem Menschen, der von einem Mahle nur noch das Schwerste im Magen hat; alles
andere ist nicht mehr da.»
Jesus lächelt ganz offen: «Und wo
bleibt denn der Rest der Nahrung ?»
«Das weiß ich nicht. Ich weiß
nur, daß ich bei auserlesenen Speisen schon nach einer Stunde einen leeren
Magen habe. Wenn ich hingegen schwere Wurzeln oder Linsen mit Öl esse, dauert
es lange, bis alles unten ist!»
«Ja, es braucht Zeit. Doch glaube
mir, gerade das Wurzelgemüse und die Linsen, von denen du annimmst, sie würden
dich am meisten sättigen, bestehen hauptsächlich aus Ballaststoffen und haben
nur einen geringen Nährwert für den Körper. Doch die feinen Speisen, die du
nach einer Stunde nicht mehr spürst, sind dann nicht mehr im Magen, sondern
bereits verdaut und im Blut, wo ihre Nährstoffe uns weit mehr Nutzen bringen.
Nun scheint es dir und deinen Gefährten, daß euch von allem, was ich gesagt
habe, nichts mehr oder nur noch wenig geblieben ist. Vielleicht erinnert ihr
euch gut an das, was eure persönliche Wesensart besonders angesprochen hat:
Die Ungestümen erinnern sich an das, was ihr Ungestüm zu fesseln vermochte,
die Beschaulichen an das, was sie nachdenken ließ, die Liebevollen an das, was
ihre Liebe entzündete. Dies ist nicht nur vielleicht so, sondern es ist
tatsächlich so! Doch glaubt mir, alles ist euch geblieben, auch wenn ihr es
entschwunden glaubt. Ihr habt es in euch aufgenommen. Der Gedanke wird sich
wie ein vielfarbiges Band wieder entrollen und euch je nach Bedarf die milden
oder strengen Farben zeigen.
243
Habt keine Angst! Denkt daran,
daß ich alles weiß und euch nie aussenden würde, wenn ihr euerer Aufgabe nicht
gewachsen wäret. Mit Gott, Petrus. Lächle und habe Vertrauen! Es wird dies ein
schönes Bekenntnis des Glaubens an die allgegenwärtige Weisheit sein. Gott sei
mit euch allen! Der Herr bleibe bei euch.» Er verläßt sie rasch, während sie
noch ganz erstaunt und erregt sind über das, was ihnen zu tun aufgetragen
wurde.
«Wir müssen gehorchen», sagt
Thomas.
«Ach ja... oh, ich Armer! Am
liebsten würde ich ihm nachrennen...», murmelt Petrus.
«Nein, tue das nicht. Gehorsam
ist Liebe zu ihm», sagt Jakobus des Alphäus.
«Die fundamentale und heilige
Klugheit sagt uns aber, daß wir anfangen sollten, solange er noch in der Nähe
ist und uns raten kann, wenn wir einen Fehler machen. Wir müssen ihm helfen»,
rät der Zelote.
«Das ist wahr. Jesus ist ziemlich
müde. Wir müssen ihn ein wenig aufrichten, so gut wir können. Es genügt nicht,
daß wir die Taschen tragen und die Nachtlager und die Mahlzeiten bereiten, das
kann jeder. Wir müssen ihn vielmehr unterstützen, wie er es wünscht, und zwar
in seiner Mission», bestätigt Bartholomäus.
«Du hast leicht reden, denn du
bist gebildet. Aber ich, ich bin fast ganz ungebildet...», jammert Jakobus des
Zebedäus.
«Oh, mein Gott! Da kommen die
Leute, die dort oben waren! Was sollen wir nur tun?» ruft Andreas aus.
Matthäus sagt: «Verzeiht, wenn
ich, der Elendeste unter euch, einen Rat gebe. Wäre es nicht besser, zum Herrn
zu beten, anstatt hier zu stehen und über das zu jammern, was durch unser
Gejammer nicht besser wird? Auf, Judas! Du, der du die Schrift gut kennst,
sprich im Namen aller das Gebet Salomons um Weisheit. Schnell, bevor die Leute
hier sind...»
Thaddäus beginnt mit seiner
schönen Baritonstimme zu beten: «Gott meiner Väter, Herr der Barmherzigkeit,
der du alles erschaffen hast...», und er fährt fort bis zu der Stelle: «...
durch deine Weisheit wurde allen Beistand gewährt, die dir, o Herr, von Anfang
an wohlgefällig waren.»Gerade noch rechtzeitig, bevor die Menschen sie
erreichen, umringen und mit tausend Fragen bestürmen, hat er das Gebet
beendet. Sie wollen wissen, wo der Meister hingegangen ist, wann er
zurückkehren wird und, was am schwersten zu beantworten ist, wie man es macht,
um dem Meister nachzufolgen und mit dem Herzen den von ihm gewiesenen Weg
einzuschlagen, auch wenn man ihm nicht als Jünger folgen kann.
Diese Frage bringt die Apostel in
Verlegenheit. Sie sehen sich gegenseitig an und Judas Iskariot antwortet: «Mit
dem Streben nach Vollkommenheit,» als wäre dies eine Antwort, die alles
erklärt...
Jakobus des Alphäus, demütiger
und besonnener als der andere, überlegt und sagt dann: «Die Vollkommenheit,
auf die mein Gefährte hingewiesen
244
hat, erreicht man, indem man das
Gesetz befolgt, denn das Gesetz ist Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist
Vollkommenheit.»
Doch die Menge gibt sich damit
noch nicht zufrieden, und einer, anscheinend der Wortführer, fragt: «Aber wir
sind im Guten so klein wie Kinder. Die Kinder wissen noch nicht, was gut und
böse ist, und sie vermögen nicht zu unterscheiden. Wir wissen so wenig über
den Weg, den er uns weist, daß wir nicht imstande sind, klar zu sehen. Wir
hatten einen Weg, der uns bekannt war: den alten, schwierigen, langen und
furchtbaren Weg, der uns in der Schule gelehrt wurde. Nun entnehmen wir seinen
Worten, daß sein Weg jenem Aquädukt gleicht, das wir von hier aus sehen
können. Unten ist die Straße für die Tiere und die Menschen. Darüber, über
zierlichen Bögen, hoch in der Sonne und im Blau des Himmels, bei den höchsten
im Winde rauschenden Ästen, wo die Vögel singen, dort ist der andere Weg, so
ebenmäßig, rein, strahlend im Licht wie der untere holprig, schmutzig und
dunkel ist; oben ist der Kanal, der das klare Wasser, den Segen Gottes,
bringt, und den Sonnenstrahlen, Sternenschein, frisches Laub, Blumen und
Schwalbenflügel liebkost. Wir möchten zu diesem hohen Weg aufsteigen, der der
seine ist, und wir können nicht, weil wir hier unten unter der Last des alten
Gesetzes festgehalten werden. Was sollen wir tun?»
Der so gesprochen hat ist ein
junger Mann um die 25 Jahre, dunkel, kräftig, mit einem intelligenten Blick
und einem weniger ländlichen Aussehen als das der Mehrzahl der Anwesenden. Er
hat im Namen eines reiferen Mannes neben ihm gesprochen.
Judas Iskariot, hochgewachsen wie
er ist, kann ihn sehen und flüstert den Gefährten zu: «Schnell. Ihr müßt gut
reden. Dort ist Hermas mit Stephanus: Stephanus ist der Liebling Gamaliels!»
was die Apostel noch vollends in Verlegenheit bringt.
Schließlich antwortet der Zelote:
«Die Bogen gäbe es nicht, bestünde nicht die Basis als düsterer Weg. Auf ihr
erhebt sich, was zum Himmel strebt und wonach du dich sehnst. Die im Erdreich
liegenden Steine, die das Gewicht tragen, ohne sich an den Sonnenstrahlen und
an den vorüberfliegenden Schwalben erfreuen zu können, ahnen zwar, daß es sie
gibt; denn manchmal schießt eine Schwalbe jubelnd bis zum Schlamm der Erde
hinab und streift sachte die Grundmauer der Bogen. Zuweilen dringt auch ein
Sonnen- und Sternenstrahl hinunter und erzählt von der Schönheit des
Firmaments. Ebenso ist auch in vergangenen Jahrhunderten von Zeit zu Zeit ein
himmlisches Wort der Verheißung, ein himmlischer Strahl der Weisheit bis zur
Erde vorgedrungen, um die vom göttlichen Zorn niedergedrückten Steine zärtlich
zu berühren.
Denn die Steine waren notwendig
und sind nicht, waren nicht und werden nie unnütz sein. Auf ihnen haben sich
langsam die Zeiten und die Vollendung menschlicher Erkenntnisse aufgebaut, um
alsdann die Freiheit
245
der gegenwärtigen Zeit und die
Weisheit übermenschlichen Wissens zu erlangen.
Schon lese ich die Einwände, die
dir im Gesicht geschrieben stehen. Alle haben wir sie vorgebracht, bevor wir
begreifen konnten, daß dies die Neue Lehre, die Frohe Botschaft ist, die jenen
verkündet wird, die anstatt mit der Errichtung der Marksteine der Gelehrtheit
zu wachsen, immer mehr in die Finsternis zurückgesunken sind, wie eine in den
Abgrund stürzende Mauer.
Um uns von der Krankheit
übernatürlicher Verfinsterung zu befreien, müssen wir mutig den Grundstein von
allen darüberliegenden Steinen befreien. Habt keine Angst, abzubrechen, was
zwar eine hohe Mauer darstellt, jedoch nicht den ewigen Quell reiner
Lebenskraft in sich birgt. Kehrt zurück zum Fundament. Es muß nicht geändert
werden, denn es stammt von Gott und ist fest. Doch bevor ihr die Steine
wegwerft, überprüft einen nach dem anderen, ob er im Einklang mit dem Wort
Gottes steht; denn nicht alle sind schlecht und unnütz. Hört ihr keinen
Mißklang, bewahrt sie und verwendet sie für den Wiederaufbau. Hört ihr aber in
ihnen die Mißtöne der menschlichen oder der satanischen Stimme, dann
zertrümmert die schlechten Steine. Ihr könnt euch nicht irren, denn wenn es
die Stimme Gottes ist, hört ihr den Klang der Liebe, wenn es die menschliche
Stimme ist, hört ihr den Klang der Sinne, und wenn es die Stimme Satans ist,
hört ihr den Schrei des Hasses. Ich sage euch: Zertrümmert sie, denn es ist
Liebe, Keime des Bösen und alles Schlechte auszurotten, damit es den Wanderer
nicht verführen und er es nicht zu seinem Schaden benütze. Merzt alles Böse in
eueren Werken, Schriften, Belehrungen und Taten gründlich aus. Besser ist es,
sich mit wenigen guten Steinen eine Elle hoch zu erheben, als viele Meter hoch
mit schlechten Steinen. Die Strahlen des Lichtes und die Schwalben steigen
auch zu dem sich kaum über die Erde erhebenden Mäuerchen hinab, und die
einfachen Blümchen des Rains haben es leicht, sich zärtlich an diese demütigen
Steine zu schmiegen. Die stolzen Steine aber, die nutzlos und rauh in die Höhe
streben, verspüren nur die Stiche der Brombeersträucher und die Umschlingung
der Giftpflanzen. Reißt nieder, um wieder aufzubauen und emporzusteigen, indem
ihr eure alten Steine an der Stimme Gottes erprobt.»
«Du sprichst gut, Mann! Aber
aufsteigen... Wie? Wir haben dir schon gesagt, daß wir schwächer sind als
kleine Kinder. Wer hilft uns, den steilen Pfeiler zu erklimmen? Wir werden die
Steine am Klang Gottes prüfen und die weniger guten zertrümmern. Aber wie
aufsteigen? Schon der Gedanke daran macht uns schwindeln», sagt Stephanus.
Johannes, der mit geneigtem
Haupte und in sich hineinlächelnd zugehört hat, erhebt sein leuchtendes
Antlitz und ergreift das Wort: «Brüder! Es bereitet Schwindel, an den Aufstieg
zu denken, das ist wahr! Aber wer
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sagt euch denn, daß es nötig ist,
mit einem Mal die Höhe zu erklimmen? Dies ist nicht nur den Kindern, sondern
auch den Erwachsenen unmöglich. Nur die Engel können sich ins Himmelsblau
emporschwingen, denn sie sind frei von jeglichem irdischen Gewicht, und unter
den Menschen sind nur die Helden der Heiligkeit dazu fähig.
Wir haben auch heute in dieser
verdorbenen Welt noch einen Helden der Heiligkeit, gleich den Vorvätern, mit
denen Israel sich schmückte, als die Patriarchen Freunde Gottes waren und das
Wort des ewigen Gesetzes als einziges von jedem aufrichtigen Geschöpf befolgt
wurde. Johannes, der Vorläufer, lehrt, wie man auf direktem Wege die Höhe
erklimmen kann. Johannes ist ein Mensch; doch die ihm durch das Feuer Gottes
eingeflößte Gnade hat ihn schon im Mutterschoß gereinigt – so wie die Lippen
des Propheten vom Seraphim gereinigt wurden – auf daß er, Johannes, dem
Messias vorangehen könne, ohne den königlichen Weg Christi durch den Gestank
der Erbsünde zu entheiligen. Diese Gnade hat Johannes Engelsflügel gegeben,
und die Buße hat sie wachsen lassen, so daß auch die Last der Menschlichkeit,
die ihn als einen von der Frau Geborenen noch beschwerte, aufgehoben wurde.
Daher kann sich Johannes aus seiner Höhle, in die er Buße predigt, und mit
seinem Leib, in dem die mit der Gnade vermählte Seele glüht, emporschwingen
bis zum höchsten Punkt des Bogens, über dem Gott, unser höchster Herr und
Gott, thront. Er kann, da er die vergangenen Jahrhunderte, den heutigen Tag
und die Zukunft überblickt, mit prophetischer Stimme und mit dem Auge des
Adlers, der die ewige Sonne schaut und erkennt, verkünden: "Sehet das Lamm
Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt", und er kann alsdann, nach diesem
erhabenen Gesang, aus diesem Leben scheiden. Dieser Gesang wird nie mehr
verstummen und wird nicht nur eine Zeitlang erklingen; sondern im
immerwährenden Tempel, im ewigen, glückseligen Jerusalem, der zweiten
Göttlichen Person zujubeln, sie in menschlichen Nöten anflehen und ihr im
Glanz der ewigen Herrlichkeit lobsingen.
Doch das Lamm Gottes, das in
seiner unendlichen Liebe die strahlende Wohnung des Himmels verlassen hat, wo
es als Feuer Gottes vom Feuer umgeben ist... O ewige Zeugung des Vaters, der
mit dem unermeßlichen und heiligsten Gedanken sein Wort erzeugt und es in
einer Verschmelzung der Liebe in sich aufnimmt, aus der der Geist der Liebe
hervorgeht, in dem sich Stärke und Weisheit vereinigen! Dieses Lamm Gottes,
das seine reinste, geistige Gestalt aufgegeben hat, um seine unendliche
Reinheit, seine Heiligkeit und seine göttliche Natur in einem sterblichen Leib
zu verhüllen, weiß, daß uns die Gnade nicht gereinigt, vielmehr noch nicht
gereinigt hat sind und wir nicht fähig sind, uns wie der Adler Johannes, in
die Höhe, auf den Gipfel zu schwingen, wo der Dreieinige Gott thront. Wir sind
die kleinen Sperlinge auf dem Dache und am Wege. Wir sind die Schwalben, die
das Blau des Himmels berühren, sich aber von Insekten
247
nähren. Wir sind die Lerchen, die
mit ihrem Gesang die Engel nachahmen möchten; aber im Vergleich zu ihrem
Gesang ist der unsere nur das ängstliche Zirpen einer sommerlichen Grille. Das
süße Lamm Gottes, das gekommen ist, die Sünden der Welt hinwegzunehmen, weiß
dies. Denn obwohl es nicht mehr der unendliche Geist des Himmels ist, da es
selbst in einem sterblichen Leib wohnen wollte, so ist doch seine
Unendlichkeit dadurch nicht vermindert, und in seiner unendlichen Weisheit
weiß es alles.
Er weist uns den Weg, den Weg der
Liebe. Er ist die Liebe, die aus Barmherzigkeit zu uns Fleisch angenommen hat.
Und so bereitet uns diese barmherzige Liebe den Weg nach oben, den selbst die
Kleinen gehen können. Auf diesem Weg geht er uns voran als erster, nicht weil
er es tun müßte, sondern um uns den Weg zu weisen. Er müßte nicht einmal die
Flügel ausbreiten, um sich wieder mit dem Vater zu vereinigen. Sein Geist, ich
schwöre es euch, ist auf diese armselige Welt hier verbannt, doch er ist auch
stets beim Vater, denn Gott vermag alles, und er ist Gott. Er geht uns voran
und läßt den Wohlgeruch seiner Heiligkeit zurück, das Gold und das Feuer
seiner Liebe. Betrachtet seinen Weg! Oh, er führt euch leicht zum höchsten
Punkt des Bogens! Doch wie friedvoll und sicher ist dieser Weg! Er ist keine
Gerade, sondern eine Spirale, und dadurch länger. Sein Liebesopfer der
Barmherzigkeit enthüllt sich in dieser Länge, an die er sich selbst hält aus
Liebe zu uns Schwachen. Länger ist der Weg, aber mehr unserer Armseligkeit
angepaßt. Der Aufstieg zur Liebe, zu Gott, ist einfach wie die Liebe. Doch die
Liebe ist tief, denn Gott ist ein Abgrund, und er wäre für uns unerreichbar,
hätte er sich nicht erniedrigt, um sich erreichen zu lassen und die Liebe der
für ihn entbrannten Seele zu erfahren. (Johannes spricht und weint mit
lächelndem Munde in der Verzückung seiner Offenbarung Gottes.) Lang ist der
einfache Weg der Liebe, denn der Abgrund, der Gott ist, hat kein Ende, und der
Aufstieg zu Gott hat keine Grenzen. Doch der wunderbare Abgrund ruft unseren
armseligen Abgrund, und dieser wunderbare Abgrund in seiner Fülle von Licht
ruft uns zu: "Kommt zu mir!"
O Einladung Gottes! Einladung des
Vaters! Hört, hört! Christus hat die Himmelspforten weit geöffnet und den
Engeln der Barmherzigkeit und des Verzeihens geboten, sie offen zu halten, auf
daß ihnen in Erwartung der Gnade wenigstens Lichter, Wohlgerüche, Gesänge und
Frohsinn entströmen mögen, um in heiliger Weise die Herzen der Menschen
anzuziehen und zärtliche Worte an sie zu richten. Es ist die Stimme Gottes,
die spricht, und die Stimme sagt: "Eure Kindlichkeit ? Sie ist eure beste
Münze! Ich möchte, daß ihr ganz klein werdet, damit ihr Demut, Aufrichtigkeit,
Vertrauen und die Liebe der Kinder zum Vater erlangt. Eure Unfähigkeit? Aber
gerade sie ist mir Ruhm! Oh, kommt! Ich verlange nicht von euch, daß ihr
selbst den Klang der guten und der schlechten Steine prüft. Gebt sie mir. Ich
selbst werde sie verlesen und ihr werdet damit
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wieder aufbauen. Der Aufstieg zur
Vollkommenheit? Oh, meine kleinen Kinder. Legt eure Hand in die Hand meines
Sohnes, eures Bruders, und so werdet ihr nun an seiner Seite aufsteigen
"Aufsteigen! Zu dir kommen, ewige Liebe! Dir, der Liebe, ähnlich werden!
Lieben, das ist das Geheimnis!
... Lieben! Sich schenken... Lieben! Sich selbst vernichten... Lieben! Sich
verschmelzen... Das Fleisch? Ein Nichts! Der Schmerz? Ein Nichts! Die Zeit?
Ein Nichts! Selbst die Sünde wird zum Nichts, wenn ich sie in deinem Feuer, o
Gott, verbrenne. Nur die Liebe allein besteht! Die Liebe! Die Liebe, die uns
der menschgewordene Gott geschenkt hat, wird uns alles verzeihen. Niemand weiß
besser zu lieben als die Kinder, und niemand wird mehr geliebt als ein Kind.
Oh! Du, den ich nicht kenne, der
du aber das Gute kennenlernen willst, um es vom Bösen zu unterscheiden, um
aufzusteigen bis zu den Himmelshöhen, zur göttlichen Sonne und zu allem, was
übernatürliche Freude ist: Liebe, liebe, und du wirst all das besitzen! Liebe
Christus. Du wirst im Fleische sterben, aber im Geiste auferstehen. Mit einem
neuen Geiste, ohne jemals wieder Bausteine zu benötigen: denn du wirst auf
ewig ein unauslöschliches Feuer sein. Die Flamme steigt empor. Sie braucht
dazu weder Stufen noch Flügel. Befreie dein Ich von starren Strukturen und
erfülle es mit Liebe, und du wirst eine lodernde Flamme sein. Laß dies ohne
Einschränkungen geschehen. Fache vielmehr die Flamme an und nähre sie, wirf
deine ganze Vergangenheit der Leidenschaften und der Gelehrtheit hinein. Alles
weniger Gute wird die Flamme vernichten, das edle Metall aber wird sie
läutern. Wirf dich, o Bruder, in die tätige und selige Liebe der Heiligen
Dreifaltigkeit. Dann wirst du verstehen, was dir jetzt noch unverständlich
erscheint; denn du wirst Gott begreifen, den nur erfassen kann, wer sich
seinem Opferfeuer gänzlich hingibt. So wirst du dich in flammender Umarmung in
Gott gründen und für mich, das Kind Christi, beten, das gewagt hat, dir von
der Liebe zu sprechen.»
Alle sind zutiefst erstaunt: die
Apostel, die Jünger, die Gläubigen... Der Angesprochene ist bleich, Johannes
purpurrot, nicht so sehr der Anstrengung als der Liebe wegen.
Endlich ruft Stephanus aus: «Du
Gesegneter! Aber sage mir, wer bist du?»
Johannes macht eine Gebärde, die
mich sehr an die der Jungfrau bei der Verkündigung erinnert, indem er sich wie
zur Anbetung dessen, den er nennt, nach vorne neigt, und sagt leise: «Ich bin
Johannes. Du siehst in mir den Geringsten unter den Dienern des Herrn.»
«Aber wer war dein früherer
Lehrer?»
«Ein Mensch, da ich meine
geistige Milch von Johannes, dem schon im voraus Geheiligten Gottes, empfangen
habe: ich esse das Brot des Christus, das Wort Gottes, und trinke das Feuer
Gottes, das mir vom Himmel kommt. Der Herr sei gepriesen 1»
249
«Oh, ich verlasse dich nicht
mehr! Weder dich noch diesen hier, keinen. Nehmt mich auf!»
«Wann... Oh, aber hier ist
Petrus, unser Oberhaupt», und Johannes
nimmt den erstaunten Petrus bei
der Hand und erklärt ihn so zum "Ersten" *
Petrus findet wieder zu sich:
«Sohn, eine große Sendung soll man nur nach reichlicher Überlegung übernehmen.
Dieser ist unser Engel, der die Flamme entzündet. Aber man muß auch wissen, ob
die Flamme in uns anhält. Prüfe dich selbst, und dann komme zum Herrn. Wir
wollen dir unsere Herzen öffnen wie dem liebsten Bruder. Vorläufig kannst du
bei uns bleiben, wenn du unser Leben besser kennenlernen willst. Die Herden
des Christus mögen über alle Maßen anwachsen, damit unter Vollkommenen und
Unvollkommenen die wahren Lämmer von den falschen Böcken getrennt werden
können.»
Damit ist das erste öffentliche
Auftreten der Apostel beendet.
206. IM HAUSE DER JOHANNA DES
CHUZA JESUS UND DIE RÖMERINNEN
Jesus steigt mit Hilfe eines
Bootsführers, der ihn in sein Boot aufgenommen hat, auf den Landesteg des
Gartens Chuzas. Ein Gärtner hat ihn schon gesehen und beeilt sich, das Tor zu
öffnen, das Fremden den Zutritt zum Garten von der Seeseite her verwehrt. Es
ist ein hohes und schweres Tor, dessen Außenseite hinter einer dichten Hecke
von hohem Lorbeer und Buchsbaum verborgen ist, während auf der dem Hause
zugewandten Seite eine ebenso mächtige, bunte Rosenhecke wächst. Herrliche
Rosenbüschel schmücken das bronzefarbige Laub der Lorbeer- und Buchsbäume mit
ihren Blüten und breiten sich zwischen den Ästen aus oder übersteigen gar den
grünen Zaun und lassen ihre blumigen Ranken auf der anderen Seite herabhängen.
Nur an einer Stelle, auf der Höhe eines Gartenweges, ist das Gitter ganz frei,
und hier ist der Durchgang für die, die vom See kommen oder zum See gehen.
«Der Friede sei mit diesem Hause
und mit dir, Johanna. Wo ist deine Herrin?»
«Sie ist dort mit ihren
Freundinnen. Ich will sie gleich rufen. Sie warten schon seit drei Tagen auf
dich, aus Furcht, zu spät zu kommen.»
Jesus lächelt. Der Diener eilt
davon, um Johanna zu rufen. Inzwischen geht Jesus langsam auf die vom Diener
bezeichnete Stelle zu und bewundert den herrlichen Garten – man müßte
eigentlich sagen, den herrlichen Rosengarten – den Chuza für seine Frau hat
anlegen lassen: Rosen in allen Farben, Größen und Formen blühen in dieser
geschützten Bucht des
250
Sees schon vorzeitig. Es gibt
zwar auch noch andere Blumenarten, aber sie blühen noch nicht und ihre Anzahl
ist gering im Vergleich zu den Rosen.
Johanna eilt herbei. Sie hat
nicht einmal das mit Rosen halb angefüllte Körbchen abgestellt noch die Schere
weggelegt, die sie zum Schneiden benützte, und eilt so mit ausgestreckten
Armen auf Jesus zu, schlank und anmutig in ihrem prächtigen Gewand aus
feinster rosaroter Wolle, dessen Falten von Broschen und Spangen aus
Silberfiligran, auf denen blaßrote Granaten leuchten, zusammengehalten werden.
Auf dem schwarzen, gelockten Haar funkelt ein Diadem in Form einer Mitra,
ebenfalls aus Silber und Granaten, das einen hauchdünnen rosafarbenen Schleier
hält. Er fällt nach hinten und läßt die kleinen Ohrgehänge frei. Ein lachendes
Gesicht, ein schlanker Hals, und an seinem Ansatz eine Kette der gleichen Art
wie die übrigen Schmuckstücke.
Johanna läßt ihren Korb vor den
Füßen Jesu zu Boden fallen und kniet nieder, um den Saum seines Gewandes
inmitten den verstreuten Rosen zu küssen.
«Der Friede sei mit dir, Johanna.
Ich bin gekommen.»
«Ich bin glücklich. Auch meine
Freundinnen sind da. Doch, nun scheint mir, daß ich unrecht gehandelt habe,
als ich sie hierherkommen ließ. Wie werdet ihr euch verstehen können? Sie sind
tatsächlich noch Heidinnen!»
Johanna ist etwas erregt.
Jesus lächelt, legt die Hand auf
ihren Kopf und sagt: «Hab keine Angst. Wir werden uns bestens verstehen, und
du hast richtig gehandelt. Aus der Begegnung wird Gutes erblühen, so wie die
Rose in deinem Garten. Sammle die armen Rosen, die du hast fallen lassen, dann
wollen wir zu deinen Freundinnen gehen.»
«Oh, Rosen gibt es viele. Ich
pflücke sie mir zum Zeitvertreib, und dann... meine Freundinnen sind so... so
genießerisch... als wären sie... ich weiß nicht ...»
«Aber auch ich liebe sie! Siehst
du, schon haben wir ein Thema, bei dem wir uns verstehen. Nun! Heben wir diese
prachtvollen Rosen auf ...»und Jesus bückt sich, um mit gutem Beispiel
voranzugehen.
«Du? Nicht du, mein Herr! Wenn du
wirklich willst... so... es ist schon getan.»
Sie gehen zusammen zu einer
Gartenlaube aus einem Geflecht von verschiedenfarbigen Rosenstöcken, aus der
drei Römerinnen, Plautina, Valeria und Lydia, hervorschauen. Die erste und die
dritte sind zurückhaltend, doch Valeria eilt heraus und verneigt sich: «Sei
gegrüßt, Retter meiner kleinen Fausta!»
«Friede und Licht dir und deinen
Freundinnen!»
Die Freundinnen verneigen sich
wortlos.
251
Plautina kennen wir schon.
Hochgewachsen, wohlgestaltet, mit wundervollen schwarzen, etwas gebieterischen
Augen unter der glatten, weißen Stirn, einer geraden, tadellosen Nase, einem
eher wulstigen, doch wohlgeformten Mund und einem rundlichen, ausgeprägten
Kinn, erinnert sie mich an gewisse Statuen römischer Kaiserinnen. Schwere
Ringe funkeln an den sehr schönen Händen, und breite Armbänder umschließen die
wahrhaft bildschönen Arme am Handgelenk und über dem Ellbogen, die mit ihrer
glatten, blaßrosa Haut aus kurzen, gerafften Ärmeln hervorkommen.
Lydia hingegen ist blond, zarter
und jünger. Ihre Schönheit ist nicht so stattlich wie die der Plautina, doch
hat sie die ganze Anmut einer noch etwas unreifen Frau. Da wir gerade von den
Heidinnen sprechen, möchte ich sagen, daß wenn Plautina der Statue einer
Herrscherin gleicht, Lydia eine zarte und scheue Diana oder Nymphe darstellen
könnte.
Valeria, nun nicht mehr in der
verzweifelten Verfassung, in der ich sie in Caesarea gesehen habe, besitzt die
Schönheit einer jungen Mutter mit vollen und trotzdem noch sehr jugendlichen
Formen. Ihre Augen drücken die Gelassenheit der Mutter aus, die glücklich ist,
ihr Kind stillen zu können und es mit ihrer Milch gedeihen zu sehen. Sie hat
eine rosafarbene Haut und kastanienbraunes Haar und ihr Lächeln ist ruhig und
anmutig.
Ich habe den Eindruck, daß die
beiden letzteren Damen niedereren Ranges als Plautina sind, denn sie verehren
sie auch mit den Blicken wie eine Königin.
«Ihr wart mit den Blumen
beschäftigt? Macht ruhig weiter, macht weiter. Wir können uns auch
unterhalten, während ihr die Blumen, diese Wunderwerke des Schöpfers, pflückt
und in die prächtigen Schalen steckt, um ihr leider allzu kurzes Leben zu
verlängern... und im Blumenstecken seid ihr Römerinnen ja wahre Künstlerinnen.
Wenn wir diese Knospe bewundern, die so sachte ihre lachsfarbenen
Blütenblätter öffnet, wie könnten wir anders als traurig sein, wenn wir sie
sterben sehen! Oh, wie würden doch die Juden staunen, wenn sie hören könnten,
daß ich so etwas sage! Doch diese Traurigkeit rührt daher, daß wir selbst im
Blumengeschöpf etwas Lebendiges erkennen, dessen Ende zu sehen uns schmerzt.
Doch die Pflanze ist weiser als wir. Sie weiß, daß aus jeder Wunde eines
abgeschnittenen Stieles ein neuer Trieb hervorsprießt, der die neue Rose in
sich birgt. Unser Verstand soll daraus eine Lehre ziehen, und die sinnliche
Liebe zur Blume soll uns Ansporn sein zu erhabeneren Gedanken.»
«Welche, Meister?» fragt
Plautina, die aufmerksam zuhört und begeistert ist vom edlen Gedankengang des
jüdischen Meisters.
«Diese: so wie die Pflanze nicht
stirbt, solange das Erdreich ihre Wurzeln nährt – obgleich ihre Stiele
verwelken – so stirbt auch das irdische Leben eines Menschen nicht, wenn er
sich von der Welt zurückzieht;
252
vielmehr bringt es immer neue
Blüten hervor. Noch ein anderer erhabener Gedanke läßt uns den Schöpfer
preisen: Während die einmal abgestorbene Blume leider nicht wieder aufleben
kann, so ist doch der in die ewige Ruhe eingegangene Mensch nicht tot; er lebt
weiter in einem strahlenden Licht und sein edlerer Teil empfängt ewiges Leben
und Herrlichkeit von seinem Schöpfer. Darum, Valeria, hättest du die zärtliche
Liebe deines Kindes nicht verloren, auch wenn es gestorben wäre. Deine Seele
wäre immer vom Kusse deines Geschöpfes berührt worden, das zwar von dir
getrennt, aber deiner Liebe stets eingedenk gewesen wäre. Siehst du, wie
wunderbar es ist, an ein ewiges Leben zu glauben? Wo ist nun deine Kleine?»
«In der zugedeckten Wiege dort.
Ich hätte mich schon vorher nie von meiner Tochter getrennt, weil die Liebe zu
meinem Gatten und zu ihr mein Lebensinhalt sind. Nun aber, da ich weiß, was es
heißt, sie sterben zu sehen, verlasse ich sie auch nicht einen Augenblick.»
Jesus begibt sich zu einer Bank,
auf der eine Art Holzwiege steht, die ganz von einer kostbaren Decke bedeckt
ist. Jesus schiebt die Decke zur Seite und betrachtet das schlafende Kind, das
nun von der frischen Luft sanft geweckt wird. Es schlägt erstaunt die Äuglein
auf und ein engelgleiches Lächeln öffnet den kleinen Mund, während die zuvor
zu Fäusten geballten Händchen behende die wallenden Haare Jesu zu erhaschen
versuchen. Dann gibt es das Zeichen zu einem "Gespräch", das sich wie das
Zwitschern eines kleinen Sperlings anhört. Schließlich trillert es das große,
universale Wort «Mama!»
«Nimm es, nimm es», sagt Jesus
und tritt zur Seite, um Valeria die Möglichkeit zu geben, sich über die Wiege
zu beugen.
«Aber es wird dich stören! ...
Ich will eine Sklavin rufen, damit sie das Kind im Garten herumträgt.»
«Stören? O nein! Kinder stören
mich nie. Sie sind immer meine Freunde.»
«Hast du Kinder oder Neffen,
Meister?» fragt Plautina, die beobachtet, mit welch väterlichem Lächeln Jesus
die Kleine neckt, um sie zum Lachen zu bringen.
«Ich habe weder Kinder noch
Neffen, aber ich liebe die Kinder, wie ich die Blumen liebe, denn sie sind
rein und ohne Arglist. Doch gib mir dein Kind, Frau. Einen kleinen Engel an
mein Herz zu drücken, ist mir eine innige Freude.» Er setzt sich nieder mit
der Kleinen, die ihn anblickt, seinen Bart zerzaust und es dann interessanter
findet, mit den Fransen des Mantels und der Kordel des Kleides zu spielen und
dabei lange, geheimnisvoll plaudert.
Plautina sagt: «Unsere gute und
kluge Freundin, eine der wenigen, die es nicht für unter ihrer Würde hält, mit
uns zu verkehren und die durch uns nicht "verdorben" wird, hat dir sicher
gesagt, daß wir dich sehen und
253
hören wollten, um uns ein Urteil
über dich zu bilden. Denn Rom glaubt nicht an Märchen... Warum lächelst du,
Meister?»
«Nachher werde ich es dir sagen.
Sprich nur weiter.»
«Denn Rom glaubt nicht an Märchen
und will mit Wissen und Gewissen entscheiden, bevor es verurteilt oder rühmt.
Dein Volk verehrt und verleumdet dich in gleichem Maße. Deine Werke sind
Anlaß, dich zu verherrlichen. Die Worte vieler Hebräer hingegen lassen
vermuten, daß man dich beinahe für einen Verbrecher hält. Deine Worte sind
weise und feierlich wie die Worte eines Philosophen. Rom hat eine große
Vorliebe für philosophische Lehren, aber ich muß sagen, daß die Lehren unserer
heutigen Philosophen nicht befriedigen, auch deshalb nicht, weil ihre
Lebensweise nicht mit ihrer Lehre übereinstimmt.»
«Sie können keine Lebensweise
haben, die ihrer Lehre entspricht.»
«Weil sie Heiden sind, nicht
wahr?»
«Nein, weil sie ohne Gott sind!»
«Ohne Gott? Aber sie haben doch
ihre Götter.»
«Sie haben nicht einmal diese,
Frau. Denke an die alten Philosophen, die größten unter ihnen... Auch sie
waren Heiden, aber sieh, wie ihr Leben dessen ungeachtet von Adel geprägt war!
Vermischt mit Irrtum war ihre Lehre, denn der Mensch neigt zum Irrtum. Doch
wenn sie vor den größten Geheimnissen standen: dem Leben und dem Tode, wenn
sie vor der Wahl standen: Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit, Tugend oder Laster,
Heldentum oder Feigheit, und überlegten, daß sie durch eine Entscheidung für
das Böse dem Vaterland und seien Bürgern schaden würden, da waren sie
imstande, sich mit dem Willen eines Riesen aus den Fangarmen der Polypen der
Bosheit zu befreien, und wußten sich frei und heilig um jeden Preis für das
Gute zu entscheiden. Das Gute, das niemand anderes ist als Gott.»
«Man sagt, daß du Gott bist. Ist
das wahr?»
«Ich bin der Sohn des wahren
Gottes, der Fleisch geworden und Gott geblieben ist.»
«Aber was ist Gott? ... Der
größte unter den Lehrmeistern, wenn wir dich betrachten.»
«Gott ist weit mehr als ein
Lehrmeister. Erniedrigt nicht den erhabenen Begriff der Gottheit zu einer
Weisheit, der Grenzen gesetzt sind!»
«Die Weisheit ist eine Gottheit.
Wir haben Minerva. Sie ist die Göttin der Gelehrtheit.»
«Ihr habt auch Venus, die Göttin
der Lust. Könnt ihr glauben, daß ein Gott, also ein den Sterblichen
überlegenes Wesen, alle Schändlichkeit im sterblichen Menschen noch
vervollkommnet hat? Könnt ihr glauben, daß einer, der ewig ist, auf ewig all
die kleinlichen, armseligen, demütigenden Freuden hegt, wie der Mensch, der
nur kurze Zeit lebt, und daß er sie zum Zweck seines Lebens macht? Denkt ihr
nie daran, wie schmutzig der Himmel ist, den ihr Olymp nennt und wo die
bittersten Säfte der
254
Menschheit gären 9 Wenn ihr euren
Himmel betrachtet, was seht ihr? Ausschweifung, Verbrechen, Haß, Krieg,
Diebstahl, Schwelgerei, Hinterhältigkeit und Rache. Wenn ihr die Feste eurer
Götter feiert, was tut ihr? Ihr haltet Orgien! Wie verehrt ihr eure Götter?
Wie steht es mit der wahren Jungfräulichkeit der der Vesta Geweihten? Auf
welches göttliche Gesetz stützen sich eure Hohenpriester, wenn sie richten?
Welche Worte lesen eure Wahrsager aus dem Flug der Vögel oder dem Rollen des
Donners? Was für Antworten können die blutigen Eingeweide der Opfertiere euern
Haruspizes geben? Du hast gesagt: "Rom glaubt nicht an Märchen." Warum glaubt
ihr dann, daß sich zwölf arme Männer, die ein Schwein, ein Schaf und einen
Stier um einen Acker herumkreisen und sie dann aufopfern, die Gunst der Ceres
erwerben, wenn ihr doch unzählige Götter habt, die sich gegenseitig hassen und
denen ihr alle Racheakte zutraut? Nein, Gott ist etwas ganz anderes. Er ist
ewig, einzig und geistig.»
«Aber du behauptest, Gott zu
sein, und bist doch Fleisch.»
«Es gibt einen Altar ohne Gott im
Hain der Götter. Die menschliche Weisheit hat ihn dem "unbekannten Gott"
gewidmet; denn die Weisen, die wahren Philosophen ahnten, daß es noch etwas
anderes geben müsse als die Lügengeschichten, die für die Menschen, diese
ewigen Kinder, deren Geist in den Banden des Irrtums gefangen lag, erfunden
worden waren. Wenn nun diese Weisen, die geahnt haben, daß es noch etwas
anderes als diese lügenhaften Possen geben muß, etwas wahrhaft Erhabenes und
Göttliches, das alles erschaffen hat und von dem alles Gute in der Welt
ausgeht, dem unbekannten Gott, den sie als den wahren Gott erkannten, einen
Altar errichten wollten, wie könnt ihr dann etwas, das nicht Gott ist, Gott
nennen und von etwas, das ihr in Wirklichkeit nicht kennt, behaupten, daß ihr
es kennt? Begreift also, was Gott ist, damit ihr ihn erkennen und ehren könnt.
Gott ist der, der aus dem Nichts alles durch seinen Gedanken erschaffen hat.
Kann euch die Fabel der Steine, die sich in Menschen verwandeln, überzeugen
und befriedigen? Wahrlich, es gibt Menschen, die härter und niederträchtiger
sind als Steine, und es gibt Steine, die nützlicher sind als der Mensch. Aber
ist es für dich nicht tröstlicher, Valeria, wenn du beim Betrachten dieses
deines Kindes denken kannst: "Es ist der lebendige Wille Gottes, von ihm
erschaffen und gebildet, von ihm mit einem zweiten Leben beschenkt, und ich
werde meine kleine Fausta weiter und für alle Ewigkeit bei mir haben, wenn ich
an den wahren Gott glaube", anstatt fragen zu müssen: "Dieser rosige Körper,
diese Haare, feiner als Spinnenfäden, diese lächelnden Augensterne, sind sie
aus einem Stein entstanden?" Oder zu sagen: "Ich bin in allem der Wölfin oder
der Stute ähnlich, wie ein Tier paare ich mich, wie ein Tier gebäre ich, wie
ein Tier ziehe ich meine Kinder auf, und diese Tochter ist die Frucht meines
niederen Triebes und ein Tier wie ich; und morgen, wenn sie tot ist und ich
tot bin, werden wir uns wie zwei Aase in Gestank
255
auflösen und uns nie
wiedersehen?" Sage mir, welcher der beiden Überlegungen möchte dein Mutterherz
zustimmen ?»
«Ganz gewiß nicht der zweiten,
Herr! Hätte ich gewußt, daß Fausta sich nach ihrem Tode nicht in Nichts
auflöst, so hätte ich bei ihrem Todeskampf weniger gelitten. Denn ich hätte
mir gesagt: "Ich habe eine Perle verloren; aber es gibt sie noch und ich werde
sie wiederfinden."»
«Du hast recht. Als ich hier
ankam, hat mir eure Freundin gesagt, daß sie sich über eure Leidenschaft für
die Blumen wundert. Sie befürchtete, ich könnte daran Anstoß nehmen. Aber ich
habe sie beruhigt und gesagt: "Auch ich liebe Blumen, und deshalb werden wir
uns sicher gut verstehen." Aber ich möchte euch dahin führen, die Blumen so zu
lieben, wie ich Valeria lehre, ihr Kind zu lieben, das sie nun sicherlich noch
mehr umsorgen wird; jetzt, da sie weiß, daß es eine Seele hat, ein Teilchen
Gottes, eingeschlossen in das von ihr, der Mutter, gebildete Fleisch; und
diese Seele als Teilchen Gottes stirbt nicht, und die Mutter wird ihr im
Himmel wiedergegeben, wenn sie an den wahren Gott glaubt. Dasselbe gilt auch
für euch. Betrachtet diese wunderbare Rose. Der Purpur der königlichen
Gewänder ist nicht so herrlich wie dieses Blütenblatt, das nicht nur das Auge
durch seine Farben erfreut, sondern auch den Tastsinn durch seine Zartheit und
den Geruchssinn durch seinen Duft. Betrachtet diese, und diese und auch diese.
Die erste ist das Blut eines Herzens, die zweite frisch gefallener Schnee, die
dritte zart schimmerndes Gold und die letzte scheint aus dem Kindergesicht,
das mir von meinem Schoß zulächelt, geschaffen. Und weiter: Die erste sitzt
steif auf einem kräftigen Stiel, fast ohne Dornen, und ihre rötlichen Blätter
sind wie mit Blut benetzt. Die zweite hat nur wenige kleine Dornen und matte,
fahle Blätter längs des Stiels. Der Stiel der dritten gleicht einer
geschmeidigen Binse und ihre kleinen glänzenden Blätter grünem Wachs. Die
letzte scheint mit ihrer Unzahl von Dornen jede Berührung ihrer rosaroten
Blüte verwehren zu wollen. Mit ihren äußerst scharfen Spitzen sieht sie aus
wie eine Feile. Nun überlegt einmal: Wer hat dies alles geschaffen ? Wie ?
Wann ? Wo ? Was wird dieser Ort im Dunkel der Zeit gewesen sein? Nichts. Ein
Wirbel gestaltloser Elemente.
Einer aber, Gott, sagte: "Ich
will" und die Elemente trennten sich und das eine ordnete sich im anderen; auf
dem neu gebildeten Planeten schied sich das Wasser von der Erde und das Licht
von der Luft. Noch ein "Ich will" und es entstanden die Pflanzen. Danach schuf
Gott die Sterne, dann die Tiere, und zuletzt den Menschen; und damit sich der
Mensch erfreue, schenkte er ihm, seinem bevorzugten Geschöpf, gleichsam als
wunderschöne Spiele, die Blumen und Gestirne; zuletzt verlieh er ihm das Glück
zu zeugen, nicht etwas Sterbliches, sondern etwas, das als besonderes Geschenk
Gottes den Tod überlebt: die Seele. Auch diese Rosen sind der Wille des
Vaters. Die Unendlichkeit seiner Macht erweist sich in der Unendlichkeit der
Schönheiten.
256
Meine Worte werden gehemmt, denn
sie stoßen auf den harten Widerstand eures Glaubens. Doch ich hoffe, daß wir
uns schon bei dieser ersten Begegnung ein wenig verstanden haben. Was ich euch
gesagt habe, möge nun in eurer Seele wirken. Habt ihr Fragen zu stellen, dann
tut es. Ich bin hier, um sie zu beantworten. Unkenntnis ist keine Schande.
Schande ist, in der Unkenntnis zu verharren, wenn jemand da und bereit ist,
die Zweifel zu klären.» Dann verläßt Jesus die Laube und hält dabei wie der
erfahrenste Vater das Kind an der Hand, das eben beginnt, die ersten
Schrittchen zu machen und zu einem Springbrunnen gehen will, der in der Sonne
schimmert. Die Damen bleiben wo sie sind und flüstern miteinander. Johanna,
zwischen zwei Wünschen hin- und hergerissen, steht am Eingang der Laube.
Endlich entschließt sich Lydia,
zu Jesus zu gehen, und die anderen folgen ihr. Dieser lacht herzlich, weil die
Kleine die sich im Wasser widerspiegelnde Sonne ergreifen will und trotz aller
Bemühungen nur ins Licht faßt, während sie mit ihren rosa Lippen wie ein Küken
piepst und damit ihren Willen zu erkennen gibt.
«Meister, ich habe nicht
verstanden, warum unsere Lehrer keine gute Lebensweise haben können, weil sie
ohne Gott sind. Sie glauben an den Olymp, aber sie glauben doch ...»
«Ihr Glaube ist nur noch
Äußerlichkeit. Solange sie wirklich glaubten, glaubten sie wie die wahren
Weisen an den Unbekannten, von dem ich gesprochen habe, an den Gott, der ihre
Seele zufriedenstellte, obwohl man es übersehen hatte, ihm einen Namen zu
geben. Solange sie ihre Gedanken auf dieses Wesen richteten, das weit über den
armseligen Göttern voll niederträchtiger Menschlichkeit, die ihnen das
Heidentum gegeben hatte, stand, spiegelten sie notwendigerweise ein wenig Gott
wider. Die Seele ist ein Spiegel, der widerspiegelt und ein Echo, das
widerhallt!»
«Was, Meister?»
«Gott.»
«Ein großes Wort!»
«Eine große Wahrheit!»
Valeria, bezaubert vom Gedanken
der Unsterblichkeit, fragt: «Meister, erkläre mir: wo ist die Seele meines
Kindes? Ich werde diese Stelle küssen wie ein Heiligtum und sie anbeten, denn
sie ist ein Teil Gottes.»
«Die Seele! Sie ist wie das
Licht, das deine kleine Faustina ergreifen möchte und nicht kann, denn es ist
körperlos; und doch existiert es. Ich, du und deine Freundinnen sehen es.
Ebenso ist die Seele in all dem sichtbar, was den Menschen vom Tier
unterscheidet. Wenn deine Kleine dir einmal ihre ersten Gedanken mitteilt,
dann denke, daß diese Intelligenz ihre Seele ist, die sich enthüllt. Wenn sie
dich liebt, nicht instinktiv, sondern bewußt, dann wisse, daß diese Liebe ihre
Seele ist. Wenn sie an deiner Seite in Schönheit heranwächst, nicht so sehr im
körperlichen als im
257
tugendhaften Sinn, dann denke
daran, daß diese Schönheit ihre Seele ist. Bete nicht die Seele an, sondern
Gott, ihren Schöpfer. Gott, der sich aus jeder guten Seele einen Thron
bereiten will.»
«Aber wo ist dieses körperlose
und erhabene Etwas? Im Herzen? Im Gehirn?»
«In allem, was der Mensch ist.
Die Seele enthält euch und ist in euch enthalten. Wenn sie euch verläßt, seid
ihr Leichname. Wenn ein Mensch seine Seele tötet durch ein Verbrechen an sich
selbst, dann wird sie verdammt und ist für immer von Gott getrennt.»
«Du gibst also zu, daß der
Philosoph, der uns "unsterblich" nannte, recht hatte, obgleich er ein Heide
war?» fragt Plautina.
«Ich gebe dies nicht nur zu, ich
sage sogar, daß es ein Glaubenssatz ist. Die Unsterblichkeit der Seele, also
die Unsterblichkeit des höheren Teiles des Menschen, ist das sicherste und
tröstlichste Geheimnis des Glaubens. Es ist das Geheimnis, das uns die
Gewißheit gibt, woher wir kommen, wohin wir gehen und wem wir gehören, und das
die Bitterkeit jeder Trennung von uns nimmt.»
Plautina denkt nach. Jesus
beobachtet sie schweigend. Endlich fragt sie: «Und du, hast du eine Seele?»
«Gewiß!», antwortet Jesus.
«Aber bist du Gott, oder bist du
es nicht?»
«Ja, ich bin Gott! Ich habe es
dir gesagt. Aber nun habe ich die menschliche Natur angenommen, und weißt du,
warum? Weil ich nur mit diesem meinem Opfer die Schranken eures Verstandes
überwinden und den Geist befreien kann, indem ich den Irrtum besiege; dann
erst wird es mir möglich sein, auch die Seele von einem Sklaventum zu
befreien, das ich dir jetzt nicht näher erklären kann. Darum habe ich die
Weisheit und die Heiligkeit in einen menschlichen Körper eingeschlossen. Die
Weisheit streue ich als Samen auf das Erdreich und als Blütenstaub in den
Wind. Die Heiligkeit wird sich in der Stunde der Gnade wie aus einem
zerbrochenen kostbaren Gefäß über die ganze Welt ergießen und die Menschen
heiligen. Dann wird der "unbekannte Gott" bekannt sein.»
«Aber du bist doch schon bekannt.
Wer deine Macht und deine Weisheit in Zweifel zieht, ist böse und ein Lügner.»
«Ich bin bekannt. Doch dies ist
erst die Morgendämmerung, denn am Mittag wird die ganze Welt von mir Kenntnis
haben.»
«Wie wird dein Mittag sein? Wird
es ein Triumph sein? Werde ich ihn erleben?»
«Wahrlich, es wird ein Triumph
sein, und du wirst zugegen sein. Denn in dir ist Widerwille gegen das, was du
kennst, und Sehnsucht nach dem, was du noch nicht kennst. Deine Seele
hungert.»
«Das ist wahr. Ich habe Hunger
nach Wahrheit.»
«Ich bin die Wahrheit.»
258
«Teile dich also der Hungernden
mit.»
«Du brauchst nur an meinen Tisch
zu kommen. Mein Wort ist das Brot der Wahrheit.»
«Aber was werden unsere Götter
sagen, wenn wir sie verlassen? Werden sie sich nicht an uns rächen?» fragt
Lydia voller Angst.
«Frau, hast du nie einen nebligen
Morgen gesehen? Die Wiesen verlieren sich im Dunst, der sie verbirgt. Dann
kommt die Sonne, der Dunst löst sich auf, und die Wiesen erstrahlen umso
schöner. So sind eure Götter: Nebel armseliger, menschlicher Gedanken, die
Gott nicht kennen, aber einen Glauben brauchen, da der Glaube eine
Notwendigkeit und ein immerwährendes Bedürfnis des Menschen ist; und so haben
sie sich den Olymp geschaffen – das Märchen vom Olymp, den es nicht gibt.
Deshalb werden sich eure Götter beim Aufgang der Sonne des wahren Gottes in
euren Herzen auflösen, ohne euch schaden zu können, weil es auch die Götter
nicht gibt.»
«Wir werden dir noch oft zuhören
müssen, sehr oft... Wir stehen etwas gänzlich Unbekanntem gegenüber. Alles,
was du sagst, ist für uns neu.»
«Aber widerstrebt es dir? Kannst
du es nicht annehmen?»
Plautina antwortet mit Nachdruck:
«Nein. Ich bin stolzer auf das Wenige, das ich nun weiß und das Caesar nicht
weiß, als auf meinen Namen.»
«Dann harre aus. Ich lasse euch
mit meinem Frieden.»
«Wie, bleibst du nicht, mein
Herr?» Johanna ist sehr betrübt.
«Ich bleibe nicht. Ich habe viel
zu tun...»
«Oh, ich wollte dir doch mein
Leid klagen!»
Jesus, der nach den
Höflichkeitsbezeugungen der Römerinnen den Weg zum See eingeschlagen hat,
wendet sich um und sagt zu Johanna: «Komm mit bis zum Boot und erzähle mir von
deinem Leid.» Johanna begleitet ihn und sagt: «Chuza möchte mich für einige
Zeit nach Jerusalern schicken, und ich bin darüber sehr traurig. Er tut dies,
weil er nicht will, daß ich weiterhin so zurückgezogen lebe, jetzt, da ich
gesund bin...»
«Auch du schaffst dir unnötige
Nebel!» Jesus hat bereits einen Fuß ins Boot gesetzt. «Wenn du denken würdest,
daß du mich dann beherbergen und mir eher nachfolgen kannst, wärest du
glücklich und würdest sagen: "Die Güte Gottes hat es so gefügt."»
«Oh, das ist wahr, mein Herr! Ich
hatte nicht daran gedacht.»
«Siehst du. Gehorche als gute
Ehefrau. Der Gehorsam wird dir die Belohnung einbringen, daß ich am kommenden
Osterfest bei dir sein werde, und du wirst die Ehre haben, mir bei der
Belehrung deiner Freundinnen helfen zu können. Der Friede sei mit dir!»
Das Boot stößt vom Ufer ab. Das
ist das Ende.
259
207. AGLAIA IM HAUSE MARIENS IN
NAZARETH
Maria arbeitet geruhsam an einem
Tuche. Es ist Abend. Alle Türen sind geschlossen, und eine Lampe mit drei
Flämmchen erhellt den kleinen Raum im Häuschen von Nazareth und besonders den
Tisch, an dem die Jungfrau sitzt. Das Tuch, vielleicht ein Leinentuch, fällt
von ihren Knien auf die Bank und bis zum Boden, und Maria, in ihrem
dunkelblauen Kleid, scheint aus einem Schneehaufen herauszuragen. Sie ist
allein. Sie näht flink, den Kopf über die Arbeit gebeugt, und das Licht läßt
ihre Haare zartgolden aufleuchten. Ein Teil ihres Gesichtes ist im Halbdunkel.
In der wohlgeordneten Kammer
herrscht absolute Stille. Von der zur Nachtzeit verlassenen Straße dringt kein
Geräusch herein, auch nicht vom Garten. Die schwere Türe, die von dem Raum, in
dem Maria arbeitet und wo sie üblicherweise die Mahlzeiten einnimmt und
Freunde empfängt, in den Garten führt, ist geschlossen, und so ist nicht
einmal das Plätschern des Brunnens zu hören. Es herrscht wirklich tiefste
Stille. Ich möchte wissen, wo die Gedanken der Jungfrau weilen, während ihre
Hände so behende arbeiten.
Ein zaghaftes Klopfen an der Türe
zur Straße läßt Maria aufhorchen, und sie erhebt das Haupt und lauscht... Das
Klopfen war so leise, daß Maria annehmen muß, irgendein Nachttier habe es
verursacht oder ein leichter Luftzug hätte die Türe bewegt. Sie beugt sich
wieder über ihre Arbeit. Doch das Klopfen wiederholt sich. Maria erhebt sich
und geht zur 'Türe. Sie fragt, bevor sie öffnet: «Wer klopft?» Eine zarte
Stimme antwortet: «Eine Frau. Im Namen Jesu, habe Erbarmen mit mir.»
Maria öffnet sofort und hält die
Lampe in die Höhe, um die Wanderin erkennen zu können. Sie sieht eine vom Kopf
bis Fuß in ärmliche Kleidung gehüllte Gestalt, die eine tiefe Verneigung macht
und grüßt: "Ave Domina!" und nochmals wiederholt: "Im Namen Jesu, habe
Erbarmen mit mir."
«Komm herein und sag mir, was du
willst. Ich kenne dich nicht.»
«Niemand und viele kennen mich,
Domina. Das Laster kennt mich, und die Heiligkeit kennt mich; doch jetzt
bedarf ich der Barmherzigkeit, die mir die Arme öffnet, und die Barmherzigkeit
bist du...», und sie weint.
«So tritt ein... und erzähle
mir... Du hast genug gesagt und ich verstehe, daß du unglücklich bist... Aber
wer du bist, weiß ich immer noch nicht. Wie heißt du, Schwester?»
«O nein! Nicht Schwester! Ich
kann dir nicht Schwester sein... Du bist die Mutter des Guten... und ich bin
das Böse...», und sie weint immer heftiger unter dem Mantel, der sie ganz
verhüllt.
Maria stellt die Lampe auf einen
Hocker, nimmt die Unbekannte, die an der Schwelle kniet, bei der Hand, und
nötigt sie, aufzustehen.
260
Maria kennt die Frau nicht... Ich
aber kenne sie. Es ist die Verschleierte vom "Trügerischen Gewässer". Sie
steht auf, verzagt, zitternd und vom Weinen geschüttelt, und weigert sich
immer noch, einzutreten; sie sagt: «Ich bin Heidin, Domina, und für euch
Hebräer Schmutz, selbst wenn ich heilig wäre. Ich bin doppelt unrein, denn ich
bin auch eine Dirne.»
«Wenn du zu mir kommst und wenn
du durch mich meinen Sohn suchst, dann kannst du nichts anderes mehr sein als
ein Herz, das bereut. Dieses Haus nimmt auf, was den Namen des Schmerzes
trägt.» Maria zieht sie hinein, schließt die Türe und stellt die Lampe wieder
auf den Tisch. Dann bietet sie ihr einen Sitz an und sagt: «Nun sprich.»
Doch die Verschleierte will sich
nicht setzen, leicht gebeugt steht sie da und weint weiter. Und Maria steht
vor ihr, liebreich und würdevoll. Sie wartet und betet, daß das Weinen sich
beruhige. Ich sehe sie inbrünstig beten, obwohl sie keine besondere Haltung
einnimmt, denn in ihren Händen hält sie immer noch die kleine Hand der
Verschleierten und ihre Lippen bleiben verschlossen.
Endlich versiegen die Tränen. Die
Verschleierte trocknet die Wangen mit ihrem Schleier und sagt dann: «Und doch
bin ich nicht von so weither gekommen, um unerkannt zu bleiben. Die Stunde
meiner Erlösung ist da, und ich muß mein Inneres offenbaren, um dir zu zeigen,
mit wie vielen Wunden mein Herz bedeckt ist. Du bist eine Mutter... seine
Mutter... Du wirst also Erbarmen mit mir haben.»
«Ja, Tochter.»
«O ja! Sag Tochter zu mir! ...
Ich hatte eine Mutter... und ich habe sie verlassen... Man sagte mir dann, daß
sie aus Gram gestorben sei... Ich hatte einen Vater... er hat mich
verflucht... und den Leuten in der Stadt gesagt: "Ich habe keine Tochter
mehr."» Das Weinen wird wieder heftiger. Maria wird blaß vor Mitleid. Sie legt
ihre Hand auf den Kopf der Verschleierten, um sie zu trösten.
Die Verschleierte fährt fort:
«Ich werde niemanden mehr haben, der mich "Tochter" nennt... Ja, so...
liebkose mich so, wie meine Mutter es tat... als ich noch rein und gut war.
Laß mich deine Hand küssen und trockne mit ihr meine Tränen. Meine Tränen
allein können mich nicht reinwaschen. Wieviel habe ich geweint, seitdem ich
verstanden habe!... Auch vorher hatte ich schon geweint, denn es ist
schrecklich, nur ein ausgenütztes Fleisch zu sein und vom Mann
zugrundegerichtet und erniedrigt zu werden. Aber es waren die Tränen eines
mißhandelten Tieres, das haßt und sich auflehnt gegen die, die es quälen und
immer mehr beschmutzen; denn ich wechselte meinen Herrn, änderte aber immer
noch nicht mein tierisches Dasein... Seit acht Monaten weine ich... weil ich
verstanden habe... Ich habe mein Elend, meine Verderbtheit eingesehen. Sie
umgibt und durchdringt mich, und mich ekelt davor... Aber meine immer bewußter
werdenden Tränen waschen mich noch nicht rein. Oh, Mutter,
261
trockne du mir meine Tränen, und
ich werde gereinigt und würdig sein, mich meinem Retter zu nähern!»
«Ja, Tochter, ja! Setze dich
hierher zu mir, beruhige dich und sprich im Frieden. Laß all deine Last hier
auf meinem Mutterschoß», und Maria setzt sich nieder.
Aber die Verschleierte sinkt
Maria zu Füßen und möchte so sprechen. Sie beginnt leise: «Ich stamme aus
Syrakus... Ich bin 26 Jahre alt... Ich war die Tochter eines Verwalters – so
würdet ihr sagen, bei uns heißt es Prokurator – eines vornehmen römischen
Herrn. Ich war seine einzige Tochter. Ich lebte glücklich. Wir wohnten am
Meere in der schönen Villa, die mein Vater verwaltete. Ab und zu kam der
Besitzer des Hauses oder seine Frau mit den Kindern... Sie behandelten uns gut
und waren auch zu mir gut. Die Mädchen spielten mit mir... Meine Mutter war
glücklich... sie war stolz auf mich. Ich war schön und intelligent... und
alles gelang mir mit Leichtigkeit... Doch ich liebte mehr eitle Dinge als
gute. In Syrakus gibt es ein großes Theater. Ein großes Theater... schön und
geräumig. Dort finden Spiele und Theateraufführungen statt. Bei den
Aufführungen der Komödien und Tragödien braucht man oft Mimen. Diese
unterstreichen mit ihren stummen Tänzen, was der Chor zum Ausdruck bringen
will. Du weißt es nicht... aber auch mit den Händen, mit den Bewegungen des
Körpers können wir die von irgendeiner Leidenschaft erregten menschlichen
Gefühle ausdrücken... Jünglinge und Mädchen werden dazu eigens in einer Schule
für Mimen ausgebildet. Sie müssen schön wie Götter und behende wie
Schmetterlinge sein... Ich liebte es, auf eine Anhöhe über diesem Ort zu
steigen und den Tänzen der Mimen zuzusehen. Dann wiederholte ich sie auf den
blumigen Wiesen, auf dem hellen Sande, im Garten der Villa. Ich glich der
Skulptur eines Künstlers oder dem wehenden Wind, so gut verstand ich es, in
der Pose einer Statue zu verharren oder dahinzuschweben, ohne den Boden zu
berühren. Meine reichen Freundinnen bewunderten mich... und meine Mutter war
stolz auf mich...»
Die Verschleierte erzählt,
erinnert sich, sieht sich wieder, träumt von der Vergangenheit und weint. Ihre
Seufzer sind wie Gedankenstriche, die ihr Schluchzen unterbrechen.
«Eines Tages... es war im Mai und
ganz Syrakus stand in Blüte... die Feste waren zu Ende, und ich war immer noch
begeistert von einem Tanz, der im Theater aufgeführt worden war... Die
Herrschaft hatte mich mit ihren Kindern dorthin mitgenommen. Ich war 14 Jahre
alt... In diesem Tanze waren die Mimen mit Rosen bekränzt und mit Rosen
bekleidet... denn sie stellten die Frühlingsnymphen dar, die herbeigeeilt
waren, um Ceres anzubeten. Sie waren wirklich nur mit Rosen bekleidet, denn
das Gewand bestand aus einem Schleier, hauchfein wie ein Netz aus Spinnfäden,
auf den die Rosen geheftet waren... Sie sahen aus wie geflügelte
262
Heben, (Göttin der Jugend in der
griechischen Mythologie), so leicht schwebten sie im Tanz dahin, und durch die
losen, blumengeschmückten und flügelgleichen Schleierbänder sah man ihre
wundervollen Körper... Ich lernte den Tanz ... und eines Tages... eines
Tages...» Die Verschleierte weint noch stärker ... Dann beruhigt sie sich
wieder.
«Ich war schön. Ich bin es noch.
Schau!» Sie steht auf, wirft rasch den Schleier zurück und läßt den Mantel
fallen. Ich selbst bin völlig verblüfft, denn ich sehe aus den Kleidern Aglaia
(die ehemalige Geliebte des Herodianers von Hebron) hervortreten, wunderschön
selbst in dem schlichten Gewand, mit den einfachen Zöpfen, ohne Schmuck und
ohne prunkvolle Stoffe... Ein blühendes Geschöpf, schlank und von ebenmäßiger
Gestalt, mit einem schönen Antlitz von mattbräunlicher Hautfarbe und samtenen
Augen voller Feuer.
Aglaia kniet wieder vor Maria
nieder. «Ich war schön, zu meinem Unglück, und ich war närrisch... An jenem
Tage hüllte ich mich in Schleier. Die Mädchen unserer Herrschaft halfen mir
dabei, denn sie liebten es, mich tanzen zu sehen... Am Strande, auf einem
Streifen hellen Sandes am blauen Meere, verkleidete ich mich so. An diesem
einsamen Ort wuchsen weiße und gelbe wilde Blumen mit dem ausgeprägten Duft
von Mandeln und Vanille, und dieser Geruch erinnerte fast an einen nicht sehr
reinlichen Menschen. Auch aus den Orangen- und Zitronengärten und von den
Rosen in Syrakus kamen Wellen kräftiger Düfte, und sogar das Meer und der Sand
dufteten... Alles brachte die Sonne zum Duften... und es kam etwas wie
Schrecken über mich. Ich hatte das Gefühl, selbst eine Elfe zu sein und betete
an... Was? Die fruchtbare Erde? Die befruchtende Sonne? ... Ich weiß es nicht.
Als Heidin unter Heiden glaubte ich, die Sinnenlust anzubeten, meinen
despotischen König, den ich nicht kannte, der aber in mir mächtiger war als
ein Gott... Ich bekränzte mich mit Rosen aus dem Garten... und tanzte... Ich
war trunken von Licht, von Düften und von der Freude, jung, gewandt und schön
zu sein. Ich tanzte... und wurde beobachtet; ich fühlte, daß ich beobachtet
wurde, schämte mich aber nicht, nackt vor den begierigen Augen eines Mannes zu
erscheinen. Im Gegenteil, ich fand Gefallen daran, immer weitere Sprünge zu
tun... Die Genugtuung, bewundert zu werden, verlieh mir Flügel... und es wurde
mir zum Verderben. Drei Tage später war ich allein, denn die Herrschaft war
abgereist, um in ihr Patrizierhaus in Rom zurückzukehren. Doch ich blieb nicht
zu Hause... denn jene beiden bewundernden Augen hatten mir noch etwas
enthüllt, das über den Tanz hinausging... Sie hatten in mir die Sinne und die
Lust geweckt.»
Maria macht eine unwillkürliche
Gebärde des Abscheus, und Aglaia bemerkt es. «Oh, du bist so rein! Vielleicht
stoße ich dich ab...»
«Sprich, sprich, Tochter! Es ist
besser, du sagst es zu Maria, als zu Jesus. Maria ist das Meer, das
reinwäscht...»
263
«Ja, besser zu dir. Ich sagte mir
dies ebenfalls, als ich erfuhr, daß er eine Mutter hat... Denn zuvor hatte ich
ihn so ganz verschieden von jedem anderen Mann gesehen, ganz Geist – nun weiß
ich, daß es den Geist gibt und was er ist – und hätte nicht sagen können, wie
dein Sohn beschaffen ist, ohne Sinnlichkeit und dennoch Mensch. In meinem
Innern dachte ich, er hätte keine Mutter und wäre so auf die Welt
herabgekommen, um die Menschen aus ihrem schrecklichen Elend zu befreien, das
ich mehr als alle anderen verkörpere.
Jeden Tag kehrte ich an jenen Ort
zurück in der Hoffnung, den schönen, dunklen jungen Mann wiederzusehen... und
nach einiger Zeit traf ich ihn... Er sprach mit mir und sagte: "Komm mit mir
nach Rom. Ich werde dich an den kaiserlichen Hof führen, und du wirst die
Perle Roms sein." Ich antwortete: "Ja, ich werde deine treue Gattin sein. Komm
mit zu meinem Vater." Er lachte höhnisch, küßte mich und sagte: "Nicht meine
Gattin, meine Göttin wirst du sein, und ich dein Priester, der dir die
Geheimnisse des Lebens und der Lust enthüllen wird!" Ich war töricht, ich war
noch ein Mädchen. Doch obgleich ich noch Kind war, wußte ich doch schon, was
das Leben ist... Ich war nicht dumm. Ich war toll, aber noch unberührt, und
sein Vorschlag ekelte mich an. Ich entfloh seinen Armen und rannte nach
Hause... Doch ich erzählte es der Mutter nicht... und konnte dem Wunsch, ihn
wiederzusehen, nicht widerstehen... Seine Küsse hatten mich betört... So ging
ich wieder hin... Ich war noch nicht an dem einsamen Strand angekommen, als er
mich schon umarmte und hemmungslos küßte und mich mit Liebesworten und Fragen
überschüttete. "Ist in dieser Liebe nicht schon alles enthalten? Ist sie nicht
süßer als eine feste Bindung? Was willst du mehr? Kannst du ohne dies leben?"
Oh, Mutter! ... Am gleichen Abend
floh ich mit diesem schmutzigen Patrizier... und wurde in meiner
Willenlosigkeit und Fleischlichkeit zertreten... Nicht Göttin, sondern
Schlamm! Nicht Perle, sondern Unrat! Nicht das Leben enthüllte sich mir,
sondern der Schmutz des Lebens, die Schmach, der Ekel, der Schmerz, die Scham,
das unendliche Elend, nicht einmal mehr ich selbst zu sein... und
schließlich... der totale Niedergang! Nach sechs Monaten der Orgien war er
meiner überdrüssig, wechselte zu neuen Liebschaften über, und ich gehörte der
Straße. Ich nützte meine Begabung als Tänzerin aus... Ich erfuhr, daß meine
Mutter inzwischen vor Gram gestorben war und daß ich kein Heim und keinen
Vater mehr hatte. Ein Tanzlehrer nahm mich in seine Tanzschule auf... Er
brachte mir vieles bei... nutzte mich aus und warf mich, eine in allen Künsten
der Sinnenlust erfahrene Blume, mitten in das verdorbene Patriziat von Rom.
Die schon beschmutzte Blume fiel in eine Kloake. Zehn Jahre weiteren
Abgleitens in den Abgrund. Immer tiefer hinunter. Dann wurde ich
hierhergebracht, um den Müßiggang des Herodes zu erheitern, und hier bekam ich
einen neuen Herrn... Oh, kein Kettenhund ist mehr Gefangener
264
als wir es sind. Und kein
Besitzer eines Zwingers behandelt seinen heulenden Hund grausamer als der
Mann, der eine Frau besitzt! Mutter, du zitterst! Ich mache dich schaudern!»
Maria hat ihre Hand zum Herzen
geführt, als ob es verwundet worden wäre. Doch dann gibt sie zur Antwort:
«Nein, nicht du, es ist die Schlechtigkeit, die so sehr die Welt regiert, die
mich schaudern macht. Fahre fort, armes Menschenkind»
«Er brachte mich nach Hebron...
War ich frei? War ich reich? Ja, denn ich war nicht in einem Gefängnis, und
die Schmuckstücke erdrückten mich fast... Nein, denn ich durfte nur die
Menschen sehen, die er mir zu sehen erlaubte, und besaß kein Recht mehr über
mich selbst...
Eines Tages kam ein Mann nach
Hebron. Dein Sohn! Das Haus dort war ihm teuer. Ich erfuhr es und lud ihn ein,
hereinzukommen. Schammai war nicht da... und vom Fenster aus hatte ich schon
Worte gehört lind ein Antlitz gesehen, die mein Herz bewegt hatten. Aber ich
schwöre dir, Mutter, es war nicht sinnliche Begierde, die mich zu deinem Jesus
trieb. Es war jenes Etwas, das er mir offenbarte, was mich trotz der
beleidigenden Rufe des Volkes auf die Schwelle trieb, um ihm zu sagen: "Komm
herein." Ich erfuhr damals, daß ich eine Seele besitze. Er sagte zu mir: "Mein
Name bedeutet Retter. Ich rette den, der guten Willen hat, gerettet zu werden.
Ich rette, indem ich lehre, rein zu sein, den Schmerz anzunehmen, aber in
Ehren zu leben, und das Gute um jeden Preis zu wollen. Ich bin es, der die
Verlorenen sucht, der das Leben gibt. Ich bin die Reinheit und die Wahrheit."
Er sagte mir, daß auch ich eine Seele besitzen würde, sie aber durch meinen
Lebenswandel getötet hätte. Doch er verfluchte mich nicht, er verhöhnte mich
nicht und sah mich nie an! Der erste Mann, der mich nicht mit gierigen Blicken
verschlang, denn auf mir lastet der schreckliche Fluch, alle Männer
anzuziehen... Er sagte mir nur, daß man ihn findet, wenn man ihn sucht, weil
er dort ist, wo man des Arztes und der Arznei bedarf. Dann ging er weg. Doch
seine Worte sind mir geblieben, und ich habe sie nicht mehr vergessen. Ich
sagte mir: "Sein Name bedeutet Retter", um mit meiner Besserung zu beginnen.
Es verblieben mir seine Worte und seine Freunde, die Hirten, und ich tat den
ersten Schritt, indem ich ihnen ein Almosen gab und sie bat, für mich zu
beten... und dann... dann floh ich.
Oh, welch heilbringende Flucht
war dies! Ich entfloh der Sünde auf der Suche nach dem Retter. Ich irrte
suchend umher. Ich war sicher, ihn zu finden, denn er hatte es mir
versprochen. Man schickte mich zu einem Manne namens Johannes, er sei wie er.
Doch er war es nicht...
Ein Hebräer riet mir, zum
"Trügerischen Gewässer" zu gehen. Leben konnt ich vom Verkauf meiner
zahlreichen Schmuckstücke. Während der Monate, in denen ich umherzog, mußte
ich mein Gesicht verhüllen, um nicht zurückgeholt zu werden; und Aglaia war
wahrhaft unter dem
265
Schleier begraben. Die frühere
Aglaia war tot. Unter dem Schleier war nur noch die verwundete, ausgeblutete
Seele, die ihren Arzt suchte. Oft mußte ich vor der Sinnlichkeit der Männer
fliehen, die mich verfolgte, obgleich das Gewand meine Schönheit verhüllte.
Sogar einer der Freunde deines Sohnes...
Beim "Trügerischen Gewässer"
lebte ich wie ein Tier, arm, aber glücklich. Doch der Tau und der Fluß
reinigten mich weniger als seine Worte. Oh, kein Wort ist mir entgangen.
Einmal verzieh er einem Mörder. Ich hörte es und wollte fast sagen: "Verzeih
auch mir!" Ein andermal sprach er über die verlorene Unschuld... Oh, wie viele
Tränen der Reue! Danach heilte er einen Aussätzigen... ich war dabei, zu
rufen: "Reinige mich von meinen Sünden..." Schließlich heilte er einen
Geisteskranken, einen Römer... und ich weinte... und er ließ mir sagen, daß
die Heimat vergeht, der Himmel aber ewig besteht. An einem Gewitterabend nahm
er mich in sein Haus auf... und dann brachte er mich zu einem Verwalter, der
mich beherbergen sollte. Durch ein Kind ließ er mir sagen: "Weine nicht"...
Oh, seine Güte! Oh, mein Elend! Beide sind so groß... daß ich nicht wagte,
mein Elend vor seine Füße zu legen... obgleich einer der Seinen mich in der
Nacht über die unendliche Barmherzigkeit deines Sohnes belehrte. Es gab
Menschen, die ihm nachstellten, denn sie sahen in seinem Verlangen, Seelen
wieder zum Leben zu erwecken, eine Sünde, und so ist mein Retter
weggegangen... und ich habe auf ihn gewartet... doch auch seine Verfolger
waren da und warteten auf ihn, und sie sind noch weniger würdig ihn anzusehen
als ich. Denn ich habe als Heidin gegen mich selbst gesündigt, während sie,
obwohl sie Gott kennen, gegen den Sohn Gottes sündigen... Sie haben mich
gesteinigt... und mehr noch als die Steine haben mich ihre Anklagen verletzt,
und mehr als den Leib haben sie meine arme Seele getroffen, da sie mich zur
Verzweiflung trieben.
Welch schrecklicher Kampf mit mir
selber. Zerfetzt, blutend, verwundet, fiebernd, ohne noch meinen göttlichen
Arzt gefunden zu haben, ohne Dach und ohne Brot, schaute ich rückwärts und
vorwärts... Die Vergangenheit sagte zu mir: "Komm zurück!" Die Gegenwart
sagte: "Töte dich!" Die Zukunft sagte: "Hoffe!" Und ich habe gehofft... Ich
habe mich nicht umgebracht. Ich würde es tun, wenn er mich wegschickt, denn
ich will nicht mehr sein, was ich war! ... Ich habe mich zu einem Dorfe
geschleppt und dort um Obdach gebeten...
Aber man hat mich erkannt. Wie
ein Tier habe ich fliehen müssen, dahin und dorthin, immer verfolgt, immer
verachtet, immer verflucht, weil ich anständig sein wollte und jene enttäuscht
habe, die in mir das Mittel sahen, deinen Sohn zu treffen. Dem Fluß folgend
bin ich bis nach Galiläa und bis hierher gekommen. Du warst nicht da... Also
bin ich nach Kapharnaum gegangen. Von dort warst du eben abgereist. Doch ein
Greis sah mich, einer seiner Feinde, und er wollte mich als Zeugin für seine
266
Anklage gegen deinen Sohn. Da ich
weinte, ohne mich zu wehren, sagte er mir: "Alles könnte sich für dich ändern,
wenn du meine Geliebte werden wolltest und meine Komplizin in der Anklage
gegen den Rabbi von Nazareth. Es genügt, daß du vor meinen Freunden sagst, daß
er dein Geliebter war..." Ich bin geflohen wie jemand, der in einen
Blumenbusch greift und ein Knäuel Schlangen findet.
Ich habe verstanden, daß ich
nicht mehr zu seinen Füßen eilen kann, deshalb komme ich zu dir. Hier bin ich:
Zertritt mich, denn ich bin Schmutz. Hier bin ich: Jage mich fort, denn ich
bin die Sünderin. Hier bin ich: Nenne mich Dirne. Alles will ich von dir
annehmen. Aber habe Erbarmen, du, Mutter! Nimm meine arme besudelte Seele und
bringe sie ihm. Ich weiß, es ist ein Vergehen, meine Unzucht in deine reinen
Hände zu legen. Doch nur dort wird sie vor der Welt, die sie begehrt,
geschützt sein und wird zur Büßerin werden. Sage mir nur, wie ich es machen
muß. Sage mir nur, was ich tun soll. Sage mir, welches Mittel ich anwenden
muß, um nicht mehr Aglaia zu sein. Was muß ich in mir zerstören? Was muß ich
aus mir herausreißen, um nicht mehr die Sünderin, die Verführerin zu sein, um
mich nicht mehr vor mir selbst und vor dem Mann fürchten zu müssen? Soll ich
mir die Augen ausreißen? Soll ich mir die Lippen verbrennen? Soll ich mir die
Zunge herausschneiden? Augen, Lippen, Zunge, sie haben mir zum Bösen gedient.
Ich will das Böse nicht mehr und bin bereit, mich und sie zu strafen, indem
ich sie opfere. Oder willst du, daß ich mir diese verführerischen Lenden
verstümmle, die mich zur frevelhaften Liebe getrieben haben? Diese
unersättlichen Leidenschaften, deren Wiedererwachen ich stets befürchte? Sage
mir, o sage mir, wie man sich verhalten muß, um sich und die anderen vergessen
zu lassen, daß man ein Weib ist?»
Maria ist erschüttert. Sie weint,
sie leidet; doch ihr Schmerz zeigt sich nur in den Tränen, die auf die Reuige
herabfallen.
«Ich will sterben als Mensch, dem
vergeben worden ist. Ich will sterben mit keiner anderen Erinnerung als mit
der Erinnerung an den Retter. Ich will in seiner Weisheit im Frieden mit mir
selbst sterben... ich darf mich ihm nicht mehr nähern, weil die Welt ihn und
mich beobachtet, um uns anzuklagen...» Aglaia hat sich verzweifelt zu Boden
geworfen und weint.
Maria erhebt sich und flüstert:
«Wie schwer ist es, Erlöser zu sein!»und sie ringt nach Luft.
Aglaia, die das Flüstern hört und
ahnt, was in ihr vorgeht, jammert: «Siehst du, daß auch du Abscheu empfindest?
Nun will ich gehen. Für mich ist alles zu Ende!»
«Nein Tochter, es ist nicht zu
Ende. Es beginnt erst. Höre zu, armes Menschenkind! Ich seufze nicht über
dich, sondern über die grausame Welt! Ich lasse dich nicht gehen, ich nehme
dich auf, arme Schwalbe, die das Unwetter gegen meine Hauswand geworfen hat.
Ich werde dich zu Jesus führen, und er wird dir den Weg deiner Erlösung
zeigen...»
267
«Ich kann nicht mehr hoffen...
Die Welt hat recht, mir kann nicht verziehen werden!»
«Die Welt verzeiht nicht, aber
Gott verzeiht! Laß mich im Namen der höchsten Liebe zu dir sprechen, die mir
einen Sohn geschenkt hat, damit ich ihn der Welt schenke. Sie hat mich aus der
seligen Unerfahrenheit meiner gelobten Jungfräulichkeit herausgeholt, auf daß
der Welt Verzeihung gewährt werde. Sie hat mich bei der Geburt kein Blut
vergießen lassen, doch meinem Herzen hat sie eine blutende Wunde zugefügt, da
sie mir enthüllt hat, daß mein Kind das erhabene Schlachtopfer sei. Schau mich
an, Tochter! In diesem Herzen ist eine tiefe Wunde. Es leidet seit mehr als
dreißig Jahren und immer größer wird diese Wunde, die mich verzehrt. Kennst du
ihren Namen?»
«Schmerz.»
«Nein, Liebe! Es ist die Liebe,
die mein Herz bluten läßt und bewirkt, daß der Sohn nicht allein sei bei der
Rettung der Seelen. Es ist die Liebe, die mich entzündet, damit ich in ihren
Flammen alle reinige, die nicht wagen, zu meinem Sohn zu kommen. Die Liebe ist
es, die mich weinen läßt, auf daß ich mit meinen Tränen die Sünder reinwasche.
Du verlangtest nach meiner Zärtlichkeit und ich gebe dir meine Tränen, die
deine Seele schon so weiß werden lassen, daß du meinen Herrn anblicken darfst.
Weine nicht so! Du bist nicht die einzige Sünderin, die zum Herrn kommt und
nach dir erlöst von dannen geht. Andere waren vor dir da, und andere werden
nach dir kommen.
Zweifelst du, daß er dir
verzeihen kann? Aber siehst du denn nicht in allem, was sich zugetragen hat,
den geheimnisvollen Willen der Güte Gottes ? Wer hat dich nach Judäa geführt?
Wer in das Haus des Johannes? Wer hat dich an jenem Morgen an das Fenster
gehen lassen? Wer hat ein Licht entzündet, um dir seine Worte zu erhellen? Wer
hat dich befähigt zu verstehen, daß Mildtätigkeit, vereint mit dem Gebet des
Beschenkten, göttliche Hilfe erwirkt? Wer gab dir die Kraft, aus dem Haus des
Schammai zu fliehen und in den ersten Tagen bis zur Ankunft meines Sohnes
auszuharren ? Wer führte dich auf seinen Weg? Wer gab dir die Kraft, als
Büßerin zu leben, um deine Seele immer mehr zu reinigen? Wer machte aus deiner
Seele die Seele einer Märtyrerin, einer Gläubigen, einer Standhaften, einer
Reinen?
Ja, schüttle nicht den Kopf!
Glaubst du, daß nur rein ist, wer die sinnliche Begierde nicht gekannt?
Glaubst du, daß die Seele nicht wieder jungfräulich und schön werden kann? Oh,
Tochter! Vergleicht man meine Reinheit, die ganz Gnade des Herrn ist, mit
deinem heldenhaften Aufstieg, der zum Gipfel deiner verlorenen Reinheit
zurückführt, so ist, glaube mir, die deine großartiger. Du baust sie wieder
auf: gegen die Sinnlichkeit, das Bedürfnis und die Gewohnheit. Für mich ist
die Reinheit eine natürliche Gabe wie der Atem. Du mußt deine Gedanken, deine
Gefühle und dein
268
Fleisch besiegen, um nicht daran
zu denken, nicht danach zu verlangen und nicht nachzugeben. Ich... Oh, kann
ein kleines, wenig Stunden altes Geschöpf fleischliche Begierden haben? Ist es
ein Verdienst, wenn es nicht sündigt? So ist es bei mir. Ich kenne diese
tragischen Begierden nicht, denen die Menschheit zum Opfer gefallen ist. Ich
kenne nur das heiligste Verlangen nach Gott. Du aber hast es nicht gekannt und
hast es aus dir selbst begriffen! Das andere Verlangen, jenes unheilvolle,
schreckliche, hast du aus Liebe zu Gott bezwungen, der nun deine einzige Liebe
ist. Lächle, Tochter, denn groß ist die göttliche Barmherzigkeit. Mein Sohn
wirkt in dir, was er dir in Hebron versprochen hat. Er hat es schon getan. Du
bist bereits gerettet, denn du hattest den festen Willen, gerettet zu werden;
du hast die Reinheit, den Schmerz und das Gute in dich aufgenommen. Deine
Seele ist wiedergeboren worden. Nun brauchst du das Wort Jesu, der dir im
Namen Gottes bezeugt: "Deine Sünden sind dir vergeben." Ich kann dies nicht
sagen. Aber ich gebe dir meinen Kuß als Verheißung, als Anfang der
Vergebung...
O ewiger Geist, etwas von dir ist
stets in deiner Maria! Lasse sie dich, heiligmachender Geist, über das
Geschöpf, das da weint und hofft, ausgießen. Durch unseren Sohn, o Gott der
Liebe, rette sie, die von Gott ihre Rettung erwartet.
Die Gnade, die mir Gott, wie der
Engel sagte, in Fülle gewährt hat, möge auf wunderbare Weise über sie kommen,
und stärke sie, bis Jesus, der gebenedeite Retter und Hohepriester, sie im
Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes von ihren Sünden
lossprechen wird...
Es ist Nacht, Tochter. Du bist
müde und erschöpft. Komm, ruhe dich aus. Morgen kannst du aufbrechen... Ich
werde dich zu einer ehrbaren Familie schicken, denn zu viele kommen nun schon
hierher. Ich werde dir ein Kleid wie meines geben und wirst darin aussehen wie
eine Hebräerin. Da ich meinen Sohn erst in Judäa wiedersehen werde, da das
Osterfest nahe ist und wir beim Neumond des April in Bethanien sein werden,
will ich dort mit ihm sprechen. Komme dann in das Haus des Simon des Zeloten.
Dort wirst du mich finden, und ich werde dich zu ihm führen.»
Aglaia weint erneut, doch diesmal
aus Freude. Sie hat sich auf den Boden gesetzt, und auch Maria hat sich wieder
gesetzt. Aglaia legt den Kopf in ihren Schoß und küßt ihre Hände. Dann seufzt
sie: «Sie werden mich wiedererkennen...»
«O nein! Hab keine Angst! Dein
Gewand war zu bekannt. Doch ich werde dich für diese Reise, die dich zur
Verzeihung führt, herrichten, und du wirst wie eine Jungfrau sein, die zur
Hochzeit geht: du wirst für die in den Riten unerfahrenen Menschen anders und
unbekannt sein. Komm! Ich habe eine kleine Kammer neben der meinen. In ihr
haben sich schon Heilige und Pilger, die den Weg zu Gott gehen wollten,
ausgeruht. Sie soll auch dich beherbergen.»
269
Aglaia schickt sich an, den
Mantel und den Schleier vom Boden aufzuheben.
«Laß es liegen. Es ist das Gewand
der armen, irregegangenen Aglaia. Sie ist nicht mehr... und es darf von ihr
nicht einmal das Gewand übrigbleiben. Sie hat zuviel Haß erfahren... und auch
der Haß macht krank, wie die Sünde.»
Sie gehen in den dunklen Garten
und betreten die kleine Kammer Josephs. Maria entzündet die Lampe, die auf
einer Konsole steht, liebkost noch einmal die Reuige und schließt dann die
Türe. Nun nimmt sie ihre Lampe mit den drei Flämmchen und geht auf die Suche
nach einem geeigneten Platz für den zerrissenen Mantel der Aglaia, damit er am
Morgen nicht von den Besuchern gesehen werde.
208. DIE BERGPREDIGT; «IHR SEID
DAS SALZ DER ERDE»
Jesus geht allein und eiligen
Schrittes auf einer Hauptstraße dahin. Er ist auf dem Weg zu einem Berg, der
sich nahe der Hauptstraße, die vom See nach Westen führt, erhebt. Erst steigt
er langsam an bis zu einem Plateau, von dem aus man den ganzen See mit der
Stadt Tiberias im Süden und einigen weniger prächtigen Ortschaften im Norden
sehen kann. Dann geht er steil nach oben bis zu einem ersten Gipfel und fällt
danach wieder ab, so daß sich eine Art Sattel ergibt, hinter dem sich ein
zweiter, ähnlicher Gipfel erhebt.
Jesus steigt auf einem gut
gehaltenen Eselspfad zur Hochebene hinauf und gelangt zu einem Dörflein,
dessen Bewohner Landarbeiter sind und diese Hochebene bestellen, auf der das
Korn schon Ähren bildet. Jesus geht durch das Dorf und dann weiter durch die
von Blumen und Kräutern übersäten Felder und Wiesen.
Der Tag ist heiter und die
umliegende Natur zeigt sich in ihrer ganzen Schönheit. Hinter dem einsamem
Berg, zu dem Jesus sich begibt, erhebt sich im Norden der große Hermon, dessen
Gipfel einer riesigen Perle gleich auf einem Smaragdsockel ruht, so weiß ist
der mit Schnee bedeckte Gipfel und so grün seine bewaldeten Hänge. Jenseits
des Sees, zwischen diesem und dem Hermon, erstreckt sich die grüne Ebene des
Sees von Meron, den man jedoch von hier aus nicht sehen kann, und mehrere
nordwestlich gegen den See von Tiberias verlaufende Hügel. Weit dahinter noch
andere Hügel, die durch die Entfernung sanfter erscheinen, und andere Ebenen.
Im Süden, auf der anderen Seite der Hauptstraße, verdecken die Hügel Nazareth.
Je höher man hinaufsteigt, um so weiter wird der Ausblick. Ich kann nur nicht
sehen, was im Westen ist, da mir der Berg die Sicht in diese Richtung nimmt.
270
Jesus begegnet zuerst dem Apostel
Philippus, der anscheinend als Wachtposten amtiert. «Oh, Meister, hier bist
du? Wir haben dich auf der Straße erwartet. Und ich warte hier auf meine
Gefährten, die gerade Milch holen gegangen sind bei den Hirten, die ihre
Schafe auf dieser Hochebene weiden. Unten, auf der Straße, kommen Simon und
Judas des Simon, und mit ihnen sind Isaak und... Oh, da kommen sie! Kommt!
Kommt! Der Meister ist hier!»
Die Apostel, die Flaschen und
Behälter tragen, beginnen zu laufen, die Jüngeren kommen natürlich zuerst an.
Ihre Freude, den Meister zu sehen, ist rührend. Endlich sind sie vereint, und
während Jesus ihnen zulächelt, wollen alle gleichzeitig reden und erzählen...
«Aber wir haben dich auf der
Straße erwartet!»
«Wir hätten nicht gedacht, daß du
schon heute kommst!»
«Es sind viele Menschen da, weißt
du?»
«Oh, wir waren in großer
Verlegenheit, denn unter ihnen sind auch Schriftgelehrte und sogar Schüler des
Gamaliel...»
«Ach ja, Herr! Du hast uns gerade
im richtigen Augenblick allein gelassen. Ich habe noch nie solche Angst wie
damals ausgestanden. Tu mir so etwas, bitte, nie mehr an!»
Petrus beschwert sich, Jesus
lächelt und fragt: «Aber ist es euch denn so schlecht ergangen?»
«O nein, im Gegenteil! Oh, mein
Meister! Weißt du nicht, daß Johannes gesprochen hat ? ... Es war, als
sprächest du aus ihm. Ich... wir alle waren verblüfft... Dieser Jüngling, der
noch vor einem Jahre zu nichts anderem taugte als zum Netze auswerfen... Oh!»
Petrus ist immer noch voller Bewunderung und schüttelt den lächelnden
Johannes, der schweigt... «Scheint es euch möglich, daß dieser Junge mit
diesem lachenden Munde solche Worte sagen konnte? Er glich wahrhaftig
Salomon.»
«Auch Simon hat gut gesprochen,
mein Herr. Er war wirklich das Oberhaupt», sagt Johannes.
«Allerdings. Man hat mich einfach
gepackt und hingestellt! Ach was... sie sagen, daß ich gut gesprochen habe.
Kann sein. Ich weiß es nicht, denn in meinem Staunen über die Worte des
Johannes und in meiner Angst, vor so vielen reden zu müssen und dich womöglich
zu blamieren, war ich ganz verwirrt...»
«Mich?» neckt Jesus. «Schließlich
hast ja du gesprochen und hättest dich selber blamiert, Simon.»
«Oh, meinetwegen... Ich machte
mir keine Sorge um mich selbst. Ich wollte nur nicht, daß sie dich als töricht
verspotten, weil du einen Dummkopf als Apostel genommen hast.»
Jesus strahlt vor Freude über die
Demut und Liebe des Petrus. Aber er fragt nur: «Und die anderen?»
271
«Auch der Zelote hat gut
gesprochen. Aber bei ihm ist es verständlich... Johannes hingegen war eine
echte Überraschung! Nun ja, seit wir uns im Gebet zurückgezogen hatten,
scheint dieser Junge mit seiner Seele immer wie im Himmel zu sein.»
«Das ist wahr! Das ist wahr!»
Alle bestätigen die Worte des Petrus. Dann fahren sie fort zu erzählen.
«Weißt du, unter den Zuhörern
sind nun, wie Judas des Simon sagt, zwei sehr bedeutende Personen. Judas
bemüht sich sehr um sie. Nun ja, er kennt viele von ihnen... von der
Oberschicht, und weiß mit ihnen umzugehen, und er redet gerne. Er redet gut,
doch das Volk hört lieber Simon, deine Brüder und besonders Johannes. Gestern
hat ein Mann mir gesagt. "Dieser Jüngling spricht gut" – er meinte damit Judas
– "doch ich ziehe dich ihm vor." Oh, armer Kerl, mich vorziehen, der ich kaum
vier Worte hintereinander sagen kann... Aber warum bist du hierher gekommen?
Unser Treffpunkt war doch die Straße, und wir sind dort gewesen.»
«Weil ich wußte, daß ich euch
hier finden würde. Nun hört. Geht hinunter und sagt den anderen, sie sollen
kommen. Aber das Volk soll heute noch nicht kommen. Ich möchte zu euch allein
sprechen.»
«Dann ist es besser, bis zum
Abend zu warten. Bei Einbruch der Dämmerung zerstreuen sich die Leute in den
umliegenden Weilern und kommen erst am anderen Morgen wieder, um auf dich zu
warten. Wenn sie jetzt erfahren, daß du hier bist, wer wird sie dann
zurückhalten können?»
«Gut. Macht es so. Ich werde dort
auf dem Gipfel auf euch warten. Die Nächte sind nun mild, wir können auch im
Freien schlafen.»
«Wie du willst, Meister, wenn du
nur bei uns bist!»
Die Jünger entfernen sich, und
Jesus geht auf dem Pfad weiter bis zum Gipfel. Es ist der gleiche, den ich
schon im vorigen Jahr gegen Ende der Bergpredigt und bei der ersten Begegnung
mit Magdalena gesehen habe. Der Rundblick wird noch weiter, und der Horizont
leuchtet wie Feuer beim nun beginnenden Sonnenuntergang. Jesus setzt sich auf
einen Felsblock und sammelt sich in Betrachtung. Er verweilt in dieser
Haltung, bis Schritte auf dem Weg ankündigen, daß die Apostel angekommen sind.
Der Abend bricht herein, doch auf der Anhöhe hat sich die Sonne noch nicht
zurückgezogen und entlockt jedem Gras und jeder Blume Düfte. Die wilden
Maiglöckchen duften besonders stark, und die hohen Stengel der Narzissen
schütteln ihre Sterne und ihre Knospen, als wollten sie damit den Tau
herbeilocken.
Jesus steht auf und grüßt mit
seinem: «Der Friede sei mit euch!» Viele Jünger kommen mit den Aposteln den
Berg herauf. Isaak, mit seinem Lächeln und dem feinen Gesicht eines Asketen,
führt sie an. Sie scharen sich alle um Jesus, der im besonderen Judas Iskariot
und Simon den Zeloten begrüßt.
«Ich habe euch alle zu mir
gebeten, um einige Stunden mit euch allein
272
sein zu können. Ich muß euch
einiges sagen, um euch immer besser auf eure Mission vorzubereiten. Laßt uns
zuvor etwas essen, dann wollen wir reden, und noch im Schlaf wird eure Seele
fortfahren, sich an dieser Lehre zu erlaben.»
Sie verzehren das karge
Nachtmahl. Dann bilden die Apostel und die Jünger einen Kreis um Jesus, der
sich auf einen großen Stein gesetzt hat. Es sind ihrer ungefähr hundert Jünger
und Apostel, vielleicht mehr: Ein Kranz von aufmerksamen Gesichtern, die von
den Flammen zweier Feuer eigenartig erhellt werden. Jesus spricht langsam und
unterstreicht seine Worte durch ruhige Gebärden. Sein Gesicht wirkt durch den
Gegensatz zu seinem dunkelblauen Gewand noch blasser. Auch der Neumond trägt
dazu bei, und gleich einer Sichel aus Licht berührt er sanft den Herrn über
Himmel und Erde.
«Ich wollte allein mit euch sein,
denn ihr seid meine Freunde. Ich habe euch nach der ersten überstandenen
Prüfung der Zwölf gerufen, um den Kreis meiner mitarbeitenden Jünger zu
erweitern und auch, um von euch zu erfahren, was ihr empfindet, wenn ihr von
denen geführt werdet, die ich euch als meine Nachfolger übergebe. Ich weiß,
daß alles gut gegangen ist. Ich habe durch meine Gebete die Seelen der Apostel
gestärkt, die mit neuer Kraft im Geiste und im Herzen aus der mehrtägigen
Anbetung hervorgegangen sind. Es ist eine Kraft, die nicht durch menschliches
Studium erworben wird, sondern nur in der vollkommenen Hingabe an Gott.
Am meisten gegeben haben jene,
die sich selbst am meisten vergessen haben. Sich selbst zu vergessen aber ist
sehr schwierig.
Der Mensch lebt von den
Erinnerungen, und die stärksten sind die Erinnerungen an das eigene Ich. Man
muß jedoch zwischen dem einen und dem anderen Ich unterscheiden. Da gibt es
das geistige Ich der Seele, das sich an Gott und seinen Ursprung in Gott
erinnert. Und es gibt das niedrige Ich des Fleisches, das für sich und seine
Leidenschaft tausend Forderungen stellt. Dieses zweite Ich, das sich aus so
vielen Stimmen zusammensetzt, daß sie einen ganzen Chor bilden, übertönt das
erste, wenn die Stimme des Geistes, der sich auf seinen Adel als Kind Gottes
besinnt, nicht stark genug ist. Daher muß man, um ein vollkommener Jünger zu
sein, sich selbst vergessen – trotz aller Erinnerung, ängstlichen Überlegungen
und Bedürfnisse des menschlichen Ichs. Dagegen muß man seiner Seele stets in
heiliger Weise gedenken und dieses Bewußtsein immer mehr festigen und stark
und lebendig erhalten.
Bei dieser ersten Prüfung meiner
zwölf Apostel haben jene mehr gegeben, die sich selbst mehr vergessen haben,
also nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch die Grenzen ihrer Person;
jene, die sich nicht mehr erinnert haben, was sie vorher waren und so sehr in
Gott aufgegangen sind, daß sie nichts mehr befürchten: Nichts mehr! Warum die
Zurückhaltung einiger Apostel? Weil sie von ihren üblichen Bedenken, ihren
gewohnten
273
Überlegungen und Vorurteilen
nicht loskamen. Warum die Wortkargheit der anderen? Weil sie an ihre
Unfähigkeit zu lehren dachten und fürchteten, sich selbst oder mich zu
blamieren. Warum das offensichtliche Großtun anderer? Weil sie sich ihres
gewohnten Stolzes erinnerten, des Wunsches, beachtet zu werden, Beifall zu
ernten, hervorzutreten und etwas zu gelten. Warum bei anderen schließlich die
überraschende Enthüllung einer lehrhaften, sicheren, überzeugenden,
erfolgreichen und rabbinischen Redekunst? Weil sie, und sie allein, fähig
waren, im rechten Augenblick die ihnen verliehene hohe Würde zu übernehmen,
die sie zuvor aus Furcht, sich zu viel anzumaßen, und in ihrer Bescheidenheit
und ihrem Wunsch, unbeachtet zu bleiben, nie angenommen hätten. Sie allein
haben es verstanden, sich an Gott zu erinnern. Die ersten drei Gruppen
erinnerten sich nur ihres niedrigen Ichs. Die Apostel der vierten Gruppe aber
besannen sich auf ihr höheres Ich und fürchteten nichts. Sie fühlten Gott mit
ihnen und in ihnen und waren unbesorgt. Oh, heilige Inbrunst, die der
Gottverbundenheit entspringt!
Darum hört gut zu, ihr alle,
Apostel und Jünger. Ihr Apostel kennt diese Gedanken schon, nun aber werdet
ihr alles noch tiefer erfassen. Ihr Jünger kennt sie noch nicht oder nur
teilweise, und es ist notwendig, daß sie in eure Herzen eingemeißelt werden.
Denn da die Herde Christi immer zahlreicher wird, will ich euch nun auch immer
häufiger einsetzen. Die Welt wird mich und euch mehr und mehr bekämpfen und
die Zahl der Wölfe, die mich, den Hirten, und meine Herde angreifen, wird
beständig wachsen. Darum will ich euch Waffen zur Verteidigung meiner Lehre
und meiner Herde in die Hand geben. Was für die Herde genügt, genügt nicht für
euch, kleine Hirten. Wenn es noch geduldet wird, daß die Schafe Fehler machen,
indem sie Kräuter fressen, die ihr Blut verderben oder wilde Gelüste in ihnen
wecken, so ist es doch nicht erlaubt, daß ihr die gleichen Fehler begeht und
dadurch viele von der Herde ins Verderben stürzen. Ihr müßt bedenken, daß die
Schafe eines Hirten, der einem falschen Ideal anhängt, durch Gift zugrunde
gehen oder von den Wölfen getötet werden.
Ihr seid das Salz der Erde und
das Licht der Welt. Doch wenn ihr in eurer Mission versagt, werdet ihr zu
einem schalen, unnützen Salz. Nichts mehr könnte euch dann den Geschmack
zurückgeben, da Gott ihn euch nicht geben konnte. Denn ihr habt das Salz als
ein Geschenk von ihm erhalten, es aber schal werden lassen, da ihr es mit den
faden und schmutzigen Wassern der Menschlichkeit verwässert und mit der
entarteten Süße der Sinnlichkeit gesüßt habt. Ihr habt dem reinen Salz Gottes
die Schlacken des Stolzes, des Geizes, der Unmäßigkeit, der Unzucht, des
Zornes und der Trägheit beigemischt, und das in solchem Maße, daß auf sieben
Körner eines jeden Lasters nur ein Salzkorn kommt. Euer Salz ist also nichts
mehr als ein Gemisch von Steinen, in dem sich das armselige Körnchen Salz
verliert. Steine, die zwischen den Zähnen knirschen, im
274
Mund einen Erdgeschmack
hinterlassen und die Speise widerlich und abstoßend machen. Nicht einmal mehr
für mindere Zwecke ist es brauchbar, da eine mit sieben Lastern durchwirkte
Gelegenheit selbst menschlichen Aufgaben schaden würde. Also taugt das Salz
nicht mehr, es wird weggeworfen und von den Menschen achtlos zertreten. Wie
viele, o wie viele Menschen werden auf diese Weise die Männer Gottes mit Füßen
treten können! Denn diese Berufenen selbst haben dem Volk erlaubt, sie so zu
zertreten, da man zu ihnen nicht mehr seine Zuflucht nimmt, um den Wohlgeruch
von etwas Erlesenem, Himmlischem zu kosten: sie sind doch nichts anderes als
Schlacke.
Ihr seid das Licht der Welt. Ihr
seid wie dieser Berggipfel, auf den noch die letzten Strahlen der Sonne fallen
und der sich als erster mit dem silbernen Schein des Mondes kleidet. Was in
der Höhe ist, leuchtet und wird gesehen, denn selbst das Auge des
gedankenlosen Menschen blickt manchmal nach oben. Ich würde sagen, das
natürliche Auge, das man den Spiegel der Seele nennt, spiegelt die Sehnsucht
der Seele wider: die Sehnsucht, die oft nicht wahrgenommen, doch stets
lebendig ist, solange der Mensch kein Dämon geworden ist, die Sehnsucht nach
dem Himmel, wo der Verstand instinktiv dem Allmächtigen seinen Platz zuweist
und zu dem man, wenn man den Himmel sucht, wenigstens hin und wieder im Leben
die Augen erhebt.
Ich bitte euch, erinnert euch,
was wir seit unserer Kindheit beim Betreten Jerusalems tun. Wohin eilen unsere
Blicke? Zum Berg Moriah, gekrönt im Triumph mit seinem Tempel aus Marmor und
Gold. Was tun wir, wenn wir im Vorhof stehen? Die kostbaren Kuppeln betrachten
wir, die in der Sonne glänzen. Wie schön ist das Innere der heiligen
Einfriedungsmauer mit ihren Säulenhallen, Torbögen und prächtigen Höfen! Doch
unser Auge blickt nach oben.
Weiter bitte ich euch, erinnert
euch auch an die Zeit unterwegs. Wohin richtet sich unser Auge, um die lange
Wegstrecke, die Eintönigkeit, die Müdigkeit, die Hitze oder den Schmutz
vergessen zu lassen? Zu den Gipfeln, auch wenn sie nicht so hoch und weit
entfernt sind! Mit welcher Erleichterung sehen wir sie auftauchen, wenn wir
uns im eintönigen Flachland befinden. Ist hier unten Schmutz? Dort ist
Sauberkeit. Ist hier Schwüle und Hitze? Dort ist Frische. Ist die Sicht hier
begrenzt? Dort ist die Weite. Schon allein das Betrachten läßt uns den Tag
weniger heiß, den Staub weniger lästig, das Gehen weniger beschwerlich
erscheinen, und wenn dann noch eine Stadt von der Höhe eines Berges grüßt,
dann gibt es kein Auge, das sich nicht daran erfreuen würde. Man könnte sagen,
daß auch ein unscheinbarer Ort schöner wirkt, wenn er auf dem Kamm eines
Berges liegt. Aus diesem Grunde haben die wahren, wie auch die falschen
Religionen, nach Möglichkeit ihre Tempel auf Anhöhen errichtet. Wenn es in der
Gegend weder einen Hügel noch einen Berg gibt, dann stellt man
275
in mühsamer Handarbeit einen
Unterbau aus Stein, eine Erhöhung her, auf der man dann den Tempel errichtet.
Warum tut man das? Weil man will, daß der Tempel gesehen wird, um durch seinen
Anblick einen Gedanken an Gott zu wecken.
Ebenso habe ich euch gesagt, daß
ihr ein Licht seid. Wenn jemand am Abend in einem Haus eine Lampe anzündet,
wohin stellt er sie? In das Loch unter dem Herd? In die Höhle, die ihm als
Keller dient? In eine geschlossene Truhe? Oder verbirgt man ihr Leuchten,
indem man sie unter den Scheffel stellt? Nein, denn dann wäre es sinnlos, das
Licht anzuzünden. Vielmehr stellt man das Licht auf eine Konsole oder auf
einen Leuchter, so daß es von der Höhe herab den ganzen Raum erhellt und alle
Bewohner in sein Licht taucht. Doch gerade weil das, was hoch steht, die
Aufgabe hat, zu leuchten und an Gott zu erinnern, muß es seiner Aufgabe
gewachsen sein.
Ihr habt die Aufgabe, an den
wahren Gott zu erinnern. Handelt also so, daß in euch nicht das siebenfache
Heidentum sei, sonst würdet ihr sein wie die Stätten der Götzendiener mit
ihren Hainen, die diesem oder jenem Gott geweiht sind, und mit eurem Heidentum
würdet ihr jene verführen, die in euch Tempel Gottes sehen. Ihr müßt das Licht
Gottes in euch tragen. Ein schmutziger Docht, oder ein Docht ohne Öl, qualmt
und gibt kein Licht, er stinkt und leuchtet nicht. Eine Flamme hinter einem
schmutzigen Kristall verbreitet nicht die frohe Helligkeit, nicht das
leuchtende Spiel des Lichtes, das aus einem klaren Glas erstrahlen kann. Sie
flimmert nur schwach durch den schwarzen Rauchschleier, der den funkelnden
Schutz trübt.
Das Licht Gottes erstrahlt dort,
wo man willig und eifrig darum bemüht ist, es von den Schlacken zu reinigen,
die sich aus dem Wirken des Menschen ergeben: aus seinen Kontakten, Reaktionen
und Enttäuschungen. Das Licht Gottes erstrahlt dort, wo der Docht in reichlich
Öl des Gebetslebens und der Nächstenliebe getaucht ist. Das Licht Gottes
leuchtet mit so unendlich vielen Strahlen, wie es Vollkommenheiten Gottes
gibt, von denen jede einzelne im heiligmäßigen Menschen eine heldenhaft
ausgeübte Tugend erweckt, wenn der Diener Gottes den Kristall seiner Seele
rein bewahrt und dem qualmenden Rauch der bösen Leidenschaften zu widerstehen
vermag. Unanfechtbar soll der Kristall eurer Seele sein! Unanfechtbar! (Die
donnernde Stimme Jesu wiederhallt dröhnend in diesem natürlichen
Amphitheater.) Nur Gott allein hat das Recht und die Macht, diesen Kristall zu
ritzen und mit dem Diamanten seines Willens seinen heiligsten Namen darin
einzugraben. Dann wird dieser Name zur Zierde und läßt ein Feuer
übernatürlicher Schönheiten von unendlicher Vielfalt auf diesem reinsten Quarz
erstrahlen.
Aber, wenn der törichte Diener
des Herrn die Selbstkontrolle und den Überblick über seine Aufgabe, die einzig
und allein übernatürlicher Art
276
ist, verliert und falsche Figuren
einritzen läßt, Kratzer, die keine Gravierungen, sondern geheimnisvolle,
dämonische Namenszüge von den feurigen Krallen Satans sind, dann scheint die
wundersame Lampe nicht mehr schön und ungetrübt. Der Kristall zerspringt, und
die Flamme erlischt unter den Scherben. Oder, wenn die Lampe nicht zerspringt,
entsteht ein Gewirr unverständlicher Zeichen eindeutigen Ursprungs, in denen
sich der Ruß festsetzt und sie vollends unkenntlich macht.
Wehe, dreimal wehe den
Uhrmeistern, welche die Weisheit Gottes verleugnen, um sich mit einer
Wissenschaft zu sättigen, die der Weisheit häufig widerspricht, aber immer dem
Stolz schmeichelt und oftmals teuflischer Art ist, denn sie läßt sie an ihrer
Menschlichkeit festhalten, während doch jeder Mensch dazu bestimmt ist, sich
zu heiligen und ein Kind Gottes zu werden. Der Lehrer, der Priester sollte in
noch vermehrtem Maße einzig und allein Kind Gottes sein, selbst wenn er vorher
alle Züge der Diesseitigkeit an sich trug. Der Priester muß ein Geschöpf sein,
ganz Seele und Vollkommenheit, um durch seine Ausstrahlung Jünger für Gott zu
gewinnen. Fluch den Lehrern einer übernatürlichen Lehre, die zu Götzen
menschlicher Gelehrtheit werden!
Wehe, siebenmal wehe den Toten im
Geiste unter meinen Priestern, die in ihrer Lauheit, in ihrer weichlichen,
jeder Tatkraft entbehrenden Trägheit des Fleisches, in ihrer Schläfrigkeit
trügerischen Traumbildern nachhängen, aber ihre Gedanken nicht auf den
dreieinigen Gott richten; die voller Berechnung sind, sich aber nicht bemühen,
dem höheren Ziel, nämlich den Reichtum der Herzen und den Schatz Gottes zu
vermehren, gerecht zu werden. Erdgebunden, engherzig und abgestumpft leben sie
dahin und ziehen auch jene in ihr totes Gewässer, die ihnen nachfolgen in der
Meinung, daß sie das Leben besäßen. Der Fluch Gottes komme über die Verführer
meiner kleinen, geliebten Herde! Nicht jene, die durch eure Trägheit
verlorengehen, ihr pflichtvergessenen Diener des Herrn, werde ich bestrafen,
sondern von euch werde ich Rechenschaft fordern über jede Stunde, jeden
Augenblick, jede eurer Nachlässigkeiten und ihre Folgen.
Erinnert euch dieser Worte und
geht nun! Ich werde nun auf den Gipfel steigen, und ihr, geht schlafen. Morgen
wird der Hirte der Herde die Weiden der Wahrheit eröffnen.»
277
209. DIE BERGPREDIGT DIE
SELIGPREISUNGEN (Erster Teio
Jesus spricht mit den Aposteln
und weist jedem seinen Platz zu, damit sie die Leute, die seit den ersten
Morgenstunden heraufkommen, anleiten und betreuen. Viele Kranke sind auf Armen
oder Bahren herbeigetragen worden oder haben sich auf Krücken hergeschleppt.
Unter den Vielen befinden sich auch Stephanus und Hermas.
Die Luft ist klar und etwas
frisch, doch die Sonne mildert die morgendliche Brise in den Bergen, ohne ihr
die gesunde Reinheit zu nehmen. Die Menschen setzen sich auf Steine und
Felsbrocken, die in der Senke zwischen den beiden Gipfeln liegen; andere
warten ab, daß die Sonne das taunasse Gras trocknet, um sich dann auf dem
Boden niederzulassen. Es ist schon eine große Menschenmenge da; sie stammen
aus allen Gegenden Palästinas und aus allen Volksschichten. Die Apostel
verlieren sich in dieser Menge, aber, wie Bienen, die zwischen den Wiesen und
den Bienenstöcken hin- und herfliegen, kehren sie immer wieder zum Meister
zurück, um ihm zu berichten und ihm Fragen zu stellen, aber auch, um von den
Leuten als ihm Nahestehende beachtet zu werden.
Jesus geht durch den Talgrund und
steigt etwas höher die Wiese empor, lehnt sich an die Felswand und beginnt zu
sprechen.
«Viele haben mich während des
Jahres, da ich gepredigt habe, gefragt: "Du, der du dich Sohn Gottes nennst,
sage uns also, was der Himmel, was das Reich, was Gott ist, denn wir haben
unklare Vorstellungen. Wir wissen, daß es einen Himmel mit Gott und den Engeln
gibt; doch keiner ist je zu uns gekommen, um uns zu sagen, wie der Himmel ist,
da er selbst den Gerechten verschlossen ist." Sie haben mich also gefragt, was
das Reich und was Gott ist. Ich habe mich bemüht, es euch zu erklären: bemüht,
nicht weil es schwierig für mich wäre, euch dies zu erklären, sondern weil es
durch eine Reihe von Umständen schwierig ist, euch die anstößige Wahrheit über
das wahre Reich erkennen zu lassen; denn dem steht ein jahrhundertealtes
Gefüge menschlicher Vorstellungen über das Wesen Gottes – ungeachtet der
Erhabenheit seiner göttlichen Natur – entgegen. 1)
Andere wiederum haben gefragt:
"Gut, dies ist das Reich, und das ist Gott. Aber wie gelangt man zu Gott und
zum Reich?" Auch hier habe ich unermüdlich versucht, den wahren Kern des
Gesetzes vom Sinai zu erklären. Wer sich diese Wahrheit zu eigen macht, macht
sich den Himmel zu eigen. Aber um euch das Gesetz des Sinai zu erklären, ist
es nötig, euch auch die Donnerstimme des Gesetzgebers und seines Propheten
vernehmen zu
______________-
1) Der heilige Augustinus sagt:
Gott kann man nicht erklären, er kann nicht mit dem Geist erfaßt werden: Er
ist!
278
lassen, die den Befolgern des
Gesetzes Segen verheißen, den Ungehorsamen aber harte Strafen und den Fluch
Gottes androhen. Die Erscheinung des Herrn am Sinai war schreckenerregend, und
diese Schrecklichkeit spiegelt sich im ganzen Gesetz wider und gilt für alle
Zeiten und alle Menschen.
Doch Gott ist nicht nur
Gesetzgeber, Gott ist Vater! Er ist ein unendlich gütiger Vater.
Vielleicht, nein, sicher können
sich eure geschwächten Seelen nicht mehr zu Gott erheben; denn sie sind
geschwächt durch die Erbsünde, die Leidenschaften, die Sünden, die vielen
Arten euerer Selbstsucht und auch durch den Egoismus anderer. Durch all das
habt ihr eure Mitmenschen verärgert und verschließt euch ihnen gegenüber. Ihr
seid daher nicht fähig, die unendlichen Vollkommenheiten Gottes zu betrachten,
und am wenigsten die Güte Gottes, weil sie die Tugend ist, die die
Sterblichen, zusammen mit der Liebe, am wenigsten besitzen. Die Güte! Wie süß
ist es, gut zu sein, ohne Haß, ohne Neid, ohne Hochmut! Augen zu haben, die
nur liebevoll schauen, Hände zu haben, die in einer Gebärde der Liebe gereicht
werden, Lippen, die nur Worte der Liebe sprechen, und ein Herz, vor allem ein
Herz, in dem einzig und allein die Liebe wohnt und das Augen, Hände und Lippen
zu Taten der Liebe drängt!
Die Gelehrten unter euch wissen,
welch reiche Gaben Gott Adam und seinen Nachkommen hat zuteil werden lassen.
Auch die ungebildetsten unter den Kindern Israels wissen, daß in uns der Geist
(die Seele), ist. Nur die armen Heiden kennen ihn nicht, diesen königlichen
Gast, diesen Hauch des Lebens, dieses himmlische Licht, das unseren Leib
heiligt und belebt. Aber die Gelehrten wissen, welche Gaben dem Menschen, dem
Geist des Menschen, verliehen wurden.
Gott hat diesen Geist nicht
weniger freigebig bedacht als das Fleisch und Blut des von ihm mit etwas Staub
und seinem Hauch erschaffenen Geschöpfes. Wie er Adam die natürlichen Gaben
der Schönheit, der Unversehrtheit, der Intelligenz, des Willens und der
Fähigkeit zu lieben und Liebe zu schenken gab, so verlieh er auch die
moralischen Gaben: die Unterordnung des Fleisches unter die Vernunft, damit
sein Geschenk der Freiheit, Selbstbeherrschung und des eigenen Willens nicht
durch die Knechtschaft der Triebe und Leidenschaften beeinträchtigt werde.
Frei war sein Lieben, frei sein Wollen, und frei seine Freude in
Gerechtigkeit; ohne das Gift, das Satan verspritzt, von dem er überfließt und
das euch zu Sklaven macht; das Gift, das euch vom reinen Flußbett über
schlammige Felder in faulende Tümpel führt, wo die Fieber fleischlicher und
geistiger Triebhaftigkeiten gären. Ihr wißt, daß auch die Begehrlichkeit im
Denken zur Sinnlichkeit gehört. Die ersten Menschen hatten übernatürliche
Gaben: die heiligmachende Gnade, die Bestimmung zu Höherem, die Anschauung
Gottes.
279
Die heiligmachende Gnade: das
Leben der Seele, dieses hochgeistige Etwas, das in unsere religiöse Seele
gelegt wurde; die Gnade, die uns zu Kindern Gottes macht, weil sie uns vor dem
Tod durch die Sünde bewahrt; denn wer tot ist, lebt nicht im Haus des Vaters,
im Paradies, in meinem Reich: dem Himmel. Was ist diese heilige Gnade, die das
Leben und den Himmel verleiht? Oh, macht nicht viele Worte. Die Gnade ist
Liebe. Die Gnade ist daher Gott. Sie ist Gott! Gott, der sich selbst in seinem
vollendet erschaffenen Geschöpf bewundert, liebt, betrachtet, sich selbst
verschenkt, um diesen seinen Besitz zu vermehren, um sich an dieser Vermehrung
zu beseligen und um sich in allen zu lieben, die sein eigenes Ich sind. 1)
O Kinder, beraubt Gott nicht
dieses seines Rechtes! Beraubt Gott nicht seines Besitzes! Enttäuscht Gott
nicht in diesem seinem Wunsch! Denkt daran, daß er aus Liebe wirkt. Auch wenn
ihr nicht wäret, bliebe er doch immer der Unendliche, und seine Macht wäre
dadurch nicht geringer. Doch obschon Gott in seiner unendlichen Größe
vollendet und unermeßlich ist, will er seine Liebe nicht für sich und in sich
vermehren, denn er könnte es ja gar nicht, da er schon der Unendliche ist,
sondern er will es tun für sein Geschöpf, und er will diese Liebe in dem Maße
vermehren, wie dieses Geschöpf selbst Liebe hat. Er gibt euch die Gnade, die
Liebe, auf daß sie in euch zur Vollkommenheit der Heiligen wachse und ihr dann
diesen Schatz, den ihr aus dem Schatz der Gnade Gottes geschöpft und durch
alle heiligen Werke eures ganzen heldenhaften und heiligen Lebens vermehrt
habt, in den unendlichen Ozean des Himmels, die Wohnung Gottes, zurückfließen
laßt.
Göttliche, göttliche, göttliche
Zisternen der Liebe! Ihr lebt und seid nicht bestimmt zu sterben, weil ihr
unsterblich seid wie Gott, indem ihr in Gott seid. Ihr werdet leben, und euer
Leben wird nicht enden, weil ihr unsterblich seid wie die heiligen Geister,
die euch im Überfluß ernährt haben und reich an eigenen Verdiensten zu euch
zurückkommen. Ihr lebt und nährt euch, ihr lebt und bereichert euch, ihr lebt
und bildet diese heiligste Gemeinschaft der Geister, die alle umfaßt, von
Gott, dem vollkommensten Geist, bis zum neugeborenen Kinde, das zum erstenmal
an der mütterlichen Brust saugt.
________________
1) Der heilige Thomas von Aquin
sagt mit Recht: «Gott hätte keine größeren göttlichen Werke vollbringen
können, als jene drei: Die Menschwerdung des Sohnes, die Mutterschaft der
heiligsten Jungfrau und die Vergöttlichung der menschlichen Seele.» Auch der
heilige Augustinus sagt: «Die Seelen sind durch den Vater am Geheimnis der
ewigen Zeugung in göttlicher Weise beteiligt und durch den Vater und den Sohn
an der Ausgießung des Heiligen Geistes.» Daher wird die durch die Gnade Gottes
Gott ähnlich gewordene Seele in ihrer Teilhabe und ihrem Wirken mit den drei
göttlichen Personen vergöttlicht, und das ist das erhabenste Werk der
unendlichen Liebe, die uns Geschöpfe zu vergöttlichten Geschöpfen erhebt.
280
Kritisiert mich nicht in euren
Herzen, ihr Gelehrten! Sagt nicht: "Dieser da ist ein Narr, ein Lügner; denn
nur ein Narr kann behaupten, daß die Gnade in uns wäre, da wir sie doch durch
die Erbsünde verloren haben. Er lügt, wenn er uns schon eins mit Gott nennt."
Ja, die Schuld besteht! Ja, die Trennung ist da! Doch vor der Macht des
Erlösers wird die Schuld, die grausame Trennung des Vaters von den Kindern,
wie eine Wand zusammenstürzen, erschüttert vom neuen Samson. Schon habe ich
sie erfaßt und rüttle an ihr. Sie wankt und Satan zittert vor Zorn und
Ohnmacht, da er gegen meine Macht nichts vermag und ahnt, daß ihm eine große
Beute entgeht und daß es für ihn schwierig wird, den Menschen zur Sünde zu
verleiten. Denn, wenn ich euch durch mich zum Vater gebracht habe und ihr
durch mein Blut und mein Leiden rein und stark geworden seid, dann wird auch
die Gnade in euch wieder lebendig, rege und mächtig werden und ihr werdet
siegen, wenn ihr es wollt.
Gott zwingt euch nicht zu
entsprechenden Gedanken und auch nicht zu eurer Heiligung. Ihr seid frei. Aber
er gibt euch die Kraft zurück. Er gibt euch wiederum die Freiheit von der
Herrschaft Satans. Euch ist es überlassen, das höllische Joch wieder
aufzuladen oder eurer Seele Engelsflügel zu verleihen. Alles ist euch
überlassen, mich als euren Bruder, der euch führt und mit unvergänglicher
Speise nährt, anzunehmen.
"Wie gewinnt man Gott und sein
Reich auf einem leichteren Weg als dem mühsamen Pfad des Sinai?" fragt ihr. Es
gibt keinen anderen Weg. Nur dieser ist es. Doch laßt ihn uns betrachten,
nicht in der Farbe der Drohung, sondern in jener der Liebe. Sagen wir nicht:
"Wehe, wenn ich das nicht tue!" während man aus Angst, der Sünde nicht
widerstehen zu können, furchtsam erzittert. Sagen wir: "Selig, wenn ich dies
tue"; und schwingen wir uns mit übernatürlicher Freude jubelnd empor um diese
Seligkeiten zu erreichen, die der Befolgung der Gesetzes entspringen, und wie
Rosenblüten aus einem Dornenstrauch hervorwachsen.
"Selig, wenn ich arm im Geiste
bin, denn mein ist das Himmelreich!
Selig, wenn ich sanftmütig bin,
denn ich werde das Land erben!
Selig, wenn ich mich nicht gegen
den Schmerz auflehne, denn ich werde getröstet werden!
Selig, wenn ich mehr hungere und
dürste nach Gerechtigkeit als nach Brot und Wein, um mein Fleisch zu sättigen,
denn die Gerechtigkeit wird mich sättigen!
Selig, wenn ich Barmherzigkeit
übe, denn ich werde göttliche Barmherzigkeit erfahren!
Selig, wenn ich reinen Herzens
bin, denn Gott wird sich über mein reines Herz neigen, und ich werde Gott
schauen!
Selig, wenn ich den Geist des
Friedens in mir habe, denn ich werde Kind Gottes genannt werden; denn im
Frieden ist Liebe, und Gott ist Liebe und er liebt jene, die ihm ähnlich sind.
281
Selig, wenn ich um der
Gerechtigkeit willen verfolgt werde, denn Gott, mein Vater, wird mir als
Belohnung für die irdischen Verfolgungen das Himmelreich geben.
Selig, wenn ich geschmäht und
verleumdet werde, weil ich dein Kind bin, o Gott! Nicht Trostlosigkeit,
sondern Freude wird mir daraus erwachsen, denn so werde ich deinen besten
Dienern, den Propheten, gleich, die aus demselben Grund verfolgt wurden. Ich
glaube beharrlich, daß ich mit ihnen einst an der erhabenen, ewigen Belohnung
teilhaben werde: am Himmel, der mein sein wird."
Betrachten wir den Weg des Heiles
mit der Freude der Heiligen.
"Selig, wenn ich arm im Geiste
bin."
O Reichtümer, die ihr den
brennenden Durst Satans, Wahn und Rausch im Menschen hervorruft, im Reichen
wie im Armen! Im Reichen, der für sein Gold, dem Abgott seiner verderbten
Seele, lebt. Im Armen, der vom Neid auf den Reichen lebt, weil dieser im
Reichtum des Goldes schwelgt, und wenn er auch keinen wirklichen Mord begeht,
so schleudert er dennoch seine Flüche gegen die Reichen und wünscht ihnen
allerhand Schlechtes. Es genügt nicht, das Böse nicht zu tun, man darf auch
nicht wünschen, jemandem etwas Böses anzutun. Wer seinen Mitmenschen verflucht
und ihm Tod und Unglück wünscht, ist dem wirklichen Mörder nicht unähnlich,
denn in ihm lodert der Wunsch, den Gehaßten zugrunde gehen zu sehen. Wahrlich,
ich sage euch, daß der Wunsch nichts anderes ist als eine zurückgehaltene Tat,
eine schon gebildete, aber noch nicht geborene Leibesfrucht. Die Verwünschung
vergiftet und verdirbt, denn sie dauert länger als die gewaltsame Tat und ihre
Wirkung ist eine tiefgreifendere.
Der Arme im Geiste, obwohl reich
an materiellen Güter, sündigt nicht seines Goldes wegen, sondern er bedient
sich des Goldes zu seiner Heiligung und wandelt es in Liebe. Geliebt und
gepriesen, gleicht er den rettenden Quellen in der Wüste, die sich ohne Geiz,
glücklich, sich zu verschenken, für alle ergießen, um ihnen in ihrer
Verzweiflung Linderung zu verschaffen. Ist der Arme im Geiste arm an
materiellen Gütern, ist er doch glücklich in seiner Armut und das Brot, das er
in der Heiligkeit seiner vom Fieber nach Gold unbelasteten Seele ißt, mundet
köstlich. Sein Schlaf, frei von Alpträumen, läßt ihn ausgeruht und heiter an
sein Tagwerk gehen, das ihm stets leicht erscheint, da er es ohne Habsucht und
Neid verrichtet.
Dinge, welche den Menschen reich
machen, sind sowohl materielle: das Gold, als auch moralische: die
Zuneigungen. Mit Gold sind nicht nur die Münzen gemeint, sondern auch die
Häuser, die Felder, die Schmuckstücke, die Möbel, die Herden und alles, was
das Leben materiell bereichert. Zuneigungen sind die Bande des Blutes oder der
Ehe, die Freundschaften, die intellektuellen Bereicherungen, die öffentlichen
Ämter.
282
Wenn nun der Arme, wie ihr seht,
hinsichtlich der ersten Art sagen kann: "Oh! meinetwegen, wenn ich nur nicht
die Reichen beneide, weil ich arm bin, dann ist für mich alles in Ordnung", so
muß sich doch auch der Arme hinsichtlich der zweiten Art in acht nehmen, da
selbst der elendste unter den Menschen in sündhafter Weise reich im Geist
werden kann, denn wer einer Sache übermäßig ergeben ist, sündigt.
Ihr werdet sagen: "Wir sollen
also das Gute, das Gott uns gewährt, hassen. Warum gebietet er dann, Vater und
Mutter, Gattin und Kinder zu lieben, und sagt: 'Du sollst den Nächsten lieben
wie dich selbst'?" Ihr müßt unterscheiden. Wir müssen den Vater, die Mutter,
die Ehefrau und den Nächsten lieben, aber in dem Maße, wie es uns von Gott
befohlen wurde: wie uns selbst. Gott hingegen müssen wir über alles lieben und
mit unserem ganzen Sein. Gott soll nicht in der Weise geliebt werden, wie wir
die unter unseren Mitmenschen lieben, die uns am nächsten stehen: die eine,
weil sie uns gestillt hat, die andere, weil sie an unserer Brust schläft und
uns ein Kind gebiert; nein, Gott soll mit unserem ganzen Sein geliebt werden,
was heißen will, mit der ganzen Liebesfähigkeit des Menschen: mit der Liebe
des Kindes, des Gatten, des Freundes, und – oh! empört euch nicht! – des
Vaters. Ja, der Sache Gottes müssen wir die Sorge eines Vaters für seine
Kinder angedeihen lassen. Mit Liebe sichert und mehrt er ihren Besitz, sorgt
sich um ihr körperliches Gedeihen, läßt sie ausbilden und bemüht sich um ihr
Zurechtkommen im Leben.
Die Liebe ist nichts Schlechtes
und soll es nicht werden. Die Gnaden, die Gott gewährt, sind nichts Schlechtes
und dürfen es nicht werden. Sie sind Liebe. Aus Liebe werden sie uns
geschenkt. Darum soll man sich dieser Reichtümer, die uns Gott aus Liebe und
Güte gewährt, in Liebe bedienen, und nur, wer sie nicht zu Abgöttern macht,
sondern zum Mittel, um Gott in Heiligkeit zu dienen, beweist, daß er keine
sündhafte Anhänglichkeit an sie hat. Er übt die heilige Armut im Geist und
entäußert sich von allem, um frei zu sein und Gott, den höchsten Reichtum, und
mit ihm das Himmelreich zu erwerben.
"Selig, wenn ich sanftmütig bin."
Diese Aussage steht anscheinend
im Widerspruch zu den Beispielen des täglichen Lebens, denn nicht die
Sanftmütigen scheinen in den Familien, in den Städten und in den Nationen zu
triumphieren. Aber ist es ein wahrer Triumph? Nein! Es ist nur die Angst,
welche die vom Despoten Unterdrückten scheinbar gefügig macht; in Wirklichkeit
ist sie der Deckmantel für eine überbordende Auflehnung gegen den Tyrannen.
Die Jähzornigen und Herrschsüchtigen besitzen die Herzen der
Familienangehörigen, der Mitbürger und der Untertanen nicht. Sie vermögen
nicht, Verstand und Geist ihren Lehren zu unterwerfen, diese Meister des: "Ich
habe es gesagt." Sie schaffen nur Autodidakten, Suchende nach einem geeigneten
Schlüssel, um die verschlossenen Tore einer Weisheit oder einer
283
Wissenschaft aufzuschließen,
deren Existenz sie ahnen, die aber im Widerspruch zu der ihnen aufgezwungenen
steht.
Jene Priester, die nicht mit
geduldiger, demütiger und liebevoller Sanftmut Seelen zu gewinnen suchen,
sondern bewaffneten Kriegern gleich, überfallartig, anmaßend und keinen
Widerspruch duldend auf ihr Ziel losgehen, führen die Seelen nicht zu Gott...
Oh, arme Seelen! Wären sie heilig, hätten sie euch, ihr Priester, nicht nötig,
um zum Lichte zu gelangen! Sie hätten das Licht bereits in sich. Wären sie
gerecht, hätten sie euch, Richter, nicht nötig, um am Zügel der Gerechtigkeit
gehalten zu werden, sie hätten die Gerechtigkeit schon in sich. Wären sie
gesund, hätten sie eure Fürsorge nicht nötig. Seid daher sanftmütig! Treibt
die Seelen nicht in die Flucht! Zieht sie mit Liebe an, denn die Sanftmut ist
Liebe, so wie es die Armut im Geiste ist.
Wenn ihr sanftmütig seid, werdet
ihr das Land erben und diesen Boden für Gott gewinnen, noch bevor Satan von
ihm Besitz ergreift, denn eure Sanftmut, die außer Liebe auch Demut ist, wird
den Haß und den Stolz besiegen und den schändlichen König des Stolzes und des
Hasses aus den Herzen verbannen. So wird die Welt euch, also Gott, gehören;
denn ihr seid dann gerecht, wenn ihr Gott als den absoluten Herrn der
Schöpfung anerkennt, dem Ehre und Lobpreis gebührt und dem sein Eigentum
zurückgegeben wird.
"Selig, wenn ich mich im Leid
nicht auflehne.
Der Schmerz ist auf Erden, und
der Schmerz läßt den Menschen Tränen vergießen. Den Schmerz gab es nicht, doch
der Mensch brachte ihn in die Welt und bemüht sich wegen der Entartung seines
Geistes mit allen Mitteln ständig darum, ihn zu vermehren. Außer Krankheiten
und dem Unheil, das Blitzschlag, Unwetter, Lawinen, Erdbeben nach sich ziehen,
sucht der Mensch, um zu leiden und besonders, um andere leiden zu lassen,
immer schrecklichere tödliche Waffen und immer grausamere moralische Härten,
und mit raffinierten Mitteln versucht er, anderen den Schmerz zu bereiten, von
dem er selbst jedoch frei sein möchte. Wieviel Tränen verursacht der Mensch
dem Mitmenschen durch die Anstiftung seines geheimen Königs, Satan! Trotzdem
sage ich euch in Wahrheit, daß alle deshalb vergossenen Tränen für die
Menschen nicht eine Erniedrigung, sondern eine Vervollkommnung bedeuten.
Der Mensch ist ein gedankenloses
Kind, ein unbeschwertes, sorgloses, ein geistig zurückgebliebenes Wesen, bis
ihn das Leid reif, besinnlich und verständig werden läßt. Nur jene, die ein
Leid zu tragen hatten, sind imstande zu lieben, zu verstehen und den wie sie
leidenden Brüdern Liebe zu schenken, sie in ihren Schmerzen zu begreifen und
ihnen gütig beizustehen, da sie aus eigener Erfahrung wissen, wie weh es tut,
im Leid allein zu sein. Auch vermögen sie Gott zu lieben, weil sie erkannt
haben, daß außer Gott alles Leid ist; weil sie begriffen haben, daß der
Schmerz, wenn wir
284
ihn am Herzen Gottes ausweinen,
nachläßt; weil sie begriffen haben, daß das ergeben getragene Leid, das den
Glauben nicht ins Wanken, das Gebet nicht zum Versiegen bringt und frei von
Auflehnung ist, dessen Wesen ändert und den Schmerz zur Tröstung werden läßt.
Ja, die weinen und Gott lieben, werden getröstet werden!
"Selig, wenn ich hungere und
dürste nach der Gerechtigkeit."
Von der Geburt bis zum Tode
verlangt der Mensch gierig nach Nahrung. Er öffnet nach der Geburt den Mund,
um die Brust der Mutter zu ergreifen. Er öffnet im Sterben die Lippen, um in
der Beklemmung des Todeskampfes Labung zu suchen. Er arbeitet, um sich zu
ernähren. Er macht aus der Erde ein riesiges Euter, an dem er unersättlich
saugt und saugt von dem, was vergänglich ist. Aber was ist der Mensch? Ein
Tier? Nein, er ist ein Kind Gottes, das sich für wenige oder viele Jahre im
Exil befindet. Aber sein Leben endet nicht mit dem Wechsel seines
Aufenthaltes.
Es gibt ein Leben im Leben, so
wie in einer Nußschale der Kern enthalten ist. Nicht die Schale ist die Nuß,
sondern der innere Kern. Wenn ihr eine Nußschale pflanzt, dann wächst nichts,
wenn ihr aber die Schale mit dem Kern pflanzt, dann wächst ein großer Baum. So
ist es auch beim Menschen. Nicht der Körper ist unsterblich, sondern die
Seele, und sie muß genährt werden, um ihre Unsterblichkeit zu sichern, zu der
sie dann aus Liebe den Körper bei der seligen Auferstehung führen wird. Die
Nahrung der Seele sind Weisheit und Gerechtigkeit. Wie Speise und Trank werden
sie aufgenommen und stärken, und je mehr man davon kostet, um so mehr wächst
das heilige Verlangen nach dem Besitz der Weisheit und dem Erkennen der
Gerechtigkeit. Aber es wird auch ein Tag kommen, da dieser unersättliche
heilige Hunger der Seele gestillt sein wird. Er wird kommen. Gott wird sich
seinem Geschöpfe hingeben und es direkt an seine Brust legen, und der für das
Paradies Geborene wird sich sättigen an der bewunderungswürdigen Mutter, die
Gott selber ist. Nie mehr wird er Hunger leiden, sondern glücklich an der
göttlichen Brust ruhen. Keine menschliche Wissenschaft kommt dieser göttlichen
gleich. Die Wißbegier des Geistes kann durch die menschliche Wissenschaft
gestillt werden, das Bedürfnis der Seele aber nicht. In der Verschiedenheit
des Geschmackes empfindet die Seele eher Ekel, und sie wendet den Mund ab von
dieser bitteren Nahrung und zieht es vor, Hunger zu leiden, anstatt sich mit
einer Speise zu sättigen, die nicht von Gott kommt.
Habt keine Angst, ihr, die ihr
nach Gott dürstet und hungert! Bleibt treu, und ihr werdet von dem gesättigt
werden, der euch liebt.
"Selig, wenn ich Barmherzigkeit
übe."
Wer unter den Menschen kann
sagen: "Ich brauche keine Barmherzigkeit?" Niemand! Wenn auch im Alten Gesetz
geschrieben steht: "Auge um Auge und Zahn um Zahn", warum sollte es dann im
Neuen Gesetz
285
nicht heißen: "Wer Barmherzigkeit
übt, dem wird Barmherzigkeit zuteil werden" ? Alle bedürfen der Verzeihung.
Nun, nicht die Worte und die
äußere Form eines Ritus, nicht die Symbole, die dem Menschen in der Trübheit
seines Geistes zugebilligt wurden, bewirken die Vergebung, sondern der innere
Akt der Liebe, oder, wiederum der Barmherzigkeit. Wenn das Opfer einer Ziege
oder eines Lammes und die Gabe einiger Münzen auferlegt wurden, dann geschah
dies, weil jedes Übel letztlich zwei Wurzeln hat: die Habsucht und den Stolz.
Die Habsucht wird mit der Ausgabe für die Beschaffung des Opfers bestraft, der
Stolz mit dem offenkundigen rituellen Bekenntnis, indem man gesteht: "Ich
bringe diese Opfer dar, weil ich gesündigt habe." Es geschah auch, um damit
die Zeit und das Zeichen der Zeit vorwegzunehmen, denn das dabei vergossene
Blut symbolisiert das göttliche Blut, das vergossen werden wird, um die Sünden
der Menschheit zu tilgen.
Daher selig, wer Barmherzigkeit
übt an Hungernden, Nackten und Obdachlosen, aber auch an den noch Elenderen,
die durch ihren schlechten Charakter ihrer Umgebung und ihren Mitmenschen Leid
zufügen. Habt Erbarmen, verzeiht, seid nachsichtig, hilfsbereit, belehrt und
stärkt sie. Schließt euch nicht in einen Kristallturm ein und sagt: "Ich bin
rein und mische mich nicht unter die Sünder." Sagt nicht: "Ich bin reich und
glücklich und will nichts vom Elend hören." Gebt acht, denn noch schneller als
der Rauch, den der Wind verweht, kann euer Reichtum, eure Gesundheit und euer
häusliches Glück entschwinden. Denkt daran, daß der Kristall wie ein
Vergrößerungsglas wirkt, denn hättet ihr euch unter die Menschen begeben,
wäret ihr unbemerkt geblieben; in einem Kristallturm eingeschlossen aber,
allein, abgeschieden und allen Blicken ausgesetzt, bleibt ihr nicht mehr
verborgen.
Übt Barmherzigkeit, um damit ein
geheimes, ununterbrochenes, heiliges Opfer der Sühne zu vollbringen und selbst
Barmherzigkeit zu erlangen.
"Selig bin ich, wenn ich reinen
Herzens bin."
Gott ist die Reinheit! Das
Paradies ist das Reich der Reinheit. Nichts Unreines kann in den Himmel
eingehen, wo Gott ist. Wenn ihr also unrein seid, werdet ihr nicht in den
Himmel, in das Reich Gottes, eingehen. Aber, o Freude! Vorfreude, die der
Vater seinen Kindern schenkt! Wer rein ist, hat schon auf Erden eine Vorahnung
des Himmels, denn Gott neigt sich über den Reinen, und der Mensch schaut schon
auf dieser Erde seinen Gott. 1) Der Reine kennt nicht die Freude der
menschlichen Liebe, aber er
_____________
1) Der Geist Gottes erleuchtet
und offenbart sich um so mehr, je mehr er Wohnung findet in einer reinen
Seele, die sich aller Nichtigkeiten, die den ungeistigen und areligiösen
Menschen erfüllen, entledigt hat. Befreit sich der Mensch von irdischen und
hinfälligen Dingen, so erfüllt Gott seine Leere mit sich selbst und der
reingewordene oder, noch besser, stets rein gebliebene Mensch schaut und
begreift Gott im Geiste. So wie Gott ihn besitzt, besitzt er Gott auf
geheimnisvolle Weise, soweit dies beim Menschen, der immer noch in der
Verbannung lebt, möglich ist. Er besitzt Gott durch sein sehnliches Verlangen,
und Gott, der seine Kinder besitzen will, entspricht diesem Verlangen. Das ist
das kleine Paradies auf Erden, als Vorbote der ewigen und vollkommenen
Seligkeit im Himmel.
286
kennt die Wonne der göttlichen
Liebe bis zur Verzückung und kann sagen: "Ich bin bei dir und du in mir, und
daher besitze und kenne ich dich als liebenswürdigsten Bräutigam meiner
Seele." Glaubt mir, wer Gott besitzt, erfährt unerklärliche, grundlegende
Veränderungen, die ihn heilig, weise und stark werden lassen; auf seinen
Lippen erblühen Worte und seine Handlungen sind von einer Macht getragen, die
ihren Ursprung nicht in ihm selbst hat, sondern in Gott, der in ihm lebt.
Was ist das Leben des Menschen,
der Gott schaut? Seligkeit. Möchtet ihr euch wegen niedriger Unreinheit einer
solchen Gabe berauben?
"Selig, wenn ich den Geist des
Friedens besitze. "
Der Friede ist eine der
Eigenschaften Gottes. Gott ist im Frieden, denn der Friede ist Liebe, der
Krieg aber Haß. Der Teufel ist Haß. Gott ist Friede. Ein jähzorniger Mensch,
jederzeit zu wüten und zu toben bereit, kann sich nicht Kind Gottes nennen,
und Gott kann ihn nicht sein Kind nennen.
Doch auch der kann sich nicht
Kind Gottes nennen, der sich nicht bemüht, einen Streit, selbst wenn er ihn
nicht ausgelöst hat, durch seine Ruhe und seinen inneren Frieden zu
besänftigen. Ein friedfertiger Mensch verbreitet, auch ohne zu sprechen,
Friede. 1)
Als Herr seiner selbst, und ich
wage es zu sagen, als Gebieter über Gott, trägt er ihn in sich, gleich wie
eine Lampe das Licht, wie ein Weihrauchfaß den Wohlgeruch des Weihrauchs und
wie ein Schlauch die Flüssigkeit. Es wird Licht inmitten von rauchigen Nebeln
des Grolls, die Luft wird rein vom Gifthauch der Mißgunst, und die tobenden
Wogen der Streitigkeiten beruhigen sich unter dem Einfluß des milden Öls des
Geistes des Friedens, den die Kinder Gottes ausströmen.
Handelt so, daß Gott und die
Menschen euch friedfertig nennen können.
"Selig, wenn ich um der
Gerechtigkeit willen Verfolgung leide."
Der Mensch ist so sehr von Satan
beherrscht, daß er das Gute haßt, wo immer er es antrifft. Er haßt den Guten,
als ob jeder gute Mensch ihn anklagen und ihm Vorwürfe machen wollte, auch
wenn dieser schweigt. Tatsächlich läßt die Güte eines Menschen die Bosheit des
Bösen noch
____________-
1) Gott liebt die Friedfertigen,
weil sie ganz Liebe sind, denn die Liebe flößt Gefühle des Friedens ein, und
der Friede wiederum stellt die Liebe unter den Brüdern her. Es ist, als ob
Gott selbst sich in ihren Dienst stellen würde, um sie in ihrer
Friedenssendung zu unterstützen, die eine seiner wunderbarsten Eigenschaften
unter den Menschen verfielfältigt.
287
deutlicher zutage treten. Der
Glaube des wahrhaft Glaubenden läßt die Scheinheiligkeit des falschen
Gläubigen noch offenkundiger hervortreten. Und so kann es nicht anders sein,
als daß der Ungerechte den haßt, der durch seinen Lebenswandel ein stetes
Zeugnis für die Gerechtigkeit ablegt. Daher gerät man in Wut über die
Menschen, die die Gerechtigkeit lieben.
Auch hier ist es wie bei den
Kriegen. Der Mensch macht in der satanischen Kunst der Verfolgung mehr
Fortschritte als in der heiligen Kunst der Liebe. Aber er kann nur verfolgen,
was ein kurzes Leben hat. Das Ewige im Menschen entgeht seinen Nachstellungen
und erwirbt durch die Verfolgung noch mehr Lebenskraft. Das Leben entschwindet
durch die Wunden der geöffneten Adern oder durch sonstige Leiden, die den
Verfolgten erliegen lassen. Doch das Blut wird zum Purpur des künftigen
Königs, und die Leiden wandeln sich in ebensoviele Stufen, die ihn hinauf zum
Throne führen, den der Vater seinen Märtyrern, denen die königlichen Sitze des
Himmelreiches vorbehalten sind, bereitet hat.
"Selig, wenn ich geschmäht und
verleugnet werde."
Seht zu, daß euer Name in den
himmlischen Büchern eingetragen sei, in denen nicht die Namen entsprechend den
menschlichen Lügen aufgezeichnet sind und jene gelobt werden, die eine
Auszeichnung am wenigsten verdienen, sondern wo die Werke der Guten in
Gerechtigkeit und Liebe geschrieben stehen, um ihnen die den Gesegneten Gottes
verheißene Belohnung zuteil werden zu lassen.
In der Vergangenheit waren es die
Propheten, die verleumdet und geschmäht wurden. Aber wenn sich die Pforten des
Himmels öffnen, werden sie wie mächtige Könige in die Stadt Gottes einziehen,
und die Engel werden sich vor ihnen verneigen und freudig singen. Auch ihr,
auch ihr, die ihr verleumdet und geschmäht werdet, weil ihr Gott angehört,
werdet den himmlischen Triumph feiern. Und wenn die Zeit erfüllt und das
Paradies vollendet ist, dann werdet ihr den den Wert jeder Träne erkennen,
denn ihretwegen habt ihr diese ewige Herrlichkeit erworben, die ich euch im
Namen des Vaters verheiße.
Gehet hin! Morgen werde ich
wieder zu euch sprechen. Nur die Kranken sollen noch hier bleiben, damit ich
ihnen in ihren Leiden helfen kann. Der Friede sei mit euch, und die
Betrachtung über das Heil durch die Liebe führe euch auf den Weg zum Himmel.»
288
210. DIE BERGPREDIGT DIE
SELIGPREISUNGEN (Zweiter Teil)
Ort und Stunde sind immer die
gleichen. Die Menschenmenge hat noch zugenommen. In einer Ecke, an einer
Wegbiegung, so als wolle er zuhören ohne den Widerwillen der Leute zu erregen,
steht ein Römer. Ich erkenne ihn an seinem kurzen Gewand und dem andersartigen
Mantel als Römer. Auch Stephanus und Hermas sind immer noch da. Jesus geht
langsam zu seinem Platz und fährt mit seiner Predigt fort.
«Aus dem, was ich euch gestern
gesagt habe, dürft ihr nicht schließen, ich sei gekommen, um das Gesetz
aufzuheben. Nein. Doch als Menschensohn verstehe ich die Schwächen des
Menschen und ich möchte euch nur ermutigen, es zu befolgen und euer geistiges
Auge nicht auf den dunklen Abgrund, sondern auf den Abgrund des Lichtes zu
lenken. Denn, wenn die Angst vor der Strafe die Menschen in drei von zehn
Malen von der Sünde abhalten kann, so verleiht ihm die Gewißheit einer
Belohnung in sieben von zehn Malen Auftrieb. Die Zuversicht vermag also mehr
als die Angst, und ich will, daß sie in euch vollkommen und fest verankert
sei, damit ihr nicht in sieben von zehn Teilen, sondern in zehn von zehn
Teilen gut handelt, um so die heiligste Belohnung des Himmels zu erwerben.
Ich ändere kein Jota des
Gesetzes. Denn wer hat es unter den Blitzen des Sinai gegeben? Der
Allerhöchste.
Wer ist der Allerhöchste? Der
eine und dreieinige Gott.
Woher hat er das Gesetz genommen?
Aus seinen Gedanken.
Wie hat er es gegeben? Durch sein
Wort.
Warum hat er es gegeben? Aus
Liebe.
Ihr seht also, daß die
Dreifaltigkeit zugegen war. Das dem Gedanken und der Liebe stets gehorsame
Wort sprach im Namen des Gedankens und der Liebe.
Könnte ich mir selbst
widersprechen? Ich könnte es nicht. Aber ich kann, da ich alles vermag, das
Gesetz vervollständigen, es göttlich vervollständigen. Nicht wie es die
Menschen im Laufe der Jahrhunderte getan haben, die es nur immer schwieriger
zu verstehen und einzuhalten werden ließen durch Gesetze und Vorschriften und
Vorschriften und Gesetze, die sie zu ihrem eigenen Nutzen erdacht haben. Mit
diesen Trümmern haben sie das heiligste Gesetz, das uns von Gott gegeben
wurde, gesteinigt und erstickt, verschüttet und unfruchtbar gemacht.. Kann
eine Pflanze überleben, wenn Lawinen und Geröll sie für immer unter sich
begraben und Überschwemmungen sie überfluten? Nein, die Pflanze stirbt. Das
Gesetz ist in vielen Herzen tot, weil es durch zu viel Überflüssiges erstickt
wurde. Dies wegzuräumen bin ich gekommen, und wenn das Gesetz einmal
freigelegt und auferstanden sein wird, dann wird es nicht mehr Gesetz, sondern
König sein.
289
Die Könige erlassen die Gesetze.
Gesetze sind das Werk der Könige, aber sie sind nicht mehr wie Könige. Ich
hingegen mache aus dem Gesetz einen König: Ich vervollständige es und setze
ihm mit den evangelischen Räten die Krone auf, mit den Ratschlägen zur Übung
der Tugenden. Zuerst gab es den Befehl, jetzt gibt es mehr als den Befehl.
Zuerst gab es das Notwendige, jetzt gibt es mehr als das Notwendige, jetzt
gibt es das Vollkommene. Wer es annimmt, wie ich es euch schenke, ist sogleich
ein König, weil er das 'Vollkommene' erreicht hat, weil er nicht nur gehorsam,
sondern heldenhaft, also heilig war. Denn die Heiligkeit ist die Summe aller
Tugenden, die höchste von einem Geschöpf erreichbare Stufe, wenn es in
heldenhafter Weise und in vollkommener Loslösung von allem, was menschliche
Begierde und Überlegung ist, gelebt und gedient hat.
könnte sagen, den Heiligen
hindern Liebe und Sehnsucht, sein Auge auf irgend etwas anderes zu lenken, als
auf Gott. Nicht durch niedrige Dinge abgelenkt, sind die Augen seines Herzens
inständig auf die Herrlichkeit der höchsten Heiligkeit Gottes gerichtet. Im
Lichte Gottes sieht er die Brüder in Bedrängnis, die flehend ihre Hände
ausstrecken. Ohne seinen Blick von Gott abzuwenden, begibt sich der Heilige
helfend zu seinen bittenden Brüdern. Wider das Fleisch, wider die Reichtümer
und die Bequemlichkeit verwirklicht er sein Ideal: zu dienen. Ist der Heilige
deshalb ein Armer, ein Herabgesetzter? Nein. Er hat die wahre Weisheit und den
wahren Reichtum erlangt, und darum besitzt er alles. Er verspürt auch keine
Müdigkeit, denn da er ständig arbeitet, hat er stets genug, um sich zu
ernähren, und da er das Leid der Welt erkennt, weidet er sich an der Seligkeit
des Himmels. Er nährt sich von Gott und erfreut sich in Gott. Er ist das
Geschöpf, das den Sinn des Lebens erkannt hat.
Wie ihr seht, verändere und
verunstalte ich das Gesetz nicht. Ich verfälsche es auch nicht mit dem Beiwerk
gärender menschlicher Theorie, sondern ich vervollständige es. Das Gesetz
bleibt, was es sein muß, und als solches wird es bis zum letzten Tag
fortbestehen, ohne daß ein Wort verändert oder eine Vorschrift aufgehoben
würde; aber es wird mit Vollkommenheit gekrönt. Um das Heil zu erlangen genügt
es, das Gesetz anzunehmen, wie es gegeben wurde. Um die unmittelbare Einheit
mit Gott zu erreichen, muß es so gelebt werden, wie ich es euch sage. Da
jedoch die Helden eine Ausnahme bilden, wende ich mich an die gewöhnlichen
Menschen, an die Masse der Seelen, damit man nicht sagen kann, ich wäre um der
Vollkommenheit willen am Notwendigsten vorbeigegangen. Von dem, was ich euch
sage, behaltet vor allem folgendes: wer sich erlaubt, eines der geringsten
dieser Gebote zu übertreten, wird im Himmelreich gering geschätzt werden, und
wer andere dazu verleitet, sie zu übertreten, wird gering geachtet werden; und
nicht nur er selbst, sondern auch der, den er zur Übertretung verleitet hat.
Wer aber durch seine Lebensweise und seine Werke andere zum Gehorsam geführt
hat, wird groß sein im
290
Himmelreich, und seine Größe wird
zunehmen mit jedem, den er zum Gehorsam und zur Selbstheiligung angespornt
hat. Ich weiß, daß meine Worte für viele einen bitteren Geschmack haben; aber
ich kann nicht lügen, auch wenn die Wahrheit, die ich euch verkünde, mir
Feinde schaffen wird.
In Wahrheit sage ich euch, wenn
eure Gerechtigkeit sich nicht erneuert, wenn sie sich nicht vollkommen lossagt
von der erbärmlichen und fälschlich so bezeichneten "Gerechtigkeit", die euch
von Schriftgelehrten und Pharisäern gelehrt wurde; wenn ihr nicht viel mehr
seid als Gerechte im Sinne der Pharisäer und Schriftgelehrten, die glauben es
zu sein, wenn sie die Formeln mehren, ohne jedoch die Seelen grundlegend zu
ändern, dann werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen.
Hütet euch vor falschen Propheten
und vor in die Irre gegangenen Gelehrten. Sie kommen zu euch in
Schafskleidern, sind aber reißende Wölfe; sie kommen im Kleide der Heiligkeit
und sind Gottesverächter; sie behaupten, die Wahrheit zu lieben und weiden
sich an Lügen. Prüft sie, bevor ihr ihnen folgt.
Der Mensch hat eine Zunge, und
mit dieser spricht er. Er hat Augen, und mit diesen sieht er. Er hat Hände,
und mit diesen macht er Zeichen. Aber er hat noch etwas anderes, das mehr als
alles andere über sein wahres Wesen aussagt: es sind seine Werke. Was sind
zwei Hände, die zum Gebet gefaltet sind, wenn der Mensch ein Dieb und
Unkeuscher ist? Was sind zwei Augen, die Verzückung vortäuschen, sich in alle
Richtungen verdrehen, aber nach Beendigung des Schauspiels imstande sind, den
Blick begierlich auf die Frau zu richten oder auf den Feind, oder gar nach
Unzucht oder Mord Ausschau zu halten? Und wie soll man eine Zunge nennen, die
in lügnerischen Lobgesängen zu schmeicheln versteht und mit honigsüßen
Redewendungen verführt, während sie euch dann hinter eurem Rücken verleumdet
und es sogar fertigbringt, falsch zu schwören, nur damit man euch für
verachtungswürdige Menschen hält? Was ist eine Zunge, die lange heuchlerische
Gebete verrichtet und gleich danach den guten Ruf des Nächsten untergräbt oder
dessen Gutgläubigkeit täuscht? Widerlich, widerlich sind lügnerische Augen und
Hände. Aber die Werke des Menschen, die tatsächlichen Werke, also die Art sich
in der Familie, im Umgang mit dem Nächsten und den Dienern zu benehmen,
bezeugen: 'Dieser ist ein Diener des Herrn" denn die heiligen Werke sind die
Frucht einer wahren Religion.
Ein guter Baum gibt keine
schlechten Früchte, und ein schlechter Baum gibt keine guten Früchte. Könnten
diese stacheligen Schlehen jemals saftige Weintrauben hervorbringen, und
könnten die noch lästigeren Disteln weiche Feigen reifen lassen? Nein, sicher
werdet ihr wenige und herbe Beeren von den ersten pflücken, und ungenießbare
Früchte werden auch die Disteln tragen, deren Blüten schon aus Stacheln
bestehen. Der nicht gerechte Mensch vermag sich nur durch den äußeren Anschein
Achtung
291
zu verschaffen. Auch diese
flaumige Distelblüte scheint ein Knäuel feiner Silberfäden zu sein, die der
Tau mit Diamanten geschmückt hat. Berührt man sie aber versehentlich, ist sie
nicht wie ein weicher Knäuel, sondern als ein Bündel Stacheln anzufassen. Für
den Menschen lästig und für die Schafe schädlich, wird sie von den Hirten
ausgerissen und ins nächtliche Feuer geworfen, damit nicht einmal die Samen
überleben: eine gute und vorsorgliche Maßnahme. Ich sage euch nicht: "Tötet
die falschen Propheten und die scheinheiligen Gläubigen." Ich sage vielmehr:
"Überlaßt Gott das Gericht", und: "Habt acht; meidet sie, damit sie euch nicht
mit ihren Säften vergiften."
Gestern habe ich euch gesagt, wie
Gott geliebt werden muß. Nun sage ich euch, wie der Nächste geliebt werden
muß.
Es gab eine Zeit, wo man sagte:
"Liebe deinen Freund, deinen Feind aber hasse." Nein, so nicht. Das konnte
gelten für die Zeiten, in denen der Mensch den Trost des Lächelns Gottes nicht
kannte. Doch jetzt kommen die neuen Zeiten, in denen Gott die Menschen so
liebt, daß er ihnen sein Wort sendet, um sie zu erlösen. Jetzt spricht das
Wort, und die Gnade strömt schon aus. Dann wird das Wort das Opfer des
Friedens und der Erlösung vollbringen und die Gnade wird nicht nur ausströmen,
sondern sie wird jeder Seele, die an Christus glaubt, geschenkt werden. Daher
muß die Nächstenliebe zu der Vollkommenheit erhoben werden, die den Freund mit
dem Feind vereinigt.
Werdet ihr verleumdet? Liebt und
verzeiht! Werdet ihr geschlagen? Liebt und reicht dem, der euch schlägt, auch
die andere Wange; denkt, daß es besser ist, daß der Zorn sich über euch
ergieße, die ihr versteht, ihn zu ertragen, als über einen anderen, der sich
für die Beleidigung sofort rächen würde. Hat man euch beraubt? Denkt nicht:
"Dieser mein Nächster ist habgierig", seid barmherzig und denkt: "Dieser mein
armer Bruder ist bedürftig ", und gebt ihm auch den Rock, wenn er euch den
Mantel genommen hat. So macht ihr es ihm unmöglich einen zweifachen Diebstahl
zu begehen, weil er es nicht mehr nötig hat, einem anderen den Rock zu
stehlen. Ihr sagt: "Es könnte aber auch Laster und nicht Bedürftigkeit sein."
Nun, gebt gleichwohl, Gott wird es euch vergelten und der Missetäter wird es
büßen. Doch sehr oft – und ich erinnere euch an das, was ich gestern über die
Sanftmut gesagt habe – fällt das Laster vom Herzen des Sünders, wenn er sich
so behandelt sieht, und er befreit sich davon, macht den Diebstahl wieder gut
und erstattet das Gestohlene zurück.
Seid großzügig mit jenen, die
rechtschaffener sind und euch um das bitten, was sie nötig haben, anstatt euch
zu berauben. Wenn die Reichen wirklich arm im Geiste wären, wie ich es gestern
gelehrt habe, dann gäbe es keine leidigen gesellschaftlichen Unterschiede, die
Ursache so viel menschlichen und übermenschlichen Unglücks. Denkt immer: "Wenn
ich in Not wäre, wie würde ich die Verweigerung einer Hilfe empfinden?"
292
und handelt dann im Einklang mit
der Antwort eures Ich. Tut den anderen, was ihr wünscht, daß man auch euch
tue, und fügt ihnen nicht zu, was ihr nicht möchtet, daß euch zugefügt werde.
Der alte Spruch: "Auge um Auge,
Zahn um Zahn", der nicht in den zehn Geboten steht, aber gesagt wurde, weil
der Mensch ohne Gnade ein für nichts anderes als für die Rache zugänglicher
Unmensch ist, wird nun ungültig und entkräftet durch das neue Wort: "Liebe
den, der dich haßt; bete für den, der dich verfolgt; sei nachsichtig mit dem,
der dich verleumdet; segne den, der dich verflucht; tue Gutes dem, der dir
Schaden zufügt; sei friedfertig mit dem Streitsüchtigen, nachgiebig mit dem
Lästigen; hilf gerne dem, der dich um Hilfe bittet, und treibe keinen Wucher;
kritisiere und richte nicht." Ihr könnt die äußerste Not, die einen Menschen
zu gewissen Handlungen treibt, nicht ermessen. In allen Hilfeleistungen seid
großzügig, seid barmherzig. Je mehr ihr gebt, um so mehr wird euch gegeben
werden. Ein volles Maß wird Gott in den Schoß dessen ausschütten, der
großherzig gewesen ist. Gott wird euch nicht nur in dem Maße geben, in dem ihr
gegeben habt, sondern viel mehr. Bemüht euch, zu lieben, um selbst liebenswert
zu sein. Streitigkeiten kommen teurer zu stehen als freundschaftliche
Übereinkunft, und die Liebenswürdigkeit ist wie Honig, dessen Süße lange auf
der Zunge bleibt.
Liebt, liebt! Liebt die Freunde
und die Feinde, um euerem Vater ähnlich zu sein, der über Gute und Böse regnen
und die Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen läßt, der es sich aber
vorbehält, mit ewiger Sonne und ewigem Tau, mit höllischem Feuer und
höllischem Hagel zu vergelten, wenn die Guten wie erlesene Ähren unter den
Erntegarben ausgewählt werden. Es genügt nicht, jene zu lieben, die euch
lieben und von denen ihr euch eine Gegenleistung erhofft. Das ist kein
Verdienst. Es ist vielmehr eine Freude, und auch die von Natur aus ehrbaren
Menschen können es tun. Auch die Zöllner und die Heiden handeln so. Aber ihr
sollt wie Gott und aus Ehrfurcht vor Gott lieben, denn er ist auch der
Schöpfer jener, die sich euch gegenüber feindselig oder nicht gerade
liebenswürdig benehmen. Ich verlange von euch die vollkommene Liebe und sage
deshalb: "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist."
So groß ist das Gebot der
Nächstenliebe, die Vervollkommnung des Gebotes der Nächstenliebe, daß ich
nicht mehr sage, wie euch geboten wurde: "Ihr sollt nicht töten" denn wer
tötet, wird durch die Menschen verurteilt werden. Ich sage euch vielmehr:
"Laßt keinen Zorn in euch aufkommen", denn ein weit höheres Gericht steht über
euch und erwägt auch die verborgenen Taten. Wer den Bruder beleidigt, wird vom
Hohen Rat verurteilt. Wer ihn aber einen Narren nennt und dadurch schädigt,
wird von Gott verurteilt. Vergebens ist es, am Altar zu opfern, wenn man nicht
vorher im Inneren seines Herzens aus Liebe zu Gott seinen Groll zum Opfer
gebracht und den heiligsten Akt des Verzeihens vollzogen hat. Wenn
293
du also Gott ein Opfer darbringen
willst und dich erinnerst, daß du gegen deinen Bruder gefehlt hast oder daß du
ihm wegen einer Schuld seinerseits grollst, dann lasse deine Gabe vor dem
Altar, opfere zuerst deine Eigenliebe und versöhne dich mit deinem Bruder.
Dann komm zum Altar, und dann, erst dann, wird dein Opfer heilig sein. Ein
gutes Einvernehmen ist immer die beste Lösung. Fragwürdig ist das Urteil des
Menschen und wer hartnäckig einen Rechtsstreit herausfordert, könnte den
Prozeß verlieren und dem Gegner alles bis zum letzten Heller bezahlen oder im
Gefängnis schmachten müssen.
Erhebt in allen Dingen den Blick
zum Himmel. Fragt euch: "Habe ich das Recht zu tun, was Gott nicht mit mir
tut?" Denn Gott ist nicht so unerbittlich und unnachgiebig, wie ihr es seid.
Wehe euch, wenn er es wäre! Kein einziger würde gerettet werden. Diese
Überlegung führe euch zu sanftmütigen, demütigen, barmherzigen Gefühlen. So
wird die Vergeltung Gottes hier auf Erden und im Himmel nicht ausbleiben.
Hier vor mir steht ein Mann, der
mich haßt und es nicht wagt, zu sagen: "Heile mich"; denn er weiß, daß ich
seine Gedanken kenne. Doch ich sage: "Es geschehe dir nach deinem Wunsche. Und
wie dir die Schuppen von den Augen fallen, so mögen auch Rachsucht und
Finsternis aus deinem Herzen weichen."
Geht alle mit meinem Frieden!
Morgen werde ich wieder zu euch sprechen.»
Die Menschenmenge zerstreut sich
langsam, vielleicht in Erwartung eines Freudenschreis über ein Wunder, der
aber ausbleibt.
Auch die Apostel und die älteren
Jünger, die auf dem Berge bleiben, fragen: «Wen hast du gemeint? Ist er
vielleicht nicht geheilt worden?»Sie bedrängen den Meister, der mit
verschränkten Armen stehengeblieben ist und den Leuten nachsieht, die
hinuntersteigen.
Jesus antwortet zuerst nicht.
Dann sagt er: «Die Augen sind geheilt, die Seele nicht, es ist nicht möglich,
weil sie voller Haß ist.»
«Aber um wen handelt es sich?
Vielleicht um den Römer?»
«Nein, um einen Unglücklichen.»
«Aber warum hast du ihn denn
geheilt?» fragt Petrus.
«Sollte ich alle seinesgleichen
vom Blitz treffen lassen?»
«Herr, ich weiß, daß du nicht
willst, daß ich "Ja" sage, und darum sage ich es nicht, aber... ich denke
es... und das ist dasselbe.»
«Es ist dasselbe, Simon des
Jonas, aber wisse, daß dann... Oh, wie viele Herzen, mit Schuppen des Hasses
bedeckt, umgeben mich!
Komm, laß uns auf den Gipfel
steigen, um aus der Höhe unser schönes galiläisches Meer zu bewundern. Ich und
du allein...»
294
211. DIE BERGPREDIGT DIE
SELIGPREISUNGEN (Dritter Teil)
Derselbe Platz, dieselbe Stunde.
Die Menschenmenge ist dieselbe und vielleicht noch größer, denn viele stehen
bis zu den Wegen, die ins kleine Tal führen. Nur der Römer fehlt.
Jesus spricht:
«Einer der Fehler, denen der
Mensch leicht verfällt, ist der Mangel an Ehrlichkeit, auch sich selbst
gegenüber. Da der Mensch schwerlich aufrichtig und ehrlich ist, hat er sich
selbst einen Zügel angelegt, der ihn zwingt, den vorgeschriebenen Weg zu
gehen. Einen Zügel, den er allerdings wie ein unbändiges Pferd rasch lockert,
um seine Gangart zu ändern, oder dessen er sich ganz entledigt, um ohne
weitere Überlegung alles tun zu können, was ihm eine solche Handlungsweise an
Vorwürfen von seiten Gottes, der Menschen und seines eigenen Gewissens
einbringen könnte.
Dieser Zügel ist der Schwur. Doch
ein Eid ist unter Ehrlichen nicht nötig, und es ist nicht Gott, der ihn euch
gelehrt hat. Im Gegenteil, er hat euch geboten: "Du sollst kein falsches
Zeugnis ablegen." Diesem Gebot hat er nichts hinzugefügt! Denn der Mensch soll
aufrichtig sein, und die Treue zu seinem Wort sollte genügen. Wenn im
Deuteronomium von Schwüren und auch von Gelübden die Rede ist als von etwas,
das aus einem Herzen kommt, das sich mit Gott vereinigt glaubt, oder aus einem
Bedürfnis oder einem Dankbarkeitsgefühl entspringt, dann heißt es darin: "Das
Wort, das einmal über deine Lippen gekommen ist, mußt du halten und erfüllen,
so wie du es deinem Herrn und Gott freiwillig gelobt hast!" Es wird immer vom
gegebenen Wort gesprochen, von nichts anderem als dem Wort. Wer es für nötig
hält zu schwören, tut es, weil er weder seiner selbst sicher ist noch der
Meinung, die sein Nächster von ihm hat. Wer aber einen anderen zu schwören
auffordert, beweist, daß er der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des Schwörenden
mißtraut.
Wie ihr seht, ist die Gewohnheit
des Schwörens eine Folge der moralischen Unehrlichkeit des Menschen und somit
eine Schande für ihn. Es ist eine doppelte Schande für ihn, weil er nicht
einmal dieser beschämenden Handlung, dem Schwur, treu ist. Mit derselben
Unbesonnenheit, mit der er seinen Nächsten verspottet, verspottet er auch
Gott, da er sich nicht scheut, mit größter Ruhe und Leichtfertigkeit falsch zu
schwören. Gibt es ein schändlicheres Geschöpf als den Meineidigen? Wie oft
verwendet man beim Schwören eine heilige Formel und ruft dabei Gott als Zeugen
und Bürgen an; oder man beruft sich auf sein Liebstes, auf Vater, Mutter,
Kinder, Ehefrau, verstorbene Angehörige, das eigene Leben und die kostbarsten
Organe; und diese müssen Gewähr für eine falsche Aussage bieten, um den
Mitmenschen zu überzeugen, obwohl er doch betrogen wird.
295
Ein solcher Mensch ist ein
Gotteslästerer, ein Dieb, ein Verräter, ein Mörder. Wessen? Natürlich Gottes,
weil er die Wahrheit mit der Gemeinheit seiner Lüge vermischt und ihn durch
seine Herausforderung verhöhnt: "Bestrafe mich, überführe mich meiner Lüge,
wenn du kannst; du bist dort, und ich bin hier, und ich spotte deiner." Ja,
lacht nur, lacht nur, ihr Lügner und Spötter, doch die Stunde wird kommen, da
ihr nicht mehr lacht; sie wird kommen, wenn der, dem alle Macht gegeben ist,
euch in seiner schrecklichen Majestät erscheinen wird. Allein sein Anblick
wird euch erzittern lassen und seine Blicke werden euch niederschmettern, noch
ehe seine Stimme euch in euer ewiges Schicksal stürzt und euch mit seinem
Fluch zeichnet.
Er ist ein Dieb, da er sich eine
Achtung verschafft, die er nicht verdient. Der Nächste, von seinem Schwur
beeindruckt, bezeigt ihm diese Achtung, und die Schlange ziert sich damit und
täuscht vor, was sie nicht ist. Er ist ein Verräter, denn mit seinem Schwur
verspricht er, was er nicht halten will. Er ist ein Mörder, denn er zerstört
die Ehre seinesgleichen, der durch seinen falschen Eid die Achtung der anderen
verliert; und auch, weil er seine Seele tötet, denn der Meineidige ist ein
abscheulicher Sünder in den Augen des Herrn. Wenn auch kein anderer die
Wahrheit sieht, so entgeht sich doch Gott nicht, und er läßt sich weder durch
lügenhafte Worte noch durch heuchlerische Taten betrügen. Er sieht es, und er
verliert jeden einzelnen Menschen keinen Moment aus den Augen. Es gibt keine
noch so starke Festung und keinen noch so tiefen Keller, in die sein Blick
nicht eindringen könnte. Auch in euer Innerstes, in diese Festung eines jeden
Menschenherzens, schaut Gott, und er richtet euch nicht nach dem, was ihr
schwört, sondern nach dem, was ihr tut.
Das Gebot, das euch mit der
Einsetzung des Schwures gegeben wurde, um der Lüge und Leichtfertigkeit, mit
der man das gegebene Wort brach, Einhalt zu gebieten, ersetze ich nun durch
ein anderes Gebot. Ich sage nicht wie die Alten: "Schwört nicht falsch und
haltet, was ihr schwört" ' sondern ich sage euch: "Schwört nie!" Nicht beim
Himmel, dem Thron Gottes, nicht bei der Erde, dem Schemel seiner Füße, nicht
bei Jerusalem und seinem Tempel, der Stadt des großen Königs und dem Haus des
Herrn, unseres Gottes.
Schwört weder auf die Gräber der
Dahingeschiedenen, noch auf ihre Seelen. Die Gräber sind voll von Überresten
dessen, was minderwertig am Menschen ist und was er mit dem Tier gemeinsam
hat, und die Seelen sollt ihr lassen wo sie sind. Verursacht ihnen nicht Leid
und Abscheu, wenn es Seelen Gerechter sind, die schon eine Voraus-Erkenntnis
Gottes besitzen. Denn auch wenn es nur eine Vorkenntnis, also eine teilweise
Erkenntnis ist und sie Gott bis zum Augenblick der Erlösung nicht in der
ganzen Fülle seiner Herrlichkeit besitzen, so können sie euch doch nicht
sündigen sehen, ohne zu leiden. Wenn es aber nicht Seelen Gerechter sind,
vermehrt
296
nicht noch ihre Pein, indem ihr
sie durch eure Sünden an ihre eigenen Sünden erinnert. Laßt sie, laßt die
heiligen Verstorbenen in Frieden, die Nichtheiligen in ihren Qualen. Nehmt den
einen nicht ihre Ruhe, vermehrt nicht die Pein der anderen. Warum sich auf die
Toten berufen? Sie können nicht reden. Die Heiligen nicht, weil die
Barmherzigkeit es ihnen verbietet; sie müßten zu oft widersprechen. Die
Verdammten nicht, weil die Hölle ihre Pforten nicht öffnet, weil sie den Mund
nur zum Fluchen aufmachen, und weil jede Stimme durch den Haß Satans und der
Teufel erstickt wird; denn die Verdammten sind Teufel.
Schwört weder auf das Haupt des
Vaters, noch auf das der Mutter, noch auf das der Gattin oder der unschuldigen
Kinder. Ihr habt kein Recht dazu. Sind sie vielleicht eine Münze oder eine
Ware? Sind sie eine Unterschrift auf einem Dokument? Sie sind mehr und weniger
als das. Sie sind Fleisch und Blut von deinem Blute, o Mensch, aber sie sind
auch freie Geschöpfe, und du kannst sie nicht wie Sklaven als Bürgen für
deinen falschen Schwur gebrauchen. Sie sind weniger als deine eigene
Unterschrift, denn du bist intelligent, frei und erwachsen und weder unmündig
noch ein Kind, das nicht weiß, was es zu tun hat und daher durch seine Eltern
vertreten werden muß. Du bist du selbst, ein mit Vernunft begabter Mensch, und
deshalb verantwortlich für dein Tun und deine Worte. Für dich allein mußt du
handeln, und deine eigene Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit und die Achtung
deiner Mitmenschen sollen für deine Worte und Werke bürgen, nicht die
Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit deiner Angehörigen und die Achtung, die sie
sich zu erwerben wußten. Sind die Väter für ihre Söhne verantwortlich? Gewiß,
für die minderjährigen. Danach ist jeder für sich selbst verantwortlich. Nicht
immer haben gerechte Eltern auch gerechte Kinder, und eine gottesfürchtige
Frau ist nicht immer mit einem gottesfürchtigen Mann verheiratet. Warum also
die Gerechtigkeit eines Verwandten als Bürgschaft benutzen? Gleicherweise
können einem Sünder heilige Kinder geboren werden, und solange sie unschuldig
sind, sind sie alle heilig. Warum sich also mit einer unlauteren Handlung, wie
ein Schwur, den man nicht halten will, auf einen Unschuldigen berufen?
Schwört auch nicht auf euer
Haupt, eure Augen, Zunge und Hände. Ihr habt kein Recht dazu. Alles, was ihr
habt, stammt von Gott. Ihr seid nur die zeitlichen Hüter, die Verwalter der
geistigen oder materiellen Güter, die euch Gott gewährt hat. Warum also
gebrauchen, was euch nicht gehört? Könnt ihr eurem Haupte auch nur ein Haar
hinzufügen oder seine Farbe verändern? Wenn ihr das nicht könnt, warum benützt
ihr dann das Sehen, das Sprechen, die Freiheit eurer Glieder, um euren Eid zu
bekräftigen? Fordert Gott nicht heraus! Er könnte euch beim Wort nehmen und
eure Augen austrocknen lassen, wie er eure Obstgärten verdorren lassen, euch
eure Kinder entreißen und eure Häuser in Schutt verwandeln kann,
297
um euch daran zu erinnern, daß er
der Herr ist und ihr die Untertanen seid, und daß verflucht ist, wer sich
selbst zum Gott macht, wer sich über Gott stellt und ihn mit seiner Lüge
herausfordert.
Eure Rede sei: "Ja, ja" und
"nein, nein" «Nicht mehr. Was darüber ist, flüstert euch der Böse ein, um dann
über euch zu lachen, wenn ihr, da ihr euch nicht an alles erinnern könnt, zur
Lüge gezwungen seid und als Lügner entlarvt und verspottet werdet.
Aufrichtigkeit, Kinder, im Reden und im Beten!
Macht es nicht wie die Heuchler,
die sich beim Beten in den Synagogen oder an den Ecken der Plätze den Menschen
zur Schau stellen, um als fromme und gerechte Menschen gepriesen zu werden,
während sie sich an ihrer Familie, an Gott und am Nächsten versündigen.
Versteht ihr nicht, daß dies einem Meineid gleichkommt? Warum wollt ihr auf
einer Unwahrheit bestehen wenn nicht um euch eine Achtung zu verschaffen, die
ihr nicht verdient ? Das heuchlerische Gebet soll sagen: "Wahrlich, ich bin
ein Gerechter. Ich schwöre es vor den Augen aller, die mich sehen und nicht
leugnen können, daß sie mich beten sehen." Mit dem Schleier, den ihr über eure
Bosheit breitet, wird ein in solcher Absicht verrichtetes Gebet zur
Gotteslästerung.
Überlaßt es Gott, euch für
gerecht zu erklären, und handelt so, daß euer ganzes Leben für euch zeuge:
"Seht, da ist ein Diener des Herrn." Doch ihr selbst, ihr sollt schweigen, zu
eurem eigenen Nutzen. Macht eure Zunge, die vom Hochmut bewegt wird, nicht zum
Gegenstand des Ärgernisses in den Augen der Engel. Besser wäre es, ihr würdet
augenblicklich stumm, wenn ihr nicht die Kraft besitzt, dem Hochmut und der
Zunge zu gebieten, die euch als gerecht und Gott wohlgefällig verkünden.
Überlaßt den Hoffärtigen und den Heuchlern diese armselige Ehre! Laßt den
Stolzen und den Falschen diese hinfällige Belohnung! Armselige Vergeltung!
Doch diese wollen sie, und eine andere werden sie nicht erhalten; denn mehr
als eine steht niemand zu. Entweder die wahre, gerechte und ewige des Himmels,
oder die unechte dieser Welt, die nur so lange währt wie ein Menschenleben,
vielleicht auch kürzer, und die dann im anderen Leben, weil sie ungerecht war,
mit einer beschämenden Strafe gebüßt werden muß.
Hört, wie ihr beten sollt: sowohl
mit der Zunge als auch mit der Arbeit und mit euerem ganzen Sein, aus Antrieb
des Herzens, das Gott liebt und in ihm den Vater erkennt und das euch stets
bedenken läßt, wer der Schöpfer und was das Geschöpf ist. Dann steht der
Mensch stets in ehrfurchtsvoller Liebe vor dem Angesicht Gottes, ob er nun
betet oder arbeitet oder unterwegs ist, ob er sich ausruht, seinen
Lebensunterhalt verdient oder Wohltaten spendet. Aus einem inneren Antrieb des
Herzens, habe ich gesagt. Dies ist die erste und wesentliche Eigenschaft, denn
alles kommt aus dem Herzen und wie das Herz ist, so ist der Geist, das Wort,
der Blick und das Handeln eines Menschen.
298
Der Gerechte schöpft aus seinem
gerechten Herzen das Gute, und je mehr er daraus schöpft, desto mehr findet
er; denn was er Gutes getan hat, erzeugt aufs neue Gutes, so wie das Blut, das
sich im Kreislauf durch die Adern erneuert und, angereichert mit neuen Stoffen
aus Luft und Nahrung, zum Herzen zurückkehrt. Der entartete Mensch hingegen
kann aus seinem finstersten Herzen voller Trug und Gift nur Trug und Gift
schöpfen, und wie sich bei ihm Trug und Gift durch die zunehmenden Sünden
mehren, so vermehrt sich beim guten Menschen die Gnade Gottes. Glaubt nur,
wovon das Herz des Menschen voll ist, davon fließt der Mund über, und in
seinen Werken findet es seinen Ausdruck.
Schafft euch ein demütiges und
reines Herz, voll Liebe, Vertrauen und Aufrichtigkeit. Liebt Gott mit der
scheuen Liebe, die eine Jungfrau für ihren Bräutigam empfindet. Wahrlich, ich
sage euch, jede Seele ist eine Jungfrau, vermählt mit dem ewig Liebenden,
unserem Herrn und Gott. Dieses irdische Leben ist die Zeit der Verlobung und
der Engel, der jedem Menschen als Beschützer gegeben wurde, der geistige
Brautführer. Alle Stunden des Lebens und jede Begebenheit sind ebenso viele
Mägde, die die hochzeitliche Ausstattung vorbereiten. Die Stunde des Todes ist
die Stunde der mit Gott vollzogenen Vermählung, danach kommt die Erkenntnis,
die Umarmung und die Vereinigung. Angetan mit dem Hochzeitsgewand, kann
nunmehr die mit Gott vermählte Seele ihren Schleier abnehmen und sich in die
Arme Gottes werfen, und niemand kann an dieser Liebe zum Bräutigam Anstoß
nehmen.
Doch zur Stunde, ihr Seelen, da
sich eure Hingabe an Gott noch im Opfer der Verlobungsbande vollzieht, begeht
euch, um mit Gott, dem Bräutigam zu sprechen, in die friedliche Stille eurer
Wohnung, besonders aber in die friedliche Wohnung des Herzens und sprecht als
Engel im Fleisch, die ihr stets euren Schutzengel zur Seite habt, zum König
der Engel. Sprecht zu eurem Vater in der Verborgenheit eures Herzens und eurer
inneren Kammer und laßt alles weltliche draußen, sowohl den Drang, bemerkt zu
werden und erbaulich zu wirken, als auch die Bedenken, ob lange wortreiche
Gebete mit vielen lauen und schalen Worten der Liebe. O nein, nichts von
alledem! Befreit euch davon, im Gebet Maßstäbe anzusetzen. Tatsächlich gibt es
Menschen, die Stunde um Stunde in einem sich wiederholenden Monolog, einem
bloßen Lippen- und Selbstgespräch verschwenden, denn nicht einmal der
Schutzengel hört zu. Er versucht, das leere Geplapper wieder gutzumachen,
indem er sich selbst, anstelle seines törichten Schützlings, in ein glühendes
Gebet versenkt.
Es gibt wahrlich solche, die
diese Stunden nicht anders verbringen würden, auch wenn ihnen Gott persönlich
erschiene und sagte: "Das Heil der Welt hängt davon ab, daß du diese
seelenlose Art zu beten aufgibst, um vielleicht einfach an einem Brunnen
Wasser zu schöpfen und damit aus Liebe zu mir und deinem Mitmenschen die Erde
zu begießen." In
299
Wahrheit, es gibt Leute, die ihr
Selbstgespräch höher einschätzen als die Höflichkeitspflicht, einen Besucher
zu empfangen oder in Nächstenliebe einem Notleidenden zu helfen. Es sind
Seelen, die dem Götzendienst des Gebets verfallen sind.
Das Gebet ist ein Akt der Liebe.
Und lieben kann man, wenn man betet und wenn man Brot bäckt, wenn man
betrachtet, wenn man einem Gebrechlichen beisteht, wenn man zum Tempel
pilgert, wenn man sich der Familie widmet, wenn man ein Lämmlein darbringt,
oder wenn man, um sich im Herrn zu sammeln, die eigenen selbstgerechten
Wünsche opfert. Es genügt, daß man sein ganzes Sein und alles, was man tut, in
Liebe kleidet. Habt keine Angst! Der Vater sieht euch. Der Vater versteht
euch. Der Vater hört euch an. Der Vater gibt euch. Wieviel Gnaden werden schon
für einen einzigen, wahrhaftigen, vollkommenen Liebesseufzer gewährt! Welche
Fülle für ein geheimes, mit Liebe dargebrachtes Opfer! Seid nicht wie die
Heiden. Gott hat es nicht nötig, daß ihr ihm sagt, was er tun und geben soll,
um euch zu helfen. Das können die Heiden ihren Götzen sagen, die nichts
verstehen, nicht aber ihr eurem Gott, dem wahren, geistigen Gott, der nicht
nur Gott und König, sondern auch euer Vater ist und weiß, was ihr braucht,
noch bevor ihr ihn darum bittet.
Bittet, und ihr werdet empfangen,
sucht, und ihr werdet finden, klopft an, und es wird euch aufgetan. Denn wer
bittet, empfängt, wer sucht, der findet und wer anklopft, dem wird aufgetan.
Wenn eines eurer Kinder das Händchen hinhält und sagt: "Vater, ich habe
Hunger", gebt ihr ihm dann vielleicht einen Stein? Gebt ihr ihm eine Schlange,
wenn es euch um einen Fisch bittet? Nein, im Gegenteil, ihr gebt ihm Brot,
Fisch und noch mehr: Liebkosung und Segen; denn für einen Vater ist es
wunderbar, sein Geschöpf zu ernähren und sein glückliches Lächeln sehen zu
können. Wenn ihr also trotz eures unvollkommenen Herzens euren Kindern aus
natürlicher Liebe heraus gute Gaben zu geben wißt, wie auch das Tier mit
seiner Brut es tut, wieviel mehr wird euer Vater, der im Himmel ist, denen
geben, die ihn um gute und ihrem Wohl zuträgliche Dinge bitten. Habt keine
Angst zu bitten, und fürchtet nicht, das Erbetene nicht zu erhalten.
Jedoch – hier muß ich euch vor
einem Irrtum warnen, dem man leicht verfallen kann – macht es nicht wie die
Schwachen im Glauben und in der Liebe, die Heiden der wahren Religion – denn
auch unter den Gläubigen gibt es Heiden, deren armseliger Glaube ein Gewirr
von Aberglauben und wahrem Glauben, ein heruntergekommenes Gebäude ist, in
dessen Mauerrissen sich Unkraut und Schmarotzerpflanzen jeglicher Art
eingenistet haben, so daß die Mauer abzubröckeln beginnt und später in Verfall
gerät – deren Glauben zu schwinden beginnt, wenn sie sehen, daß sie nicht
erhört werden.
Ihr bittet, und ihr findet es
richtig zu bitten. In diesem Augenblick wäre es in der Tat nicht ungerecht,
euch die erbetene Gnade zu gewähren. Doch
300
das Leben ist in diesem
Augenblick noch nicht zu Ende, und was heute gut sein mag, kann morgen
schlecht sein. Ihr könnt dies nicht wissen, denn ihr kennt nur die Gegenwart,
und das ist schon eine Gnade Gottes. Doch Gott kennt auch die Zukunft, und um
euch ein noch größeres Leid zu ersparen, läßt er oft ein Gebet unerhört. In
diesem Jahre meines öffentlichen Lebens habe ich mehr als einmal in den Herzen
ein Seufzen vernommen: "Wie sehr habe ich damals gelitten, als Gott mich nicht
erhört hat." Doch nun sage ich: "Es war gut so, denn jene Gnade hätte mich
daran gehindert, jetzt zu Gott zu kommen." Andere habe ich sagen und mir sagen
gehört: "Warum, Herr, erhörst du mich nicht? Alle erhörst du, nur mich nicht",
und obwohl es mich schmerzte, sie leiden zu sehen, mußte ich antworten: "Ich
kann nicht", denn die Erhörung wäre ein Hindernis für ihren Höhenflug zur
Vollkommenheit gewesen.
Auch der Vater sagt manchmal:
"Ich kann nicht." Nicht, weil er nicht augenblicklich eingreifen könnte,
sondern er will die Bitte nicht erfüllen, weil er die sich daraus ergebenden
Folgen für die Zukunft kennt. Hört: Ein Kind hat kranke Eingeweide. Die Mutter
ruft den Arzt, und dieser sagt: "Um es zu heilen ist absolutes Fasten nötig."
Das Kind weint, schreit, bettelt und scheint vor Hunger zu sterben. Die wie
immer mitleidsvolle Mutter vereinigt ihre Klagen mit denen des Kindes. Das
totale Verbot des Arztes scheint ihr zu hart zu sein. Sie meint, dem Kind
könnte das Fasten und das Weinen schaden. Doch der Arzt bleibt unerbittlich
und sagt schließlich: "Frau, ich weiß, um was es geht, du weißt es nicht.
Willst du dein Kind verlieren oder willst du, daß ich es dir rette?" Die
Mutter schreit: "Ich will, daß es lebt." "Dann", sagt der Arzt, "kann ich
keine Nahrung erlauben. Es wäre sein Tod." Auch der Vater spricht manchmal so.
Ihr Mütter, die ihr euer Ich bemitleidet, wollt nicht hören, daß es einer
verweigerten Gunst wegen weint. Doch Gott sagt: "Ich kann nicht. Es wäre zu
deinem Übel." So kommt der Tag oder die Ewigkeit, wo man sich schließlich
sagen muß: "Danke, mein Gott, daß du meine törichte Bitte nicht erhört hast."
Was ich euch über das Gebet
gesagt habe, gilt auch für das Fasten. Wenn ihr fastet, dann setzt keine
trübsinnige Miene auf, wie es die Heuchler tun, die kunstvoll das Gesicht
verziehen, damit die Leute wissen und glauben, daß sie fasten, auch wenn es
nicht wahr ist. Auch sie haben mit dem Lob der Welt ihren Lohn schon empfangen
und einen anderen werden sie nicht erhalten. Ihr aber, wenn ihr fastet, nehmt
eine heitere Miene an, wascht euch öfters das Gesicht, damit es sauber und
frisch erscheint, salbt euch den Bart, parfümiert euer Haar und lächelt mit
der Zufriedenheit des Wohlgenährten. Oh, wahrlich, es gibt keine Speise, die
so sehr erquickt wie die Liebe. Wer im Geist der Liebe fastet, der nährt sich
mit Liebe. Wahrlich, ich sage euch, wenn die Welt euch auch "eitel" und
"Zöllner" nennt: euer Vater kennt euer heldenmütiges Geheimnis und wird es
301
euch doppelt vergelten. Er wird
euch belohnen für das Fasten, und auch dafür, daß ihr deshalb nicht gerühmt
worden seid.
Nun gehet hin und gebt dem Körper
Nahrung, nachdem die Seele gespeist worden ist. Diese beiden armen Leute
sollen bei uns bleiben. Sie werden unsere gesegneten Gäste sein, die unserem
Brot den Wohlgeschmack verleihen. Der Friede sei mit euch.»
Die beiden armen Leute bleiben.
Es handelt sich um eine hagere Frau und einen sehr alten Mann. Doch sie
gehören nicht zusammen. Der Zufall hat sie zusammengeführt. Sie waren beschämt
in einer Ecke zurückgeblieben und hatten allen vergeblich die Hand
entgegengestreckt, die an ihnen vorübergingen.
Jesus schreitet direkt auf sie
zu, da sie nicht wagen, ihm entgegenzugehen, nimmt sie bei der Hand und führt
sie mitten in die Schar der Jünger unter eine Art Zelt, das Petrus etwas
abseits errichtet hat. Dort nächtigen die Jünger anscheinend und halten sich
in den wärmsten Stunden des Tages auf. Das Dach besteht nur aus Reisern und...
Mänteln. Doch die Behausung dient ihrem Zweck, auch wenn sie so niedrig ist,
daß Jesus und Judas Iskariot, als die größten, sich bücken müssen um
einzutreten.
«Hier ist ein Vater und hier ist
eine Schwester. Bringt herbei, was wir haben. Während wir die Mahlzeit
einnehmen, wollen wir uns ihre Geschichte anhören.» Jesus bedient die beiden
Beschämten persönlich und hört sich ihren jammervollen Bericht an. Der alte
Mann ist allein geblieben, als seine Tochter mit ihrem Manne weit fortgezogen
ist und den Vater zurückgelassen und vergessen hat. Auch die Frau ist allein,
seitdem das Fieber ihren Mann hinweggerafft hat, und sie ist außerdem noch
krank.
«Die Leute verachten uns, weil
wir arm sind», sagt der alte Mann. «Ich gehe betteln, um etwas beiseite zu
legen, damit ich das Paschafest halten kann. Ich bin achtzig Jahre alt, immer
habe ich das Pascha (jüdische Osterfest) gehalten und es könnte das letzte Mal
sein. Aber ich will ohne Gewissensbisse in Abrahams Schoß eingehen. So wie ich
meiner Tochter verzeihe, hoffe ich, Verzeihung zu erlangen, und ich will mein
Pascha halten.»
«Der Weg ist lang, Vater.»
«Noch länger ist der zum Himmel,
wenn man den Feierlichkeiten des Festes fernbleibt.»
«Gehst du allein? Wenn du dich
aber unterwegs übel fühlen solltest?»
«Der Engel Gottes wird mir meine
Lider schließen.»
Jesus streichelt das zitternde,
weiße Haupt und fragt dann die Frau: «Was machst du?»
«Ich bin auf der Suche nach
Arbeit. Wäre ich besser genährt, so würde ich vom Fieber genesen, und wäre ich
geheilt, könnte ich auch auf den Feldern arbeiten.»
«Glaubst du, daß allein die
Nahrung dich heilen würde?»
302
«Nein, auch du bist da... Doch
ich bin ein armes Ding, ein zu armes Ding, als daß ich um Barmherzigkeit
bitten dürfte!»
«Wenn ich dich heilen würde, was
wünschtest du dann?»
«Nichts mehr. Ich hätte dann
schon mehr, als ich zu hoffen wage.»
Jesus lächelt und reicht ihr ein
Stück Brot, das er zuvor in etwas Essigwasser getaucht hat, das als Getränk
dient. Die Frau ißt es ohne zu sprechen, und Jesus lächelt immer noch.
Die Mahlzeit ist rasch beendet,
sie war ja so karg. Die Apostel und die Jünger gehen zu den Abhängen auf die
Suche nach einem schattigen Platz zwischen den Büschen. Jesus bleibt im Zelt.
Der Greis hat sich an die
überwachsene Felswand gesetzt und ist erschöpft eingeschlafen.
Nach einer Weile kommt die Frau,
die sich ebenfalls auf der Suche nach Schatten und Ruhe entfernt hatte, zurück
und geht zaghaft auf Jesus zu. Jesus lächelt ihr zu, um sie zu ermutigen. Sie
kommt scheu, doch glücklich näher, fast bis zum Zelt. Dann ist die Freude
stärker als die Schüchternheit, und sie macht eilig die letzten Schritte und
fällt vor Jesus nieder mit dem gedämpften Rufe: «Du hast mich geheilt.
Gepriesen seist du! Es ist die Zeit meines starken Schüttelfrostes, und ich
habe ihn nicht mehr... Oh!» und sie küßt Jesus die Füße.
«Bist du sicher, geheilt zu sein?
Ich habe es dir nicht gesagt. Es könnte ein Zufall sein...»
«O nein! Nun habe ich dein
Lächeln verstanden, mit dem du mir das Brot gegeben hast. Deine Kraft ist mit
jedem Bissen in mich eingeströmt. Ich habe nichts, mit dem ich dir dies
vergelten könnte, außer meinem Herz. Befiehl deiner Dienerin, Herr, und sie
wird dir bis zum Tode gehorsam sein!»
«Ja. Siehst du den Greis dort? Er
ist allein, und er ist ein Gerechter. Du hattest einen Gatten, und der Tod hat
ihn dir genommen. Er hatte eine Tochter, und der Egoismus hat sie ihm
entrissen; das ist noch schlimmer, und doch schimpft er nicht. Aber es wäre
nicht recht, wenn er seine letzten Stunden allein verbringen müßte. Sei du ihm
Tochter!»
«Ja, mein Herr!»
«Aber bedenke, das heißt, für
zwei arbeiten zu müssen.»
«Ich bin jetzt stark und werde es
schaffen.»
«Geh also zu dem Gebüsch dort und
sag zu dem in Grau gekleideten ruhenden Mann, daß er zu mir kommen soll.»
Die Frau geht rasch zu der
bezeichneten Stelle und kehrt mit Simon dem Zeloten zurück.
«Komm her, Simon. Ich muß dich
etwas fragen. Warte, Frau.»
Jesus entfernt sich einige Meter.
«Glaubst du, daß es für Lazarus
schwierig wäre, eine Arbeiterin mehr in seinen Dienst zu nehmen?»
303
«Lazarus ? Ich glaube, er weiß
nicht einmal, wieviel Bedienstete er hat. Einer mehr oder weniger... Aber um
wen handelt es sich?»
«Um die Frau dort; ich habe sie
geheilt.»
«Das genügt, Meister. Wenn du sie
geheilt hast, beweist dies, daß du sie liebst, und was du liebst, ist Lazarus
heilig. Ich bürge für ihn.»
«Das stimmt. Was ich liebe, ist
Lazarus heilig. Das hast du gut gesagt. Deswegen wird Lazarus auch heilig
werden, denn da er liebt, was ich liebe, liebt er auch die Vollkommenheit. Ich
möchte jenen alten Mann dieser Frau anvertrauen, und so kann der alte
Patriarch sein letztes Osterfest in Freuden begehen. Ich liebe die alten
Gerechten sehr, und wenn ich ihnen einen heiteren Lebensabend bescheren kann,
dann bin ich glücklich.»
«Du liebst auch die Kinder ...»
«Ja, und die Kranken...»
«Und die Betrübten...»
«Und die Alleinstehenden ...»
«Oh, mein Meister! Aber bist du
dir nicht bewußt, daß du alle liebst, selbst deine Feinde?»
«Ich bin mir dessen nicht bewußt,
Simon. Lieben ist meine Natur. Jetzt erwacht der Patriarch. Laß uns zu ihm
gehen und ihm sagen, daß er Ostern mit einer Tochter an seiner Seite feiern
wird und keinen Mangel an Brot mehr leiden muß.»
Sie kehren zum Zelt zurück, wo
die Frau auf sie wartet, und gehen dann alle drei zum alten Mann, der sich
gesetzt hat und seine Sandalen wieder schnürt.
«Was machst du, Vater?»
«Ich will ins Tal hinuntergehen.
Ich hoffe, ein Obdach für die Nacht zu finden. Morgen werde ich auf der Straße
betteln, und dann, weiter, weiter, immer weiter und, vielleicht in einem
Monat, wenn ich nicht vorher sterbe, werde ich im Tempel sein.»
«Nein.»
«Soll ich es nicht tun? Warum?»
«Weil der liebe Gott es nicht
will. Du wirst nicht allein gehen. Diese Frau hier wird dich begleiten. Sie
wird dich an den Ort führen, den ich euch nennen werde, und wo man euch aus
Liebe zu mir aufnehmen wird. Du wirst deine Ostern feiern, aber ohne Mühsal.
Dein Kreuz hast du schon getragen, Vater. Lege es nun nieder und sammle dich
nur in der Danksagung an deinen gütigen Gott.»
«Aber warum... ich... ich
verdiene nicht so viel... Du ... eine Tochter... Mehr, als wenn du mir zwanzig
Jahre schenken würdest ... und wohin, wohin schickst du mich?» Der Greis weint
in seinen langen, struppigen Bart.
«Zu Lazarus des Theophilus. Ich
weiß nicht, ob du ihn kennst.»
«Oh, ich bin aus dem Grenzgebiet
von Syrien und erinnere mich an Theophilus. O gebenedeiter Sohn Gottes,
erlaube, daß ich dich segne!»
304
Jesus, der sich dem alten Mann
gegenüber im Gras niedergelassen hat, neigt sich wahrhaftig, um sich von ihm
in feierlicher Gebärde die Hand auflegen zu lassen. Laut ertönt die tiefe
Greisenstimme im alten Segensspruch: «Der Herr segne und behüte dich. Der Herr
lasse sein Antlitz leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr wende dir
sein Angesicht zu und gebe dir seinen Frieden.»
Jesus, Simon und die Frau
antworten miteinander: «Amen.»
212. DIE BERGPREDIGT DIE
SELIGPREISUNGEN (Vierter Teil)
Die Menschenmenge wächst von Tag
zu Tag an. Es sind Frauen, Männer, Alte, Kinder, Reiche und Arme darunter.
Auch das Paar Stephanus Hermas ist wieder anwesend, obgleich es noch nicht zur
Gruppe der alten Jünger gehört, die der Leitung Isaaks untersteht. Auch der
alte Mann und die Frau, die gestern durch Jesus zusammengefunden haben, sind
immer noch da. Sie stehen ganz vorne bei ihrem Tröster; ihre Gesichtszüge sind
gelöster als gestern. Der Alte hat seine runzlige Hand auf die Knie der Frau
gelegt, als wolle er sich für die vielen Monate und Jahre, in denen er von
seiner Tochter vernachlässigt wurde, entschädigen, und sie streichelt die alte
Hand mit dem moralisch gesunden, der Frau angeborenen Bedürfnis, mütterlich zu
sein.
Jesus geht an ihnen vorbei, um zu
seiner einfachen Kanzel zu gelangen, und im Vorübergehen legt er seine Hand
auf das Haupt des Greises, der ihn anschaut, als ob er Jesus bereits in der
Gestalt Gottes sehen würde. Petrus sagt etwas zu Jesus, und dieser gibt ihm
ein Zeichen, als wolle er sagen: «Das macht nichts.»
Doch ich habe nicht verstanden,
was der Apostel gesagt hat, der nun bei Jesus bleibt, zu dem sich noch Judas
Thaddäus und Matthäus gesellen. Die anderen verlieren sich in der Menge.
«Der Friede sei mit euch allen!
Gestern habe ich vom Gebet, vom
Schwören und vom Fasten gesprochen. Heute möchte ich euch über andere
Vollkommenheiten belehren. Auch sie sind Gebet, Vertrauen, Aufrichtigkeit,
Liebe und Glaube.
Die erste Vollkommenheit, von der
ich spreche, ist der richtige Gebrauch von Reichtümern, welche durch den guten
Willen des treuen Dieners in ebensoviele Schätze des Himmels umgewandelt
werden. Die Schätze der Erde sind vergänglich, die Schätze des Himmels aber
ewig. Hängt ihr an eurem Besitz? Bedauert ihr es, sterben zu müssen, weil ihr
euch dann nicht mehr um eure Güter kümmern könnt und sie zurücklassen müßt?
Dann versetzt sie doch in den Himmel! Ihr sagt: "In den
305
Himmel kann nichts eingehen, was
der Erde angehört, und du lehrst uns, daß das Geld die schmutzigste Sache
dieser Welt ist. Wie können wir es also in den Himmel versetzen?" Nein, ihr
könnt die Münzen, die Materie, nicht in das himmlische, rein geistige Reich
mitnehmen. Aber ihr könnt den Nutzen mitnehmen, den ihr aus ihnen zu ziehen
vermögt. Wenn ihr euer Geld einer Bank übergebt, warum tut ihr das? Damit es
euch Gewinn einbringt. Ihr gebt es also nicht, oder nur zeitweilig, damit euch
nachher dieselbe Summe zurückerstattet wird, sondern ihr verlangt, daß euch
für zehn Talente elf und mehr zurückgezahlt werden. Dann freut ihr euch und
lobt den Bankier. Anderenfalls sagt ihr: "Er ist zwar ehrlich, aber er ist ein
Dummkopf." Gibt er euch statt elf Talenten nur neun und entschuldigt sich:
"Ich habe den Rest verloren", dann klagt ihr ihn an und laßt ihn ins Gefängnis
werfen.
Was ist der Zins eures Geldes?
Sät der Bankier vielleicht euer Geld und begießt es, um es zu mehren? Nein.
Der Zins ergibt sich aus einer klugen Geschäftsführung, so daß sich durch die
Gewährung von Hypotheken und Darlehen und die dafür zu recht geforderten
Zinsen das Kapital vermehrt. Ist es nicht so? So hört also. Gott gibt euch die
irdischen Güter, dem einen viel, dem anderen kaum das Lebensnotwendigste. Er
sagt euch: "Nun ist es an dir. Ich habe sie dir gegeben. Benütze diese Mittel
zu einem Zweck, der den Wünschen meiner Liebe und deinem Wohle entspricht. Ich
vertraue sie dir an; jedoch nicht, damit du Böses damit tust. Zum Dank für das
in dich gesetzte Vertrauen und meine Gaben, nutze diese Güter und lege sie gut
an für die wahre Heimat, den Himmel.
Nun sage ich euch, was ihr zu tun
habt, um dieses Ziel zu erreichen. Häuft nicht Reichtümer auf dieser Erde an,
für die ihr allein lebt, die euch hartherzig gegen andere sein lassen und die
den Fluch des Nächsten und den Fluch Gottes auf euch herabrufen. Sie sind es
nicht wert. Sie sind hier auf Erden nie sicher. Diebe können euch jederzeit
berauben. Das Feuer kann eure Häuser zerstören. Krankheiten und Seuchen können
eure Obstgärten und Herden vernichten. Wie viele Gefahren bedrohen eure Güter,
ob sie nun fest stehen wie Häuser oder unwandelbar sind wie Gold; ob sie
verletzlich sind wie alles Lebende der Tier- oder Pflanzenwelt, oder ob sie
wie kostbare Stoffe ihren Wert verlieren können. Blitz, Feuer und Wasser
bedrohen die Häuser; Diebe, Rost, Dürre, Nagetiere und Insekten die Felder;
Tollwut, Verrenkungen und todbringende Seuchen die Tiere; Motten und Mäuse
bedrohen kostbare Stoffe und wertvolle Möbel; Abnützung und Korrosion,
Geschirr, Leuchter, kunstvolle Gittertore: alles ist dem Verderb ausgesetzt.
Wenn ihr aber aus all diesen
irdischen Gütern ein übernatürliches Gut macht, dann bleibt es vor den Schäden
der Zeit, der Menschen und der Unwetter bewahrt. Sammelt Schätze im Himmel,
dort, wo Diebe nicht eindringen können und wo es kein Unheil gibt. Arbeitet
mit barmherziger
306
Liebe gegen alles Elend der Erde.
Liebkost eure Münzen, küßt sie auch, wenn ihr wollt, freut euch über
vielversprechende Ernten, über Weinberge voller Trauben, über Ölbäume, die
sich unter der Last unzähliger Oliven beugen, über die trächtigen Schafe mit
prallen Eutern. Ihr könnt dies alles tun, aber nicht auf unfruchtbare, nicht
auf menschliche Weise. Tut es mit Liebe und Bewunderung, mit übernatürlicher
Freude und übernatürlichen Gedanken.
"Danke, mein Gott, für diese
Münze, dieses Korn, diese Bäume, diese Schafe und diese Geschäfte. Schafe,
Bäume, Wiesen, Geschäfte, habt Dank, daß ihr mir so gut dient. Seid gesegnet,
denn durch deine Güte, o Ewiger, und durch eure Güte, ihr Güter alle, kann ich
dem Hungrigen, dem Nackten, dem Obdachlosen, Kranken und Einsamen viel Gutes
tun... Im vergangenen Jahr habe ich für zehn gegeben. Dieses Jahr – obwohl ich
viel für gute Zwecke ausgegeben habe – habe ich noch mehr Geld, denn die
Ernten haben noch mehr Ertrag gebracht und meine Herden sind noch zahlreicher.
Deshalb werde ich zwei-, ja, dreimal soviel geben wie letztes Jahr, denn alle,
auch jene Unglücklichen, die nichts ihr eigen nennen, sollen an meiner Freude
teilhaben und dich, den Ewigen Herrn, mit mir preisen." Das ist das Gebet des
Gerechten, und verbunden mit der guten Tat versetzt es eure Schätze in den
Himmel. Sie bleiben euch dort nicht nur auf ewig erhalten, sondern ihr werdet
sie vermehrt um alle heiligen Früchte der Liebe vorfinden.
Euer Schatz sei im Himmel, damit
auch euer Herz dort sei, über dem Diesseits und außer Gefahr; denn nicht nur
Gold, Häuser, Felder und Herden kann das Unglück ereilen, sondern auch euer
Herz, dem der Geist der Welt nachstellt um es zu berauben, zu schwächen, zu
verwunden und sogar zu töten. Wenn ihr so handelt, werdet ihr euren Schatz in
eurem Herzen haben, denn ihr werdet Gott in euch haben bis zu dem seligen
Tage, an dem ihr in ihm seid.
Um jedoch das Verdienst der Liebe
nicht zu vermindern, sorgt dafür, daß ihr barmherzig im übernatürlichen Sinne
seid. Was ich vom Gebet und Fasten gesagt habe, das sage ich auch über die
Wohltätigkeit und über jede gute Tat, die ihr tun könnt.
Bewahrt das Gute, das ihr tut,
vor der Entheiligung durch den Geist der Welt, bewahrt es unversehrt von
menschlichem Lob. Entweiht nicht die duftende Rose, das wahre Weihrauchfaß das
die dem Herrn wohlgefälligen Düfte eurer Nächstenliebe und eurer guten Werke
verströmt. Der Hochmut, der Wunsch, gesehen zu werden, wenn man etwas Gutes
tut, und das Streben nach Anerkennung entweihen das Gute. Dann wird die Rose
der Nächstenliebe durch schleimige Schnecken vom Geifer befriedigten Hochmuts
besudelt und angefressen, und ins Weihrauchfaß fallen Halme stinkenden Strohs,
auf dem sich der Hochmut wie ein wohlgenährtes Tier wälzt.
307
Oh, diese wohltätigen Handlungen,
die nur getan werden, damit man davon spricht! Besser wäre es, sie würden
unterbleiben. Wer keine Taten der Nächstenliebe vollbringt, sündigt durch
Hartherzigkeit! Wer das Gute tut, aber den gespendeten Betrag und den Namen
des Empfängers bekannt gibt und dafür Lob fordert, sündigt durch Hochmut, denn
er sagt damit: "Seht, was ich alles tue." Er fehlt gegen die Liebe, weil er
mit der Bekanntgabe seines Namens den Empfänger beschämt; er sündigt durch
geistige Habsucht, weil er menschliches Lob einheimsen will ... ... Stroh,
Stroh, nichts als Stroh! Handelt so, daß Gott euch mit seinen Engeln lobe.
Wenn ihr Almosen gebt, dann
posaunt es nicht vor euch her, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf
euch zu lenken und um geehrt zu werden wie die Heuchler, die den Beifall der
Menschen suchen und nur dort Almosen geben, wo sie von vielen gesehen werden.
Auch diese haben ihren Lohn schon empfangen und werden keinen anderen mehr von
Gott erhalten. Ihr sollt nicht in den gleichen Fehler und dieselbe
Überheblichkeit verfallen. Ihr sollt so Almosen geben, daß eure Rechte nicht
weiß, was die Linke tut; so verborgen und verschämt soll euer Almosengeben
sein. Und dann müßt ihr es vergessen. Verweilt nicht selbstgefällig bei eurem
vollbrachten Werk, und bläht euch nicht auf wie eine Kröte, die sich mit ihren
verschleierten Augen im Teich bewundert und sich, da sie die Bäume, die Wolken
und den stehenden Wagen am Ufer widergespiegelt sieht und sich selbst daneben
so klein vorkommt, bis zum Platzen mit Luft anfüllt. Eure Nächstenliebe ist
ein Nichts im Vergleich zur unendlichen Barmherzigkeit Gottes, und wenn ihr
ihm gleich sein wollt und eure winzig kleine Wohltätigkeit riesengroß und
bedeutend sehen möchtet, um es seiner unendlichen Barmherzigkeit nachzutun,
dann bläht ihr euch mit dem Wind des Stolzes auf und geht schließlich
zugrunde.
Vergeßt sie, eure guten Werke! Es
wird euch immer ein Licht, eine Stimme, eine Freude bleiben, die euch den Tag
erhellen und euch zufrieden und glücklich machen. Das Licht ist das Lächeln
Gottes, die Wonne der Seelenfrieden, der wiederum Gott ist, die Stimme die
Stimme Gottvaters, die euch sagt: "Danke." Er sieht das geheime Böse wie auch
das verborgene Gute und wird es euch vergelten. Ich...»
«Meister, du belügst dich
selbst!»
Die gehässige, unvermittelte
Beschimpfung kommt mitten aus der Menge. Alle wenden sich in die Richtung, aus
der die Stimme gekommen ist. Es entsteht Verwirrung. Petrus sagt: «Ich habe es
dir gesagt! Ach, wenn nur einer von denen da ist, dann geht nichts mehr gut!»
In der Menge werden Pfiffe und
Gemurmel gegen den Lästerer laut. Jesus allein bleibt ruhig. Er hat die Arme
über der Brust gekreuzt und steht in seinem dunkelblauen Gewande, die Sonne im
Antlitz, aufrecht auf seinem Felsblock.
308
Der Angreifer fährt ungeachtet
der Reaktion der Menge fort: «Du bist ein schlechter Lehrer, denn du lehrst,
was du selbst nicht tust und...»
«Schweig! Geh fort! Schäme dich!»
schreit die Menge und weiter: «Geh zu deinen Schriftgelehrten! Uns genügt der
Meister. Heuchler unter Heuchlern! Falsche Lehrer! Würger! ...» Sie würden so
weiter machen, doch die Stimme Jesu donnert: «Ruhe! Laßt ihn reden!» Die Leute
schreien nicht mehr: sie flüstern noch ihre Beschimpfungen unter wütenden
Blicken.
«Ja, du lehrst, was du selbst
nicht tust. Du sagst, man soll Almosen geben, ohne sich selbst zur Schau zu
stellen, und hast gestern in Anwesenheit des ganzen Volkes zu zwei Armen
gesagt: "Bleibt, ich werde euch zu essen geben."»
«Ich habe gesagt: "Die zwei Armen
sollen hier bleiben. Sie werden unsere gesegneten Gäste sein und unserem Brot
Wohlgeschmack verleihen", nichts weiter. Ich habe nicht angedeutet, daß ich
ihnen zu essen geben möchte. Wo ist der Arme, der nicht wenigstens ein Stück
Brot hätte? Meine Freude war es, ihnen eine wahre Freundschaft anzubieten.»
«Nun ja, du bist schlau und
verstehst es, das Lamm zu spielen...»
Der Greis steht auf, wendet sich
um, hebt seinen Stock und ruft: «Höllische Zunge, die du den Heiligen
beschuldigst! Glaubst du, alles zu wissen und wegen deiner Gelehrtheit
anklagen zu können? So, wie du Gott verkennst und den verkennst, den du
beschuldigst, so verkennst du auch seine Werke. Nur die Engel und mein
jubelndes Herz wissen es. Hört, Leute, hört alle und wißt, daß Jesus kein
Lügner und nicht hochmütig ist, wie dieser Auswurf des Tempels behauptet.
Er...»
«Schweig, Ismael! Schweige mir
zuliebe. Wenn ich dich glücklich gemacht habe, dann mache mich jetzt durch
dein Schweigen glücklich!»bittet ihn Jesus.
«Ich gehorche dir, heiliger Sohn.
Doch, laß mich nur dies sagen: Der Segen des alten getreuen Israeliten ist
über ihm, der mich göttlich beschenkt hat, und Gott hat Lobesworte in meinen
Mund gelegt, damit ich und Sara, meine neue Tochter, ihn preisen. Aber auf
deinem Haupte wird kein Segen sein. Ich verfluche dich nicht. Ich verunreinige
meinen Mund nicht mit einer Verwünschung, da ich im Begriff bin, zu Gott zu
sagen: Nimm mich auf! Ich habe nicht einmal jene verflucht, die mich
verleugnet hat, und habe schon die göttliche Belohnung erhalten. Doch wird es
einen geben, der für den unschuldig Angeklagten und Ismael, den Freund Gottes,
den der Herr mit Wohltaten beschenkt, eintreten wird.»
Ein Chor von Ausrufen beschließt
die Rede des alten Mannes, der sich nun wieder niedersetzt, während sich ein
anderer Mann, von Schmähungen gefolgt, davonmacht. Dann rufen die Leute Jesus
zu: «Sprich weiter, sprich weiter, heiliger Meister! Wir wollen nur dich
anhören, nicht diese verfluchten Raben, und du sollst uns anhören. Sie sind
nur eifersüchtig,
309
weil wir dich mehr lieben als
sie. Aber in dir ist Heiligkeit und in ihnen Bosheit. Sprich, sprich! Du
siehst, daß wir nach nichts anderem verlangen als nach deinem Wort. Unsere
Häuser? Unsere Geschäfte? Ein Nichts, wenn wir dir zuhören dürfen.»
«Ja, ich spreche. Doch ärgert
euch nicht. Betet für jene Unglücklichen. Verzeiht ihnen, wie auch ich
verzeihe. Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler verzeiht, dann wird euch auch
euer Vater im Himmel eure Sünden verzeihen. Wenn ihr aber Haß in euren Herzen
nährt und den Menschen nicht verzeiht, dann wird euch auch euer Vater eure
Fehler nicht verzeihen. Und alle haben Verzeihung nötig.
Ich sagte euch, daß Gott euch
belohnen wird, auch wenn ihr nicht um Lohn bittet für das Gute, das ihr getan
habt. Tut nicht Gutes, um dafür belohnt zu werden, um eine Garantie für morgen
zu haben. Tut das Gute nicht abwägend und zurückhaltend, indem ihr sagt:
"Werde ich dann für mich auch noch etwas haben? Wenn ich nichts mehr besitze,
wer wird mir dann helfen? Wird jemand da sein, der mir tut, was ich getan
habe? Wenn ich einmal nichts mehr geben kann, wird man mich dann immer noch
lieben?"
Schaut, ich habe einflußreiche
Freunde unter den Reichen und Freunde unter den Armen der Erde. Wahrlich, ich
sage euch, es sind nicht die mächtigen Freunde, die ich am meisten liebe. Ich
gehe zu ihnen nicht aus Eigenliebe und Eigennutz, sondern weil ich von ihnen
viel für jene bekomme, die selbst nichts haben. Ich bin arm. Ich besitze
nichts. Ich möchte alle Schätze der Welt haben und sie in Brot für die
Hungernden umwandeln, in Häuser für die Obdachlosen, in Kleider für die
Nackten und in Arznei für die Kranken. Ihr werdet sagen: "Du kannst heilen."
Ja, das und anderes kann ich. Aber nicht immer haben die Menschen Glauben. Und
dann kann ich nicht tun, was ich tun möchte und tun würde, wenn der Glaube an
mich in den Herzen der Menschen wäre. Ich möchte auch den Ungläubigen Gutes
tun, und da diese den Menschensohn nicht um ein Wunder bitten, möchte ich
ihnen von Mensch zu Mensch helfen. Doch ich besitze nichts. Daher halte ich
dem die Hand hin, der etwas besitzt, und bitte: "Erweise mir Barmherzigkeit im
Namen Gottes"; dazu habe ich Freunde in gehobenen Gesellschaftsschichten. Wenn
ich dann einmal nicht mehr auf der Erde sein werde, wird es immer noch Arme
geben, und ich werde keine Wunder mehr an jenen vollbringen können, die an
mich glauben, und werde keine Almosen mehr geben können, um Menschen zum
Glauben zu führen. Dann aber werden meine reichen Freunde von mir gelernt
haben, wie man Wohltaten spenden soll, und ebenso werden meine Apostel durch
das Zusammensein mit mir gelernt haben, aus Liebe zu den Brüdern um Almosen zu
bitten; und so werden die Armen stets Hilfe erhalten.
Gestern habe ich von einem, der
nichts hat, mehr bekommen, als von allen Vermögenden zusammen; von einem
Freund, der arm ist wie ich.
310
Aber er hat mir etwas gegeben,
was man mit keiner Münze kaufen kann und was mich glücklich gemacht hat, weil
er mich dadurch in meine Kinder- und Jugendzeit mit ihren vielen heiteren
Stunden zurückversetzt hat, als mir jeden Abend der Gerechte (mein
Pflegevater) die Hände auflegte und ich mich unter dem Schutz seines Segens
zur Ruhe legte. Gestern hat mich dieser arme Freund mit seinem Segen zum König
gemacht. Ihr seht also, daß keiner meiner reichen Freunde je gegeben hat, was
er mir gegeben hat. Darum seid nicht besorgt, denn auch wenn ihr die Macht des
Geldes nicht mehr habt, könnt ihr den Armen, den Müden und den Traurigen doch
immer noch Gutes tun, wenn euch nur Liebe und Heiligkeit bleiben.
Daher sage ich euch: Macht euch
keine großen Sorgen, weil ihr wenig besitzt. Ihr werdet immer das Notwendige
haben. Sorgt euch nicht zu sehr um die Zukunft. Niemand weiß, wie lange er
noch zu leben hat. Sorgt euch nicht, was ihr essen werdet, um euch am Leben zu
erhalten, noch womit ihr euch kleiden werdet, um euren Körper zu wärmen. Das
Leben eurer Seele ist viel kostbarer als der Leib und die Glieder; es ist viel
wertvoller als Nahrung und Kleidung. Euer Vater weiß es. Darum sollt auch ihr
es wissen. Betrachtet die Vögel des Himmels: sie säen nicht, sie ernten nicht
und sammeln nicht in Scheunen; und doch sterben sie nicht Hungers, denn der
himmlische Vater ernährt sie. Ihr Menschen, ihr bevorzugten Geschöpfe des
Vaters, seid viel wertvoller als sie.
Wer von euch kann mit all seiner
Begabung seiner Körpergröße auch nur eine Spanne hinzufügen? Wenn euch also
nicht einmal das gelingt, wie könnt ihr dann daran denken, eure zukünftigen
Verhältnisse zu ändern, indem ihr euren Reichtum vermehrt, um euch ein langes
und sorgenfreies Alter zu garantieren? Könnt ihr dem Tode sagen: "Du wirst
mich erst holen, wenn ich es will?" Ihr könnt es nicht! Weshalb sich um das
Morgen sorgen? Und warum befürchten, einmal keine Kleider mehr zu haben?
Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, sie
spinnen nicht, sie gehen nicht zu den Stoffhändlern, um einzukaufen! Dennoch
sage ich euch: nicht einmal Salomon in all seiner Pracht war jemals gekleidet
wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras des Feldes so kleidet, das heute
grünt und morgen dazu dient, den Ofen zu wärmen oder die Herde zu weiden und
schließlich zu Asche oder Kot wird, wieviel mehr wird er für euch sorgen, die
ihr seine Kinder seid.
Seid nicht kleingläubig! Ängstigt
euch nicht wegen einer ungewissen Zukunft, sagt nicht: "Wenn ich einmal alt
bin, was werde ich dann essen, was werde ich trinken und womit werde ich mich
kleiden?" Diese Sorgen überlaßt den Heiden, die nicht die erhabene Gewißheit
der göttlichen Vaterschaft haben. Ihr habt sie und wißt, daß der Vater eure
Bedürfnisse kennt und euch liebt. Vertraut also auf ihn. Sucht zuerst das
wahrhaft Notwendige: den Glauben, die Güte, die Nächstenliebe, die
311
Barmherzigkeit, die Reinheit, die
Gerechtigkeit, die Sanftmut, die drei göttlichen und die vier Haupttugenden
und alle übrigen, um Freunde Gottes zu sein und ein Anrecht auf sein Reich zu
besitzen. Ich versichere euch: alles übrige wird euch dazugegeben werden, ohne
daß ihr eigens darum zu bitten braucht. Es gibt keinen Reicheren als den
Gerechten und keinen, der unbesorgter wäre als er. Gott ist mit dem Gerechten.
Der Gerechte ist mit Gott. Er bittet nicht für seinen Leib, den Gott mit dem
Notwendigen versorgt, er wirkt für seine Seele und ihr schenkt Gott sich
selbst schon hier auf Erden, und im Jenseits das Paradies.
Sorgt euch daher nicht unnötig um
Dinge, die der Sorge nicht wert sind. Seid betrübt, weil ihr unvollkommen
seid, nicht, weil es euch an irdischen Gütern fehlt. Kümmert euch nicht um den
morgigen Tag, er wird für sich selbst sorgen und ihr sollt erst an ihn denken,
wenn ihr ihn erlebt. Warum denn schon heute daran denken? Habt ihr im Leben
nicht schon genug unangenehme Erinnerungen an das Gestern und quälende
Gedanken von heute, als daß ihr euch auch noch die Alpträume des "was wird
wohl sein?" aufladen müßtet, die ja das Morgen betreffen? Jedem Tag genügt
seine Last! Es wird immer mehr Sorgen in unserem Leben geben, als wir haben
möchten, auch ohne daß wir den gegenwärtigen Sorgen noch die zukünftigen
Sorgen hinzufügen. Sagt immer das große Wort Gottes: "Heute." Seid seine
Kinder, nach seinem Bild erschaffen. Sagt daher mit ihm: "Heute."
Heute gebe ich euch meinen Segen.
Er möge euch begleiten bis zum Beginn des neuen Heute: bis zum morgigen Tag,
wenn ich euch wiederum den Frieden im Namen Gottes geben werde.»
213. DIE BERGPREDIGT DIE
SELIGPREISUNGEN (Fünfter Teil)
Es ist ein herrlicher Morgen. Die
Luft ist kristallklar, und man erkennt auch die entferntesten Dinge in allen
Einzelheiten, als sähe man sie durch ein Vergrößerungsglas. Von Tag zu Tag
wird die Natur nun schöner und kleidet sich in das Prachtgewand des Frühlings,
dessen Höhepunkt, wie mir scheint, in Palästina zwischen März und April fällt.
Danach zeigen die Felder mit ihrem reifenden Korn und dem dichten Laubwerk der
Bäume schon sommerliche Töne. Die große Menge bereitet sich vor, den Meister
anzuhören.
Alles steht in Blüte. Von der
Höhe des Berges, der sogar an wenig geeigneten Stellen ganz mit Blumen übersät
ist, sieht man die Ebene mit den im Winde wogenden Getreidefeldern; die noch
elastischen Halme leuchten in einem hellen Blaugrün, während die Ähren bereits
zartgolden sind.
312
Über den Wogen der Kornfelder
erheben sich blühende Obstbäume. Sie sehen wie riesige weiße, rosa und
dunkelrote Puderquasten oder Wattebäusche aus. Die Olivenbäume, in den
Gewändern büßender Asketen, beten, und ihr Gebet zeigt sich in einem noch
zaghaften Schneefall von weißen Blümchen.
Der Gipfel des Hermon, geküßt von
den ersten Strahlen der Sonne, ist wie rosafarbener Alabaster. Von seiner Höhe
fließen zwei diamantene Rinnsale in die Tiefe – von hier aus sehen sie dünnen
Fäden gleich – die die Sonne in fast unwirklichem Glitzern erstrahlen läßt.
Sie verschwinden in den grünen Wäldern, um unten im Tal erneut aufzutauchen,
wo sie zwei Bäche bilden und in den Meron fließen, den man von hier aus nicht
sieht. Dann verlassen sie, vermischt mit dem Wasser des Jordan, den See und
fließen zusammen ins helle Saphirblau des galiläischen Meeres, das durch das
Sonnenspiel wie von kostbaren Schuppen übersät flimmert. Wundervolle Gärten
und Felder umgeben den friedvollen, schimmernden See und es scheint, als
würden die dahingleitenden Segel von den über das Himmelsmeer ziehenden
Wölklein angeführt.
Wahrlich, die Schöpfung lächelt
an diesem Frühlingstag zu dieser frühen Morgenstunde.
Die Menschen strömen unaufhörlich
herbei. Aus allen Richtungen kommen sie: Alte, Gesunde, Kranke, Kinder,
Eheleute, Jungvermählte, die ihren gemeinsamen Lebensweg mit dem Segen des
Wortes Gottes beginnen möchten, Bettler und auch Wohlhabende, welche die
Apostel herbeirufen, um ihnen Spenden für die Armen zu geben. Sie tun es an
verborgenen Orten und es scheint fast, als ob sie beichten würden. Thomas hat
eine der Reisetaschen der Apostel genommen und leert ruhig den ganzen
Münzenschatz hinein, als ob es Hühnerfutter wäre. Dann trägt er ihn in die
Nähe des Felsblockes, wo Jesus spricht. Fröhlich lachend sagt er: «Freue dich,
Meister! Heute hast du genug für alle!»
Jesus lächelt und sagt: «Wir
wollen sofort anfangen, um die Betrübten gleich glücklich zu machen. Du und
deine Gefährten, sucht die Kranken und die Armen und bringt sie hierher.»
Es dauert nicht sehr lange, bis
alle angehört worden sind. Doch hätte es mehr Zeit in Anspruch nehmen können
ohne den praktischen Sinn von Thomas, der mit seiner lauten Stimme von einer
Anhöhe aus ruft: «Alle, die körperliche Leiden haben, sollen sich rechts von
mir, dort im Schatten, sammeln.» Judas Iskariot macht es ihm nach. Auch er hat
eine mächtige, schöne Stimme und ruft: «Und alle, die meinen, einen Anspruch
auf eine Gabe zu haben, mögen sich um mich versammeln. Doch nehmt euch in Acht
und lügt nicht, denn das Auge des Meisters liest in den Herzen!»
Es kommt nun Bewegung in die
Menschenmenge, die sich beeilt, drei Gruppen zu bilden: die Kranken, die Armen
und jene, die einfach nach
313
der Lehre Jesu verlangen. Es sind
aber auch zwei, dann drei Personen da, die anscheinend etwas anderes als
Gesundheit oder Almosen suchen, etwas noch notwendigeres. Es sind eine Frau
und zwei Männer. Sie sehen die Apostel an, wagen jedoch nicht, sie
anzusprechen. Simon der Zelote geht mit ernster Miene vorbei. Petrus kommt
eilfertig mit einem ganzen Schwarm von Buben daher, denen er Oliven
verspricht, wenn sie bis zum Ende der Predigt Jesu ruhig bleiben, oder aber
Schläge, wenn sie unruhig werden. Bartholomäus kommt alt und ernst daher. Dann
sehe ich Matthäus mit Philippus mit einem Krüppel auf den Armen, für den es zu
mühsam war, durch die dichte Menschenmenge nach vorne zu gelangen. Nun
erscheinen die Vettern Jesu, die einen fast blinden Bettler und eine arme alte
Frau, die dem Jakobus bereits mehrmals unter Tränen ihre Nöte vorgejammert
hat, an den Händen halten. Jakobus des Zebedäus trägt in seinen Armen ein
armes, kleines Mädchen, das sicher krank ist, denn er hat es seiner Mutter
abgenommen, die ihm atemlos folgt, da sie befürchtet, die Menschenmenge könnte
der Kleinen wehtun. Die letzten, die vorbeikommen, sind die – ich möchte sagen
– Unzertrennlichen, Andreas und Johannes; denn wenn Johannes in seiner frohen
Natürlichkeit eines heiligen Jünglings mit allen Gefährten gleichermaßen
zurechtkommt, so bevorzugt Andreas in seiner großen Zurückhaltung, mit dem
alten Gefährten des Fischfangs und der Zeit der Nachfolge Johannes des Täufers
zusammen zu sein. Die beiden waren an der Stelle geblieben, wo die zwei
Hauptwege sich treffen, um noch ankommende Menschen an ihre Plätze zu weisen.
Doch nun zeigen sich keine Pilger mehr auf den steinigen Pfaden des Berges,
und die beiden gehen zum Meister, um ihm die zuletzt empfangenen Almosen zu
überbringen.
Jesus hat sich bereits über die
Kranken gebeugt, und die Hosannarufe der Menge künden die einzelnen Wunder an.
Die Frau, ganz in Leid aufgelöst,
wagt es, Johannes, der mit Andreas spricht und lächelt, am Gewand zu ziehen.
Er beugt sich zu ihr nieder und fragt :
«Was willst du, Frau?»
«Ich möchte mit dem Meister
sprechen.»
«Bist du krank? Du bist doch
nicht arm...»
«Ich bin weder krank noch arm.
Aber ich brauche ihn, denn es gibt Krankheiten ohne Fieber und Elend ohne
Armut, und meine... meine...»und sie weint weiter.
«Höre, Andreas. Die Frau hat
einen seelischen Kummer und möchte ihn dem Meister anvertrauen. Wie machen wir
es?»
Andreas betrachtet die Frau und
sagt: «Sicher ist es etwas, das schmerzt, wenn andere davon erfahren...» Die
Frau nickt zustimmend mit dem Kopf. Andreas sagt: «Weine nicht... Johannes,
führe sie hinter unser Zelt. Ich werde inzwischen den Meister holen.»
314
Johannes bahnt sich lächelnd
einen Weg, und Andreas geht in entgegengesetzter Richtung zu Jesus. Doch die
beiden traurigen Männer haben die Szene beobachtet, und einer von ihnen hält
Johannes auf, während der andere sich an Andreas wendet, und bald darauf sind
die beiden zusammen mit der Frau hinter den schützenden Zweigen, die die
Zeltwand bilden.
Andreas kommt zu Jesus, als
dieser gerade den Krüppel heilt und der Geheilte die beiden Krücken wie
Trophäen schwingt, wie ein Tänzer hüpft und den Herrn preist. Andreas
flüstert: «Meister, hinter unserem Zelte sind drei Personen, die weinen. Sie
haben ein Herzeleid, das anderen verborgen bleiben soll...»
«Es ist gut. Ich habe noch dieses
kleine Mädchen und diese Frau, dann werde ich kommen. Sag ihnen, sie sollen
Vertrauen haben.»
Andreas geht, während Jesus sich
über das Mädchen beugt, das die Mutter wieder auf ihren Schoß genommen hat.
«Wie heißt du», fragt Jesus.
«Maria.»
«Und wie heiße ich?»
«Jesus», antwortet das Mädchen.
«Wer bin ich?»
«Der Messias des Herrn, der
gekommen ist, um den Menschen das Heil des Leibes und der Seele zu bringen.»
«Wer hat es dir gesagt?»
«Mutter und Vater, die ihre
Hoffnung für mein Leben auf dich setzten.»
«Lebe und sei brav!»
Das Mädchen hat anscheinend eine
Rückgraterkrankung, da es, obwohl es schon sieben oder etwas älter ist, nur
die Hände bewegen kann und von den Achseln abwärts bis zu den Waden mit
straffen Binden eingewickelt ist. Man sieht es gut, da die Mutter das
Kleidchen geöffnet hat. Es bleibt für einige Minuten unbeweglich, dann zuckt
es zusammen, gleitet vom Schoße der Mutter zur Erde und eilt zu Jesus, der
soeben eine Frau heilt, deren Krankheit ich nicht erkennen kann.
Die Kranken sind alle erhört
worden und schreien lauter als alle anderen in der Menge, die dem "Sohn
Davids, Gottes Ruhm und unser Ruhm", zujubeln.
Jesus geht zum Zelt. Judas
Iskariot ruft: «Meister! Und diese?» Jesus wendet sich um und sagt: «Sie
sollen warten, wo sie sind. Auch sie werden getröstet werden.» Dann geht er
langsam hinter das Laubwerk, wo Andreas und Johannes mit den Trauernden
warten.
«Zuerst die Frau. Komm mit mir zu
den Büschen. Sprich ohne Furcht.»
«Herr, mein Mann verläßt mich
wegen einer Dirne. Ich habe fünf Kinder, das jüngste ist zwei Jahre alt...
Mein Schmerz ist groß... und ich
315
denke an die Kinder... Ich weiß
nicht, ob er sie haben will, oder ob er sie mir überläßt. Die Knaben, den
ältesten wenigstens, wird er haben wollen... und ich, die ich ihn geboren
habe, sollte mich nicht mehr an seinem Anblick erfreuen können? Was werden sie
vom Vater oder von mir denken? Von einem von uns beiden müssen sie schlecht
denken. Ich möchte nicht, daß sie ihren Vater verurteilen...»
«Weine nicht. Ich bin der Herr
über Leben und Tod. Dein Mann wird jene Frau nicht heiraten. Geh in Frieden
und sei weiterhin gut.»
«Aber du wirst ihn doch nicht
töten? Oh, Herr, ich liebe ihn!»
Jesus lächelt: «Ich werde
niemanden töten. Ein anderer wird sein Werk vollbringen. Wisse, daß Satan
nicht über Gott steht. Wenn du in deine Stadt zurückgekehrt bist, wirst du
erfahren, daß jemand das unglückselige Geschöpf umgebracht hat, und zwar auf
eine Art und Weise, die deinem Mann klarmachen wird, was er im Begriff war zu
tun. Er wird dich mit einer neu erwachten Liebe lieben.»
Die Frau ergreift die Hand, die
Jesus auf ihren Kopf gelegt hat, küßt sie und geht dann weg.
Einer der Männer kommt heran:
«Ich habe eine Tochter, Herr. Zu ihrem Unglück ging sie mit ihren Freundinnen
nach Tiberias und es scheint, als habe sie dort Gift geatmet. Sie ist wie
liebestrunken zu mir zurückgekehrt. Nun will sie mit einem Griechen
fortgehen... und dann... Warum ist sie mir geboren worden? Ihre Mutter ist
krank vor Kummer und wird vielleicht sterben... Ich... nur deine Worte, die
ich letzten Winter gehört habe, halten mich davor zurück, sie umzubringen.
Aber ich muß es dir bekennen, mein Herz hat sie schon verflucht.»
«Nein. Gott, der Vater, verflucht
erst bei begangener Sünde und Verstocktheit. Was willst du von mir?»
«Daß du sie umstimmst.»
«Ich kenne sie nicht, sie wird
sicher nicht zu mir kommen.»
«Aber du kannst ihr Herz auch aus
der Ferne umwandeln. Weißt du, wer mich zu dir schickt? Johanna des Chuza. Sie
war gerade dabei, nach Jerusalem abzureisen, als ich zu ihrem Palast kam, um
sie zu fragen, ob sie diesen infamen Griechen kenne. Ich nahm an, daß sie ihn
nicht kennen würde, denn sie ist gut, obwohl sie in Tiberias wohnt... Aber da
Chuza mit Heiden verkehrt... Sie kennt ihn nicht. Aber sie sagte mir: "Geh zu
Jesus. Obwohl wir durch eine weite Entfernung voneinander getrennt waren, hat
er zu meiner Seele gesprochen und mich zu sich gerufen, und sein Ruf bedeutete
meine Heilung von der Schwindsucht. Er wird auch das Herz deiner Tochter
heilen. Ich werde beten, und du, habe Vertrauen." Vertrauen habe ich, du
siehst es. Erbarme dich, Meister.»
«Deine Tochter wird noch heute
abend auf dem Schoß ihrer Mutter weinend um Verzeihung bitten. Sei auch du gut
wie die Mutter und verzeih! Die Vergangenheit ist tot.»
316
«Ja, Meister, dein Wille
geschehe, und sei dafür gepriesen!»
Er ist schon im Begriff zu gehen,
doch dann wendet er sich noch einmal um: «Verzeih, Meister... Ich habe solche
Angst... Die Unzucht ist ein so schlimmer Dämon! Gib mir nur einen Faden
deines Gewandes. Ich werde ihn ins Kopfkissen meiner Tochter legen, so wird
sie der Teufel nicht versuchen, während sie schläft.»
Jesus lächelt und schüttelt das
Haupt... aber er stellt den Mann zufrieden und sagt: «Damit du beruhigt bist.
Doch glaube, wenn Gott sagt: "Ich will" ' dann flieht der Teufel, ohne daß
noch mehr nötig wäre. Du wirst es einfach als Andenken an mich behalten», und
er schenkt ihm einen kleinen Bausch seiner Fransen.
Nun kommt der dritte Mann:
«Meister, mein Vater ist gestorben. Wir glaubten, er besitze eine größere
Menge Geld, doch wir haben nichts gefunden. Das wäre alles nicht so schlimm,
denn uns Brüdern fehlt es nicht an Brot. Aber ich wohnte bei meinem Vater, da
ich der Erstgeborene bin, und die beiden anderen Brüder behaupten nun, ich
hätte das Geld verschwinden lassen und wollen Klage wegen Diebstahls gegen
mich einreichen. Du kennst meine Gesinnung. Ich habe nicht die kleinste Münze
gestohlen. Mein Vater verwahrte sein Geld in einem eisernen Kästchen in einem
Schrein. Nach seinem Tode öffneten wir den Schrein, und das Kästchen war nicht
mehr da. Nun sagen sie: "In der Nacht, während wir schliefen, hast du es an
dich genommen." Das ist nicht wahr. Hilf mir, daß wieder Friede und
gegenseitige Achtung bei uns einkehren.»
Jesus sieht ihn fest an und
lächelt.
«Warum lächelst du, Meister?»
«Weil der Schuldige dein Vater
ist... schuldig wie ein Kind, das sein Spielzeug versteckt, damit es ihm
niemand wegnimmt.»
«Aber er war nicht geizig. Glaube
mir, er hat viel Gutes getan.»
«Ich weiß es, aber er war sehr
alt... Das sind Krankheiten des Alters... Er wollte es aufbewahren für euch
und hat euch durch seine übergroße Liebe gegeneinander aufgebracht. Die
Kassette ist unter der Kellertreppe eingegraben. Ich sage es dir, damit du
siehst, daß ich davon weiß. Während ich mit dir redete, stampfte dein jüngerer
Bruder aus Zorn auf den Boden und entdeckte so zufällig das Versteck. Jetzt
sind die Brüder verwirrt und bereuen, dich beschuldigt zu haben. Gehe
unbeschwert nach Hause und sei gut zu ihnen. Verliere keine Worte über den
Verdacht, den sie gegen dich hegten.»
«Nein, Herr, ich gehe noch nicht.
Ich bleibe hier, um dir zuzuhören. Erst morgen werde ich heimkehren.»
«Und wenn sie dir Geld
wegnehmen?»
«Du sagst, man soll nicht
habgierig sein. Ich will es nicht sein. Mir genügt es, wenn unter uns wieder
Frieden herrscht. Übrigens, ich habe keine Ahnung, wieviel Geld in der
Kassette war, und ich werde daher auch nicht
317
mißmutig sein über eine
Mitteilung, die der Wahrheit vielleicht nicht entspricht. Ich denke auch, daß
das Geld ebenso gut hätte verloren sein können. Wie ich bisher gelebt habe, so
werde ich auch weiterhin leben können, sollte man mir das Geld vorenthalten.
Es genügt mir, daß sie mich nicht mehr "Dieb" nennen.»
«Du bist auf dem Wege Gottes sehr
weit fortgeschritten. Mach so weiter, und der Friede sei mit dir!»
Auch dieser geht zufrieden weg.
Jesus kehrt zur Menge zurück, zu den Armen, und verteilt nach eigenem
Gutdünken die Almosen. Nun sind alle zufrieden, und Jesus kann sprechen.
«Der Friede sei mit euch.
Wenn ich euch die Wege des Herrn
erkläre, dann tue ich es, damit ihr auf ihnen wandelt. Könnt ihr gleichzeitig
die Wege, die rechts und links bergab führen, gehen? Nein, das könntet ihr
nicht, denn wenn ihr den einen Weg einschlagt, dann müßt ihr den anderen
verlassen. Selbst wenn beide Wege nebeneinander verlaufen würden, könntet ihr
nicht lange mit dem einen Fuß auf diesem und mit dem anderen Fuß auf jenem
gehen. Ihr würdet ermüden und den Tritt verfehlen, selbst wenn es um eine
Wette ginge. Doch zwischen dem Weg Gottes und dem Weg Satans liegt eine große
Entfernung, und sie wird immer größer; so wie die beiden Wege, die hier
nebeneinander beginnen, sich talabwärts immer weiter voneinander entfernen, da
der eine nach Kapharnaum, der andere nach Ptolemais führt.
So ist es mit dem Leben. Es
verläuft zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, zwischen dem Bösen und
dem Guten. In der Mitte ist der Mensch mit seinem Willen, einem freien Willen;
an den beiden Enden: auf der einen Seite Gott und sein Himmel, auf der anderen
Satan und seine Hölle. Der Mensch kann wählen. Niemand zwingt ihn. Sagt mir
nicht: "Aber Satan versucht mich..." als Ausrede für den Abstieg auf dem Weg
nach unten. Auch Gott lockt mit seiner Liebe, und zwar sehr mächtig: Er ruft
uns mit Worten voll der Heiligkeit, und er sucht uns mit seinen verlockenden
Verheißungen. Warum läßt man sich gerade von dem betören, der am wenigsten
verdient, angehört zu werden? Die Worte, die Verheißungen, die Liebe Gottes,
sind sie nicht ausreichend, um das Gift Satans unwirksam zu machen?
Gebt acht, denn der Teufel vermag
euch in schlimmer Weise zu schwächen. Ein kräftiger und gesunder Mensch ist
zwar auch nicht immer gefeit gegen Ansteckungen, doch er überwindet sie mit
Leichtigkeit. Während jemand, der schon krank und dadurch geschwächt ist,
durch eine neue Ansteckung ziemlich sicher zugrunde geht; und wenn er
überlebt, ist er kränker als zuvor, da sein Blut nicht mehr die Kraft besitzt,
die Ansteckungskeime vollständig zu vernichten. Dasselbe gilt für den höheren
Teil des Menschen. Wenn jemand moralisch und seelisch stark und gesund
318
ist, ist er zwar nicht frei von
Versuchungen, aber das Böse kann sich in ihm nicht festsetzen. Wenn ich jemand
sagen höre: "Ich bin diesem oder jenem nahegekommen, ich habe dieses oder
jenes gelesen, ich habe versucht, diesen oder jenen vom Guten zu überzeugen,
stattdessen ist die Bosheit seines Geistes und Herzens und der schädliche
Einfluß des Buches auf mich übergegangen" ' dann muß ich ihm entgegnen: "Ich
schließe daraus, daß das Böse, um sich bei dir einnisten zu können, schon
einen günstigen Nährboden vorgefunden hat. Das beweist, daß du ein Schwächling
ohne moralischen und geistigen Widerstand bist. Denn selbst unsere Feinde
können uns Gutes lehren. Wenn wir nämlich ihre Fehler beobachten, soll uns
dies lehren, nicht in die gleichen Irrtümer zu verfallen. Der intelligente
Mensch wird nicht zum Spielball der erstbesten Lehre, die er vernimmt. Der
Mensch, dessen Geist bereits von einer Lehre durchdrungen ist, hat keinen
Platz für andere Lehren. Dies erklärt auch die Schwierigkeiten, auf die man
bei dem Versuch stößt, überzeugte Anhänger einer anderen Lehre für die wahre
Lehre zu gewinnen. Aber wenn du mir sagst, daß du deine Ansicht bei jedem
geringsten Windhauch änderst, dann sehe ich, daß in dir eine große Leere ist.
Deine geistige Festung ist voller Risse, die Deiche deiner Gedanken sind an
tausend Stellen undicht und das gute dringt Wasser nach außen, während das
verseuchte Wasser hineingelangt; und du bist so töricht und apathisch, daß du
es nicht einmal merkst und keine Vorsorge triffst. Du bist ein
Unglückseliger." 1)
Daher wißt von den beiden Wegen
den guten zu wählen, beschreitet ihn und widersteht jederzeit den Verlockungen
der Sinne, der Welt, der Wissenschaft und des Teufels. Die Halbheiten im
Glauben, die Kompromisse und die Pakte zwischen zwei gegensätzlichen Partnern,
überlaßt sie den Menschen der Welt. Auch sie dürften eine solche
Geisteshaltung nicht annehmen, wenn sie ehrlich wären. Aber ihr, ihr
wenigstens, ihr Männer Gottes, dürft sie nicht haben. Weder Gott noch Satan
würde sich damit zufrieden geben. Darum duldet sie auch bei euch selber nicht;
wenn in euren Werken Gutes mit Bösem vermischt ist, sind sie wertlos. Gute
Taten verlieren durch die schlechten ihren Wert, denn die schlechten treiben
euch geradewegs in die Arme des Feindes. Tut sie daher nicht und seid
aufrichtig in eurem Dienen.
Niemand kann zwei Herren dienen,
die verschiedenen Sinnes sind. Entweder wird er den einen lieben und den
anderen hassen, oder umgekehrt.
_____________
1) Die durch seine Natur
bedingten Lücken füllt der Mensch mit natürlichen Dingen aus, die oft nicht
gut sind. Immer jedoch stehen sie dem Eindringen Gottes im Weg. Gelingt es
aber, sich von diesem Hindernis, dem Menschlich-Natürlichen, zu befreien, dann
füllt Gott die entstandene Leere mit sich selber aus und macht sie zu seiner
Wohnstätte. Dann wird in uns das Reich Gottes errichtet, das so lange
andauert, bis wir in sein Reich, den Himmel, eingehen, den wir durch unseren
treuen, liebevollen guten Willen verdient und geerbt haben.
319
So könnt ihr auch nicht
gleichzeitig Gott und dem Mammon dienen. Der Geist Gottes läßt sich mit dem
Geist der Welt nicht vereinbaren. Der eine führt nach oben, der andere nach
unten. Der eine heiligt, der andere verdirbt. Wenn ihr aber verdorben seid,
wie könnt ihr dann noch in Reinheit wirken? Die sinnliche Begierde erwacht im
Verdorbenen und zieht noch andere Gelüste nach sich. Ihr wißt schon, wie Eva
verführt wurde, und Adam durch sie.
Satan küßte das Auge der Frau und
bezauberte es so, daß alle Dinge, die ihr bis dahin rein erschienen waren, nun
ein unreines Aussehen annahmen und in ihr eine ungewohnte Neugier weckten.
Dann küßte Satan ihre Ohren und machte sie hellhörig für Worte einer
unbekannten Wissenschaft: der seinen. Auch der Verstand Evas wollte erfahren,
was nicht notwendig war. Dann zeigte Satan den dem Bösen nun zugänglich
gewordenen Augen und Verstand, was sie vorher nicht gesehen hatten. Da
erwachte Eva und wurde verdorben, und das Weib ging zum Mann und enthüllte ihm
das Geheimnis. Eva überzeugte Adam, von der neuen Frucht zu kosten, die schön
anzusehen und bis dahin verboten war. Sie küßte ihn mit dem Mund und schaute
ihn an mit den Augen, in denen schon die Verwirrung Satans war. Und die
Verderbnis drang in Adam ein, der sah, und durch das Auge begehrte er nach dem
Verbotenen. Mit seiner Gefährtin zusammen aß er, und sie fielen von erhabener
Höhe in den Schlamm.'
' Um Einwendungen vorzubeugen,
erkläre ich, worin die Verführung des Auges und des Ohres Evas bestand. Man
überlege und beachte, daß es sich um einen geistigen Kuß handelte, um eine
intellektuelle Lehre über die Bosheit, um eine Neugierde zu erwecken, die
anfänglich geistiger Natur war, so wie auch die von Gott gestellte Prüfung
geistig war, um Adam und Eva in der Gnade zu festigen: Im Gehorsam gegenüber
dem einzigen Gebot Gottes. Die anfänglich geistige Neugierde entartete zu
einer Neugierde für das Stoffliche, die sich immer mehr dem Fleischlichen
zuwandte. Eva war ganz Gnade und Unschuld, mit einer Fülle übernatürlicher
Gaben ausgestattet und sah und erkannte Gott und sich selbst in Gerechtigkeit,
als ein zur übernatürlichen Höhe des Kindes Gottes erhobenes Geschöpf. Sie sah
und erkannte ihr Verhältnis als Geschöpf zu ihrem Schöpfer, den Unterschied
zwischen ihm und ihr, der weder dadurch aufgehoben wurde, daß Gott der Vater
den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen hat, noch durch seine
göttliche Liebe zu seinem Geschöpf. Nichts hatte sie dazu verleitet, sich für
Gott ebenbürtig zu halten, zu sein wie Gott, was ihre Natur und Macht betraf.
Nichts hatte sie begierlich gemacht, alles sein zu wollen und zu können, so
wie Gott alles ist und alles kann. Unschuldig und glücklich wie ein Kind war
sie zufrieden mit dem, was ihr geschenkt worden war. Sie war seelisch und
körperlich gesund, weil sie frei von abnormalen Begierden und Trieben war. Sie
erkannte sich als Kind Gottes, und als solche erkannte sie auch ihren
Gefährten. Als Königin über Tier- und Pflanzenreich, lag die Schöpfung zu
ihren Füßen, doch ihr Anblick verführte ihre Seele nicht zur Sünde, sondern
spornte sie an, über das Natürliche hinauszuwachsen; denn die Herrlichkeiten
des Paradieses, in denen sie Gott erkannte, führten sie zu einer immer
vollkommeneren Liebe zu ihrem Herrn. Sie erkannte sich in ihrem erhabenen Teil
als Kind Gottes und nicht als animalisches Geschöpf. – Satan näherte sich ihr
in Gestalt einer Schlange und zog die Unbedachte an sich.
320
Wenn einer verdorben ist, zieht
er auch den anderen ins Verderben, sofern der andere nicht ein Heiliger im
wahrsten Sinne des Wortes ist.
Hütet eure Blicke, Männer! Sowohl
die Blicke der Augen als auch die Blicke des Geistes. Sind sie verdorben,
können sie nur alles übrige auch noch verderben. Das Licht des Körpers ist das
Auge. Das Licht des Herzens ist dein Denken. Ist dein Auge unrein, dann wird
alles in dir trübe sein, und verführerische Nebel werden in dir unreine
Trugbilder erzeugen. Alles ist rein in dem, der reine Gedanken hat, die einen
reinen Blick erzeugen, und das Licht Gottes steigt da, wo es die Sinne nicht
behindern, machtvoll hernieder. Hast du aber dein Auge durch deinen schlechten
Willen zu unreinen Betrachtungen erzogen, wird alles in dir Finsternis.
Die Schlange verstand es, mit
ihrer Eigenart Eva zu begeistern und strömte ihr tödliches Gift mit ihrem
magischen Zauber aus, wodurch geistige Erkenntnis und Einsichtsvermögen der
Frau getrübt wurden, so daß sich das geschmeichelte Weib in Eva enthüllte. Eva
würde sich nun mächtig wie Gott glauben, sobald sie das Kennzeichen eines
Geschöpfes, d.h., die Pflicht, dem Gebot Gottes zu gehorchen und nur das zu
tun, was Gott erlaubt, weit von sich werfen würde.
Als sie sich dieses Kennzeichens
entledigt hatte, um wie Gott zu sein, überkam sie die seelische Ausschweifung
des "Alles-Können", und diese zeugte die geistige Ausschweifung des
"Alles-Kennen-Wollen", das Gute und vor allem das Böse, das Gott ihr zu kennen
verbot, während die Schlange sie dazu anspornte, es kennenzulernen; denn nur
durch die vollständige Kenntnis des Guten und Bösen würden sie und Adam "wie
Götter", und damit ihr Geschlecht und Same aus eigener Kraft unsterblich. Die
Schlange bot sich ihr als Lehrmeisterin der unbeschränkten Erkenntnis an, und
Eva nahm diese als Lehrmeisterin an. Die geistige Ausschweifung als Tochter
der seelischen, zeugte nun die fleischliche Ausschweifung. Eva, die ihr Seh-
und Hörvermögen schon zum Bösen benutzt hatte, wollte nun auch ihren Tastsinn
dazu benützen, die Geheimnisse der verbotenen Frucht zu erkennen; mit dem
Geruchssinn nahm sie deren betörenden Duft in sich auf, mit dem Geschmack
öffnete sie die Schale einer neuen Erkenntnis, um den unbekannten Geschmack zu
kosten. – In ihr erwachte die böse Begierde, das, was sie kaum versucht hatte,
nunmehr vollständig auszukosten.
Der Gnade, der Unschuld und
Unversehrtheit beraubt, erschien ihr das Böse gut. Sie war nicht mehr fähig,
ihre Sinnlichkeit der Vernunft zu unterstellen. – Sie erkannte sich und ihren
Gefährten und wollte auch ihn zu dieser Erkenntnis führen. Arglistig näherte
sie sich Adam und konnte ihn dazu verleiten, das Gebot Gottes mit Füßen zu
treten.
Sie verführte ihn zu dem, was sie
schon getan hatte: in den Apfel zu beißen. Nachdem sie ihn in Unkeuschheit und
Bosheit ihr gleichgemacht hatte, überredete sie ihn, die verbotene Frucht zu
essen, um sich einen neuen, sofortigen Genuß zu verschaffen, und dazu die
Macht, künftig Gott im Erschaffen neuer Menschen ähnlich zu sein, nach den
Naturgesetzen, denen auch die Tiere unterworfen sind und anders als von Gott
bestimmt. – Satan wollte erstens aus dem Menschen als Kind Gottes einen
tierischen Menschen machen und zweitens versuchen, aus dem göttlichen
Eingeborenen, der Mensch geworden war, einen Sünder zu machen. – Sein erstes
Ziel, den Geist durch das Fleisch zu besiegen, erreichte er im unglückseligen
Sündenfall. Sein zweites Vorhaben, den Messias zur Sünde zu verführen, schlug
fehl. So satanisch auch sein Plan war, den Messias in die Sünde zu stürzen und
dadurch jede Möglichkeit einer Wiedergeburt des Menschen zum Kinde Gottes zu
verhindern, so diente doch dieser Plan der "Vollendung" des Gott-Menschen,
indem Christus in seiner Gnade als Mensch bestätigt wurde und somit in seiner
Macht als Messias, als Ursache des ewigen Heils für die erlösten Kinder
(Nachkommenschaft) Adams.
321
Und vergeblich betrachtest du
dann auch heiligste Dinge. Im Dunkel wird es nichts als Finsternis geben und
du wirst Werke der Finsternis tun.
Daher, Kinder Gottes, hütet euch
vor euch selbst! Seid wachsam und hütet euch vor allen Versuchungen. Daß ihr
versucht werdet, ist nichts Schlechtes. Der Wettkämpfer bereitet sich durch
den Kampf auf den Sieg vor. Schlimm ist es, besiegt zu werden wegen
ungenügender Vorbereitung und Unachtsamkeit. Ich weiß, daß alles der
Versuchung dient. Ich weiß, daß andauernde Verteidigung zermürbt. Ich weiß,
daß der Kampf ermüdet. Doch Mut! Überlegt euch, was ihr durch all dies
gewinnt! Möchtet ihr für eine Stunde des Vergnügens, welcher Art es auch sei,
eine Ewigkeit des Friedens verlieren? Was bleibt euch von der Sinnenlust, von
der Freude am Gold und den Gedanken daran? Nichts! Was gewinnt ihr, wenn ihr
auf sie verzichtet? Alles! Ich spreche zu Sündern, denn der Mensch ist ein
Sünder. Sagt mir also ganz ehrlich: Wenn ihr eure Sinnenlust, euren Hochmut
und euren Geiz befriedigt habt, fühlt ihr euch dann frischer, zufriedener und
sicherer? Empfindet ihr nach deren Befriedigung, der immer ein Moment des
Nachdenkens folgt, wirklich das Gefühl echten Glückes? Ich habe dieses Brot
der Sinne nicht verkostet, doch ich antworte euch: Nein! Niedergeschlagenheit,
Unzufriedenheit, Unsicherheit, Ekel, Angst und Unruhe sind die traurigen
Folgen des Nachgebens.
Aber ich bitte und sage euch:
Gebt nie nach; ich sage euch ebenfalls: Seid nicht unerbittlich gegen jene,
die fehlen. Denkt daran, daß ihr alle Brüder seid, aus Fleisch und Seele.
Bedenkt, daß es viele Ursachen gibt, die einen Menschen zur Sünde verleiten
können. Seid barmherzig mit den Sündern, helft ihnen mit Güte, sich zu erheben
und führt sie zu Gott; zeigt ihnen, daß der von ihnen eingeschlagene Weg
voller Gefahren für das Fleisch, den Geist und die Seele ist. Tut dies, und
euer Lohn wird groß sein, denn der Vater im Himmel ist barmherzig mit den
Guten und vergilt jede gute Tat hundertfach. Daher sage ich euch...»
Hier teilt Jesus mir mit: «Siehe
und schreibe. Das ist das Evangelium der Barmherzigkeit für alle und besonders
für jene, die sich in der Sünderin wiedererkennen. Ich lade sie ein, ihr in
ihrer Erlösung nachzufolgen.»
Jesus steht auf einem Felsblock
und spricht zu einer großen Menge in einer gebirgigen Gegend, wo sich ein
einsamer Hügel zwischen zwei Tälern erhebt. Der Gipfel des Hügels hat die Form
eines Joches oder besser, die Form eines Kamelhöckers, so daß sich einige
Meter unter der Kammlinie ein natürliches Amphitheater befindet, in welchem
die Stimme klar erschallt wie in einem sehr gut gebauten Konzertsaal.
Der Hügel ist von Blumen übersät
und ich nehme an, daß die warme Jahreszeit angebrochen ist. Die Getreidefelder
in den Ebenen beginnen sich gelblich zu färben und sind bald reif zur Ernte.
Im Norden strahlt die schneebedeckte Kuppe eines hohen Berges in der Sonne.
Darunter, im
322
Osten, liegt das galiläische Meer
wie ein in zahllose Stückchen zersplitterter Spiegel, und jeder einzelne
Splitter leuchtet wie ein von der Sonne entflammter Saphir. Der See blendet
mit seinem bläulichen Schimmern, nur einige Wolkenflöcklein spiegeln sich
wider, die im tiefen Blau des reinen Himmels schweben wie fliehende Schatten
eines Segelschiffes. Jenseits des Sees Genesareth liegen auf den fernen Ebenen
leichte Bodennebel oder vielleicht der Dunst des Taus – es müssen die ersten
Morgenstunden sein, denn das Gras in der Höhe trägt noch diamantene Tautropfen
-; der Dunst scheint den See zu verlängern, aber in der Farbe eines grün
geäderten Opals; dahinter zeigt sich eine Bergkette mit einem steinigen
Abhang, der einem Wolkengebilde am klaren Himmel gleicht.
Das Volk sitzt im Gras oder auf
dem Steinen, und viele Leute hören auch stehend zu. Das Schar der Apostel ist
nicht vollzählig. Ich sehe Petrus und Johannes, Andreas und Jakobus und höre,
wie man zwei andere, nämlich Nathanael und Philippus, ruft. Ich sehe noch
einen anderen, der vielleicht auch zur Gruppe gehört; er ist wahrscheinlich
erst angekommen: man nennt ihn Simon. Weitere sind nicht da, wenigstens sehe
ich sie inmitten der vielen Leute nicht.
Jesus hat erst vor kurzem zu
sprechen begonnen. Es ist mir klar, daß es die Bergpredigt ist. Doch die
Seligpreisungen sind bereits erwähnt worden. Mir scheint, daß die Rede ihrem
Ende zugeht, denn Jesus sagt: «Tut dies, und euer Lohn wird groß sein, denn
der Vater im Himmel ist barmherzig mit den Guten und wird hundertfach
vergelten. Darum sage ich euch...»
Eine starke Bewegung kommt in das
Volk, das sich am Weg, der zur Hochebene hinaufführt, befindet. Die Köpfe
derer in der Nähe Jesu wenden sich um. Die Aufmerksamkeit wird abgelenkt.
Jesus hört auf zu reden und wendet seinen Blick in dieselbe Richtung wie die
anderen. Er ist ernst und schön in seinem dunkelblauen Gewand mit den auf der
Brust gekreuzten Armen. Die Sonne streift sein Haupt mit dem ersten Strahl,
der über den östlichen Gipfel des Hügels dringt.
«Macht Platz, Gesindel, das ihr
seid», schreit eine zornige Männerstimme. «Macht Platz der Schönheit, die
vorübergeht!» Es kommen vier aufgeputzte Gecken, von denen einer Römer sein
muß, da er mit einer römischen Toga bekleidet ist. Sie tragen auf ihren Armen,
die zu einem Sitz verschränkt sind, Maria von Magdala, die immer noch große
Sünderin, im Triumph daher.
Maria lacht mit ihrem
entzückenden Mund und wirft ihren Kopf mit der goldenen Haarpracht zurück,
deren Zöpfe und Locken von wertvollen Spangen, Nadeln und einem goldenen Band
gehalten werden. Das mit Perlen bedeckte Band schmückt ihre Stirn wie ein
Diadem, leichte Löckchen fallen darüber und verschleiern die an sich schon
herrlichen Augen, die durch einen geschickten Kunstgriff noch größer und
verführerischer
323
erscheinen. Das Diadem verliert
sich hinter den Ohren unter der Fülle ihrer geflochtenen Haare, die über den
weißen, bloßen Nacken hängen. Die Blöße reicht sogar weit unter den Nacken.
Ihre Achseln sind bis zu den Schulterblättern frei und die Brust noch weit
mehr. Das Gewand wird auf den Schultern von zwei goldenen Kettchen gehalten
und ist ärmellos. Alles ist sozusagen von einem Schleier bedeckt, der nur die
Aufgabe hat, die Haut vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Das Kleid ist sehr
leicht, und wenn sie sich in ihrem gezierten Getue einmal an diesen, dann an
jenen Verehrer lehnt, ist es fast, als würde sie es mit dem nackten Körper
tun. Ich habe den Eindruck, daß der Römer der Bevorzugte ist, denn ihm gelten
hauptsächlich ihr Lachen und ihre Blicke, und an seine Schulter legt sie
besonders gern ihren Kopf.
«Die Göttin ist befriedigt», sagt
der Römer. «Rom hat sich zum Reittier der neuen Venus gemacht, und dort ist
Apollo, den du zu sehen gewünscht hast. Verführe ihn nun, aber laß auch uns
einige Brosamen deiner Gunst!»
Maria lacht und springt mit einer
behenden, herausfordernden Bewegung zu Boden und entblößt die kleinen Füße in
den weißen Sandalen mit goldenen Spangen, und auch ziemlich viel Bein. Dann
deckt das weite Kleid aus leichter Wolle, das wie ein schneeweißer Schleier
auf den Hüften von einem Gürtel aus goldenen Schuppen gehalten wird, alles
wieder zu. Die Frau steht da wie eine Blume aus Fleisch und Blut, eine unreine
Blume, durch einen Zauber auf der grünen Ebene erblüht, in der es Maiglöckchen
und wilde Narzissen in großer Zahl gibt.
Maria von Magdala ist schön wie
nie zuvor. Ihr kleiner, purpurroter Mund gleicht einer aufbrechenden Nelke,
die auf dem Weiß der vollendet schönen Zähne blüht. Das Antlitz und der Körper
könnten den anspruchsvollsten Maler oder Bildhauer sowohl durch die Farben als
auch durch die Formen zufriedenstellen. Die volle Brust und die Hüften im
rechten Verhältnis zur schmalen, geschmeidigen Taille, gleicht sie einer
Göttin, wie der Römer gesagt hat... einer Göttin, aus zartem rosa Marmor
gemeißelt, auf deren Hüften der leichte Stoff sanft aufliegt, um dann in einem
reichen Faltenwurf nach vorn zu fallen. Alles ist für den Genuß der Augen
ausgeklügelt.
Jesus blickt sie fest an. Frech
hält sie seinem Blick stand und lacht und windet sich unter der Berührung
ihrer Schultern und Brust mit einem von dem Römer unterwegs gepflückten
Maiglöckchen. Dann hebt sie unter gekünsteltem Jammern den Schleier und sagt:
«Respektiert meine Unberührtheit!», wobei die vier Männer in ein schallendes
Gelächter ausbrechen.
Jesus blickt sie weiterhin fest
an. Als das Gelächter verstummt, nimmt er seine Rede wieder auf und würdigt
sie keines Blickes mehr. Es ist, wie wenn das Auftauchen dieser Frau Jesus zur
Wiederaufnahme der Rede
324
entflammt hätte, die schon auf
ihr Ende zuging und am Erlöschen war. Er schaut nun wieder auf seine Zuhörer,
die durch den Vorfall verwirrt und entsetzt zu sein scheinen.
Jesus fährt fort: «Ich habe
gesagt, daß man dem Gesetz treu sein, demütig und barmherzig sein soll, daß
man nicht nur die Menschen seines eigenen Geblütes lieben soll, sondern auch
jene, die wie wir Menschen und somit unsere Brüder sind. Ich habe euch gesagt,
daß Vergebung besser ist als Groll, daß Nachsicht besser ist als
Unerbittlichkeit. Nun aber sage ich euch, daß man nicht verurteilen darf, wenn
man nicht selbst frei
von der Sünde ist, die man
verurteilen will. Macht es nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, die
streng mit allen, aber nicht mit sich selbst
sind, die unrein nennen, was
äußerlich ist und nur das Äußere verunreinigen kann, und dann in tiefster
Brust, im Herzen, der Unreinheit Raum gewähren.
Gott ist nicht mit den Unreinen,
denn die Unreinheit zerstört, was Gottes Eigentum ist: die Seele, und
besonders die Seelen der Kinder, der auf der Erde verstreuten Engel. Wehe
allen, die ihnen mit der Roheit dämonischer Bestien die Flügel ausreißen,
diese Himmelsblumen in den Schmutz
ziehen und in ihnen den
Lebensgenuß wecken! Wehe! Es wäre besser, sie würden vom Blitz getroffen
verbrennen, als einer solchen Sünde zu verfallen!
Wehe euch Reichen und Genießern!
Gerade unter euch gärt die größte Unreinheit, der Müßiggang und Geld als Bett
und Polster dienen. Ihr seid jetzt überfüttert. Bis an die Kehle reicht euch
die Speise der Begehrlichkeit und würgt euch. Aber einst werdet ihr einen
Hunger kennenlernen, einen schrecklichen, unersättlichen Hunger, der nicht
gelindert werden kann
und ewig dauert! Jetzt seid ihr
reich. Wieviel Gutes könntet ihr mit eurem Reichtum tun! Aber ihr benützt ihn
zum Bösen, sowohl für euch als auch für die anderen. Eines Tages werdet ihr
eine entsetzliche Armut kennenlernen, und sie wird kein Ende nehmen. Nun lacht
ihr. Ihr wähnt zu triumphieren, doch eure Tränen werden die Pfuhle der Hölle
(Gehenna) füllen, und sie werden endlos fließen.
Wo nistet sich der Ehebruch ein?
Wo ist das Verderben der Mädchen? Wer hat außer seinem Ehebett noch zwei oder
drei Betten der Zügellosigkeit, auf denen er sein Geld verschwendet und die
Kraft seines Körpers vergeudet, den er von Gott gesund erhalten hat, damit er
für seine Familie arbeite und nicht, damit er sich in sündhaften Verbindungen
aufreibe, die ihn unter ein unreines Tier erniedrigen ? Ihr habt gehört, daß
gesagt wurde: "Du sollst nicht ehebrechen" ? Ich aber sage euch, daß jeder,
der eine
Frau lüstern ansieht, und jede,
die sich mit Begierde dem Manne nähert – und selbst, wenn es bei bloßer
Begierde bleibt – im Herzen bereits
Ehebruch begangen hat. Kein Grund
rechtfertigt den Ehebruch. Keiner! Nicht das Verlassen- und Verstoßensein
durch einen Ehemann. Nicht das
11)Z
Mitleid mit einer Verstoßenen.
Ihr habt nur ein Herz. Ist es durch ein Treuegelöbnis mit einem anderen
verbunden, so dürft ihr nicht verleugnen, sonst wird euer schöner Körper, mit
dem ihr sündigt, zusammen mit eurer unreinen Seele in das nie erlöschende
Feuer geworfen. Verstümmelt ihn eher, aber tötet ihn nicht, indem ihr ihn auf
ewig verdammt. Werdet wieder zu Menschen, ihr Reichen, ihr lasterhaften,
wurmstichigen Gestalten, werdet wieder zu Menschen, um nicht den Himmel mit
Abscheu vor euch zu erfüllen.
Maria, die anfänglich mit einem
Gesicht zugehört hat, das ein Gedicht von Verführung und Ironie war, und ab
und zu ein spöttisches Kichern hören ließ, wird gegen Ende der Rede schwarz
vor Wut. Sie versteht, daß Jesu Worte ihr gelten, obwohl er sie nicht
anblickt. Ihre wachsende Empörung wird immer aufsässiger und schließlich kann
sie nicht mehr widerstehen; sie hüllt sich verächtlich in ihren Schleier, und
verfolgt von den Blicken der spottenden Menschenmenge und der Stimme Jesu,
beginnt sie wütend und mit höhnischem Gelächter den Abhang hinunterzurennen
und läßt ganze Fetzen ihres Kleides an den Disteln und wilden Rosensträuchern
am Wegrand zurück.
Jesus fährt fort: «Das Vorkommnis
hat euch entrüstet. Seit zwei Tagen wird unser Zufluchtsort, hoch über dem
Schlamm, vom Zischen der Schlange heimgesucht. Daher ist er kein Zufluchtsort
mehr und wir werden ihn verlassen. Doch ich will die Darlegung des Gesetzes
des "höchst Vollkommenen" in dieser Fülle von Licht und der Weite des
Horizontes zu Ende führen. Hier zeigt Gott sich wahrlich in seiner Majestät
als Schöpfer, und durch die Betrachtung seiner Wunderwerke kommen wir zum
festen Glauben, daß er der Herr ist, und nicht Satan. Der Böse könnte nicht
einmal einen Grashalm erschaffen. Gott aber kann alles. Dies gereiche uns zum
Trost. Ihr aber seid nunmehr alle der Sonne ausgesetzt, das ist nicht gut.
Verteilt euch auf die schattigen und kühlen Hänge. Nehmt eure Mahlzeit ein,
wenn ihr wollt. Ich werde noch über das gleiche Thema weitersprechen. Unser
Aufenthalt hat sich aus verschiedenen Gründen hinausgezogen, doch ihr sollt
nicht bereuen. Hier seid ihr bei Gott.»
Die Leute rufen: «Ja, ja, bei
dir!» und begeben sich zu den Hainen, die auf der östlichen Seite wachsen und
einen Schutz bilden gegen die Sonne, die nun schon zu heiß herniederbrennt.
Jesus beauftragt indessen Petrus,
das Schutzdach abzubrechen.
«Aber gehen wir wirklich weg?»
«Ja!»
«Weil sie gekommen ist... ?»
«Ja. Aber sage es niemandem,
besonders nicht dem Zeloten. Er würde traurig werden, des Lazarus wegen. Ich
kann nicht zulassen, daß das Wort Gottes zum Spott der Heiden wird...»
326
«Ich verstehe, ich verstehe...»
«Dann wirst du auch etwas anderes
verstehen.»
«Was, Meister?»
«Die Notwendigkeit, in gewissen
Fällen zu schweigen. Ich lege es dir ans Herz. Du bist sehr gut, aber du bist
auch so impulsiv, daß du dich zu beißenden Bemerkungen hinreißen läßt.»
«Ich verstehe... du willst es
nicht wegen Lazarus und Simon...»
«Auch anderer wegen.»
«Denkst du, daß heute solche hier
sein werden?»
«Heute, morgen, übermorgen und
immer. Immer wird es notwendig sein, das Aufbrausen meines Simon des Jonas zu
überwachen. Geh und tue, was ich dir gesagt habe.»
Petrus geht und ruft seine
Gefährten, damit sie ihm helfen.
Judas Iskariot steht in Gedanken
versunken in einer Ecke. Jesus ruft dreimal, aber er hört ihn nicht. Endlich
dreht er sich um: «Brauchst du mich, Meister?» fragt er.
«Ja. Nimm auch du deine Mahlzeit
ein und hilf deinen Gefährten.»
«Ich habe keinen Hunger. Du auch
nicht?»
«Ich auch nicht; aber aus ganz
anderen Gründen. Bist du verwirrt, Judas?»
«Nein, Meister, müde...»
«Wir gehen zum See, Judas, und
dann nach Judäa und zu deiner Mutter. Ich habe es dir versprochen.»
Judas wird wieder lebendig:
«Kommst du wirklich mit mir allein?»
«Aber gewiß. Hab mich lieb,
Judas. Ich wollte, deine Liebe zu mir wäre so groß, daß sie dich vor allem
Bösen bewahrt.»
«Meister... ich bin ein Mensch.
Ich bin kein Engel. Ich habe Augenblicke der Müdigkeit. Ist es Sünde, das
Bedürfnis nach Schlaf zu haben ?»
«Nein, wenn du an meiner Brust
schläfst. Sieh dort die Leute, wie glücklich sie sind, und sieh, wie die
Landschaft hier so heiter ist. Aber es muß im Frühjahr auch in Judäa sehr
schön sein.»
«Wunderschön, Meister! Nur kommt
das Frühjahr im dortigen Gebirge, das höher ist als das hier, etwas später.
Aber es gibt wundervolle Blumen. Die Obstgärten sind eine Pracht. Mein
Obstgarten, den meine Mutter besonders pflegt, ist einer der schönsten; und
wenn sie durch den Garten geht und hinter ihr her die Tauben, die darauf
warten, Körner zu bekommen, dann, glaube mir, ist dies ein Anblick, der dem
Herzen Frieden gibt.»
«Ich glaube es. Wenn meine Mutter
nicht zu müde ist, würde ich sie gerne zu deiner Mutter mitnehmen. Sie würden
einander liebhaben, weil sie zwei gute Seelen sind.»
Judas ist begeistert von dieser
Idee, sein Gesicht erheitert sich, und er vergißt, daß er keinen Hunger hat
und müde ist, und eilt lachend und
327
fröhlich zu den Gefährten.
Hochgewachsen wie er ist, löst er die obersten Knoten des Zeltes ohne Mühe und
ißt dann sein Brot mit den Oliven übermütig wie ein Kind. Jesus betrachtet ihn
eine Weile voller Mitleid und begibt sich dann ebenfalls zu den Aposteln.
«Hier ist Brot, Meister, und ein
Ei. Ich habe es mir von dem Reichen dort im roten Gewande geben lassen. Ich
habe ihm gesagt: "Du hörst ihm zu und bist selig. Er predigt und ist
erschöpft. Gib mir eines von deinen Eiern. Es wird ihm besser bekommen als
dir!"»
«Aber Petrus!»
«Nein, Herr! Du bist bleich wie
ein Säugling an einer Brust ohne Milch, und du wirst dünn wie ein Fisch nach
der Brunst. Laß mich machen! Ich will mir später nichts vorwerfen müssen. Nun
werde ich das Ei in die warme Asche legen; es ist Reisig, das ich verbrannt
habe, und dann wirst du es trinken. Weißt du, daß es schon... wie viele? ...
Wochen sind, daß wir nur Brot, Oliven und einige Kräuter essen und ein wenig
Buttermilch trinken... Hm... Wir machen wohl eine Reinigungskur, und du ißt am
wenigsten von allen und sprichst für alle. Hier ist das Ei. Trink es lauwarm.
Es wird dir guttun.»
Jesus gehorcht, und da er sieht,
daß Petrus nur Brot ißt, fragt er: «Und du? Wo sind die Oliven?»
«Psst... Ich brauche sie nachher.
Ich habe sie versprochen.»
«Wem denn?»
«Einigen Kindern. Wenn sie aber
nicht bis zum Ende schön ruhig sind, dann esse ich die Oliven selber und sie
bekommen die Kerne, nämlich Ohrfeigen.»
«Ah, sehr schön!»
«Nun, ich werde es nicht tun,
aber wenn man es nicht so macht, dann geht es nicht. Ich habe viele Ohrfeigen
bekommen. Wenn sie mir aber für alle meine Bubenstreiche welche gegeben
hätten, dann wären es zehnmal mehr gewesen. Sie haben mir nicht geschadet. Ich
bin so, weil ich sie gekriegt habe.»
Alle lachen über die
Aufrichtigkeit des Apostels.
«Meister, ich möchte dir sagen,
daß heute Freitag ist und diese Leute... ich weiß nicht, ob sie rechtzeitig
Nahrungsmittel für morgen kaufen können und ob sie noch heute nach Hause
gelangen», sagt Bartholomäus.
«Ja, es ist Freitag!» sagen
mehrere zusammen.
«Das macht nichts. Gott wird für
sie sorgen. Aber wir werden es ihnen sagen.»
Jesus erhebt sich und geht zu
seinem neuen Platz, inmitten der Leute, die sich in den Hainen niedergelassen
haben.
«Zuerst möchte ich euch daran
erinnern, daß Freitag ist. Ich sage es, damit alle, die befürchten, nicht mehr
rechtzeitig ihre Häuser zu erreichen oder die nicht glauben können, daß Gott
seinen Kindern morgen zu essen
328
gibt, sofort nach Hause
aufbrechen und nicht unterwegs vom Sonnenuntergang überrascht werden.»
Aus der großen Menge erheben sich
nur etwa fünfzig Personen. Alle anderen bleiben, wo sie sind.
Jesus lächelt und beginnt zu
reden.
«Ihr habt gehört, daß euren
Vätern gesagt wurde: "Ihr sollt nicht ehebrechen." Wer unter euch mich schon
anderswo reden gehört hat, weiß, daß ich öfters über diese Sünde gesprochen
habe. Denn seht: für mich ist dies nicht eine Sünde, die von einer Person
begangen wird, sondern von zwei oder drei Personen. Ich erkläre es euch. Der
Ehebrecher sündigt selbst und er sündigt in der Mitschuldigen seiner Tat.
Ferner sündigt er, da er die betrogene Gattin oder den betrogenen Gatten zur
Sünde treibt, sogar vielleicht bis zur Verzweiflung oder zum Verbrechen. Das
gilt für den begangenen Ehebruch. Ich sage aber noch mehr. Ich sage: "Nicht
nur die begangene Sünde ist Sünde, sondern schon das Verlangen, sie zu
begehen. Was ist der Ehebruch? Er besteht in der fieberhaften Begierde nach
einem Mann oder einer Frau, die uns nicht gehören. Die Sünde beginnt mit der
Begierde; Verführung und Überredung setzen sie fort und vervollständigen sie,
bis sie zuletzt durch die Tat ihren Abschluß findet.
Wie beginnt die Sünde? Meistens
mit einem unreinen Blick, und hier komme ich auf das zurück, was ich schon
gesagt habe. Das unreine Auge sieht, was dem reinen Auge verborgen bleibt, und
durch das unreine Auge dringt das heftige Verlangen in den Kopf, die Begierde
in den Körper und die Leidenschaft ins Blut. Verlangen, Begierde und
Leidenschaft des Fleisches – und so beginnt der Sinnenrausch. Ist die ins Auge
gefaßte Person ehrbar, so bleibt der Berauschte allein und verzehrt sich in
der Glut seiner Leidenschaft; und vielleicht geht er gar so weit, den anderen
aus Rache zu verleumden. Ist die betroffene Person aber ebenfalls unehrbar und
erwidert den Blick, dann beginnt der Abstieg zur Sünde. Daher sage ich euch:
"Wer eine Frau lüstern anblickt, hat mit ihr schon die Ehe gebrochen, denn in
Gedanken hat er seine Begierde bereits in Tat umgesetzt." Wenn dir also dein
rechtes Auge zum Ärgernis wird, so reiß es aus und wirf es von dir, denn es
ist besser für dich, daß dir ein Auge fehlt, als daß du auf ewig in die
höllische Finsternis stürzest. Gibt dir deine rechte Hand Anlaß zur Sünde, so
haue sie ab und wirf sie von dir, denn es ist besser für dich, ein Glied
weniger zu haben, als daß dein ganzer Leib in der Hölle schmachtet. Es heißt
zwar, daß ein Krüppel nicht mehr Diener im Tempel Gottes sein kann. Doch im
Jenseits werden die von Geburt an Mißgestalteten, die ein rechtschaffenes
Leben geführt haben, oder jene, die durch Tugend zum Krüppel geworden sind,
schöner als die Engel sein, und sie werden Gott dienen und ihn in der
Glückseligkeit des Himmels lieben.
Es ist euch auch gesagt worden:
"Wer seine Frau entläßt, gebe ihr einen Scheidebrief", doch ist eine solche
Tat zu verwerfen, da sie nicht dem
329
Willen Gottes entspricht. Gott
sagte zu Adam: "Das ist die Gefährtin, die ich für dich erschaffen habe. Seid
fruchtbar und mehret euch, erfüllet die Erde und machet sie euch untertan."
Adam, der in Vollkommenheit erschaffen wurde und dessen Intelligenz noch nicht
durch die Sünde getrübt war, rief aus: "Das ist nun endlich Bein von meinem
Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Sie wird Mannweib heißen, denn vom Manne
entnommen, ist sie mein anderes Ich. So wird der Mann seinen Vater und seine
Mutter verlassen, und die beiden werden ein Fleisch sein." Mit zunehmendem
Strahlen stimmte das Ewige Licht lächelnd dem Ausspruch Adams zu, der zum
ersten unauslöschlichen Gesetz wurde. Wenn nun der irdische Gesetzgeber wegen
der immer größeren Härte des Menschen ein neues Gesetz schaffen mußte; wenn er
der stets wachsenden Unbeständigkeit Einhalt gebieten und sagen mußte: "Wenn
du sie schon verstoßen hast, dann kannst du sie nicht mehr zurücknehmen", so
setzt dies das erste, authentische im irdischen Paradies entstandene und von
Gott gebilligte Gesetz, nicht außer Kraft.
Ich sage euch: Jeder, der seine
Frau entläßt – ausgenommen im Fall nachgewiesener Unzucht – setzt sie dem
Ehebruch aus. Denn in der Tat, was macht in neunzig Prozent der Fälle die
verstoßene Frau? Sie wird eine neue Ehe eingehen. Mit welchen Folgen? Oh,
wieviel gäbe es hierüber zu sagen! Wißt ihr nicht, daß es dadurch ungewollt zu
einer Blutschande kommen kann? Wie viele Tränen werden vergossen, die ihren
Ursprung in der Unkeuschheit haben! Ja, Unkeuschheit. Einen anderen Namen gibt
es dafür nicht. Seid ehrlich! Alles kann überwunden werden, wenn der Mensch
rechtschaffen ist. Ist er jedoch unzüchtig, dient ihm alles zum Anlaß, um
seiner Fleischeslust zu frönen. Weibliche Gefühlskälte und Schwerfälligkeit,
Unfähigkeit bei der Verrichtung von Hausarbeiten, ein Hang zum Nörgeln, Liebe
zum Luxus – all dies kann überwunden werden, ja selbst Krankheit und
Reizbarkeit, wenn man sich in heiliger Weise liebt. Da man sich jedoch nach
einer gewissen Zeit nicht mehr so sehr liebt wie am ersten Tag, betrachtet man
gleich das durchaus Mögliche als unmöglich und wirft eine Frau einfach hinaus
auf die Straße und ins Verderben.
Wer sie verstößt, begeht
Ehebruch, und wer sie nach der Verstoßung heiratet, begeht Ehebruch. Nur der
Tod scheidet die Ehegatten. Merkt euch dies. Habt ihr eine unglückliche Wahl
getroffen, so tragt die Folgen wie ein Kreuz, lebt als zwei Unglückliche, aber
Gerechte, und laßt es nicht eure Kinder büßen, denn sie sind an allem
unschuldig und leiden am meisten unter diesen unseligen Verhältnissen. Die
Liebe zu den Kindern sollte euch hundert und aberhundert Mal über alles
nachdenken lassen, auch im Fall, daß einer der Ehegatten sterben sollte. Oh,
wenn ihr euch doch mit dem zufriedengäbt, was ihr bekommen habt und wovon Gott
gesagt hat: "Das genügt!" Wenn ihr, Witwen und Witwer, doch im Tode nicht eine
Beeinträchtigung sähet, sondern den Aufstieg zu einer
330
Vervollkommnung in eurer
Eigenschaft als Eltern! Mutter zu sein anstelle der verstorbenen Mutter, Vater
zu sein anstelle des verstorbenen Vaters! Zwei Seelen in einer sein. Die Liebe
des sterbenden Gatten von seinen kalten Lippen hinüberzunehmen für seine
Kinder, um ihm sagen zu können: "Geh in Frieden und fürchte nicht für die, die
aus dir geboren sind. Ich werde sie weiterlieben, sowohl für dich, als auch
für mich, mit zweifacher Liebe, denn ich werde ihnen Vater und Mutter sein.
Das Leid der Waisen wird nicht auf ihnen lasten, und die angeborene kindliche
Eifersucht auf einen, der den ehrenvollen Platz des zu Gott Heimgerufenen
einnimmt, sollen sie nicht kennen."
Kinder, meine Predigt geht zu
Ende, so wie der Tag mit der im Westen untergehenden Sonne zur Neige geht. Ich
möchte, daß ihr euch meiner Worte auf diesem Berge erinnert. Prägt sie in eure
Seelen ein! Denkt oft über sie nach. Sie sollen euch ein ständiger Führer
sein. Vor allem, seid gut zu den Schwachen. Richtet nicht, damit ihr nicht
gerichtet werdet. Denkt daran, daß der Augenblick kommen könnte, da Gott euch
daran erinnert: "So hast du geurteilt, obwohl du wußtest, daß es schlecht war.
Du hast also bewußt gesündigt. Büße nun deine Schuld."
Die Nächstenliebe ist schon eine
Lossprechung. Seid barmherzig zu allen und in allem. Wenn euch Gott immerfort
beisteht, damit ihr rechtschaffene Menschen bleibt, so werdet nicht stolz.
Sucht vielmehr die Leiter der Vollkommenheit emporzusteigen, auch wenn sie
noch so steil ist. Reicht den Müden, den Unwissenden und den Enttäuschten die
Hand. Warum betrachtest du so aufmerksam den Splitter im Auge deines Bruders
und bemühst dich nicht vorher, den Balken aus deinem eigenen zu entfernen? Wie
kannst du zu deinem Nächsten sagen: "Laß mich den Splitter aus deinem Auge
nehmen", wenn der Balken in deinem Auge dich blind macht? Sei nicht
scheinheilig, Sohn! Entferne erst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du
den Splitter bei deinem Bruder entfernen, ohne ihn zu sehr zu verletzen.
Aber wenn ihr nicht lieblos sein
dürft, so dürft ihr doch auch nicht unvorsichtig sein. Ich habe euch gesagt:
Reicht den Müden, den Unwissenden und allen, die Opfer unvorhergesehener
Enttäuschungen wurden, die Hand. Wenn es Nächstenliebe ist, die Unwissenden zu
belehren, die Müden aufzumuntern und den Menschen neue Flügel zu geben, denen
das Leben die Flügel gebrochen hat, so ist es andererseits unklug, den von
Satan Angesteckten die ewigen Wahrheiten zu enthüllen. Denn ihre Absicht ist
es, sich mit diesen Wahrheiten heuchlerisch als Prophet auszugeben, sich bei
den Einfältigen einzuschleichen und in frevelhafter Weise die Sache Gottes
irrezuführen und zu beschmutzen und schließlich zugrunde zu richten. Absolute
Ehrfurcht, das Wissen, wo gesprochen und wo geschwiegen werden soll, die
Fähigkeit zu überlegen und zu handeln: das sind die Tugenden des wahren
Jüngers, um Anhänger zu gewinnen und
331
Gott zu dienen. Ihr habt eine
Vernunft, und wenn ihr in Gerechtigkeit lebt, so wird euch Gott die nötige
Erleuchtung geben und euren Verstand leiten. Denkt daran, daß die ewigen
Wahrheiten Perlen gleichen, und nie hat man gesehen, daß Perlen Schweinen
vorgeworfen wurden, die Eicheln und übelriechenden Abfall den kostbaren Perlen
vorziehen. Erbarmungslos würden sie sie zertreten und danach mit der Wut eines
Betrogenen auf euch losgehen und euch zerreißen. Heiliges darf nicht den
Hunden vorgeworfen werden, weder jetzt, noch jemals.
Vieles habe ich euch gesagt,
meine Kinder! Hört auf meine Worte! Wer sie hört und sie befolgt, gleicht dem
bedächtigen Menschen, der für den Bau seines Hauses einen felsigen Grund
wählte. Gewiß kostete es viel Mühe, das Fundament zu errichten. Er brauchte
Spitzhacke und Stemmeisen, seine Hände bekamen Schwielen und sein Rücken
schmerzte. Doch schließlich konnte er den Mörtel in die Felsspalten gießen und
die Bausteine dicht aneinanderfügen, wie bei einer Festungsmauer. Das Haus
wurde immer größer und stark wie ein Berg. Es kamen Unwetter, Wolkenbrüche,
durch die Regenfälle traten die Flüsse über die Ufer, die Winde heulten und
die Wellen schlugen an das Haus, doch das Haus hielt stand. So ist es auch bei
dem Menschen mit fest gegründetem Glauben. Wer jedoch oberflächlich zuhört und
sich nicht bemüht, meine Worte in sein Herz einzugraben, weil er weiß, daß er
sich zu sehr anstrengen müßte, daß es ihm Schmerzen bereiten würde und er zu
viele tiefsitzende Dinge ausmerzen müßte, der gleicht dem Menschen, der aus
Trägheit und Torheit sein Haus auf Sand baut. Kaum kommen die Unwetter,
zerfällt das rasch erstellte Haus ebenso rasch, und der Törichte betrachtet
untröstlich seine Trümmer und den Ruin seines Vermögens. Hier handelt es sich
nicht nur um eine Ruine, die mit Aufwand und Mühe wieder hergestellt werden
kann. Vielmehr ist hier das nicht tief gegründete Bauwerk des Glaubens
eingestürzt und nichts mehr bleibt, um es wieder aufzubauen. Im jenseitigen
Leben wird nicht mehr aufgebaut. Wehe dem, der dort mit Trümmern erscheint!
Ich habe geendet. Nun will ich
zum See hinuntergehen. Ich segne euch im Namen des dreieinigen Gottes. Mein
Friede sei mit euch!»
Doch die Menschen rufen: «Wir
kommen mit dir! Laß uns mitgehen! Keiner hat Worte wie du!»
Sie machen sich daran, Jesus zu
folgen, der nun auf der dem Anstieg entgegengesetzten Seite hinabsteigt und
die Richtung nach Kapharnaum einschlägt. Der Abstieg ist hier steiler, doch
kürzer, und bald haben sie den Fuß des Berges erreicht, der in eine grüne und
blühende Ebene ausläuft.
332
214. HEILUNG EINES AUSSÄTZIGEN AM
FUSSE DES BERGES
Inmitten der vielen Blumen, die
rundherum ihren Duft verbreiten und das Auge erfreuen, steht das Schreckbild
eines von übelriechenden Geschwüren verunstalteten Aussätzigen.
Die Leute schreien vor Entsetzen
und flüchten bis zu den ersten Hängen des Berges. Jemand greift nach Steinen,
um sie nach dem Unvorsichtigen zu werfen. Doch Jesus wendet sich mit
ausgebreiteten Armen um und ruft: «Friede! Bleibt, wo ihr seid, und habt keine
Angst. Legt die Steine nieder. Habt Mitleid mit dem armen Bruder. Auch er ist
ein Kind Gottes.»
Durch die Macht des Meisters
bezwungen, gehorchen die Menschen und Jesus nähert sich dem Aussätzigen durch
das hohe, blühende Gras bis auf wenige Schritte. Dieser ist seinerseits
nähergekommen, als ihm klar geworden ist, daß Jesus ihn unter seinen Schutz
genommen hat. Vor Jesus angekommen, wirft er sich nieder, und die blühenden
Gräser nehmen ihn auf und benetzen ihn wie frisches, duftendes Wasser. Die
wogenden Blumen schließen sich wieder über ihm, als wollten sie einen Schleier
über das Elend breiten, das sich in ihrer Mitte verborgen hält. Einzig die
Stimme, die wehklagend daraus ertönt, erinnert daran, daß sich hier ein
armseliges Wesen befindet. Er ruft: «Herr, wenn du willst, kannst du mich rein
machen. Habe auch mit mir Erbarmen!»
Jesus antwortet: «Erhebe dein
Angesicht und sieh mich an. Der Mensch muß zum Himmel aufschauen können, wenn
er an ihn glaubt, und du glaubst, da du um Heilung bittest.»
Wieder bewegen sich die Gräser
und ein Kopf taucht auf, wie der eines Schiffbrüchigen im Meer; ein kahler
Kopf, ein Gesicht ohne Bart, ein Totenschädel, an dem noch Reste von Fleisch
hängen. Dennoch wagt Jesus, seine Fingerspitzen auf diese Stirn zu legen, auf
die Stelle, die noch rein und ohne Wunden ist, auf die aschgraue, schuppige
Haut zwischen zwei eiternden Geschwüren, von denen eines die Kopfhaut
zerfressen hat und das andere ein Loch bildet. Dieses große Loch, das von der
Schläfe zur Nase reicht und den Backenknochen und das Nasenbein freilegt, ist
voller Eiter, so daß ich nicht sehen kann, ob der Augapfel noch vorhanden ist
oder nicht.
Während Jesus nun mit der Spitze
seiner schönen Hand die noch unverwundete Stelle berührt, sagt er: «Ich will
es. Sei rein!»
Wie wenn der Mann nicht vom
Aussatz zerfressen und von Wunden bedeckt, sondern nur voller Schmutz wäre und
sich reinigendes Wasser über ihn ergießen würde, so verschwindet der Aussatz
zusehends. Zuerst schließen sich die Wunden, dann wird die Haut rein, das
rechte Auge erscheint unter dem neu gebildeten Augenlid und über den
gelblichen Zähnen schließen sich die nun wieder vorhandenen Lippen. Nur Kopf-
und Barthaar
333
fehlen noch, mit Ausnahme weniger
Haarbüschel an den Stellen, wo es vorher noch gesunde Haut gab.
Die Menge schreit vor Staunen,
und der Mann begreift durch diese Jubelrufe, daß er geheilt sein muß. Er
erhebt die Hände, die bisher noch vom Gras verborgen waren, und greift an sein
Auge, dorthin, wo das große Loch war; er greift an den Kopf, dorthin, wo die
große Wunde den Schädelknochen freigelegt hatte, und er spürt die neue Haut;
schließlich steht er auf und betrachtet auch seine Brust, seine Lenden...
Alles ist gesund und rein... Von Freude überwältigt, sinkt der Mann zu Boden
und weint in der blumigen Wiese.
«Weine nicht! Steh auf und höre
mich an. Kehre gemäß dem gebotenen Ritus ins Leben zurück und sprich mit
niemandem, bevor du der Vorschrift nicht nachgekommen bist. Stelle dich so
bald als möglich dem Priester vor und bringe das von Moses vorgeschriebene
Opfer dar als Zeugnis deiner wunderbaren Heilung.»
«Für dich sollte ich Zeugnis
ablegen, Herr!»
«Du wirst es tun, indem du meine
Lehre liebst. Geh nun!»
Die Menge ist etwas näher
gekommen und beglückwünscht aus gebührender Entfernung den Geheilten. Einige
haben das Bedürfnis, ihm eine Wegzehrung für die Reise zu geben und werfen ihm
Münzen zu. Andere werfen ihm Brote und sonstige Eßwaren zu, und einer, der
gesehen hat, daß sein Gewand nur ein löchriger Fetzen ist, nimmt seinen Mantel
ab, knüpft ihn zusammen wie ein Taschentuch und wirft ihn dem Geheilten zu,
damit er sich in geziemender Weise bedecken kann. Da die Nächstenliebe in der
Gemeinschaft ansteckend wirkt, kann ein anderer Mann es nicht lassen, ihm
seine Sandalen zu schenken. Er zieht sie aus und wirft ihm auch diese zu.
«Aber... und du?» fragt Jesus,
der seine gute Tat sieht.
«Oh, ich bin in der Nähe zu
Hause. Ich kann barfuß gehen. Er hingegen hat einen weiten Weg vor sich.»
«Gott segne dich und alle, die
den Bruder beschenkt haben. Mann, du aber wirst für diese beten!»
«Ja, ja, für sie und für dich,
damit die Welt an dich glaube!»
«Leb wohl! Geh im Frieden.»
Der Mann entfernt sich einige
Meter, dann wendet er sich um und ruft: «Aber dem Priester darf ich sagen, daß
du mich geheilt hast?»
«Das ist nicht notwendig. Sage
nur: "Der Herr hat mir Barmherzigkeit erwiesen." Das ist die ganze Wahrheit,
und mehr braucht es nicht.»
Die Menschen umringen den Meister
und bilden einen Kreis, der sich um keinen Preis öffnen will. Inzwischen ist
die Sonne untergegangen, und die Sabbatruhe hat begonnen. Die Dörfer sind weit
entfernt. Aber die Menschen trauern weder ihrem Zuhause noch dem Essen nach,
nichts. Die Apostel hingegen machen sich deshalb Sorgen und sagen es Jesus.
334
Auch die älteren jünger machen
sich Gedanken. Es sind Frauen und Kinder da, und wenn die Nacht auch warm und
das Gras der Wiesen weich ist, so sind doch die Sterne nicht Brot, und die
Steine des Rains werden nicht zur Nahrung.
Jesus ist der einzige, der sich
nicht beunruhigt. Die Leute essen inzwischen die Reste ihres Vorrats, als ob
nichts wäre. Jesus macht die Seinen darauf aufmerksam: «Wahrlich, ich sage
euch, daß euch diese übertreffen! Seht, mit welcher Unbekümmertheit sie alles
aufbrauchen. Ich habe ihnen gesagt: "Wer nicht glauben kann, daß Gott seinen
Kindern morgen Nahrung gibt, soll nach Hause gehen"; sie sind hiergeblieben.
Gott wird seinen Messias nicht verleugnen und wird die nicht enttäuschen, die
auf ihn hoffen.»
Die Apostel zucken die Schultern
und kümmern sich um nichts mehr.
Der Abend sinkt nach einem
herrlichen Abendrot friedlich und schön hernieder, und die ländliche Stille
breitet sich nach einem letzten Gesang der Vögel über alles aus. Einige
leichte Windstöße, und dann der erste lautlose Flug eines Nachtvogels,
zusammen mit dem ersten Stern und dem ersten Quaken eines Frosches.
Die Kinder schlafen schon. Die
Erwachsenen reden noch miteinander, und ab und zu geht jemand zum Meister, um
irgendeine Erklärung zu erbitten. So ist man nicht erstaunt, als auf einem
Feldweg zwischen zwei Getreidefeldern ein Mann von stattlichem Aussehen
daherkommt, sowohl was sein Gewand als auch sein Alter anbelangt. Es folgen
ihm einige Männer. Alle wenden sich um und machen einander flüsternd auf die
Neuankömmlinge aufmerksam. Das Geflüster geht von einer Gruppe zur anderen,
sich bald neu erhebend und bald verstummend, und die entfernteren Gruppen
kommen, von Neugier getrieben, näher.
Der Mann mit dem vornehmen
Aussehen hat nun Jesus erreicht, der unter einem Baume sitzt und einigen
Männern zuhört: er grüßt ihn mit einer tiefen Verneigung. Jesus erhebt sich
sogleich und antwortet mit gleichem Respekt. Die Anwesenden betrachten alles
sehr aufmerksam.
«Ich war auf dem Berge, und du
hast vielleicht gedacht, ich hätte keinen Glauben und wäre aus Angst vor dem
Fasten weggegangen. Doch es gab einen anderen Grund. Ich wollte Bruder unter
Brüdern sein, der ältere Bruder. Ich möchte unter vier Augen mit dir über
meinen Gedanken sprechen. Willst du mich anhören? Obwohl ich Schriftgelehrter
bin, bin ich nicht dein Feind.»
«Laß uns etwas abseits gehen...»
Sie begeben sich zwischen die Getreidefelder.
«Ich wollte nur für die Nahrung
der Pilger sorgen und bin hinuntergegangen, um anzuordnen, daß Brot für eine
große Menge Leute gebacken wird. Du siehst, daß ich mich im gesetzlich
erlaubten Bereich befinde, da diese Felder mir gehören, und so darf ich den
Weg von hier bis zum Gipfel
335
am Sabbat gehen. Da ich weiß, daß
du dich mit den Leuten hier befindest, würde ich morgen mit den Dienern
hierher kommen. Ich bitte dich deshalb, mir zu gestatten, die Menge am Sabbat
mit Brot zu versorgen. Anderenfalls wäre ich sehr darüber betrübt, vergeblich
auf deine Worte verzichtet zu haben.»
«Vergeblich niemals, denn der
Vater hätte dich dafür mit seinem Licht belohnt. Doch ich danke dir und
enttäusche dich nicht. Ich mache dich nur darauf aufmerksam, daß es eine große
Menschenmenge ist.»
«Ich habe alle Backöfen heizen
lassen, auch jene, die zum Dörren von Lebensmitteln verwendet werden, und so
werde ich Brot für alle haben.»
«Ich meine nicht deswegen,
sondern wegen der großen Menge Brot ...»
«Oh, das macht mir nichts aus. Im
vorigen Jahr hatte ich sehr viel Korn. Dieses Jahr kannst du dich selbst
überzeugen, wie prächtig die Ähren stehen. Laß mich nur machen. Es bietet die
beste Sicherheit für meine Felder. Übrigens, Meister... Du hast mir heute ein
solch köstliches Brot gegeben... Wahrlich, du bist das Brot der Seele! ...»
«Es geschehe also nach deinem
Wunsche. Komm, wir wollen es den Pilgern sagen.»
«Nein. Du hast gesagt, daß Gott
sorgen wird.»
«Und du bist Schriftgelehrter ?»
«Ja, das bin ich.»
«Der Herr möge dich führen, wie
dein Herz es verdient.»
«Ich verstehe, was du nicht
aussprichst. Du meinst zur Wahrheit. Denn bei uns gibt es viele Irrtümer
und... und viel Übelwollen.»
«Wer bist du?»
«Ein Sohn Gottes. Bitte beim
Vater für mich. Leb wohl.»
«Der Friede sei mit dir!»
Jesus kehrt langsam zu den Seinen
zurück, während der Mann sich mit seinen Dienern entfernt.
«Wer war das? Was wollte er? Hat
er etwas Unangenehmes zu dir gesagt? Hat er Kranke?»
Jesus wird mit Fragen bestürmt.
«Wer er ist, weiß ich nicht. Aber
wer immer er auch sein mag, ich weiß, daß es eine gute Seele ist, und dies ist
mir...»
«Es ist Johannes, der
Schriftgelehrte», sagt jemand aus dem Volk.
«Nun gut. Jetzt weiß ich es, da
du es sagst. Er wollte ganz einfach Diener Gottes sein und Gutes tun für seine
Kinder. Betet für ihn, denn morgen werden wir alle durch seine Güte zu essen
haben.»
«Er ist wahrlich ein Gerechter»,
sagt ein Mann.
«Ja; aber ich weiß wirklich
nicht, wie er ein Freund der anderen sein kann...», bemerkt ein anderer.
«Er ist wie ein Neugeborener, in
Skrupel und Vorschriften eingepackt... doch er ist nicht schlecht», fügt ein
dritter hinzu.
336
«Sind das hier seine Felder?»
fragen mehrere, die nicht aus der Gegend sind.
«Ja. Ich nehme an, daß der
Aussätzige vielleicht einer seiner Diener oder Pächter war, aber er duldete
seine Nähe und ich vermute, daß er ihm auch zu essen gab.»
Jesus entzieht sich all diesen
Bemerkungen, ruft seine zwölf Apostel zu sich und fragt: «Was soll ich nun zu
eurer Ungläubigkeit sagen? Hat der Vater nicht Brot für uns alle in die Hände
eines Menschen gelegt, der mir durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Gesellschaftsschicht sogar feindlich gesinnt sein müßte. Oh, ihr
kleingläubigen Menschen! ... Geht ins weiche Heu und schlaft. Ich will den
Vater bitten, er möge euch die Herzen öffnen, und ihm für seine Güte danken.
Der Friede sei mit euch!»
Dann begibt sich Jesus zu den
langsam ansteigenden Hängen des Berges. Dort setzt er sich nieder und sammelt
sich im Gebet. Er erhebt die Augen zum Himmel und erblickt das Meer der
Sterne, die den Himmel bedecken und, den Blick senkend, die vielen Menschen,
die auf den Wiesen schlafen. Nichts anderes. Doch die Freude, die er im Herzen
verspürt, ist so groß, daß er wie zu Licht geworden und ganz verklärt
scheint...
215. AM SABBAT NACH DER
BERGPREDIGT AM FUSSE DES BERGES
Jesus ist während der Nacht
wieder ein Stück weit den Berg hinaufgestiegen und man sieht ihn im Morgenrot
auf einem Felsvorsprung stehen. Petrus, der ihn zuerst entdeckt, macht die
anderen Apostel auf ihn aufmerksam und so steigen sie zu ihm hinauf.
«Meister, warum bist du nicht mit
uns gekommen?» fragen einige.
«Ich mußte beten.»
«Aber du hast es auch sehr nötig,
dich auszuruhen.»
«Freunde, in der Nacht hat eine
Stimme vom Himmel mich aufgefordert, für die Guten und die Bösen, und auch für
mich selber zu beten.»
«Warum? Hast du das denn nötig?»
«Wie die anderen. Ich schöpfe
meine Kraft aus dem Gebet und meine Freude aus der Erfüllung des Willens des
Vaters. Der Vater hat mir zwei Namen genannt und von einem Schmerz, der mich
treffen wird, gesprochen. Es geht um drei Dinge, die des Gebetes sehr
bedürfen.» Jesus ist sehr traurig und schaut seine Apostel mit flehenden und
fragenden Augen an. Sein Blick wandert von einem Jünger zum anderen und
verweilt dann bei Judas Iskariot.
Der Apostel bemerkt es und fragt:
«Warum schaust du mich so an?»
«Ich sah nicht dich. Mein Auge
betrachtete etwas anderes...»
337
«Und das wäre?»
«Das Wesen des Jüngers. Alles
Gute und alles Schlechte, das ein Jünger geben kann, das er für seinen Meister
tun kann. Ich dachte an die Jünger der Propheten und an jene des Johannes, und
ich dachte an meine eigenen. Ich betete für Johannes, für die Jünger und für
mich...»
«Du bist heute morgen traurig und
müde, Meister. Sage denen, die dich lieben, deinen Kummer», ermuntert ihn
Jakobus des Zebedäus.
«Ja, sag es, und wenn wir dir
irgendwie eine Erleichterung verschaffen können, dann werden wir es tun...»,
sagt der Vetter Judas.
Petrus spricht mit Bartholomäus
und Philippus, doch ich verstehe nicht, was sie sagen.
Jesus antwortet: «Gut sein,
bemüht euch, gut und treu zu sein. Das ist Erleichterung. Etwas anderes gibt
es nicht, Petrus, hast du verstanden. Laßt alle Mutmaßungen beiseite. Liebt
mich und liebt euch gegenseitig. Laßt euch nicht von jenen, die mich hassen,
verleiten, und liebt es vor allem, den Willen Gottes zu erfüllen.»
«Aber, wenn alles davon abhängt,
dann sind auch unsere Fehler Gottes Wille!» ruft Thomas mit philosophischer
Miene aus.
«Das meinst du, aber es ist nicht
so. Nun sind viele Leute aufgewacht und schauen zu uns herauf. Laßt uns
hinabsteigen und den heiligen Tag mit dem Wort Gottes heiligen.»
Sie steigen den Berg hinab,
während immer mehr Menschen erwachen Die Kinder, fröhlich wie Spatzen, rennen
und springen zwitschernd und schwatzend in den taunassen Wiesen umher, was
hier und dort einen Klaps und Tränen zur Folge hat. Doch dann eilen die Kinder
zu Jesus, der sie liebkost und dabei sein Lächeln wiederfindet als ob sich in
ihm diese unschuldige Fröhlichkeit widerspiegelte. Ein kleines Mädchen will
ihm einen Blumenstrauß, den es auf den Wiesen gepflückt hat, in den Gürtel
stecken, "denn das Kleid ist so schöner", sagt es. Jesus läßt es geschehen,
obgleich die Apostel dagegen murren, und sagt: «Aber, freut euch doch, daß sie
mich lieben! Der Tau reinigt die Blumen vom Staub, die Liebe der Kinder nimmt
von meinem Herzen die Traurigkeit.»
Gleichzeitig mit Jesus, der vom
Berg herunterkommt, trifft auch Johannes, der Schriftgelehrte, von zu Hause
mit vielen Dienern bei der Menge ein. Beladen mit Körben voller Brote, Oliven,
kleinen Käsen und einem Lämmlein oder Ziegenböcklein, das für den Meister
gebraten wurde, kommen sie an und legen ihm alles zu Füßen. Jesus übernimmt
die Verteilung selbst, indem er jedem ein Brot und ein Stück Käse mit einer
Handvoll Oliven überreicht. Einer Mutter aber, die noch einen rundlichen
Säugling an der Brust hat, der schon seine ersten Zähnchen zeigt und lacht,
gibt er mit dem Brot noch ein Stück des gebratenen Lammes, und so macht er es
auch mit zwei oder drei anderen, die in ihm den Eindruck erwecken, daß sie
einer besonderen Stärkung bedürfen.
338
«Aber es ist für dich bestimmt»,
sagt der Schriftgelehrte.
«Ich werde davon kosten, keine
Sorge. Aber wenn ich weiß, daß deine Güte vielen gilt, dann wird es mir um so
mehr munden.»
Die Verteilung ist beendet und
die Leute knabbern an ihrem Brot, behalten aber etwas davon für später zurück.
Jesus trinkt ein wenig Milch, die ihm der Schriftgelehrte aus einer
Feldflasche, ähnlich einem Krüglein, in eine kostbare Schale gegossen hat.
«Du mußt mir jedoch die Freude
machen, dir zuhören zu dürfen», sagt Johannes, der Schriftgelehrte, der von
Hermas sehr ehrerbietig und von Stefanus noch respektvoller begrüßt worden
ist.
«Ich verweigere es dir nicht.
Komm und bleib hier, mir gegenüber!»Jesus, den Rücken dem Berg zugewandt,
beginnt zu reden.
«Der Wille Gottes hat uns an
diesem Ort zurückgehalten, denn, den eingeschlagenen Weg noch weiter zu gehen
hätte bedeutet, die Gebote zu übertreten und Ärgernis zu geben; und dies darf
nie geschehen, bis einmal der Neue Bund Gültigkeit haben wird. Es ist richtig,
die Feiertage zu heiligen und den Herrn an den Stätten des Gebetes zu loben.
Doch die ganze Schöpfung kann zur Stätte des Gebetes werden, wenn das Geschöpf
seinen Geist zum Vater erhebt.
So war auch die Arche Noahs
während der Sintflut eine Stätte des Gebetes, so der Bauch des Walfisches für
Jonas, das Haus des Pharao, als Joseph dort lebte, und das Zelt des
Holophernes durch die keusche Judith. War denn der lasterhafte Ort, an dem der
Prophet Daniel als Sklave lebte, dem Herrn nicht gerade deshalb heilig, weil
ihn sein Diener durch seine Heiligkeit dem Herrn wohlgefällig machte: eine
Heiligkeit, die ihn würdig werden ließ, als Prophet die Weissagung über
Christus und den Antichrist zu verkünden, die als Schlüssel für die heutige
Zeit und für die Letztzeit dienen soll? Mit wieviel größerem Recht ist also
dieser Ort heilig, der mit seinen Farben, seinen Düften, der reinen Luft, den
reichen Getreidefeldern und den Tauperlen von Gott, dem Vater und Schöpfer,
kündet und uns sagt: "Ich glaube. Möget daher auch ihr glauben, denn wir legen
Zeugnis ab für Gott." So soll uns Gottes Natur an diesem Sabbat die Synagoge
sein, wo uns Blumenkelche und Getreideähren diese immerwährenden Worte
verstehen lassen und wo uns die Sonne als heiliger Leuchter dient.
Ich habe euch Daniel zitiert. Ich
habe euch gesagt: "Dieser Ort soll unsere Synagoge sein." Daher erinnere ich
an das freudige "Loblied der Schöpfung" der drei heiligen Jünglinge in den
Flammen des Feuerofens: Himmel und Wasser, Tau und Rauhreif, Eis und Schnee,
Feuer und Hitze, Licht und Finsternis, Blitze und Wolken, Berge und Hügel,
alles, was da keimt und sprießt, alle Vögel, Fische und alles Getier, lobet
und preiset den Herrn mit den Menschen, die ein demütiges und reines Herz
haben. Das ist die Zusammenfassung dieses heiligen, für die Demütigen und
339
Gerechten so lehrreichen Hymnus.
Beten und uns den Himmel verdienen können wir an jedem Ort. Wir werden seiner
würdig, wenn wir den Willen des Vaters tun. Am frühen Morgen hat jemand
bemerkt, daß, wenn alles vom Willen Gottes abhängt, auch die menschlichen
Fehler sein Wille sind. Das ist jedoch ein Irrtum, und zwar ein
weitverbreiteter. Kann ein Vater wollen, daß das Verhalten seines Kindes zum
Tadel Anlaß gibt? Nein, das ist nicht möglich. Trotzdem können wir auch in den
Familien beobachten, wie einige Kinder das Mißfallen ihrer Eltern erregen,
obwohl sie einen gerechten Vater haben, der sie lehrt, das Gute zu tun und das
Böse zu meiden. Kein rechtdenkender Mensch wird deshalb den Vater
beschuldigen, er hätte sein Kind zum Bösen angehalten.
Gott ist der Vater. Die Menschen
sind die Kinder. Gott weist auf das Gute hin und sagt: "Ich versetze dich zu
deinem Wohle in diese Lebenslage." Oder auch, wenn der Böse und seine
menschlichen Helfer dem Menschen Schaden zufügen und ihn ins Unglück stürzen,
sagt Gott: "In dieser schmerzlichen Stunde mußt du nun so handeln, dann wird
dir das Leid zum ewigen Heil dienen." Gott gibt Ratschläge, aber er zwingt
euch nie. Wenn nun jemand, obwohl er den Willen Gottes kennt, es vorzieht, das
Gegenteil zu tun, kann man dann noch sagen, daß dieser Ungehorsam der Wille
Gottes sei? Man kann es nicht!
Liebet den Willen Gottes. Liebet
ihn mehr als euren eigenen und befolgt ihn trotz der verführerischen und
machtvollen Kräfte der Welt, des Fleisches und des Dämons, die ebenso ihre
Forderungen stellen. Doch in Wahrheit sage ich euch, daß jeder, der sich ihnen
beugt, ein wahrhaft Unglücklicher ist. Ihr nennt mich "Messias" und "Herr".
Ihr sagt, daß ihr mich liebt und jubelt mir zu. Ihr folgt mir, und allem
Anschein nach liebt ihr mich. Aber in Wahrheit sage ich euch: nicht alle von
euch werden mit mir ins Himmelreich eingehen. Auch unter meinen ersten und mir
am nächsten stehenden Jüngern werden solche sein, die dort nicht eingehen
werden, denn viele werden ihren Willen oder den Willen des Fleisches, der Welt
und des Dämons tun, doch nicht den meines Vaters.
Nicht, wer zu mir sagt: "Herr,
Herr" ' wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters
tut. Nur diese werden in das Reich Gottes eingehen. Der Tag wird kommen, an
dem ich, der ich zu euch spreche, nicht mehr Hirte, sondern Richter sein
werde. Laßt euch nicht von meinem jetzigen Verhalten verleiten. Zur Zeit
sammelt mein Hirtenstab alle zerstreuten Seelen, und er ist sanft und lädt
euch ein, zu den Weiden der Wahrheit zu kommen. Dann aber wird der Hirtenstab
durch das Zepter des Richter-Königs ersetzt werden, und meine Macht wird eine
ganz andere sein. Nicht mit Sanftheit, sondern mit unerbittlicher
Gerechtigkeit werde ich dann die Schafe, die sich von der Wahrheit genährt
haben, von jenen trennen, die Wahrheit mit Irrtum vermischt oder sich nur vom
Irrtum genährt haben.
340
Ein erstes und ein zweites Mal
werde ich dies tun. Wehe denen, die sich zwischen ihrem ersten und zweiten
Erscheinen (dem einzelnen Gericht und dem Endgericht) vor dem Richter nicht
gereinigt haben; sie werden sich nicht mehr von ihren Giften des Bösen
reinigen können. Die dritte Kategorie wird sich nie reinigen können; keine
Strafe kann sie reinwaschen. Sie haben nur den Irrtum gewollt, und im Irrtum
sollen sie verbleiben. Unter ihnen werden viele sein, die dann jammernd zu mir
sagen: "Aber Herr, warum? Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, Dämonen
ausgetrieben und viele Wunder gewirkt?"
Dann werde ich ihnen klar und
deutlich sagen: "Ja, ihr habt es gewagt, euch meines Namens zu bedienen, um
als etwas aufzutreten, was ihr nicht seid. Ihr wolltet mit eurem Satanismus
ein Leben in Jesus vortäuschen.' Doch die Früchte eurer Werke klagen euch an.
Wo sind eure Geretteten? Wo haben sich eure Prophezeiungen erfüllt? Was war
das Ergebnis eurer Exorzismen? Wer stand bei euren Wundern Pate? Oh, wohl ist
mein Feind mächtig, aber er übertrifft mich nicht. Er hat euch geholfen,
jedoch um seine Beute zu vergrößern, und durch euer Wirken hat sich der Kreis
der den Irrlehren Verfallenen erweitert. Ja, ihr habt Wunder vollbracht und
scheinbar größere als die wahren Diener Gottes, die nicht mit Gauklerkünsten
das Volk verwirren, sondern die Engel durch ihre Demut und ihren Gehorsam in
Erstaunen versetzen. Jene, meine wahren Diener, schaffen mit ihren Opfern
keine Trugbilder, sondern verbannen sie vielmehr aus den Herzen. Meine wahren
Diener drängen sich den Menschen nicht auf, sondern zeigen den Seelen der
Menschen Gott den Herrn. Sie tun nichts anderes als den Willen Gottes und sie
bringen auch andere dazu, den Willen Gottes zu erfülllen – so wie die Woge die
vorangehende vorwärts treibt und die nachkommende mitzieht – ohne sich dabei
in den Vordergrund zu stellen und auszurufen: "Seht doch!" Meine wahren Diener
tun, was ich sage, und hegen nur den einen Gedanken: meinen Willen zu
erfüllen; und ihre Werke tragen mein untrügliches Merkmal des Friedens, der
Sanftmut, der Ordnung. Daher kann ich euch sagen: diese sind meine Diener,
euch hingegen kenne ich nicht. Weichet von mir alle, die ihr Werke der Bosheit
vollbracht habt."
Dies werde ich alsdann über jene
aussprechen, und es wird ein furchtbares Urteil sein. Sorgt dafür, daß ihr
diesen Richterspruch nicht verdient und geht den sicheren, wenn auch
mühevollen Weg des Gehorsams der Herrlichkeit des Himmelreiches entgegen.
Genießt nun eure Sabbatruhe und lobt Gott von ganzem Herzen. Der Friede sei
mit euch allen!»
Jesus segnet die Menschen, bevor
sie sich auf der Suche nach Schatten
Das richtet sich besonders an die
Förderer von Geheimwissenschaften und die Mitglieder antichristlicher Sekten
usw., also gegen jene, die gegen das erste Gebot gesündigt haben.
341
zerstreuen. In den vielen
Gruppen, die sich bilden, unterhält man sich über die eben gehörten Worte.
Bei Jesus verbleiben die Apostel
und der Schriftgelehrte Johannes, der nicht spricht, sondern in tiefe
Betrachtung versunken Jesus in allen seinen Bewegungen beobachtet.
Die Bergpredigt ist zu Ende.
216. DER DIENER DES CENTURIO WIRD
GEHEILT
Von den Feldern kommend, betritt
Jesus Kapharnaum. Es begleiten ihn nur die zwölf, besser die elf Apostel, denn
Johannes ist nicht unter ihnen. Wie immer grüßen die Leute, und dies mit einem
je nach der Person verschiedenen Ausdruck, von der Einfachheit der Kinder bis
zur Schüchternheit der Frauen, von der Begeisterung der Geheilten bis zu den
Neugierigen oder Ironischen. Von allen etwas.
Jesus erwidert jeden Gruß, je
nachdem, wie er begrüßt wurde. Die Kinder begrüßt er mit Liebkosungen, die
Frauen mit seinem Segen, die Geheilten mit einem Lächeln und die anderen in
tiefer Ehrerbietung. Doch diesmal schließt sich auch der Centurio des Ortes,
wie ich vermute, der Reihe der Grüßenden an mit seinem: «Salve, Meister!»
worauf Jesus antwortet: «Gott komme zu dir!»
Der Römer geht auf Jesus zu,
während die Leute sich neugierig nähern, um zu sehen, wie die Begegnung
verläuft. «Seit mehreren Tagen warte ich auf dich. Du erkennst in mir nicht
den Zuhörer auf dem Berg, denn ich war bürgerlich. Fragst du mich nicht, warum
ich dort war?»
«Ich frage dich nicht. Was willst
du von mir?»
«Der Befehl lautet, alle zu
beobachten, die Ansammlungen verursachen, denn zu oft mußte Rom sich später
eingestehen, einen Fehler gemacht zu haben, indem es Versammlungen duldete,
die nach außen harmlos erschienen. Doch während ich mich umgesehen und
umgehört hatte, besann ich mich auf dich, wie auch auf... wie auch auf... Ich
habe einen kranken Diener, Herr. Er liegt in meinem Haus auf seinem Lager,
gelähmt infolge einer Knochenkrankheit, und leidet schreckliche Qualen. Unsere
Ärzte können ihn nicht heilen, und eure Heilkundigen, die ich darum gebeten
habe, weigern sich zu kommen. Es ist ein Leiden, das man sich in der
ungesunden Luft dieser Gegend zuzieht, und ihr könnt es heilen mit Kräutern
von den seichten Flußufern, wo sich das Wasser staut, bevor es vom Meer
aufgenommen wird. Es schmerzt mich sehr, denn es ist ein treuer Diener!»
«Ich werde kommen und ihn
heilen.»
«Nein Herr, so viel verlange ich
nicht. Ich bin ein Heide und somit
342
unrein für euch. Wenn die
hebräischen Ärzte fürchten, sich zu verunreinigen, wenn sie ihren Fuß in mein
Haus setzen, so gilt das um so mehr für dich, der du göttlich bist. Ich bin
nicht würdig, daß du unter mein Dach eingehst, doch wenn du von hier aus ein
einziges Wort sprichst, dann wird mein Diener gesund, denn du gebietest allem
was existiert. Wenn ich nun als Mensch, der vielen unterstellt ist, allen
voran Caesar, und nach deren Wille sich mein Denken, Tun und Handeln zu
richten hat, meinerseits den unter meinem Kommando stehenden Soldaten befehlen
kann, indem ich einem sage "Geh" dem anderen "Komm" und dem Diener "Tu dies"
dann geht der eine: wohin ich ihn geschickt habe, der andere kommt, weil ich
ihn rufe und der dritte führt meinen Befehl aus; dann wird die Krankheit dir,
der du der Herrscher über alles bist, unverzüglich gehorchen und vom Menschen
weichen.»
«Die Krankheit ist kein
Mensch...», entgegnet Jesus.
«Auch du bist kein Mensch,
sondern der Gott-Mensch. Du kannst daher auch den Elementen und dem Fieber
gebieten, denn alles untersteht deiner Macht.»
Einige angesehene Bürger von
Kapharnaum nehmen Jesus beiseite und sagen ihm: «Er ist zwar ein Römer, doch
erhöre seine Bitte, denn er ist ein redlicher Mensch, der uns achtet und uns
hilft. Bedenke, daß gerade er es war, der uns die Synagoge erbauen ließ, und
er verlangt, daß seine Soldaten uns achten, daß sie uns an den Sabbattagen
nicht verspotten. Erweise ihm daher deiner Stadt zuliebe die Gnade, damit
Enttäuschung und Ärger seine Geneigtheit nicht in Haß verwandeln.»
Jesus, der nun diese und jenen
angehört hat, wendet sich lächelnd an den Centurio und sagt: «Geh voraus, ich
werde nachkommen.»
Doch der Centurio wiederholt noch
einmal: «Nein, Herr! Ich habe es dir schon gesagt, es wäre eine große Ehre für
mich, dich unter meinem Dach zu haben, doch ich bin dessen nicht würdig.
Sprich nur ein Wort, und mein Knecht wird gesund!»
«So sei es denn. Geh und habe
Vertrauen. In diesem Augenblick wird ihn das Fieber verlassen und das Leben in
seine Glieder zurückkehren. Lebe so, daß auch in deine Seele das Leben
einkehre. Geh nun.»
Der Centurio grüßt militärisch,
verneigt sich und geht.
Jesus sieht ihm nach. Schließlich
wendet er sich an die Anwesenden und sagt: «Wahrlich, ich sage euch, einen
solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden. Oh, wie wahr ist es doch:
"Das Volk, das in der Finsternis wandelte, schaute ein großes Licht. Über den
Bewohnern des Landes, das in Todesschatten lag, ist das Licht aufgegangen",
und weiter: "Unter seinem aufgerichteten Banner wird der Messias die Völker
vereinigen. Oh, mein Reich! Wahrlich, in ungeheurer Zahl werden sie zu dir
strömen! Zahlreicher als alle Kamele und Dromedare von Madian und Epha und die
Gold- und Weihrauchträger von Saba; zahlreicher als die Herden
343
von Kedar und die Widder von
Nebajot werden jene sein, die zu dir kommen werden, und mein Herz wird sich
vor Freude weiten, wenn ich die Völker des Meeres und die Mächte der Nationen
zu mir kommen sehe. Die Inseln warten darauf, mir zu huldigen, und die Söhne
der Fremden werden die Mauern meiner Kirche errichten, deren Tore stets offen
stehen werden, um die Könige und das Heer der Völker aufzunehmen und sie in
mir zu heiligen. Was Jesaja gesehen hat, wird sich erfüllen. Ich sage euch,
viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im
Himmelreich wohnen, während die Kinder des Reiches in die äußerste Finsternis
geworfen werden, wo Heulen und Zähneknirschen sein wird.»
«Du prophezeist also, daß die
Heiden den Söhnen Abrahams ebenbürtig sein werden?»
«Nicht ebenbürtig: sie werden sie
übertreffen. Das soll euch nicht mißfallen, denn es ist eure eigene Schuld.
Nicht ich, sondern die Propheten sagen es, und die Zeichen deuten schon darauf
hin. Nun soll einer von euch zum Hause des Zenturio gehen, um festzustellen,
ob sein Diener geheilt ist, wie es der Glaube des Römers verdient hat. Kommt,
vielleicht sind im Hause Kranke, die auf mich warten.»
Jesus geht zum Hause, in dem er
üblicherweise während seines Aufenthaltes in Kapharnaum wohnt. Die Apostel und
einige andere folgen ihm; die meisten jedoch begeben sich neugierig und
lärmend zum Hause des Zenturio.
217. «LASS DIE TOTEN IHRE TOTEN
BEGRABEN!»
Ich sehe Jesus, der sich mit
seinen elf Aposteln zum Ufer des Sees begibt. Johannes fehlt immer noch. Die
Leute drängen sich um ihn. Unter ihnen erkenne ich viele, die auf dem Berge
waren, hauptsächlich Männer, die ihm nach Kapharnaum gefolgt sind, um noch
mehr von seinen Predigten zu hören. Sie möchten ihn zurückhalten, doch er
sagt: «Ich gehöre allen, und es sind viele, die meiner bedürfen. Ich werde
wiederkommen und ihr werdet mich hier wieder treffen, doch jetzt laßt mich
gehen.» Nur mühsam vermag er sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die
sich durch das schmale Gäßlein drängt. Die Apostel, hierüber verärgert,
arbeiten mit den Ellbogen, um ihm Platz zu schaffen. Doch es ist, als ob sie
in eine weiche Masse schlagen würden, so schnell schließt sich jede Lücke
wieder. Sie werden auch ärgerlich, doch es nützt nichts.
Schon sind sie in Sichtweite des
Ufers, als ein Mann mittleren Alters und vornehmen Aussehens, der sich mühsam
bis zum Meister durchgekämpft hat, diesen an der Schulter berührt, um seine
Aufmerksamkeit
344
auf sich zu lenken. Jesus dreht
sich um, bleibt stehen und fragt: «Was willst du?»
«Ich bin Schriftgelehrter. Doch
deine Worte sind nicht zu vergleichen mit dem, was in unseren Geboten
enthalten ist, und sie haben mich erobert, Meister! Ich verlasse dich nicht
mehr. Ich werde dir folgen, wohin du auch gehen magst. Welches ist dein Weg?»
«Jener zum Himmel.»
«Ich meine nicht diesen. Ich
frage dich, wohin du gehst. In welchen Häusern wirst du dich nach diesem hier
aufhalten, damit ich dich jederzeit erreichen kann?»
«Die Füchse haben ihre Höhlen und
die Vögel ihre Nester, doch der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt
hinlegen könnte. Mein Haus ist die Welt, überall dort, wo es Menschen zu
belehren, wo es Unglückliche aufzurichten und Sünder zu erlösen gibt.»
«Überall also!»
«So ist es. Könntest du,
Gelehrter Israels, tun, was diese Geringsten aus Liebe zu mir tun? Das
erfordert Opfer und Gehorsam, Liebe zu allen und die Fähigkeit, sich allem und
allen anzupassen, denn durch Herablassung gewinnt man die Herzen. Im Himmel
wird es einst Reinheit geben, doch hier befinden wir uns noch im Schlamm; und
diesem Schlamm, auf den wir unsern Fuß setzen, müssen wir die schon
eingesunkenen Opfer entreißen. Wir dürfen nicht einfach unsere Gewänder raffen
und zurückweichen, dort wo der Schlamm besonders hoch ist. Die Reinheit muß in
uns sein. Wir müssen so sehr von ihr erfüllt sein, daß nichts Unreines mehr in
uns eindringen kann. Kannst du dies alles?»
«Laß es mich wenigstens
versuchen.»
«Versuche es. Ich werde beten,
daß du dazu fähig wirst.»
Jesus geht weiter, und seine
Aufmerksamkeit richtet sich auf zwei Augen, die ihn betrachten. Es ist ein
hochgewachsener, kräftiger Jüngling, der stehengeblieben war, um den Zug
vorbei zu lassen. Es scheint, daß sein Weg in eine andere Richtung führt, aber
Jesus wendet sich an ihn und sagt: «Folge mir!»
Der Jüngling fährt zusammen,
erblaßt und seine Lider zucken wie durch ein Licht geblendet. Nach Antwort
ringend öffnet er den Mund und sagt endlich: «Ich werde dir nachfolgen, aber
laß mich vorerst meinen Vater zu Grabe tragen, der in Chorazim gestorben ist.
Laß mich dies noch tun und dann werde ich kommen.»
«Folge mir! Laß die Toten ihre
Toten begraben. Du bist schon vom "Leben" in den Bann gezogen und hast es auch
gewünscht. Weine nicht wegen der Leere, mit der das "Leben" dich umgeben hat,
um dich als Jünger zu gewinnen. Aus den verlorenen Zuneigungen wachsen dem nun
umgewandelten Menschen die Flügel, um in den Dienst der Wahrheit Gottes zu
treten. Laß der Verwesung ihren Lauf. Erhebe dich zum Reich, wo es
345
keine Auflösung gibt. Dort wirst
du auch die unverwesliche Perle deines Vaters finden. Gott ruft und geht
vorüber. Morgen schon würdest du den Mut dazu nicht mehr finden und die
Einladung Gottes käme nicht mehr. Geh und verkünde das Reich Gottes.»
Der Mann lehnt an einer Mauer; an
seinen Armen hängen Taschen, die gewiß mit wohlriechenden Kräutern und Binden
gefüllt sind; mit gesenktem Haupte denkt er nach, unentschlossen, im Zwiespalt
zwischen Gottesliebe und Liebe zum Vater.
Jesus wartet und betrachtet ihn.
Schließlich nimmt er ein Knäblein und sagt zu ihm: «Bete mit mir: "Ich preise
dich, o Vater, und flehe um dein Licht für jene, die im Dunkel des Lebens
weinen. Ich preise dich, o Vater, und flehe um deine Kraft für alle, die in
ihrer kindlichen Hilflosigkeit deines Beistandes bedürfen. Ich preise dich, o
Vater, und flehe um deine Liebe, damit du all jene, die nicht glauben können,
daß in dir jegliches Glück im Himmel und auf Erden zu finden ist, alles
vergessen läßt, was nicht du bist."» Das unschuldige, etwa vierjährige
Knäblein, wiederholt mit seinem kleinen Stimmchen die heiligen Worte. Es hat
die Händchen zum Gebet gefaltet, lehnt das Köpfchen an die rechte Schulter
Jesu, der es an den rundlichen Handgelenken hält, als wären es zwei
Blütenstengel.
Der Mann entscheidet sich. Er
gibt seine Bündel einem Gefährten und geht auf Jesus zu, der das Kind wieder
auf den Boden stellt und es segnet. Jesus legt seinen Arm auf die Schulter des
Jünglings und setzt so und ihn ermutigend seinen Weg fort.
Ein anderer Mann gesteht ihm:
«Auch ich möchte wie er mit dir kommen, doch vorher möchte ich mich von meinen
Angehörigen verabschieden. Erlaubst du es mir?»
Jesus blickt ihn fest an und
antwortet: «Zu tief bist du in deiner Menschlichkeit verwurzelt. Reiße diese
Wurzeln aus, und wenn es dir nicht gelingt, dann haue sie aus. Zum Dienste
Gottes kommt man in geistiger Freiheit und keine behindernden Bande dürfen
dieser Hingabe im Wege stehen.»
«Aber Herr, Fleisch und Blut
bleiben immer Fleisch und Blut! Ich werde langsam zur Freiheit gelangen, von
der du sprichst...»
«Nein, du würdest es nicht tun.
Gott ist ebenso anspruchsvoll, wie er unendlich großmütig im Belohnen ist.
Wenn du Jünger sein willst, mußt du das Kreuz umfangen und mir folgen; sonst
gehört man zu der Schar der einfachen Gläubigen. Der Weg des Dieners Gottes
ist nicht ein Weg auf Rosenblättern und seine Forderungen sind absolut.
Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat, um die Felder der Herzen zu
pflügen und den Samen der Lehre Gottes auszuwerfen, darf sich umwenden und
betrachten, was er zurückgelassen und was er verloren hat, was er auf dem
gewöhnlichen Weg gewonnen hätte. Wer so handelt, taugt nicht für das Reich
Gottes. Arbeite an dir, bereite dich vor; und dann komm, aber nicht jetzt.»
346
Das Ufer ist erreicht. Jesus
besteigt das Boot des Petrus, dem er einige Worte zuflüstert. Ich sehe, daß
Jesus lächelt, und Petrus macht eine Gebärde des Erstaunens. Aber er sagt
nichts. Es steigt auch der Mann mit ein, der darauf verzichtet hat, seinen
Vater zu begraben, um Jesus nachzufolgen.
218. DAS GLEICHNIS VOM SÄMANN
Jesus zeigt mir den Lauf des
Jordan oder vielmehr dessen Mündung in den See von Tiberias, wo die Stadt
Bethsaida am rechten Flußufer liegt, und erklärt: «Jetzt liegt die Stadt nicht
mehr am Seeufer, sondern eher landeinwärts. Das verwirrt die Wissenschaftler.
Die Erklärung liegt in der schon zwanzig Jahrhunderte andauernden Versandung
des Sees auf dieser Seite durch Erdablagerungen, Anschwemmungen und Erdrutsche
von den Hügeln Bethsaidas. Früher lag die Stadt unmittelbar an der Mündung des
Flusses in den See, und die Boote fuhren während der wasserreichen
Jahreszeiten fast bis auf die Höhe von Chorazim hinauf. Die Flußufer dienten
den Booten von Bethsaida an stürrnischen Tagen als Hafen und Zufluchtsort.
Diese Erklärungen sind nicht für dich bestimmt, da dir wenig daran liegt,
sondern für die Wissenschaftler, die alles in Zweifel ziehen. Fahre nun fort.»
Jesus und seine Apostel haben die
kurze Strecke, die Kapharnaum von Bethsaida trennt, mit den Booten
zurückgelegt und gehen in dieser Stadt an Land. Andere sind ihnen mit ihren
Booten nachgefolgt, und viele steigen aus und schließen sich den Leuten von
Bethsaida an, die gekommen sind, um den Meister zu begrüßen. Jesus begibt sich
ins Haus des Petrus, wo... jetzt auch wieder seine Frau ist, die, wie ich
annehme, die Einsamkeit den ständigen Klagen ihrer Mutter vorzieht.
Die Leute draußen rufen laut nach
dem Meister, was Petrus nicht wenig ärgert. Er steigt auf die Tcrrasse und
ermahnt alle Bewohner von Bethsaida und alle Fremden, sich anständig und
respektvoll zu benehmen. Da nun sein Meister bei ihm zu Hause ist, möchte er
ihn ein wenig in Frieden genießen, aber er findet nicht einmal Zeit, ihm von
den vielen Dingen, die er seine Frau vorzusetzen geheißen hat, wenigstens
etwas Honigwasser anzubieten.
Jesus betrachtet ihn lächelnd,
schüttelt das Haupt und sagt: «Es scheint beinahe, als würden wir uns nie
sehen und es wäre ein Zufall, daß wir einmal beisammen sind!»
«Aber es ist doch so! Wenn wir in
der Welt umherziehen, sind wir dann allein? Nicht im Traum! Zwischen dir und
mir liegt eine ganze Welt mit ihren Kranken, ihren Betrübten, Zuhörern,
Neugierigen, Verleumdern, Feinden... aber du und ich, das gibt es nie. Hier
bist du bei mir, in meinem Hause, und das sollten sie verstehen!» Petrus ist
wirklich erregt.
«Aber ich sehe keinen
Unterschied, Simon. Meine Liebe ist dieselbe, mein Wort dasselbe, ob ich es
dir persönlich oder ob ich es allen sage. Ist es nicht so?»
347
Petrus bekennt nun seine große
Sorge: «Ich bin doch so ein Dummkopf und lasse mich leicht ablenken. Wenn du
auf einem Platz, auf einem Berg, zu vielen Menschen sprichst – ich weiß nicht
warum – dann verstehe ich alles, und doch erinnere ich mich nachher an nichts
mehr. Ich sagte es auch meinen Gefährten und sie haben mir recht gegeben. Die
anderen, ich will sagen, die Leute, die dich anhören, verstehen dich und
erinnern sich an das, was du gesagt hast. Wie oft haben wir doch gehört, wie
jemand erklärte: "Ich habe dies nicht mehr getan, weil du es gesagt hast",
oder "Ich bin gekommen, weil ich einmal von jemand einen Ausspruch von dir
gehört habe, der mich betroffen gemacht hat." Bei uns hingegen... o ja! ...
ist es wie ein Fluß, der immerfort fließt. Das Ufer vermag ihn nicht
aufzuhalten und das Wasser entschwindet. Gewiß, ununterbrochen fließt Neues
nach in Fülle, doch es fließt weiter und entflieht. Mit Schrecken denke ich an
jenen Augenblick, von dem du sagst, daß er kommt, wo du nicht mehr da sein
wirst, wie das Wasser des Flusses... und ich... wo werde ich für den
Dürstenden schöpfen können, wenn ich nicht einmal einen Tropfen von dem, was
du uns gibst, bewahren kann?»
Auch die anderen stimmen Petrus
bei und beklagen sich, daß sie sich nie an alles Gehörte erinnern können, wenn
sie darauf zurückgreifen möchten, um die vielen Fragen der Leute zu
beantworten.
Jesus lächelt und antwortet: «Das
scheint mir aber nicht so. Die Leute sind sehr zufrieden, auch mit euch...»
«O ja, mit dem, was wir tun! Dir
einen Weg bahnen mit unsern Ellbogen, Kranke tragen, Almosen sammeln und den
Leuten antworten: "Ja, das dort ist der Meister." Wahrlich, großartig!»
«Setze dich nicht zu sehr herab,
Simon.»
«Ich setze mich nicht herab, ich
kenne mich.»
«Die Selbsterkenntnis ist die
schwierigste der Tugenden. Doch, ich will diese große Angst von dir nehmen.
Wenn ihr von meinen Predigten nicht alles verstehen oder im Gedächtnis
behalten könnt, dann fragt, ohne Furcht mir lästig zu fallen oder mich dadurch
zu entmutigen. Es gibt immer Stunden, da wir unter uns sind. Dann öffnet mir
euer Herz. Ich gebe vielen vieles, und was gäbe ich nicht euch, die ich euch
liebe, wie Gott euch nicht mehr zu lieben vermöchte. Du hast von der Welle
gesprochen, die fließt, ohne daß von ihr am Ufer etwas zurückbleibt. Der Tag
wird kommen, da du erkennst, daß jede Welle einen Samen zurückgelassen hat,
und daß aus jedem Samenkorn eine Pflanze geworden ist. Du wirst Blumen und
Pflanzen für jeden einzelnen Fall zu deiner Verfügung haben, und du wirst dich
über dich selbst wundern und fragen: "Was hat der Herr in mir nur bewirkt?"
Denn du wirst dann von der Knechtschaft der Sünde erlöst sein und deine
jetzigen Tugenden werden zu erhabener Vollkommenheit gelangt sein.»
«Du sagst es, Herr, und dein Wort
gibt mir Ruhe.»
348
«Nun wollen wir zu all den
Menschen gehen, die auf uns warten. Kommt! Der Friede sei mit dir, Frau. Ich
werde heute abend dein Gast sein.»
Sie gehen hinaus und Jesus begibt
sich zum See, um nicht von der Menge erdrückt zu werden. Petrus entfernt sich
mit dem Boot einige Meter vom Ufer, so daß alle die Stimme Jesu hören können
und dennoch ein gewisser Abstand zwischen ihm und den Zuhörern bleibt.
«Auf dem Wege von Kapharnaum nach
hier habe ich mir überlegt, über welches Thema ich zu euch sprechen könnte.
Die Begebenheiten von heute morgen haben es mich finden lassen...
Ihr habt gesehen, daß drei Männer
zu mir gekommen sind. Der eine von sich aus, der andere, weil ich ihn dazu
ermuntert habe, und der dritte aus plötzlicher Begeisterung. Ihr habt gesehen,
daß ich nur zwei von ihnen erwählt habe. Warum? Habe ich vielleicht im Dritten
einen Verräter gesehen? Nein, gewiß nicht, aber er war nicht vorbereitet. Dem
Anschein nach war der Mann, der zum Begräbnis seines Vaters gehen wollte und
nun hier an meiner Seite steht, noch weniger vorbereitet. Der Dritte aber war
es am wenigsten. Dagegen war dieser hier, ohne es selbst zu wissen, so gut
vorbereitet , daß er sogar ein heldenhaftes Opfer zu bringen vermochte. Der
Heldenmut, Gott nachzufolgen, ist immer Beweis einer gründlichen seelischen
Vorbereitung. Dies erklärt gewisse überraschende Vorfälle, die sich in meiner
Umgebung ereignen. Jene, die am besten vorbereitet sind, Christus zu empfangen
– welches auch ihr Stand oder ihre Bildung sein mag – kommen mit absoluter
Bereitschaft und einem unerschütterlichen Glauben zu mir. Die weniger
Vorbereiteten sehen in mir einen ungewöhnlichen Menschen, oder sie erforschen
mich mit Argwohn und Neugierde, oder sie greifen mich sogar an und verleumden
mich durch vielfältige Beschuldigungen. Die Verschiedenartigkeit ihres
Handelns steht im Verhältnis zur mangelhaften Vorbereitung ihrer Seele.
Im auserwählten Volke müßte man
überall Seelen finden, die bereit sind, den Messias aufzunehmen, in dessen
Erwartung sich Patriarchen und Propheten in Sehnsucht verzehrt haben; den
Messias, der endlich gekommen ist, und dessen Ankunft von allen prophetischen
Zeichen eingeleitet und begleitet wurde; diesen Messias, dessen geistige
Persönlichkeit sich immer deutlicher abzuzeichnen beginnt, durch alle
sichtbaren Wunder am menschlichen Leib und an den Elementen und durch die
unsichtbaren Wunder, die den Menschen zur Einsicht und Bekehrung bringen, und
an den Heiden, die sich dem wahren Gott zuwenden. Es ist aber nicht so. Die
Bereitschaft, dem Messias nachzufolgen, stößt gerade bei den Angehörigen
dieses Volkes auf starke Hindernisse, und es schmerzt sagen zu müssen, daß sie
umso größer sind, je höher ihre gesellschaftliche Stellung ist. Ich sage dies
nicht, um euch zu verletzen, sondern um euch zum Gebet und zum Nachdenken
anzuregen. Warum geschieht dies? Warum sind es
349
die Heiden und Sünder, die viel
eher auf meinem Weg vorwärtskommen? Warum nehmen sie an, was ich sage, und die
anderen nicht? Weil die Kinder Israels wie Perlmuscheln verankert, ja
verkrustet sind mit den Bänken, auf denen sie geboren wurden. Sie sind satt,
übersatt von ihrer Weisheit und können der meinen keinen Platz schaffen, indem
sie das Überflüssige wegwerfen, um das Notwendige aufzunehmen. Die anderen
kennen diese Knechtschaft nicht. Es sind arme Heiden oder arme Sünder, die wie
vom Anker gerissene Schiffe umhertreiben; es sind arme Menschen, die keine
eigenen Schätze besitzen und die sich freudig trennen von der Bürde ihrer
Irrtümer und Sünden, sobald es ihnen gelingt, die Frohe Botschaft zu
begreifen. Sie spüren die Kraft dieses süßen Honigs, der so verschieden ist
vom ekelhaften Gemisch ihrer Sünden.
Hört also zu, vielleicht werdet
ihr dann besser verstehen, wie ein und dasselbe Werk verschiedene Früchte
hervorbringen kann.
Ein Sämann ging aus, um zu säen.
Er hatte viele Äcker von verschiedener Beschaffenheit. Einige hatte er vom
Vater geerbt, auf denen infolge seiner Nachlässigkeit dorniges Gestrüpp zu
wuchern begann. Andere hatte er selbst von einem gleichgültigen Bauern
hinzugekauft und sie in demselben Zustand gelassen, in dem er sie vorgefunden
hatte. Durch weitere Felder verliefen Wege, denn der Mann war sehr bequem und
zog es vor, querfeldein zu gehen, anstatt lange Umwege von einem Ort zum
anderen zu machen. Schließlich gab es noch die, die seinem Haus am nächsten
lagen, und ihnen schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit, um von seiner Wohnung
aus einen angenehmen Ausblick zu haben. Da gab es kein Geröll, keine
Dornenbüsche, kein Unkraut.
Der Mann nahm also seinen Sack
mit Körnern des besten Getreides und begann mit der Aussaat. Der Same fiel auf
das weiche, gepflügte, gesäuberte, gedüngte Erdreich der Felder bei seinem
Hause. Er fiel auf die von Wegen und Weglein durchzogenen Felder, die diese
Äcker nicht nur zerstückelten, sondern zusätzlich für Schmutz und trockenen
Staub sorgten. Andere Saat fiel auf die Felder, auf denen wegen der
Nachlässigkeit des Besitzers das dornige Gestrüpp wucherte. Der Pflug hatte es
wohl untergepflügt und es schien, daß nichts mehr davon übriggeblieben war;
doch in Wirklichkeit hätte nur die radikale Ausrottung durch Feuer ein neues
Treiben der Wurzeln verhindern können. Der Same, den er zum Schluß ausstreute,
fiel auf die zuletzt erworbenen Felder, die er in ihrem ursprünglichen Zustand
gelassen hatte. Er hatte das Erdreich nicht bis in die Tiefe aufgelockert. Er
hatte auch nicht die Steine unter der Erde entfernt, die den Boden hart
machten und die jedes Wurzelfassen der zarten Pflänzchen verhinderten. Nachdem
er allen Samen ausgesät hatte, ging er nach Hause und sagte: "Wohlan, nun
brauche ich nur die Zeit der Ernte abzuwarten." Er freute sich, denn im Laufe
der Monate sah er die Saat nahe bei seinem Hause dicht hervorsprießen und
wachsen. "Oh, welch ein
350
weicher Teppich!... und dann eine
Woge von Ähren... wie ein Meer! Das Getreide wurde gelb: welch eine Freude
erwartete ihn, Ähre um Ähre zu dreschen und dabei der Sonne ein Loblied zu
singen. Der Mann sagte: "So wie diese Felder werden alle anderen sein! Halten
wir Sicheln und Scheunen bereit. Wieviel Brot! Wieviel Gold!" Und er war
glückselig.
Er mähte das Korn der
nächstgelegenen Felder und ging dann zu den vom Vater ererbten, die er hatte
verwildern lassen. Dort blieb er wie erstarrt stehen. Halm um Halm war
gewachsen, denn das Erdreich war gut und fruchtbar und vom Vater immer
bearbeitet worden. Doch gerade diese Fruchtbarkeit war auch den
Dornensträucher zugutegekommen, die wohl umgegraben, aber nicht völlig
ausgemerzt waren. So hatten sie von neuem Wurzeln getrieben und nur wenige
Ähren vermochten das Dickicht der Sträucher zu durchdringen, während alle
anderen erstickten und zugrunde gingen.
Der Mann sagte: "Hier habe ich
nachlässig gehandelt. Doch in den übrigen Äckern gibt es keine
Dornensträucher, und dort wird es besser sein." Er ging zu den zuletzt
erworbenen. Sein Erstaunen wandelte sich in Schrecken. Dünn und ausgetrocknet
lagen die Halme wie Heu am Boden. Stroh! "Aber warum, warum?" jammerte der
Mann. "Hier sind doch keine Dornensträucher! Der Same war derselbe! Er ist
aufgegangen, man sieht es an den zahlreichen und gut entwickelten Halmen.
Warum ist nun alles zugrunde gegangen, ohne Ähren anzusetzen?" In seinem
Kummer begann er die Erde aufzugraben, um nach Maulwurfsnestern oder anderen
Schädlingen zu suchen. Es gab jedoch weder Ungeziefer noch Nagetiere, hingegen
Steine, so viele Steine! Nichts als Steine! Der Boden bestand buchstäblich aus
Steinen und das spärliche Erdreich darüber täuschte. Oh, hätte er doch die
Erde rechtzeitig gründlich gepflügt. Oh, hätte er doch tief in die Erde
gegraben, bevor er die Felder übernommen und sie als gute Äcker gekauft hatte.
Aber nachdem er den Fehler begangen und die Felder gekauft hatte, ohne zuvor
ihre Güte zu prüfen, hätte er sie dann doch wenigstens mit seiner Hände Arbeit
fruchtbar gemacht! Jetzt war es zu spät, und das Jammern nützte nichts.
Entmutigt erhob sich der Mann und
ging zu den aus Bequemlichkeit von vielen Wegen durchzogenen Feldern. Dort
angelangt zerriß er sich vor Gram die Kleider. Hier gab es nichts, gar
nichts... Die dunkle Ackererde war mit einer dünnen Schicht weißen Staubes
bedeckt... Der Mann sank zu Boden und stöhnte: "Aber hier, warum? Hier gibt es
weder Dornensträucher noch Steine, denn es sind ja unsere Felder. Seit
Jahrzehnten sind sie in unserem Besitz: von den Ahnen gingen sie auf den Vater
über und schließlich auf mich, und wir haben sie fruchtbar gemacht. Gewiß habe
ich Wege anlegen lassen, dem Land Ackerboden weggenommen, aber das konnte es
doch nicht so unfruchtbar werden lassen..." Er weinte immer noch, als die
Antwort auf seinen Kummer von einem dichten
351
Schwarm Vögel kam, die von den
Fußwegen gierig über die Äcker herfielen und von diesen auf die Fußwege
zurückkehrten, um Samenkörner und Samenkörner und immer wieder Samenkörner zu
suchen. Das Feld mit seinem ganzen Netz von Sträßchen und Wegen, auf deren
Ränder auch Samenkörner gefallen waren, hatte viele Vögel angelockt, und
nachdem sie die Körner auf den Wegen aufgepickt hatten, flogen sie zum Acker
und fraßen alles bis zum letzten Körnchen.
So hatte das Saatgut, das für
alle Felder gleich war, hier hundertfachen, dort sechzigfachen, da
dreißigfachen und auf dem letzten Feld gar keinen Ertrag gebracht. Wer Ohren
hat zu hören, der höre!
Der Same ist das Wort, und es ist
für alle das gleiche. Der Ort, auf den der Same fällt, ist euer Herz. Ein
jeder begreife und lasse es in sich Früchte tragen! Der Friede sei mit euch!»
Dann wendet Jesus sich an Petrus
und sagt: «Fahre flußaufwärts soweit du kannst, und lege auf der anderen Seite
an.»
Während die beiden Boote nach
kurzer Fahrt auf dem Fluß am Ufer anlegen, setzt sich Jesus nieder und fragt
den neuen Jünger: «Wer ist jetzt bei dir noch zu Hause?»
«Meine Mutter mit meinem älteren
Bruder, der seit fünf Jahren verheiratet ist. Die Schwestern sind in der
Umgebung verstreut. Mein Vater war ein herzensguter Mensch, und meine Mutter
trauert und kann sich nicht trösten.» Der Jüngling wird plötzlich still, denn
er fühlt aus seinem Herzen ein Schluchzen aufsteigen.
Jesus ergreift seine Hand und
sagt: «Auch ich habe diesen Schmerz erfahren und meine Mutter weinen sehen
müssen, daher verstehe ich dich.»
Das Knirschen des auf den Kies
auffahrenden Bootes unterbricht das Gespräch, und man steigt an Land. Hier
sind nicht mehr die sanften Hügel von Bethsaida, die beinahe im See
untertauchen, sondern eine Ebene mit vielen Getreidefeldern dehnt sich von
diesem, Bethsaida gegenüberliegenden Ufer nach Norden hin aus.
«Gehen wir nach Meron?» fragt
Petrus
«Nein, wir gehen diesen Weg durch
die Felder.»
Die schönen, wohlgepflegten
Felder zeigen zarte, doch schon gebildete Ähren, die alle gleich hoch sind und
im frischen Nordwind wogen. Sie bilden etwas wie einen weiteren kleinen See,
und die hier und dort herausragenden Bäume, aus denen frohes Vogelgezwitscher
ertönt, sind die Segelschiffe darauf.
«Diese Felder sind nicht wie die
deines Gleichnisses», bemerkt Vetter Jakobus.
«Nein, wirklich nicht. Die Vögel
haben sie nicht verwüstet und es gibt weder Dornengebüsch noch Steine. Ein
schönes Getreide! In einem Monat wird es golden sein... und in zwei Monaten
erntereif und bereit für die Scheune», sagt Judas Iskariot.
352
«Meister... ich erinnere dich an
das, was du in meinem Hause gesagt hast. Du hast sehr gut gesprochen. Aber
mein Kopf ist schon wieder durcheinander, fast wie die zerzausten Wolken dort
oben...», sagt Petrus.
«Heute abend werde ich es dir
erklären. Wir kommen nun nach Chorazim.» Jesus blickt den neuen Jünger fest an
und sagt: «Wer gibt, dem wird gegeben, und daß ihm gegeben wird, schmälert den
Wert seines Opfers nicht. Führe mich zu eurer Grabstätte und zum Hause deiner
Mutter.»
Der Jüngling kniet nieder und
ergreift unter Tränen Jesu Hand, um sie zu küssen.
«Erhebe dich, wir wollen gehen!
Meine Seele hat deinen Schmerz gefühlt. Ich will dich mit meiner Liebe in
deiner Heldenhaftigkeit stärken.»
«Isaak, der Erwachsene, hatte mir
erzählt, wie gut du bist. Isaak, weißt du? Du hast seine Tochter geheilt. Er
war mein Apostel. Doch ich sehe, daß deine Güte noch größer ist, als sie mir
geschildert worden war.»
«So wollen wir auch Isaak
besuchen und ihn begrüßen und ihm dafür danken, daß er mir einen Jünger
geschenkt hat.»
Chorazim ist erreicht, und Isaaks
Haus ist gleich das erste am Anfang des Dorfes. Der alte Mann, der eben nach
Hause zurückkehrt, bleibt mit offenem Mund sprachlos stehen, als er Jesus mit
den Seinen und unter ihnen den jungen Mann von Chorazim kommen sieht. Sein
Stöckchen in der Hand, erhebt er grüßend seine Arme. Jesus lächelt ihm zu und
dieses Lächeln gibt dem alten Mann schließlich die Sprache zurück. «Gott segne
dich, Meister! Aber wie geschieht mir eine solche Ehre?»
«Um dir Dank zu sagen.»
«Aber wofür denn, mein Gott? An
mir liegt es, dir Dank zu sagen. Komm herein, komm herein! Oh, wie schade, daß
meine Tochter auswärts ist, um ihrer Schwiegermutter zu helfen. Weißt du, daß
sie geheiratet hat ? Nichts als Wohltaten, seitdem ich dir begegnet bin! Kaum
war sie geheilt, kam ein reicher Verwandter von weit her zurück, als Witwer
mit Kindern, die eine Mutter brauchten... Aber ich hatte dir doch dies alles
schon erzählt. Mein Kopf ist alt, verzeih mir!»
«Dein Kopf ist weise und vergißt
sogar, sich der Dinge zu rühmen, die er für seinen Meister tut. Die
vollbrachten guten Taten vergessen, bedeutet Weisheit; es ist ein Beweis der
Demut und des Vertrauens in Gott!»
«Oh, aber ich... wüßte nicht...»
«Habe ich diesen Jüngling nicht
dir zu verdanken?»
«Oh! ... aber ich habe nichts
dazu getan, weißt du? Ich habe nur die Wahrheit gesagt und freue mich, daß
Elias bei dir ist.» Er wendet sich Elias zu und sagt: «Die Tränen deiner
Mutter sind sofort versiegt, als sie erfuhr, daß du beim Meister bist. Dein
Vater hatte eine würdige Bestattung. Er ist vor kurzem begraben worden.»
«Und mein Bruder?»
353
«Er schweigt... Weißt du, es ist
hart für ihn gewesen, daß du nicht hier warst... Im Dorf spricht man darüber,
und dein Bruder hat noch...»
Der Jüngling wendet sich an
Jesus: «Du hast es gesagt. Aber ich möchte nicht, daß er dem Tod
anheimfällt... Mache, daß er das Leben finde wie ich es gefunden habe, und
rufe ihn in deinen Dienst.»
Die anderen verstehen nicht und
blicken sich fragend an, doch Jesus antwortet: «Verzage nicht und bleibe
standhaft.» Dann segnet er Isaak und geht, ungeachtet allen Drängens.
Zuerst verweilen sie bei dem
verschlossenen Grab und beten. Dann gehen sie durch einen halbkahlen Weinberg
zum Hause des Elias.
Die Begegnung zwischen den
Brüdern ist eher zurückhaltend. Der ältere fühlt sich beleidigt und will dies
zu verstehen geben. Der jüngere fühlt sich, menschlich gesprochen, schuldig
und schweigt. Doch die Ankunft der Mutter, die wortlos niederkniet und den
Saum des Kleides Jesu küßt, bringt Frieden in die Atmosphäre und die Gemüter
heitern sich auf. Man will dem Meister doch Ehre erweisen. Er nimmt jedoch
nichts an, sondern sagt nur: «Seid gerecht in euren Herzen, einer dem anderen
gegenüber, wie jener gerecht war, um den ihr trauert. Übermenschliches – d.h.
die Berufung zu einer Mission – darf nicht auf eine Stufe mit dem Menschlichen
gestellt, also dem Tod gleichgestellt werden. Die Seele des Gerechten war
nicht erzürnt, als sie sah, daß der Sohn bei der Beisetzung seines Leichnams
nicht zugegen war. Sie hat sich vielmehr beruhigt in der Gewißheit über die
Zukunft ihres Elias. Was die Welt denkt, soll für die Gnade der Erwählung kein
Hindernis sein. Während die Welt sich gewundert hat, den Sohn nicht an der
Bahre des Vaters zu sehen, haben die Engel gejubelt, ihn an der Seite des
Messias zu erblicken. Seid gerecht. Dir, Mutter, möge dies zum Trost
gereichen. In Weisheit hast du deinen Sohn erzogen, und nun ist der Ruf der
Weisheit Gottes an ihn ergangen. Ich segne euch alle. Der Friede sei jetzt und
allezeit mit euch!»
Sie gehen auf den Weg zurück zum
Fluß und von dort fahren sie wieder nach Bethsaida. Elias hat nicht einen
Augenblick auf der Schwelle des Vaterhauses gezögert. Nach dem Abschiedskuß
der Mutter ist er mit dem Meister gegangen mit der Einfalt eines Kindes, das
seinem wahren Vater nachfolgt.
354
219. IN DER KÜCHE DES PETRUS;
BELEHRUNG JESU UND ANKÜNDIGUNG DER GEFANGENNAHME DES TÄUFERS
Man befindet sich wieder in der
Küche des Petrus. Das Abendessen muß reichlich gewesen sein, denn die Platten
mit Resten von Fleisch, Fisch, Käse, getrockneten oder zum mindesten trocken
gewordenen Früchten und Honigkuchen häufen sich auf einer Art Anrichte, die
mich ein wenig an unsere toskanischen Backtröge erinnert. Krüge und Becher
stehen noch auf dem Tisch herum.
Die Frau des Petrus muß Wunder
vollbracht haben, um ihren Mann zufriedenzustellen; sie hat gewiß den ganzen
Tag gearbeitet. Nun steht sie müde, aber zufrieden in einem Winkel und hört
den Gesprächen ihres Mannes und der anderen zu. Sie blickt ihren Simon an, der
für sie ein großer Mann sein muß, obgleich er etwas anspruchsvoll ist. Wenn
sie ihn, der früher nur von Booten, Netzen, Fischen und Geld redete, so
sprechen hört, mit Worten, die aus diesem Mund neu und ungewohnt sind, dann
blinzelt sie ein wenig mit den Augenlidern, als ob sie von einem hellen Licht
geblendet würde. Petrus, ob aus Freude, Jesus an seinem Tische zu haben, oder
aus Freude über die reichlich genossene Mahlzeit, ist diesen Abend in
Hochstimmung und er zeigt sich als jener Petrus, der einmal dem Volk predigen
wird.
Ich weiß nicht, welche Bemerkung
eines Gefährten ihm die bildkräftige Antwort entlockt hat: «Es wird ihnen
ergehen wie den Erbauern des Turmes von Babel. Ihr eigener Stolz wird
schließlich zum Zusammenbruch ihrer Theorien führen, und damit zu ihrem
Untergang.»
Andreas entgegnet seinem Bruder:
«Aber Gott ist Barmherzigkeit. Er wird den Zusammenbruch verhindern, um ihnen
Zeit zu lassen, in sich zu gehen.»
«Denke nicht so. Als Krönung
ihres Stolzes werden Verleumdung und Verfolgung hinzukommen. Oh, ich ahne es
schon. Verfolgen werden sie uns, um uns als verhaßte Zeugen
auseinanderzutreiben. Da sie heimtückisch die Wahrheit angreifen werden, wird
Gott Rache nehmen, und sie werden zugrunde gehen.»
«Werden wir die Kraft haben
durchzuhalten?» fragt Thomas.
«Nun... was mich betrifft, ich
hätte sie nicht. Aber ich vertraue auf ihn», und Petrus deutet auf den
Meister, der schweigend zuhört und mit geneigtem Haupte neben ihnen steht, als
wolle er sein ausdrucksvolles Gesicht verbergen.
«Ich denke nicht, daß Gott
Prüfungen über uns kommen läßt, die unsere Kraft übersteigen», sagt Matthäus.
«Oder er wird unsere Kräfte im
Verhältnis zu den Prüfungen vermehren», fügt Jakobus des Alphäus hinzu.
355
«Er tut es gewiß. Ich war reich
und mächtig. Hätte Gott mein Leben nicht erhalten wollen, weil er bestimmte
Absichten verfolgte, wäre ich an der Verzweiflung zugrunde gegangen, als ich
verfolgt wurde und aussätzig war. Ich hätte selbst Hand an mich gelegt... Aber
bei meinem vollständigen Zusammenbruch wurde mir ein neuer Reichtum geschenkt,
den ich nie zuvor besessen hatte, nämlich die Gewißheit: "Es gibt einen Gott."
Vorher... Gott... Ja, ich war gläubig, ich war ein treuer Israelit, aber es
war ein Glaube der sich auf Formalitäten beschränkt und mir schien, daß der
Gewinn daraus immer geringer war, als der, der mir die Übung der Tugenden
hätte erbringen können. Ich erlaubte mir, mit Gott zu hadern, weil ich mir
damals noch etwas auf meine Person einbildete. Simon Petrus hat recht. Auch
ich baute mir mit Eigenlob, Selbstbeweihräucherung und der Befriedigung meines
Ichs einen Turm zu Babel. Als dann alles über mir zusammenbrach und ich wie
ein Wurm unter der Last dieser nutzlosen Menschlichkeit erdrückt wurde, klagte
ich nicht mehr Gott, sondern mich selbst, meine eigene Torheit an und begann,
alles niederzureißen. Je mehr ich dies tat und auf dem Weg war zu dem, was ich
unter dem uns Menschen dieser Erde innewohnenden Gott verstehe, um so mehr
gewann ich eine neue Kraft und einen neuen Reichtum: die Gewißheit, daß ich
nicht allein war und daß Gott über dem von seiner menschlichen Natur und vom
Bösen bezwungenen Menschen wacht.»'
«Was ist deiner Meinung nach
Gott, wenn du als Mensch dieser Erde von dem in uns "innewohnenden Gott"
sprichst? Was willst du damit sagen? Ich verstehe dich nicht, und dies kommt
mir fast wie eine Gotteslästerung vor. Gott ist der, den wir durch das Gesetz
und die Propheten kennen. Einen anderen gibt es nicht», sagt Judas Iskariot
etwas streng.
«Wenn Johannes hier wäre, könnte
er es dir besser erklären als ich. Aber ich sage es dir so, wie ich es weiß.
Gott ist der, den wir durch das Gesetz und die Propheten kennen. Das ist wahr.
Aber woran erkennen wir ihn und wie?
Judas des Alphäus ruft aus:
«Wenig und schlecht! Die Propheten, die ihn uns beschrieben haben, kannten ihn
noch. Wir hingegen haben eine verworrene Vorstellung von ihm, die durch den
ganzen Berg von Hindernissen, die die Sekten angehäuft haben, noch schwach
durchschimmert ...»
' Anmerkung: Auf diese Weise
schuf er in sich die Leere, die Gott mit seinen Erleuchtungen erfüllen konnte.
Von ihm fiel der "Glaube des Formalismus", und es erwachte der wahre Glaube in
ihm, jener so mächtige Glaube, der die wahren Gläubigen über das Sein des
höchsten Wesens erleuchtet, durch alles was in uns und um uns ist: Alle Werke
der Schöpfung werden dann zum wahrhaftigen Zeugnis für ihren Schöpfer. Die
menschliche Intelligenz erlangt eine übermenschliche Kraft, die sie befähigt,
Gottes heiligste Worte zu vermehren und seine heiligsten Taten, die er in uns
und um uns vollbringt, zu sehen. Das ist der wahre Glaube, die Teilnahme am
allgegenwärtigen und allmächtigen Gott.
356
«Sekten? Aber wie redest du denn?
Wir haben keine Sekten. Wir sind die Kinder des Gesetzes. Alle!» sagt Judas
Iskariot entrüstet und aggressiv.
«Die Kinder der Gesetze, nicht
des Gesetzes. Es besteht ein kleiner Unterschied zwischen Einzahl und
Mehrzahl. Aber in Wirklichkeit stehen die Dinge so: wir sind Kinder dessen,
was wir an Gesetzen geschaffen haben, und nicht mehr dessen, was Gott uns
gegeben hat», entgegnet Judas Thaddäus.
«Die Gesetze sind aus dem Gesetz
hervorgegangen», behauptet Judas Iskariot.
«Auch die Krankheiten werden in
unserem Körper erzeugt, und du wirst mir doch nicht sagen wollen, daß sie
etwas Gutes sind», entgegnet Judas Thaddäus.
«Doch laßt mich wissen, was der
"innewohnende Gott" ist, von dem Simon der Zelote spricht.» Judas Iskariot,
der nichts gegen die Bemerkung von Judas des Alphäus einzuwenden weiß,
versucht, die Frage zum Ausgangspunkt zurückzuführen.
Simon der Zelote sagt: «Unsere
Sinne brauchen immer ein Bild, um eine Idee erfassen zu können. Jeder von uns,
ich spreche von uns Gläubigen, glaubt aufgrund seiner religiösen Überzeugung
an den Allmächtigen, den Herrn und Schöpfer, den ewigen Gott im Himmel. Aber
jedes Wesen braucht auch mehr als diesen nackten Glauben in seiner Lauterkeit
und Abstraktheit, der für die Engel taugt und ihnen angemessen ist, da sie
Gott in geistiger Weise sehen und lieben, mit ihm die geistige Natur teilen
und die Fähigkeit besitzen, Gott zu schauen. Wir müssen uns ein "Bild" von
Gott machen, und dieses besteht aus den wesentlichen Eigenschaften, die wir
Gott zuschreiben, um seiner absoluten, unendlichen Vollkommenheit einen Namen
zu geben. Je mehr sich die Seele in sich selbst zurückzieht, desto mehr
gelingt es ihr, zu einer richtigen Erkenntnis Gottes zu gelangen. Das ist es,
was ich den "innewohnenden Gott" nenne. Ich bin kein Philosoph. Vielleicht
habe ich das Wort nicht richtig angewendet. Aber für mich bedeutet der
"innewohnende Gott" einfach Gott, den unsere Seele fühlt und wahrnimmt, und
ich verstehe dies nicht mehr als eine unwirkliche Idee, sondern als wirkliche
Gegenwart Gottes, die eine neue Kraft und einen neuen Frieden vermittelt.»
«Gut, aber wie fühltest du ihn
denn? Welcher Unterschied besteht zwischen dem Fühlen aufgrund des Glaubens
und dem Fühlen aufgrund des "Innewohnens" Gottes?» fragt Judas Iskariot etwas
spöttisch.
«Gott gibt Sicherheit, Bursche.
Wenn du ihn fühlst, so wie Simon es sagt mit einem Wort, das ich nicht
buchstäblich verstehe, dessen Sinn ich aber begreife – und glaube mir, unser
Übel besteht darin, nur den Buchstaben zu verstehen, statt den Sinn des Wortes
Gottes – dann bedeutet das, daß du fähig wirst, nicht nur den Begriff der
schrecklichen Majestät
357
Gottes zu erfassen, sondern auch
jenen der zärtlichsten Vaterschaft Gottes. Das heißt, daß, wenn alle Welt dich
ungerecht verurteilen und verdammen würde, ein Einziger, Gott, der Ewige, der
dir Vater ist, dich nicht verurteilt, sondern dich freispricht und tröstet.
Das heißt, wenn die ganze Welt dich hassen würde, du über dir eine größere
Liebe fühlst, als dir die ganze Welt zu geben vermöchte. Das heißt, daß du in
der Abgeschiedenheit eines Kerkers oder einer Wüste stets den vernimmst, der
zu dir spricht und sagt: "Sei heilig, um so zu sein wie dein Vater." Das
heißt, daß man aus wahrer Liebe zu diesem Vatergott, als den man ihn
schließlich erkennt, annimmt, was er uns schickt, ohne menschliche
Überlegungen anzustellen; daß man wirkt, empfängt oder beläßt, und nur daran
denkt, Liebe mit Liebe zu vergelten und Gott mit unseren eigenen Werken so
weit als möglich nachzuahmen», sagt Petrus.
«Du bist überheblich! Gott
nachahmen! Das ist dir nicht erlaubt», findet Iskariot.
«Das ist nicht Überheblichkeit.
Die Liebe führt zum Gehorsam. Gott nachahmen scheint mir auch eine Art des
Gehorsams zu sein, denn Gott selbst sagt, daß er uns nach seinem Bild und
seiner Ähnlichkeit erschaffen hat», entgegnet Petrus.
«Das hat er getan, doch wir
dürfen nicht darüber hinausgehen.»
«Du bist zu bedauern, wenn du so
denkst, mein lieber Bursche! Du vergißt, daß wir gefallen sind, und daß Gott
uns wieder in unseren Anfangszustand zurückbringen will.»
Jesus ergreift das Wort: «Mehr
noch, Petrus, Judas und ihr alle, noch weiter will er euch bringen. Die
Vollkommenheit Adams konnte durch die Liebe noch gesteigert werden und durch
sie wäre er, als Abbild Gottes, seinem Schöpfer noch ähnlicher geworden. Adam
wäre ohne den Makel der Sünde ein klarer Spiegel Gottes gewesen und daher sage
ich: "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Wie der
Vater, also wie Gott. Petrus hat es sehr gut gesagt und sehr gut auch Simon.
Ich bitte euch, erinnert euch an ihre Worte und wendet sie für eure Seelen
an.»
Die Frau des Petrus fällt vor
lauter Freude, ihren Mann so gelobt zu sehen, beinahe in Ohnmacht. Sie weint
unter ihrem Schleier, leise und glücklich. Petrus sieht aus als bekomme er
einen Schlaganfall, so rot ist er geworden. Nach einem Augenblick des
Schweigens sagt er: «Also, dann gib mir die Belohnung. Das Gleichnis von heute
morgen...»
Auch die anderen schließen sich
Petrus an und sagen: «Ja, du hast es uns versprochen. Die Gleichnisse helfen
uns zu verstehen, doch wir sehen ein, daß sie einen höheren Sinn haben. Warum
sprichst du zum Volk in Gleichnissen?»
«Weil es ihm nicht gegeben ist,
mehr zu verstehen, als was ich erkläre. Euch aber ist viel mehr gegeben, weil
ihr, als meine Apostel, das Geheimnis kennen müßt; und darum ist es euch
gegeben, die Geheimnisse des
358
erstehen. Daher sage ich euch:
"Fragt, wenn ihr den
Himmelreiches zu v
Sinn eines Gleichnisses nicht
versteht." Ihr gebt alles, und alles wird euch gegeben, damit ihr eurerseits
alles geben könnt. Ihr gebt Gott alles: Liebe, Zeit, Interesse, Freiheit und
das Leben, und Gott gibt euch alles, um euch zu belohnen und euch zu
befähigen, im Namen Gottes jenen alles zu geben, die nach euch kommen werden.
So wird dem, der gegeben hat, gegeben werden, und dies in Fülle. Dem aber, der
nur wenig oder nichts gegeben hat, wird auch noch genommen, was er hat.
Ich spreche in Gleichnissen zu
ihnen, damit sie nur sehen, was ihr Wille, Gott anzuhangen, sie erkennen läßt;
damit sie durch eben diese Bereitschaft ihres Willens aus meinen Worten zu
hören und zu verstehen vermögen. Ihr seht: viele hören meine Worte, aber
wenige wenden sich zu Gott. Ihrer Seele fehlt der gute Wille. An ihnen erfüllt
sich die Prophezeiung des Isaias: "Mit den Ohren werdet ihr hören und doch
nicht verstehen, mit den Augen werdet ihr schauen und doch nicht sehen." Denn
dieses Volk hat ein verstocktes Herz, seine Ohren sind verhärtet und seine
Augen geschlossen, um nicht zu hören und nichts zu sehen, um mit dem Herzen
nicht zu verstehen und nicht umzukehren, damit ich sie heile. Doch selig seid
ihr, die ihr durch den guten Willen mit euren Augen seht und mit euren Ohren
hört. Wahrlich, ich sage euch, daß viele Propheten und viele Gerechte zu sehen
wünschten, was ihr seht, und es nicht sahen, und zu hören, was ihr hört, und
es nicht hörten. Sie verzehrten sich in Sehnsucht, das Geheimnis der Worte zu
verstehen, aber mit dem Erlöschen des Lichtes der Prophezeiung blieben die
Worte auch für den Gerechten, der sie vernommen hatte, dunkel.
Gott allein enthüllt sich selbst.
Wenn sein Licht entschwindet, nachdem es das Gleichnis beleuchtet hat, dann
wickelt die Unfähigkeit des Geistes die königliche Wahrheit des empfangenen
Wortes wie eine Mumie ein. Daher habe ich heute morgen zu dir gesagt: "Der Tag
wird kommen, an dem du alles wiederfindest, was ich dir gegeben habe." Jetzt
kannst du es nicht behalten. Dann aber wird das Licht über dich kommen, nicht
nur für einen Augenblick, sondern in einer unzertrennlichen Vereinigung des
Ewigen Geistes mit dem deinen. Darum wird deine Lehre unfehlbar sein in allem,
was das Reich Gottes betrifft; und wie bei dir, wird es auch bei deinen
Nachfolgern sein, wenn sie von Gott als ihrem einzigen Brot leben. 1)
__________
1) Auf einem losen Blatt im Heft
eingefügt. M.V. hat Jesus die Bemerkung von P.M. vorgelegt, der gegen die
päpstliche Unfehlbarkeit Einwände erhoben hatte, die im Widerspruch zum Satz
auf Seite ... stehen. (Angaben fehlen)
Maria Valtorta: Jesus antwortet
mir: «Auf deine Frage antworte ich wie folgt: Es ist richtig, daß die
päpstliche Unfehlbarkeit in Glaubensdingen eine festgelegte Wahrheit ist.
Jeder meiner Stellvertreter besitzt diese Unfehlbarkeit, wenn man von seinem
Leben und seiner
359
Jetzt hört den Sinn des
Gleichnisses:
Wir haben vier verschiedene Arten
von Äckern: die fruchtbaren, die dornigen, die steinigen und die von vielen
Wegen durchzogenen. So haben wir auch vier Arten von Seelen.
Wir haben die ehrlichen Seelen,
die Menschen guten Willens, die durch ihren guten Willen und das Wirken eines
wahren Apostels vorbereitet sind; denn es gibt Apostel, die zwar den Namen,
aber nicht den Geist eines Apostels besitzen. Dies wirkt sich auf die
Bereitschaft des Willens der ihnen anvertrauten Seelen schädlich aus, noch
schädlicher, als es die Vögel, die Dornensträucher und die Steine für die
Getreidefelder sind. Mit ihrer Unnachgiebigkeit, ihrer Hast, ihren Vorwürfen,
ihren Drohungen verwirren sie so sehr, daß sich die betroffenen Menschen für
immer von Gott abwenden. Andere hingegen tun das Gegenteil mit ihrem ständigen
wohlwollenden Begießen – einer Methode, die fehl am Platze ist -und bringen
dadurch den Samen im weichen Erdreich zum Faulen. Sie schwächen mit ihrer
Weichlichkeit die Seelen, um die sie sich bemühen. Doch bleiben wir bei den
wahren Aposteln, bei den getreuen Abbildern Gottes. Sie sind väterlich,
barmherzig, geduldig und zugleich stark wie der Herr. Nun, die durch sie und
den eigenen guten Willen vorbereiteten Seelen sind mit den fruchtbaren Feldern
zu vergleichen, frei von Steinen, Dornenbüschen, Unkraut und Ungeziefer, in
denen das Wort Gottes
Tugendhaftigkeit absieht. Wahr
ist aber auch, daß ihr kein klar umrissenes Dogma finden könnt, das von
Päpsten proklamiert worden wäre, die bekannterweise oder unbekannterweise
meiner Gnade beraubt gewesen wären. Eine Seele im Zustand der Ungnade, kann
den Heiligen Geist nicht als ihren Freund haben. Solches für möglich zu
halten, wäre Häresie ! Da Gott gerecht ist, behandelt er den Armen ebenso wie
den Reichen, den Laien wie den höchsten Priester. Leider weist die Geschichte
meiner Kirche Abschnitte der Finsternis auf. Die Augen verschließen zu wollen,
um diese dunklen Stellen nicht wahrzunehmen, würde heißen, in Unkenntnis all
dessen zu leben, was die Kirche anbetrifft, selbst der sehr zahlreichen
lichtvollen, engelgleichen, himmlisch leuchtenden, ruhmreichen Zeitspannen
meiner Kirche. Man muß auch hierin ehrlich sein, wie ich ehrlich war in Bezug
auf meine Apostel, meine Jünger und jene, die mir nachfolgten. Nicht alle von
den vielen waren Heilige, nicht alle lau, nicht alle schlecht. Ich anerkannte
das Verdienst oder die Schuld eines jeden, ich gab einem jeden, was er
verdiente, ohne mich von besonderen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Wahrheit
ist Wahrheit in allen Dingen, und dies gilt sowohl für das Studium der
Geschichte wie auch für das Studium der Kirchengeschichte. Auf daß die
Geschichte Geschichte sei und nicht ein Märchen, muß sie unparteiisch sein.
Die dunklen Zeiten sind übrigens jene, auf die in den Prophezeiungen
hingewiesen wird, wo von den falschen Hirten die Rede ist (Ez 34; Jer 23,1-4,
Zach 11,4-17) und von jenem namens Sebna (Is 22; 36,1-37,7). Daß all dies
kränkt und schmerzt gebe ich zu, doch es ist nicht gestattet, die Wahrheit als
Gotteslästerung abzutun. Habt deshalb die Gewißheit, daß die Dogmen der
Wahrheit entsprechen und daß die Unfehlbarkeit eine Tatsache ist, denn ich
gewähre dem, der sie nicht verdient, keine Dogmen. Dies war auch in jenem Satz
enthalten, der den Einwand hervorgerufen hat. Ich habe dir diese Erläuterung
sofort gegeben, damit daraus hervorgehe, daß ich der Urheber dieser Worte bin,
die ich deshalb kenne und an die ich mich erinnere, auch wenn das Diktat nicht
hier ist.»
360
gedeiht und jedes Wort zu einem
Samen wird, der in der Ähre hundert-, sechzig- oder dreißigfach Frucht bringt.
Sind solche Menschen unter denen, die mir nachfolgen? Gewiß, und sie werden
Heilige sein. Unter ihnen wird es Leute aus allen Ständen und allen Ländern
geben, auch Heiden, die durch ihren eigenen guten Willen oder durch den guten
Willen eines Apostels oder Jüngers, der sie vorbereitet hat, hundertfache
Frucht bringen werden.
Die dornigen Felder sind jene, in
denen die menschliche Nachlässigkeit ein ganzes Dickicht von persönlichen
Interessen hat wuchern lassen, die den guten Samen ersticken. Man muß sich
ständig selbst überwachen, immerfort, immer, immer! Nie darf man sagen: "Oh,
nun bin ich geschult, der Samen hat bei mir Wurzeln geschlagen, und ich kann
beruhigt sein, daß ich Samen des ewigen Lebens hervorbringen werde." Man muß
sich beobachten: der Kampf zwischen Gut und Böse geht ununterbrochen weiter.
Habt ihr jemals Ameisen betrachtet, die sich in einem Haus einnisten? Sie
machen sich an den Herd. Die Hausfrau läßt daraufhin keine Lebensmittel mehr
dort stehen, sondern stellt sie auf den Tisch. Doch die Ameisen wittern den
Geruch und stürmen auf den Tisch. Die Frau stellt die Speisen in den Schrank,
und die Ameisen schlüpfen durch das Schlüsselloch in den Schrank. Die Frau
hängt ihre Vorräte an der Decke auf, und die Ameisen machen den langen Weg der
Wand und dem Gebälk entlang und den Strick hinunter, um schließlich dort über
sie herzufallen. Die Frau verbrüht und vergiftet sie. Dann ist sie beruhigt im
Glauben, alle vernichtet zu haben. Doch welch eine Überraschung, wenn man
nicht wachsam ist! Aus den Eiern sind wieder Ameisen ausgeschlüpft, und es
fängt von vorne an. Solange man lebt, muß man sich selbst überwachen, um das
Unkraut beim ersten Erscheinen auszujäten. Anderenfalls bildet sich ein
Dickicht aus dornigem Gestrüpp, unter dem die Saat erstickt. Die weltlichen
Sorgen, der trügerische Reichtum sind es, die dieses wirre Gestrüpp schaffen,
die Pflanze des Samens Gottes ersticken und die Bildung von Ähren verhindern.
Nun die Äcker voller Steine! Wie
viele solche Äcker gibt es in Israel! Es sind die der "Kinder des Gesetzes",
wie mein Vetter Judas sehr genau gesagt hat. In ihnen ist nicht der einzige
Stein des Zeugnisses, der Stein des Gesetzes, sondern vielmehr ein Haufen
erbärmlicher, kleiner Gesetze, die der Mensch ersonnen hat. Unzählige
Gesetzchen, die mit ihrem Gewicht auch den Stein des Gesetzes zum Splittern
gebracht haben. Ein Trümmerhaufen, der jedes Wurzelfassen des Samens
verhindert. Der Wurzel fehlt die Nahrung. Sie hat keine Erde und keinen Saft
mehr. Das Wasser, das sich auf dem steinigen Grund ansammelt, läßt die
Pflanzen verfaulen; und die Sonne macht die Steine glühend heiß und die
Pflänzchen verbrennen. Es sind dies jene Menschen, die die einfache Lehre
Gottes durch komplizierte menschliche Lehren ersetzen. Sie nehmen mein Wort
zwar
361
freudig auf, sind wohl auch
zuerst beeindruckt und begeistert. Doch dann... wäre Heldentum nötig, um das
Feld, nämlich Seele und Geist, von allen Steinhaufen der Phrasendrescherei zu
säubern. Nur dann könnte der Same Wurzel fassen und sich zu einer kräftigen
Pflanze entwickeln. So aber verkümmert sie! Es genügt die Angst vor
menschlichen Vergeltungsmaßnahmen oder die Überlegung: "Ja, und dann? Was habe
ich dann von den Mächtigen zu gewärtigen? Und der arme, nahrungslose Same kann
nicht gedeihen. Es genügt, daß der ganze Steinhaufen mit dem eitlen Gedröhn
der hundert und aberhundert Vorschriften, die das Gesetz ersetzt haben, in
Bewegung gerät, und der Mensch geht mit dem Samen darin zugrunde... Israel ist
voll von solchen Menschen. Dies erklärt, wie das Sich-Hinwenden zu Gott von
der menschlichen Macht wegführt und in entgegengesetzten Richtungen verläuft.
Als letztes, die staubigen,
kahlen Felder voller Wege: Es sind die der Lebemenschen, der Egoisten; ihre
Bequemlichkeit ist ihnen Gesetz, das Vergnügen ihr Lebensziel. Sich nicht
anstrengen, schlummern, lachen, essen... Ihr König ist der Geist der Welt. Der
Staub der großen Welt bedeckt das Erdreich, das zum unfruchtbaren Acker wird.
Die Vögel, d.h. der Mensch in seiner vielfältigen Gier nach Genuß, stürzt sich
auf alle offenen Wege, um das Leben zu erleichtern. Der Weltgeist, d.h. der
Böse, pickt alle Samen auf, die auf das der Fleischeslust und Leichtfertigkeit
zugängliche Feld fallen, und vernichtet sie.
Habt ihr verstanden? Habt ihr
noch andere Fragen? Nein? Dann können wir uns zur Ruhe begeben, um morgen nach
Kapharnaum zu gehen. Ich muß noch einen Ort besuchen, bevor ich die österliche
Reise nach Jerusalem antrete.»
«Werden wir an Arimathäa
vorbeikommen ?» fragt Iskariot.
«Das ist nicht sicher. Je
nach...»
Da klopft jemand stürmisch an die
Tür.
«Wer kann das sein zu dieser
Stunde?» fragt Petrus und steht auf, um zu öffnen.
Es ist Johannes, ganz erschöpft,
mit Staub bedeckt und deutlichen Tränenspuren im Gesicht.
«Du bist hier?» rufen alle. «Aber
was ist geschehen?»
Jesus, der sich erhoben hat,
fragt nur: «Wo ist die Mutter?»
Johannes kniet vor dem Meister
nieder, streckt ihm hilfesuchend die Arme entgegen und sagt: «Der Mutter geht
es gut, aber sie vergießt Tränen wie ich und viele andere, und sie bittet
dich, nicht dem Jordan auf unserer Seite zu folgen. Sie hat mich deshalb
zurückgeschickt, weil... weil Johannes, dein Vetter, gefangengenommen wurde.»
Johannes weint, während die Anwesenden durch die Nachricht in Aufregung
geraten sind.
Jesus erbleicht, doch er bleibt
ruhig. Er sagt nur: «Steh auf und erzähle.»
362
«Ich bin mit deiner Mutter und
den Frauen gegangen, und auch Isaak und Timoneus waren dabei. Wir waren drei
Frauen und drei Männer. Ich habe deine Anweisung befolgt und Maria zu Johannes
führen wollen... Oh, du wußtest wohl, daß es der letzte Abschied war... daß es
der letzte Abschied sein sollte... Das Gewitter vor einigen Tagen hat uns ein
paar Stunden aufgehalten, doch sie genügten, daß Johannes Maria nicht mehr
sehen konnte. Wir sind zur sechsten Stunde dort eingetroffen, und Johannes war
zur Zeit des Hahnenschreies festgenommen worden.»
«Aber wo, wie? Von wem? In seiner
Höhle?» Alle fragen, alle wollen wissen, wie es dazu gekommen ist.
«Er ist verraten worden! ... Man
hat sich deines Namens bedient, um ihn zu verraten!»
«Wie schrecklich! Aber wer ist es
gewesen?» schreien alle.
Johannes erschauert und spricht
das Schreckliche so leise aus, als sollte es nicht einmal die Luft hören:
«Einer seiner Jünger...»
Die Bestürzung hat den Höhepunkt
erreicht. Einige verwünschen, andere weinen, wieder andere stehen entsetzt und
zu Statuen erstarrt da.
Johannes hängt sich an den Hals
Jesu und klagt: «Ich habe Angst um dich! um dich! um dich! Die Heiligen haben
ihre Verräter, die sich um des Goldes willen verkaufen, aus Angst vor den
Mächtigen, aus der Sucht nach Anerkennung, aus... aus Gehorsam Satan
gegenüber. Aus tausend und abertausend Gründen. Oh, Jesus, Jesus, Jesus! Welch
ein Schmerz! Mein erster Lehrer! Mein Johannes, durch den du mir geschenkt
wurdest !»
«Beruhige dich! Sei getrost! Noch
wird mir nichts zustoßen.»
«Aber später? Später? Ich schaue
mich an... ich schaue die anderen an... und habe Angst vor allen, sogar vor
mir selbst. Unter uns wird dein Verräter sein ? ...»
«Du bist wohl verrückt geworden?
Meinst du nicht, wir würden ihn in Stücke hauen?» schreit Petrus.
Judas Iskariot sagt: «Oh, du bist
wirklich wahnsinnig. Ich werde es niemals sein. Aber wenn ich mich je so
schwach fühlen sollte, daß ich zu einem Verrat bereit wäre, dann würde ich
mich umbringen, denn das wäre noch besser als der Mörder Gottes zu sein.»
Jesus befreit sich aus der
Umarmung des Johannes, schüttelt Judas Iskariot energisch und sagt: «Fluche
nicht! Nichts kann dich schwach machen, wenn du nicht willst, und sollte es
dennoch geschehen, dann weine vielmehr darüber und füg nicht dem Gottesmord
noch ein zweites Verbrechen hinzu.' Schwach wird nur, wer sich von der Kraft
Gottes lossagt.»
' Jesus wußte genau, daß Judas
der Gottesmörder und Selbstmörder sein würde, aber als Meister konnte er nicht
anders, als ihn auf diese Weise zu belehren.
363
Dann wendet er sich wieder
Johannes zu, der, den Kopf auf dem Tisch, weint. Jesus sagt: «Jetzt erzähle
der Reihe nach, wie sich alles abgespielt hat. Auch mich schmerzt es. Er war
mein Verwandter und Vorläufer.»
«Ich habe nur die Jünger, d.h.
einige von ihnen, gesehen und sie waren bestürzt und wütend auf den Verräter.
Die anderen haben Johannes zu seinem Gefängnis begleitet, um ihm beim Sterben
nahe zu sein.»
«Aber er ist noch nicht
gestorben... letztes Mal konnte er fliehen», versucht ihn der Zelote, der
Johannes sehr gern hat, zu trösten.
«Er ist noch nicht gestorben,
aber er wird sterben» antwortet Johannes.
«Ja, er wird sterben» sagt Jesus,
«und er weiß es, so wie ich es weiß. Nichts und niemand wird ihn dieses Mal
retten können. Wann? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß er nicht lebend aus
den Händen des Herodes entkommen wird.»
«Ja, Herodes. Höre, was geschehen
ist! Er hatte sich zu der Schlacht zwischen Ebal und Garizim begeben, durch
die uns der Weg anläßlich unserer Rückkehr nach Galiläa geführt hatte; durch
den Verräter war ihm nämlich gesagt worden: "Der Messias ist von Feinden
überfallen worden und liegt im Sterben. Er möchte dich sehen, um dir ein
Geheimnis anzuvertrauen." So brach er mit seinem Verräter und einigen anderen
auf. Im Dunkel der Talmulde warteten die Bewaffneten des Herodes, die ihn dann
ergriffen. Die anderen flohen und brachten den bei Ennon zurückgebliebenen
Jüngern die Nachricht. Sie waren eben angelangt, als ich mit der Mutter dort
eintraf. Das Schreckliche ist, daß der Verräter einer aus unseren Städten ist,
und daß die Pharisäer von Kapharnaum an der Spitze des Komplotts standen. Sie
waren zu Johannes gegangen und hatten ihm gesagt, du wärest ihr Gast gewesen
und dann von dort nach Judäa aufgebrochen. Er hätte niemals seinen
Zufluchtsort verlassen, wenn nicht deinetwegen...»
Grabesstille folgt der Erzählung
des Johannes. Jesus scheint kraftlos und seine dunkelblauen Augen sind wie
verschleiert. Er steht geneigten Hauptes da, die Hand immer noch auf der
Schulter des Johannes. Plötzlich wird seine Hand von einem leisen Zittern
erfaßt. Niemand wagt, etwas zu sagen. Endlich unterbricht Jesus das
Stillschweigen: «Wir werden einen anderen Weg nach Judäa einschlagen. Aber
morgen muß ich sobald als möglich nach Kapharnaum gehen. Ruht euch aus, ich
gehe nun zu den Olivenbäumen hinauf. Ich habe das Bedürfnis allein zu sein.»
Ohne etwas hinzuzufügen geht Jesus hinaus.
«Er geht sicher weg, um zu
weinen», murmelt Jakobus des Alphäus.
«Gehen wir ihm nach, Bruder»,
sagt Judas Thaddäus.
«Nein, laßt ihn weinen. Gehen wir
aber leise hinaus, um zu lauschen, denn ich fürchte überall Gefahren»,
entgegnet der Zelote.
«Ja, gehen wir. Wir Fischer
begeben uns zum Ufer. Wenn jemand vom See kommt, kann man ihn sehen. Ihr geht
zu den Olivenbäumen. Er ist
364
sicher an seinem gewohnten Platz,
beim Nußbaum. Bei Sonnenaufgang wollen wir die Barken vorbereiten, um bald
aufbrechen zu können. Diese Schlangen! Ich habe es ja gesagt. Sag mal, Junge,
ist die Mutter aber auch wirklich in Sicherheit?»
«O ja. Auch die Hirtenjünger des
Johannes sind mit ihr gegangen. Andreas nun werden wir unseren Johannes nicht
mehr sehen!»
«Schweig, schweig! Es scheint mir
der Ruf des Kuckucks zu sein... Einer geht dem anderen voran und... und...»
«Bei der heiligen Bundeslade!
Schweigt! Wenn ihr weiter vom Unheil redet, das dem Meister zustoßen könnte,
dann bekommt ihr noch mein Ruder auf eurem Rücken zu spüren!» ruft Petrus
wütend. «Ihr», sagt er dann zu denen, die zu den Olivenbäumen gehen, «nehmt
Stöcke, dicke Äste mit, aus dem Holzschuppen dort, und so bewaffnet, zerstreut
euch. Der erste, der sich Jesus nähert, um ihm etwas anzutun, soll sterben.»
«Jünger! Jünger! Seid vorsichtig
mit dem Neuen», ruft Philippus aus. Der neue Jünger ist gekränkt und fragt:
«Zweifelst du an mir? Er hat mich erwählt und gewollt!»
«Nicht an dir, sondern an den
Schriftgelehrten, Pharisäern und ihren Verehrern. Von dort kommt das
Verderben, glaubt mir.»
Sie gehen hinaus und zerstreuen
sich; die einen begeben sich zu den Booten, die anderen zu den Olivenbäumen
auf den Hügeln, und das ist das Ende.
220. DAS GLEICHNIS VOM GUTEN
WEIZEN UND VOM UNKRAUT
Ein klarer Morgen hüllt den See
in Perlenglanz und die Hügel in einen leichten Dunst, einem Musselinschleier
gleich, durch den Oliven- und Nußbäume, Häuser und Umrisse der Ortschaften am
See verzaubert hindurchschimmern.
Die Boote gleiten ruhig und
geräuschlos auf Kapharnaum zu. Doch an einer gewissen Stelle dreht Petrus das
Steuer so brüsk um, daß das Boot sich seitlich neigt.
«Was machst du denn?» fragt
Andreas.
«Dort kommt das Boot eines Uhus.
Es verläßt gerade Kapharnaum. Ich habe gute Augen und seit gestern Abend auch
noch eine Spürnase. Ich will nicht, daß sie uns sehen. Ich fahre zum Fluß
zurück und dann werden wir zu Fuß weitergehen.»
Auch das andere Boot hat dasselbe
Manöver gemacht, doch Jakobus, der das Steuer führt, fragt Petrus: «Warum tust
du das?»
«Ich werde es dir nachher sagen.
Folge mir.»
365
Jesus, der hinten im Heck sitzt,
fährt auf, als er bemerkt, daß sie sich schon auf der Höhe des Jordan befinden
und fragt: «Aber was machst du, Simon?»
«Wir steigen hier aus, Ein
Schakal treibt sich hier herum. Wir können heute nicht nach Kapharnaum gehen.
Ich werde mit Simon und Nathanael zuerst hingehen, um ein wenig
herumzuhorchen. Drei würdige Personen gegen drei unwürdige Personen, wenn es
nicht noch mehr Unwürdige sind.»
«Du darfst jetzt nicht überall
Gefahr sehen. Ist das nicht das Boot Simons, des Pharisäers ?»
«Genau das ist es.»
«Er war bei der Gefangennahme des
Johannes nicht dabei.»
«Ich weiß nichts.»
«Er ist mir gegenüber immer
ehrerbietig.»
«Ich weiß nichts.»
«Du läßt mich feig erscheinen.»
«Ich weiß nichts.»
Obgleich Jesus keine Lust zum
Lachen hat, stimmt ihn doch die heilige Dickköpfigkeit des Petrus heiter.
«Aber nach Kapharnaum müssen wir trotzdem gehen, wenn nicht heute, dann
später...» sagt Jesus.
«Ich habe gesagt, daß ich
vorausgehen will, um Ausschau zu halten... und wenn nötig, werde ich auch dies
tun... Es wird ein harter Brocken zum Schlucken sein... aber ich werde es tun,
aus Liebe zu dir... Ich werde zum Zenturio gehen und um Schutz bitten.»
«Aber nein, das ist nicht nötig!»
Das Boot landet am verlassenen
Strand, der Bethsaida gegenüberliegt, und alle steigen aus.
«Kommt, ihr beiden. Komm auch du,
Philippus. Ihr Jungen bleibt hier. Wir werden bald zurück sein.»
Der neue Jünger Elias bittet:
«Komm in mein Haus, Meister. Ich wäre sehr glücklich, dich zu beherbergen.»
«Ich komme. Simon, du wirst mir
später ins Haus des Elias nachfolgen. Leb wohl, Simon. Geh, sei gut,
vorsichtig und barmherzig. Komm, damit ich dich küsse und segne.»
Petrus versichert nicht, daß er
gut, geduldig und barmherzig sein werde. Er sagt nichts und tauscht mit dem
Meister den Kuß aus. Auch der Zelote, Bartholomäus und Philippus geben ihren
Abschiedskuß, und die beiden Gruppen trennen sich und schlagen
entgegengesetzte Richtungen ein.
Sie betreten Chorazim, als es
bereits Tag geworden ist. Jeder Halm glitzert von Tauperlen. Überall singen
die Vöglein. Die reine, frische Luft hier duftet beinahe nach Milch, nach
einer eher pflanzlichen als tierischen Milch. Der Duft des Korns, das schon
Ähren bildet, und der Mandelbäumchen
366
voller Früchte erfüllt die
Luft... und erinnert mich an die frischen Morgenstunden in den fruchtbaren
Feldern der Poebene.
Das Haus von Elias ist bald
erreicht. Doch viele in Chorazim wissen schon, daß der Meister angekommen ist,
und während Jesus eben die Schwelle betritt, eilt eine Mutter herbei und ruft:
«Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit meinem Kind!» Sie hat ein etwa
zehnjähriges Mädchen auf den Armen, das sehr mager und wachsbleich, ja fast
gelblich aussieht.
«Was hat deine Tochter?»
«Sumpffieber. Sie hat es sich auf
den Weiden längs des Jordan geholt. Wir sind die Hirten eines Reichen. Ihr
Vater hat mich zu dem kranken Kind gerufen und ist nun in die Berge
zurückgekehrt. Du weißt ja, daß man mit dieser Krankheit nicht in größere
Höhen gehen darf. Wie kann ich aber hier bleiben ? Mein Herr hat es mir bis
jetzt erlaubt, doch ich arbeite mit der Schafwolle und überwache das Werfen
der Jungen. Die Zeit der Arbeit für uns Hirten bricht bald an, und wir werden
entlassen oder voneinander getrennt sein, wenn ich hier bleibe. Wenn ich aber
auf den Hermon gehe, weiß ich, daß mein Kind sterben wird.»
«Glaubst du, daß ich helfen
kann?»
«Ich habe mit Daniel, dem Hirten
des Elisäus, gesprochen. Er hat mir gesagt: "Unser Gottessohn heilt jedes
Übel. Geh zum Messias." Von jenseits des Meronsees bin ich mit dem Mädchen auf
den Armen gekommen und habe dich gesucht. Ich wäre auch noch weiter gegangen,
bis ich dich gefunden hätte...»
«Du brauchst jetzt nur zu deinem
Haus und zur frohen Arbeit zurückzukehren. Deine Tochter ist geheilt, weil es
mein Wille ist. Geh im Frieden 1»
Die Frau betrachtet die Tochter
und betrachtet Jesus. Vielleicht hofft sie, das Mädchen sofort wieder
wohlgenährt und rosig zu sehen. Das Kind öffnet die müden Augen weit, die
zuvor geschlossen waren, blickt Jesus an und lächelt.
«Fürchte dich nicht, Frau. Ich
täusche dich nicht. Das Fieber ist für immer verschwunden. Von Tag zu Tag wird
das Mädchen mehr aufblühen. Laß es nur gehen. Es wird nicht mehr taumeln und
keine Müdigkeit mehr verspüren.»
Die Mutter stellt das Mädchen auf
den Boden. Es bleibt aufrecht stehen und lächelt immer freudiger. Endlich
jubelt es mit seiner silbernen Stimme: «Preise den Herrn, Mutter. Ich bin
wirklich geheilt, ich fühle es», und wirft sich mit der Natürlichkeit eines
Hirtenmädchens an den Hals Jesu und küßt ihn. Die Mutter, ihrem Alter
entsprechend, zurückhaltender, fällt vor Jesus nieder, küßt sein Gewand und
preist den Herrn.
«Geht nun! Erinnert euch stets
der empfangenen Wohltat Gottes und seid gute Menschen. Der Friede sei mit
euch!»
Im zum Haus des Elias gehörigen
Gärtchen haben sich inzwischen Leute versammelt und verlangen nach dem Wort
des Meisters. Obgleich Jesus
367
keine große Lust hat, da er wegen
der Gefangennahme des Täufers und der Art, wie sie erfolgte, betrübt ist, gibt
er dem allgemeinen Bitten nach und beginnt im Schatten der Bäume zu sprechen.
«Ich möchte zu euch in dieser
schönen Zeit, da das Getreide beginnt, Ähren anzusetzen, in einem Gleichnis
hierüber sprechen. Hört.
Das Himmelreich gleicht einem
Manne, der guten Samen auf seinen Acker säte. Doch während der Mann und seine
Knechte schliefen, kam sein Feind, streute Unkrautsamen in die Furchen und
ging davon. Niemand wurde dessen am Anfang gewahr. Es kam der Winter mit
seinem Regen und seinem Reif, dann folgte das Ende des Tebet, und das Korn
begann zu sprießen. Das erste zarte Grün der jungen Triebe zeigte sich, und in
ihrer unschuldigen Kindheit erschienen sie alle gleich. Es kam der Schebat und
dann der Adar, die Pflanzen entwickelten sich und das Korn bildete Ähren.
Jetzt sah man, daß das Grün nicht nur Getreide war, sondern daß es auch
Unkraut darunter gab, das als dünne, zähe Ackerwinde an den Halmen
emporrankte.
Da gingen die Knechte zu ihrem
Herrn und sagten zu ihm: "Herr, was hast du für Samen gesät? War es kein
ausgesuchter Same, frei von anderen Samen, die nicht Korn sind?"
"Natürlich war er es. Ich habe
nur Körner der gleichen Art genommen und hätte es sehen müssen, wenn andere
Samenkörner darunter gewesen wären."
"Woher kommt dann das viele
Unkraut?"
Der Herr dachte darüber nach und
sagte dann: "Irgendeiner meiner Feinde hat das getan, um mir Schaden
zuzufügen."
Die Knechte fragten hierauf:
"Sollen wir in die Äcker gehen und das Getreide sorgsam vom Unkraut befreien
und es ausreißen? Befiehl, und wir werden es tun."
Doch der Herr antwortete: "Nein.
Ihr könntet dabei auch den Weizen ausreißen, und auf jeden Fall würden die
noch zarten Pflanzen beschädigt. Laßt beides zusammen bis zur Ernte
heranwachsen. Dann werde ich zu meinen Schnittern sagen: 'Mäht alles zusammen
nieder. Bevor ihr aber Garben bindet, sondert die Spreu vom Weizen und macht
daraus Bündel und legt sie beiseite, denn inzwischen sind die Ackerwinden
vertrocknet, die dichtgewachsenen Ähren aber erstarkt. Verbrennt alsdann das
Unkraut, es wird dem Boden als Dünger dienen. Den Weizen aber bringt in meine
Scheune. Köstliche Brote sollen daraus gebacken werden, und dies zur Schmach
des Feindes, den Gott für seinen Neid verwerfen wird."
Nun überlegt, wie oft und in wie
vielfältiger Weise der böse Feind in eure Seelen sät, und ihr werdet die
Notwendigkeit verstehen, mit Geduld und Ausdauer zu wachen, damit so wenig
Unkraut wie möglich unter das erlesene Korn gelangt. Das Los des Unkrautes ist
es, verbrannt zu werden. Wollt ihr einmal ins ewige Feuer stürzen, oder
Bewohner des
368
Himmelreiches werden? Ihr sagt,
daß ihr Bewohner des Himmelreiches sein wollt. So wißt es zu werden. Der gute
Gott gibt euch das Wort. Der Feind achtet darauf, daß es Schaden schafft; denn
Weizenmehl, vermischt mit dem Mehl aus Unkraut, ergibt bitteres Brot und
schadet dem Magen. Seid also eifrig bemüht, mit eurem guten Willen das Unkraut
auszusondern und auszumerzen, auf daß ihr nicht Gottes unwürdig werdet.
Geht, Brüder. Der Friede sei mit
euch!»
Die Leute zerstreuen sich
allmählich. Im Garten bleiben nur die acht Apostel, ferner Elias, dessen
Bruder und die Mutter und der alte Isaak, der sich in der Seele freut.
«Kommt her und hört zu. Ich will
euch den vollständigen Sinn des Gleichnisses erklären, das noch zwei weitere
Aspekte aufweist außer dem, den ich den Leuten erklärt habe.
Allgemein hat das Gleichnis
folgende Anwendung: Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des
Reiches Gottes, die von Gott in die Welt gesät werden und darauf warten, ihre
Bestimmung zu erreichen, vom Schnitter gemäht und in die Scheunen des Herrn
der Welt gebracht zu werden. Das Unkraut sind die Kinder des Bösen, die
ihrerseits im Acker Gottes ausgestreut werden, um dem Herrn Leid zuzufügen und
seinen Ähren zu schaden. Der Feind Gottes hat sie in besonderer Absicht gesät:
denn er läßt den Menschen so tief sinken, daß er dem Teufel ähnlich wird; und
diese Saat soll nun alle verderben, die er selbst nicht versklaven kann. Die
Erntezeit, in der die Ähren zu Garben gebunden und in die Speicher gebracht
werden, bedeutet das Ende der Welt, die Schnitter aber sind die Engel. Ihnen
ist befohlen, das Getreide zu sammeln und das Unkraut vom Weizen zu trennen;
und wie das Unkraut im Gleichnis verbrannt wird, werden die Verfluchten beim
Letzten Gericht in das ewige Feuer geworfen.
Der Menschensohn wird seine
Diener aussenden und alle aus seinem Reiche vertreiben lassen, die Anstoß
erregen und zum Bösen verleiten. Denn dann wird das Reich im Himmel und auf
Erden sein, und unter den Bewohnern des Reiches auf der Erde wird es viele
Kinder des Feindes geben. Diese werden, wie es schon die Propheten
vorausgesagt haben, das Ärgernis und die Greuel in jedem irdischen
Lebensbereich auf die Spitze treiben und die Kinder des Geistes grausam
bedrängen. Vom Reiche Gottes, dem Himmel, sind die Übeltäter schon
ausgeschlossen, denn nichts Verderbtes kann in den Himmel eingehen. Zu jener
Zeit werden die Engel Gottes mit ihren Sicheln die Schar der letzten Ernte
mähen, den Weizen von der Spreu sondern und diese in den Feuerofen werfen, wo
Heulen und Zähneknirschen sein wird. Die Gerechten hingegen, den auserwählten
Weizen, werden sie in das Ewige Jerusalem führen, wo sie wie Sonnen im Reiche
meines und eures Vaters erstrahlen werden.
Das ist der allgemeine Sinn. Doch
für euch hat dieses Gleichnis noch
369
eine andere Bedeutung. Es ist
eine Antwort auf oft gestellte Fragen, besonders auf die von gestern abend.
Ihr fragt euch: "Kann es also in der Schar der Jünger Verräter geben?" und
euer Herz zittert in Angst und Schrecken darüber. Es kann Verräter geben,
dessen bin ich sicher.
Der Sämann streut den guten Samen
aus. In diesem Falle müßte man anstelle von "ausstreuen" eher das Wort
"erwählen" gebrauchen, denn der Meister, sei es nun der Täufer oder ich
selbst, hat seine Jünger erwählt. Wie kommt es also, daß sie auf Abwege
geraten sind? Da ich die Jünger als "Same" bezeichnet habe, könntet ihr dies
falsch verstehen. Ich werde sie also "Äcker" nennen. Jeder Jünger ist ein
Acker, ein vom Meister auserwählter Bereich des Reiches Gottes, der Güte
Gottes. Der Meister bestellt sie in mühevoller Arbeit, auf daß sie
hundertfache Frucht bringen. Jegliche Pflege läßt er ihnen angedeihen: er
wendet Geduld, Liebe, Weisheit, Mühe, Arbeit und Ausdauer an. Er sieht auch
ihre schlechten Neigungen: ihre Teilnahmslosigkeit, ihre Habsucht. Er sieht
ihre Starrköpfigkeit und ihre Schwächen. Aber er hofft, er hofft immer und
bekräftigt seine Hoffnung mit Gebet und Buße, weil er sie zur Vollkommenheit
führen will.
Doch die Äcker sind offen. Sie
sind nicht ein von festen Mauern umgebener Garten, den nur sein einziger Herr,
der Meister, betreten darf. Es sind offene Äcker inmitten der Welt, und alle
können sich ihnen nähern und hineingehen. Alle und alles. Oh, nicht nur der
schlechte Same des Unkrautes, Symbol der herben Leichtfertigkeit des
Weltgeistes, kann hier keimen, sondern ebenso alle anderen Samen, die der
Feind aussät: Brennesseln, Quecken, Hexenzwirn, Ackerwinde, Schierling und
andere Giftpflanzen. Warum? Warum? Was sind sie?
Die Brennesseln: die
verletzenden, unbezwingbaren Menschen, die in ihrem Übermaß an Bosheit den
Mitmenschen das Leben erschweren. Die Quecken: die Schmarotzer, die den
Meister entkräften und nichts können als kriechen, aussaugen, aus seiner
Arbeit Profit schlagen und die Gutwilligen schädigen, deren Gewinn wahrhaft
größer wäre, würde der Meister nicht gestört und abgelenkt durch die Mühen,
die ihm diese Quecken verursachen. Die trägen Ackerwinden erheben sich von der
Erde nur, um andere auszunützen. Der Hexenzwirn: eine Plage auf dem schon
beschwerlichen Wege des Meisters und eine Plage für seine getreuen Jünger, die
ihm nachfolgen. Er hakt sich überall fest, dringt überall ein, zerreißt,
zerkratzt, erweckt Mißtrauen und fügt Leiden zu. Die Giftpflanzen sind die
Verbrecher unter den Jüngern, jene, die sich nicht scheuen, Verrat zu üben und
ein Leben auszulöschen, wie es der Schierling und andere Giftpflanzen tun.
Habt ihr sie schon gesehen, wie schön sie mit ihren kleinen Blüten sind, die
zu weißen, roten oder blauvioletten Beeren werden? Wer würde glauben, daß
diese sternförmige, weiße oder blaßrosa Blumenkrone mit ihrem goldenen
Herzchen als Mittelpunkt, daß diese buntfarbigen,
370
korallenartigen Früchte, die
anderen Beeren so ähnlich sehen und die Wonne der Vögel und Kinder sind, in
reifem Zustand den Tod bringen können? Niemand! Und die Unschuldigen fallen
ihnen zum Opfer. Sie glauben, daß alle so gut sind wie sie selbst... pflücken
davon und sterben.
Sie glauben, alle wären so gut
wie sie! Oh, welch erhabene Wahrheit, die den Meister preist und seinen
Verräter verurteilt! Wie? Entwaffnet denn die Liebe nicht? Triumphiert sie
nicht über ein bloßes Übelwollen? Nein! Liebe macht aus dem Bösen keinen
Liebenden, da der dem Feind Gottes anheimgefallene Mensch allem Erhabenen
gegenüber unempfindlich geworden ist, und alles Erhabene erscheint ihm nicht
so. So wird die Liebe für ihn zur Schwäche, die zu schmähen erlaubt ist, ja,
sie fördert noch sein Übelwollen, so wie Blutgeruch die Lust zu töten
steigert. Auch der Meister ist immer vertrauensvoll... und verhindert daher
nicht, daß sein Verräter seine Bosheit an ihm ausläßt; denn er kann nicht
glauben, daß ein Mensch imstande ist, einen Unschuldigen zu morden.
Zu den Jüngern, den Äckern des
Meisters, kommen die Feinde. Es sind ihrer viele. Der erste ist Satan, die
anderen seine Diener: also die Menschen, die Leidenschaften, die Welt und das
Fleisch. Somit ist der Jünger am meisten gefährdet, der nicht ganz auf der
Seite des Meisters, sondern zwischen dem Meister und der Welt steht. Er kann
und will sich nicht von all dem trennen, was Welt, Fleisch, Leidenschaften und
Satan ist, um ganz dem anzugehören, der ihn zu Gott führt. So streuen die
Welt, das Fleisch, die Leidenschaft und der Teufel ihre Samen auf einen
solchen Jünger aus; es ist das Gold, die Macht, das Weib, der Stolz, die Angst
vor einem abfälligen Urteil und das Nützlichkeitsdenken. "Die Großen sind die
Stärkeren. Also werde ich ihnen dienen, damit sie meine Freunde seien." So
wird man um elender Dinge willen zum Verbrecher und zum Verworfenen! ...
Warum aber entläßt der Meister,
der die Unvollkommenheit des Jüngers sieht, auch wenn er nicht dem Gedanken
nachgeben will: "Er wird mein Mörder sein", ihn nicht sofort aus den Reihen
der Seinen? So werdet ihr euch fragen. Weil es nichts nützen würde. Selbst
wenn er es tun würde, könnte er nicht verhindern, ihn sich zum Feind zu
machen, nur umso früher; und außerdem zum zweifachen Feind; dies aus Zorn oder
Schmerz, erkannt und fortgejagt worden zu sein. Aus Schmerz, da der schlechte
Jünger oft nicht einsieht, es zu sein; denn das Wirken des Teufels ist so
subtil, daß der Mensch es nicht merkt. Satan ergreift von ihm zunehmend Besitz
und der Mensch ahnt nichts von seinem Einfluß. Aus Zorn! Ja, aus Zorn darüber,
daß er erkannt wurde als das, was er wirklich ist, wenn er um das Wirken
Satans und seines Gefolges weiß; eines Gefolges aus den Menschen, die ihn, den
Schwachen, in seinen Schwächen versuchen, um den Heiligen aus der Welt zu
schaffen, dessen Güte sie kränkt, da sie im deutlichen Gegensatz zu ihrem
eigenen Leben steht. Dann kann der Heilige nur noch beten und sich Gott
übergeben. "Was du geschehen lassen
371
willst, soll geschehen", sagt er,
und fügt einzig diesen Vorbehalt bei: "Vorausgesetzt, es dient deinem Ziel."
Der Heilige weiß, daß die Stunde kommen wird, da aus seiner Ernte das Unkraut
ausgeschieden wird. Von wem? Von Gott selbst, der nur noch zuläßt, was dem
Triumph seines liebenden Wirkens dient.»
«Aber wenn du zugibst, daß es
immer Satan und seine Anhänger sind... dann scheint mir, daß du der
Verantwortung des Jüngers eine geringe Bedeutung zuschreibst», sagt Matthäus.
«Das darfst du nicht denken. Wie
das Böse existiert, existiert auch das Gute, und ebenso besitzt der Mensch
Unterscheidungsvermögen und die Freiheit.»
«Du sagst, daß Gott nur zuläßt,
was dem Triumph seiner liebenden Absichten nützt. Also ist auch dieser Irrtum
nützlich, wenn er ihn zuläßt, und er dient dem Triumph seines göttlichen
Willens», sagt Iskariot.
«So urteilst du wie Matthäus, daß
dies das Verbrechen des Jüngers rechtfertigt. Gott hatte den Löwen ohne
Raubgier und die Schlange ohne Gift erschaffen. Nun ist der eine wild und die
andere giftig. Gott aber hat sie deswegen vom Menschen abgesondert. Denk
darüber nach und wende es an. Gehen wir ins Haus. Die Sonne brennt schon zu
stark, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters, und ihr seid müde nach der
schlaflosen Nacht.»
«Das Haus hat ein geräumiges,
kühles Obergemach. Dort könnt ihr euch ausruhen», sagt Elias.
Sie steigen die äußere Treppe
hinauf. Aber nur die Apostel legen sich auf die Matten zur Ruhe. Jesus geht
auf die von einer hohen Eiche beschattete Terrasse hinaus, setzt sich in einen
Winkel und vertieft sich in seine Gedanken.
221. JESUS SPRICHT AUF DEM WEG
NACH MAGDALA ZU HIRTEN
Petrus kommt erst am anderen
Morgen zurück. Er ist ruhiger als vor der Abreise, da er in Kapharnaum, das
Eli und Joachim inzwischen verlassen haben, überall nur gute Aufnahme gefunden
hat.
«Sie müssen die Hauptpersonen des
Komplotts sein, denn ich habe Freunde gefragt, wann sie fortgegangen sind.
Offensichtlich sind sie nicht mehr zurückgekommen, nachdem sie als Büßer den
Täufer aufgesucht hatten. Ich nehme an, daß sie nicht so rasch wiederkommen
werden, da sie, wie ich gesagt habe, bei der Gefangennahme zugegen waren... Es
herrscht große Bestürzung wegen der Gefangennahme des Täufers, und ich werde
dafür sorgen, daß es jeder Schwätzer erfährt... Das ist unsere
372
beste Waffe. Ich habe auch den
Pharisäer Simon angetroffen und... wenn der Schein nicht trügt, will er uns
wohl. Er hat mir gesagt: "Rate dem Meister, dem Jordan nicht durch das
westliche Tal zu folgen. Die andere Seite ist sicherer." Mit Nachdruck hat er
es gesagt und noch hinzugefügt: "Ich habe dich nicht gesehen. Ich habe nicht
mit dir gesprochen, denk daran, und verhalte dich so, daß es meinem, deinem
und dem Wohle aller dient. Sag dem Meister, daß ich ihm wohlgesinnt bin" ' und
er blickte dabei nach oben, als ob er in den Wind reden würde. Immer, auch
wenn sie Gutes tun, sind sie falsch... nun, sagen wir eigenartig, damit du
mich nicht tadelst. Trotzdem... bin ich also zum Zenturio gegangen, um ihm
ganz vorsichtig einen Wink zu geben. Ich habe gefragt: "Geht es deinem Diener
gut?" und nachdem er mir dies bestätigt hat, habe ich gesagt: "Um so besser!
Paß gut auf ihn auf, damit er gesund bleibt, denn man stellt dem Meister nach.
Den Täufer hat man bereits gefangen genommen...", und der Römer hat sofort
verstanden. Schlau, dieser Mann! Er hat geantwortet: "Sollten wir das
geringste Anzeichen bemerken, stellen wir eine Wache für ihn auf und man würde
die Israeliten daran erinnern, daß unter der Herrschaft Roms kein Komplott
erlaubt ist und daß Todes oder Galeerenstrafe darauf steht." Es sind Heiden...
aber ich hätte ihn umarmen können. Mir gefallen Leute, die verstehen, um was
es geht und danach handeln. Jetzt können wir aufbrechen.»
«Laßt uns gehen. Doch dies alles
wäre nicht nötig gewesen», sagt Jesus.
«Nötig war es, und wie!»
Jesus verabschiedet sich von der
gastfreundlichen Familie und auch vom neuen Jünger, dem er anscheinend
Weisungen erteilt hat. Sie sind wieder allein, der Meister und die Apostel,
und sie gehen über die frischen Felder auf einem Weg, den Jesus eingeschlagen
hat zum Erstaunen des Petrus, der einen anderen nehmen wollte.
«So entfernen wir uns vom See...»
«Wir werden immer noch
rechtzeitig ankommen für das, was ich zu tun habe.»
Die Apostel sagen nichts mehr und
gehen zu einem kleinen Dorf, einer über die Äcker verstreute Handvoll Häuser.
Man hört das laute Gebimmel der Herden, die zu den Weiden auf den Hügeln
ziehen. Als Jesus stehenbleibt, um eine zahlreiche Herde vorbeizulassen,
machen sich die Hirten gegenseitig auf ihn aufmerksam und bilden eine Gruppe.
Sie beraten miteinander, aber mehr getrauen sie sich nicht. Jesus macht
schließlich dem Zögern und Zaudern ein Ende und geht durch die Herde, die
schon im dichten Gras weidet. Er geht geradewegs zu einem Hirtenknaben mitten
in der wolligen und blökenden Schafherde und fragt: «Gehören sie dir?» Jesus
weiß natürlich, daß sie nicht dem Knaben gehören, doch er will ihn dadurch zum
Reden bringen.
373
«Nein, Herr. Ich gehöre zu diesen
Hirten, aber die Herden sind das Eigentum vieler Herren. Wir haben uns wegen
der Räuber zusammengetan.»
«Wie heißest du?»
«Zacharias, Sohn des Isaak. Doch
mein Vater ist tot. Ich bin in Diensten, weil wir arm sind, und unsere Mutter
hat außer mir noch drei jüngere Kinder.»
«Ist es schon lange her, daß dein
Vater gestorben ist ?»
«Drei Jahre, Herr... Ich habe
seither nicht mehr gelacht, weil unsere Mutter immer weint, und niemand
liebkost mich mehr. Ich bin der Erstgeborene und der Tod des Vaters hat mich
schon als Kind zum Erwachsenen gemacht... Ich darf nicht weinen, ich muß
verdienen. Doch es ist sehr schwer!» Die Tränen kollern über das Gesichtlein,
das für sein Alter zu ernst ist. Die Hirten haben sich genähert, und die
Apostel ebenfalls. Eine Gruppe Menschen in einer friedlich bewegten
Schafherde.
«Du bist nicht ohne Vater,
Zacharias. Du hast einen heiligen Vater im Himmel, und er liebt dich immer,
wenn du gut bist; auch dein Vater hat nicht aufgehört dich zu lieben, denn er
ist im Schoße Abrahams. Daran sollst du glauben, und dieser Glaube soll dich
immer besser werden lassen.» Jesus spricht liebevoll und liebkost den Knaben.
Ein Hirte wagt zu fragen: «Du
bist der Messias, nicht wahr?»
«Ja, ich bin es. Woher kennst du
mich?»
«Ich weiß, daß du in Palästina
umherziehst und daß du heilige Worte sprichst. Daran erkenne ich dich.»
«Geht ihr noch weit?»
«Auf die hohen Berge. Die Hitze
kommt... Wirst du uns etwas sagen? Dort oben, wo wir hingehen, sprechen nur
die Winde zu uns, und manchmal der Wolf und richtet ein Blutbad an, wie beim
Vater von Zacharias. Den ganzen Winter haben wir uns gesehnt, dich zu sehen,
sind dir jedoch nie begegnet.»
«Kommt in den Schatten des
Wäldchens. Dort werde ich zu euch sprechen.»
Jesus geht ihnen voraus. Er hält
den Hirtenjungen an der einen Hand und mit der anderen streichelt er die
Lämmlein, die blökend ihren Kopf zu ihm erheben. Die Hirten sammeln ihre Herde
unter den Bäumen des Wäldchens, und während sich die Schafe wiederkäuend auf
den Boden niederlassen, grasen oder sich an den Stämmen reiben, beginnt Jesus
zu sprechen.
«Ihr habt gesagt: "Dort oben, wo
wir leben, sprechen nur die Winde und manchmal der Wolf und richtet ein
Blutbad an." Was dort oben geschieht, geschieht auch in den Herzen durch das
Wirken Gottes, des Menschen und Satans. Darum könnt ihr dort oben erleben, was
euch überall widerfahren kann.
374
Wißt ihr genügend Bescheid über
das Gesetz, um die Zehn Gebote zu kennen? Auch du, mein Kind? Dann genügt euer
Wissen. Wenn ihr treu
befolgt, was Gott euch als Gebot
gegeben hat, dann werdet ihr Heilige werden. Beklagt euch nicht darüber, daß
ihr weit weg von der Welt seid. Dies bewahrt euch vor ihrer Verderbtheit, und
Gott ist euch in der Einsamkeit nicht fern, sondern näher. Seine Stimme
vernehmt ihr dort, in seiner Schöpfung, im Brausen der Winde, in Gräsern und
Wassern, aber nicht in der Menschenmenge. Diese Herde lehrt euch eine, ja
viele große Tugenden. Sie ist sanftmütig und folgsam. Sie ist mit wenig
zufrieden und dankbar für das, was sie hat. Sie versteht es, die zu lieben und
zu würdigen, die ihr Liebe schenken und für sie sorgen. Macht es ebenso und
sagt: "Gott ist unser Hirte, und wir sind seine Schafe. Sein Auge ist über
uns. Er behütet uns und gewährt uns nicht das, was uns zum Verderben gereicht,
sondern was wir zum Leben brauchen." Haltet den Wolf von euren Herzen fern.
Der Wolf, das sind die schlechten Menschen, die euch auf Befehl Satans
vielleicht zu bösen Taten überreden und verleiten, und Satan selbst versucht
euch zur Sünde, um euch zu zerreißen.
Seid wachsam! Ihr Hirten kennt
die Art des Wolfes. Wie die Schafe einfältig und arglos sind, so ist der Wolf
hinterlistig. Er schleicht sich langsam heran, nachdem er von der Höhe die
Gewohnheiten der Herde beobachtet hat. Durch das Gebüsch streichend, kommt er
immer näher, und um keine Aufmerksamkeit zu erregen, bleibt er ab und zu
plötzlich wie versteinert stehen. Gleicht er nicht einem großen Felsbrocken,
der ins hohe Gras gerollt ist? Doch wenn er dann sicher ist, daß niemand auf
ihn achtet, springt er auf und packt zu. Ebenso macht es Satan. Er beobachtet
euch, um eure schwachen Stellen ausfindig zu machen, er schleicht um euch
herum, scheint ungefährlich und zerstreut, die Gedanken anderswo, aber er
behält euch im Auge und stürzt sich unversehens auf euch, um euch zur Sünde zu
verleiten. Und manchmal gelingt es ihm. Doch bei euch ist der rettende Gott
und ein erbarmungsvoller Engel. Habt ihr euch verletzt, seid ihr krank, dann
entfernt euch nicht von ihnen, wie es der tollwütig gewordene Hund macht.
Bittet sie vielmehr weinend um Hilfe. Gott verzeiht dem, der bereut, und euer
Engel ist bereit, für und mit euch Gott anzuflehen.
Liebet einander und liebt dieses
Kind. Jeder muß sich ein wenig als Vater der Waisen fühlen. Die Anwesenheit
eines Kindes unter euch soll jede eurer Handlungen mit dem heiligen Zügel des
Respektes vor dem Knaben
mäßigen, und eure Anwesenheit
möge ihm ersetzen, was der Tod ihm genommen hat. Man muß seinen Nächsten
lieben. Dieser Junge ist euer
Nächster, den Gott euch in
besondere Weise anvertraut. Erzieht ihn zum guten, gläubigen, rechtschaffenen
Mann ohne Laster. Er ist viel mehr wert als eines dieser Schäflein. Wenn ihr
auf die Tiere achtet, weil sie eurem Herrn gehören und dieser euch bestrafen
würde, wenn ihr sie zugrunde
375
gehen laßt, um wieviel mehr müßt
ihr euch um diese Seele kümmern, die Gott euch in seinem Namen und in dem des
verstorbenen Vaters anvertraut. Sein Los als Waise ist traurig. Macht es nicht
noch schwerer, indem ihr seine Schwäche und Hilflosigkeit ausnützt und ihn
quält. Denkt daran, daß Gott die Werke und Tränen eines jeden sieht und sie
ihm zur Belohnung oder Strafe gereichen.
Du, Kind, denk daran, daß du nie
allein bist. Gott sieht dich, und der Geist deines Vaters auch. Wenn dich
etwas verwirrt und dich zum Bösen verleitet, dann sage: "Nein, ich will nicht
auf ewig Waise sein." Du würdest es sein, wenn du deine Seele durch die Sünde
verdammst.
Seid gute Menschen! Ich segne
euch, damit alles Gute mit euch sei. Wenn wir denselben Weg hätten, würde ich
noch lange zu euch sprechen. Doch nun steigt die Sonne höher und ihr müßt
gehen, und ich auch. Ihr, um eure Schafe vor der Hitze in Sicherheit zu
bringen, und ich, um die Herzen von einer anderen Glut, die weit schrecklicher
ist, zu befreien. Betet, damit sie in mir den Göttlichen Hirten erkennen. Leb
wohl, Zacharias, sei gut! Der Friede sei mit euch!»
Jesus küßt den Hirtenknaben und
segnet; und während die Herde sich langsam entfernt, verfolgt er sie mit dem
Blick. Dann nimmt er seinen Weg wieder auf.
«Du hast gesagt, daß wir gehen,
um die Herzen von einer anderen Glut zu befreien... Wohin gehen wir?» fragt
Iskariot.
«Vorerst zu dem etwas
schattigeren Platz dort am Bach. Dort wollen wir essen, und dann werdet ihr
erfahren, wohin wir gehen.»
222. JESUS IN MAGDALA; ZWEITE
BEGEGNUNG MIT MAGDALENA
Die Apostel sind nun vollzählig
um Jesus geschart. Im Grase sitzend, im kühlen Schatten einiger Bäume am Ufer
eines Baches, essen sie Brot und Käse und trinken dazu frisches, klares Wasser
aus dem Bach. Ihre staubigen Sandalen deuten darauf hin, daß sie schon einen
langen Weg hinter sich haben, und die Jünger hegen vielleicht nur den einen
Wunsch, sich im frischen hohen Grase auszuruhen.
Doch der unermüdliche Wanderer
ist nicht dieser Ansicht. Sobald er glaubt, daß nun die größte Hitze des Tages
vorüber ist, steht er auf, geht auf die Straße und hält Ausschau... Dann
wendet er sich um und sagt einfach: «Laßt uns gehen!»
Als sie zu einer Wegkreuzung
kommen, an der sich vier staubige Feldwege vereinigen, schlägt Jesus ganz
entschieden den ein, der in nordöstliche Richtung führt.
376
«Kehren wir nach Kapharnaum
zurück?» will Petrus wissen.
Jesus antwortet nur: «Nein!»
«Dann nach Tiberias ?» drängt
Petrus, der es unbedingt wissen will.
«Auch nicht.»
«Aber dieser Weg führt zum
Galiläischen Meer... und dort liegen Tiberias und Kapharnaum.»
«Aber auch Magdala», sagt Jesus
mit einem halbernsten Gesicht, um die Neugier des Petrus etwas zu befriedigen.
«Magdala? Oh! ...» Petrus ist
ziemlich entsetzt, und daraus schließe ich, daß diese Stadt keinen guten Ruf
genießt.
«Nach Magdala, ja, nach Magdala.
Hältst du dich für zu anständig, um diesen Ort zu betreten? Petrus, Petrus !
... Mir zuliebe wirst du nicht nur Städte des Vergnügens, sondern wahre
Wolfshöhlen betreten... Christus ist nicht gekommen, um die Geretteten zu
erretten, sondern um die Verlorenen zu erretten... und du... du wirst deshalb
Petrus, der "Fels" oder Kephas sein, und nicht Simon. Hast du Angst, dich zu
verunreinigen? Nein! Nicht einmal diesem hier wird es schaden, siehst du? (Und
er deutet dabei auf den noch sehr jungen Johannes.) Nicht einmal diesem hier
wird es schaden, denn er will es nicht... so, wie auch du es nicht willst, und
deine Brüder und der Bruder des Johannes es nicht wollen... wie niemand von
euch es jetzt will! Solange man es nicht will, nimmt man keinen Schaden. Aber
es ist notwendig, mit Kraft und Beharrlichkeit nicht zu wollen. Kraft und
Beharrlichkeit erlangt man vom Vater im aufrichtigen Gebet mit dem Vorsatz,
die Sünde zu meiden. Nicht alle werdet ihr später so zu beten imstande sein.
Was sagst du, Judas? Traue dir nicht zu viel zu. Ich, der ich Christus bin,
bete immerfort, um Kraft gegen Satan. Bist du denn mehr als ich? Der Stolz ist
die Ritze, durch die Satan eindringt. Sei wachsam und demütig, Judas!
Matthäus, du kennst diesen Ort gut; sage mir, ist es besser auf diesem Weg
hineinzugehen, oder gibt es einen anderen?»
«Es kommt ganz darauf an,
Meister. Wenn du in das Magdala der Fischer und der Armen gehen willst, dann
ist dies hier der richtige Weg, denn hier kommt man in die Vorstadt, wo das
einfache Volk lebt. Wenn du aber dorthin gehen willst, wo die Reichen sind –
was ich zwar nicht annehme, aber ich sage es dir, um eine umfassende Antwort
zu geben – dann müssen wir nach einigen hundert Metern diese Straße verlassen
und eine andere einschlagen, denn die Häuser der Reichen liegen auf halber
Höhe und wir müßten zurückgehen...»
«Dann werden wir zurückgehen,
denn ich will in Magdala das Wohnviertel der Reichen aufsuchen... Was hast du
gesagt, Judas ?»
«Nichts, Meister. Schon zum
zweiten Male innerhalb kurzer Zeit fragst du mich, doch ich habe nicht
gesprochen.»
«Mit den Lippen nicht, aber in
deinem Herzen hast du gesprochen. Du hast in deinem Geist, in deiner Seele
gemurrt. Man braucht nicht einen
377
.anderen Menschen als
Gesprächspartner, um seine Meinung zu sagen. Vieles sagen wir zu uns selber...
aber nicht einmal in seinem Inneren soll man murren oder verleumden.»
Die Gruppe geht schweigend
weiter. Die Hauptstraße mit ihrem Pflaster aus viereckigen, handbreiten
Steinen, beginnt nun städtischen Charakter anzunehmen, und auch die Häuser
inmitten üppiger, blühender Gemüse- und Blumengärten werden immer reicher und
schöner. Ich habe den Eindruck, daß das elegante Magdala für die Palästinenser
eine Art Vergnügungsstätte ist, wie gewisse Städtchen an unseren lombardischen
Seen, z.B. Stresa, Gardona, Pallanza oder Bellagio. Unter den reichen
Palästinensern sind auch Römer, die sicher von anderen Orten wie Tiberias oder
Caesarea kommen, wo sie beim Statthalter als Beamte in Stellung waren;
außerdem sind dort Händler, um die besten Erzeugnisse aus der Provinz
Palästina nach Rom auszuführen.
Zielbewußt geht Jesus in den Ort,
als ob er genau wüßte, wohin sein Weg führt. Er geht dem See entlang, an
dessen Ufer die Villen mit ihren Gärten liegen.
Ein Chor weinender Stimmen dringt
aus einem vornehmen Hause. Es sind Frauen- und Kinderstimmen, und eine
durchdringende Frauenstimme übertönt alle anderen mit ihren Rufen: «Sohn!
Sohn!»
Jesus wendet sich um und sieht
seine Apostel an. Judas tritt näher. «Nicht du, Judas», gebietet Jesus. «Du,
Matthäus, geh und erkundige dich.»
Matthäus geht und kommt zurück:
«Eine Rauferei, Meister. Ein Mann
liegt im Sterben. Ein Jude. Der Angreifer ist geflohen, es war ein Römer.
Seine Frau, die Mutter und die kleinen Kinder sind herbeigeeilt... aber er
stirbt.»
«Laßt uns gehen.»
«Meister... Meister... der
Vorfall hat sich im Hause einer Frau ereignet... die nicht seine Ehefrau ist.»
«Laßt uns gehen.»
Sie betreten durch die
offenstehende Türe eine lange, geräumige Vorhalle, die zu einem schönen Garten
führt. Es scheint, daß das Haus durch eine Art gedeckten Säulenhof aufgeteilt
ist, in welchem viele Pflanzen in Gefäßen, Statuen und fein gearbeitete Möbel
stehen. Eine Art Wintergarten. In einem Zimmer, dessen Tür zur Vorhalle offen
steht, befinden sich weinende Frauen. Jesus geht ohne Zögern hinein, jedoch
ohne seinen gewohnten Gruß zu entbieten.
Unter den anwesenden Männern ist
ein Händler, der Jesus kennen muß, denn kaum hat er ihn erblickt, sagt er:
«Der Rabbi von Nazareth!», und grüßt ihn respektvoll.
«Joseph, was ist vorgefallen?»
«Ein Dolchstoß ins Herz,
Meister... Er stirbt.»
378
«Weshalb?»
Eine graue und ungekämmte Frau,
die neben dem Sterbenden kniet und seine schon leblose Hand hält, steht auf
und kreischt mit den Augen einer Wahnsinnigen: «Ihretwegen, ihretwegen! Sie
hat ihn verhext... Für ihn gab es keine Mutter, keine Frau und keine Kinder
mehr! Die Hölle soll dich haben, du Teufelsweib!»
Jesus erhebt seine Augen, und
sein Blick folgt der Hand, die zitternd anklagt. In der Ecke, gegen die
tiefrote Wand gelehnt, erblickt er, schamlos gekleidet und anstößiger denn je,
Maria von Magdala. Die Hälfte ihres Körpers ist sozusagen unbekleidet, denn
ihr Oberkörper ist in eine Art feines Netz aus sechseckigen Maschen gehüllt,
das mit etwas rundem, wahrscheinlich kleinen Perlen, besetzt ist. Da sie im
Halbdunkel steht, sehe ich sie nicht gut.
Jesus senkt die Augen. Maria,
gereizt durch seine Gleichgültigkeit, richtet sich auf und nimmt Haltung an,
während sie zuvor niedergeschlagen schien. «Frau», sagt Jesus zur Mutter,
«verwünsche niemanden! Antworte mir! Warum war dein Sohn in diesem Hause?»
«Ich habe es dir schon gesagt.
Weil sie ihn verrückt gemacht hat. Sie!»
«Schweig. Auch er war ein Sünder,
denn er war ein Ehebrecher und diesen unschuldigen Kindern ein unwürdiger
Vater. Er verdient also seine Strafe. In diesem und in jenem Leben gibt es
keine Barmherzigkeit für den, der nicht bereut. Doch ich habe Erbarmen mit
deinem Schmerz, Frau, und mit diesen unschuldigen Kindern. Ist dein Haus weit
entfernt?»
«Etwa hundert Meter.»
«Hebt den Mann auf und bringt ihn
dorthin.»
«Das ist nicht möglich, Meister»,
sagt der Händler Joseph. «Er liegt im Sterben.»
«Tue, was ich dir sage!»
Sie schieben ein Brett unter den
Sterbenden, und der Zug geht langsam hinaus. Sie überqueren die Straße und
betreten einen schattigen Garten. Die Frauen weinen immer noch laut. Kaum sind
sie im Garten angelangt, wendet sich Jesus an die Mutter.
«Kannst du verzeihen? Wenn du
verzeihst, verzeiht Gott. Um einer Gnade würdig zu sein, muß man sich ein
gutes Herz schaffen. Dieser Mann hat gesündigt und wird weiter sündigen. Für
ihn wäre es besser zu sterben, denn wenn er zum Leben zurückkehrt, wird er
erneut der Sünde verfallen, und er wird Gott, der ihn geheilt hat, auch
Rechenschaft über seine Undankbarkeit ablegen müssen. Aber du und diese
Unschuldigen (er zeigt auf die Frau und die Kinder), ihr würdet verzweifeln.
Doch ich bin gekommen, um zu retten und nicht, um zu verderben. Mann, ich sage
dir: steh auf und sei geheilt.»
Der Mann kehrt zum Leben zurück,
öffnet die Augen, sieht die Mutter, die Kinder, seine Frau und senkt beschämt
den Kopf.
379
«Sohn, Sohn», sagt die Mutter.
«Du wärest gestorben, wenn er dich nicht gerettet hätte. Gehe in dich!
Verliere dich nicht im Sinnen wegen einer...»
Jesus unterbricht die Alte:
«Frau, schweige! Sei barmherzig, wie auch dir Barmherzigkeit widerfahren ist.
Dein Haus ist durch das Wunder geheiligt, denn das Wunder ist immer ein Beweis
der Gegenwart Gottes. Daher konnte ich es nicht dort wirken, wo die Sünde war.
Bewahre wenigstens du dein Haus rein, wenn schon dieser hier dazu nicht fähig
sein wird. Pflegt ihn nun. Es ist gerecht, daß er noch eine Zeitlang leiden
muß. Sei gut, Frau! Auch du! Und ihr, Kinder, lebt wohl.» Jesus hat den beiden
Frauen die Hand auf den Kopf gelegt und auch den Kindern.
Dann geht Jesus hinaus und an
Magdalena vorbei, die dem Zug bis vor das Haus gefolgt und auf der
angrenzenden Straße, an einen Baum gelehnt, stehengeblieben ist. Jesus geht
langsamer, als warte er auf die Jünger, doch ich glaube, daß er Maria die
Möglichkeit geben will, eine Geste zu machen. Aber sie tut es nicht.
Die Jünger erreichen Jesus, und
Petrus kann es sich nicht verkneifen, ein auf Maria gemünztes Schimpfwort in
seinen Bart zu murmeln. Diese, um ihre Haltung nicht zu verlieren, bricht in
ein Gelächter aus, das sich aber alles andere als triumphierend anhört.
Doch Jesus hat die Bemerkung des
Petrus gehört, wendet sich streng an ihn und sagt: «Petrus, ich beschimpfe
nicht. Beschimpfe auch du nicht! Bete für die Sünder. Nichts anderes.»
Maria bricht ihr schallendes
Gelächter ab, senkt den Kopf und entschwindet wie eine Gazelle in Richtung
ihres Hauses.
223. ZU MAGDALA IM HAUSE DER
MUTTER BENJAMINS
Das Wunder muß erst vor kurzem
geschehen sein, denn die Apostel reden darüber und die Bewohner des Ortes
ebenfalls, sie deuten auf Jesus, der mit ernstem Gesicht geradeaus zum
Stadtrand, ins Armenviertel, geht.
Er bleibt vor einem Häuschen
stehen, aus dem ein kleiner Junge gelaufen kommt, dem die Mutter folgt. «Frau,
darf ich in deinen Garten kommen und dort ein wenig verweilen, bis die
schlimmste Hitze vorüber ist ?»
«Komm herein, Herr, auch in die
Küche, wenn du willst. Ich werde dir Wasser und eine Erquickung bringen.»
«Bemühe dich nicht. Es genügt
mir, ein wenig in diesem ruhigen Garten zu sein.»
Doch die Frau möchte Wasser
anbieten, dem etwas, ich weiß nicht was, beigemischt wurde. Dann läuft sie
ständig im Garten herum, als wolle
380
etwas sagen, hätte aber nicht den
Mut dazu. Sie scheint sich mit dem Gemüse zu beschäftigen, doch in
Wirklichkeit achtet sie auf den Meister; aber wegen des Kleinen, der nach
einem Schmetterling oder sonst einem Insekt hascht und dabei ein lautes
Geschrei vollführt, kann sie nicht verstehen, was Jesus sagt. Sie wird
ungeduldig und gibt dem Kind einen leichten Klaps, worauf dieses nur noch
lauter schreit.
Jesus, der soeben dem Zeloten auf
die Frage: «Glaubst du, daß der Vorfall Maria aufgerüttelt hat ?» antwortet:
«Mehr als es euch scheint», wendet sich um und ruft das Kind zu sich, das sich
auf seinen Knien beruhigt und aufhört zu weinen.
Die Frau ruft den Kleinen zurück:
«Benjamin, komm her! Du darfst nicht stören !»
Doch Jesus sagt: «Laß ihn nur,
laß ihn. Er wird artig sein und dich in Ruhe lassen», und zum Kinde gewandt:
«Weine nicht! Deine Mutter hat dir nicht weh getan, sie hat dir nur das
Gehorchen beigebracht, oder besser: sie hat versucht, dir Gehorsam
beizubringen. Warum hast du so geschrieen, wo sie doch Ruhe haben möchte?
Vielleicht fühlt sie sich nicht wohl und dein Geschrei stört sie.»
Das Kind antwortet prompt und mit
jener unübertrefflichen Aufrichtigkeit der Kinder, die Erwachsene zur
Verzweiflung bringt: «Nein, sie fühlt sich nicht krank, sie wollte nur hören,
was du sagst... Sie hat es mir nämlich gesagt. Aber ich, da ich zu dir kommen
wollte, habe absichtlich Lärm gemacht, damit du mich beachtest.»
Alle lachen, und die Frau wird
feuerrot.
«Erröte nicht, Frau, komm zu mir.
Du wolltest mich sprechen hören? Warum?»
«Weil du der Messias bist. Nur du
kannst der Messias sein, da du solche Wunder wirkst ... Ich hätte dir gerne
zugehört... Ich gehe nie aus Magdala hinaus, weil ich ... einen schwierigen
Mann und fünf Kinder habe. Das kleinste ist vier Monate alt... und hierher
kommst du nie.»
«Ich bin gekommen, und in dein
Haus. Siehst du?»
«Darum wollte ich dir gerne
zuhören.»
«Wo ist dein Mann?»
«Auf dem See, Herr. Wenn man
nicht fischt, hat man nichts zu essen. Ich habe nur diesen kleinen Garten.
Kann der genügen für sieben Personen? Trotzdem verlangt Zachäus, daß...»
«Sei geduldig, Frau. Alle haben
ihre Last zu tragen.»
«O nein, die Schamlosen haben nur
das Vergnügen. Hast du das Tun der Schamlosen gesehen? Sie genießen und
verursachen anderen Leid. Sie quälen sich nicht ab mit Kindergebären und
Arbeit, bis sie der Rücken schmerzt. Sie bekommen keine Blasen von der Hacke
und keine zerschundenen Hände vom vielen Waschen. Sie sind schön und frisch.
Für sie gilt die über Eva verhängte Strafe nicht. Vielmehr werden wir durch
sie
381
bestraft, weil... die Männer...
du verstehst mich schon.»
«Ich verstehe dich. Doch wisse,
auch sie haben ihr schreckliches Kreuz, das schrecklichste, und ein Kreuz, das
man nicht sieht. Es ist ihr Gewissen, das sie anklagt; es ist die Welt, die
sie verspottet; die Familie, die sie verstößt; und es ist Gott, der sie
verflucht. Sie sind nicht glücklich, glaube es mir. Sie quälen sich nicht ab
mit Kindergebären und Arbeiten, keine Mühsal macht ihre Hände wund, und
trotzdem sind sie zermürbt durch die Scham. Ihr Herz ist eine einzige Wunde.
Beneide sie nicht um ihr Aussehen, ihre Frische, ihre vermeintliche
Heiterkeit. Sie sind nur der Schleier über dem Ruin, der ihr Gewissen plagt
und sie keinen Frieden finden läßt. Beneide nicht ihren Schlaf, du ehrbare
Mutter, die du von deinen unschuldigen Kindern träumst... Auf ihren Kissen
lastet der Alptraum, und in ihrer Sterbestunde oder in ihrem Alter werden sie
einst von Gewissensbissen und Angst heimgesucht werden.»
«Das ist wahr... Verzeih... Darf
ich hier bleiben?»
«Bleibe! Wir werden Benjamin ein
schönes Gleichnis erzählen, und die, die keine Kinder mehr sind, werden es auf
sich selbst und auf Maria von Magdala anwenden. Hört also!
Ihr zweifelt an der Bekehrung
Marias zum Guten und es gibt kein Anzeichen für eine Umkehr. Frech und
schamlos, ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Macht bewußt, hat sie es
gewagt, die Leute herauszufordern und bis vor das Haus zu kommen, wo man durch
ihr Verschulden weint. Auf die Rüge des Petrus hat sie mit Gelächter
geantwortet, auf meinen einladenden Blick mit stolzer Unnahbarkeit. Ihr hättet
vielleicht gewünscht – die einen aus Liebe zu Lazarus, die anderen aus Liebe
zu mir – daß ich direkt zu ihr hingehe, ein langes Gespräch mit ihr führe und
sie durch meine Macht bezwinge, um ihr dadurch meine Gewalt als Messias und
Erlöser zu beweisen. Nein! Das alles ist nicht nötig. Ich habe dies bereits
wegen einer anderen Sünderin vor vielen Monaten gesagt. Die Seelen müssen
selbst soweit kommen. Ich gehe vorüber und streue den Samen aus, und ganz im
Verborgenen wirkt der Same. Die Seele soll in ihrem Wirken respektiert werden.
Wenn der erste Same nicht Wurzel faßt, sät man noch einen... und noch einen,
und erst dann gibt man auf, wenn man sichere Beweise für die Nutzlosigkeit des
Säens hat. Dazu betet man, denn das Gebet ist wie der Tau aufs Erdreich: er
erhält es feucht und dadurch nährstoffreich, und so kann der Same sprießen.
Machst du es mit deinem Gemüse nicht ebenso, Frau?
Nun hört das Gleichnis vom Wirken
Gottes in den Herzen, um darin das Reich Gottes zu gründen. Jedes Herz ist ein
kleines Reich Gottes auf Erden. Später, nach dem Tode, werden sich all diese
kleinen Reiche zu einem einzigen vereinigen, zum unermeßlichen, heiligen,
ewigen Himmel.
Das Reich Gottes in den Herzen
wird vom göttlichen Sämann gegründet. Er kommt auf sein Gut – der Mensch
gehört Gott, darum ist am
382
Anfang jeder Mensch sein Eigentum
– und streut seinen Samen. Danach geht er auf andere Güter, zu anderen Herzen.
Den Tagen folgen die Nächte und den Nächten die Tage. Die Tage bringen Sonne
und Regen: hier die Strahlen der göttlichen Liebe und den Strom göttlicher
Weisheit, die zur Seele spricht. Die Nächte lassen ihre Sterne leuchten und
schenken erholsame Stille: in unserem Fall, göttliche Mahnungen und Stille für
die Seelen, um sich zu sammeln und sich zu besinnen.
In dieser ständigen
Aufeinanderfolge unmerklicher und kraftvoller Vorsehungen schwillt der Same
an, bricht auf, treibt Wurzeln, nistet sich ein, und das junge Pflänzchen
beginnt zu sprießen, bringt die ersten Blättchen hervor und wächst heran. All
dies geschieht ohne menschliche Hilfe. Spontan bringt die Erde die Pflanze aus
dem Samen hervor, und die Pflanze wird kräftig und trägt die aus ihr
entstehende Ähre, die immer mehr nach oben strebt, anschwillt, erstarkt, gelb
und hart wird, und deren Körner dann die vollkommene Reife erlangen. Da die
Zeit der Vollendung für diesen Samen gekommen ist, der sich nicht noch weiter
entwickeln könnte, kehrt der Sämann zurück und setzt seine Sichel zur Ernte
an.
In den Herzen hat mein Wort
dieselbe Wirkung. Ich spreche von den Herzen, die den Samen aufnehmen. Doch
nur langsam geht die Entwicklung vor sich, und man muß darauf achten, nichts
zur Unzeit zu tun, denn dann würde man alles zerstören. Wie mühsam ist es doch
für das kleine Samenkorn, aufzubrechen und sich in der Erde zu verwurzeln.
Auch für das harte, widerspenstige Herz bedeutet dies mühevolle Arbeit. Es muß
sich erschließen, sich aufwühlen lassen, Neues aufnehmen und dies mühevoll
hegen, und schließlich muß sich ein solcher Mensch von allem Prunk und der
reizvollen, nutzlosen und übermäßig eleganten Bekleidung von früher lösen und
sein Äußeres verändern: Er muß sich nunmehr begnügen, demütig zu arbeiten,
ohne bewundert zu werden, um so ganz der Absicht Gottes zu entsprechen. Alle
seine Fähigkeiten muß er nützen, um zu wachsen und Ähren hervorzubringen. In
Liebe muß man erglühen, um zum Weizen zu werden. Hat man dann einmal die so
sehr, sehr leidige Menschenfurcht überwunden, sich abgemüht, gelitten, und
seine neue Wesensart sogar liebgewonnen, dann muß man sich in einem Entschluß
von erbarmungsloser Härte auch davon lösen. Alles muß man geben, um alles zu
besitzen. Von allem muß sich der Mensch entblößen, um einst im Himmel mit der
Stola der Heiligen bekleidet zu werden. Das Leben des Sünders, der heilig
wird, ist die längste, heldenhafteste und ruhmreichste Schlacht. Ich sage es
euch!
Ihr werdet nach dem, was ich euch
gesagt habe, einsehen und verstehen, daß mein Verhalten Maria gegenüber
richtig ist. Habe ich an dir etwa anders gehandelt, Matthäus?»
«Nein, mein Herr.»
383
«Sage mir die Wahrheit: was hat
dich mehr überzeugt, meine Geduld oder die bitteren Vorwürfe der Pharisäer?»
«Deine Geduld, so wahr ich hier
stehe! Die Pharisäer mit ihrer Verachtung und ihren Verwünschungen lösten in
mir wiederum nur Verachtung aus, und weil ich sie verachtete, wurde ich noch
schlechter als zuvor. Es geschieht folgendes: lebt man in Sünde und wird man
als Sünder behandelt, dann verhärtert man sich erst recht. Doch, erhält man
statt einer Beleidigung ein Wort der Liebe, ist man darüber so sehr erstaunt,
daß man nur noch weinen kann... und wenn man weinen kann, zerspringt der
Panzer der Sünde, der das Herz umgab und fällt ab. Entblößt steht man dann vor
der Güte Gottes und fleht ihn an um ein neues Kleid – ihn selbst.»
«Das hast du gut gesagt.
Benjamin, gefällt dir die Geschichte ? Ja ? Gut so! Und wo ist denn deine
Mutter?»
Jakobus des Alphäus antwortet:
«Sie ist am Ende des Gleichnisses weggegangen und auf der Straße dort
davongeeilt.»
«Sie wird zum See gehen um zu
sehen, ob ihr Mann zurückgekommen ist», sagt Thomas.
«Nein, sie ist zur alten Mutter
gegangen, um die Geschwisterchen zu holen. Meine Mutter bringt sie immer
dorthin, damit sie arbeiten kann», sagt das Kind, das sich vertrauensvoll an
die Knie Jesu schmiegt.
«Und du bist hier, kleiner Mann?
Du mußt ein schöner Schlingel sein, wenn sie dich allein bei sich behält!»
bemerkt Bartholomäus.
«Ich bin der älteste und helfe
ihr...»
«Sich den Himmel zu verdienen,
arme Frau! Wie alt bist du?» fragt Petrus.
«In drei Jahren werde ich ein
Sohn des Gesetzes sein», sagt der Lausbub stolz.
«Kannst du lesen?» fragt Judas
Thaddäus.
«Ja, aber ich komme nur langsam
vorwärts... denn der Lehrer stellt mich fast jeden Tag vor die Türe...»
«Ich habe es doch gesagt!» sagt
Bartholomäus.
«Das kommt daher, daß der Lehrer
alt und häßlich ist und immer dieselben Dinge sagt, die zum Einschlafen
langweilig sind. Wenn er so wäre, wie er (er deutet auf Jesus), dann wäre ich
aufmerksam. Schlägst du die, die schlafen oder spielen?»
«Ich schlage niemanden, aber ich
sage meinen Schülern: "Seid zu euerem eigenen Besten und aus Liebe zu mir
aufmerksam."», antwortet Jesus.
«Ja, so ist es richtig. Aus Liebe
schon, aber nicht aus Angst.»
«Aber wenn du brav bist, dann hat
dich der Lehrer gern.»
«Liebst du denn nur die Artigen?
Gerade eben hast du doch gesagt, daß du geduldig mit diesem hier gewesen bist,
der nicht gut war...» Die kindliche Logik ist bezwingend.
384
«Ich bin mit allen gut. Aber wer
zum braven Menschen wird, den liebe ich ganz besonders, und mit diesem bin ich
sehr, sehr lieb.»
Das Kind denkt nach... dann hebt
es den Kopf und fragt Matthäus: «Wie hast du es gemacht, gut zu werden?»
«Ich habe ihn gern gehabt.»
Das Kind denkt wieder nach, dann
blickt es auf die Zwölf und sagt zu Jesus: «Sind die hier alle brav?»
«Gewiß, das sind sie.»
«Bist du sicher? Manchmal bin ich
artig, aber nur, weil ich einen noch größeren Unfug anstellen will.»
Alle lachen laut. Auch der Knabe
muß mitlachen. Selbst Jesus lacht, drückt den Jungen an sein Herz und küßt
ihn.
Das Kind, das nun bereits mit
allen gut Freund ist, möchte spielen und sagt: «Nun will ich dir sagen, wer
gut ist», und es beginnt mit seiner Auswahl. Es blickt alle nacheinander an
und geht dann geradewegs auf Johannes und Andreas zu, die nebeneinander
stehen, und sagt: «Du und du, kommt her.» Dann wählt es die beiden Jakobus und
stellt sie zu den ersten beiden, dann auch Judas Thaddäus. Vor dem Zeloten und
Bartholomäus bleibt es lange nachdenklich stehen und sagt: «Ihr seid zwar alt,
doch ihr seid gut», und gesellt sie zu den anderen. Dann betrachtet es Petrus,
der die Prüfung über sich ergehen läßt, indem er ihm zum Spaß böse Blicke
zuwirft. Auch er wird für gut befunden. Matthäus und Philippus bestehen die
Prüfung ebenfalls. Zu Thomas sagt das Kind: «Du lachst zuviel. Mir ist es
ernst. Weißt du nicht, daß mein Lehrer sagt, daß, wer immer lacht, bei der
Prüfung dann Fehler macht.» Trotzdem besteht Thomas die Prüfung, wenn auch
nicht gerade mit einer guten Note. Dann geht das Kind zu Jesus zurück.
«He, du Spitzbub! Ich bin auch
noch da. Ich bin kein Baum. Ich bin jung und schön. Warum prüfst du mich
nicht?» fragt Judas Iskariot.
«Weil du mir nicht gefällst.
Meine Mutter sagt, was man nicht mag, das soll man nicht anfassen. Man läßt es
auf dem Tisch, damit es die anderen nehmen können, die es vielleicht gut
finden. Sie sagt auch, daß, wenn man etwas angeboten bekommt, das man nicht
mag, dann soll man nicht sagen: "Das schmeckt mir nicht" sondern man sagt:
"Danke, ich habe keinen Hunger." Ich habe kein Verlangen nach dir.»
«Aber weshalb? Schau, wenn du
sagst, daß ich gut bin, dann gebe ich dir diese Münze.»
«Was soll ich damit? Was kaufe
ich mir mit einer Lüge? Die Mutter sagt, daß das Geld, das man durch Betrug
gewinnt, zu Stroh wird. Einmal habe ich mir von der alten Mutter mit einer
Lüge eine Didrachme erschwindelt, um mir Honigküchlein zu kaufen, und in der
Nacht ist sie zu Stroh geworden. Ich hatte sie in das Loch unter der Türe
gesteckt, um sie anderentags zu holen, und habe in der Frühe ein Häuflein
Stroh vorgefunden.»
385
«Aber warum hältst du mich nicht
für gut? Was habe ich denn an mir? Einen Klumpfuß? Oder bin ich häßlich?»
«Nein... aber du machst mir
Angst.»
«Aber warum denn?» fragt Judas
Iskariot näherkommend.
«Ich weiß nicht, laß mich in
Ruhe. Rühre mich nicht an, sonst kratze ich dich.»
«Was für ein Igel. Er ist
verrückt», Judas hat ein böses Lachen.
«Ich bin nicht verrückt, aber du
bist böse», und das Kind flüchtet zu Jesus, der es stumm streichelt.
Die Apostel scherzen über den
Vorfall, der wenig schmeichelhaft für Judas Iskariot ist. Nun kommt die Frau
mit einem Dutzend Leuten zurück, und nach und nach kommen noch mehr. Es sind
im ganzen ungefähr fünfzig Personen, alles arme Leute.
«Würdest du zu ihnen sprechen?
Wenigstens kurz. Dies ist die Mutter meines Mannes, dies sind meine Kinder,
und der Mann dort ist mein Gatte. Nur ein Wort, Herr», bettelt die Frau.
«Um dir für deine
Gastfreundschaft zu danken, werde ich es tun.»
Die Frau geht ins Haus, wo der
Säugling nach ihr schreit. Dann setzt sie sich auf die Schwelle und reicht ihm
die Brust.
«Hört, hier auf meinen Knien habe
ich ein Kind, das sehr weise gesprochen hat. Es hat gesagt, daß alles, was man
durch Betrug erworben hat, zu Stroh wird. Seine Mutter hat es diese Wahrheit
gelehrt. Es ist kein Märchen, sondern ewige Wahrheit. Niemals kann etwas gut
gelingen, das ohne Ehrlichkeit getan wird, denn die Lüge im Sprechen, Handeln,
in der Religion, ist stets ein Zeichen des Bündnisses mit Satan, dem Meister
der Lüge. Glaubt nicht, daß die Werke, durch die man das Himmelreich erwirbt,
Werke von überwältigender Auffälligkeit seien. Es sind alltägliche Werke, die
beständig und im Geist übernatürlicher Liebe vollbracht werden. Die Liebe ist
der Same der Pflanze, die in euch keimt und zum Himmel wächst, und in deren
Schatten alle übrigen Tugenden gedeihen. Ich vergleiche die Liebe mit einem
winzigkleinen Senfkorn. Wie gering ist es! Eines der kleinsten Samenkörner,
die der Mensch aussät. Und doch, seht, wie stark die Pflanze ist, wenn sie
ihre volle Größe erreicht hat, wie dicht belaubt und fruchtbar. Nicht hundert
für hundert, sondern hundert für eine Frucht gibt sie. Es ist das kleinste
unter den Samenkörnern, aber das fleißigste bei seiner Arbeit. Und wieviel
Nutzen bringt es!
So ist die Liebe. Wenn ihr in
eurer Brust einen kleinen Samen der Liebe für euren heiligsten Gott und euren
Nächsten bergt und unter der Führung der Liebe eure Werke vollbringt, dann
werdet ihr gegen keine Vorschrift der Zehn Gebote verstoßen. Ihr werdet Gott
nicht mit einer falschen Religion, die sich in leeren Andachtsübungen
erschöpft, belügen. Ihr werdet nicht als Kinder eure Eltern durch Undank
kränken und nicht als ehebrecherische oder auch nur zu anspruchsvolle Gatten
euren Partner um die
386
Liebe betrügen. Ihr werdet in
Geschäften euren Nächsten nicht hintergehen, ihn im täglichen Leben nicht
belügen und gegen euren Feind nicht gewaltsam vorgehen. Schaut, wie viele
Vögelchen sich zu dieser warmen Mittagszeit ins Gebüsch dieses Gartens
flüchten. Bald wird das kleine Senfpflänzchen dort eine wahre Zuflucht für die
Spatzen sein. All diese Vögel werden Schutz und Schatten in den dichtbelaubten
schönen Bäumen finden, und die Jungen werden darin fliegen lernen und dabei
die Äste und Zweige als Leiter und Auffangnetz gebrauchen, um beim Fliegen
nicht zu fallen. So verhält es sich mit der Liebe als Grundlage des Reiches
Gottes.
Liebt, und ihr werdet geliebt
werden. Liebt, und ihr werdet nachsichtig miteinander sein. Liebt, und ihr
werdet nicht grausam gegen eure Untergebenen sein und nicht mehr als erlaubt
von ihnen verlangen. Liebt und seid ehrlich, um den Frieden und die Seligkeit
des Himmels zu verdienen. Sonst wird sich, wie es Benjamin gesagt hat, jedes
eurer Werke, das gegen die Liebe und die Wahrheit verstößt, in Stroh für euer
höllisches Lager verwandelt werden. Ich füge nichts anderes hinzu. Ich sage
nur: Haltet euch das große Gebot der Liebe vor Augen und seid treu dem Gott
der Wahrheit und der Wahrheit in jedem Wort, in jedem Werk und in eurer ganzen
Gesinnung, denn die Wahrheit ist die Tochter Gottes. Sie ist ein fortwährendes
Werk der Vervollkommnung für euch, so wie das Samenkorn zu seiner Vollendung
heranwächst; es ist ein Wirken in der Stille, in Demut und Geduld. Seid
versichert, daß Gott euer Ringen sieht und daß eine besiegte Selbstsucht, ein
unterdrücktes und nicht ausgesprochenes grobes Wort, ein nicht geltend
gemachter Anspruch von ihm eine größere Belohnung einbringt als die
Vernichtung eines Feindes durch Waffen in der Schlacht. Das Himmelreich, das
ihr einst besitzen werdet, wenn ihr als Gerechte lebt, baut man mit den
kleinen täglichen Dingen: Mit Güte, Sittsamkeit, Geduld, mit Sichbegnügen mit
dem, was man hat, mit gegenseitigem Verständnis und mit Liebe, Liebe, Liebe.
Seid gut und lebt in Frieden
miteinander. Murrt nicht und richtet nicht. Dann wird Gott mit euch sein. Ich
gebe euch meinen Frieden als Segen und zum Dank für den Glauben, den ihr mir
bezeugt.»
Dann wendet sich Jesus an die
Frau und sagt: «Gott segne dich ganz besonders, denn du bist eine gerechte
Frau und eine gerechte Mutter. Harre aus in der Tugend. Leb wohl, Benjamin!
Liebe die Wahrheit immer mehr und gehorche deiner Mutter. Ich segne dich,
deine Geschwisterchen und deine Mutter.»
Ein Mann kommt nach vorne. Ganz
verlegen stottert er:
«Ich bin ganz gerührt über das,
was du von meiner Frau sagst... Ich wußte nicht...»
«Hast du denn keine Augen und
keinen Verstand?»
«Doch, die habe ich.»
387
«Warum gebrauchst du sie nicht?
Soll ich sie dir von den Nebeln befreien?»
«Du hast es bereits getan, Herr.
Aber ich liebe sie, weißt du? Es ist nur, weil... weil man sich daran
gewöhnt... und... und...»
«So glaubt man sich im Recht und
mutet dem anderen zu viel zu, weil dieser gütiger ist als wir... Tue es nicht
mehr! Du bist bei deiner Arbeit ständig in Gefahr. Fürchte die Gewitter nicht,
wenn Gott mit dir ist; aber wenn Ungerechtigkeit in dir ist, dann hast du
Grund zur Angst. Hast du verstanden?»
«Mehr als du denkst. Aber ich
will versuchen, dir zu gehorchen... Ich wußte nicht...», und er blickt seine
Frau an, als sähe er sie zum erstenmal.
Jesus segnet und geht auf das
Sträßlein; dann nimmt er den Weg wieder auf, der in Richtung der Felder führt.
224. JESUS GEBIETET DEM STURM AUF
DEM SEE
Welch innige Freude für mich war
das heute!
Ich häkelte eben an der Spitze,
die sie kennen und hörte Musik in Gesellschaft der Farnilienangehörigen. Ich
war durch gewöhnliche Dinge abgelenkt, als mich plötzlich eine Schauung
überkam. Dadurch veränderte sich mein Ausdruck, was zum Glück nur Paula
bemerkte. Diese Freude blieb den ganzen Nachmittag bis zum Augenblick des
gewohnten Kräftezusammenbruchs, der früher als sonst eintraf; denn wenn ich so
"sehe", dann habe ich einen größeren körperlichen Kräfteverbrauch, und
besonders mein Herz wird dadurch stark beansprucht, was mich aber nicht
bedrückt, denn es wird durch sehr viel seelische Freude ausgeglichen.
Nun, da alle schlafen, will ich
über meine Freude berichten.
Ich habe das Evangelium des
heutigen Tages gesehen. Gerade heute morgen beim Lesen desselben habe ich mir
gesagt: «Das ist nun eine biblische Begebenheit, die ich nie zu sehen bekommen
werde, da sie sich für eine Vision wenig eignet.» Doch als ich am wenigsten
daran dachte, ist sie über mich gekommen, um mich mit Freude zu erfüllen. Hier
folgt, was ich geschaut habe.
Ein Segelboot, nicht besonders
groß, aber auch nicht gerade klein, ein Fischerboot, auf dem sich gut fünf bis
sechs Personen bewegen können, durchfurcht die tiefblauen Wasser des Sees von
Genesareth.
Jesus schläft im Heck. Er ist wie
üblich weiß gekleidet und hat das Haupt auf den linken Arm gelegt, der auf
seinem blaugrauen, mehrfach zusammengefalteten Mantel ruht. Er liegt nicht,
vielmehr sitzt er im hinteren Teil des Schiffes und lehnt sich an das Brett am
äußersten Bootsende. Ich weiß nicht, wie die Schiffsleute es nennen. Er
schläft still und friedlich, denn er ist müde.
Petrus ist am Steuer. Andreas
kümmert sich um die Segel. Johannes und zwei andere – ich weiß nicht, wer sie
sind – bringen die Netze und Taue im hinteren Teil des Schiffes in Ordnung,
als wollten sie sich auf den
Fischfang vorbereiten, der
vielleicht bei Einbruch der Nacht beginnt. Ich würde sagen, daß der Tag sich
neigt, denn die Sonne steht schon im Westen. Die Jünger haben ihre Mäntel
abgelegt und alle ihre Kleider geschürzt und mit den Gürteln festgebunden,
damit sie freier in ihren Bewegungen sind beim Hin- und Hergehen im Boot und
beim Hantieren nicht durch Ruder, Bänke, Körbe und Netze behindert werden.
Ich sehe, daß der Himmel sich
verdunkelt und die Sonne sich hinter plötzlich aufgezogenen Gewitterwolken
verbirgt, die vom Gebirge her kommen. Der Wind, der im Augenblick noch nur in
der Höhe weht, treibt die Wolken rasch dem See zu. Der See ist noch ruhig,
wird jedoch dunkler und beginnt, sich an der Oberfläche zu kräuseln. Es sind
noch keine Wellen, aber schon kleine Wellenbewegungen.
Petrus und Andreas beobachten
Himmel und See und treffen alle Vorkehrungen, um an Land zu gehen. Doch der
Wind bricht nun mit Macht über den See, und in wenigen Minuten wallt und
schäumt alles; die Brecher überschlagen sich gegenseitig, krachen gegen das
Boot, heben es hoch und senken es, so daß es sich nach allen Seiten neigt und
weder Ruder noch Segel mehr gebraucht werden können. Wegen des Sturmes wird
das Segel eingezogen.
Jesus schläft. Weder die schweren
Schritte noch die aufgeregten Stimmen der Jünger, noch das Heulen des Windes,
noch die Schläge der Wellen gegen die Bootsplanken wecken ihn. Seine Haare
flattern im Winde, und manchmal trifft ihn auch ein Wasserspritzer, doch er
schläft. Johannes eilt vom Bug zum Heck und deckt ihn mit seinem Mantel zu,
den er aus einem Holzverschlag hervorgezogen hat.
Der Sturm wird immer heftiger.
Der See ist nun schwarz, als sei Tinte hineingeschüttet worden, und der Schaum
der Wellen zieht Streifen darüber. Wasser ergießt sich ins Boot, das der Wind
immer weiter vom Ufer abtreibt. Die Jünger schwitzen vor Anstrengung, das Boot
in die richtige Fahrtrichtung zu lenken und das eingedrungene Wasser
auszuschöpfen. Doch alles ist vergebens. Sie waten fast bis zu den Knien im
Wasser, und das Boot wird immer schwerer.
Petrus verliert die Ruhe und die
Geduld. Er übergibt seinem Bruder das Ruder, geht schwankend zu Jesus hin und
schüttelt ihn heftig. Jesus erwacht und hebt das Haupt.
«Rette uns, Meister, wir gehen
zugrunde!» schreit Petrus. (Er muß schreien, damit man ihn hört.)
Jesus schaut seinen Jünger fest
an, dann blickt er auf die anderen und auf das Wasser. «Glaubst du, daß ich
euch retten kann?»
«Schnell, Meister», schreit
Petrus, während sich eine riesengroße Woge von der Mitte des Sees her rasch
auf die armselige Barke zu bewegt. Es scheint eine Wasserhose zu sein, so hoch
und schreckenerregend ist sie.
Als die Jünger diesen Wasserberg
herankommen sehen, knien sie nieder
389
und klammern sich fest, wo und
wie sie nur können; sie sind überzeugt, daß dies das Ende ist.
Jesus erhebt sich und steigt auf
den Holzverschlag: eine weiße Gestalt vor dem Hintergrund des Unwetters. Er
breitet die Arme gegen die Sturzwelle aus und gebietet dem Wind: «Halt ein und
schweige», und dem Wasser: «Beruhige dich. Ich will es!»
Die Sturzwelle fällt in sich
zusammen, löst sich in Schaum auf und zerfließt ohne zu schaden, während der
Wind mit einem letzten Pfeifen in einem Seufzer verstummt. Über dem beruhigten
See wird der Himmel wieder heiter und in die Herzen der Jünger kehrt die
Zuversicht zurück.
Die Majestät, die Jesus
ausstrahlt, kann ich nicht beschreiben. Man muß sie gesehen haben, um sie
begreifen zu können. Ich koste sie innerlich aus, denn sie ist mir immer noch
gegenwärtig, und ich denke darüber nach, wie friedvoll doch der Schlaf Jesu
und wie gewaltig seine Macht über Wind und Wellen war.
225. «HEIMSUCHUNGEN DIENEN DAZU,
DASS IHR EUCH EURES EIGENEN NICHTS BEWUSST WERDET»
Jesus sagt dann:
«Ich erkläre dir das Evangelium
nicht in dem Sinne, wie alle es auslegen. Ich erläutere dir die Vorgeschichte
eines jeweiligen Abschnittes im Evangelium.
Warum schlief ich? Wußte ich
vielleicht nicht, daß das Unwetter hereinbrechen würde? Doch, ich wußte es,
Ich allein wußte es. Warum also schlief ich?
Die Apostel waren Menschen,
Maria. Von gutem Willen beseelt, aber doch noch zu sehr Menschen. Der Mensch
glaubt immer, alles zu können, und ist er einmal in etwas wirklich tüchtig,
dann wird er selbstgefällig und brüstet sich mit seiner "Tüchtigkeit." Petrus,
Andreas, Jakobus und Johannes waren gute Fischer und glaubten sich
unübertroffen im Umgang mit Booten. Ich war für sie ein großer Rabbi, aber als
Seemann eine Null. Deshalb hielten sie mich für unfähig, ihnen zu helfen; und
als wir ins Boot stiegen, um das Galiläische Meer zu überqueren, baten sie
mich, sitzen zu bleiben, weil ich zu nichts anderem zu gebrauchen war. Ein
weiterer Grund war aber auch ihre Zuneigung, denn sie wollten mir keine
körperlichen Anstrengungen zumuten. Doch die Überzeugung von ihrer Tüchtigkeit
übertraf sogar die Zuneigung.
Maria, ich dränge mich nur in
außergewöhnlichen Fällen auf. Im allgemeinen lasse ich euch die Freiheit und
warte. An jenem Tage setzte ich mich zum Schlafen hin, da ich müde war und sie
mich aufgefordert hatten,
390
mich auszuruhen und sie allein
machen zu lassen, da sie ja so erfahren waren. In meinem Schlaf mischte sich
auch die Feststellung, wie sehr der Mensch doch Mensch ist und eigenständig
handeln will, ohne darauf zu achten, daß Gott nichts anderes möchte als
helfen. Ich sah in diesen "geistig Tauben" ' in diesen "geistig Blinden", alle
Tauben und Blinden im Geiste, die sich im Laufe der Jahrhunderte zugrunde
richten werden, weil sie "selber tun wollen", während ich mich über ihre
Erbärmlichkeit neige und nur darauf warte, zu Hilfe gerufen zu werden.
Als Petrus rief: "Rette uns!"
fiel meine Bitterkeit von mir wie ein Stein, den man fallen läßt. Ich bin
nicht "Mensch" ' ich bin der Gottmensch. Ich handle nicht, wie ihr handelt.
Wenn jemand euren Rat und eure Hilfe ausgeschlagen hat und ihr diesen Menschen
in Schwierigkeiten seht, selbst wenn ihr nicht so schlecht seid, Schadenfreude
zu empfinden, so steht ihr doch mit stolzer Ablehnung und Gleichgültigkeit
seinem Hilferuf gegenüber. Mit eurem Verhalten gebt ihr ihm zu verstehen: "Als
ich dir helfen wollte, hast du mich abgelehnt. Nun hilf dir selbst." Aber ich
bin Jesus. Ich bin der Retter, und ich rette, Maria, immer rette ich, sobald
man mich ruft.
Die armen Menschen könnten
einwenden: "Warum erlaubst du dann so vielen einzelnen und vereinten Stürmen,
sich zu bilden?" Wenn ich mit meiner Macht das Böse – was es auch sein mag –
zerstören würde, dann würdet ihr euch schließlich für die Urheber des Guten
halten, das in Wirklichkeit mein Geschenk ist, und ihr würdet euch nicht mehr
meiner erinnern. Überhaupt nicht mehr! Ihr armen Kinder habt das Leid nötig,
um euch zu erinnern, daß ihr einen Vater habt, so wie der verlorene Sohn sich
seines Vaters erinnerte, als er Hunger litt.
Heimsuchungen dienen dazu, euch
von eurer Nichtigkeit, eurer Torheit als Ursache so vieler Irrtümer zu
überzeugen, von eurer Bosheit als Ursache von so viel Leid und Schmerz, von
euren Sünden als Ursache von Strafen, die ihr selber heraufbeschwört, und
schließlich von meiner Existenz, meiner Macht und meiner Güte. Das ist es, was
das heutige Evangelium euch sagen will, "euer" Evangelium für die gegenwärtige
Stunde, ihr armen Kinder.
Ruft mich an. Jesus schläft nur,
wenn er betrübt sehen muß, daß er von euch nicht geliebt wird. Ruft mich, und
ich werde kommen.»
391
226. DIE BESESSENEN GERASENER
Jesus bittet Petrus, bei Hippo
anzulegen, nachdem sie den See, von Nordwesten kommend, überquert haben.
Petrus gehorcht ohne Widerrede und lenkt das Boot bis zur Mündung eines
kleinen Baches, den der Frühjahrsregen und das kürzliche Gewitter haben
anschwellen lassen und der in einer felsigen Bucht in den See mündet. Übrigens
ist die ganze Küste auf dieser Seite felsig. Die Schiffsjungen befestigen die
Boote – in jedem Boot ist ein Junge – und erhalten Anweisung, für die Rückkehr
nach Kapharnaum bis zum Abend zu warten.
«Wenn euch jemand fragt, so seid
ihr hier zum Fischen», rät Petrus. «Wenn sich jemand erkundigt, wo der Meister
ist, dann antwortet bestimmt: "Ich weiß es nicht," und wenn jemand wissen
will, in welche Richtung er gegangen ist, dann gebt dieselbe Antwort. Es
entspricht ja auch der Wahrheit, denn ihr wißt es nicht.»
Sie trennen sich, und Jesus
schlägt einen steilen Bergpfad ein, der am Felsenriff emporsteigt. Die Jünger
folgen ihm auf diesem beschwerlichen Wege bis zum höchsten Punkt der Klippe,
wo diese in eine Hochebene mit vielen Eichen ausläuft, unter denen zahlreiche
Schweine weiden.
«Stinktiere!» ruft Bartholomäus
aus. «Sie hindern uns am Weitergehen...»
«Nein, sie hindern uns nicht. Es
hat Platz für alle», antwortet Jesus ruhig.
Im übrigen bemühen sich die
Schweinehirten, als sie die Israeliten sehen, die Tiere unter die Eichen
zusammenzutreiben, so daß der Pfad frei wird. Die Apostel gehen, Grimassen
schneidend und dem Kot der Tiere ausweichend, an den wühlenden Schweinen
vorbei, die schon fett sind und noch fetter werden wollen.
Jesus ist, ohne große Anstalten
zu machen, weitergegangen und sagt den Schweinehirten: «Gott vergelte euch
eure Freundlichkeit.»
Die Hüter, arme Leute, nicht viel
weniger schmutzig als die Schweine, dafür aber unendlich magerer, sehen ihn
erstaunt an und tuscheln dann miteinander. Einer sagt: «Aber ist er nicht ein
Israelit ?» Worauf die anderen antworten: «Siehst du nicht, daß er Fransen am
Gewand hat?»
Die Apostel vereinigen sich
wieder zu einer Gruppe, da sie nun zusammen auf einem breiteren Weg gehen
können.
Der Ausblick ist wunderschön. Da
sie sich hoch über dem See befinden, können sie den ganzen Wasserspiegel mit
den an den Ufern liegenden Ortschaften überblicken. Tiberias mit seinen
schönen Bauten liegt genau gegenüber der Stelle, an der sich die Apostel
befinden. Gleich unter ihnen, am Fuße des Basaltriffs, gleicht der schmale
Strand einem grünen Kissen, während sich am anderen Ufer, zwischen Tiberias
und der Mündung des Jordan, eine ziemlich weite, moorige Ebene erstreckt. Sie
ist
392
sehr dicht bewachsen mit Kräutern
und Büschen, wie man sie an Sümpfen finden kann, und belebt von Scharen von in
allen Farben glitzernden, wie mit Edelsteinen geschmückten Wasservögeln, was
dem Ort das Aussehen eines Gartens verleiht. Die Vögel erheben sich aus dem
dichten Gras und Schilf, fliegen über den See, stürzen in die Tiefe, um im
Wasser einen Fisch zu schnappen, dann schwingen sie sich wieder empor, mit von
der Nässe noch farbenprächtigerem Gefieder, und kehren zur blühenden Ebene
zurück, auf der der Wind die Farben scherzhaft durcheinanderweht... Hier
hingegen sind Wälder mit sehr hohen Eichen, und weichem, smaragdgrünem Gras
darunter. Jenseits dieses Waldes steigt der Berg wieder an und bildet einen
felsigen, steil abfallenden Gipfel, auf dessen Vorsprüngen man Häuser erbaut
hat. Mir scheint, daß der Berg mit dem Mauerwerk ein Ganzes bildet, und seine
Höhlen als Wohnstätten dienen, so daß der Ort ein Mittelding zwischen einer
Siedlung von Höhlenbewohnern und einem gewöhnlichen Dorf darstellt.
Charakteristisch ist der
terrassenförmige Anstieg, bei dem die Hausdächer der unteren Terrassen das
Niveau des ebenerdigen Eingangs zu den darüberliegenden Häusern bilden.
Seitlich, wo der Berg zu steil ist für irgendwelche Bauten, befinden sich
tiefe Höhlen und Spalten und in den Felsen gehauene Treppen. Bei starken
Regenfällen müssen diese Spalten und Treppen zu reißenden Bächen werden.
Gestein jeglicher Art, das die niederstürzenden Fluten zu Tal gerissen haben,
bildet den ungeordneten Unterbau dieses zerklüfteten, wilden, kleinen Berges,
der bucklig und aufdringlich wie ein Krautjunker um jeden Preis beachtet
werden will.
«Ist das dort nicht Gamala ?»
fragt der Zelote.
«Ja, es ist Gamala. Kennst du
es?» fragt Jesus.
«Ich flüchtete einmal hierher in
einer Nacht, die nun schon lange zurückliegt. Hier brach der Aussatz aus, und
ich verließ den Ort der Absonderung nicht mehr.»
«Bis hierher wurdest du verfolgt
?» fragt Petrus.
«Ich kam von Syrien, wohin ich
schutzsuchend geflohen war. Doch man entdeckte mich dort, und nur die Flucht
in diese Gegend bewahrte mich vor der Festnahme. Danach drang ich immer weiter
in den Süden vor, bis zur Wüste von Tekua, und von dort – aussätzig – bis zum
Tal der Toten. Der Aussatz rettete mich vor den Feinden...»
«In diesem Tal waren wohl alle
Heiden?» fragt Judas Iskariot.
«Fast alle. Es gibt wenige Juden,
die Handel treiben, und sonst ein Gemisch von religiösen Bekenntnissen und
Ungläubigen. Sie waren jedoch mit mir, dem Flüchtling, nicht ungut.»
«Ein Platz für Banditen! Mit all
diesen Schluchten!» rufen mehrere gleichzeitig aus.
«Ja, aber glaubt mir, Banditen
gibt es mehr auf der anderen Seite»,
393
sagt Johannes, der immer noch
beeindruckt ist von der Gefangennahme des Täufers.
«Andererseits gibt es auch Räuber
unter denen, die als Gerechte gelten», fügt sein Bruder hinzu.
Jesus ergreift das Wort:
«Trotzdem werden wir ohne Abscheu an sie herantreten, auch wenn ihr eure
Gesichter verzogen habt, als ihr an den Tieren vorbeigehen mußtet.»
«Sie sind unrein...»
«Der Sünder ist es weit mehr.
Diese Tiere sind so erschaffen worden; und es ist nicht ihre Schuld, daß sie
sind, wie sie sind. Der Mensch hingegen ist dafür verantwortlich, wenn er
durch die Sünde unrein ist.»
«Aber warum hat man sie uns dann
als unrein bezeichnet?» fragt Philippus.
«Ich habe es schon einmal
angedeutet. Diese Anordnung hat einen übernatürlichen und einen natürlichen
Grund. Der erste ist dieser: das auserwählte Volk zu lehren, sich seine
Auserwählung und seine menschliche Würde vor Augen zu halten, sogar bei einer
so gewöhnlichen Beschäftigung wie dem Essen. Der Wilde ernährt sich von allem,
wenn er nur seinen Bauch füllen kann. Auch der heidnische Mensch, selbst wenn
er kein Wilder ist, ißt alles und überlegt nicht, daß allzuvieles Essen im
Menschen erniedrigende Laster und Neigungen entfacht. Die Heiden ergeben sich
sogar der Völlerei und machen daraus beinahe eine Religion. Die Gebildeteren
unter euch haben von jenen obszönen Festen zu Ehren ihrer Götter gehört, die
zu Orgien der Sinnenlust ausarten. Ein Kind des Volkes Gottes muß sich zu
enthalten wissen, und sich im Gehorsam und in der Weisheit vervollkommnen,
indem es seinen Ursprung und sein Ziel vor Augen behält, nämlich Gott und den
Himmel.
Der natürliche Grund läßt uns die
Speisen meiden, die im Menschen entwürdigende Leidenschaften entfachen. Die
Liebe, auch die fleischliche, ist ihm nicht verwehrt, doch muß sie stets mit
der Frische der zum Himmel strebenden Seele gemäßigt werden. Liebe soll also
nicht Sinnenlust, sondern ein Gefühl von Zuneigung sein, die den Mann an seine
Gefährtin bindet, in der er den Menschen seinesgleichen sieht und nicht das
Weib. Die armen Tiere aber haben keine Schuld, weder daran, daß sie Schweine
sind, noch daran, daß ihr Fleisch auf die Dauer gewisse Auswirkungen im Blut
hervorrufen kann. Und noch weniger schuldig sind die Hüter dieser Tiere. Wenn
sie ehrlich sind, was ist dann im anderen Leben für ein Unterschied zwischen
ihnen und einem Schriftgelehrten, der sich über Bücher neigt und aus ihnen
leider das Gutsein nicht lernt? In Wahrheit sage ich euch, wir werden einst
Schweinehirten unter den Gerechten und Schriftgelehrte unter den Ungerechten
finden. Aber was ist das für ein Getöse?»
Sie drücken sich alle an die
Felswand, denn Steine und Erdschollen kommen von oben angerollt. Erstaunt
schauen sie sich an.
394
«Schaut! Schaut! Schaut dort!
Zwei... ganz Nackte... kommen gestikulierend auf uns zu. Verrückte...»
«Oder Besessene», entgegnet Jesus
Judas Iskariot, der als erster die beiden Besessenen auf Jesus zukommen sah.
Sie leben wohl in einer Höhle des
Berges. Sie schreien, und der eine, der rascher läuft, eilt auf Jesus zu. Er
gleicht einem eigenartigen Vogel, dem die Federn ausgerupft worden sind, wie
er so schnell daherkommt und seine Arme bewegt, als wären es Flügel. Er wirft
sich schreiend vor Jesus nieder: «Bist du da, Herr der Welt? Was habe ich mit
dir zu schaffen, Jesus, Sohn des Allerhöchsten? Ist denn die Stunde unserer
Strafe schon gekommen? Warum bist du gekommen, uns vor der Zeit zu quälen?»
Der andere Besessene, sei es, daß ihm die Zunge gebunden ist, sei es, daß der
Dämon in ihm eine gewisse Stumpfsinnigkeit bewirkt, wirft sich nieder und
weint leise, den Kopf zur Erde geneigt. Dann setzt er sich, spielt träge mit
Steinen und seinen nackten Füßen. Der Dämon fährt fort, durch den Mund des
ersten zu sprechen, der sich in einem Anfall von Angst mit schrecklichen
Verrenkungen am Boden wälzt. Man hat den Eindruck, daß er seiner Wut freien
Lauf lassen möchte, sich aber von der Macht Jesu gleichzeitig angezogen und
abgestoßen fühlt, jedoch nichts anderes tun kann als anbeten. Er brüllt: «Ich
beschwöre dich im Namen Gottes, höre auf, mich zu quälen. Laß mich gehen!»
«Ja, aber erst, wenn du diese
Menschen verlassen hast. Unreiner Geist, fahre aus ihnen aus und bekenne
deinen Namen!»
«Legion ist mein Name, weil wir
viele sind. Diese beiden sind seit Jahren in unserer Gewalt, und durch sie
sprengen wir Ketten und Fesseln, und keine menschliche Kraft kann sie
bändigen. Schrecken aller sind sie durch uns, und wir bedienen uns ihrer, um
dich zu lästern. An ihnen rächen wir uns für den Fluch, den du über uns
gesprochen hast. Wir erniedrigen den Menschen unter das wilde Tier, um dich zu
verhöhnen, und es gibt keinen Wolf, Schakal oder Geier, keinen Vampir und
keine Hyäne, die denen gleichkämen, die wir beherrschen. Verjage uns nicht,
die Hölle ist zu schrecklich! ...»
«Fahret aus! Im Namen Jesu,
fahret aus!» Die Stimme Jesu gleicht dem Grollen des Donners, und seine Augen
funkeln.
«Laß uns wenigstens in die
Schweineherde fahren, der du begegnet bist!»
«Geht!»
Mit einem bestialischen Geschrei
verlassen die Dämonen die beiden Unglücklichen, und, inmitten eines plötzlich
aufkommenden Wirbelsturmes, der die Eichen schüttelt als wären sie Grashalme,
stürzen sie sich auf die zahlreichen Schweine, die in ein wahrlich dämonisches
Gegrunze ausbrechen und wie besessen zwischen den Eichen herumzurasen
beginnen. Sie stoßen sich gegenseitig, verwunden und beißen sich, gelangen
395
schließlich an den Rand des
Abgrunds und stürzen sich ins Wasser des unten liegenden Sees, der ihnen als
einziger Zufluchtsort übrigbleibt. Während die Schweinehirten bestürzt und
verzweifelt schreien in ihrem Schrecken, plumpsen Hunderte von Schweinen in
das stille Gewässer und bringen es zum Aufwallen und Schäumen. Die Tiere gehen
erst unter, dann kommen ihre dicken Wänze oder spitzen Köpfe mit den
entsetzten Augen wieder an die Oberfläche, und schließlich ertrinken sie.
Die Hirten eilen schreiend in die
Stadt. Die Apostel, die zum Schauplatz des Unglücks gegangen waren, kehren
zurück und sagen: «Kein einziges Tier hat sich retten können. Du hast den
Hirten einen schlechten Dienst erwiesen.»
Jesus antwortet ruhig: «Es ist
besser, daß zweitausend Schweine zugrundegehen, als ein einziger Mensch. Gebt
diesen hier Kleider. So können sie nicht bleiben.»
Der Zelote öffnet eine Tasche und
gibt eines seiner Gewänder. Thomas gibt das andere. Beide sind noch ganz
benommen, als wären sie aus einem schweren Schlaf voller Alpträume erwacht.
«Gebt ihnen zu essen, damit sie
wieder wie Menschen zu leben beginnen.»
Während die beiden Brot und
Oliven essen, die man ihnen gegeben hat, und aus der Flasche des Petrus
trinken, beobachtet sie Jesus.
Schließlich fangen sie an zu
sprechen: «Wer bist du denn?» fragt der eine.
«Jesus von Nazareth.»
«Wir kennen dich nicht», sagt der
andere.
«Eure Seele hat mich erkannt.
Steht nun auf und geht nach Hause.»
«Ich glaube, wir haben viel
gelitten, aber ich kann mich nicht gut erinnern. Wer ist dieser?» fragt der,
durch den die Dämonen gesprochen haben, und zeigt dabei auf seinen Kameraden.
«Ich weiß es nicht. Er war mit
dir.»
«Wer bist du, warum bist du
hier?» fragt er den Gefährten.
Dieser, der wie stumm war und
auch jetzt noch der trägere ist, sagt: «Ich bin Demetrius. Ist hier Sidon ?»
«Sidon liegt am Meer, Mann. Du
bist hier am See von Galiläa.»
«Warum bin ich denn hier?»
Keiner kann darauf eine Antwort
geben. Menschen kommen herbei, gefolgt von den Hirten. Sie scheinen
verängstigt und neugierig. Als sie nun die beiden angekleidet und ruhig
dastehen sehen, wächst ihr Erstaunen.
«Dieser ist Markus des Josias !
... Der andere ist der Sohn des heidnischen Händlers! ...»
«Und das hier ist der, der sie
geheilt hat und durch den die Tiere, von den Dämonen besessen, in den Tod
gerast sind», sagen die Schweinehirten.
396
«Herr, du bist mächtig, wir
erkennen es an. Doch zu viel Schaden hast du uns zugefügt. Einen Schaden von
vielen Talenten. Geh fort, wir bitten dich, damit deine Macht nicht noch den
Berg in den See stürze. Geh fort! ...»
«Ich gehe, ich dränge mich
niemandem auf.» Jesus geht, ohne weitere Worte zu verlieren, auf dem Weg
zurück, auf dem er gekommen ist. Die Apostel und der zuvor Besessene, der
gesprochen hatte, folgen ihm. In einiger Entfernung folgen auch viele der
Bewohner des Ortes, um zu sehen, ob Jesus wirklich fortgeht.
Sie steigen den steilen Pfad
hinab und gelangen zur Mündung des kleinen Flusses, wo ihre Boote liegen. Die
Leute bleiben am Abhang stehen und beobachten ihn. Der Befreite geht Jesus
nach.
Die Bootsjungen, die bei den
Barken zurückgeblieben waren, sind entsetzt. Sie haben gesehen, wie die
Schweine in den See stürzten, und betrachten immer noch die Kadaver, die mit
den aufgeblähten Bäuchen immer zahlreicher an die Wasseroberfläche kommen und
deren Füße wie vier in eine fette Blase eingerammte Stecken in die Höhe ragen.
«Was ist geschehen?», wollen sie
wissen.
«Wir werden es euch sagen. Nun
macht schnell die Boote los, wir wollen gehen... Wohin, Herr?» fragt Petrus.
«Zur Bucht von Tarichäa.»
Der Mann, der ihnen gefolgt ist,
bettelt, als er sie die Boote besteigen sieht: «Nimm mich mit, Herr!»
«Nein, geh nach Hause. Die Deinen
haben ein Recht auf dich. Erzähle ihnen, was der Herr Großes an dir getan hat
und wie er sich deiner erbarmt hat. Die Menschen dieser Gegend müssen zu Gott
finden. Entzünde in ihnen die Flamme des Glaubens aus Dankbarkeit gegen den
Herrn. Geh, leb wohl!»
«Stärke mich wenigstens mit
deinem Segen, damit der Dämon mich nicht wieder befällt.»
«Fürchte dich nicht! Wenn du
nicht willst, kehrt er nicht mehr zurück. Aber ich segne dich. Geh in
Frieden!»
Die Boote stoßen vom Ufer ab und
nehmen die Fahrt in Richtung Westen auf. Erst jetzt, während die Boote das
Wasser zwischen den Schweinekadavern durchfurchen, ziehen sich auch die
Bewohner der Stadt, die den Herrn nicht bei sich haben wollten, vom Abhang
zurück und gehen ihres Weges.
397
227. VON TARICHÄA ZUM TABOR; DIE
ZWEITE OSTERREISE BEGINNT
Jesus verabschiedet sich von den
Schiffsjungen und sagt: «Ich werde nicht zurückkommen.» Dann schlägt er, von
den Seinen gefolgt, einen Weg durch die Gegend ein, die vom gegenüberliegenden
Ufer aus so üppig bewachsen zu sein schien und zu einem Berge führt, der sich
gegen Südwesten erhebt.
Die Apostel sind wenig begeistert
von dem Weg durch diese schöne, aber wilde Gegend voller Sumpfbinsen, die sich
an die Füße heften; dem Schilfrohr, das einen leichten Tauregen auf die
Häupter rieseln läßt, der von den spitzen Blättern zurückgehalten worden war;
den Schilfkolben, die hart und ausgetrocknet ins Gesicht schlagen; den feinen
Weidenruten, die von allen Seiten herabhängen und ein Kitzeln verursachen; den
trügerischen Stellen, die mit ihrem schönen, grünen Gras festen Boden
vortäuschen, jedoch Wasserpfützen verbergen, in denen der Fuß einsinkt; die
Pflanzen sind hoch und verdecken den Grund, auf dem sie gedeihen. So gehen sie
schweigend dahin und wechseln statt der Worte nur vielsagende Blicke.
Jesus aber scheint Freude zu
haben an der grünen Landschaft mit ihren tausend Farben, an den kriechenden,
aufrechtstehenden und emporrankenden Pflanzen und Blumen, die zarte Girlanden
mit malvenfarbigen Tupfen bilden; an dem blauen Teppich der
Vergißmeinnichtblüten; an den weißen, rosa oder blauen Blüten, die zwischen
den breiten Blättern der Seerosen ihre vollendeten Kelche öffnen. Jesus
bewundert die Fächer des Schilfes, die so seidig und wie mit Perlen bedeckt
schillern, und er beugt sich selig, um die Wiesenfuchsschwänze zu bewundern,
die einen smaragdgrünen Schleier über das Wasser breiten. Jesus verweilt
verzückt vor den Nestern, an denen die Vögel bauen, fröhlich zwitschernd und
behende hin- und herfliegend, um Gräser, Werg vom Schilfrohr und Wollflocken,
die die Hecken den an ihnen dicht vorbeiziehenden Schafen ausgezupft haben,
herbeizuschaffen. Jesus scheint der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Wo
ist die Welt mit ihrer Bosheit, ihrer Falschheit, ihrem Kummer und ihren
Gemeinheiten? Die Welt ist jenseits der grünen blühenden Oase, wo alles
duftet, schimmert, lacht und singt. Hier ist die vom Vater erschaffene, vom
Menschen noch nicht entweihte Erde, und hier kann man den Menschen vergessen.
Jesus möchte seine selige Freude
den anderen mitteilen, doch er findet keinen geeigneten Boden dafür. Die
Herzen sind müde und verbittert über all das viele Übelwollen, und sie lassen
ihren Unmut an allem aus, auch am Meister, durch eine stumme Verschlossenheit,
die der Schwüle vor einem Gewitter gleicht. Nur der Vetter Jakobus, der Zelote
und Johannes zeigen Interesse für das, was Jesus beglückt. Die anderen jedoch
398
sind abwesend, wenn nicht gar
ablehnend. Sie schweigen, vielleicht um nicht zu murren. Aber innerlich reden
sie, wahrscheinlich zu viel.
Ein lebhafter Ausruf der
Bewunderung vor dem lebendigen Schmuckstück eines daherfliegenden Vogels, der
dem brütenden Weibchen ein kleines, silbernes Fischlein in den Schnabel
steckt, wobei sich viele kleine Schnäbel öffnen.
Jesus sagt: «Kann es etwas
Anmutigeres geben?»
Petrus antwortet: «Etwas
Anmutigeres vielleicht nicht... aber ich kann dir nur sagen, daß das
Fischerboot angenehmer ist. Hier ist man zwar auch im Nassen, doch umso
ungemütlicher...»
«Ich würde die Karawanenstraße
diesem... Garten, wenn du das hier so nennen willst, vorziehen und stimme
Simon voll zu», sagt Judas Iskariot.
«Ihr habt die Karawanenstraße ja
nicht nehmen wollen», antwortet Jesus.
«Ach ja, das ist wahr... Aber ich
hätte den Gerasenern nicht einfach so nachgegeben. Ich wäre drüben
weitergegangen und hätte drüben den Weg nach Gadara, Pella und weiter aufwärts
eingeschlagen», brummt Bartholomäus.
Sein guter Freund Philippus
beschließt: «Die Straßen sind für alle da, daher hätten auch wir sie begehen
können.»
«Freunde, Freunde! Ich bin sehr
betrübt, ich bin es leid... Vermehrt nicht noch meinen Schmerz durch eure
Engherzigkeit. Laßt mich doch ein wenig Erholung in den Dingen suchen, die
keinen Haß kennen...»
Die so liebevolle Rüge Jesu in
seiner Traurigkeit berührt die Apostel.
«Du hast recht, Meister! Wir sind
deiner nicht würdig! Verzeih unsere Torheit. Du siehst das Schöne, weil du
heilig bist und mit den Augen des Herzens schaust. Wir Allzumenschlichen
spüren nur das Menschliche... Doch achte nicht darauf. Glaube mir, selbst wenn
wir in einem Paradiese wären, ohne dich wären wir traurig. Aber mit dir... ist
alles schön für das Herz. Nur die Glieder wollen nicht», murmeln einige.
«Bald werden wir hier
herauskommen und ein angenehmeres Gelände finden, wenn es auch nicht so frisch
sein wird», verspricht Jesus.
«Wohin gehen wir denn eigentlich
genau?» fragt Petrus.
«Wir wollen jenen, die leiden,
Ostern bringen. Ich wollte dies schon lange tun, aber es war mir nicht
möglich. Ich hätte es bei unserer Rückkehr nach Galiläa getan. Nun, da wir
gezwungen sind, andere als die von uns geplanten Wege zu gehen, werde ich die
armen Freunde des Jonas aufsuchen und sie segnen.»
«Aber so werden wir Zeit
verlieren. Ostern ist nahe. Immer wieder gibt es Verzögerungen aus
verschiedenen Gründen.» Ein weiterer Chor von Klagen steigt zum Himmel. Ich
verstehe nicht, wie Jesus so viel Geduld aufbringen kann...
Er sagt, ohne jemanden zu rügen:
«Ich bitte euch, hindert mich nicht
399
daran. Habt Verständnis für mein
Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Ich habe auf dieser Erde nur einen
Trost: die Liebe und die Erfüllung des Willens Gottes.»
«Bleiben wir auf diesen Wegen?
Wäre es nicht schöner, über Nazareth zu gehen?»
«Hätte ich euch diesen Vorschlag
gemacht, ihr hättet euch dagegen gewehrt. Niemand vermutet mich in dieser
Gegend... und ich tue es ja nur euretwegen... da ihr Angst habt.»
«Angst? Aber nein! Wir sind
bereit, für dich zu kämpfen.»
«Bittet den Herrn, daß er euch
nicht auf die Probe stellt. Ich kenne euch als selbstsüchtig, nachtragend,
gewillt, jeden zu beleidigen, der mich beleidigt, und den Nächsten zu kränken.
All das weiß ich; daß ihr aber mutig seid, weiß ich nicht. Ich, für mich, wäre
auch allein auf dem gewohnten Weg gegangen und es wäre mir nichts zugestoßen,
denn die Stunde ist noch nicht gekommen. Aber ich habe Mitleid mit euch und
will der Bitte meiner Mutter nachkommen und, ja, auch das: Ich will den
Pharisäer Simon nicht verärgern. Ich werde sie nicht ärgern, aber sie werden
mir zum Ärgernis werden.»
«Wohin kommen wir auf diesem Weg?
Ich kenne mich in dieser Gegend nicht aus», sagt Thomas.
«Wir werden zum Tabor kommen,
eine Weile seinem Fuße entlanggehen und dann an Endor vorüber nach Naim
gelangen; und von dort begeben wir uns in die Ebene von Esdrelon. Fürchtet
euch nicht... Doras, der Sohn des Doras, und Jochanan sind bereits in
Jerusalem.»
«Oh, das wird schön sein! Man
sagt, daß man auf dem Gipfel, an einer bestimmten Stelle, das Große Meer, das
Meer von Rom, sehen kann. Ich würde mich sehr darüber freuen! Führst du uns
dahin, wo man es sieht ?»Johannes bittet und blickt mit seinem guten
Jungengesicht Jesus an.
«Warum möchtest du es so gerne
sehen?» fragt Jesus und liebkost ihn.
«Ich weiß es nicht... Vielleicht
weil es so groß ist und man kein Ende sieht. Es läßt mich an Gott denken. Als
wir im Libanon waren, habe ich das Meer zum ersten Mal gesehen; denn vorher
war ich nur am Jordan und auf unserem kleinen Galiläischen Meer... und ich
habe voll Ergriffenheit geweint! So weit man sieht alles blau, alles Meer! Und
es fließt nie über! Das ist doch etwas wundervolles! Und die Gestirne, die
Lichtbahnen auf das Meer malen... Oh, lacht mich doch nicht aus! Ich
betrachtete den goldenen Streifen der Sonne im Meer, bis ich geblendet wurde,
den silbernen des Mondes, bis mir nur noch ein reines Licht in den Augen
blieb, und ich sah, wie sich diese Bahnen in unendlichen Fernen verloren. Sie
sprachen zu mir und sagten: "Gott ist in jener unendlichen Ferne und das sind
die Wege zu ihm, die Wege glühender Liebe und Reinheit, denen die Seele folgen
muß, um zu Gott zu gelangen. Komm! Tauche ein ins Unendliche, und diesen
beiden Wegen folgend wirst du die Unendlichkeit finden."»
400
«Du bist ein Dichter, Johannes»,
sagt Judas Thaddäus bewundernd. «Ich weiß nicht, ob das Dichtung ist. Ich weiß
nur, daß es mir das Herz entflammt!»
«Aber das Meer hast du auch in
Caesarea und in Ptolemais gesehen, und ganz aus der Nähe. Wir waren am Ufer.
Ich sehe nicht ein, weshalb wir einen solch weiten Weg zurücklegen sollen, um
wieder Meerwasser zu sehen. Im Grunde genommen... sind wir ja am Wasser
geboren», bemerkt Jakobus des Zebedäus.
«Leider sind wir auch jetzt im
Wasser!» ruft Petrus aus, der einen Augenblick nicht auf den Weg geachtet hat,
da er Johannes zuhörte, und in einem Tümpel gelandet und ganz naß geworden
ist... Alle lachen, Petrus selbst am meisten.
Doch Johannes antwortet: «Das ist
wahr. Aber von der Höhe ist es viel schöner. Man kann mehr und viel weiter
sehen. Man hat erhabenere und umfassendere Gedanken... Man wünscht... Man
träumt...», und wirklich, Johannes träumt schon. Er schaut vor sich hin und
lächelt in seinem Traum... Er gleicht einer vom Tau benetzten Rose, denn die
glatte, helle Haut des blonden Jünglings überzieht sich mit samtiger
Rosigkeit, und der leichte Schweiß läßt sie einer Rose noch ähnlicher werden.
«Was wünschest du dir ? Von was
träumst du ?» fragt Jesus seinen Lieblingsjünger und gleicht dabei einem
Vater, der sein liebes Söhnchen, das in einem süßen Traum spricht, zärtlich
befragt. Er redet ganz behutsam zur Seele des Johannes, um ihn nicht aus dem
Traum zu reißen...
«Ich möchte auf jenem unendlichen
Meer... in andere Länder ziehen, jenseits davon... Ich möchte hingehen, um von
dir zu sprechen... Ich träume... träume von einer Reise nach Rom, nach
Griechenland, an Orte, die in der Dunkelheit sind, um ihnen das Licht zu
bringen,... damit die in der Finsternis Lebenden zu dir finden und in
Vereinigung mit dir, dem Licht der Welt, leben. Ich träume von einer besseren
Welt... besser durch die Kenntnis von dir, die ich ihr bringe, und durch die
Liebe, die sie Güte, Reinheit und Heldentum erlangen läßt; einer Welt, in der
man sich in deinem Namen liebt, die über dem Haß, der Sünde, dem Fleische, dem
Laster des Geizes und dem Gold steht; die deinen Namen und den Glauben an dich
und deine Lehre über alles erhebt... Ich träume davon, daß ich mit diesen
meinen Brüdern auf dem Meer Gottes dahinziehe, in den Bahnen des Lichtes, um
dich den Menschen zu bringen... wie einst deine Mutter dich uns vom Himmel
gebracht hat... Ich träume... ich träume, das Kind zu sein, das auch in allen
Mühsalen freudvoll bleibt, weil es nichts anderes kennt als die Liebe.... das
singt, um die Erwachsenen zu trösten, die zu viel grübeln; und das mit einem
Lächeln vorwärtsschreitet, dem Tod, der Herrlichkeit entgegen, mit der Demut,
die nicht weiß, was sie tut, die nur weiß, daß sie zu dir, der Liebe, geht
...»
Die Apostel haben nicht zu atmen
gewagt während dieses Bekenntnisses
401
voll innerer Glut... Sie sind
stehengeblieben und haben den Jüngsten betrachtet, dessen gesenkte Augenlider,
einem verhüllenden Schleier gleich, seine aufflammenden Gefühle verbergen
sollten. Sie betrachten Jesus, der in seiner Freude, sich in seinem Jünger so
völlig wiederzufinden, wie verklärt scheint...
Als Johannes schweigt, etwas
gebeugt stehenbleibt und an die Anmut der demütigen Jungfrau Maria bei der
Verkündigung in Nazareth erinnert, küßt ihn Jesus auf die Stirn und sagt: «Wir
werden gehen, das Meer zu sehen, um dich noch einmal von der Ankunft meines
Reiches in der Welt träumen zu lassen.»
«Herr... du hast gesagt, daß wir
nachher nach Endor gehen. Stelle nun auch mich zufrieden ... ... damit ich das
Bittere vergesse, das mir der Knabe mit seinem Urteil angetan hat...» sagt
Judas Iskariot.
«Oh, denkst du immer noch daran?»
fragt Jesus.
«Immer. Ich fühle mich in deinen
Augen und in den Augen der Gefährten herabgesetzt. Ich stelle mir eure
Gedanken vor...»
«Was zermarterst du dir für ein
Nichts das Gehirn! Ich dachte nicht mehr an diese Kleinigkeit, und die anderen
sicher auch nicht. Du erinnerst uns daran... Du bist wie ein Knabe, der nur an
Zärtlichkeiten gewöhnt ist, und das Gerede eines Kindes kam dir wie das Urteil
eines Richters vor. Aber nicht dieses Urteil mußt du fürchten, sondern deine
Taten und das Urteil Gottes. Doch damit du dich davon überzeugst, daß du mir
noch genauso lieb bist wie zuvor und wie immer, sage ich dir, daß ich dich
zufriedenstellen werde. Was willst du in Endor sehen? Es ist ein armseliger
Ort inmitten von Felsen ...»
«Führe mich hin ... und ich werde
es dir sagen.»
«Also gut. Aber sieh zu, daß es
dir nachher nicht leid tut...»
«Wenn es diesem hier nicht
schadet, das Meer zu sehen, so kann es mir nicht schaden, Endor zu sehen.»
«Zu sehen... Nein! Aber der
Wunsch nach dem, was man bei dieser Besichtigung zu sehen verlangt, kann
schädlich sein. Doch wir werden hingehen...»
Sie gehen wieder weiter auf dem
Weg zum Tabor, der in seiner ganzen Größe immer näher rückt, während der Boden
die typischen Merkmale des Moors verliert. Das Erdreich wird fester und die
Vegetation karger. Höhere Pflanzen und Waldrebenbüsche grüßen schon mit neuen
Trieben und frühen Blüten.
402
228. IN ENDOR; IN DER GROTTE DER
WAHRSAGERIN; BEKEHRUNG VON FELIX, DER HIERAUF JOHANNES GENANNT WIRD
Sie haben den Tabor bestiegen und
ihn schon hinter sich gelassen. Die Gruppe geht nun durch ein Tal zwischen
diesem Berg und einem anderen. Das Gespräch dreht sich um die Besteigung des
Berges, an der alle teilgenommen haben, obwohl sich die älteren dies
anfänglich gerne erspart hätten, wie es scheint. Doch nun sind alle glücklich,
den Gipfel erstiegen zu haben. Der Weg ist jetzt leicht begehbar, denn man
befindet sich auf einer angenehmen Hauptstraße. Die Tageszeit ist kühl, und
ich habe den Eindruck, daß sie an den Hängen des Tabor übernachtet haben.
«Das dort ist Endor», sagt Jesus
und deutet auf ein armseliges Dorf, das an den ersten Hängen der nächsten
Berggruppe klebt.
«Willst du wirklich hingehen?»
«Wenn du mich zufriedenstellen
willst...» antwortet Judas Iskariot.
«Dann wollen wir gehen.»
«Aber wird es weit zu gehen
sein?» fragt Bartholomäus, der in Anbetracht seines Alters nicht sehr willens
ist, panoramische Wanderungen zu unternehmen.
«O nein. Aber wenn ihr bleiben
wollt...», sagt Jesus.
«Ja, ja, bleibt nur hier. Es
genügt mir, wenn der Meister mitkommt», beeilt sich Judas Iskariot zu sagen.
«Ich möchte nur wissen, was es
Schönes zu sehen gibt, bevor ich mich entscheide... Von der Höhe des Tabor
haben wir das Meer gesehen, und ich muß gestehen, daß ich es nach dem, was der
Knabe gesagt hat, zum ersten Mal richtig gesehen habe; so wie du die Dinge
betrachtest: mit dem Herzen. Hier... möchte ich wissen, ob es etwas zu lernen
gibt; wenn ja, dann werde ich mitkommen, auch wenn es für mich beschwerlich
ist...»sagt Petrus.
«Hörst du sie? Du hast dich über
deine Absichten noch nicht geäußert. Aus Freundlichkeit deinen Kameraden
gegenüber, sag um was es geht», bittet Jesus.
«Wollte denn Saul nicht nach
Endor gehen, um eine Wahrsagerin zu befragen?»
«Doch, und nun?»
«Meister, ich möchte gerne zu
diesem Ort gehen und dich über Saul sprechen hören.»
«Oh, dann komme ich auch mit»,
ruft Petrus begeistert aus.
«Dann laßt uns gehen.»
Sie legen rasch noch das letzte
Stück auf der Hauptstraße zurück und begeben sich dann auf eine Nebenstraße,
die geradeaus nach Endor führt.
Es ist ein armseliger Ort, wie
Jesus gesagt hatte. Die Häuser kleben an
403
den Hängen, die außerhalb des
Ortes noch steiler werden. Arme Leute wohnen hier. Die Bewohner sind wohl
größtenteils Hirten, die die Tiere an den Hängen des Berges in den
jahrhundertealten Eichenwäldern weiden. Einige Erdflecken, auf denen Gerste
oder ähnliches Getreide wächst, Apfel- und Feigenbäume, hier und da ein
Weinstock zum Schmuck des dunklen Gemäuers, das auf eine feuchte Gegend
schließen läßt. Das ist alles.
«Nun fragen wir, wo die
Wahrsagerin gehaust hat», sagt Jesus. Er hält eine Frau an, die mit ihren
Wasserkrügen von Brunnen zurückkehrt.
Sie blickt ihn neugierig an und
antwortet unhöflich: «Ich weiß es nicht. Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als
solchem Geschwätz nachzugehen!» und läßt ihn stehen.
Jesus wendet sich alsdann an
einen Greis, der an einem Holzstück schnitzt. «Die Wahrsagerin? Saul ? ... Wer
kümmert sich noch darum? Doch warte... es ist einer hier, der studiert hat; er
könnte es wissen... Komm.»
Der Greis klettert einen
steinigen Weg hinauf, der vor einem ärmlichen, verwahrlosten Hause endet.
«Bleibt hier, ich gehe hinein und rufe ihn.»
Petrus, der auf die Hühner
deutet, die in einem schmutzigen Hof herumscharren, sagt: «Dieser Mann ist
kein Israelit.»
Er fügt nichts weiter hinzu, denn
der Greis kommt mit einem einäugigen Mann zurück, der so schmutzig und
unordentlich aussieht wie alles, was zu seinem Haus gehört. Der Greis sagt:
«Siehst du? Dieser Mann sagt, es ist dort, hinter dem zerfallenen Hause. Ein
kleiner Pfad, dann ein Bächlein, dann ein Wäldchen und einige Höhlen, und die
am höchsten gelegene, die noch eine verfallene Mauer hat, ist die, die du
suchst. Hast du nicht so gesagt ?»
«Nein, du hast alles
durcheinandergebracht. Ich werde mit diesen Fremden hingehen.»
Der Mann hat eine rauhe und
kehlige Stimme, was ein gewisses Unbehagen der Anwesenden noch vermehrt. Sie
setzen sich in Bewegung. Petrus, Philippus und Thomas geben Jesus durch
Zeichen zu verstehen, daß er nicht hingehen solle. Doch Jesus achtet nicht
darauf. Er geht mit Judas hinter dem Manne her, und die anderen folgen ihm...
widerwillig.
«Bist du Israelit ?» fragt der
Mann.
«Ja.»
«Ich auch, oder fast, obwohl es
nicht den Anschein hat. Doch ich war lange Zeit in anderen Ländern und habe
Sitten angenommen, die diese Dummköpfe mißbilligen. Ich bin besser als die
anderen. Aber man nennt mich einen Teufel, weil ich viel lese, Geflügel
züchte, das ich den Römern verkaufe, und mich auf die Kräuterheilkunst
verstehe. Als junger Mann bin ich einer Frau wegen mit einem Römer in Streit
geraten – ich lebte damals in Citium – und ich erstach ihn. Er starb, und ich
verlor dabei das
404
Auge und mein Vermögen und wurde
zu einer Kerkerstrafe von vielen Jahren verurteilt. Aber ich verstand mich auf
die Behandlung von Krankheiten und heilte die Tochter des Wärters. Dies
brachte mir seine Freundschaft ein und ein wenig Freiheit... Ich nützte sie
zur Flucht. Ich hatte schlecht gehandelt, denn der Wärter bezahlte meine
Freiheit sicher mit seinem Leben. Aber die Freiheit erscheint schön, wenn man
Gefangener ist...»
«Erwies sie sich nicht als
schön?»
«Nein. Besser der Kerker, wo man
allein ist... als die Berührung mit Menschen, die einem nicht erlauben, allein
zu sein, und die um uns herum sind, um uns zu hassen...»
«Hast du die Philosophen studiert
?»
«Ich war Lehrer in Citium... Ich
war ein Proselit...»
«Und jetzt?»
«Nun bin ich nichts. Ich lebe in
der Wirklichkeit und hasse, so wie ich gehaßt wurde und werde.»
«Wer haßt dich denn?»
«Alle. Gott als erster. Da war
meine Frau... und Gott hat gestattet, daß sie mich verriet und mich ruinierte.
Ich war frei und angesehen, und Gott hat zugelassen, daß ich ins Zuchthaus
kam. Die Abkehr Gottes und die Ungerechtigkeit der Menschen haben mich so weit
gebracht, daß ich ihn und sie ablehne. Hier ist nichts mehr von alledem...» Er
deutet auf die Stirne und auf die Brust. «Hier im Kopf ist das Wissen, die
Einsicht, daß es nichts gibt...» und er spuckt verächtlich zu Boden.
«Du irrst dich, zwei Dinge gibt
es noch.»
«Welche?»
«Die Erinnerung und den Haß.
Werde wahrhaftig leer... und ich werde dir etwas Neues dafür geben.»
«Was denn?»
«Die Liebe.»
«Ha, ha, ha! Daß ich nicht lache!
Seit fünfunddreißig Jahren habe ich nicht mehr gelacht, Mann! Seit ich den
Beweis hatte, daß mich das Weib mit dem römischen Weinhändler betrog. Die
Liebe! Liebe für mich! Das wäre, wie wenn ich meinen Hühnern Edelsteine
hinwerfen würde. Sie würden an Verdauungsstörungen eingehen, wenn es ihnen
nicht gelänge, sie durch den Darm zu bringen. Das gleiche würde mir geschehen.
Deine Liebe würde mich belasten, wenn ich sie nicht verdauen könnte...»
«Nein, Mann. Sprich nicht so!»
Jesus legt ihm die Hand auf die Schulter und ist sichtlich betrübt.
Der Mann blickt ihn mit seinem
einen Auge an, und was er in diesem liebevollen und wunderschönen Antlitz
sieht, läßt ihn verstummen und verändert seinen Gesichtsausdruck. Vom
Sarkasmus wechselt er zu tiefem Ernst und von diesem zu einer echten
Traurigkeit. Er senkt den Kopf und fragt mit veränderter Stimme: «Wer bist
du?»
405
«Jesus von Nazareth. Der
Messias!»
«Du?! !»
«Ich. Wußtest du, der du belesen
bist, nichts von mir?»
«Ich wußte... jedoch nicht, daß
du lebst und nicht... Oh, vor allem wußte ich nicht, daß du gut zu allen
bist... selbst zu Mördern... Verzeih mir, was ich gesagt habe... über Gott und
die Liebe... Nun verstehe ich, warum du mir Liebe geben willst... Weil die
Welt ohne Liebe eine Hölle ist, und du, der Messias, willst sie zu einem
Paradies machen.»
«Ein Paradies in jedem Herzen.
Gib mir die Erinnerung und den Haß, die dich nicht gesund werden lassen, und
gewähre, daß ich dir die Liebe ins Herz senke.»
«Oh, wenn ich dich früher
kennengelernt hätte! ... Dann ... Aber als ich den Mord beging, da warst du
sicher noch nicht geboren ... Aber nachher... nachher... als ich frei war...
frei, wie eine Schlange in den Wäldern es ist, da lebte ich nur noch, um mit
meinem Haß zu vergiften.»
«Du hast aber auch Gutes getan.
Hast du nicht gesagt, daß du mit Kräutern geheilt hast?»
«Ja, um geduldet zu werden. Aber
wie oft habe ich mit der Versuchung gekämpft, mit einem Trank zu vergiften...
Siehst du? Ich bin hierher geflüchtet... weil es ein Dorf ist, das von der
Welt nichts weiß und von dem die Welt nichts weiß. Ein verfluchtes Dorf! An
anderen Orten wurde ich gehaßt und haßte und lebte in der Angst, erkannt zu
werden... Ich bin eben doch ein böser Mensch.»
«Du bedauerst es, dem
Gefängniswärter Böses angetan zu haben. Siehst du, daß in dir immer noch Liebe
ist? Du bist nicht schlecht. In dir ist nur eine große, offene Wunde, und
niemand behandelt sie... Deine Güte entweicht aus ihr, wie das Blut aus den
Wunden. Aber wenn jemand sich deiner annehmen würde, damit deine Wunde heilt,
armer Bruder, dann würde auch deine Güte, die dann nicht mehr entweichen
könnte, Gestalt annehmen und in dir wachsen...»
Der Mann weint mit gesenktem
Kopf, ohne daß ihm auch nur das Geringste anzumerken wäre. Nur Jesus, der an
seiner Seite geht, sieht es. Ja, er sieht es, doch er sagt nun nichts mehr.
Sie kommen zu einer Höhle aus
eingestürztem Mauerwerk und Gängen im Berg. Der Mann bemüht sich, mit fester
Stimme zu sprechen und sagt: «Hier ist es. Geh nur hinein.»
«Danke, Freund. Sei gut.»
Der Mann sagt nichts und bleibt,
wo er ist, während Jesus mit den Seinen in eine geräumige, muffige, dunkle
Grotte hineingeht und dabei über große Steinbrocken steigen muß, die
wahrscheinlich von den sehr starken Mauern herrühren; dabei scheuen sie
Smaragdeidechsen und anderes garstiges Getier auf. An den Wänden kann man
immer noch Tierkreiszeichen und ähnliches sehen. In einem verräucherten Winkel
ist eine Nische
406
und darunter ein Loch wie ein
Schacht für den Abfluß der Nässe. Ganze Knäuel von Fledermäusen zieren die
Decke, und eine Eule, vom hellen Schein eines Zweiges aufgeschreckt, den
Jakobus angezündet hat, um erkennen zu können, ob sie Skorpione oder anderes
Getier zertreten, beklagt sich, schlägt dabei mit ihren Watteflügeln und
kneift die vom Licht geblendeten Augen zu. Die Eule kauert in der Nische, und
ein Haufen toter Mäuse, Wiesel, und halbverwester Vögel liegt zu ihren Füßen,
deren Gestank sich mit dem Geruch des Unrats und des feuchten Moders
vermischt.
«Wahrlich, ein schöner Ort», sagt
Petrus. «Dein Tabor und dein Meer waren schöner, Junge!» und dann, sich Jesus
zuwendend: «Meister, stelle Judas schnell zufrieden, denn dies ist wirklich
nicht der Königssaal des Antipas!»
«Schnell, was möchtest du genau
wissen?» fragt Jesus Judas Iskariot'
«Also, ich möchte wissen, ob und
warum Saul gesündigt hat, als er hierhergekommen ist. Ich möchte wissen, ob es
möglich ist, daß eine Frau Tote beschwören kann. Ich möchte wissen, ob... Oh,
sprich du, und ich werde dir einfach Fragen stellen.»
«Eine lange Geschichte. Laßt uns
wenigstens hinausgehen an die Sonne, auf die Steine... Dann können wir der
Nässe und dem Gestank entgehen», bittet Petrus.
Jesus stimmt zu. Sie setzen sich,
so gut es geht, auf das eingefallene Gemäuer.
«Die Sünde, die Saul hier
begangen hat, war nur eine seiner vielen Sünden. Viele andere sind ihr
vorausgegangen, und viele weitere hat sie nach sich gezogen. Alles schwere
Sünden. Zweifacher Undank gegenüber Samuel, der ihn zum König salbte und sich
dann verborgen hielt, um die Verehrung des Volkes für den König nicht zu
schmälern. Undankbar war Saul auch gegen David, der ihn von Goliath befreit
hatte, der ihn in der Höhle von Engedi und in Hachila geschont und nicht
getötet hatte. Oft hatte er sich des Ungehorsams und des Ärgernisses vor dem
Volk schuldig gemacht. Er hatte gegen die Liebe gefehlt, als er Samuel, seinen
Wohltäter, betrübte. Er verfehlte sich durch Eifersucht und Gewalttaten an
David, seinem anderen Wohltäter, und schließlich beging er hier eine
Freveltat.»
«Inwiefern hat er denn eine
Freveltat verübt ? Er hat doch hier niemanden getötet!»
«Seine Seele hat er getötet. Er
hat sie hier drinnen noch vollends getötet. Warum senkst du dein Haupt?»
«Ich denke nach, Meister.»
«Du denkst nach. Ich sehe es.
Über was denkst du nach? Warum wolltest du hierher kommen? Nicht aus dem
reinem Wissensdrang eines Menschen, der lernen möchte, gestehe es!»
407
«Immer wird von Magiern, von
Zauberei und Geisterbeschwörungen gesprochen. Ich wollte sehen, ob ich etwas
entdecken könnte... Ich möchte gerne wissen, wie dies geschieht... Ich meine,
wir sollten, da wir die Menschen staunen machen müssen, um sie für uns zu
gewinnen, ein wenig von Zauberei verstehen. Du bist, was du bist, und durch
deine Macht. Aber wir brauchen eine Kraft, eine Hilfe, um besondere Dinge tun
zu können, die Eindruck machen...»
«Oh, bist du eigentlich verrückt
? Was sagst du ?» schreien mehrere.
«Schweigt, laßt ihn reden. Er ist
nicht von Sinnen.»
«Ja, ich hoffte, daß mit meinem
Besuch an diesem Orte ein wenig von der Zauberkunst jener Zeit auf mich
übergehe, um mich hervortun zu können. Nur deinetwegen, glaube es mir!»
«Ich weiß, daß du in deinem
jetzigen Wunsch aufrichtig bist. Doch ich antworte dir mit Worten, die ewig
währen, da es Worte der heiligen Schrift sind, und die heilige Schrift wird
bestehen, solange es Menschen gibt. Ob man an sie glaubt oder sie verspottet,
ob man sie anficht im Namen der Wahrheit oder sie verachtet, stets wird sie
sein und bleiben, was sie ist.
Es steht geschrieben: "Und Eva,
die sah, daß die Frucht des Baumes gut zu essen und schön anzusehen war,
pflückte eine, aß und gab davon auch ihrem Gatten... Da öffneten sich ihre
Augen, und sie wurden sich bewußt, daß sie nackt waren und machten sich
Schürzen... Und Gott fragte sie: 'Wie seid ihr gewahr geworden, daß ihr nackt
seid? Nur weil ihr von der verbotenen Frucht gegessen habt!' Und er vertrieb
sie aus dem Paradies der Wonne."
Im Buche Saul steht geschrieben:
"Samuel sagte, als er erschien: 'Warum hast du mich mit deinen Rufen in meiner
Ruhe gestört? Warum fragst du mich, da doch der Herr von dir gewichen ist? Der
Herr wird an dir tun, wie er durch mich verheißen hat... weil du auf die
Stimme des Herrn nicht gehört hast.' "
Sohn, strecke nicht die Hand nach
der verbotenen Frucht aus. Sich ihr nur zu nähern, ist schon Unvorsichtigkeit.
Deine Befürchtungen sollen in dir nicht die Neugier wecken, zu Übernatur
vorzudringen, um so ein Opfer satanischen Giftes zu werden. Meide das Okkulte
und alles, was sich nicht erklären läßt. Nur eines muß in heiligem Glauben
angenommen werden: Gott! Doch alles, was nicht Gott ist, was der Verstand
nicht erklären und menschliche Kräfte nicht vollbringen können, meide es,
meide es, auf daß sich dir nicht die Quellen der Bosheit erschließen, und du
erkennst, daß du "nackt" bist, nackt, d.h. abstoßend in deiner mit dem
Satanismus vermischten Menschlichkeit.
Warum willst du mit finsteren
Wundern in Erstaunen versetzen? Versetze in Erstaunen mit deiner Heiligkeit,
die erstrahlen soll als etwas, das seinen Ursprung in Gott hat. Begehre nicht,
den Schleier zu zerreißen, der die Lebenden von den Verstorbenen trennt. Störe
die Dahingeschiedenen
408
nicht. Sind sie weise, dann höre
auf sie, solange sie auf Erden leben, und ehre sie mit deinem Gehorsam noch
über den Tod hinaus, aber störe sie nicht in ihrem zweiten Leben. Wer nicht
auf die Stimme des Herrn hört, verliert den Herrn, denn der Herr hat den
Okkultismus, die Zauberei und den Satanismus in all seinen Formen verboten.
Was willst du mehr erfahren, als das Wort Gottes bereits sagt? Was willst du
mehr wirken, als deine Güte und meine Macht dir zu wirken gewähren? Strebe
nicht nach der Sünde, sondern trachte nach der Heiligkeit, Sohn! Dies soll
dich nicht beschämen, es gefällt mir, daß du dich in deiner menschlichen
Denkart zeigst. Was dir gefällt, gefällt vielen, allzu vielen. Nur das Ziel,
das du mit deinem Wunsch verfolgst: "mächtig zu sein, um die Menschen für mich
zu gewinnen", läßt diese Menschlichkeit weniger schwer wiegen und verleiht ihr
Flügel. Aber es sind die Flügel eines Nachtvogels. Nein, mein Judas! Gib
deiner Seele Engelsflügel, deren Flügelschlag allein schon die Herzen zu
gewinnen vermag und sie in lichtvolle Höhen zu Gott führen wird. Können wir
gehen?»
«Ja, Meister. Ich habe
gefehlt...»
«Nein, du hast erforschen
wollen... Die Welt wird stets voll solcher Forscher sein. Komm, komm! Laßt uns
diesen Ort des Gestanks verlassen. Laßt uns an die Sonne gehen. In einigen
Tagen ist Ostern, und danach werden wir zu deiner Mutter gehen. Ich erinnere
dich an dein ehrbares Vaterhaus und deine gerechte Mutter. Oh, welcher
Friede!»
Wie immer wird Judas aufgeheitert
durch die Erinnerung an seine Mutter und das Lob des Meisters für seine
Mutter.
Sie verlassen die Ruine und gehen
auf dem gleichen Pfad, auf dem sie gekommen sind, zurück. Der einäugige Mann
ist immer noch da.
«Du bist noch da ?» fragt Jesus
und zeigt nicht, daß er das von den vergossenen Tränen noch gerötete Gesicht
bemerkt hat.
«Ja, ich bin noch hier. Wenn du
mir erlaubst, dann werde ich dir nachfolgen. Ich muß dir etwas sagen...»
«Komm also mit mir. Was willst du
mir sagen?»
«Jesus... ich muß deinen Namen
aussprechen, um Kraft zum Sprechen zu erhalten, um den heiligen Zauber zu
wirken, nämlich, mein eigenes Wesen zu wandeln, meine tote Seele
heraufzubeschwören, so wie die Wahrsagerin die Seele Samuels für Saul
heraufbeschwor; diesen deinen Namen, der hold wie dein Blick und heilig wie
deine Stimme ist. Du hast mir ein neues Leben gegeben. Noch ist es ohne
Gestalt, schwach und unfähig wie ein unterentwickeltes Neugeborenes, und
versucht, sich aus den Zwängen einer schlechten Schale zu befreien. Hilf mir,
aus meinem Tod herauszukommen!»
«Ja, Freund.»
«Ich habe erkannt, daß es in
meinem Herzen noch ein wenig Menschlichkeit gibt; noch bin ich nicht ganz
verroht, noch bin ich fähig zu lieben
409
und Liebe zu empfangen; ich kann
verzeihen, und mir kann verziehen werden. Deine Liebe, diese Liebe, die
Vergebung bedeutet, sagt es mir. Ist es nicht so? ?»
«Ja, Freund.»
«Dann nimm mich mit. Ich hieß
Felix, der Glückliche! Welch eine Ironie! Aber du, gib mir einen neuen Namen,
damit die Vergangenheit wirklich ausgelöscht sei. Ich werde dir wie ein
herrenloser Hund folgen, der endlich seinen Herrn gefunden hat. Ich werde dein
Sklave sein, wenn du willst. Aber laß mich nicht allein...»
«Ja, Freund.»
«Welchen Namen gibst du mir?»
«Einen Namen, der mir teuer ist:
Johannes, denn dir hat Gott Gnade erwiesen.»
«Nimmst du mich mit?»
«Vorerst wirst du mit mir kommen.
Dann wirst du mir mit den Jüngern nachfolgen. Aber dein Haus?»
«Ich habe kein Haus mehr. Was ich
besitze, überlasse ich den Armen. Gib mir nur Liebe und Brot!»
«Komm!» Jesus wendet sich um und
ruft die Apostel herbei: «Freunde, und besonders du, Judas, habt meinen Dank.
Deinetwegen, euretwegen findet eine Seele zu Gott. Das ist der neue Jünger. Er
kommt mit uns, bis wir ihn später den anderen Jüngern anvertrauen können. Seid
glücklich, eine Seele gewonnen zu haben, und preist Gott mit mir.»
Wahrlich, sehr glücklich scheinen
die Apostel nicht zu sein. Doch sie machen aus Gehorsam und Höflichkeit gute
Miene.
«Wenn du erlaubst, dann will ich
vorausgehen. Du wirst mich an der Schwelle des Hauses finden.»
«Geh nur.»
Der Mann rennt davon. Er scheint
ein anderer geworden zu sein.
«Nun, da wir allein sind, befehle
ich euch, gut mit ihm zu sein und mit niemandem über seine Vergangenheit zu
sprechen. Wer darüber spricht oder sich dem erlösten Bruder gegenüber lieblos
verhält, den entlasse ich sofort. Habt ihr verstanden? Seht doch, wie gut der
Herr ist! Wir sind in menschlichen Absichten hierhergekommen und Gott hat uns
gewährt, daß wir dadurch einem übernatürlichen Zweck gedient haben. Oh, ich
juble über die Freude, die nun im Himmel herrscht über den Neubekehrten.»
Sie erreichen das Haus. An der
Schwelle, mit einem sauberen, dunklen Gewand, dem dazu passenden Mantel, einem
Paar neuer Sandalen und einer geräumigen Tasche auf dem Rücken, wartet der
Mann. Er schließt die Tür und dann – erstaunlich bei einem Manne, den man für
gefühllos halten könnte – dann nimmt er ein weißes Hühnchen, vielleicht sein
Lieblingstierchen, das sich zutraulich in seine Hände kuschelt, küßt es,
weint, und setzt es wieder auf den Boden.
410
«Wir können gehen, ... verzeih!
Aber sie, meine Hühner, haben mich geliebt... Ich sprach mit ihnen.... und sie
verstanden mich...»
«Auch ich verstehe dich... und
ich liebe dich. Sehr! Ich werde dir alle Liebe geben, die die Welt dir
fünfunddreißig Jahre lang versagt hat.»
«Oh, ich weiß. Ich fühle es.
Daher komme ich. Aber habe Mitleid mit einem Menschen, der... der ein Tier
liebt, das... das ihm treuer als der Mensch war.»
«Ja.... ja. Denke nicht mehr an
die Vergangenheit. Du wirst viel zu tun haben, und mit deiner Erfahrung wirst
du viel Gutes tun. Simon, komm her, und auch du, Matthäus! Siehst du? Dieser
war mehr als nur gefangen, er war auch aussätzig. Dieser hier war ein Sünder.
Sie sind mir teuer, weil sie arme Herzen zu verstehen vermögen... Ist es nicht
so?»
«Durch deine Güte, Herr. Glaube
es, Freund, alles wird nichtig, wenn man ihm dient, und zurück bleibt nur der
Friede», sagt der Zelote.
«Ja, der Friede und eine neue
Jugend folgen dem vergangenen Altsein in Laster und Haß. Ich war Zöllner, doch
jetzt bin ich sein Apostel. Wir haben die Welt vor uns, und wir wissen
Bescheid über sie. Wir sind nicht die ausgelassenen Kinder, die an der
schädlichen Frucht am verführerischen Baum vorübergehen und die Wirklichkeit
nicht beachten. Wir kennen sie. Wir können das Böse verhüten und andere
lehren, es zu meiden. Wir verstehen es, Menschen aufzurichten, die Gefahr
laufen, einer Versuchung zu erliegen, denn wir wissen, wie trostreich es ist,
einen Halt zu finden, und wir wissen, wer aufrichtet: der Meister», sagt
Matthäus.
«Das ist wahr! Das ist wahr! Ihr
werdet mir helfen. Danke. Es ist mir, als käme ich aus einem dunklen,
stinkenden Ort auf eine blühende Wiese. Etwas Ähnliches habe ich verspürt als
ich hinaustrat, als freier Mensch, endlich frei, nach zwanzig Jahren Gefängnis
und brutaler Arbeit in den Bergwerken Anatoliens. Ich war an einem stürmischen
Abend geflohen und gelangte bei Sonnenaufgang auf den Gipfel eines steilen
Berges, von duftenden Wäldern umgeben... Die Freiheit! Doch das hier ist mehr!
Alles weitet sich in mir. Seit fünfzehn Jahren trage ich keine Ketten mehr.
Doch der Haß, die Angst, die Einsamkeit waren mir immer Ketten... Nun sind sie
gefallen! Da sind wir am Haus des alten Mannes, der euch zu mir geführt hat.
Mann! Mann!»
Das alte Männlein eilt herbei und
bleibt wie angewurzelt stehen, als es den Einäugigen sauber, in Reisekleidung
und mit lächelndem Gesicht erblickt.
«Nimm, dies ist der Schlüssel zu
meinem Haus. Ich gehe fort, für immer. Ich bin dir dankbar, denn du bist mein
Wohltäter. Du hast mir eine Familie wiedergeschenkt. Mach mit meinem Eigentum,
was du willst... und nimm dich meiner Hühner an. Mißhandle sie nicht. Jeden
Sabbat kommt ein Römer und kauft die Eier... sie werden dir etwas
einbringen... Sei gut zu meinen Hühnchen... und Gott vergelte es dir!»
411
Das alte Männlein fällt aus allen
Wolken... Er nimmt den Schlüssel und bleibt mit offenem Mund stehen.
Jesus sagt: «Tue, was er sagt,
und auch ich werde dir dankbar sein. Im Namen Gottes segne ich dich.»
«Der Nazarener! Du bist es!
Barmherzigkeit! Ich habe mit dem Herrn gesprochen! Frauen! Frauen! Männer! Der
Messias ist unter uns!»
Er schreit wie ein Adler, und von
allen Seiten kommen Menschen herbeigelaufen.
«Segne uns! Segne uns!» rufen
sie. Andere: «Bleibe bei uns!» Wieder andere: «Wohin gehst du? Sag uns
wenigstens, wohin du gehst!»
«Nach Naim, bleiben kann ich
nicht!»
«Wir folgen dir. Willst du?»
«Kommt, und den Zurückbleibenden
Friede und Segen!»
Sie gehen Richtung Hauptstraße
und folgen ihr dann.
Der Mann, der an der Seite Jesu
geht und schwer an seiner Tasche trägt, erweckt die Neugier des Petrus : «Was
trägst du denn so Schweres?» fragt er.
«Kleider... und Bücher. Meine
Freunde nach und mit den Hühnern. Ich habe mich nicht von ihnen trennen
können, obwohl sie schwer sind.»
«Ja, ja, die Wissenschaft wiegt
schwer. Aber wenn sie einem gefällt...»
«Ihr verdanke ich, daß ich nicht
wahnsinnig geworden bin.»
«Dann mußt du sie lieben! Aber
was für Bücher sind es denn?»
«Philosophie, Geschichte,
griechische und römische Dichtung...»
«Schön, schön, ganz bestimmt
schön... Aber glaubst du, daß du sie überallhin mitschleppen kannst?»
«Vielleicht wird es mir sogar
einmal gelingen, mich von ihnen zu trennen. Aber man kann nicht alles auf
einmal tun, nicht wahr, Messias?»
«Nenne mich Meister. Nein, das
geht nicht. Aber ich werde dir einen Platz besorgen, wo du deine Freunde, die
Bücher, unterbringen kannst. Sie werden dir eine Hilfe sein, wenn du mit den
Heiden von Gott sprichst.»
«Oh, wie ist doch dein Geist frei
von jeglicher Engstirnigkeit!»
Jesus lächelt, und Petrus ruft
aus: «Das glaube ich gerne! Er ist die Weisheit!»
«Und die Güte, glaub es mir! Bist
du gebildet?»
«Ich? Oh, und wie! Ich kann einen
Aal von einem Karpfen unterscheiden, das ist meine ganze Bildung. Ich bin
Fischer, Freund», und Petrus lacht dabei bescheiden und offenherzig.
«Du bist ein ehrlicher Mann. Das
ist eine Wissenschaft, die man sich auch aneignen muß, und sie ist gar nicht
so leicht. Du gefällst mir!»
«Auch du gefällst mir, denn du
bist ehrlich, auch wenn du dich selbst anklagst. Ich verzeihe alles und helfe
allen, aber ich bin ein erklärter Feind der falschen Leute. Ich verabscheue
sie!»
«Du hast recht, der Heuchler ist
ein Schurke!»
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«Ein Schurke, das ist richtig!
Sag, hast du genug Vertrauen, mir ein wenig deine Tasche zu überlassen? Du
kannst beruhigt sein, mit den Büchern renne ich nicht davon... Mir scheint, du
mühst dich zu sehr ab...»
«Zwanzig Jahre in den Bergwerken
zermürben... Aber warum willst du dich abmühen?»
«Weil der Meister uns gelehrt
hat, daß wir uns wie Brüder lieben sollen. Gib her! Nimm meine Lumpen. Mein
Sack ist leicht... es sind keine Geschichten, keine Gedichte drin. Meine
Geschichte, meine Dichtung und das andere, was du erwähnt hast, ist er, mein
Jesus, unser Jesus!»
229. AUFERWECKUNG DES SOHNES DER
WITWE VON NAIM
Naim muß zu Lebzeiten Jesu eine
gewisse Bedeutung gehabt haben. Die Ortschaft ist nicht sehr groß, aber gut
angelegt und von einer Mauer umgeben. Sie liegt auf einem Hügel, im Vorgebirge
des kleinen Hermon, und beherrscht von ihrer Höhe die fruchtbare Ebene, die
sich in nordwestlicher Richtung ausdehnt.
Man gelangt über Endor hierher,
nachdem man einen Bach überquert hat, der wohl in den Jordan mündet. Der
Jordan ist aber von hier aus nicht mehr zu sehen, und auch sein Tal wird von
einer Hügelkette in Form gegen Osten verdeckt.
Jesus geht auf eine Hauptstraße,
die das Gebiet des Sees mit dem kleinen Hermon und seinen Ortschaften
verbindet. Ihm folgen viele Bewohner von Endor, die lebhaft miteinander reden.
Die Gruppe der Apostel ist nun
ganz in der Nähe der Stadtmauer angelangt: Zweihundert Meter sind es höchstens
noch. Da die Hauptstraße durch ein Tor direkt in die Stadt führt und das Tor
offen steht, weil es mitten im Tag ist, kann man auch sehen, was sich gleich
jenseits der Mauer abspielt. Jesus, der gerade mit den Aposteln und dem
Neubekehrten spricht, sieht einen Leichenzug, der sich mit einem laut
wehklagenden Gefolge, wie es in orientalischen Ländern Brauch ist, nähert.
«Wollen wir gehen und sehen,
Meister?» fragen mehrere. Auch von den Bewohnern von Endor sind viele
hingeeilt, um zu sehen.
«Ja, gehen wir», sagt Jesus
zustimmend.
«Oh, es muß ein Jüngling sein;
denn siehst du, wie viele Blumen und Bänder auf der Bahre liegen?», sagt Judas
Iskariot zu Johannes.
«Es könnte auch eine Jungfrau
sein», antwortet Johannes.
«Nein, den Farben nach ist es
gewiß ein Jüngling, und zudem fehlen die Myrten...», sagt Bartholomäus.
Der Trauerzug kommt zur
Stadtmauer heraus. Es ist nicht möglich zu erkennen, wer auf der Bahre liegt,
die von großen Männern auf den
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Schultern getragen wird. Man kann
einen in Bandagen gewickelten, ausgestreckten Körper unter dem Leinentuch
gewahren, und man sieht auch, daß es ein Erwachsener sein muß, da der Körper
ebenso lang wie die Bahre ist.
Neben der Bahre geht eine
verschleierte Frau, die von Verwandten oder Freunden gestützt wird und weint.
Es ist das einzige echte Weinen in diesem gespielten Wehklagen. Wenn einer der
Träger über einen Stein, ein Loch oder eine Unebenheit des Bodens stolpert und
die Bahre einen Stoß abbekommt, dann jammert die Mutter: «O nein! Seid
vorsichtig! Mein Junge hat so viel gelitten!» Sie erhebt ihre zitternde Hand,
um den Rand der Bahre zu streicheln. Da sie nicht mehr tun kann, küßt sie die
Schleier und Bänder, die im Winde flattern und den leblosen Körper streifen.
«Es ist die Mutter», sagt Petrus
ernst, und dabei schimmern Tränen in seinen treuen, guten Augen.
Aber er ist nicht der einzige,
der wegen dieses Leides Tränen in den Augen hat. Dem Zeloten, Andreas,
Johannes und auch den immerfrohen Thomas ergeht es ebenso, und alle sind
ergriffen. Judas von Kerioth flüstert: «Wenn ich es wäre! Oh, meine arme
Mutter...»
Jesus, in dessen Augen eine
unbeschreibliche Zärtlichkeit leuchtet, geht auf die Bahre zu.
Die Mutter beginnt heftiger zu
schluchzen, weil sich der Leichenzug nun dem offenen Grab nähert, und als sie
sieht, daß Jesus die Bahre berühren will, schiebt sie ihn heftig zur Seite,
weil sie in ihrem Schmerz Angst vor ich weiß nicht was hat. «Es ist mein
Kind!» ruft sie und blickt Jesus mit ganz verstörten Augen an.
«Ich weiß es, Mutter. Es gehört
dir!»
«Er ist mein einziger Sohn! Warum
mußte er sterben, er, der so gut und lieb war, die einzige Freude der Witwe?
Warum?» Die Klageweiber verstärken ihr bezahltes Jammern, um in das Wehklagen
der Mutter einzustimmen, die fortfährt: «Warum er und nicht ich? Es ist nicht
gerecht, daß jemand, der geboren hat, sehen muß, wie sein Same stirbt. Der
Same muß leben, denn was nützt es sonst, daß die Eingeweide sich in Qualen
winden, um einem Menschen das Leben zu schenken?» und sie schlägt sich wild
und verzweifelt auf ihren Leib.
«Tue das nicht! Weine nicht,
Mutter!» Jesus nimmt ihre Hände fest in seine Linke, während seine Rechte die
Bahre berührt und er zu den Trägern sagt: «Bleibt stehen und stellt die Bahre
auf den Boden!»
Die Träger gehorchen und stellen
die Bahre mit den vier hölzernen Füßen zur Erde.
Jesus ergreift das Leinentuch,
mit dem der Tote bedeckt ist, schlägt es zurück, und der Leichnam wird
sichtbar.
Die Mutter schreit mit dem Namen
des Sohnes ihren ganzen Schmerz hinaus: «Daniel!»
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Jesus, der die mütterlichen Hände
immer noch in den seinen hält, richtet sich auf und nimmt eine feierliche
Haltung voller Würde ein, und mit funkelnden Augen und einem Ausdruck, der an
seine machtvollsten Wunder erinnert, sagt er, indem er seine rechte Hand
sinken läßt: «Jüngling, ich sage dir, steh auf!»
Der mit Binden umwickelte Tote
richtet sich auf seiner Bahre auf und ruft: «Mutter!» Er ruft nach ihr mit der
stammelnden, ängstlichen Stimme eines erschrockenen Kindes.
«Er gehört dir, Frau! Ich gebe
ihn dir im Namen Gottes zurück. Hilf ihm, sich vom Schweißtuch zu befreien.
Seid glücklich!»
Jesus will sich zurückziehen.
Doch es gibt kein Entrinnen. Das Volk umringt ihn an der Bahre.
Die Mutter hat sich in die Binden
verwickelt, weil sie ihren Sohn rasch daraus befreien will, während das
kindliche Jammern flehend «Mutter, Mutter», wiederholt.
Das Schweißtuch ist gelöst und
auch die Binden, und Mutter und Sohn können sich umarmen. Sie tun es, ohne auf
den Balsam zu achten, der an ihnen kleben bleibt und die Mutter mit den
gleichen Binden von dem lieben Gesicht und den Händen abwischt. Da sie nichts
anderes hat, um ihren Sohn zu kleiden, nimmt sie ihren Mantel und hüllt ihn
darin ein. Alles dient zum Vorwand für ihre Liebkosungen.
Jesus betrachtet sie... Er
betrachtet diese beiden Menschen, die sich an der Bahre, von der nunmehr alle
Trauer gewichen ist, innig umarmen, und weint. Judas Iskariot bemerkt diese
Tränen und fragt: «Warum weinst du, Herr?»
Jesus wendet ihm sein Antlitz zu
und sagt: «Ich denke an meine Mutter...»
Dieser kurze Wortwechsel erinnert
die Frau an ihren Wohltäter. Sie nimmt ihren Sohn bei der Hand und stützt ihn,
da er noch eine gewisse Unsicherheit in den Gliedern spürt, kniet nieder, um
das Gewand Jesu zu küssen, und sagt: «Auch du, mein Sohn, preise diesen
Heiligen, der dich dem Leben und deiner Mutter zurückgegeben hat.» Die Menge
jubelt Gott und seinem Messias in lauten Hosannarufen zu, die ihn nun,
aufgeklärt durch die Apostel und die Bewohner von Endor, als den Messias
erkannt hat.
Die ganze Volksmenge ruft nun
aus: «Gepriesen sei der Gott Israels. Gepriesen sei der Messias, der Gesandte
Gottes! Gepriesen sei Jesus, der Sohn Davids! Ein großer Prophet ist unter uns
erstanden! Gott hat wahrhaftig sein Volk aufgesucht! Halleluja, Halleluja!»
Endlich kann Jesus sich aus dem Gedränge befreien und in die Stadt
hineingehen. Das Volk, anspruchsvoll in seiner Liebe, folgt ihm und bedrängt
ihn. Ein Mann eilt herbei und grüßt ihn mit einer tiefen Verneigung: «Ich
bitte dich, unter meinem Dache zu rasten.»
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«Ich kann nicht. Das Osterfest
läßt keinen Aufenthalt mehr zu, außer dem festgelegten.»
In wenigen Stunden ist
Sonnenuntergang, und es ist Freitag...»
«Eben deshalb muß ich meine
Tagereise vor dem Sonnenuntergang beendet haben. Ich danke dir trotzdem. Doch
halte mich nicht auf!»
«Aber ich bin der
Synagogenvorsteher.»
«Damit willst du sagen, daß du
ein Recht darauf hast. Mann, wenn ich auch nur eine Stunde später gekommen
wäre, hätte dies genügt, daß diese Mutter ihren Sohn nicht zurückerhalten
hätte. Ich gehe hin, wo noch andere Unglückliche auf mich warten. Verzögere
ihre Freude nicht aus Selbstsucht. Ich werde gewiß ein andermal wieder nach
Naim kommen und dann für mehrere Tage bei dir verweilen. Aber nun laß mich
gehen.»
Der Mann besteht nicht länger auf
der Einladung. Er sagt nur: «Einverstanden, ich erwarte dich.»
«Ja, der Friede sei mit dir und
den Einwohnern von Naim. Auch euch, ihr Leute von Endor, Friede und Segen!
Geht nun nach Hause! Gott hat durch das Wunder zu euch gesprochen. Sorgt
dafür, daß durch eure Liebe ebensoviele Herzen zum Guten auferstehen als es
Herzen gibt!»
Nochmals ertönt ein Chor von
Hosannarufen. Dann lassen die Menschen Jesus gehen, der nun die Stadt schräg
durchquert und sie in Richtung Esdrelon verläßt.
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Gepriesen sei Gott unser
Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus
Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,
Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.
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