Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band XII:
Die Verherrlichung
677. Der Morgen der Auferstehung. S. 9
678. Der Ostermorgen; Klage; Gebet Marias. S. 15
679. Die Auferstehung. S. 19
680. Jesus erscheint der Mutter. S. 23
681. Die frommen Frauen am Grab. S. 25
682. Zum vorigen Kapitel. S. 34
683. Jesus erscheint Lazarus. S. 39
684. Jesus erscheint Johanna. S. 45
685. Jesus erscheint Joseph, Nikodemus und Manaen. S. 48
686. Jesus erscheint den Hirten. S. 50
687. Jesus erscheint den Jüngern von Emmaus. S. 53
688. Jesus erscheint anderen Freunden. S. 61
689. Jesus erscheint den zehn Aposteln. S. 64
690. Die Rückkehr des Thomas. S. 74
691. Jesus erscheint den Aposteln mit Thomas. S. 80
692. Der auferstandene Jesus in Gethsemane. S. 88
693. Die Apostel gehen nach Golgotha: Und dann.... S. 107
694. Jesus bestätigt den Gläubigen an verschiedenen Orten seine Auferstehung.
S. 122
695. Jesus erscheint am Ufer des Sees. S. 157
696. Jesus auf dem Tabor. S. 162
697. Jesus zu den Aposteln und Jüngern. S. 175
698. Das nachgeholte Passahfest. S. 192
699. Die Himmelfahrt des Herrn. S. 198
700. Die Wahl des Matthias. S. 212
701. Die Herabkunft des Heiligen Geist es. S. 216
702. Petrus, nicht mehr der rauhe Fischer in seiner neuen Würde als Oberhirte.
S. 220
703. Maria empfängt Lazarus und Joseph von Arimathäa. S. 224
704. Maria und Johannes an den Orten der Passion. S. 230
705. Das Grabtuch wird Maria überbracht. S. 234
706. Das Martyrium des Stephanus. S. 240
707. Die verschiedenen Wirkungen und Folgen der Begegnungen mit Christus. S.
245
708. Die Beisetzung des heiligen Stephanus. S. 248
709. Gamaliel wird Christ. S. 251
710. Unterredung zwischen Petrus und Johannes. S. 257
711. Der selige Heimgang Marias. S. 261
712. Aufnahme Marias in den Himmel. S. 271
713. Erwägungen und Erklärungen zur Himmelfahrt und zum Heimgang der
allerseligsten Jungfrau Maria. S. 276
714. Abschliessliche Bemerkungen zum Werk. S. 283
677. DER MORGEN DER AUFERSTEHUNG
Die Frauen setzen ihre Arbeit mit
den Ölen fort, die während der Nacht im kalten Hof zu einer festen Paste
geworden sind.
Johannes und Petrus halten es für
angebracht, den Abendmahlsaal aufzuräumen und das Geschirr abzuwaschen; doch
dann lassen sie alles so stehen, als ob das Abendmahl soeben beendet worden
wäre.
«Er hat es uns gesagt», sagt
Johannes.
«Er hat auch gesagt: "Schlaft
nicht!" Er hat gesagt: "Sei nicht überheblich, Petrus. Weißt Du nicht, daß die
Stunde der Prüfung anbricht?" Und... und er hat gesagt: "Du wirst mich
verleugnen..."» Petrus weint wieder und sagt von tiefem Schmerz erfüllt: «Und
ich habe ihn verleugnet!»
«Genug, Petrus! Nun bist du
wieder du. Höre auf, dich zu quälen!»
«Niemals, niemals. Selbst wenn
ich so alt wie die ersten Patriarchen werden und siebenhundert oder
neunhundert Jahre wie Adam und seine ersten Enkel leben würde, hätte diese
Qual doch kein Ende.»
«Hoffst du nicht auf seine
Barmherzigkeit?»
«Doch. Wenn ich nicht an sie
glauben würde, wäre ich wie Iskariot: ein Verzweifelter. Aber auch wenn er mir
vom Schoß des Vaters aus, zu dem er zurückgekehrt ist, verzeiht, ich selbst
verzeihe mir nicht. Ich! Ich! Ich, der ich gesagt habe: "Ich kenne ihn nicht,
weil es in jenem Augenblick gefährlich war, ihn zu kennen; weil ich mich
schämte, sein Jünger zu sein; weil ich Angst vor der Marter hatte... Er ging
in den Tod, und ich... war darauf bedacht, mein Leben zu retten. Und um es zu
retten, habe ich mich von ihm abgewandt, wie eine sündige Frau sich der von
ihr geborenen Leibesfrucht entledigt, da es gefährlich wäre, wenn ihr
unwissender Mann sie bei seiner Rückkehr vorfände. Schlimmer als eine
Ehebrecherin bin ich... schlimmer als...»
Angezogen von der lauten Stimme,
kommt Maria Magdalena herein. «Schrei doch nicht so. Maria hört dich. Sie ist
so erschöpft! Sie hat keine Kraft mehr, und alles tut ihr weh. Dein sinnloses
Herumschreien erneuert nur die Qualen, die euer Benehmen ihr bereitet hat...»
«Siehst du? Siehst du, Johannes?
Eine Frau kann mir Schweigen gebieten. Und sie hat recht, denn wir, die dem
Herrn geweihten Männer, konnten nur lügen und davonlaufen. Die Frauen waren
tapfer. Du, du bist wenig mehr als eine Frau, denn du bist so jung und rein,
du hast den Mut gehabt zu bleiben. Und wir, die Starken, die Männer, wir sind
geflohen.
9
Oh, wie muß mich die Welt
verachten! Sage es mir, sage es mir nur, Frau. Du hast recht! Tritt mir mit
deinem Fuß in den Mund, der gelogen hat. An der Sohle der Sandale klebt
vielleicht noch etwas von seinem Blut. Und nur dieses mit dem Staub der Straße
vermischte Blut kann dem Abtrünnigen etwas Vergebung, etwas Frieden schenken.
Ich muß mich an die Verachtung der Welt gewöhnen. Was bin ich denn? So sagt
mir doch, was bin ich?»
«Du bist nichts als großer
Hochmut», antwortet Magdalena ruhig. «Schmerz? Das auch. Aber glaube mir,
trotzdem sind von den zehn Teilen deines Schmerzes fünf – und ich will nicht
sagen sechs, um dich nicht zu kränken – Selbstmitleid, weil man dich nun
verachten könnte. Und gewiß werde ich dich verachten, wenn du wie ein dummes
Weib immer weiterjammerst und klagst! Was geschehen ist, ist geschehen. Das
wilde Geschrei macht es nicht wieder gut oder ungeschehen. Es zieht nur die
Aufmerksamkeit auf sich und bettelt um ein Mitleid, das du nicht verdienst.
Sei ein Mann in deiner Reue. Schrei nicht, tu etwas. Ich... du weißt, wer ich
war. Aber als ich verstanden hatte, daß ich ekelerregender als Erbrochenes
war, habe ich mich nicht in Krämpfen gewunden. Ich habe gehandelt. Öffentlich.
Ohne Nachsicht mit mir selbst und ohne um Nachsicht zu betteln. Die Welt
verachtete mich? Sie hatte allen Grund dazu. Ich hatte es verdient. Die Welt
sagte: "Eine neue Laune der Dirne"? Und sie nannte meine Hinwendung zu Jesus
eine Gotteslästerung? Sie hatte recht. Mein früheres Benehmen war der Welt
bekannt und rechtfertigte jeden derartigen Gedanken. Nun, und was dann? Die
Welt mußte sich überzeugen, daß Maria nicht mehr die Sünderin ist. Ich habe
die Welt überzeugt durch Tatsachen. Mach du es ebenso und schweig!»
«Du bist aber streng, Maria»,
bemerkt Johannes.
«Mehr zu mir selbst als zu den
anderen. Aber ich gebe zu, ich habe nicht die sanfte Hand der Mutter. Sie ist
die Liebe. Ich... Oh, ich! Ich habe meine Sinne mit der Peitsche meines
Willens bezwungen. Und ich werde es noch mehr tun. Glaubst du, ich hätte mir
verziehen, daß ich die Unzucht gewesen bin? Nein! Aber ich sage es nur mir
selbst. Immer werde ich es mir vorhalten. Ich werde mich verzehren und sterben
mit diesem geheimen Schmerz, daß ich mich selbst weggeworfen habe, mit diesem
untröstlichen Schmerz, daß ich mich entweiht habe und ihm nichts als ein
zertretenes Herz geben konnte... du siehst... ich habe mehr als die anderen an
den Salben gearbeitet... und mit mehr Mut als die anderen werde ich hingehen
und ihn auswickeln... Oh, mein Gott! Wie wird er nun aussehen? (Maria
Magdalena wird blaß bei dem Gedanken.) Und ich werde ihn erneut mit Salben
bedecken und die anderen entfernen, die sich auf den zahllosen Wunden sicher
schon zersetzt haben... Ich werde es tun, denn die anderen werden nicht dazu
imstande sein und die Flügel hängen lassen... Aber es schmerzt mich, es mit
diesen meinen Händen tun zu
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müssen, die so viele unzüchtige
Liebkosungen verteilt haben, und mich seiner Heiligkeit mit diesem meinem
befleckten Körper nähern zu müssen... Ich wollte... ich wollte, ich hätte die
Hand der Jungfrau-Mutter für diese letzte Salbung ...»
Maria weint nun ganz leise, ohne
Erregung. Wie anders ist sie doch als die theatralische Magdalena, die man uns
immer beschreibt! Es ist dasselbe lautlose Weinen wie am Tag der Verzeihung im
Haus des Pharisäers.
«Du sagst, daß... die Frauen
Angst haben werden?» fragt Petrus.
«Nicht Angst... aber sie werden
verstört sein beim Anblick seines gewiß schon verwesenden... aufgeblähten...
schwarzen Leichnams. Und außerdem werden sie sich sicher vor den Wachen
fürchten.»
«Willst du, daß ich mitkomme? Ich
und Johannes?»
«O nein, auf keinen Fall. Wir
Frauen werden alle zusammen gehen. Denn so wie wir alle dort oben bei ihm
gewesen sind, ebenso ist es nur recht, daß wir alle an seinem Totenbett sind.
Du und Johannes, ihr müßt hierbleiben. Sie darf nicht allein sein.»
«Kommt sie denn nicht mit?»
«Wir lassen sie nicht mitkommen.»
«Sie ist überzeugt, daß er
aufersteht... und du?»
«Ich bin nach Maria die, die am
meisten daran glaubt. Ich habe immer geglaubt, daß es so sein würde. Er hat es
gesagt. Und er lügt nie... Er... ! Oh, früher nannte ich ihn Jesus, Meister,
Erlöser, Herr... Nun erscheint er mir so groß, daß ich nicht mehr fähig bin,
daß ich es nicht mehr wage, ihm einen Namen zu geben. Was werde ich zu ihm
sagen, wenn ich ihn sehe ... ?»
«Glaubst du wirklich, daß er
auferstehen wird?»
«Schon wieder einer! Wenn ich
noch oft sagen muß, daß ich es glaube, und euch immer wieder sagen höre, daß
ihr es nicht glaubt, werde ich am Ende selbst nicht mehr glauben. Ich habe
geglaubt, und ich glaube. Ich habe geglaubt und habe schon lange sein Gewand
vorbereitet. Und morgen, denn morgen ist der dritte Tag, werde ich es
bringen.»
«Aber wenn du doch sagst, daß er
schwarz, aufgebläht und häßlich sein wird?»
«Häßlich niemals. Die Sünde ist
häßlich. Aber... nun ja. Er wird schwarz sein. Und? War Lazarus denn nicht
schon verwest? Und er ist trotzdem auferstanden! Und sein Fleisch war
erneuert. Aber wenn ich es doch sage... ! Schweigt, ihr Ungläubigen! Auch mir
sagt die menschliche Vernunft: "Er ist tot und wird nicht auferstehen." Doch
mein Geist, sein Geist – denn ich habe von ihm einen neuen Geist erhalten –
jubelt wie der Klang silberner Posaunen: "Er steht auf! Er steht auf! Er steht
auf!" Warum treibt ihr mich wie ein Schifflein gegen das Riff eurer Zweifel?
Ich glaube! Ich glaube, mein Herr! Lazarus hat dem Meister mit zerrissenem
Herzen gehorcht und ist in Bethanien geblieben. Ich, die ich weiß, wer
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Lazarus des Theophilus ist: ein
Starker, kein ängstlicher Hase, kann sein Opfer ermessen, im Schatten
geblieben und nicht beim Meister gewesen zu sein. Aber er hat gehorcht. Er war
in diesem Gehorsam heldenhafter, als wenn er ihn mit der Waffe den Bewaffneten
entrissen hätte. Ich habe geglaubt und glaube. Und hier stehe ich. In
Erwartung wie sie. Doch laßt mich gehen. Der Tag bricht an. Sobald man
genügend sieht, gehen wir zum Grab...»
Und Magdalena entfernt sich mit
ihrem von Tränen brennenden, aber immer Mut ausstrahlenden Gesicht. Sie geht
zu Maria hinein.
«Was war mit Petrus ?»
«Eine Nervenkrise. Doch nun ist
es vorbei.»
«Sei nicht hart, Maria. Er
leidet.»
«Ich auch. Aber siehst du, ich
habe nicht einmal eine Liebkosung von dir verlangt. Ihn hast du schon
getröstet... und ich meine, daß du allein, meine Mutter, Trost nötig hättest.
Meine Mutter, meine heilige, geliebte Mutter! Habe Mut... Morgen ist der
dritte Tag. Wir werden uns hier einschließen, wir, seine beiden in ihn
Verliebten. Du, die heilige Verliebte, ich, die arme Verliebte... Aber ich bin
es, so gut ich es eben kann, mit meinem ganzen Sein... Und wir werden auf ihn
warten... Sie, die nicht glauben, werden wir dort einschließen mit ihren
Zweifeln. Und hier will ich viele, viele Rosen aufstellen... Heute lasse ich
die Truhe bringen ... ... Jetzt gleich gehe ich in den Palast und gebe Levi
den Auftrag. Fort mit allen diesen furchtbaren Dingen! Unser Auferstandener
darf sie nicht sehen... Viele Rosen... Und du wirst ein neues Kleid anlegen...
Er darf dich nicht so sehen. Ich werde dich kämmen und dein armes Antlitz, das
die Tränen entstellt haben, waschen. Ewiges Mädchen, ich werde deine Mutter
sein... So werde ich endlich die Seligkeit verkosten, mütterliche Sorge zu
tragen für ein Geschöpf, das unschuldiger ist als ein neugeborenes Kind!
Liebste!» Und in ihrem Gefühlsüberschwang zieht Magdalena das Haupt der
sitzenden Maria an ihre Brust, küßt sie, liebkost sie, streicht ihr die in
Unordnung geratenen weichen Locken ihres Haares hinter die Ohren und trocknet
die erneut und immer, immer fließenden Tränen mit dem Linnen ihres Gewandes...
Nun kommen die Frauen herein mit
Lampen, Krügen und weithalsigen Gefäßen. Maria des Alphäus trägt einen
schweren Mörser.
«Wir können draußen nicht
weitermachen. Es weht ein leichter Wind, der die Lampen auslöscht», erklärt
sie.
Sie stellen sich auf einer Seite
an einen langen, schmalen Tisch, legen dort ihre Sachen nieder und stellen den
Balsam fertig, indem sie die schon dicke, duftende Salbe im Mörser mit einem
weißen Pulver vermischen, von dem sie ab und zu eine Handvoll aus einem
Säckchen nehmen. Sie mischen und arbeiten mit aller Kraft, füllen dann ein
weithalsiges Gefäß und stellen es auf den Boden. Mit einem anderen Gefäß
machen sie es ebenso. Düfte und Tränen tränken die Harze.
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Maria Magdalena sagt: «Dies war
nicht die Salbung, die ich hoffte, für dich vorbereiten zu dürfen.» Maria
Magdalena, die Erfahrenste von allen, hat in der Tat immer die
Zusammenstellung der Aromen angeordnet und überwacht, die so stark sind, daß
sie die Tür und das Fenster zum Garten etwas öffnen müssen.
Alle weinen noch mehr nach dieser
leisen Bemerkung Magdalenas.
Nun sind sie fertig. Alle Gefäße
sind gefüllt.
Sie gehen mit den leeren Krügen,
dem nun nutzlosen Mörser und vielen Lampen hinaus. Es bleiben nur zwei
zuckende Lichter im Zimmer zurück, und auch sie scheinen zu schluchzen mit
ihrem flackernden Schein...
Die Frauen kommen wieder herein
und schließen das Fenster, denn der Morgen ist kühl. Sie legen die Mäntel an
und nehmen große Taschen, in denen sie die Gefäße mit dem Balsam unterbringen.
Maria erhebt sich und sucht ihren
Mantel. Doch alle umringen sie und wollen sie überzeugen, nicht mitzugehen.
«Du hältst dich kaum aufrecht,
Maria. Seit zwei Tagen hast du nichts zu dir genommen, nur etwas Wasser.»
«Ja, Mutter. Wir werden es rasch
und gut machen und bald zurück sein.»
«Hab keine Angst. Wir werden ihn
wie einen König einbalsamieren. Du siehst, was für eine kostbare Salbe wir
bereitet haben! Und so viel... !»
«Wir werden kein Glied und keine
Wunde vergessen und alles richtig machen. Wir sind stark, und wir sind Mütter.
Wir werden ihn wie ein Kind in die Wiege legen. Die anderen müssen dann nur
noch das Grab verschließen.»
Aber Maria besteht darauf: «Es
ist meine Pflicht», sagt sie. «Ich habe immer für ihn gesorgt. Nur in diesen
drei Jahren, da er der Welt gehört hat, habe ich anderen die Sorge um ihn
überlassen, wenn er fern von mir war. Nun, da die Welt ihn abgewiesen und
verleugnet hat, gehört er wieder mir. Und ich bin wieder seine Magd.»
Petrus, der sich mit Johannes der
Tür genähert hat, ohne daß die Frauen es bemerkt haben, flieht, als er diese
Worte hört. Er flieht in einen verborgenen Winkel, um über seine Sünde zu
weinen. Johannes bleibt an der Schwelle, sagt aber nichts. Auch er würde gerne
mitgehen, doch er bringt das Opfer, bei der Mutter zu bleiben.
Magdalena führt Maria zu ihrem
Sessel zurück. Sie kniet vor ihr nieder, umfängt Marias Knie, erhebt das
schmerzerfüllte und liebevolle Gesicht zu ihr und verspricht: «Sein Geist weiß
und sieht alles. Aber ich werde seinem Leib durch Küsse deine Liebe und deine
Sehnsucht bezeigen. Ich weiß, was Liebe ist. Ich weiß, was für ein Stachel,
was für ein Hunger das Lieben ist. Wie man danach verlangt, bei dem zu sein,
der unsere Liebe ist. Sogar bei der schändlichen Liebe, die Gold zu sein
scheint und Schmutz ist, ist es so. Wenn daher die Sünderin die heilige Liebe
zur lebendigen Barmherzigkeit
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kennt, die die Menschen nicht zu
lieben verstanden haben, dann versteht sie noch besser, was deine Liebe ist,
Mutter. Du weißt, daß ich zu lieben verstehe. Und du weißt, daß er an jenem
Abend meiner wahren Geburt dort am Ufer unseres ruhigen Sees gesagt hat, daß
Maria zu lieben versteht. Nun ist diese meine überschwengliche Liebe wie das
Wasser eines überfließenden Beckens, wie ein über eine Mauer quellender
blühender Rosenstrauch, wie Feuer, das Nahrung gefunden hat und immer stärker
und größer wird, ganz auf ihn gerichtet und findet in ihm, der Liebe, immer
neue Kraft... Oh, daß die Macht meiner Liebe nicht fähig gewesen ist, ihn am
Kreuz zu ersetzen... ! Aber was ich für ihn nicht tun konnte – leiden,
verbluten, an seiner Stelle sterben unter dem Spott der ganzen Welt,
glücklich, glücklich, glücklich, für ihn zu leiden; und ich bin sicher, daß
der Docht meines armen Lebens sich mehr in der triumphierenden Liebe als durch
die schändliche Hinrichtung verzehrt hätte, und daß aus der Asche die neue,
reine Blume des neuen, reinen Lebens, des jungfräulichen Lebens erstanden
wäre, das nichts kennt als Gott – all dies, was ich für ihn nicht tun konnte,
das kann ich immer noch für dich tun... Mutter, die ich aus ganzem Herzen
liebe. Vertraue mir! Mir, die ich im Haus des Pharisäers Simon seine heiligen
Füße so zart zu liebkosen wußte; ich werde nun mit meiner Seele, die sich
immer mehr der Gnade öffnet, noch liebevoller seine heiligen Glieder liebkosen
und seine Wunden pflegen, und mehr mit meiner Liebe als mit den Salben werde
ich sie einbalsamieren, mit dem Balsam, der aus meinem Herzen, aus der Liebe
und dem Schmerz kommt. Und der Tod wird diesem Fleisch, das so viel Liebe
geschenkt hat und so viel Liebe empfängt, nichts anhaben können. Der Tod wird
fliehen, denn die Liebe ist stärker als der Tod. Unbesiegbar ist die Liebe.
Und ich, Mutter, werde meinen König der Liebe mit deiner vollkommenen und
meiner grenzenlosen Liebe einbalsamieren.»
Maria küßt diese
leidenschaftliche Frau, die endlich gefunden hat, was solcher Leidenschaft
wert ist, und gibt ihren Bitten nach.
Die Frauen gehen hinaus mit einer
Lampe. Im Zimmer bleibt nur noch eine. Als letzte geht Magdalena, nachdem sie
der Mutter noch einen Kuß gegeben hat.
Im Haus wird es dunkel und still.
Die Straße ist noch finster und menschenleer.
Johannes fragt: «Wollt ihr mich
wirklich nicht mitnehmen?»
«Nein, du könntest hier nützlich
sein. Leb wohl.»
Johannes geht zu Maria zurück.
«Sie haben mich nicht gewollt ...» sagt er leise.
«Sei nicht gekränkt. Sie sind bei
Jesus. Du bist bei mir. Johannes, beten wir ein wenig zusammen. Wo ist
Petrus?»
«Ich weiß nicht. Irgendwo im
Haus. Aber ich sehe ihn nicht. Und... Ich hätte ihn für stärker gehalten...
Auch ich leide, doch er ...»
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«Er hat zwei Schmerzen. Du nur
einen. Komm! Wir wollen auch für ihn beten.»
Und Maria betet langsam das
«Vaterunser». Dann liebkost sie Johannes: «Geh zu Petrus. Laß ihn nicht
allein. Er war in diesen Stunden in einer so tiefen Finsternis, daß er nun
nicht einmal das geringe Licht der Welt erträgt. Sei der Apostel deines
verirrten Bruders. Beginne bei ihm mit der Verkündigung. Auf deinem Lebensweg,
der sehr lang sein wird, wirst du immer seinesgleichen finden. Beginne deine
Arbeit bei deinem Gefährten...»
«Aber was soll ich ihm sagen ...
? Ich weiß nicht... alles bringt ihn zum Weinen.»
«Wiederhole ihm sein Gebot der
Liebe. Sage ihm, daß, wer sich fürchtet, Gott noch nicht genügend kennt, denn
Gott ist die Liebe. Und wenn er sagt: "Ich habe gesündigt", dann antworte ihm,
daß Gott die Sünder so sehr geliebt hat, daß er ihretwegen seinen eingeborenen
Sohn gesandt hat. Sage ihm, daß man auf so viel Liebe mit Liebe antworten muß.
Und die Liebe schenkt Vertrauen in den gütigsten Herrn. Dieses Vertrauen läßt
uns sein Gericht nicht fürchten, denn durch das Vertrauen anerkennen wir die
göttliche Weisheit und Güte und sagen: "Ich bin ein armes Geschöpf. Aber er
weiß es. Und er gibt mir Christus als Unterpfand der Vergebung und als Stütze
und Stab. Meine Armseligkeit wird besiegt durch meine Vereinigung mit
Christus." Im Namen Jesu wird alles vergeben... Geh, Johannes. Sage ihm dies.
Ich bleibe hier, mit meinem Jesus...» Und sie liebkost das Schweißtuch.
Johannes geht hinaus und schließt
die Tür hinter sich.
Maria kniet nieder wie am Abend
zuvor, von Angesicht zu Angesicht mit dem Schleier der Veronika. Sie betet und
redet mit ihrem Sohn. Sie, die stark ist, um anderen Kraft zu vermitteln,
beugt sich nun, da sie allein ist, unter ihrem schweren Kreuz. Doch von Zeit
zu Zeit, wie eine Flamme, deren Docht sich wieder aufrichtet, erhebt sich ihre
Seele in einer Hoffnung, die nicht sterben kann in ihr, die vielmehr stärker
wird im Verlauf der Stunden. Und sie sagt auch dem Vater ihre Hoffnung und
ihre Bitte.
678. DER OSTERMORGEN; KLAGE;
GEBET MARIAS
Den ganzen Tag habe ich den
gekreuzigten Jesus und Maria und Johannes unter dem Kreuz vor Augen.
Heute morgen, als ich die heilige
Kommunion empfing, glaubte ich, vor einem lebenden Altar zu sein, denn sie
waren da und schauten mich an mit ihren Blicken voll übernatürlicher Liebe.
Eine so empfangene Kommunion ist unbeschreiblich.
Gegen Abend habe ich in mir
diesen Satz gehört: «Dies war nicht die Salbung, die ich hoffte, für dich
vorbereiten zu dürfen.» Es war eine Frauenstimme, eine volle, warme,
leidenschaftliche
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Stimme. Nicht die sanfte,
jugendliche, reine Stimme Marias, dieser jungfräuliche, helle Sopran.
Ich verstehe, daß es ein neues
Wesen ist, das spricht, aber ich kann ihm keinen Namen und kein Gesicht geben,
solange ich nicht die Vision habe.
Ich sehe wieder den Raum in dem
gastfreundlichen Haus, wo Maria weint. Sie ist noch dort, auf ihrem Stuhl,
bedrückt, erschöpft und gezeichnet von den vielen Tränen.
Auch die Frauen sind da. Im
Schein der Öllampen bereiten sie die Salben vor, nehmen sie aus verschiedenen
Amphoren, mischen sie in einem Mörser und füllen sie dann in weithalsige
Gefäße, in die man leicht hineinfassen und den Balsam herausholen kann.
Die Frauen arbeiten weinend, und
Maria Magdalena, deren Gesicht von Tränen gezeichnet ist wie von einer
Verbrennung, sagt diese Worte, die die anderen Frauen noch stärker weinen
machen.
Dann, als sie mit den
Vorbereitungen fertig sind, hüllen sie sich in ihre Schals oder Mäntel. Auch
Maria steht auf. Doch die Frauen umringen sie und wollen sie überzeugen, nicht
mitzugehen. Es wäre zu grausam, wenn sie den Sohn wiedersehen würde, der nun
am dritten Tag nach seinem Tod und bei den vielen Quetschungen und Wunden
gewiß schon ganz schwarz und verwest ist. Und außerdem hätte sie nicht die
Kraft zu gehen. Sie hat ja nur geweint und gebetet; nie gegessen oder
geschlafen. Sie soll beruhigt sein und ihnen vertrauen. Sie werden mit ihrer
Liebe als Jüngerinnen auch die Mutter vertreten und dem heiligen Körper alle
Sorge angedeihen lassen, die erforderlich ist für eine endgültige Beisetzung
im Grab.
Maria gibt nach. Magdalena, die
zu ihren Füßen kniet und dabei in ihrer üblichen Haltung auf den Fersen sitzt,
umarmt ihre Knie und schaut mit dem von Tränen geröteten Antlitz zu ihr empor.
Sie verspricht, daß sie Jesus von der ganzen Liebe seiner Mutter berichten
wird, während sie ihn nochmals einbalsamiert. Sie wisse ja, was Lieben heißt.
Sie habe die niedrige, sinnliche Liebe vertauscht mit der heiligen Liebe zur
lebendigen Barmherzigkeit, die die Menschen getötet haben, und sie verstehe zu
lieben. Jesus habe ihr gesagt – schon an dem Abend, der zum Morgen ihres neuen
Lebens geworden ist – daß sie eine große Liebe hat. Die Mutter solle sich nur
auf sie verlassen. Sie, die Erlöste, die damals schon die Füße so sanft
liebkost habe, werde nun auch die Wunden liebkosen und sie mehr mit ihrer
Liebe als mit der Salbe einbalsamieren, damit der Tod dieses Fleisch nicht
verderben könne, das soviel Liebe geschenkt hat und empfängt.
Die Stimme Magdalenas ist voller
Leidenschaft. Sie läßt mich an eine in Samt gewickelte Orgel denken, so sehr
gleicht sie dem Klang einer Orgel, den Wärme und Leidenschaftlichkeit etwas
weicher machen. Sie verrät eine Seele, die in Liebe entbrannt ist. Die
gebrannt hat, die brennen und lieben mußte, und die nun, da Jesus sie erlöst
hat, in Liebe zur göttlichen
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Liebe entbrannt ist. Ich werde
diese Frauenstimme, die ein Bekenntnis des Seelenlebens dieser Frau ist, nicht
vergessen. Ich werde sie nie mehr vergessen.
Die Frauen gehen mit ihrer Lampe
hinaus. Das Haus ist nun ganz dunkel, und auch der Weg ist dunkel. Kaum die
ersten Anzeichen eines Morgengrauens dort im Osten. Das kalte, reine Licht
eines Aprilmorgens. Der Weg ist still und verlassen. Die Frauen, alle in ihre
Mäntel gehüllt, gehen schweigend zum Grab Jesu.
Ich gehe nicht mit ihnen. Ich
kehre zu Maria zurück, Jesus schickt mich zu ihr zurück.
Nun, da sie allein ist, hat sie
wieder zu beten begonnen. Sie kniet vor dem Schweißtuch der Veronika, das von
einem Regal herabhängt und von dem Leichentuch und den Nägeln gehalten wird.
Sie betet und spricht mit ihrem Sohn. Es ist immer noch derselbe Kummer,
zusammen mit einer Hoffnung, die sie angstvoll und unruhig sein läßt.
«Jesus, Jesus! Kommst du noch
nicht zurück? Deine arme Mutter erträgt es nicht mehr länger, dich dort tot zu
wissen. Du hast es gesagt, und niemand hat dich verstanden. Aber ich habe dich
verstanden! "Reißt den Tempel Gottes nieder, und ich werde ihn in drei Tagen
wieder aufrichten." Nun hat der dritte Tag begonnen. Oh, mein Jesus! Warte
nicht, bis er vollendet ist, um zum Leben zurückzukehren, zu deiner Mama, die
dich lebendig sehen muß, um nicht zu sterben bei der Erinnerung an deinen Tod,
die dich schön, gesund, siegreich sehen muß, um nicht zu sterben bei der
Erinnerung an den Zustand, in dem sie dich verlassen hat!
Oh Vater! Vater! Gib mir meinen
Sohn zurück, damit ich ihn wieder als Mensch und nicht als Leichnam, als König
und nicht als Verurteilten sehe. Danach, ich weiß es, wird er zu dir in den
Himmel zurückkehren. Doch ich werde ihn heil gesehen haben nach so vielen
Übeln, ich werde ihn stark gesehen haben nach so großer Schwäche, ich werde
ihn siegreich gesehen haben nach so viel Kampf. Ich werde ihn als Gott gesehen
haben nach so viel für die Menschheit erlittenem Menschsein. Und ich werde
glücklich sein, auch wenn ich seine Nähe verliere. Ich werde ihn bei dir
wissen, heiliger Vater. Ich werde ihn für immer frei von Schmerz wissen. Jetzt
hingegen kann ich nicht, ich kann nicht vergessen, daß er in einem Grab liegt;
daß er dort liegt, getötet von den vielen Schmerzen, die man ihm zugefügt hat;
daß er, mein Sohn und Gott, das Schicksal der Menschen im Dunkel eines Grabes
erleidet, er, dein Lebendiger.
Vater, Vater, erhöre deine
Dienerin. Um meines "Ja" willen... Ich habe dich nie um etwas gebeten um
meines Gehorsams willen. Dein Wille war mein Wille. Ich habe nichts verlangt
für das Opfer meines Willens. Nun aber, nun, heiliger Vater, erhöre mich um
des "Ja" willen, das ich dem von dir gesandten Engel geantwortet habe.
Er fühlt nun keinen Schmerz mehr,
denn mit seinem drei Stunden
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währenden Todeskampf nach den
Martern des Vormittages hat er alles vollbracht. Ich aber ringe seit drei
Tagen mit dem Tod. Du siehst mein Herz und fühlst, wie es schlägt. Unser Jesus
hat gesagt, daß kein Vogel eine Feder verliert, die du nicht siehst, und daß
keine Blume auf dem Feld verwelkt, die du nicht in ihrem Todeskampf mit deiner
Sonne und deinem Tau tröstest. Oh, Vater, ich sterbe an diesem Schmerz! Tue an
mir wie an dem Sperling, dem du eine neue Feder schenkst, und wie an der
Blume, die du erwärmst und tränkst in deiner Barmherzigkeit. Ich sterbe, der
Schmerz bringt mich um. Ich habe kein Blut mehr in den Adern. Einst ist es
ganz zu Milch geworden, um deinen und meinen Sohn zu nähren; nun ist es ganz
zu Tränen geworden, da ich keinen Sohn mehr habe. Sie haben ihn mir getötet,
getötet, Vater, und du weißt, auf welche Art und Weise!
Ich habe kein Blut mehr! Ich habe
es zusammen mit ihm in der Nacht des Donnerstags und an dem verhängnisvollen
Freitag vergossen. Ich friere wie eine Ausgeblutete. Ich habe keine Sonne
mehr, denn er ist tot; er, meine heilige Sonne, meine gesegnete Sonne, die aus
meinem Schoß zur Freude seiner Mutter und zum Heil der Welt geborene Sonne.
Ich finde keine Erquickung mehr, denn ich habe ihn nicht mehr, die süßeste
Quelle seiner Mutter, die sein Wort trank und an seiner Gegenwart ihren Durst
stillte. Ich bin wie eine Blume im ausgetrockneten Sand. Ich sterbe, ich
sterbe, heiliger Vater. Und ich fürchte mich nicht zu sterben, denn auch er
ist tot. Aber was wird aus diesen Kleinen werden, aus dieser kleinen Herde
meines Sohnes, die so schwach, so ängstlich, so wankelmütig ist, wenn niemand
sie stützt? Ich bin nichts, Vater. Aber für die Wünsche meines Sohnes bin ich
wie ein bewaffnetes Kriegsheer. Und ich verteidige, ich werde seine Lehre und
sein Erbe verteidigen, wie eine Wölfin ihre Jungen verteidigt. Ich, das Lamm,
werde zur Wölfin werden, um zu verteidigen, was meines Sohnes und somit auch
dein ist.
Du hast es gesehen, Vater. Vor
einer Woche hat diese Stadt ihre Ölbäume ihrer Zweige beraubt, ihre Häuser
geleert, ihre Gärten geplündert und sich heiser geschrien: "Hosanna dem Sohne
Davids. Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn." Und während er über
den Teppich der Zweige, der Gewänder, der Stoffe und der Blumen ritt, zeigten
ihn die Bürger einander und sagten: "Es ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in
Galiläa. Er ist der König von Israel." Und als die Zweige noch nicht verwelkt
und die Stimmen noch rauh waren von den vielen Hosannarufen, wandelten sich
ihre Rufe in Beschuldigungen, Flüche und die Forderung nach seinem Tod; und
die zu seinem Triumph gebrochenen Zweige wurden zu Ruten, die dein Lamm
schlugen, das sie zum Tod führten.
Wenn sie das alles getan haben,
als er noch unter ihnen weilte, als er noch zu ihnen sprach und ihnen
zulächelte, sie ansah mit seinen Augen, die das Herz weich werden und selbst
die Steine erzittern ließen, als er
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ihnen noch Wohltaten erwies und
sie belehrte, was werden sie erst tun, wenn er zu dir zurückgekehrt ist?
Du hast ja seine Jünger gesehen.
Einer hat ihn verraten, die anderen sind geflohen. Es genügte, daß er
geschlagen wurde, und sie flohen wie ängstliche Schafe und brachten es nicht
fertig, bei seinem Sterben in seiner Nähe zu sein. Nur einer, der Jüngste, ist
geblieben. Nun kommt der Älteste. Schon einmal hat er ihn verleugnet. Und wenn
Jesus nicht mehr hier ist und ihn anblickt, wird er dann seinem Glauben treu
bleiben?
Ich bin ein Nichts, doch ein
klein wenig von meinem Sohn ist auch in mir, und meine Liebe übertrifft meine
Fehlerhaftigkeit und tilgt sie. So bin ich von Nutzen für die Sache deines
Sohnes, für seine Kirche, die nie Frieden finden wird und tiefe Wurzeln
schlagen muß, um nicht von den Stürmen entwurzelt zu werden. Ich werde jene
sein, die für sie sorgt. Wie eine aufmerksame Gärtnerin werde ich darüber
wachen, daß sie an ihrem Morgen stark und gerade wächst. Danach werde ich
gerne sterben. Aber ich kann nicht leben, wenn ich noch lange ohne Jesus sein
muß.
Oh, Vater, der du den Sohn zum
Wohl der Menschen verlassen, ihn aber dann getröstet hast – denn gewiß hast du
ihn nach seinem Tod in deinen Schoß aufgenommen – überlasse mich nicht länger
meiner Verlassenheit. Ich ertrage sie und opfere sie auf zum Wohl der
Menschen. Aber tröste mich jetzt, Vater. Vater, Erbarmen! Erbarmen, mein Sohn!
Erbarmen, göttlicher Geist! Erinnere dich deiner Jungfrau!»
Am Boden liegend, scheint Maria
nun mehr durch ihre Haltung als mit ihrem Herzen zu beten. Sie ist wirklich
ein armes, zu Boden geschmettertes Geschöpf. Sie gleicht der verdurstenden
Blume, von der sie gesprochen hat. Und sie bemerkt nicht einmal die
Erschütterung eines kurzen, aber heftigen Erdbebens, das den Hauswirt und
seine Frau aufschreien und aus dem Haus laufen läßt, während Petrus und
Johannes sich totenbleich an die Schwelle des Zimmers schleppen. Als sie
jedoch Maria so in ihr Gebet vertieft, so selbstvergessen, so fern von allem,
was nicht Gott ist, sehen, ziehen sie sich zurück, schließen die Tür und
kehren verängstigt in den Abendmahlsaal zurück.
679. DIE AUFERSTEHUNG
Im Garten herrscht tiefe Stille,
und alles glänzt von Tau. Der saphirblaue Himmel darüber wird immer heller,
und das sternenfunkelnde Schwarzblau, das die ganze Nacht über der Erde
gewacht hat, verliert sich. Das Morgengrauen schiebt die Dunkelheit vor sich
her, von Osten nach Westen, wie die Wellen bei der Flut beständig steigen und
den dunklen Strand
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bedecken, wie das blaue Wasser
des Meeres das Schwarzgrau des feuchten Sandes und der Klippen überflutet.
Das eine oder andere Sternlein
möchte noch nicht erlöschen und blinkt immer schwächer in dieser Woge aus
grünlichweißem, grau überhauchtem, milchigem Morgenlicht, ähnlich der Farbe
der schläfrigen Zweige der Ölbäume, die den nahen Hügel krönen. Doch dann
versinken sie in dieser Welle, wie Land vom Wasser überflutet wird. Nun fehlt
schon eines... und noch eines, und noch eines. Der Himmel verliert seine
Sternenherden, und nur dort, im äußersten Westen, bleiben noch drei, dann
zwei, dann einer in Betrachtung des täglich neuen Wunders eines
Sonnenaufganges.
Und nun, da sich ein Rosastreifen
auf der türkisfarbenen Seide des orientalischen Himmels zeigt, säuselt ein
Windhauch über die Wipfel und Gräser und flüstert: «Erwacht. Der Tag ist
auferstanden.» Aber er weckt nur die Wipfel und die Gräser, die unter den
Diamanten des Taus schaudern und leise rauschen, begleitet von den Harfentönen
fallender Tropfen.
Die Vöglein rühren sich noch
nicht, weder in den dichten Zweigen der riesigen Zypresse, die wie ein
Gebieter ihr Reich zu beherrschen scheint, noch in der dichten, verschlungenen
Lorbeerhecke, die den Ostwind abhält.
Die gelangweilten, fröstelnden
und verschlafenen Wachen stehen in den verschiedensten Haltungen vor dem Grab,
dessen steinerne Tür an den Rändern mit einer dicken Schicht Kalk, ähnlich
Strebepfeilern, verstärkt worden ist. Auf ihrem matten Weiß leuchten große
Rosetten aus rotem Wachs und andere, die man direkt in den frischen Kalk
gedrückt hat – die Siegel des Tempels.
Die Wachen müssen in der Nacht
ein Feuerchen angezündet haben, denn am Boden liegen Asche und verkohlte
Holzscheite, und sie müssen auch ein Spiel gemacht und gegessen haben, denn da
und dort liegen Speisereste und kleine polierte Knochen, die man sicher zu
irgendeinem Spiel benützt – wie unser Domino oder die Glaskugeln der Kinder
-und mit denen sie auf einem einfachen, auf den Boden gezeichneten Brett
gespielt haben. Irgendwann hatten sie genug, haben alles liegengelassen und
sich eine mehr oder weniger bequeme Lage gesucht, um zu schlafen oder zu
wachen.
Die Röte im Osten breitet sich
immer mehr am heiteren Himmel aus, an dem aber noch kein Sonnenstrahl zu sehen
ist. Da taucht plötzlich aus unbekannten Tiefen ein strahlender Meteor auf,
ein Feuerball von unerträglicher Helligkeit mit einem funkelnden Schweif, der
aber vielleicht nur die Erinnerung an seinen Glanz auf unserer Netzhaut ist.
Er saust auf die Erde herab und strahlt ein so mächtiges, zauberhaftes und
zugleich in seiner Schönheit beängstigendes Licht aus, daß das rosige Licht
des Morgens in dieser weißen Glut verblaßt.
Die Wächter erheben erstaunt ihre
Köpfe, auch weil die Helligkeit von
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einem mächtigen, harmonischen,
feierlichen Klang begleitet wird, der die ganze Schöpfung erfüllt. Er kommt
aus paradiesischen Tiefen und ist das Halleluja, das Gloria der Engel, das dem
Geist Christi folgt, der in seinen verherrlichten Leib zurückkehrt.
Der Meteor prallt gegen den
nutzlosen Verschluß des Grabes, bricht ihn auf, wirft ihn zu Boden und
schleudert mit seinem Dröhnen auch die entsetzten Wächter, die man als
Gefangenenwärter des Herrn des Weltalls aufgestellt hat, zu Boden. Und die
Erde bebt bei seiner Rückkehr wie damals, als der Geist des Herrn sie
verlassen hat. Er dringt in das dunkle Grab, das ganz hell wird von seinem
unbeschreiblichen Licht; und während das Licht in der reglosen Luft schwebt,
senkt sich der Geist in den unbeweglichen Körper unter den Totenbinden.
All das geschieht nicht in einer
Minute, sondern in Sekundenschnelle das Erscheinen, das Herabsteigen, das
Eindringen und das Verschwinden des Lichtes Gottes...
Das «Ich will!» des göttlichen
Geistes zu seinem erkalteten Fleisch erfolgt lautlos. Es wird von der
Wesenheit zur unbeweglichen Materie gesprochen, aber das menschliche Ohr hört
kein Wort.
Das Fleisch erhält den Befehl und
gehorcht mit einem tiefen Atemzug...
Nichts anderes für einige
Minuten.
Unter dem Schweißtuch und dem
Leichentuch ersteht das glorreiche Fleisch in ewiger Schönheit, erwacht aus
dem Todesschlaf, kehrt aus dem «Nichts» zurück, in dem es war, und lebt,
nachdem es tot gewesen ist. Gewiß erwacht das Herz, treibt mit seinem ersten
Schlag das noch übrige, eisige Blut durch die Adern und erschafft in einem
Augenblick das volle Maß in den leeren Blutgefäßen, der reglosen Lunge, dem
verdunkelten Gehirn und läßt Wärme, Gesundheit, Kraft und Gedanken
wiederkehren.
Wieder ein Augenblick, und dann
eine plötzliche Bewegung unter dem schweren Leichentuch. Eine so plötzliche
Bewegung, daß dem Auge keine Zeit bleibt, die verschiedenen Phasen zu
verfolgen zwischen dem Moment, in dem er gewiß seine gekreuzten Hände bewegt,
und dem Moment, in dem er dasteht – eindrucksvoll, strahlend in seinem Gewand
aus unirdischem Gewebe, in übernatürlicher Schönheit und Majestät, mit einer
Würde, die ihn verändert und erhöht, obwohl er doch er selbst bleibt.
Und nun betrachtet ihn das Auge
voll Bewunderung-. Er ist so ganz anders als in der Erinnerung. Wieder schön,
ohne Wunden und Blut, nur noch strahlend im Licht, das in Strömen aus den fünf
Wunden bricht und aus allen Poren seiner Haut dringt.
Als er den ersten Schritt tut –
und bei dieser Bewegung umgeben ihn die aus Händen und Füßen dringenden
Strahlen mit einer Aureole von Glanz: vom Haupt, das gekrönt ist vom
Glorienschein der unzähligen kleinen Wunden der Dornenkrone, die nun nicht
mehr bluten, sondern leuchten, bis zum Saum seines Gewandes, als er die über
der Brust gekreuzten Arme
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öffnet und damit die Stelle auf
der Höhe des Herzens sichtbar wird, an der eine helle Sonne durch das Gewand
strahlt – da ist er wirklich das verkörperte Licht. Nicht das arme Licht der
Erde, nicht das arme Licht der Sterne, nicht das arme Licht der Sonne, sondern
das Licht Gottes. Der ganze Glanz des Himmels, der sich in einem einzigen
Wesen vereint und ihm sein unvorstellbares Blau als Pupillen, sein feuriges
Gold als Haar, seine engelgleiche Weiße als Gewand und Hautfarbe verleiht. Und
all das, was mit menschlichen Worten nicht zu beschreiben ist – die
überwältigende Glut der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, neben deren feuriger
Gewalt jegliches Feuer des Paradieses verblaßt, die jegliches Feuer in sich
aufnimmt und es in jedem Augenblick der ewigen Zeit neu hervorbringt; das Herz
des Himmels, das sein Blut anzieht und verströmt, die unzähligen Tropfen
seines nicht körperlichen Blutes: die Seligen, die Engel, alles das, was das
Paradies ist: die Liebe Gottes, die Liebe zu Gott, das alles ist das Licht,
das den auferstandenen Christus bildet, das Licht, das er ist.
Als er sich dem Ausgang nähert,
sehe ich außer seinem Glanz zwei wunderschöne strahlende Gestalten, die jedoch
wie Sterne sind im Vergleich zur Sonne. Sie haben sich links und rechts der
Graböffnung niedergeworfen, um ihren Gott anzubeten, der in seinen Glanz
gehüllt und mit beseligendem Lächeln herauskommt, die Grabhöhle verläßt und
seinen Fuß wieder auf die Erde setzt, die freudig erwacht und glänzt und
gleißt in ihrem Tau, in den Farben der Gräser und der Rosensträucher, in den
unzähligen Blüten der Apfelbäume, die sich durch ein Wunder unter dem ersten
Kuß der Sonne öffnen, und in der ewigen Sonne, die unter ihnen dahinschreitet.
Die Wachen sind immer noch an
ihren Plätzen, betäubt... Die verdorbenen Sinne des Menschen sehen Gott nicht,
während die reinen Kräfte des Universums, die Blumen, die Kräuter und die
Vöglein den Mächtigen, der vorübergeht im Glorienschein seines eigenen Lichtes
und im Glanz des Sonnenlichtes, bewundern und verehren.
Sein Lächeln, sein Blick, der
sich auf die Blüten und die Zweige richtet und sich zum heiteren Himmel
erhebt, verschönt alles. Weicher und von seidigerem Rosa erscheinen die
Millionen Blütenblätter, die gleich blühendem Schaum über dem Haupt des
Siegers schweben, und lebhafter blitzen die Diamanten der Tautropfen. Und
blauer leuchtet der Himmel, der seine glänzenden Augen widerspiegelt, und
festlicher strahlt die Sonne und bemalt in ihrer Freude ein Wölkchen, das
daherschwebt im leichten Wind, der gekommen ist, um seinen König mit in den
Gärten geraubten Düften zu küssen und mit seidenen Blütenblättern zu
liebkosen.
Jesus hebt die Hand und segnet.
Und während die Vöglein lauter singen und der Wind stärker duftet,
entschwindet er meinen Blicken und läßt eine Freude in mir zurück, die auch
die leiseste Erinnerung an Traurigkeit und Leiden und alle Sorgen um die
Zukunft auslöscht...
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680. JESUS ERSCHEINT DER MUTTER
Maria hat sich auf ihr Antlitz
geworfen, ein armes, gebrochenes Geschöpf. Sie gleicht der verdursteten Blume,
von der sie gesprochen hat.
Das geschlossene Fenster öffnet
sich, die schweren Läden schlagen heftig gegen die Wand, und mit dem ersten
Sonnenstrahl kommt Jesus herein.
Maria, die sich bei dem Geräusch
aufrafft und den Kopf erhebt, um zu sehen, was für ein Wind die Fensterläden
aufgerissen hat, erblickt ihren strahlenden Sohn: schön, unendlich viel
schöner noch als vor seinem Leiden, lächelnd, lebendig, leuchtender als die
Sonne, der in seinem weißen Gewand, das gewebtem Licht gleicht, auf sie
zukommt.
Sie richtet sich auf den Knien
auf, kreuzt die Hände über der Brust und sagt mit einem Aufschluchzen, das
zugleich lacht und weint: «Mein Herr und mein Gott.» Und so bleibt sie,
betrachtet ihn hingerissen und mit tränenüberströmtem Gesicht, dessen Ruhe und
Frieden jedoch durch das Lächeln Jesu und die Ekstase wiedergekehrt sind.
Aber er will seine Mutter nicht
wie eine Magd vor sich knien sehen. Er ruft sie und streckt ihr die Hände
entgegen, aus deren Wunden Strahlen brechen, die das glorreiche Fleisch noch
leuchtender machen: «Mama!»
Es ist nicht das traurige Wort
der Gespräche und der Abschiede vor der Passion; es ist nicht die
herzzerreißende Klage der Begegnung auf dem Kalvarienberg und des
Todeskampfes; es ist ein festlicher Ausruf des Triumphs, der Freude, der
Befreiung, der Liebe und der Dankbarkeit.
Jesus neigt sich über die Mutter,
die nicht wagt, ihn zu berühren, legt seine Hände unter ihre Ellbogen, hilft
ihr aufstehen, drückt sie an sein Herz und küßt sie.
Oh, nun begreift Maria, daß es
keine Vision ist, sondern der wahrhaft auferstandene Sohn; daß es ihr Jesus
ist, ihr Sohn, der sie immer noch als Sohn liebt. Und mit einem Freudenschrei
wirft sie sich an seinen Hals, umarmt und küßt ihn und weint und lacht. Sie
küßt seine Stirn, die nun nicht mehr verwundet ist, sein Haupt, das nicht mehr
ungekämmt und blutig ist, seine leuchtenden Augen, seine geheilten Wangen und
seinen nicht mehr geschwollenen Mund. Dann ergreift sie seine Hände und küßt
ihren Rücken und ihre Handflächen, die strahlenden Wunden, und gleich darauf
beugt sie sich nieder zu seinen Füßen und schiebt das leuchtende Gewand
zurück, um auch sie zu küssen. Schließlich steht sie wieder auf, sieht ihn an,
hat nicht den Mut...
Doch er lächelt und versteht. Er
öffnet das Gewand über der Brust ein wenig und sagt: «Und diese willst du
nicht küssen, Mama? Diese, die dir so großen Schmerz bereitet hat und die zu
küssen nur du allein würdig bist... Küsse mein Herz, Mama. Dein Kuß wird die
letzte Erinnerung an alles, was Schmerz ist, verwischen und mir jene Freude
schenken, die mir
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zu meiner Freude als
Auferstandener noch fehlt.» Und er nimmt das Antlitz der Mutter in seine Hände
und drückt ihre Lippen auf die Ränder der Seitenwunde, aus der Strahlen
hellsten Lichtes dringen.
Das Antlitz Marias ist ganz
eingetaucht in dieses Licht und von seinen Strahlen umflossen. Und sie küßt
und küßt, während Jesus sie liebkost. Sie wird nicht müde zu küssen. Sie
gleicht einer Verdurstenden, die den Mund an die Quelle gelegt hat und das
Leben aus ihr trinkt, das schon am Entfliehen war.
Nun spricht Jesus.
«Alles ist zu Ende, Mama. Nun
brauchst du nicht mehr um deinen Sohn zu weinen. Die Prüfung ist bestanden.
Die Erlösung ist vollbracht. Mutter, ich danke dir, daß du mich empfangen,
aufgezogen und mir im Leben und im Sterben geholfen hast.
Ich habe deine Gebete gefühlt,
die zu mir kamen. Sie waren meine Kraft im Schmerz, meine Begleiter auf den
Wanderungen des irdischen Lebens und auf meiner Reise in das andere Leben. Sie
haben mich am Kreuz und im Limbus erreicht. Sie waren der Weihrauch, der dem
Pontifex auf seinem Weg voranschwebte, als er seine Diener rief, um sie in den
unvergänglichen Tempel zu führen: in meinen Himmel. Sie haben mich ins
Paradies begleitet, und gleich Engelsstimmen sind sie dem Zug der von ihrem
Erlöser angeführten Erlösten vorangeeilt, damit die Engel bereit seien, den in
sein Reich zurückkehrenden Sieger zu grüßen. Der Vater und der Heilige Geist
haben sie gesehen und gelächelt wie über die schönste Blume und den süßesten
Gesang des Paradieses. Die Patriarchen und die neuen Heiligen, die Neuen, die
Ersten, die Bewohner meines Jerusalem haben sie gehört, und ich bringe dir
ihren Dank, Mama, zusammen mit den Küssen der Verwandten und ihrem Segen und
dem des Bräutigams deiner Seele, Joseph.
Der ganze Himmel singt dir, meine
Mutter, heilige Mutter, sein Hosanna. Ein Hosanna, das nie verstummt; das
nicht lügt wie das erst vor wenigen Tagen mir gesungene.
Nun gehe ich in meinem
menschlichen Kleid zum Vater. Das Paradies muß den Sieger in seinem
Menschengewand sehen, in dem er die Sünde des Menschen besiegt hat. Doch dann
werde ich wiederkommen. Ich muß jene im Glauben festigen, die noch nicht
glauben und doch glauben müssen, damit sie andere zum Glauben führen können.
Ich muß die Kleinmütigen stärken, die so viel Kraft brauchen werden, um der
Welt zu widerstehen.
Dann werde ich zum Himmel
auffahren. Aber ich werde dich nicht allein lassen. Mama, siehst du diesen
Schleier? In meiner Ohnmacht hatte ich noch die Macht, ein Wunder für dich zu
wirken, um dir diesen Trost zu schenken. Doch für dich wirke ich noch ein
anderes Wunder. Du wirst mich im Sakrament besitzen, so wirklich wie damals,
als du mich getragen hast. Du wirst nie allein sein. In diesen Tagen bist du
es gewesen.
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Aber zu der von mir gewirkten
Erlösung war auch dein Schmerz notwendig. Vieles muß immerwährend der Erlösung
hinzugefügt werden, denn es wird zu allen Zeiten viele neue Sünden geben. Ich
werde alle meine Diener zu dieser Teilnahme am Erlösungswerk aufrufen. Du
allein wirst mehr dazu beitragen als alle Heiligen zusammen. Daher war auch
diese lange Verlassenheit notwendig. Nun nicht mehr.
Ich bin nicht mehr vom Vater
getrennt. Du wirst nicht mehr vom Sohn getrennt sein. Und da du den Sohn hast,
hast du auch unsere Dreifaltigkeit. Als lebendiger Himmel wirst du auf Erden
die Dreifaltigkeit unter die Menschen bringen und die Kirche heiligen, du, die
Königin des Priestertums und die Mutter der Christenheit. Dann werde ich
kommen und dich holen. Nicht mehr ich werde in dir sein, sondern du in mir, in
meinem Reich, um das Paradies noch zu verschönern.
Nun gehe ich, Mama. Ich gehe, um
die andere Maria glücklich zu machen. Dann gehe ich zum Vater, und danach
komme ich zu denen, die nicht glauben. Mama, deinen Kuß als Segen. Und meinen
Frieden als Begleiter für dich. Leb wohl.»
Und Jesus verschwindet in der
Sonne, die vom heiteren Morgenhimmel herabstrahlt.
681. DIE FROMMEN FRAUEN AM GRAB
Die Frauen gehen inzwischen,
nachdem sie das Haus verlassen haben, an den Mauern entlang, Schatten im
Schatten. Einige Zeit schweigen sie, hüllen sich ganz in ihre Mäntel und
fürchten sich vor so viel Stille und Einsamkeit. Doch nachdem sie in
Anbetracht der absoluten Ruhe in der Stadt sicherer geworden sind, gehen sie
in einer Gruppe und wagen, miteinander zu sprechen.
«Sind die Tore wohl schon offen?»
fragt Susanna.
«Gewiß. Schau, dort kommt der
erste Gärtner mit seinem Gemüse. Er ist auf dem Weg zum Markt», antwortet
Salome.
«Werden sie nichts sagen?» fragt
wiederum Susanna.
«Wer?» will Maria Magdalena
wissen.
«Die Soldaten am Gerichtstor.
Dort kommen nur wenige herein, und noch weniger gehen hinaus... Wir werden
Verdacht erregen...»
«Ja und? Sie werden uns
anschauen. Sie werden fünf Frauen sehen auf dem Weg in die Felder. Wir könnten
auch Leute sein, die nach dem Passahfest wieder in ihre Dörfer zurückkehren.»
«Aber... um nicht die
Aufmerksamkeit irgendeines Übelgesinnten zu erregen, wäre es vielleicht
besser, zu einem anderen Tor hinauszugehen und dann an der Mauer entlang
zurückzukommen ...»
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«Wir würden den Weg verlängern.»
«Aber wir würden uns auch
sicherer fühlen. Gehen wir durch das Wassertor...»
«Oh, Salome, an deiner Stelle
würde ich das Osttor nehmen! So könntest du noch länger laufen. Wir müssen uns
beeilen und rasch nach Hause zurückkehren.» Es ist die resolute Magdalena, die
das sagt.
«Also dann ein anderes Tor, nur
nicht das Gerichtstor. Sei so gut...»betteln alle.
«Nun gut. Da ihr es so wollt,
gehen wir bei Johanna vorbei. Sie hat darum gebeten, daß wir sie
benachrichtigen. Hätten wir den direkten Weg genommen, wären wir ohne sie
ausgekommen. Aber da ihr einen längeren Weg machen wollt, gehen wir bei ihr
vorbei ...»
«O ja! Auch wegen der dort
aufgestellten Wachen... Sie ist bekannt und gefürchtet...»
«Ich würde vorschlagen, auch bei
Joseph von Arimathäa vorbeizuschauen. Er ist der Besitzer des Ortes.»
«Aber ja! Wir können einen Umzug
veranstalten, um nicht aufzufallen! Oh, was für eine ängstliche Schwester habe
ich doch! Weißt du, was wir machen, Martha? Ich gehe voraus und sehe mich um.
Ihr kommt dann mit Johanna nach. Ich werde mich mitten auf die Straße stellen,
wenn Gefahr besteht. Dann seht ihr mich, und wir gehen zurück. Aber was die
Wachen betrifft, habe ich vorgesorgt, und mit dem hier (sie zeigt eine volle
Geldbörse) werden sie uns alles erlauben.»
«Wir werden es auch Johanna
sagen. Du hast recht.»
«Dann geht, damit ich gehen
kann.»
«Du gehst allein, Maria? Ich
komme mit dir», sagt Martha, die Angst um ihre Schwester hat.
«Nein, du gehst mit Maria des
Alphäus zu Johanna. Salome und Susanna sollen am Tor außerhalb der Mauer auf
euch warten. Dann nehmt ihr alle zusammen die Hauptstraße. Lebt wohl.»
Und Maria Magdalena unterbindet
jede weitere mögliche Bemerkung, indem sie sich rasch mit ihrer Tasche voller
Salben und dem Geld im Gewand entfernt.
Sie eilt, fliegt auf der Straße
dahin, die nun in der ersten Morgenröte etwas freundlicher wird. Sie geht
durch das Gerichtstor, um schneller da zu sein. Niemand hält sie auf...
Die anderen sehen ihr nach,
drehen dann der Straßenkreuzung, an der sie gestanden sind, den Rücken und
nehmen eine enge, dunkle Gasse, die in der Nähe des Xystos in eine breite,
offene Straße mit schönen Häusern mündet. Dort teilen sie sich noch einmal:
Salome und Susanna gehen auf der Straße weiter, während Martha und Maria des
Alphäus an das eisenbeschlagene Tor klopfen und sich an dem Fensterchen
zeigen, das der Türhüter öffnet.
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Sie treten ein und begeben sich
zu Johanna, die schon aufgestanden und ganz in dunkles Violett gekleidet ist,
das sie noch blasser macht. Auch sie ist dabei, zusammen mit der Amme und
einer Dienerin Salben zu bereiten.
«Ihr seid gekommen? Gott möge es
euch vergelten. Aber wenn ihr nicht gekommen wäret, wäre ich allein
gegangen... Um Trost zu finden... Denn vieles hat sich verändert nach diesen
schrecklichen Tagen. Und um mich nicht so einsam zu fühlen, muß ich zu dem
Stein gehen, daran klopfen und sagen: "Meister, ich bin die arme Johanna...
Laß nicht auch du mich allein..."» Johanna weint leise, aber sehr verzweifelt,
und Esther, die Amme, macht hinter dem Rücken der Herrin unverständliche
Zeichen, während sie ihr den Mantel umlegt.
«Ich gehe, Esther.»
«Gott möge dich trösten!»
Sie verlassen den Palast, um die
Gefährtinnen einzuholen. In diesem Augenblick erfolgt das kurze, heftige
Erdbeben, das die Einwohner von Jerusalem erneut in Panik versetzt. Die
Erinnerung an die Ereignisse des Freitags ist noch frisch.
Die drei Frauen kehren überstürzt
zurück und warten in der großen Vorhalle zwischen den schreienden und Gott
anrufenden Dienerinnen und Dienern angstvoll auf neue Erdstöße...
... Magdalena hingegen ist gerade
am Anfang des Weges, der zum Garten des Joseph von Arimathäa führt, als sie
das mächtige und zugleich harmonische Dröhnen dieses himmlischen Zeichens
überrascht. Im schwach rosafarbenen Licht des Morgengrauens, das sich über den
Himmel ausbreitet, an dem im Westen noch ein hartnäckiger Stern widersteht,
und der bisher grünlichen Luft einen goldenen Schimmer verleiht, erscheint ein
herrliches großes Licht, ein Feuerball, und saust im Zickzack durch die ruhige
Luft auf die Erde hernieder.
Maria Magdalena wird von ihm fast
gestreift und zu Boden geworfen.
Sie bleibt einen Augenblick
zusammengekauert liegen und flüstert: «Mein Herr!» Dann richtet sie sich wie
ein Blumenstengel nach einem Windstoß wieder auf und läuft noch schneller, um
den Garten zu erreichen. Sie geht rasch hinein und eilt wie ein verfolgter,
sein Nest suchender Vogel dem Felsengrab zu. Aber so schnell sie auch läuft,
sie kann nicht dort sein, als der himmlische Meteor mit seiner Kraft und
seinem Feuer die zur Sicherung des schweren Steins angebrachten Kalksiegel
zerstört, und auch nicht, als mit einem letzten Donner die steinerne Tür fällt
und diese Erschütterung noch zu dem Erdbeben hinzukommt, das, obgleich kurz,
doch so heftig ist, daß die Wachen wie tot zu Boden stürzen.
Als Maria ankommt, sieht sie
diese nutzlosen Kerkermeister des Siegers wie gemähte Halme am Boden liegen.
Maria Magdalena bringt das Erdbeben nicht mit der Auferstehung in
Zusammenhang. Als sie diese Szene
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sieht, hält sie sie vielmehr für
eine Strafe Gottes für die Schänder des Grabes Jesu, fällt auf die Knie und
klagt: «O weh, sie haben ihn gestohlen!»
Sie ist ganz verzweifelt und
weint wie ein Kind, das in der Gewißheit gekommen ist, den gesuchten Vater
anzutreffen, und statt dessen die Wohnung leer vorfindet. Dann steht sie auf
und läuft fort, um Petrus und Johannes aufzusuchen. Und da sie nur daran
denkt, diese beiden zu benachrichtigen, vergißt sie, den Freundinnen
entgegenzugehen und auf dem Weg auf sie zu warten. Flink wie eine Gazelle eilt
sie auf demselben Weg zurück, durch das Gerichtstor und die nun etwas
belebteren Straßen, stürzt auf das Tor des gastlichen Hauses zu und rüttelt
und klopft heftig daran.
Die Hausherrin öffnet. «Wo sind
Johannes und Petrus?» fragt Maria Magdalena atemlos.
«Dort», und die Frau zeigt auf
den Abendmahlsaal.
Maria Magdalena geht hinein, und
kaum ist sie drinnen und steht vor den beiden Überraschten, sagt sie mit aus
Mitleid mit der Mutter leiser Stimme, die aber mehr Kummer ausdrückt, als wenn
sie schreien würde: «Sie haben den Herrn aus dem Grab geholt! Wer weiß, wo sie
ihn hingelegt haben!» Und zum ersten Mal bebt und wankt sie, und um nicht zu
fallen, hält sie sich, wo sie gerade kann.
«Wie?! Was sagst du da?» fragen
die beiden.
Und sie berichtet betrübt: «Ich
war vorausgegangen, um die Wachen zu bestechen... damit sie uns hineinlassen.
Sie liegen da wie tot... Das Grab ist offen, der Stein am Boden... Wer? Wer
kann es gewesen sein? Oh, kommt! Beeilt euch...»
Petrus und Johannes machen sich
sofort auf den Weg. Maria geht ihnen einige Schritte nach. Dann kehrt sie um,
packt die Hausherrin, schüttelt sie heftig in ihrer vorsorgenden Liebe und
zischt ihr ins Gesicht: «Hüte dich, jemanden zu ihr hineinzulassen! (Sie
deutet auf das Zimmer Marias.) Vergiß nicht, daß ich deine Herrin bin.
Gehorche und schweige.»
Dann läßt sie die erstaunte Frau
stehen und holt die Apostel ein, die mit großen Schritten zum Grab eilen...
... Susanna und Salome, die sich
indessen von den Gefährtinnen getrennt und die Mauer erreicht haben, werden
dort von dem Erdbeben überrascht. Erschreckt flüchten sie unter einen Baum und
bleiben stehen im Widerstreit der Wünsche, zum Grab zu gehen oder zu Johanna
zu laufen. Schließlich siegt die Liebe über die Angst, und sie gehen zum Grab.
Immer noch bestürzt betreten sie
den Garten und sehen die reglosen Wächter... sehen ein großes Licht aus dem
offenen Grab dringen. Und ihr Staunen wächst und wird schließlich vollkommen,
als sie sich an den Händen fassen, um einander Mut zu machen, an die Schwelle
des Grabes
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treten und im Dunkel der Höhle
eine leuchtende, wunderschöne, sanft lächelnde Gestalt sehen, die sie von
ihrem Platz aus grüßt. Sie lehnt rechts am Stein der Einbalsamierung, dessen
Grau sich vor so viel leuchtendem Glanz in Nichts auflöst.
Stumm vor Staunen fallen sie auf
die Knie.
Doch der Engel sagt sanft:
«Fürchtet euch nicht vor mir. Ich bin der Engel des göttlichen Schmerzes. Ich
bin gekommen, um mich über dessen Ende zu freuen. Der Schmerz Christi ist
nicht mehr, noch seine Erniedrigung im Tod. Jesus von Nazareth, der
Gekreuzigte, den ihr sucht, ist auferstanden. Er ist nicht mehr hier. Leer ist
der Ort, an dem er begraben wurde. Jubelt mit mir. Geht und sagt Petrus und
den Jüngern, daß er auferstanden ist und euch nach Galiläa vorausgeht. Dort
werdet ihr ihn noch eine kleine Weile sehen, wie er es vorhergesagt hat.»
Die Frauen werfen sich auf ihr
Angesicht, und als sie es wieder erheben, fliehen sie, als würden sie von
einer Strafe verfolgt. Sie sind zu Tode erschrocken und flüstern: «Nun werden
wir sterben! Wir haben den Engel des Herrn gesehen.»
Erst auf dem freien Feld
beruhigen sie sich etwas und beraten sich. Was tun? Wenn sie erzählen, was sie
gesehen haben, wird man ihnen nicht glauben. Wenn sie die anderen auffordern,
selbst hinzugehen, können sie von den Juden beschuldigt werden, die Wächter
getötet zu haben ... Nein, sie dürfen nichts sagen, weder den Freunden noch
den Feinden ...
Verängstigt und schweigend kehren
sie auf einem anderen Weg zum Haus zurück. Sie gehen hinein und flüchten in
den Abendmahlsaal, wollen nicht einmal Maria sehen... Und dort fragen sie sich
plötzlich, ob das, was sie gesehen haben, nicht eine Täuschung des Teufels
gewesen ist. Demütig wie sie sind, halten sie es nicht für möglich, daß ihnen
gewährt wurde, den Boten Gottes zu sehen. Es war Satan, der ihnen Angst
einjagen wollte, um sie von dort fernzuhalten.
Sie weinen und beten wie zwei von
einem Alptraum verängstigte Kinder.
... Die dritte Gruppe, bestehend
aus Johanna, Maria des Alphäus und Martha, entschließt sich, da nichts weiter
geschieht, dorthin zu gehen, wo gewiß die Gefährtinnen auf sie warten. Sie
begeben sich auf die Straße, wo nun erschrockene Leute über das Erdbeben
sprechen, es in Zusammenhang mit den Ereignissen des Freitags bringen und auch
Dinge sehen, die gar nicht sind.
«Besser, wenn alle verängstigt
sind. Vielleicht sind es auch die Wachen und machen keine Schwierigkeiten»,
sagt Maria des Alphäus.
Sie eilen zur Stadtmauer. Doch
während sie auf dem Weg dorthin sind, haben Petrus und Johannes, gefolgt von
Maria Magdalena, bereits den Garten erreicht.
Johannes, der schneller ist,
kommt als erster am Grab an. Die Wachen
29
sind nicht mehr da. Auch der
Engel ist nicht mehr da. Johannes kniet furchtsam und schmerzerfüllt am
offenen Eingang nieder, um zu beten und aus den Dingen, die er sieht, zu
schließen, was vorgefallen ist. Aber er sieht nichts als die Binden, die in
einem Häufchen auf dem Leichentuch am Boden liegen.
«Er ist wirklich nicht da, Simon!
Maria hat es richtig gesehen. Komm, geh hinein und schau.»
Petrus, der vom Laufen ganz außer
Atem ist, geht in das Grab hinein. Unterwegs hat er noch gesagt: «Ich werde es
nicht wagen, mich diesem Ort zu nähern.» Jetzt aber will er nur eines,
herausfinden, wo der Meister sein kann. Er ruft ihn sogar, als ob er sich in
irgendeinem dunklen Winkel versteckt haben könnte.
Zu dieser Morgenstunde ist es
noch sehr dunkel in der Tiefe des Grabes, in das nur Licht durch die kleine
Türöffnung fällt, die nun Johannes und Magdalena ausfüllen ... Und Petrus
sieht nur wenig und muß sich mit den Händen vorantasten ... Er berührt
zitternd den Einbalsamierungstisch und fühlt, daß er leer ist...
«Er ist nicht da, Johannes! Er
ist nicht da... ! Oh, komm auch du! Ich habe so viel geweint, daß ich in
diesem schwachen Licht fast nichts sehe.»
Johannes steht auf und geht
hinein. Während er es tut, hat Petrus das in einer Ecke liegende, schön
gefaltete Schweißtuch entdeckt. Darin befindet sich das sorgsam aufgerollte
Grabtuch.
«Sie haben ihn wirklich
weggebracht. Die Wächter hat man nicht unseretwegen aufgestellt, sondern um
dies zu tun... Und wir haben es zugelassen. Wir haben es ermöglicht, da wir
fortgegangen sind...»
«Oh, wo haben sie ihn wohl
hingebracht?»
«Petrus! Petrus, das ... ist das
Ende!»
Die beiden Jünger gehen ganz
vernichtet hinaus.
«Gehen wir, Frau. Du wirst es der
Mutter berichten...»
«Ich gehe nicht von hier fort.
Ich bleibe hier... Irgend jemand wird kommen... Oh, ich gehe nicht fort...
Hier ist immer noch etwas von ihm. Die Mutter hatte recht... die Luft einatmen
zu können, wo er gewesen ist, das ist der einzige Trost, der uns bleibt.»
«Der einzige Trost... Nun siehst
also auch du ein, daß es töricht war, zu hoffen ...» sagt Petrus.
Maria erwidert nichts darauf. Sie
wirft sich zu Boden, gerade am Eingang, und weint, während die anderen langsam
fortgehen.
Dann hebt sie das Haupt und
schaut hinein, und mit tränenerfüllten Augen sieht sie zwei Engel, die am
Kopfende und am Fußende des Einbalsamierungstisches sitzen. Die arme Maria ist
so verwirrt in ihrem heftigen Kampf zwischen der Hoffnung, die stirbt, und dem
Glauben, der nicht sterben will, daß sie sie nur verstört ansieht und sich
nicht einmal wundert. Die Starke, die allem wie eine Heldin getrotzt hat, kann
nur noch weinen.
30
«Warum weinst du, Frau?» fragt
einer der beiden strahlenden Jünglinge; denn sie sehen aus wie wunderschöne
Halbwüchsige.
«Weil sie meinen Herrn
weggenommen haben und ich nicht weiß, wohin sie ihn gelegt haben.»
Maria hat keine Angst, mit ihnen
zu reden. Sie fragt auch nicht: «Wer seid ihr?» Nichts. Nichts verwundert sie
mehr. Alles, worüber sich ein Mensch wundern könnte, hat sie längst erlebt.
Sie ist jetzt nur noch ein gebrochenes Geschöpf, das kraftlos und rückhaltslos
weint.
Der Engel sieht seinen Gefährten
an und lächelt. Auch dieser lächelt. In einem Aufleuchten himmlischer Freude
schauen beide in den blühenden Garten hinaus, in dem sich die abertausend
Blüten der dichten Apfelbäume unter den ersten Strahlen der Sonne geöffnet
haben.
Maria wendet sich um, um zu
sehen, was die beiden betrachten. Und sie erblickt einen wunderschönen Mann,
und es ist mir unbegreiflich, daß sie ihn nicht sofort erkennt. Einen Mann,
der sie mitleidig anschaut und fragt: «Frau, warum weinst du? Wen suchst du?»
Es ist wahr, es ist ein Jesus,
der seinen Glanz ein wenig verhüllt hat aus Mitleid mit dem Geschöpf, das zu
viele Aufregungen ausgelaugt haben und das an einer so plötzlichen Freude
sterben könnte. Aber ich frage mich trotzdem, wie es möglich ist, daß sie ihn
nicht erkennt.
Maria sagt schluchzend: «Sie
haben mir den Herrn Jesus weggenommen. Ich bin gekommen, um ihn in Erwartung
seiner Auferstehung einzubalsamieren... Ich habe meinen ganzen Mut, meine
Hoffnung und meinen Glauben um diese meine Liebe gesammelt und
aufrechterhalten... und nun finde ich ihn nicht mehr... Vielmehr habe ich mit
meiner Liebe die Hoffnung, den Glauben und den Mut umgeben und vor den
Menschen verteidigt... Aber alles war vergebens! Die Menschen haben meine
Liebe geraubt, und damit haben sie mir alles genommen... O mein Herr, wenn du
ihn fortgebracht hast, dann sage mir, wohin du ihn gelegt hast. Und ich werde
ihn holen... Ich werde es niemandem sagen... Es soll ein Geheimnis zwischen
dir und mir sein. Sieh, ich bin die Tochter des Theophilus, die Schwester des
Lazarus, aber ich knie vor dir und flehe dich an wie eine Sklavin. Willst du,
daß ich dir den Leichnam abkaufe? Ich werde es tun. Wieviel verlangst du? Ich
bin reich. Ich kann dir sein Gewicht in Gold und Edelsteinen aufwiegen. Aber
gib ihn mir zurück. Ich werde dich nicht verraten. Willst du mich schlagen? Tu
es. Bis aufs Blut, wenn du willst. Wenn du einen Haß gegen ihn hegst, dann
rechne mit mir ab. Aber gib ihn mir zurück. Oh, laß mich nicht in diesem Elend
versinken, mein Herr! Erbarmen mit einer armen Frau... ! Für mich willst du es
nicht tun? Dann für seine Mutter! Sage mir, sage mir, wo mein Herr Jesus ist.
Ich bin stark. Ich werde ihn in meine Arme nehmen und ihn wie ein Kind in
Sicherheit bringen. Herr... Herr... Du siehst... Seit drei Tagen verfolgt uns
der Zorn Gottes für alles, was dem Sohn
31
Gottes angetan wurde... Laß dem
Verbrechen nicht auch noch die Schändung folgen...»
«Maria!» Jesus leuchtet auf bei
diesem Ruf. Er enthüllt sich nun in seinem triumphierenden Glanz.
«Rabbuni!» Der Schrei Maria
Magdalenas ist wahrlich der «große Schrei», der den Zyklus des Todes
beschließt. Beim ersten umschlang die Finsternis des Hasses das Opfer mit
Todesbanden, beim zweiten vermehrt das Licht der Liebe seinen Glanz.
Und Maria steht auf bei diesem
Schrei, der den Garten erfüllt, eilt zu Füßen Jesu und will sie küssen.
Jesus hält sie zurück, indem er
mit den Fingerspitzen kaum ihre Stirn berührt: «Rühre mich nicht an. Ich bin
noch nicht in diesem Gewand zum Vater aufgefahren. Geh zu meinen Brüdern und
Freunden und sage ihnen, daß ich zu meinem und eurem Vater, zu meinem und
eurem Gott auffahre. Dann werde ich zu ihnen kommen.» Und Jesus verschwindet
in einem unerträglichen Licht.
Maria küßt den Boden, auf dem er
gestanden ist, und eilt zum Haus. Wie der Blitz ist sie drinnen, denn das Tor
ist einen Spalt geöffnet, um den Hausherrn hinauszulassen, der zum Brunnen
geht. Sie öffnet die Tür des Zimmers Marias und wirft sich an ihr Herz mit dem
Ausruf: «Er ist auferstanden! Er ist auferstanden!» Dann weint sie selig.
Und während Petrus und Johannes
herbeieilen und die erschreckte Salome und Susanna aus dem Abendmahlsaal
kommen und ihrer Erzählung lauschen, treten auch Maria des Alphäus, Martha und
Johanna ein und berichten atemlos, daß sie ebenfalls «dort gewesen sind und
zwei Engel gesehen haben, die sich als der Schutzengel des Gottmenschen und
der Engel seines Schmerzes zu erkennen gegeben und sie beauftragt haben, den
Jüngern zu sagen, daß er auferstanden ist».
Und da Petrus den Kopf schüttelt,
fahren sie fort: «Ja, sie haben gesagt: "Warum sucht ihr den Lebenden bei den
Toten? Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er gesagt hat, als er noch
in Galiläa war. Erinnert ihr euch nicht? Er sagte damals: 'Der Menschensohn
muß den Händen der Sünder überliefert und gekreuzigt werden. Aber am dritten
Tage wird er auferstehen.' "»
Petrus schüttelt den Kopf und
sagt: «Zu viele Dinge haben sich in diesen Tagen ereignet. Ihr seid dadurch
verwirrt.»
Magdalena hebt den Kopf von der
Brust Marias und sagt: «Ich habe ihn gesehen! Ich habe mit ihm gesprochen. Er
hat mir gesagt, daß er zum Vater auffährt und dann wiederkommt. Wie schön er
war!» Und sie weint, wie sie noch nie geweint hat, nun, da sie sich nicht mehr
quälen und gegen die von allen Seiten bedrängenden Zweifel ankämpfen muß.
Doch Petrus und selbst Johannes
zweifeln immer noch. Sie schauen einander an, und ihre Augen sagen:
«Einbildung von Frauen.»
32
Auch Susanna und Salome wagen nun
zu sprechen. Aber die unvermeidlichen Unterschiede in den Einzelheiten, die
Wächter, die einmal wie tot und dann gar nicht mehr da waren; die Engel, von
denen einmal einer, dann wieder zwei da waren und die sich den Aposteln nicht
gezeigt haben; die beiden Versionen, daß Jesus hierher kommen oder den Seinen
nach Galiläa vorausgehen würde; all das bewirkt, daß die Zweifel und sogar die
Überzeugung der Apostel nur noch größer werden.
Maria, die heilige Mutter,
schweigt und stützt Magdalena... Ich verstehe das Geheimnis dieses
mütterlichen Schweigens nicht.
Maria des Alphäus sagt zu Salome:
«Kehren wir zwei dorthin zurück. Wir wollen sehen, ob wir alle betrunken
sind...» und sie eilen hinaus.
Die anderen bleiben, von den
beiden Aposteln leise belächelt, bei Maria, die in Gedanken versunken
schweigt, was jeder auf seine Art deutet; keiner begreift, daß es eine Ekstase
ist.
Die beiden betagten Frauen kommen
zurück «Es ist wahr! Es ist wahr! Wir haben ihn gesehen. Er hat beim Garten
des Barnabas zu uns gesagt: "Der Friede sei mit euch. Fürchtet euch nicht.
Geht und sagt meinen Brüdern, daß ich auferstanden bin und daß sie in einigen
Tagen nach Galiläa gehen sollen. Dort werden wir noch eine Weile beisammen
sein." So hat er gesagt. Maria hat recht. Wir müssen es denen in Bethanien,
Joseph, Nikodemus, den vertrauenswürdigsten Jüngern und den Hirten sagen.
Gehen wir, tun wir etwas, tun wir etwas... Oh, er ist auferstanden... !» Alle
weinen beseligt.
«Ihr seid von Sinnen, Frauen. Der
Schmerz hat euren Verstand verwirrt. Das Licht schien euch ein Engel, der Wind
eine Stimme, die Sonne Christus. Ich mache euch keinen Vorwurf. Ich verstehe
euch. Aber ich kann nur glauben, was ich gesehen habe: das offene, leere Grab
und die mit dem verschwundenen Leichnam geflohenen Wachen.»
«Aber wenn doch die Wächter
selbst sagen, daß er auferstanden ist! Wenn doch die Stadt in Aufruhr ist und
die Obersten der Priester zornentbrannt sind, weil die Wachen entsetzt
geflohen sind und geredet haben! Nun wollen sie, daß sie etwas anderes sagen,
und zahlen sie dafür. Aber die Nachricht hat sich schon verbreitet. Und wenn
die Juden auch nicht an die Auferstehung glauben, nicht glauben wollen, so
glauben doch viele andere daran ...»
«Hm, die Frauen... !» Petrus
zuckt die Achseln und will gehen.
Da erhebt die Mutter ihr
verklärtes Antlitz und sagt den kurzen Satz: «Er ist wirklich auferstanden.
Ich habe ihn in meinen Armen gehalten und seine Wunden geküßt.» Magdalena, die
noch immer an ihrem Herzen liegt, weint in ihrer übergroßen Freude wie eine
Weide unter einem Wolkenbruch und küßt ihr blondes Haar. Dann neigt sich Maria
über den Kopf dieser leidenschaftlichen Frau und sagt: «Ja, die Freude ist
mächtiger als der Schmerz. Aber diese Freude ist nur ein Sandkorn im Vergleich
33
zum Ozean der ewigen Freude.
Selig bist du, weil du mehr auf den Geist als auf deinen Verstand gehört
hast.»
Petrus wagt nun nicht mehr, zu
widersprechen... und in einer Anwandlung des alten Petrus, die nun wieder zum
Vorschein kommt, sagt er, ja schreit er, als ob die Verspätung nicht auf ihn,
sondern auf die anderen zurückzuführen wäre: «Ja, aber wenn es so ist, dann
müssen wir es die anderen wissen lassen! Die, die auf den Feldern verstreut
sind... Wir müssen sie suchen... etwas tun... Auf, rührt euch! Wenn er
wirklich kommen sollte... daß er uns wenigstens vorfindet», und er bemerkt
nicht, daß er mit diesen Worten bekennt, daß er immer noch nicht völlig an die
Auferstehung glaubt.
682. ZUM VORIGEN KAPITEL
Jesus sagt:
«Die inbrünstigen Gebete Marias
haben meine Auferstehung um einige Zeit vorverlegt.
Ich hatte gesagt: "Der
Menschensohn wird getötet werden, aber am dritten Tage wird er auferstehen."
Ich starb am Freitag nachmittag um drei Uhr. Ob ihr nun die Tage oder die
Stunden zählt, ich hätte nicht am Morgen des Sonntags auferstehen dürfen. Es
waren nur achtunddreißig Stunden anstatt zweiundsiebzig, die mein Leib ohne
Leben blieb; und wenn man die Tage zählt, hätte ich wenigstens bis zum Abend
des dritten Tages warten müssen, um sagen zu können, daß ich drei Tage im Grab
gelegen war.
Aber Maria hat das Wunder
beschleunigt. So wie sie durch ihr Gebet den Himmel einige Jahre vor der
vorherbestimmten Zeit geöffnet hat, um der Welt das Heil zu schenken, so hat
sie nun erreicht, daß ihrem gebrochenen Herzen einige Stunden früher Trost
geschenkt wurde.
Und ich bin im ersten
Morgengrauen des dritten Tages wie eine fallende Sonne herabgestiegen, und
mein Glanz hat die angesichts der Macht eines Gottes so nutzlosen Siegel der
Menschen in Staub verwandelt. Meine Kraft war der Hebel, der den vergeblich
bewachten Stein umstürzte. Mein Erscheinen habe ich in den Blitz gehüllt, der
die dreimal nutzlosen Wachen niederstreckte, die man aufgestellt hatte, um
einen Toten zu bewachen, der das Leben war, das keine menschliche Macht daran
hindern konnte, Leben zu sein.
Mein Geist, weit stärker als euer
elektrischer Strom, ist wie ein Schwert aus göttlichem Feuer in die kalte
Hülle meines Leichnams eingedrungen und hat sie erwärmt, und der Geist Gottes
hat dem neuen Adam das Leben eingehaucht und zu sich selbst gesagt: "Lebe. Ich
will es."
34
Sollte ich – der ich die Toten
erweckt hatte, als ich nur der Menschensohn war, das Opfer, das dazu bestimmt
war, die Sünden der Welt auf sich zu nehmen – mich nicht selbst erwecken
können, nun, da ich war der Sohn Gottes, der Erste und der Letzte, der ewig
Lebende, der in seinen Händen die Schlüssel des Lebens und des Todes hat? Und
mein Leichnam fühlte das Leben wiederkehren.
Sieh: Wie ein Mensch, der nach
einer großen Mühsal schläft und dann erwacht, atme ich tief ein. Die Augen
öffne ich noch nicht. Das Blut beginnt langsam in den Adern zu zirkulieren und
gibt dem Verstand die Gedanken wieder. Aber ich komme von so weit her! Schau:
Wie bei einem Verwundeten, den eine wunderbare Macht heilt, kehrt das Blut in
die leeren Adern zurück, füllt das Herz und erwärmt die Glieder. Die
Verletzungen schließen sich, die Striemen und die Wunden verschwinden, und die
Kraft kehrt zurück. Und ich hatte so viele Wunden! Sieh, die Kraft wirkt. Ich
werde geheilt. Ich werde auferweckt. Ich kehre ins Leben zurück. Ich war tot,
nun lebe ich! Ich stehe auf!
Ich streife die Grablinnen ab und
die Hülle der Salben. Ich brauche sie nicht, um als ewige Schönheit, als ewige
Unversehrtheit zu erscheinen. Ich kleide mich in Gewänder, die nicht von
dieser Erde sind, sondern die der gewebt hat, der mir Vater ist und der die
Seide der jungfräulichen Lilien webt. Ich bin von Glanz umkleidet. Ich
schmücke mich mit meinen Wunden, aus denen kein Blut mehr dringt, die vielmehr
Licht ausstrahlen. Dieses Licht, das die Freude meiner Mutter und der Seligen
und der Schrecken, der unerträgliche Anblick der Verfluchten und der Dämonen
auf der Welt und am Jüngsten Tag sein wird.
Der Engel meines Lebens als
Mensch und der Engel meines Schmerzes werfen sich vor mir nieder und beten
meine Herrlichkeit an. Meine beiden Engel sind da. Der eine, um sich am
Anblick seines Schützlings zu beseligen, der nun nicht mehr seiner
Verteidigung bedarf. Der andere, der meine Tränen gesehen hat, um nun mein
Lächeln zu sehen, der meinen Kampf gesehen hat, um meinen Sieg zu sehen, der
meinen Schmerz gesehen hat, um meine Freude zu sehen.
Und ich gehe hinaus in den Garten
voller Blütenknospen und Tau. Die Apfelbäume öffnen ihre Blüten, um einen
blühenden Baldachin über das Haupt des Königs zu spannen. Die Gräser bilden
einen Teppich von Edelsteinen und Blüten für meine Füße, die wieder auf der
nun erlösten Erde wandeln, nachdem sie über sie erhöht wurden, um sie zu
erlösen. Und es grüßen mich die ersten Strahlen der Sonne, der sanfte
Aprilwind, das leichte vorüberziehende Wölkchen, rosig wie eine Kinderwange,
und die Vöglein in den Zweigen. Ich bin ihr Gott. Sie beten mich an.
Ich gehe vorüber an den betäubten
Wachen, die ein Symbol sind für die von Todsünden befleckten Seelen, die den
Vorübergang Gottes nicht bemerken.
35
Es ist Ostern, Maria! Dies ist
wahrhaft der "Vorübergang des Engels Gottes". Sein Übergang vom Tod zum Leben.
Sein Vorübergang, der jenen das Leben schenkt, die an seinen Namen glauben. Es
ist Ostern! Es ist der Friede, der vorübergeht in der Welt. Der Friede, der
nicht mehr durch seine Menschheit beschränkt, sondern frei und vollkommen in
seiner wiedererlangten göttlichen Wirkkraft ist.
Und ich gehe zur Mutter. Es ist
nur recht und billig, daß ich zu ihr gehe. Es war gerecht für meine Engel.
Wieviel mehr für sie, die nicht nur meine Hüterin und mein Trost war, sondern
mir auch das Leben geschenkt hat. Bevor ich zum Vater zurückkehre in meinem
Gewand als verherrlichter Mensch, gehe ich zur Mutter. Ich gehe im Glanz
meines paradiesischen Kleides und meiner lebendigen Edelsteine. Sie darf mich
berühren, sie darf mich küssen, denn sie ist die Reine, die Schöne, die
Geliebte, die Gesegnete, die Heilige Gottes.
Der neue Adam geht zur neuen Eva.
Das Böse ist durch die Frau in die Welt gekommen, und von der Frau wurde es
besiegt. Die Leibesfrucht der Frau hat die Menschen befreit vom vergifteten
Auswurf Luzifers. Nun können sie, wenn sie nur wollen, gerettet werden. Die
durch die Todeswunde so geschwächte Frau hat gerettet.
Und nach der Reinen, die es durch
ihre Heiligkeit und Mutterschaft verdient hat, daß der Sohn Gottes zu ihr
geht, zeige ich mich der erlösten Frau, der Ahnherrin, der Vertreterin aller
weiblichen Geschöpfe, für die ich gekommen bin, um sie vom Stachel der Lüste
zu befreien. Damit sie alle auffordere, mir zu nahen, um geheilt zu werden; an
mich zu glauben, an meine Barmherzigkeit zu glauben, die versteht und
verzeiht; mein mit den fünf Wunden geschmücktes Fleisch zu betrachten, um
Satan, der in ihrem Fleisch wühlt, zu besiegen.
Ich lasse mich von ihr nicht
berühren. Sie ist nicht die Reine, die den Sohn, der zum Vater zurückkehrt,
berühren kann, ohne ihn zu verunreinigen. Sie muß durch Buße noch vieles
reinwaschen. Aber ihre Liebe verdient diese Belohnung. Sie hat es verstanden,
aus eigenem Willen aus dem Grab ihres Lasters herauszusteigen, Satan zu
vernichten, der sie in seinen Krallen hatte, der Welt aus Liebe zu ihrem
Erlöser zu trotzen. Sie hat es verstanden, sich aller Dinge zu entäußern, die
nicht Liebe waren, und nichts als Liebe zu sein, die sich für ihren Gott
verzehrt.
Und Gott ruft sie: "Maria." Höre
ihre Antwort: "Rabbuni!" Ihr ganzes Herz ist in diesem Ausruf. Ihr, die es
verdient hat, gebe ich den Auftrag, die Verkünderin der Auferstehung zu sein.
Und noch einmal wird sie ein wenig verspottet, als ob sie von Sinnen wäre.
Doch das Urteil der Menschen kümmert sie nicht, die Maria von Magdala, die
Maria von Jesus. Sie hat mich auferstanden gesehen, und dies ist für sie eine
Freude, die jedes andere Gefühl verdrängt.
Siehst du, wie ich auch solche
liebe, die in Schuld lebten, sich aber von
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ihrer Schuld befreien wollten?
Nicht Johannes habe ich mich zuerst gezeigt, sondern Magdalena. Johannes hatte
schon durch mich den Rang des Sohnes erhalten. Er konnte ihn einnehmen, denn
er war rein und konnte nicht nur geistig Sohn sein, sondern er konnte auch der
Reinen Gottes alles geben und von ihr alles empfangen im Zusammenhang mit den
Bedürfnissen und der Fürsorge für den Leib.
Magdalena, die zur Gnade
Wiedererstandene, hat die erste Vision der auferstandenen Gnade.
Wenn ihr mich liebt und um
meinetwillen alles besiegt, nehme ich euer Haupt und euer krankes Herz in
meine durchbohrten Hände und hauche euch meine Macht ins Antlitz. Und ich
errette euch, ich errette euch, ihr Kinder, die ich liebe. Ihr werdet wieder
schön, gesund, frei und glücklich. Ihr werdet wieder die von Gott geliebten
Kinder. Ich lasse euch meine Güte zu den armen Menschen bringen, damit ihr
Zeugnis ablegt von ihr und die Menschen von ihr und von mir überzeugt.
Habt Vertrauen, Vertrauen,
Vertrauen in mich. Liebt und fürchtet euch nicht. Seid euch des Herzens eures
Gottes gewiß angesichts alles dessen, was ich gelitten habe, um euch zu
retten.
Und du, kleiner Johannes, lächle
nun, nachdem du geweint hast. Dein Jesus leidet nicht mehr. Es gibt kein Blut
und keine Wunden mehr, sondern Licht, Licht, Licht, und Freude und
Herrlichkeit. Mein Licht und meine Freude seien in dir, bis die Stunde des
Himmels kommt.»
Wie Sie verstehen werden, hat
Jesus mich, während er mir die Erklärung zur Vision der Begegnung mit der
Mutter nach der Auferstehung gab, gleichzeitig seine Auferstehung aus dem Grab
und die Begegnung mit Magdalena schauen lassen. Ich bin ganz selig.
Eingetaucht in das Licht des auferstandenen Christus, das freudvolle,
friedvolle Licht!
Ich könnte Ihnen das Heft geben,
denn nach menschlichem Ermessen ist «alles vollbracht». Doch der Meister sagt
mir, daß noch etwas hinzuzufügen ist. Und ich warte.
Etwas später sage ich zu Jesus:
«Welche Freude, Herr, dich nicht mehr so leiden und die Mutter lächeln zu
sehen.»
Und er: «Aber gib dich nicht
dieser Wonne hin. Nicht dieses Brot sollst du essen, sondern jenes der Leiden
deines Gottes und der Tränen Marias. Ich mußte diese Vision vorwegnehmen, um
das versprochene Geschenk zu machen. Doch es ist die Zeit der Schmerzen, und
du mußt den Schmerz betrachten. Pater M. hat gewünscht, all dies zu Ostern zu
erhalten. Aber ich will, daß es die Vorbereitung auf Ostern für ihn und für
viele sei. Sage ihm daher, daß er, wenn ich dieses mein Geschenk mit dem
letzten Punkt vervollständigt habe, sofort alles andere, womit er beschäftigt
ist, beiseite legen und sich diesem hier widmen soll; damit es rechtzeitig
verteilt wird. So will ich es.»
Ich gehorche ihm und beschreibe
die Vision der Auferstehung. Menschlich gesehen hätte ich es vorgezogen, mir
diese Mühe zu ersparen, zumal Jesus schon davon gesprochen hatte. Doch der
Gehorsam ist eine Tugend, und so gehorche ich ohne Widerrede.
Nun, es schien mir, vom Willen
Gottes in den kühlen Garten geführt worden zu sein, in dem das Grab sich
befindet; sein schwerer Stein war ummauert und auf dem Kalk waren die Siegel
angebracht, große, in den Putz gedrückte Rosetten, die nicht entfernt werden
konnten, ohne Spuren zu hinterlassen. Davor waren die schlaftrunkenen
Tempelwachen, teils sitzend und teils stehend und an den Grabfelsen gelehnt.
Der Himmel beginnt sich gerade
etwas aufzuhellen, so daß man in dem grünlichen
37
unbestimmten Licht, das im
frischen Morgenlüftchen zu erschauern scheint, schon etwas erkennen kann.
Alles ist still. Die Vöglein sind noch nicht erwacht.
Vom Himmel, an dem noch
vereinzelte Sternlein stehen und der blauer Seide gleicht, heller im Osten,
dunkler im Westen, kommt etwas wie eine feurige Rakete oder ein Blitz, der in
einer lichtsprühenden Kugel endet. Er saust mit außerordentlicher
Geschwindigkeit herab, schießt durch den stillen Raum und die Atmosphäre.
Der strahlende Meteor erzeugt bei
seinem Fall das Dröhnen eines Erdbebens; aber es ist kein unharmonischer Klang
und ähnlich dem, den die größten Pfeifen einer Riesenorgel unter dem Gewölbe
einer Kathedrale bei einem festlichen Gloria hervorbringen. Er ist machtvoll,
harmonisch und erfüllt die Morgenluft.
Die Wachen springen erschrocken
auf und blicken um sich. Doch der leuchtende Blitz ist schon über ihnen und
schlägt in den schweren Stein, dessen Verschluß man mit Strebepfeilern aus
Kalk gesichert hat. Er gibt nach, als wäre er ein zerbrechlicher Schutz aus
Seidenpapier und stürzt krachend und mit einer erdbebenähnlichen Erschütterung
um, die die Wachen vornüber oder rücklings zu Boden schleudert, wo sie wie
ohnmächtig liegenbleiben. Betäubt. Sie kommen nicht wieder zu sich. Sie liegen
da wie ein Haufen Marionetten, deren Schnüre man abgeschnitten hat. Sie sind
lächerlich.
Der Feuerstrahl ist viel
schneller herabgekommen, als ich es beschreiben kann, denn von seinem
Erscheinen am Himmel bis zu seiner Ankunft am Grab sind nicht Minuten, sondern
Bruchteile von Minuten vergangen, ein Augenblick. Er dringt in das Dunkel des
Grabes und erhellt es mit einem zauberhaften Licht, das die Felswände, die
Decke und den Boden mit allen erdenklichen Edelsteinen zu schmücken scheint.
Und während der Schein, das Wesen dieses Lichtes, gleichsam in der Luft
hängenbleibt, dringt das Licht selbst in den unter den Grabtüchern liegenden
Leichnam ein.
Die reglose Form atmet tief ein.
Ich sehe die Tücher über der Brust sich heben und wieder senken. Ein
Augenblick Pause, dann erhebt sich Christus mit einer plötzlichen Bewegung. Er
muß unter dem Linnen seine über dem Unterleib gekreuzten Hände voneinander
lösen, die Arme ausbreiten, sich aufsetzen und dann auf die Füße stellen; denn
das Schweißtuch, die sonstigen Tücher und das Leichentuch fallen ruckartig
auseinander; erstere fallen zu Boden, das Grabtuch verschiebt sich auf dem
Einbalsamierungsstein und hängt von dort zur Hälfte wie eine schlaffe, tote
Schale herab.
Jesus ist schon mit seinem
herrlichen weißen Gewand bekleidet, ohne Blut und Wunden, das göttliche Haupt
strahlend und schön, ohne andere Zeichen seiner schrecklichen Passion als die
Strahlen, die aus den Wunden kommen und wie fünf Feuer ihren Schein über die
göttliche Person werfen und sie mit einem Kranz sich überkreuzender Strahlen
umgeben. Sie dringen aus Händen und Füßen und kreisförmig aus der Mitte der
Brust.
Die Seitenwunde sieht man nicht.
Sie ist vorn Gewand bedeckt. Aber ein Leuchten, das heller ist als bei allen
anderen Wunden, geht von der Brust aus und gleicht einer hinter Seide
verborgenen Sonne...
Weniger strahlend, doch sehr
schön sind die beiden Engelwesen, die gewiß mit dem Licht in das Grab gelangt
sind und die ich, da ganz in die Betrachtung Jesu versenkt, vorher nicht
gesehen habe. Sie knien zu beiden Seiten der Öffnung und beten an. Es sind
körperlose Wesen, von menschlichem Aussehen, aber ganz aus Licht; aus dem
seligen «Licht», das ich bei der Betrachtung des Paradieses als Eigenschaft
seiner geistigen Bewohner gesehen habe.
Jesus verläßt das Grab nach der
Anbetung durch die Engel, geht an den betäubten Wachen vorbei und in den
Garten hinein. Bei seinem Erscheinen wird alles von seinem göttlichen Glanz
erfüllt. Die taubedeckten Gräser erstrahlen unter einer Sonne, die schöner ist
als die nun am Himmel erschienene Sonne, und verneigen sich sanft unter dem
Kuß eines lauen, duftenden Lüftchens, wie um den Erlöser zu verehren, der
lächelnd und segnend vorübergeht. Die Apfelbäume, die zuvor wenige weiße
Blüten hatten, öffnen nun ihre Myriaden von Knospen, und über dem Haupt Jesu
bildet sich ein zarter, duftender Wolkenschaum aus tausend und abertausend
gerade aufgesprungenen weißen, rosa überhauchten Blüten, zu
38
dem ein kleines Wölkchen am
azurblauen Himmel, das einem rosa Schleier gleicht, das Gegenstück bildet. Die
von so viel Licht aufgeweckten Vöglein singen ihre Triller in dem blühenden
Garten.
Jesus bleibt, um mit mir zu
sprechen, unter einem Apfelbaum stehen – ein ganzer Ball aus Blüten; und
einige Blütenblätter, die verliebter als die anderen sind, fallen herab, um
die Wangen ihres Herrn zu liebkosen und sich auf seinen Füßen niederzulassen,
Blumen unter den Blumen auf dem Boden.
Ich sehe Maria Magdalena erst,
als Jesus sie mir zeigt. Ich bin ganz in ihn versenkt und sehe nicht, was mit
den Wachen geschieht, und werde auch nicht gewahr, wie sie sich
davonschleichen. Nicht einmal die Engel sehe ich mehr, aber ich erkenne, daß
sie im Grabgewölbe sind, da dessen Dunkel von ihrem Licht erhellt wird.
Magdalena weint untröstlich. Ich
verstehe nicht, wie es möglich ist, daß sie Jesus nicht erkennt. Vielleicht
verschleiert er ihren Blick, um sie als erste rufen zu können. Doch als er sie
ruft, «sieht» sie ihn als den, der er ist: als Sieger, stößt ihren Schrei
grenzenloser, anbetender Liebe aus, der den ganzen blühenden Garten erfüllt,
und berührt mit der Stirn das laubbedeckte Gras zu Füßen Jesu.
Die Vision endet hier.
683. JESUS ERSCHEINT LAZARUS
Die Sonne eines heiteren
Aprilmorgens übergießt die Rosen- und Jasminbüsche im Garten des Lazarus mit
Glanz. Und die Buchsbaum- und Lorbeerhecken, die sich im leichten Wind
wiegenden Wedel einer hohen Palme am Ende des Weges und der dichte Lorbeer am
Fischteich scheinen von einer geheimnisvollen Hand gewaschen, so viel Tau ist
über Nacht gefallen und läßt die Blätter nun sauber und wie mit neuem Email
überzogen erscheinen, so glänzend und makellos sind sie. Das Haus aber
schweigt wie ein Totenhaus. Die Fenster sind offen, doch kein Laut, kein
Geräusch dringt aus den verdunkelten Zimmern, deren Vorhänge zugezogen sind.
Im Inneren, hinter der Vorhalle,
die von vielen Zimmern mit weit offenstehenden Türen umgeben ist – und es ist
sonderbar, diese gewöhnlich für eine mehr oder weniger große Anzahl von Gästen
hergerichteten Räume nun leer und aufgeräumt zu sehen – befindet sich ein
weiterer großer, gepflasterter und von einem Säulengang umgebener Hof, in dem
da und dort Sitzgelegenheiten stehen. Auf diesen und sogar auf dem Boden, auf
Matten oder auch auf dem nackten Marmor sitzen viele Jünger. Unter ihnen sehe
ich die Apostel Matthäus, Andreas, Bartholomäus, die Brüder Jakobus und Judas
des Alphäus, Jakobus des Zebedäus und die Hirtenjünger mit Manaen, sowie noch
andere, die ich nicht kenne. Den Zeloten, Lazarus und Maximinus sehe ich
nicht.
Schließlich kommt letzterer mit
Dienern herein und verteilt an alle Brot und verschiedene andere Speisen,
Oliven, Käse und Honig. Es gibt auch frische Milch für den, der will. Aber
niemand hat Lust zu essen, so sehr
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Maximinus auch drängt. Die
Niedergeschlagenheit ist groß. Die Gesichter sind in diesen wenigen Tagen
eingefallen und fahl geworden, nur von Tränen gerötet. Besonders die Apostel
und jene, die bereits in den ersten Stunden geflohen sind, wirken sehr
verzagt, während die Hirten und Manaen nicht ganz so niedergeschlagen, so
beschämt zu sein scheinen, und Maximinus seine Trauer männlich beherrscht.
Da erscheint der Zelote fast im
Laufschritt und fragt: «Ist Lazarus hier?»
«Nein, er ist in seinem Zimmer.
Was willst du?»
«Am Ende des Weges, am
Sonnenbrunnen 1) ist Philippus. Er kommt aus der Ebene von Jericho und ist
völlig erschöpft. Er will aber nicht näher herankommen... da er sich wie alle
als ein Sünder fühlt. Doch Lazarus wird ihn überzeugen.»
Bartholomäus steht auf und sagt:
«Ich komme mit...»
Sie gehen zu Lazarus, der,
nachdem sie ihn gerufen haben, mit von Schmerz gezeichnetem Gesicht aus dem
halbdunklen Zimmer kommt, in dem er zweifellos geweint und gebetet hat.
Sie gehen alle hinaus und
durchqueren zuerst den Garten und dann die Ortschaft auf der Seite, die schon
nahe den Abhängen des Ölberges liegt. Am Rand des Dorfes, auf der Seite, wo
das Plateau endet, auf das es gebaut ist, beginnt ein Weg, der in natürlichen
Stufen auf und ab führt über die Berge, die im Osten zur Ebene hin auslaufen
und im Westen Jerusalem zu ansteigen.
Dort ist ein Brunnen mit einem
großen Becken, an dem Menschen und Herden ihren Durst löschen. Zu dieser
Stunde ist der Platz menschenleer und kühl, denn viele dichte Bäume spenden
Schatten rings um die Zisterne voll klaren Wassers, das sich, von einer
Gebirgsquelle gespeist, ständig erneuert und dann überläuft und den Erdboden
feucht hält.
Philippus sitzt auf dem
Brunnenrand, wo er am höchsten ist, mit gesenktem Kopf, ungekämmt, staubig und
mit zerschlissenen Sandalen, die an den zerkratzten Füßen hängen.
Lazarus ruft ihn mitleidig:
«Philippus, komm zu mir! Lieben wir uns um seiner Liebe willen. Wir wollen in
seinem Namen vereint bleiben. Denn das zu tun bedeutet auch, ihn zu lieben.»
«Oh, Lazarus! Lazarus! Ich bin
geflohen... und gestern, bei Jericho, habe ich erfahren, daß er tot ist... !
Ich... ich kann mir nicht verzeihen, daß ich geflohen bin ...»
«Alle sind wir geflohen. Nur
Johannes ist ihm treu geblieben, und Simon, der uns auf seinen Befehl alle
zusammengerufen hat, die wir feige geflohen waren. Und... von uns Aposteln ist
keiner treu geblieben», sagt Bartholomäus.
______________
1) Sonnenbrunnen = Ensemes
40
«Und kannst du dir das
verzeihen?»
«Nein. Doch ich will es, so gut
ich kann, wiedergutmachen und nicht in fruchtlose Niedergeschlagenheit
verfallen. Wir müssen uns zusammenschließen, uns um Johannes versammeln, um
von seinen letzten Stunden zu erfahren. Johannes ist ihm immer gefolgt»,
antwortet der Gefährte Bartholomäus Philippus.
«Wir dürfen seine Lehre nicht
sterben lassen, müssen sie der Welt verkünden. Wir müssen wenigstens sie am
Leben erhalten, da wir zu schwerfällig und langsam waren, um ihn rechtzeitig
vor seinen Feinden zu retten», sagt der Zelote.
«Ihr hättet ihn nicht retten
können. Nichts konnte ihn retten. Er hat es mir gesagt. Und ich wiederhole es
euch noch einmal», sagt Lazarus mit Nachdruck.
«Du wußtest es, Lazarus ?» fragt
Philippus.
«Ich wußte es. Meine Qual war es,
seit dem Abend des Sabbats durch ihn selbst von seinem Tod und seinen Leiden
zu wissen, und auch zu wissen, wie wir uns benehmen würden ...»
«Nein. Du nicht. Du hast nur
gehorcht und gelitten. Wir haben uns feige benommen. Du und Simon, ihr habt
das Opfer des Gehorsams gebracht», unterbricht ihn Bartholomäus.
«Ja, wir haben uns dem Gehorsam
geopfert. Oh, wie schwer ist es doch, im Gehorsam gegen den Geliebten der
Liebe zu widerstehen! Komm, Philippus! Fast alle Jünger sind in meinem Haus.
Komm auch du.»
«Ich schäme mich, vor der Welt
und den Gefährten zu erscheinen ...»
«Wir sind alle gleich!» seufzt
Bartholomäus.
«Ja, aber ich habe ein Herz, das
sich nicht verzeiht.»
«Das ist Stolz, Philippus. Er hat
am Abend des Sabbats zu mir gesagt: "Sie werden sich nicht verzeihen. Sage
ihnen, daß ich ihnen verzeihe, denn ich weiß, daß sie nicht frei handeln. Es
ist Satan, der sie vom rechten Weg abbringt." Komm!»
Philippus weint heftiger, doch er
gibt nach. Er geht so gebeugt, als sei er in wenigen Tagen alt geworden, an
der Seite des Lazarus bis in den Hof, in dem alle auf ihn warten. Der Blick,
mit dem er die Gefährten ansieht, ist derselbe, mit dem auch die Gefährten ihn
ansehen, und er ist das klarste Bekenntnis ihrer grenzenlosen
Niedergeschlagenheit.
Lazarus bemerkt es und sagt:
«Noch ein Lamm aus der Herde Christi, das in Angst vor dem Kommen der Wölfe
und nach der Gefangennahme des Hirten geflohen ist, wurde von seinem Freund
zurückgebracht. Diesem Verirrten, der die Bitterkeit erfahren hat, allein zu
sein und ohne den Trost, in Gesellschaft seiner Brüder seinen Fehler beweinen
zu können, wiederhole ich das Vermächtnis der Liebe unseres Herrn.
Er – ich schwöre das in Gegenwart
der himmlischen Chöre – hat mir
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gesagt, zusammen mit anderen
Dingen, die eure derzeitige menschliche Schwäche nicht ertragen kann, denn sie
sind so traurig, daß sie mir seit zehn Tagen das Herz zerreißen – und wenn ich
nicht wüßte, daß mein Leben dem Herrn dienen kann, so arm und fehlerhaft es
auch sein mag, dann würde ich mich diesem Schmerz als Freund und Jünger, der
mit ihm alles verloren hat, überlassen – er hat gesagt: "Die Dünste des
verdorbenen Jerusalem werden auch meine Jünger verwirren. Sie werden fliehen
und zu dir kommen." Und ihr seht, daß ihr alle gekommen seid. Alle, kann ich
sagen, denn außer Simon Petrus und Iskariot seid ihr alle in mein Haus und zum
Herzen eures Freundes gekommen. Er hat gesagt: "Du wirst sie sammeln. Du wirst
meine verirrten Lämmer ermutigen. Du wirst ihnen sagen, daß ich ihnen
verzeihe. Ich vertraue dir meine Vergebung für sie an. Sie werden keinen
Frieden finden, weil sie geflohen sind. Sage ihnen, daß sie nicht in die noch
größere Sünde fallen sollen, an meiner Verzeihung zu verzweifeln."
So hat er gesagt. Und an seiner
Statt habe ich euch Verzeihung erteilt. Und Schamröte färbt mein Gesicht, da
ich euch in seinem Namen etwas so Heiliges gebe, etwas, das ganz sein ist, die
Verzeihung, also die vollkommene Liebe; denn wer dem Schuldigen verzeiht,
liebt vollkommen. Diese Aufgabe hat mich in meinem schweren Gehorsam
getröstet... Denn dort hätte ich sein wollen, wie Maria und Martha, meine
guten Schwestern. Und wenn ihn die Menschen auf Golgotha gekreuzigt haben, so
hat mich, ich schwöre es euch, der Gehorsam hier gekreuzigt; ein gar
qualvolles Martyrium. Doch wenn es dazu dient, seiner Seele Trost zu schenken
und ihm seine Jünger zu erhalten bis zu dem Zeitpunkt, da er sie versammeln
wird, um sie im Glauben zu vervollkommnen, dann bin ich bereit, noch einmal
meinen Wunsch zu opfern, wenigstens hinzugehen und den Leichnam zu verehren,
bevor der dritte Tag sich seinem Ende zuneigt.
Ich weiß, daß ihr Zweifel habt.
Das dürft ihr nicht. Ich kenne seine Worte beim Passahmahl nur, weil ihr sie
mir berichtet habt. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer werden
mir nach und nach diese Diamanten seiner Wahrheit, desto deutlicher fühle ich,
daß sie einen sicheren Bezug zum nahen Morgen haben. Er könnte nicht gesagt
haben: "Ich gehe zum Vater und komme dann wieder", wenn er nicht wirklich
zurückkommen würde. Er hätte nicht gesagt: "Wenn ihr mich wiederseht, werdet
ihr von Freude erfüllt sein", wenn er für immer verschwunden wäre. Er hat
immer gesagt: "Ich werde auferstehen." Ihr habt mir berichtet, daß er gesagt
hat: "Ein Tau wird auf die in euch gesäten Samen fallen und alle zum Keimen
bringen; dann wird der Paraklet kommen, der sie zu mächtigen Bäumen macht."
Hat er das nicht gesagt? Oh, sorgt dafür, daß dies nicht nur beim letzten
seiner Jünger, beim armen Lazarus geschieht, der nur so selten mit ihm
zusammen gewesen ist! Sorgt dafür, daß seine Saat unter dem Tau seines Blutes
aufgegangen ist, wenn er zurückkehrt.
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In mir wird alles Licht, und
immer neue Kräfte erfüllen mich seit der schrecklichen Stunde, da er am Kreuz
erhöht wurde. Alles wird hell, alles wächst und gedeiht. Es gibt kein Wort,
das nur seinen armen, menschlichen Sinn behalten hätte. Alles, was ich von ihm
oder über ihn gehört habe, wird lebendig, und mein ödes Land verwandelt sich
in einen blühenden Garten, wo jede Blume ihren Namen hat und alle Säfte aus
seinem heiligen Herzen Leben erhalten.
Ich glaube, Christus! Und damit
auch diese hier an dich glauben, an deine Verheißungen, an deine Vergebung und
an all das, was du bist, biete ich dir mein Leben an. Nimm es, aber gib, daß
deine Lehre nicht stirbt! Zerbrich den armen Lazarus, aber führe die
zerstreuten Glieder des apostolischen Kerns wieder zusammen. Alles, was du
willst, aber dafür gewähre, daß dein Wort lebendig und ewig sei und all jene
jetzt und immerdar zu ihm kommen, die nur durch dich das ewige Leben erlangen
können.»
Lazarus ist wirklich inspiriert.
Die Liebe trägt ihn zu höchsten Höhen empor, und seine Begeisterung ist so
groß, daß er auch die Gefährten mitreißt. Sie rufen ihn von allen Seiten, als
ob er ein Beichtvater, ein Arzt, ein Vater wäre.
Ich weiß nicht warum, aber der
Hof des reichen Lazarus läßt mich an die Häuser der christlichen Patrizier in
den Zeiten der Verfolgung und der heroischen Glaubenstreue denken...
Er beugt sich gerade über Judas
des Alphäus, dem es nicht gelingt, einen Trost zu finden für seinen Kummer,
den Meister und Vetter verlassen zu haben, als etwas ihn veranlaßt, sich mit
einem Ruck aufzurichten. Er dreht sich um und sagt klar und deutlich: «Herr,
ich komme!» Sein übliches Wort des prompten Gehorsams. Und er eilt hinaus, als
würde er jemandem folgen, der ihn gerufen hat und ihm vorausgeht.
Alle sehen sich erstaunt an und
fragen einander.
«Was hat er denn gesehen?»
«Es ist doch nichts gewesen!»
«Hast du eine Stimme gehört?»
«Ich nicht.»
«Ich auch nicht.»
«Was dann? Ist Lazarus vielleicht
wieder krank?»
«Vielleicht... Er hat mehr
gelitten als wir und uns Feiglingen noch dazu so viel Kraft gegeben.
Vielleicht fiebert er nun.»
«Tatsächlich ist sein Gesicht
sehr eingefallen.»
«Und seine Augen haben geglüht
beim Sprechen.»
«Es war wohl Jesus, der ihn in
den Himmel gerufen hat.»
«Lazarus hat ihm ja soeben sein
Leben angeboten... Und wie eine Blume hat er ihn sofort gepflückt... Oh, wir
Elenden! Was tun wir jetzt?»
Die Bemerkungen sind
unterschiedlich und bekümmert.
Lazarus läuft eiligst durch die
Vorhalle und hinaus in den Garten, und
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dabei lächelt und flüstert er,
und seine ganze Seele liegt in seiner Stimme: «Ich komme, Herr.» An der
Stelle, wo dichter Buchs eine grüne Nische bildet, wir würden sagen, eine Art
Pavillon, wirft er sich mit dem Antlitz zu Boden und ruft aus: «Oh, mein
Herr!»
Denn neben dieser grünen Nische
steht Jesus in der ganzen Schönheit des Auferstandenen, lächelt ihn an... und
sagt: «Alles ist erfüllt, Lazarus. Ich bin gekommen, um dir zu danken, treuer
Freund. Ich bin gekommen, damit du den Brüdern sagst, sie sollen sofort ins
Haus des Abendmahls gehen. Du – noch ein Opfer, Freund, aus Liebe zu mir –
bleibe vorläufig hier... Ich weiß, daß du deswegen leidest. Aber ich weiß
auch, daß du großherzig bist. Maria, deine Schwester, ist schon getröstet,
denn ich habe sie gesehen, und sie hat mich gesehen.»
«Du leidest nicht mehr, Herr.
Dies entschädigt mich für jedes Opfer. Ich habe gelitten... da ich dich in
Schmerzen wußte... und nicht bei dir sein konnte ...»
«Oh, du warst bei mir. Deine
Seele war am Fuß meines Kreuzes und im Dunkel meines Grabes. Du hast mich wie
die anderen, die mich vollkommen lieben, vorzeitig aus der Tiefe, in der ich
mich befand, gerufen. Nun habe ich zu dir gesagt: "Komm, Lazarus", wie am Tag
deiner Auferstehung. Aber du sagst mir schon seit vielen Stunden: "Komm." Ich
bin gekommen. Ich habe dich gerufen, um dich meinerseits aus der Tiefe deines
Schmerzes herauszuholen. Geh! Ich gebe dir meinen Frieden und meinen Segen,
Lazarus. Wachse in der Liebe zu mir. Ich werde wiederkommen.»
Lazarus liegt immer noch auf den
Knien und wagt nicht, sich zu rühren. Die Majestät des Herrn, wenngleich von
Liebe gemildert, ist derart, daß Lazarus sich nicht wie sonst benehmen kann.
Doch bevor Jesus verschwindet in
einem Wirbel von Licht, in dem er sich auflöst, macht er einen Schritt auf den
Getreuen zu und berührt mit der Hand seine Stirn.
Nun erst erwacht Lazarus aus
seinem seligen Staunen. Er steht auf stürzt hinein zu den Freunden, mit
freudestrahlenden Augen und einem Leuchten auf der von Christus berührten
Stirn, und ruft: «Er ist auferstanden, Brüder! Er hat mich gerufen. Ich bin
gegangen und habe ihn gesehen. Er hat zu mir gesprochen. Er hat mir gesagt,
ich soll euch sofort in das Haus des Abendmahls schicken. Geht! Geht! Ich
bleibe hier, denn er will es so. Aber meine Freude ist vollkommen...»
Und Lazarus weint vor Freude,
während er die Apostel antreibt, sich als erste auf den Weg zu machen
entsprechend seinem Befehl.
«Geht, geht! Er ruft euch! Er
liebt euch! Fürchtet ihn nicht... Oh, er ist mehr denn je der Herr, die Güte,
die Liebe... !»
Auch die Jünger stehen auf...
Bethanien leert sich. Nur Lazarus
bleibt mit seinem großen, getrösteten Herzen...
44
684. JESUS ERSCHEINT JOHANNA
In einem vornehmen Raum, in den
nur wenig Licht von außen dringt, sitzt Johanna ganz verlassen auf einem Stuhl
neben dem von herrlichen Decken bedeckten, niedrigen Lager und weint. Sie hat
die Stirn auf den Arm gelegt und den Arm auf den Rand des Bettes und wird so
von Schluchzen geschüttelt, daß ihr fast die Brust zerspringen muß. Wenn sie
einen Augenblick aufsieht, um Luft zu holen, erkennt man einen großen,
feuchten Fleck auf der kostbaren Decke und erblickt ihr buchstäblich von
Tränen überschwemmtes Gesicht. Dann legt sie den Kopf wieder auf den Arm, und
man sieht wie zuvor nur den schlanken, weißen Hals, die Masse des dunklen
Haares, die Schultern und den schmalen Oberkörper. Alles andere verschwindet
im Halbdunkel, der dunkelviolett gekleidete Körper löst sich darin auf.
Ohne die Vorhänge zu bewegen oder
die Tür zu öffnen, kommt Jesus herein und nähert sich ihr geräuschlos. Er
streicht ihr sanft mit der Hand über das Haar und flüstert: «Warum weinst du,
Johanna?»
Und Johanna, die wohl glauben muß,
daß es ihr Engel ist, der sie fragt, und die nichts sieht, da sie den Kopf
nicht vom Rand des Lagers erhebt, erzählt ihm ihren Kummer unter noch
verzweifelteren Tränen: «Weil ich nicht einmal mehr das Grab des Herrn habe,
um dort meine Tränen zu vergießen und nicht allein zu sein ...»
«Aber er ist auferstanden. Bist
du nicht glücklich darüber?»
«O doch! Aber alle haben ihn
gesehen außer mir und Martha. Und Martha wird ihn sicher in Bethanien sehen...
denn es ist das Haus der Freunde. Meines... mein Haus ... ist kein
Freundeshaus mehr. Mit seiner Passion habe ich alles verloren ... Meinen Herrn
und die Liebe des Gatten... und auch seine Seele... denn er glaubt nicht... er
glaubt nicht... und er verspottet mich... und verlangt von mir, daß ich nicht
einmal das Andenken meines Erlösers ehre... um ihm nicht zu schaden... Für ihn
sind die menschlichen Interessen wichtiger... Ich... ich... Ich weiß nicht, ob
ich ihn weiterhin lieben soll, oder ob ich ihn verabscheuen soll. Ich weiß
nicht, ob ich ihm als Gattin gehorchen soll oder ob ich ihm ungehorsam werden
soll, wie es die Seele möchte, um der größeren, erhabeneren Vermählung des
Geistes mit Christus willen, dem ich treu bleiben will... Ich... ich möchte
wissen... Und wer kann mir den richtigen Rat geben, da er nicht mehr
erreichbar ist für die arme Johanna 9 Oh... 1 Für meinen Herrn ist die Passion
vorbei... ! Aber für mich hat sie am Freitag begonnen und dauert an ... Oh!
Ich bin so schwach und habe nicht die Kraft, dieses Kreuz zu tragen ... !»
«Aber wenn er dir helfen würde,
würdest du es dann ihm zuliebe tragen?»
«O ja! Wenn er mir nur hilft... !
Er weiß, was es heißt, das Kreuz allein tragen zu müssen... Oh, Erbarmen mit
meinem Elend... !»
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«Ja, ich weiß, was es heißt, das
Kreuz allein tragen zu müssen. Deshalb bin ich gekommen und stehe dir zur
Seite. Johanna, verstehst du nicht, wer zu dir spricht? Du sagst, dein Haus
ist für Christus kein Freundeshaus mehr. Warum? Wenn auch er, der irdische
Gatte, einem von einer Wolke menschlichen Gifthauchs verdunkelten Stern
gleicht, so bist doch du immer noch Johanna von Jesus. Der Meister hat dich
nicht verlassen. Jesus verläßt nie die ihm vermählten Seelen. Er ist immer der
Meister, der Freund, der Bräutigam, auch jetzt, da er der Auferstandene ist.
Erhebe dein Haupt, Johanna. Schau mich an. In dieser Stunde geheimer
Unterweisung, die schöner ist, als wenn ich dir wie den anderen erschienen
wäre, sage ich dir, wie du dich in Zukunft zu verhalten hast. So wie viele
deiner Schwestern sich verhalten werden müssen. Liebe den verwirrten Gemahl
mit Geduld und Unterwürfigkeit. Nimm zu an Sanftmut, je stärker die Bitterkeit
der menschlichen Ängste in ihm gärt. Nimm zu an geistiger Leuchtkraft, je mehr
er die Schatten irdischer Interessen um sich verbreitet. Sei treu für zwei.
Sei stark in deinem geistigen Brautstand. Wie viele werden in Zukunft zwischen
dem Willen Gottes und dem des Gatten zu wählen haben! Doch sie werden groß
sein, wenn sie Gott folgen, mehr als der Liebe und der Mutterschaft. Ja, deine
Passion beginnt. Aber du siehst, daß jede Passion mit einer Auferstehung
endet...»
Johanna hat ganz, ganz langsam
das Haupt erhoben. Ihr Schluchzen hat nachgelassen. Nun schaut sie und sieht,
gleitet anbetend auf die Knie und flüstert: «Der Herr!»
«Ja, der Herr! Du siehst, bei
niemandem bin ich so gewesen wie bei dir. Aber ich sehe die besonderen
Notwendigkeiten und helfe den Seelen die von mir Hilfe erwarten, je nach der
Notwendigkeit. Besteige als Gattin deinen Kalvarienberg mit Hilfe meiner
Liebkosung und der deines unschuldigen Kindes. Es ist mit mir in den Himmel
eingegangen und hat mir seine Liebkosung für dich mitgegeben. Ich segne dich,
Johanna. Hab Vertrauen. Ich habe dich gerettet. Du wirst retten, wenn du
Glauben hast.»
Johanna lächelt nun und wagt zu
fragen: «Gehst du nicht zu den Kindern ?»
«Ich habe sie schon bei
Sonnenaufgang geküßt, als sie noch in ihren Bettchen schliefen, und sie haben
mich für einen Engel des Herrn gehalten. Die Unschuldigen kann ich jederzeit
küssen. Aber ich habe sie nicht aufgeweckt, um sie nicht zu sehr zu verwirren.
Ihre Seelen bewahren das Andenken an meinen Kuß und werden es zu gegebener
Zeit an den Verstand weitergeben. Nichts, was von mir kommt, geht verloren.
Sei ihnen immer eine Mutter. Und sei immer die Tochter meiner Mutter. Trenne
dich niemals gänzlich von ihr. Sie wird mit mütterlicher Güte fortsetzen, was
unsere Freundschaft war. Bringe die Kinder zu ihr. Sie braucht Kinder, damit
sie sich nicht zu sehr von ihrem Kind verlassen fühlt...»
46
«Chuza wird dagegen sein ...»
«Chuza wird dich gewähren
lassen.»
«Wird er mich verstoßen, Herr?»
Es ist ein neuerlicher Schrei der Verzweiflung.
«Er ist ein verdunkelter Stern.
Bringe ihn wieder zum Leuchten durch deinen Heroismus als Gattin und Christin.
Leb wohl. Erzähle niemandem außer meiner Mutter von diesem meinem Besuch. Auch
die Offenbarungen dürfen nur denen mitgeteilt werden, für die sie bestimmt
sind, und zur richtigen Zeit.»
Jesus lächelt ihr aufleuchtend zu
und verschwindet in diesem Glanz.
Johanna erhebt sich wie im Traum.
Sie schwankt zwischen Freude und Schmerz, zwischen der Furcht, geträumt zu
haben, und der Gewißheit, gesehen zu haben. Sie geht zu den Kindern, die
friedlich auf der oberen Terrasse spielen, und küßt sie.
«Weinst du nicht mehr, Mama?»
fragt Maria schüchtern. Sie ist nicht mehr das armselige Kind, sondern ein
hübsches und feines Mädchen, gut gekleidet und schön gekämmt. Matthias, dunkel
und schlank, sagt mit männlichem Überschwang: «Sage mir, wer dich zum Weinen
bringt, und ich werde ihn bestrafen!»
Johanna schließt beide in ihre
Arme, drückt sie an ihr Herz und sagt über das kastanienbraune Köpfchen Marias
und das dunkelbraune Haar des Matthias hinweg: «Ich weine nicht mehr. Jesus
ist auferstanden, und er segnet uns.»
«Oh, dann blutet er nicht mehr?
Dann tut ihm nichts mehr weh?» fragt Maria.
«Dummerchen! Du mußt sagen: Dann
ist er nicht mehr tot. Nun ist er also glücklich... ! Denn tot zu sein, muß
schrecklich sein ...» sagt Matthias.
«Dann brauchen wir also nicht
mehr zu weinen, Mama?» will wiederum Maria wissen.
«Nein, ihr Unschuldigen. Nein.
Ihr könnt jubeln mit den Engeln.»
«Die Engel... Heute nacht, ich
weiß nicht, um welche Nachtwache, habe ich eine Liebkosung gefühlt. Ich bin
erwacht und habe "Mama" gesagt, aber ich habe nicht dich gerufen. Ich habe die
tote Mama gerufen, denn diese Liebkosung war leichter und zarter als deine,
und ich habe einen Augenblick die Augen geöffnet. Aber ich habe nur ein großes
Licht gesehen und gesagt: "Mein Engel hat mich geküßt, um mich zu trösten in
meinem großen Schmerz über den Tod des Herrn"», sagt Maria.
«Ich auch... Aber ich war sehr
schläfrig und habe gesagt: "Bist du es?" Ich dachte an meinen Schutzengel und
wollte ihm sagen: "Geh und gib Jesus und Johanna einen Kuß, damit sie keine
Angst mehr haben." Doch es wurde nichts daraus, denn ich bin wieder
eingeschlafen und habe geträumt, mit dir und Maria im Himmel zu sein. Dann ist
das Erdbeben gekommen, und ich bin erschrocken aufgewacht. Aber Esther hat mir
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gesagt: "Hab keine Angst. Es ist
schon vorbei", und ich habe weitergeschlafen.»
Johanna küßt die beiden Kinder
noch einmal und läßt sie dann bei ihren friedlichen Spielen, während sie sich
zum Haus des Abendmahls begibt. Sie fragt nach Maria, geht zu ihr hinein,
schließt die Tür und sagt ihr großes Wort: «Ich habe ihn gesehen. Dir sage ich
es. Ich bin getröstet und glücklich. Liebe mich, denn er hat gesagt, daß ich
mit dir vereint bleiben soll.»
Die Mutter antwortet: «Ich habe
dir schon am Sabbat gesagt, daß ich dich liebe. Gestern. Denn es war
gestern... und doch scheint dieser Tag der Tränen und der Finsternis dem
heutigen Tag des Lichtes und der Freude so ferne!»
«Ja... Du hattest mir schon
gesagt, nun erinnere ich mich daran, was er mir jetzt wiederholt hat. Du hast
gesagt: "Wir Frauen müssen handeln, denn wir sind geblieben, und die Männer
sind geflohen... Die Frau ist immer die Gebärerin..." Oh, Mutter, hilf mir,
Chuza zu gebären! Er ist geflohen vor dem Glauben...» Johanna weint wieder.
Maria schließt sie in ihre Arme.
«Stärker als der Glaube ist die Liebe. Sie ist die wirksamste Tugend. Durch
sie wirst du Chuza eine neue Seele schaffen. Fürchte nicht. Ich werde dir
helfen.»
685. JESUS ERSCHEINT JOSEPH,
NIKODEMUS UND MANAEN
Manaen und die Hirten schreiten
eilends über die Hänge, die Bethanien mit Jerusalem verbinden. Eine schöne
Straße führt direkt zum Ölgarten, und Manaen biegt dort ab, nachdem er sich
von den Hirten verabschiedet hat, die in kleinen Gruppen in die Stadt und zum
Abendmahlsaal gehen wollen.
Wie ihren Reden zu entnehmen ist,
müssen sie kurz zuvor Johannes begegnet sein, der nach Bethanien gehen wollte,
um die Nachricht von der Auferstehung zu überbringen und die Anweisung, in
einigen Tagen alle in Galiläa zu sein. Sie trennen sich, weil die Hirten
Petrus persönlich wiederholen wollen, was sie schon Johannes berichtet haben,
nämlich, daß der Herr dem Lazarus erschienen ist und allen befohlen hat, sich
im Abendmahlsaal einzufinden.
Manaen geht auf einer Nebenstraße
zu einem Haus inmitten eines Ölgartens. Ein schönes, von herrlichen
Libanon-Zedern umgebenes Haus, deren Wipfel die zahlreichen und großen Ölbäume
auf dem Berg hoch überragen. Er geht entschlossen hinein und sagt zu dem
herbeieilenden Diener: «Wo ist dein Herr?»
«Dort drüben, mit Joseph. Er ist
soeben angekommen.»
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«Sage ihm, daß ich hier bin.»
Der Diener geht und kommt mit
Joseph und Nikodemus zurück. Die drei Stimmen vereinigen sich in einem
einzigen Ausruf: «Er ist auferstanden!»
Sie schauen einander an und sind
überrascht, daß sie es alle wissen. Dann nimmt Nikodemus den Freund und zieht
ihn in ein inneres Zimmer. Joseph folgt ihnen.
«Du hast es gewagt,
wiederzukommen?»
«Ja. Er hat gesagt: "Im
Abendmahlsaal." Und ich möchte ihn jetzt in seiner Glorie sehen, um den
Schmerz zu vergessen, ihn gebunden und schmutzbedeckt wie einen von der Welt
verachteten Übeltäter gesehen zu haben...»
«Oh, wir möchten ihn auch
sehen... Auch um die furchtbare Erinnerung an seine Qualen, an seine zahllosen
Wunden zu vergessen... Aber er hat sich nur den Frauen gezeigt», flüstert
Joseph.
«Das ist nur gerecht. Sie sind
ihm all die Jahre treu geblieben. Wir haben Angst gehabt. Die Mutter hat
gesagt: "Eine arme Liebe ist die eure, wenn sie bis jetzt gewartet hat, um
sich zu erkennen zu geben"», bemerkt Nikodemus.
«Doch um Israel entgegentreten zu
können, das ihm heute mehr denn je feindlich gesinnt ist, haben wir es sehr
nötig, ihn zu sehen... ! Wenn du wüßtest! Die Wachen haben geredet... Nun sind
die Vorsteher des Synedriums und die trotz des gewaltigen himmlischen Zornes
immer noch nicht überzeugten Pharisäer auf der Suche nach allen, die von der
Auferstehung wissen, um sie einsperren zu lassen. Ich habe den kleinen Martial
geschickt, damit er alle im Haus warnt – ein Kind fällt nicht so auf. Aus dem
Tempelschatz haben sie heiliges Geld genommen, um die Wachen zu kaufen, damit
sie erzählen, die Jünger hätten den Leichnam gestohlen und alles, was sie
zuvor über die Auferstehung gesagt hätten, sei aus Furcht vor einer Bestrafung
erlogen gewesen. In der Stadt brodelt es wie in einem Kessel. Und einige der
Jünger verlassen sie bereits aus Angst... Ich meine die Jünger, die nicht in
Bethanien waren...»
«Ja, wir werden seinen Segen
brauchen, um Mut zu haben.»
«Lazarus ist er erschienen... Es
war etwa um die dritte Stunde. Lazarus ist wie verklärt.»
«Oh, Lazarus hat es auch
verdient! Wir...» sagt Joseph.
«Ja. Uns bedecken noch die
Krusten des Zweifels und allzu menschlichen Denkens wie ein schlecht
ausgeheilter Aussatz... Und nur er kann sagen: "Ich will, seid rein!" Wird er
nun, da er auferstanden ist, nicht mehr mit uns, den Unvollkommensten von
allen, sprechen?» fragt Nikodemus.
«Und wird er keine Wunder mehr
wirken zur Strafe für die Welt, jetzt, da er vom Tod und dem Elend des
Fleisches auferstanden ist?» fragt wiederum Joseph.
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Aber auf ihre Frage gibt es nur
eine Antwort: die seine. Und seine Antwort kommt nicht. Die drei sind sehr
niedergeschlagen.
Dann sagt Manaen: «Nun, ich gehe
in den Abendmahlsaal. Wenn sie mich töten, wird er meine Seele lossprechen,
und ich werde ihn im Himmel wiedersehen. Wenn nicht, dann werde ich ihn hier
auf Erden sehen. Manaen ist so unnütz in seiner Schar, daß er die gleiche
Lücke hinterlassen wird wie eine Blüte, die man auf einer Wiese voller Blumen
pflückt. Man wird es nicht einmal bemerken...» und er erhebt sich, um zu
gehen.
Doch als er sich der Tür
zuwendet, erhellt sie sich im Licht des göttlichen Auferstandenen, der ihn mit
wie zur Umarmung ausgebreiteten Armen aufhält und sagt: «Der Friede sei mit
dir! Der Friede sei mit euch! Bleibt, wo ihr seid, du und Nikodemus. Joseph
kann gehen, wenn er will. Aber hier bin ich und sage das gewünschte Wort: "Ich
will, seid rein von allem, was noch unrein an eurem Glauben ist." Morgen
werdet ihr hinunter in die Stadt und zu den Brüdern gehen. Heute abend muß ich
zu den Aposteln allein sprechen. Lebt wohl. Gott sei allezeit mit euch. Danke,
Manaen. Du hast mehr geglaubt als diese. Danke also auch deiner Seele. Euch
danke ich für eure Barmherzigkeit. Sorgt durch ein Leben des
unerschütterlichen Glaubens dafür, daß sie sich in Höheres wandle.»
Jesus verschwindet in einer
blendenden Helle.
Die drei sind beseligt und
verwirrt zugleich.
«Aber ist er es wirklich
gewesen?» fragt Joseph.
«Hast du denn seine Stimme nicht
gehört?» entgegnet Nikodemus.
«Die Stimme... auch ein Geist
kann sie haben... Du, Manaen, du warst ganz in seiner Nähe, was meinst du?»
«Ein wahrer Körper. Wunderschön.
Er hat geatmet. Ich habe den Atem gespürt. Er strahlte Wärme aus. Und dann...
ich habe die Wunden gesehen. Sie schienen offen. Sie haben nicht geblutet,
aber es war lebendiges Fleisch. Oh, zweifelt nun nicht mehr! Damit er euch
nicht straft. Wir haben den Herrn gesehen. Ich will sagen, wir haben Jesus
gesehen, der in Herrlichkeit zurückgekehrt ist, wie es seiner Natur
entspricht. Und... er liebt uns immer noch... Wahrlich, wenn Herodes mir jetzt
sein Reich anbieten würde, so wäre meine Antwort: "Staub und Unrat sind dein
Thron und deine Krone. Was ich jetzt besitze, ist größer als alles. Ich kenne
die Seligkeit, das Antlitz Gottes geschaut zu haben."»
686. JESUS ERSCHEINT DEN HIRTEN
Auch diese eilen unter den
Ölbäumen dahin und sind von seiner Auferstehung so überzeugt, daß sie wie
glückliche Kinder darüber reden. Sie begeben sich direkt zur Stadt.
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«Wir werden Petrus sagen, daß er
ihn gut ansehen und uns dann beschreiben soll, wie schön sein Antlitz ist»,
sagt Elias.
«Oh, so schön es auch sein mag,
ich werde nie vergessen können, wie sehr sie ihn gequält haben», flüstert
Isaak.
«Erinnerst du dich, wie er war,
als sie das Kreuz aufgerichtet haben?»fragt Levi. «Und ihr?»
«Ich ganz genau. Es war noch hell
genug. Danach habe ich mit meinen alten Augen nur noch wenig gesehen», sagt
Daniel.
«Ich dagegen habe ihn gesehen,
bis er tot schien. Ich wollte, ich wäre blind gewesen, um nichts zu sehen!»
sagt Joseph.
«Oh! Nun ist er aber
auferstanden. Das muß uns glücklich machen», tröstet Johannes.
«Und auch der Gedanke, daß wir
ihn nur verlassen haben, um Liebe zu üben», fügt Jonathan hinzu.
«Aber unser Herz ist dort oben
geblieben. Immer», flüstert Matthias.
«Ja, immer. Du, der du ihn auf
dem Schweißtuch gesehen hast, sag, wie ist er? Gleicht er dem, den wir
kennen?» fragt Benjamin.
«So, als ob er reden würde»,
antwortet Isaak.
«Ob wir den Schleier sehen
dürfen?» fragen viele.
«Oh, die Mutter zeigt ihn allen.
Ihr werdet ihn gewiß sehen. Aber es ist ein trauriger Anblick. Besser wäre es,
ihn... Oh, Herr!»
«Getreue Diener. Hier bin ich.
Geht. In einigen Tagen erwarte ich euch in Galiläa. Noch einmal möchte ich
euch sagen, daß ich euch liebe. Jonas ist selig mit den anderen im Himmel.»
«Herr! Oh, Herr!»
«Der Friede sei mit euch, die ihr
guten Willens seid.»
Der Auferstandene verschmilzt mit
den Strahlen der hellen Mittagssonne. Als die Hirten aufschauen, ist er nicht
mehr da. Aber es bleibt die große Freude, ihn gesehen zu haben, wie er jetzt
ist: glorreich.
Sie stehen auf und sind vor
Freude ganz verwandelt. In ihrer Demut erscheint es ihnen unmöglich, die
Gnade, ihn zu sehen, verdient zu haben, und sie sagen: «Zu uns! Zu uns ist er
gekommen! Wie gut ist doch unser Herr! Von der Geburt bis zu seinem Triumph
ist er immer demütig gewesen und gut zu seinen armen Dienern.»
«Und wie schön er war!»
«Oh, so schön wie noch nie!
Welche Majestät!»
«Er scheint noch größer und
reifer an Jahren zu sein.»
«Ein wirklicher König!»
«Oh, sie nannten ihn den König
des Friedens! Aber er ist auch der furchtbare König für jene, die sein Gericht
fürchten müssen.»
«Hast du gesehen, welche Strahlen
von seinem Antlitz ausgegangen sind?»
«Und welches Leuchten von seinen
Augen!»
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«Ich habe nicht gewagt, ihn
richtig anzusehen. Und doch hätte ich es so gerne getan, denn ich denke, es
wird mir vielleicht erst wieder im Himmel gewährt sein, ihn so zu sehen. Und
ich möchte ihn kennen, damit ich dann nicht erzittere.»
«Oh, wir brauchen keine Angst zu
haben, wenn wir bleiben, was wir sind: seine treuen Diener. Hast du gehört:
"Noch einmal möchte ich euch sagen, daß ich euch liebe. Der Friede sei mit
euch, die ihr guten Willens seid." Oh, nicht ein Wort zuviel. Aber diese
wenigen enthalten sein ganzes Einverständnis mit dem, was wir bisher getan
haben und das wunderbarste Versprechen für unser zukünftiges Leben. Laßt uns
den Gesang der Freude, unserer Freude, anstimmen: "Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind. Wahrlich, der Herr
ist auferstanden, wie er durch den Mund der Propheten gesagt hat und durch
sein unfehlbares Wort. Mit seinem vergossenen Blut ist von ihm gewichen alles
Übel, das ihn durch den Kuß eines Menschen berührt hat. Und da der Altar nun
rein ist, hat sein Leib die unaussprechliche Schönheit Gottes angenommen.
Bevor er zum Himmel auffährt, hat er sich seinen Knechten gezeigt. Halleluja!
Laßt uns singen, halleluja! O ewige Jugend Gottes! Laßt uns den Menschen
verkünden, daß er auferstanden ist, halleluja! Der Gerechte, der Heilige ist
auferstanden, halleluja, halleluja! Aus dem Grabe ist er unsterblich
erstanden. Und der gerechte Mensch ist mit ihm auferstanden. In Sünde, wie in
einer Höhle, war das Herz des Menschen eingeschlossen. Er ist gestorben, um zu
sagen: "Stehet auf!" Und die Verstreuten sind aufgestanden, halleluja! Die
Pforten des Himmels hat er geöffnet und zu den Auserwählten gesagt: "Kommt."
Möge es durch das Blut des Heiligen auch uns gewährt sein, aufzuerstehen.
Halleluja!"»
Matthias, der alte ehemalige
Jünger Johannes des Täufers, geht singend voran, wie vielleicht einst David
vor seinem Volk singend auf den Straßen von Judäa einherzog. Die anderen
folgen ihm und stimmen bei jedem Halleluja mit heiligem Jubel ein.
Jonathan, der mit der Gruppe
geht, sagt, als Jerusalem schon am Fuß des Hügels liegt, den sie mit eiligen
Schritten hinabsteigen: «Durch seine Geburt habe ich Vaterland und Haus
verloren, und durch seinen Tod habe ich das neue Haus verloren, in dem ich
dreißig Jahre lang ehrbar gearbeitet habe. Doch selbst wenn ich seinetwegen
das Leben verloren hätte, so wäre ich freudig gestorben, da ich das Leben
seinetwegen verloren hätte. Ich hege keinen Haß gegen jene, die mich ungerecht
behandeln. Mein Herr hat mich durch sein Sterben die vollkommene Sanftmut
gelehrt. Und ich denke nicht an morgen. Meine Wohnstatt ist nicht hier,
sondern im Himmel. Ich werde in der Armut leben, die ihm so teuer war, und
werde ihm bis zu der Stunde dienen, da er mich ruft... Und... Ja, ich werde
ihm auch den Verzicht... auf meine Herrin opfern... Dies ist der
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schmerzlichste Stachel... Doch
nun, da ich den Schmerz des Christus und seine Herrlichkeit gesehen habe, darf
ich nicht an die Größe meines Schmerzes denken, sondern nur auf die himmlische
Herrlichkeit hoffen. Gehen wir und sagen wir den Aposteln, daß Jonathan der
Diener der Diener Christi ist.»
687. JESUS ERSCHEINT DEN JÜNGERN
VON EMMAUS
Zwei Männer mittleren Alters
schreiten rasch auf einer Bergstraße dahin. Sie haben Jerusalem im Rücken,
dessen Anhöhen immer mehr hinter anderen verschwinden, die wie Wellen aus
Hügeln und Tälern aufeinander folgen.
Sie unterhalten sich, und der
Ältere sagt zum anderen, der höchstens fünfunddreißig Jahre alt ist: «Glaube
mir, es ist besser gewesen, so zu handeln. Ich habe eine Familie, und auch du
hast eine. Der Tempel scherzt nicht. Er will wirklich allem ein Ende machen.
Zu Recht? Zu Unrecht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sie diese
Geschichte ein für allemal beenden wollen.»
«Dieses Verbrechen, Simon. Nenne
es nur beim rechten Namen, denn es war ein Verbrechen.»
«Je nachdem, wie man es sieht.
Uns bringt die Liebe gegen das Synedrium in Wallung. Aber vielleicht... Wer
weiß.»
«Nein. Die Liebe erleuchtet. Sie
läßt keinen Irrtum zu.»
«Auch das Synedrium, auch die
Priester und die Vorsteher lieben. Sie lieben Jahwe, ihn, den ganz Israel
geliebt hat, seit der Bund zwischen Gott und den Patriarchen geschlossen
wurde. Also ist auch für sie die Liebe Licht und führt nicht zum Irrtum!»
«Ihre Liebe gilt nicht dem Herrn.
Ja, Israel hat seit Jahrhunderten diesen Glauben. Aber sage mir, kannst du
behaupten, daß das noch Glaube ist, was uns die Tempelvorsteher, die
Pharisäer, die Schriftgelehrten und die Priester übermitteln? Du hast es doch
gesehen. Mit dem dem Herrn geweihten Gold – man wußte es schon oder hat
zumindest den Verdacht gehabt, daß es geschehen würde – mit dem dem Herrn
geheiligten Gold haben sie den Verräter und jetzt die Wachen bezahlt;
ersteren, damit er Christus verrät, die anderen, damit sie lügen. Oh, ich kann
nicht verstehen, warum die ewige Macht sich damit begnügt hat, die Mauern
einstürzen zu lassen und den Vorhang zu zerreißen. Ich sage dir, ich hätte
gewünscht, daß die neuen Philister unter den Trümmern begraben würden. Alle!»
«Kleophas, das wäre Rache!»
«Ja, das wäre Rache. Nehmen wir
an, er sei nur ein Prophet gewesen,
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hatten sie dann das Recht, einen
Unschuldigen zu töten? Denn er war unschuldig! Hast du vielleicht einmal
gesehen, daß er eines der Verbrechen begangen hat, deren man ihn beschuldigte,
um ihn töten zu können?»
«Nein, kein einziges. Aber einen
Fehler hat er begangen.»
«Welchen, Simon?»
«Den Fehler, daß er vom Kreuz
herab nicht seine Macht ausgeübt hat, um unseren Glauben zu stärken und die
ungläubigen Gottesschänder zu bestrafen. Er hätte die Herausforderung annehmen
und vom Kreuz herabsteigen müssen!»
«Er hat mehr getan: Er ist
auferstanden!»
«Ist das auch wahr? Auferstanden,
aber wie? Nur im Geist oder mit Leib und Seele?»
«Die Seele ist doch ewig! Sie
braucht nicht aufzuerstehen!» ruft Kleophas aus.
«Das weiß ich selbst. Ich wollte
sagen, ob er nur in seiner göttlichen Natur, die über jede menschliche
Nachstellung erhaben ist, auferstanden ist. Denn eben noch haben die Menschen
seine Seele in furchtbare Angst versetzt. Hast du nicht gehört? Markus hat
gesagt, daß in Gethsemane, wo er an einem Fels gebetet hat, alles voll Blut
ist. Und Johannes, der mit Markus gesprochen hat, hat ihm gesagt: "Laß
niemanden diesen Ort betreten, denn es ist Blut, das der Gottmensch geschwitzt
hat." Wenn er vor der Marter Blut geschwitzt hat, dann muß er furchtbare Angst
vor ihr gehabt haben.»
«Unser armer Meister... !» Sie
schweigen betrübt.
Jesus gesellt sich zu ihnen und
fragt: «Von wem redet ihr? In dieser Stille habe ich einige eurer Worte
gehört. Wer ist getötet worden?» Jesus ist verborgen unter dem Äußeren eines
armen, eiligen Wanderers.
Die beiden erkennen ihn nicht.
«Bist du hier fremd, Mann? Hast
du dich nicht in Jerusalem aufgehalten? Dein verstaubtes Gewand und die
abgenützten Sandalen lassen auf einen unermüdlichen Pilger schließen.»
«Das bin ich. Ich komme von sehr
weit her ...»
«Dann wirst du müde sein. Hast du
noch einen weiten Weg?»
«Einen sehr weiten. Er ist noch
länger als der, den ich bereits zurückgelegt habe.»
«Hast du Geschäfte zu erledigen?
Begibst du dich auf die Märkte?»
«Ich muß eine riesige Anzahl
Herden für den mächtigsten aller Herren erwerben. Die ganze Welt muß ich
durchwandern, um Schafe und Lämmer auszuwählen, und ich muß auch zu den wilden
Herden gehen, die, wenn sie erst einmal gezähmt sind, besser sein werden als
jene, die jetzt nicht wild sind.»
«Schwierige Arbeit. Und du bist
weitergegangen und hast dich nicht in Jerusalem aufgehalten?»
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«Weshalb fragt ihr dies?»
«Weil du anscheinend der einzige
bist, der nicht weiß, was in diesen Tagen geschehen ist.»
«Was ist denn geschehen?»
«Du kommst von weit her und weißt
es vielleicht deshalb nicht. Doch dein Akzent ist galiläisch. Darum müßtest
du, wenn du beschnitten bist, eigentlich wissen, selbst wenn du in den
Diensten eines fremden Königs stehst oder der Sohn ausgewanderter Galiläer
bist, daß vor drei Jahren in unserem Vaterland ein großer Prophet namens Jesus
von Nazareth aufgestanden ist, mächtig in Worten und Werken vor Gott und den
Menschen, der predigend durch das ganze Land gezogen ist. Er nannte sich den
Messias. Seine Worte und Werke waren wirklich die des Sohnes Gottes, wie er
sich nannte. Ja, wirklich des Sohnes Gottes. Es kam alles vom Himmel... Nun
weißt du, warum... Aber bist du beschnitten?»
«Erstgeborener bin ich und dem
Herrn heilig.»
«Dann kennst du unsere Religion?»
«Kein Wort ist mir unbekannt. Ich
kenne die Vorschriften und die Bräuche. Die Halacha, der Midrasch und die
Haggada sind mir geläufig wie die Elemente Luft, Wasser, Feuer und Licht, die
ersten Dinge, nach denen Verstand, Instinkt und Bedürfnis des Menschen
verlangen, wenn er den mütterlichen Schoß verlassen hat.»
«Dann weißt du also, daß Israel
ein Messias verheißen war, der als mächtiger König Israel vereinigen würde. So
ist es jedoch nicht gewesen ...»
«Wie dann?»
«Er strebte nicht nach irdischer
Macht, sondern nannte sich König eines ewigen und geistigen Reiches. Er hat
Israel nicht geeint, sondern gespalten, denn nun ist es geteilt in jene, die
an ihn glauben, und jene, die ihn einen Übeltäter nennen. Er hatte wirklich
nicht das Zeug zum König, denn er wollte nur Sanftmut und Verzeihung. Und wie
soll man mit solchen Waffen unterwerfen und siegen... ?»
«Und dann?»
«Nun, dann haben die
Hohenpriester und die Ältesten des Volkes Israel ihn gefangengenommen und zum
Tod verurteilt... wenngleich sie ihn in Wahrheit nicht begangener Verbrechen
beschuldigt haben. Seine einzige Schuld war, zu gut und zu streng gewesen zu
sein...»
«Wie konnte er das eine und das
andere sein?»
«Er konnte es, denn er war zu
streng, wenn er den Vorstehern Israels die Wahrheit sagte, und zu gut, um sie
durch ein Wunder zu vernichten und seine ungerechten Feinde zu zerschmettern.»
«War er so streng wie der Täufer
?»
«Nun... das würde ich nicht
sagen. Sein harter Tadel galt, besonders in letzter Zeit, den Schriftgelehrten
und Pharisäern, und er drohte denen vom Tempel als vom Zorn Gottes
Gezeichneten. Aber wenn ein Sünder
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sich bekehrte und er sah, daß
dieser wahre Reue im Herzen hatte – denn der Nazarener konnte in den Herzen
besser lesen als die Schriftgelehrten in ihren Texten – dann war er gütiger
als eine Mutter.»
«Und Rom hat erlaubt, daß ein
Unschuldiger getötet wurde?»
«Pilatus hat ihn verurteilt...
Aber er wollte nicht und nannte ihn einen Gerechten. Doch man drohte ihm, ihn
beim Caesar anzuklagen, und er bekam Angst. Also wurde er zum Tod am Kreuz
verurteilt und mußte sterben. Und dieser Tod, zusammen mit der Angst vor den
Synedristen, hat uns sehr entmutigt. Denn ich bin Kleophas, der Sohn des
Kleophas, und dieser ist Simon. Wir sind beide aus Emmaus und verwandt, denn
ich bin der Mann seiner ältesten Tochter, und wir waren Jünger des Propheten.»
«Und nun seid ihr es nicht mehr?»
«Wir hatten gehofft, daß er es
sei, der Israel befreien würde, und auch, daß er seine Worte durch ein Wunder
bestätigen würde. Dagegen ...»
«Was hat er denn gesagt?»
«Wir haben es dir schon gesagt:
"Ich bin in das Reich Davids gekommen. Ich bin der König des Friedens" und so
weiter. Er sagte auch: "Kommt zum Reich", doch dann hat er uns das Reich nicht
gegeben. Und er sagte: "Am dritten Tage werde ich auferstehen." Nun ist heute
der dritte Tag, seit er gestorben ist. Vielmehr, er ist schon vorüber, denn
die neunte Stunde ist vergangen, und er ist nicht auferstanden. Einige Frauen
und einige Wachen behaupten zwar, er sei auferstanden. Aber wir haben ihn
nicht gesehen. Und nun sagen die Wachen, sie hätten dies nur erfunden, um den
Diebstahl des Leichnams durch die Jünger des Nazareners zu verheimlichen.
Ausgerechnet die Jünger... ! Wir haben ihn alle aus Angst im Stich gelassen,
als er noch am Leben war... und wir werden ihn gewiß nicht jetzt gestohlen
haben, da er tot ist. Und die Frauen... Wer glaubt schon den Frauen! Wir
sprachen gerade darüber. Und wollten gerne wissen, ob er gemeint hat, daß nur
sein nun wieder göttlich gewordener Geist aufersteht oder auch das Fleisch.
Die Frauen behaupten noch, daß Engel – denn sie wollen auch Engel nach dem
Erdbeben gesehen haben, und es ist möglich, denn schon am Freitag sind die
Gerechten außerhalb ihrer Gräber erschienen – sie behaupten, Engel hätten
ihnen gesagt, er sei gleich einem, der nie gestorben ist. Und so schienen ihn
die Frauen auch tatsächlich gesehen zu haben. Doch zwei von uns, zwei
Oberhäupter, die zum Grab gegangen sind, haben dieses zwar leer gefunden, wie
die Frauen gesagt hatten, aber ihn selbst haben sie weder dort noch anderswo
gesehen. Wir sind sehr traurig, denn wir wissen nicht, was wir nun denken
sollen.»
«Oh, wie seid ihr doch töricht
und von schwerfälligem Geist! Und wie lange braucht ihr, um an die Worte der
Propheten zu glauben. Stand nicht alles schon geschrieben? Israel hat den
Irrtum begangen, das Königtum Christi falsch auszulegen. Daher hat man ihm
nicht geglaubt. Daher hat man ihn gefürchtet. Und daher habt ihr nun Zweifel.
Oben und unten, im
56
Tempel und in den Dörfern,
überall erwartete man einen König im menschlichen Sinn. Aber die
Wiedererrichtung des Reiches Israel war im Gedanken Gottes nicht in Zeit, Raum
und Mittel begrenzt wie bei euch.
Nicht in der Zeit: Jedes
Königtum, auch das mächtigste, ist nicht ewig. Erinnert euch an die mächtigen
Pharaonen, die die Hebräer zur Zeit des Moses unterdrückten. Wie viele
Dynastien sind aufeinander gefolgt, und von ihnen allen sind nur entseelte
Mumien im Innern geheimnisvoller Gräber geblieben! Und eine Erinnerung, wenn
überhaupt, ist geblieben an ihre Macht, die eine Stunde oder noch weniger
gewährt hat, wenn wir diese Jahrhunderte mit der Ewigkeit vergleichen. Dieses
Reich aber ist ewig.
Nicht im Raum: Es wurde genannt:
Reich Israel; denn aus Israel ist der Stamm des Menschengeschlechtes
hervorgegangen, in Israel liegt sozusagen der Same Gottes, und wenn man Israel
sagt, so bedeutet dies: das Reich der von Gott Erschaffenen. Aber das Reich
des Königs und Messias beschränkt sich nicht auf den kleinen Raum von
Palästina, sondern erstreckt sich von Norden nach Süden, von Osten nach
Westen, überall dorthin, wo ein Wesen ist, das eine Seele in seinem Fleisch
besitzt, also wo ein Mensch ist. Wie hätte einer allein alle die Völker, die
einander feindlich gesinnt sind, vereinigen und ein einziges Reich bilden
können, ohne Ströme von Blut zu vergießen und alle mit Hilfe von Bewaffneten
zu unterwerfen und grausam zu unterdrücken? Und wie hätte er dann der König
des Friedens sein können, von dem die Propheten sprechen?
Nicht in dem Mittel: Des Menschen
Mittel, habe ich gesagt, ist die Unterdrückung. Das übernatürliche Mittel ist
die Liebe. Ersteres ist immer begrenzt, denn die Völker stehen gegen die
Unterdrücker auf; das zweite ist unbegrenzt, denn die Liebe wird geliebt oder,
wenn sie nicht geliebt wird, wird sie verspottet. Da sie jedoch etwas
Geistiges ist, kann sie niemals direkt angegriffen werden. Und Gott, der
Unendliche, will Mittel anwenden, die so sind wie er. Er will, was nicht
endlich ist, weil es ewig ist: den Geist; das, was des Geistes ist; das, was
zum Geist führt. Dies ist der Irrtum gewesen: daß man sich eine messianische
Idee zurechtgelegt hat, die falsch war, was Mittel und Form betrifft.
Welches ist das höchste Königtum?
Das Königtum Gottes, nicht wahr? Und dieser Bewunderungswürdige, dieser
Emmanuel, dieser Heilige, dieser erhabene Sproß, dieser Starke, dieser Vater
künftiger Zeiten, dieser Friedensfürst, dieser Gott gleich jenem, von dem er
kommt – denn so steht es geschrieben, und dies alles ist der Messias – wird
sein Königtum nicht gleich dem Königtum dessen sein, der ihn gezeugt hat? Ja,
so wird es sein. Ein ganz geistiges und ewiges Königtum, unbefleckt von Raub
und Blut, das keinen Verrat und keine Gewalt kennt. Sein Königtum! Das
Königtum, das die ewige Güte auch den armen Menschen gewährt, um seinem Wort
Ehre und Freude zu schenken.
Hat nicht David schon gesagt, daß
diesem mächtigen König alles als
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Schemel zu Füßen liegen wird?
Steht nicht bei Isaias seine ganze Passion geschrieben und zählt nicht David
sozusagen auch seine Martern auf? Und steht nicht geschrieben, daß er der
Erlöser und Retter ist, der durch sein Opfer den sündigen Menschen erlösen
wird? Und ist nicht genau angegeben – und Jonas ist das Zeichen – daß ihn die
unersättlichen Eingeweide der Erde drei Tage lang verschlingen und dann
ausspeien werden, wie der Walfisch den Propheten? Und steht nicht von ihm
geschrieben: "Mein Tempel, also mein Leib, wird drei Tage, nachdem er zerstört
worden ist, von mir (also von Gott) wieder aufgerichtet werden?" Was habt ihr
geglaubt? Daß er durch Zauber die Tempelmauern wiedererrichten würde? Nein.
Nicht die Mauern, sondern sich selbst. Und nur Gott konnte aus eigener Kraft
auferstehen. Er hat den wahren Tempel wiedererrichtet: den Leib des Lammes,
das geopfert wurde – so wie es Moses befohlen und prophezeit war – um den
"Übergang" der Menschen, die Kinder Gottes und Sklaven Satans waren, vom Tod
zum Leben, von der Sklaverei zur Freiheit vorzubereiten.
Ihr fragt euch, wie er
auferstanden ist? Ich antworte: Er ist mit seinem wahren Fleisch auferstanden
und mit dem göttlichen Geist, der in ihm wohnt, so wie in jedem sterblichen
Fleisch die darin wohnende Seele die Königin des Herzens ist. So ist er
auferstanden, nachdem er alles erlitten hat, um alles zu sühnen; um die erste
Sünde wiedergutzumachen und die unzähligen Sünden, die täglich von der
Menschheit begangen werden. Er ist auferstanden, wie es unter dem Schleier der
Prophezeiungen vorausgesagt war. Als seine Zeit gekommen war, wurde er geboren
– denkt an Daniel – und zur vorherbestimmten Zeit wurde er geopfert. Hört und
denkt daran, denn zur vorhergesagten Zeit nach seinem Tod wird die
gottesmörderische Stadt zerstört werden.
Ich gebe euch einen Rat: Lest die
Propheten mit dem Herzen und nicht mit dem stolzen Verstand, vom Anfang des
Buches bis zu den Worten des geopferten Wortes. Denkt an den Vorläufer, der
ihn das Lamm nannte, und erinnert euch, welches das Schicksal des symbolischen
mosaischen Lammes war. Durch jenes Blut wurden die Erstgeborenen Israels
gerettet. Durch dieses Blut werden die Erstgeborenen Gottes erlöst werden,
also jene, die sich durch ihren guten Willen dem Herrn geheiligt haben.
Erinnert euch an den messianischen Psalm Davids und an den messianischen
Propheten Isaias und versteht sie. Denkt an Daniel. Erhebt euer Gedächtnis aus
dem Staub in das Blau des Himmels und vergegenwärtigt euch jedes Wort über das
Königtum des Heiligen Gottes, und ihr werdet verstehen, daß euch kein
stärkeres Zeichen hätte gegeben werden können, als dieser Sieg über den Tod,
diese aus sich selbst erfolgte Auferstehung. Denkt daran, wie unvereinbar mit
seiner Barmherzigkeit und seiner Sendung eine Bestrafung derer vom Kreuz herab
gewesen wäre, die ihn so erhöht haben. Er war immer noch der Erlöser, auch als
der verspottete
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und an das Holz genagelte
Gekreuzigte! Die Glieder waren gekreuzigt, der Geist und der Wille jedoch
frei. Und mit diesen wollte er noch warten, um den Sündern Zeit zu lassen, zu
glauben und sein Blut über sich herabzurufen, nicht unter gotteslästerlichem
Geschrei, sondern mit dem Seufzer der Zerknirschung.
Nun ist er auferstanden. Alles
hat er vollbracht. Glorreich ist er vor seiner Menschwerdung gewesen. Dreimal
glorreich ist er nun, nachdem er sich so viele Jahre in einem Körper
erniedrigt und sich dann selbst geopfert hat im vollkommenen Gehorsam durch
seinen Tod am Kreuz, um den Willen Gottes zu erfüllen. Glorreich über alle
Maßen wird er nun zusammen mit dem verherrlichten Fleisch zum Himmel auffahren
und in die ewige Herrlichkeit eingehen. Dies wird der Beginn des Reiches sein,
dessen Bedeutung Israel nicht verstanden hat. Und zu diesem Reich ruft er
eindringlicher denn je mit seiner ganzen Liebe und Autorität die Völker der
Welt. Sie alle, wie es die Gerechten Israels und die Propheten geschaut und
vorausgesagt haben, alle Völker werden zu ihrem Heiland kommen. Und es wird
keine Juden oder Römer, Skythen oder Afrikaner, Iberer oder Kelten, Ägypter
oder Phrygier mehr geben. Die von jenseits des Euphrat werden sich mit den
Quellen des ewigen Flusses vereinigen. Die Völker des Nordens werden an der
Seite der Numidier zu seinem Reich kommen; Rassen und Sprachen, Sitten und
Hautfarben werden keine Rolle mehr spielen. Es wird ein einziges zahlloses,
leuchtendes, reines Volk geben, eine einzige Sprache, eine einzige Liebe. Es
wird das Reich Gottes, das Reich des Himmels sein, und der ewige Herrscher,
der auferstandene Geopferte, und sein ewiges Volk, die an ihn Glaubenden.
Glaubt also, um zu diesem Volk zu gehören!
Hier ist nun Emmaus, Freunde. Ich
gehe weiter. Dem Wanderer, der noch einen so weiten Weg zurücklegen muß, ist
kein Aufenthalt erlaubt.»
«Herr, du bist gelehrter als ein
Rabbi. Wäre er nicht tot, würden wir glauben, daß er zu uns gesprochen hat.
Wir möchten noch andere und ausführlichere Wahrheiten von dir hören; denn nun
verstehen wir die Worte des Buches nicht mehr, da wir eine Herde ohne Hirten
und durch den Haß Israels beunruhigt sind. Willst du, daß wir mit dir kommen?
Du könntest uns weiterhin unterweisen und so das Werk des Meisters, der uns
genommen wurde, vollenden.»
«Ihr habt ihn so lange gehabt,
und es hat nicht genügt, euch zu vollenden? Ist dies hier nicht die Synagoge?»
«Ja. Ich bin Kleophas, der Sohn
des Synagogenvorstehers Kleophas, der in der Freude gestorben ist, den Messias
kennengelernt zu haben.»
«Und immer noch trüben Zweifel
deinen Glauben? Aber es ist nicht eure Schuld. Nach dem Blut braucht es noch
das Feuer. Dann werdet ihr glauben, denn ihr werdet verstehen. Lebt wohl.»
«O Herr, es will schon Abend
werden, und die Sonne geht bald unter.
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Du bist müde und durstig. Komm
herein. Bleibe bei uns. Du wirst zu uns von Gott sprechen, während wir Brot
und Salz teilen.»
Jesus geht hinein und wird mit
der üblichen hebräischen Gastfreundlichkeit bedient. Man bringt Getränke und
Wasser für die müden Füße.
Dann setzen sie sich zu Tisch,
und die beiden bitten ihn, die Mahlzeit zu segnen.
Jesus steht auf, hält das Brot
auf den flachen Händen, erhebt die Augen zum roten Abendhimmel, dankt für die
Speise und setzt sich. Er bricht das Brot und teilt es mit seinen Gastgebern.
Und während er dies tut, gibt er sich zu erkennen als der, der er ist: der
Auferstandene.
Er ist nicht der strahlende
Auferstandene, als der er den anderen, die ihm nahestehen, erschienen ist.
Aber er ist ein Jesus voller Majestät, und die Wunden an den schmalen Händen
sind deutlich zu sehen: rote Rosen auf dem Elfenbein der Haut. Ein sehr
lebendiger Jesus in seinem wiederhergestellten Fleisch. Aber auch Gott in der
Macht seines Blickes und seiner Erscheinung.
Die beiden erkennen ihn und
fallen auf die Knie... Und als sie es wagen, wieder aufzublicken, bleibt von
ihm nur noch das gebrochene Brot.
Sie nehmen es und küssen es.
Jeder nimmt seinen Anteil und legt ihn, wie eine Reliquie in ein
Leinentüchlein gewickelt, auf die Brust.
Sie weinen und sagen: «Er ist es
gewesen! Und wir haben ihn nicht erkannt. Und dennoch, brannte nicht auch dir
das Herz in der Brust, als er zu uns sprach und uns die Schrift auslegte?»
«Ja. Und nun glaube ich ihn neu
zu sehen. Im Licht, das vom Himmel kommt. Dem Licht Gottes. Und ich sehe, daß
er der Erlöser ist.»
«Gehen wir. Ich spüre weder
Müdigkeit noch Hunger mehr. Wir wollen nach Jerusalem gehen und es seinen
Jüngern berichten.»
«Gehen wir. Oh, hätte doch mein
alter Vater diese Stunde noch erleben dürfen!»
«Sprich nicht so. Ihm war mehr
gegeben als uns. Der Geist des gerechten Kleophas sah den Sohn Gottes in den
Himmel zurückkehren ohne den Schleier, der ihn aus Erbarmen mit unserer
menschlichen Schwäche verhüllte. Gehen wir! Gehen wir! Wir werden mitten in
der Nacht ankommen. Aber wenn er es will, finden wir einen Weg, in die Stadt
zu gelangen. Er, der die Tore des Todes geöffnet hat, kann ebenso die Tore der
Stadtmauern öffnen. Gehen wir!»
Und in der purpurnen
Abenddämmerung machen sie sich eilends auf den Weg nach Jerusalem.
60
688. JESUS ERSCHEINT ANDEREN
FREUNDEN
Das Haus des Abendmahles ist
voller Menschen. In der Vorhalle, im Innenhof, in den Zimmern, mit Ausnahme
des Abendmahlsaales und des Raumes, in dem sich die Jungfrau Maria aufhält,
herrscht die festliche und erregte Stimmung eines Ortes, an dem man sich nach
langer Zeit wieder zu einer Feier zusammenfindet. Ich sehe die Apostel, außer
Thomas, die Hirten und die treuen Frauen; mit Johanna sind auch Nike, Elisa,
Syra, Marcella und Anna gekommen. Alle sprechen mit leiser Stimme, aber
offensichtlich in freudiger Erregung. Das ganze Haus ist fest verschlossen,
fast als hätten sie Angst; aber die Angst vor dem, was draußen ist, schmälert
nicht die Freude im Innern.
Martha kommt und geht mit
Marcella und Susanna und bereitet die Abendmahlzeit für die «Diener des
Herrn», wie sie die Apostel nennt. Die anderen beratschlagen sich und
vertrauen sich gegenseitig ihre Eindrücke, Freuden und Ängste an... Wie ebenso
viele Kinder, die auf etwas warten, das sie elektrisiert und gleichzeitig auch
ein wenig verängstigt.
Die Apostel möchten als die
Ruhigsten erscheinen. Aber sie sind die ersten, die aufschrecken, wenn ein
Geräusch einem Klopfen am Tor oder dem Öffnen eines Fensters ähnelt. Und als
Susanna mit zwei mehrflammigen Leuchtern hereinkommt, um Martha zu helfen, die
nach Wäsche sucht, macht Matthäus einen Sprung zurück und schreit: «Der
Herr!»Dies veranlaßt Petrus, der offensichtlich der Aufgeregteste von allen
ist, auf die Knie zu fallen.
Ein lautes Klopfen am Tor läßt
jedes Wort unvermittelt verstummen. Sicher schlagen jetzt alle Herzen wie
rasend.
Sie schauen zum Fensterchen
hinaus und öffnen mit einem überraschten «Oh!», als sie die nicht erwartete
Gruppe der römischen Damen in Begleitung des Longinus und eines anderen, der
wie Longinus dunkel gekleidet ist, sehen. Die Damen sind ebenfalls alle in
dunkle Mäntel gehüllt, die auch den Kopf bedecken. Sie haben alle
Schmuckstücke abgelegt, um weniger aufzufallen.
«Dürfen wir einen Augenblick
hereinkommen, um der Mutter des Erlösers unsere Freude auszudrücken?» fragt
Plautina, die alle besonders ehrerbietig grüßen.
«Kommt nur. Sie ist dort drüben.»
Die ganze Gruppe geht zusammen
mit Johanna und Maria von Magdala, die sie meines Erachtens gut kennen,
hinüber.
Longinus und der andere Römer
bleiben allein in einer Ecke der Vorhalle zurück, denn sie werden etwas schief
angesehen.
Die Frauen grüßen mit ihrem:
«Ave, Domina!» und knien dann nieder mit den Worten: «Zuvor haben wir die
Weisheit bewundert, aber nun wollen wir Kinder des Christus sein. Und wir
sagen es dir, denn du allein
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kannst das hebräische Mißtrauen
gegen uns besiegen. Zu dir kommen wir, um belehrt zu werden, bis diese (dabei
zeigt sie auf die an der Tür stehenden Apostel) erlauben, daß wir uns zu Jesus
gehörig nennen.» Es ist Plautina, die für alle gesprochen hat.
Maria lächelt selig und sagt:
«Ich bitte den Herrn, meine Lippen zu reinigen, wie er es bei dem Propheten
getan hat, damit ich würdig von meinem Herrn sprechen kann. Seid gesegnet, ihr
Erstlinge Roms!»
«Auch Longinus möchte... und der
Soldat, der in seinem Herzen ein Feuer verspürt hat, als... sich Erde und
Himmel geöffnet haben beim Aufschrei Gottes. Und wenn wir nur sehr wenig
wissen... so wissen sie gar nichts. Sie wissen nur, daß er der Heilige Gottes
war und daß sie nicht mehr länger im Irrtum verbleiben wollen.»
«Sage ihnen, sie sollen zu den
Aposteln gehen.»
«Sie sind schon da. Aber die
Apostel mißtrauen ihnen.»
Maria steht auf und geht auf die
Soldaten zu.
Die Apostel sehen ihr nach und
versuchen, ihre Absicht zu erraten.
«Gott möge euch zu seinem Licht
führen, Söhne! Kommt und lernt die Diener Gottes kennen. Dieser hier ist
Johannes. Ihr kennt ihn. Dieser ist Simon Petrus, den mein Sohn und Herr zum
Oberhaupt der Brüder ernannt hat. Diese hier sind Jakobus und Judas, die
Vettern des Herrn. Dieser hier ist Simon, und dieser Andreas, der Bruder des
Petrus. Dieser ist Jakobus, der Bruder des Johannes. Und diese sind Philippus,
Bartholomäus und Matthäus. Thomas fehlt. Er ist noch unterwegs. Doch ich nenne
ihn, als ob er anwesend wäre. Dies sind die zu einer besonderen Aufgabe
Auserwählten. Aber jene, die so demütig im Schatten stehen, sind die ersten im
Heroismus der Liebe. Seit mehr als dreißig Jahren predigen sie Christus. Weder
die selbst erlittenen Verfolgungen noch die Verurteilung des Unschuldigen
konnten ihren Glauben beeinträchtigen. Sie sind Fischer und Hirten, und ihr
seid Patrizier. Doch im Namen Jesu gibt es keine Unterschiede mehr. Die Liebe
in Christus macht alle gleich und zu Brüdern. Und meine Liebe nennt euch
Kinder, auch euch, die ihr einer anderen Nation angehört. Ja, ich sage euch,
ich finde euch wieder, nachdem ich euch verloren hatte; denn im Augenblick des
Schmerzes, als er starb, wart ihr zugegen. Und ich vergesse dein Mitleid
nicht, Longinus. Und auch nicht deine Worte, Soldat! Es sah aus, als sei ich
tot. Aber ich habe alles gesehen. Ich habe nichts, um euch zu belohnen. Und in
Wahrheit gibt es für heilige Dinge keine Münze, sondern nur Liebe und Gebet.
Und dies werde ich euch schenken und unseren Herrn Jesus bitten, euch alles zu
vergelten.»
«Wir sind belohnt, Domina.
Deshalb haben wir es auch alle zusammen gewagt, hierher zu kommen. Ein
gemeinsamer Impuls hat uns zusammengeführt, und der Glaube beginnt schon,
seine Bande von Herz zu Herz zu schlingen...» sagt Longinus.
Alle nähern sich neugierig, und
einer überwindet die Zurückhaltung
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und vielleicht auch den Abscheu
vor einer Berührung mit den Heiden und fragt: «Was ist euch geschehen?»
«Ich habe eine Stimme... die
seine, gehört... Sie sagte: "Komm zu mir"», erklärt Longinus.
«Und ich habe gehört: "Wenn du
mich heilig glaubst, dann glaube an mich"», sagt der andere Soldat.
«Und wir», sagt Plautina, «haben
heute morgen, als wir von ihm redeten, ein Licht gesehen! Ein Licht, das zu
einem Antlitz wurde. Oh, beschreibe du seine Schönheit. Es war sein Antlitz.
Und es lächelte uns so sanft zu, daß wir nur noch eines wollten: zu euch
kommen und euch bitten: "Weist uns nicht ab."»
Stimmengewirr und Bemerkungen
erfüllen den Raum. Alle reden und wiederholen, wie sie ihn gesehen haben.
Die zehn Apostel schweigen
beschämt. Um sich nicht bloßzustellen und nicht als die einzigen zu
erscheinen, die ohne seinen Gruß geblieben sind, fragen sie die hebräischen
Frauen, ob sie kein österliches Geschenk von ihm erhalten haben.
Elisa sagt: «Er hat mir den
Schmerz über meinen toten Sohn genommen.»
Und Anna: «Ich habe gespürt, daß
er mir das ewige Heil für die Meinen versprochen hat.»
Und Syra: «Ich eine Liebkosung.»
Und Marcella: «Ich habe einen
Blitz gesehen und seine Stimme gehört, die sagte: "Harre aus."»
«Und du, Nike?» fragen alle, da
sie schweigt.
«Oh, sie hat schon genug
erhalten», antworten andere.
«Nein. Ich habe sein Antlitz
gesehen, und er hat zu mir gesagt: "Damit es sich deinem Herzen einprägen
möge." Wie schön war er doch!»
Martha kommt und geht, schweigend
und geschäftig.
«Und du, Schwester? Für dich
nichts? Du schweigst und lächelst. Und so glücklich ist dein Lächeln, daß auch
du deine Freude erlebt haben mußt», sagt Magdalena.
«Es ist wahr. Du hältst die Lider
gesenkt und dein Mund schweigt; doch deine Augen leuchten unter dem Schleier
der Wimpern, als würdest du ein Liebeslied singen.»
«So sprich doch! Mutter, hat sie
dir etwas gesagt?»
Die Mutter lächelt und schweigt.
Martha, die damit beschäftigt
ist, den Tisch zu decken, möchte einen Schleier über ihr süßes Geheimnis
breiten, aber die Schwester gibt nicht nach. Und schließlich sagt Martha selig
und errötend: «Er hat sich mit mir verabredet für die Todesstunde und die
vollkommene Vermählung...»und ihr Gesicht entzündet sich in einem noch
tieferen Rot und einem Lächeln der Seele.
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689. JESUS ERSCHEINT DEN ZEHN
APOSTELN
Sie sind im Abendmahlsaal
versammelt. Es muß schon sehr spät sein, denn kein Laut dringt mehr herein von
der Straße oder aus dem Haus. Ich denke, auch die zuvor Gekommenen haben sich,
müde von so viel Aufregung, in ihre eigenen Häuser oder zum Schlafen
zurückgezogen.
Die Zehn hingegen sitzen und
reden im Licht eines einzigen Flämmchens der Lampe, das sich dem Tisch am
nächsten befindet. Vorher haben sie offensichtlich Fisch gegessen, denn auf
einem Tablett auf der Anrichte liegt der eine oder andere übriggebliebene. Die
Apostel sitzen noch am Tisch, und die Unterhaltung stockt immer wieder.
Eigentlich sind es eher Monologe, die sie führen, denn es scheint, daß jeder
mehr mit sich selbst als mit den Gefährten spricht. Und die übrigen lassen ihn
reden, selbst wenn sie ihrerseits von etwas ganz anderem sprechen. Trotzdem
sind diese unzusammenhängenden Gesprächsfetzen, die mich an die Speichen eines
zerbrochenen Rades erinnern, doch alle Teil eines einzigen Themas, drehen sich
alle um dasselbe, nämlich Jesus.
«Ich hoffe nicht, daß Lazarus
nicht richtig gehört hat und die Frauen besser als er verstanden haben...»
sagt Judas des Alphäus.
«Zu welcher Stunde will ihn die
Römerin gesehen haben?» fragt Matthäus.
Niemand gibt Antwort.
«Morgen gehe ich nach
Kapharnaum», sagt Andreas.
«Es war ein Fehler, Petrus, daß
wir heute früh gleich weggegangen sind... Wären wir geblieben, hätten wir ihn
gesehen wie Magdalena...»seufzt Johannes.
«Ich verstehe nicht, wie er zur
selben Zeit in Emmaus und im Palast sein konnte. Und zugleich hier bei der
Mutter und bei Magdalena und bei Johanna ...» sagt Jakobus des Zebedäus zu
sich selbst.
«Er wird nicht kommen. Ich habe
nicht genügend geweint, um es zu verdienen... Er hat recht. Ich meine, er wird
mich drei Tage lang warten lassen, weil ich ihn dreimal verleugnet habe. Wie,
wie konnte ich so etwas nur tun?»
«Wie verklärt Lazarus war. Ich
sage euch, er glich einer Sonne. Es muß ihm ergangen sein wie Moses, nachdem
er Gott geschaut hatte. Und gleich nachdem er sein Leben angeboten hatte,
nicht wahr, ihr, die ihr dabeigewesen seid?» sagt der Zelote.
Niemand hört ihm zu.
Jakobus des Alphäus wendet sich
an Johannes und sagt: «Wie hat er denen von Emmaus gesagt? Mir scheint, er hat
uns entschuldigt, nicht wahr? Hat er nicht gesagt, daß alles so gekommen ist,
weil wir als Israeliten eine falsche Vorstellung von seinem Reich haben?»
Johannes achtet nicht auf ihn. Er
dreht sich um, schaut Philippus an,
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sagt... aber er redet nicht mit
Philippus: «Mir genügt zu wissen, daß er auferstanden ist. Und dann... dann
möge meine Liebe beständig wachsen. Es ist doch klar! Wenn man es genau
betrachtet, so ist er im Verhältnis zur Liebe, die wir ihm bezeigt haben,
erschienen: der Mutter, Maria Magdalena, den Kindern, meiner und deiner
Mutter, und dann Lazarus und Martha... Wann wohl Martha? Ich meine, als sie
den Psalm Davids angestimmt hat: "Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir
mangeln. Er weidet mich auf grüner Au, er führet mich zu reichen Wassern. Er
hat meine Seele zu sich gerufen..." Erinnert ihr euch, wie überrascht wir
waren über diesen unerwarteten Gesang? Und die Worte: "Er hat meine Seele zu
sich gerufen" haben einen Zusammenhang mit dem, was sie uns gesagt hat. Martha
scheint ihren Weg tatsächlich wieder gefunden zu haben... Zuerst war sie
verwirrt, sie, die Starke! Vielleicht hat er ihr bei dieser Berufung auch den
Ort genannt, wo er sie haben will. Ganz gewiß sogar. Denn wenn er mit ihr eine
Verabredung getroffen hat, muß er wissen, wo sie sein wird. Was hat er wohl
gemeint mit den Worten: "Vollkommene Vermählung"?»
Philippus, der Johannes zuerst
kurz angeschaut, dann aber das Selbstgespräch nicht weiter verfolgt hat,
seufzt: «Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll, wenn er kommt... Ich bin
geflohen... und ich fürchte, daß ich wieder fliehen werde. Das erste Mal aus
Furcht vor den Menschen. Diesmal aus Furcht vor ihm.»
«Alle sagen: "Er ist
wunderschön." Kann er denn schöner sein, als er schon war?» fragt sich
Bartholomäus.
«Ich werde ihm sagen: "Du hast
mir schweigend verziehen, als ich ein Zöllner war. Verzeihe mir auch jetzt mit
deinem Schweigen, denn meine Feigheit verdient dein Wort nicht"», sagt
Matthäus.
«Longinus sagt, daß er gedacht
hat: "Soll ich ihn um Heilung oder um den Glauben bitten?" Dann hat ihm sein
Herz gesagt: "Um den Glauben" und danach die Stimme: "Komm zu mir." Und er
fühlte gleichzeitig den Willen zu glauben und auch die Heilung. Genau das hat
er mir gesagt», erklärt Judas des Alphäus.
«Ich muß immer noch daran denken,
daß Lazarus sofort für sein Angebot belohnt worden ist... Auch ich habe
gesagt: "Ich will mein Leben geben zu deiner Ehre", aber er ist nicht
gekommen», seufzt der Zelote.
«Was meinst du, Simon? Du bist
gebildet, sage mir: Was soll ich ihm sagen, damit er versteht, daß ich ihn
liebe und ihn um Verzeihung bitte? Und du, Johannes? Du hast viel mit der
Mutter gesprochen. Helft mir! Habt doch Mitleid, und laßt den armen Petrus
nicht allein!»
Johannes fühlt Mitleid mit dem
betrübten Gefährten und sagt: «Ich... ich würde ganz einfach zu ihm sagen:
"Ich liebe dich." In der Liebe sind auch die Bitte um Verzeihung und die Reue
enthalten. Aber... ich weiß nicht. Simon, was meinst du?»
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Und der Zelote: «Ich würde das
sagen, was man bei den Wundern rief: "Jesus, erbarme dich meiner." Oder
einfach: "Jesus." Denn er ist viel mehr als der Sohn Davids!»
«Genau das ist es, was ich denke
und was mich erzittern läßt. Oh, ich werde mein Haupt verhüllen... Auch heute
morgen hatte ich Angst, ihn zu sehen, und...»
«... Und dann bist du als erster
hineingegangen. Aber sei doch nicht so furchtsam! Man könnte glauben, du
kennst ihn nicht!» ermutigt ihn Johannes.
Das Zimmer erhellt sich ganz
plötzlich, wie durch einen blendenden Blitz. Die Apostel verhüllen ihr Gesicht
aus Furcht vor einem Einschlag. Aber sie hören keinen Lärm und blicken wieder
auf.
Jesus steht mitten im Raum neben
dem Tisch. Er breitet die Arme aus und sagt: «Der Friede sei mit euch.»
Niemand antwortet. Die einen sind
blaß, die anderen rot im Gesicht, und alle schauen ihn ängstlich und befangen
an, hingerissen und doch versucht zu fliehen.
Jesus macht einen Schritt
vorwärts und lächelt noch mehr: «Aber fürchtet euch doch nicht! Ich bin es.
Warum seid ihr so verwirrt? Habt ihr mich denn nicht herbeigewünscht? Habe ich
euch denn nicht ausrichten lassen, daß ich kommen würde? Habe ich es euch
nicht schon am Abend des Passahmahls gesagt?»
Keiner getraut sich, den Mund
aufzumachen. Petrus weint schon, und Johannes lächelt schon, während die
beiden Vettern mit ihren leuchtenden Augen und den sich stumm bewegenden
Lippen Statuen gleichen, die die Sehnsucht darstellen.
«Warum habt ihr in euren Herzen
so widersprüchliche Gefühle wie Liebe und Angst, Zweifel und Glauben? Warum
wollt ihr immer noch Fleisch und nicht Geist sein und nicht nur mit diesem
sehen, verstehen, urteilen und handeln? Ist denn im Feuer der Schmerzen nicht
das alte Ich verbrannt und das neue Ich eines neuen Lebens erstanden? Ich bin
Jesus. Euer auferstandener Jesus, wie ich euch vorausgesagt habe. Schaut! Du,
der du meine Wunden gesehen hast, und ihr, die ihr nichts von meinen Qualen
wißt; denn das, was ihr gehört habt, unterscheidet sich sehr von der genauen
Kenntnis, die Johannes davon hat. Komm also du zuerst. Du bist schon ganz
rein. So rein, daß du mich ohne Scheu berühren kannst. Die Liebe, der Gehorsam
und die Treue hatten dich schon rein gemacht. Das Blut, das dich benetzte, als
du mich vom Kreuz abnahmst, hat dich vollends gereinigt. Sieh her! Es sind
wahre Hände und wahre Wunden. Betrachte meine Füße. Siehst du die Male der
Nägel? Ja, ich bin es wirklich, und kein Geist. Faßt mich an! Geister haben
keinen Körper. Ich habe richtiges Fleisch auf einem echten Skelett.» Jesus
legt die Hand auf das Haupt des Johannes, der gewagt hat, sich ihm zu nähern:
«Fühlst du? Sie
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ist warm und schwer!» Er haucht
ihm ins Gesicht: «Und dies ist mein Atem.»
«O mein Herr!» flüstert Johannes
ganz leise...
«Ja, euer Herr. Johannes, weine
nicht aus Furcht und Sehnsucht. Komm zu mir. Ich bin immer noch der, der dich
liebt. Wir wollen uns wie immer zu Tisch setzen. Habt ihr nichts mehr zu
essen? Bringt es mir!»
Andreas und Matthäus gehen wie
zwei Nachtwandler zur Anrichte und holen das Brot, den Fisch und ein Tablett
mit einer Honigwabe, von der nur eine kleine Ecke fehlt.
Jesus segnet die Speisen, ißt und
gibt jedem etwas von dem, was er ißt. Er sieht sie an. So gütig, aber auch mit
solcher Majestät, daß alle wie gelähmt sind.
Jakobus, der Bruder des Johannes,
wagt als erster zu sprechen: «Warum schaust du uns so an?»
«Weil ich euch kennenlernen
will.»
«Kennst du uns denn noch nicht?»
«So wie ihr mich auch nicht
kennt. Wenn ihr mich kennen würdet, dann würdet ihr wissen, wer ich bin und
wie ich euch liebe, und ihr würdet die Worte finden, um mir eure Not zu
klagen. Ihr schweigt aber wie vor einem mächtigen Fremden, den ihr fürchtet.
Eben habt ihr noch gesprochen... Seit fast vier Tagen führt ihr schon
Selbstgespräche und sagt: "Ich werde ihm dies und jenes sagen..." Ihr habt
meinen Geist gerufen: "Komm zurück, Herr, damit ich dir dies sagen kann." Nun
bin ich gekommen, und ihr schweigt. Bin ich denn so verändert, daß ich euch
fremd erscheine? Oder seid ihr so verändert, daß ihr mich nicht mehr liebt?»
Johannes, der wie üblich neben
seinem Jesus sitzt und den Kopf an seine Brust lehnt, flüstert: «Ich liebe
dich, mein Gott!» Doch dann richtet er sich auf, erlaubt sich diese
Vertraulichkeit nicht länger aus Ehrfurcht vor dem strahlenden Sohn Gottes.
Denn von Jesus scheint Licht auszugehen, obgleich er einen Körper hat wie wir.
Jesus aber zieht Johannes an seine Brust, und dieser öffnet seinen seligen
Tränen alle Schleusen.
Dies ist für alle das Zeichen, es
ihm nachzutun.
Petrus, der zwei Plätze von
Johannes entfernt sitzt, rutscht zwischen den Tisch und den Sitz auf den Boden
und ruft weinend aus: «Verzeihung, Verzeihung! Entreiße mich dieser Hölle, in
der ich mich seit so vielen Stunden befinde. Sage mir, daß du meinen Fehler so
gesehen hast, wie er war. Es war nicht der Geist, sondern das Fleisch, das
mein Herz überwältigt hat. Sage mir, daß du meine Reue gesehen hast... Sie
wird bis zu meinem Tod andauern. Aber du... du sage mir, daß ich dich als
Jesus nicht zu fürchten brauche... und ich, und ich... ich will mich bemühen,
alles so gut zu machen, daß mir auch Gott verzeihen kann... und ich bei meinem
Tod nur ein schweres Fegfeuer zu erwarten habe ...»
«Komm her, Simon des Jonas.»
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«Ich habe Angst!»
«Komm her und sei nicht länger
feige.»
«Ich bin nicht würdig, in deine
Nähe zu kommen!»
«Komm her! Was hat die Mutter dir
gesagt? "Wenn du ihn nicht auf diesem Schweißtuch ansiehst, wirst du nie mehr
den Mut haben, ihn anzusehen." O törichter Mensch! Hat dir dieses Antlitz mit
seinem schmerzerfüllten Blick nicht gesagt, daß ich dich verstanden und dir
verziehen habe? Und ich habe euch dieses Linnen doch zum Trost und zur Führung
gegeben, um meine Verzeihung und meinen Segen mitzuteilen... Was hat Satan
euch angetan, daß ihr so blind geworden seid? Nun sage ich dir: Wenn du mich
jetzt nicht anschaust, da ich über meine Herrlichkeit um eurer Schwäche willen
noch einen Schleier breite, dann wirst du niemals ohne Furcht vor deinen Herrn
treten können. Und was wird dir dann geschehen? Aus Anmaßung hast du
gesündigt. Willst du nun aus Starrköpfigkeit noch einmal sündigen? Komm, sage
ich dir.»
Petrus rutscht auf den Knien
zwischen dem Tisch und den Sitzen und bedeckt sein tränennasses Gesicht mit
den Händen. Als er zu Füßen Jesu anhält, legt dieser ihm die Hand aufs Haupt.
Und Petrus ergreift diese Hand, küßt sie und schluchzt dabei hemmungslos. Er
kann nur immer wieder bitten: «Verzeihung! Verzeihung!»
Jesus befreit sich aus dieser
Klammer, legt seine Hand unter das Kinn des Apostels und zwingt ihn, den Kopf
zu erheben. Er schaut mit seinen leuchtenden, gütigen Augen in die geröteten,
brennenden, von Reue gequälten Augen, und es scheint, als wolle er mit diesem
Blick die Seele des Petrus durchbohren. Dann sagt er: «Nimm die Schmach des
Judas von mir. Küsse mich, wo er mich geküßt hat. Wasche mit deinem Kuß das
Mal des Verrats ab.»
Petrus hebt das Haupt, während
Jesus sich noch tiefer beugt, und berührt mit den Lippen die Wange... Dann
legt er seinen Kopf auf Jesu Knie und bleibt so... wie ein großes Kind, das
böse gewesen ist und dem man verziehen hat.
Erst jetzt, nachdem sie die Güte
ihres Jesus gesehen haben, bekommen auch die anderen etwas Mut und nähern sich
soweit möglich.
Zuerst kommen die Vettern... Sie
möchten so viel sagen und bringen kein Wort heraus. Jesus liebkost sie und
ermutigt sie mit seinem Lächeln.
Dann kommt Matthäus mit Andreas.
Matthäus sagt: «Wie in Kapharnaum...» und Andreas: «Ich, ich... ich liebe dich
...»
Dann kommt Bartholomäus, der
seufzt: «Ich bin nicht weise gewesen, sondern töricht. Dieser ist weise», und
er zeigt auf den Zeloten, dem Jesus bereits zulächelt.
Jakobus des Zebedäus kommt und
flüstert Johannes zu: «Sage du es ihm ...» und Jesus wendet sich um und sagt:
«Seit vier Tagen sagst du es, und ebensolange habe ich Mitleid mit dir.»
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Philippus kommt als letzter und
ganz gebeugt, aber Jesus zwingt ihn, das Haupt zu erheben, und sagt zu ihm:
«Um Christus zu predigen, braucht es größeren Mut.»
Nun sind alle um Jesus
versammelt. Langsam, langsam werden sie selbstsicherer. Sie finden wieder, was
sie verloren haben oder für immer verloren zu haben fürchteten. Das Vertrauen,
die Ruhe kehren zurück, und obwohl Jesus seinen Aposteln durch seine Majestät
einen neuartigen Respekt einflößt, finden sie endlich den Mut zu sprechen.
Der Vetter Jakobus seufzt: «Warum
hast du uns dies angetan, Herr? Du hast doch gewußt, daß wir nichts sind und
daß alles von Gott kommt. Warum hast du uns nicht die Kraft gegeben, an deiner
Seite auszuharren?»
Jesus schaut ihn an und lächelt.
«Nun ist alles vorbei, und du
mußt nicht mehr leiden. Verlange aber nie mehr einen solchen Gehorsam von mir.
Ich bin jede Stunde um fünf Jahre älter geworden, und deine Leiden, die die
Liebe und Satan mir fünfmal so schlimm erscheinen ließen als sie es schon
waren, haben meine ganze Kraft verzehrt. Um weiterhin zu gehorchen, ist mir
nur geblieben, meine Kraft durch meinen Willen aufrechtzuerhalten, wie ein
Ertrinkender mit gebrochenen Händen sich mit den Zähnen an einem Brett
festbeißt, um nicht zu sterben... Oh, verlange solches nicht mehr von deinem
Aussätzigen!»
Jesus betrachtet Simon den
Zeloten und lächelt.
«Herr, du weißt, was mein Herz
wollte. Doch dann habe ich keinen Mut, kein Herz mehr gehabt... als ob die
Henkersknechte, die dich gefangengenommen haben, es mir geraubt hätten... Es
ist nur ein Loch geblieben, durch das alle gefaßten Vorsätze entflohen sind.
Warum hast du dies zugelassen, Herr?» fragt Andreas.
«Ich... Du sprichst vom Herzen?
Ich sage, daß ich von Sinnen war. Als ob mir jemand einen Keulenschlag in den
Nacken versetzt hätte. Als ich mich in der Nacht in Jericho wiederfand... Oh,
Gott! Mein Gott... ! Wie kann ein Mensch sich so verlieren? Ich glaube, daß
die Besessenheit so sein muß. Nun verstehe ich, wie furchtbar sie ist... !»
Philippus schließt die Augen bei dieser Erinnerung an seine Qual.
«Philippus hat recht. Ich habe
zurückgeblickt. Ich bin alt und nicht arm an Wissen. Aber ich wußte nichts
mehr von dem, was ich bis zu dieser Stunde gewußt hatte. Ich sah Lazarus an,
der so betrübt, aber so sicher war, und fragte mich: "Wie ist es möglich, daß
er noch eine Erklärung findet und ich nicht?"» sagt Bartholomäus.
«Auch ich habe Lazarus
betrachtet. Und da ich kaum weiß, was du uns erklärt hast, dachte ich nicht an
das Wissen, sondern sagte mir. "Wenn ich ihm wenigstens im Herzen gleich
wäre!" Stattdessen habe ich nur Schmerz, Schmerz und wieder Schmerz empfunden.
Lazarus hatte Schmerz und Frieden... Warum hatte er einen solchen Frieden?»
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Jesus schaut der Reihe nach
zuerst Philippus, dann Bartholomäus und zuletzt Jakobus des Zebedäus an. Er
lächelt und schweigt.
Judas Thaddäus sagt: «Ich habe
gehofft, einmal das zu sehen, was Lazarus gewiß sah. Daher bin ich immer in
seiner Nähe geblieben... Sein Gesicht... ! Ein Spiegel. Kurz vor dem Erdbeben
am Freitag glich er einem, der elend stirbt. Dann wurde er auf einmal
majestätisch in seinem Schmerz. Erinnert ihr euch noch an seine Worte:
"Erfüllte Pflicht schenkt Frieden"? Wir alle haben geglaubt, dies sei nur ein
Tadel für uns oder ein Selbstlob. Nun denke ich, daß es dir gegolten hat.
Lazarus war ein Leuchtturm in unserer Finsternis. Wieviel hast du ihm gegeben,
Herr!»
Jesus lächelt und schweigt.
«Ja, das Leben. Und vielleicht
hast du ihm gleichzeitig auch eine neue Seele geschenkt. Denn schließlich,
worin unterscheidet er sich von uns? Und doch ist er kein gewöhnlicher Mensch
mehr. Er ist schon etwas mehr als ein Mensch, und nach dem, was er in der
Vergangenheit gewesen ist, hätte er im Geist weniger vollkommen sein müssen
als wir. Und was ist aus ihm geworden. Aber wir... Herr, meine Liebe ist leer
gewesen wie manche Ähren. Nur Spreu habe ich gegeben», sagt Andreas.
Und Matthäus: «Ich darf um nichts
bitten, denn ich habe durch meine Bekehrung schon so viel erhalten. Und doch!
Auch ich hätte mir eine Seele wie Lazarus gewünscht. Eine von dir geschenkte
Seele. Denn auch ich denke wie Andreas...»
«Auch Magdalena und Martha sind
Wegweiser gewesen. Es wird wohl die Familie sein. Ihr habt sie nicht gesehen.
Die eine war Erbarmen und Schweigen. Und die andere! Oh, wenn wir alle eng um
die Gesegnete vereint waren, dann nur, weil Maria von Magdala uns durch die
Flammen ihrer mutigen Liebe zusammengehalten hat. Ja. Ich habe gesagt: die
Familie. Ich hätte sagen sollen: die Liebe. Sie haben uns in der Liebe
übertroffen. Deshalb sind sie gewesen, was sie waren...» sagt Johannes.
Jesus lächelt und schweigt immer
noch.
«Sie sind aber auch sehr dafür
belohnt worden...»
«Du bist ihnen erschienen.»
«Allen dreien.»
«Maria gleich nach deiner
Mutter...»
Bei den Aposteln ist ein Bedauern
über diese Bevorzugung unverkennbar.
«Maria weiß schon seit vielen
Stunden, daß du auferstanden bist. Und wir dürfen dich erst jetzt sehen ...»
«In ihnen war kein Zweifel mehr.
In uns hingegen... Erst jetzt fühlen wir, daß nicht alles zu Ende ist. Warum
hast du dich ihnen gezeigt, Herr, wenn du uns noch liebst und uns nicht
verstößt?» fragt Judas des Alphäus.
«Ja, warum den Frauen, und
besonders Maria? Du hast sie sogar an der
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Stirn berührt, und sie sagt, es
scheine ihr, sie trage nun einen ewigen Kranz. Und uns, deinen Aposteln,
nichts...»
Jesus lächelt nicht mehr. Sein
Antlitz ist nicht streng, aber das Lächeln ist verschwunden. Er schaut Petrus,
der nach und nach seine Furcht verliert, wieder mutig wird und zuletzt
gesprochen hat, ernst an und sagt: «Ich hatte zwölf Apostel, und ich liebte
sie aus ganzem Herzen. Ich hatte sie auserwählt und wie eine Mutter ihr
Heranwachsen in meinem Leben umsorgt. Ich hatte keine Geheimnisse vor ihnen.
Alles habe ich ihnen gesagt, alles erklärt, alles verziehen. Die
Menschlichkeit, die Unbesonnenheit, die Halsstarrigkeit... alles. Und ich
hatte Jünger. Reiche und arme Jünger. Ich hatte Frauen mit dunkler
Vergangenheit und mit schwacher Gesundheit. Aber meine Bevorzugten waren die
Apostel.
Dann ist meine Stunde gekommen.
Einer hat mich verraten und den Henkern ausgeliefert. Drei haben geschlafen,
während ich Blut geschwitzt habe. Alle, bis auf zwei, sind aus Feigheit
geflohen. Einer hat mich aus Furcht verleugnet, obwohl er das Beispiel des
jüngeren, treueren vor Augen hatte. Und als ob das noch nicht genug wäre, habe
ich unter den Zwölfen einen gehabt, der in seiner Verzweiflung Selbstmord
begangen hat, und einen, der so sehr an meiner Vergebung gezweifelt hat, daß
ihn die Mutter nur mit Mühe von der Barmherzigkeit Gottes überzeugen konnte.
Hätte ich also diese meine Schar betrachtet, hätte ich sie mit menschlichen
Augen betrachtet, dann hätte ich sagen müssen: "Außer Johannes, der aus Liebe,
und Simon, der aus Gehorsam treu ist, habe ich keine Apostel mehr." Dasselbe
hätte ich sagen müssen, als ich im Vorhof des Tempels, im Prätorium und auf
dem Kreuzweg litt.
Ich hatte Frauen... Und eine, die
sündhafteste in der Vergangenheit, war, wie Johannes gesagt hat, die Flamme,
die die zerrissenen Fasern der Herzen zusammengeschweißt hat. Diese Frau ist
Maria von Magdala. Du hast mich verleugnet und bist geflohen. Sie hat dem Tod
getrotzt und ist in meiner Nähe geblieben. Angegriffen und beleidigt, hat sie
ihr Gesicht gezeigt und ist bereit gewesen, sich anspeien zu lassen und
Backenstreiche zu ertragen, um dadurch ihrem gekreuzigten König ähnlicher zu
werden. Im Grunde der Herzen verspottet wegen ihres unerschütterlichen
Glaubens an meine Auferstehung, hat sie es verstanden, weiterhin zu glauben.
Obgleich zutiefst betrübt, hat sie gehandelt. Trotz ihrer großen
Niedergeschlagenheit hat sie heute morgen gesagt: "Auf alles will ich
verzichten, aber gebt mir meinen Meister." Kannst du da noch zu fragen wagen:
"Warum gerade ihr?"
Ich hatte arme Jünger: Hirten.
Ich war nur selten bei ihnen, und doch, wie bekannten sie mich durch ihre
Treue!
Ich hatte Jüngerinnen, schüchtern
wie alle Hebräerinnen. Und doch haben sie ihre Häuser verlassen und sich in
die Sturmflut des Volkes, das mir fluchte, begeben, um mir den Trost zu
schenken, den meine Apostel mir versagt haben.
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Ich hatte Heidinnen, die den
"Philosophen" bewunderten. Denn in ihren Augen war ich ein Philosoph. Doch sie
ließen sich herab zu hebräischen Bräuchen, die mächtigen Römerinnen, um mir in
der Stunde, da mich die undankbare Welt verlassen hatte, zu sagen: "Wir sind
dir Freundinnen."
Mein Gesicht war von Speichel und
Blut bedeckt. Tränen und Schweiß tropften auf die Wunden. Schmutz und Staub
bildeten darauf eine Kruste. Welche Hand hat sie mir abgewischt? Deine? Oder
deine? Oder deine? Keine eurer Hände. Dieser hier war bei der Mutter. Jener
suchte die verirrten Schafe. Euch. Und da meine Schafe sich verirrt hatten,
wie hätten sie mir helfen können? Du hast dein Gesicht verborgen aus Furcht
vor der Verachtung der Welt, während deinen Meister die Verachtung der ganzen
Welt traf. Ihn, der unschuldig war.
Ich hatte Durst. Ja, auch dies
sollst du wissen. Ich starb vor Durst und wurde von Schmerzen und Fieber
gepeinigt. Schon im Gethsemane war mein Blut geflossen, vor Schmerz, verraten,
verlassen, verleugnet, geschlagen zu sein, überflutet von der unendlichen
Schuld und ausgeliefert dem Zorn Gottes. Und auch im Prätorium ist es
geflossen... Und wer wollte meine ausgetrockneten Lippen mit einem Tropfen
Feuchtigkeit netzen? Eine israelitische Hand? Nein, das Mitleid eines Heiden.
Dieselbe Hand, die gemäß dem ewigen Ratschluß Gottes mir die Brust öffnete, um
zu zeigen, daß das Herz schon eine tödliche Wunde hatte, die Wunde, die der
Mangel an Liebe, die Feigheit und der Verrat geschlagen hatten. Ein Heide. Ich
erinnere euch an die Worte: "Ich war durstig, und du hast mich getränkt." Kein
einziger in ganz Israel hat meinen Durst gelöscht. Die Mutter und die treuen
Frauen nicht, weil es ihnen nicht möglich war, die anderen aus bösem Willen
nicht. Ein Heide hat für den Unbekannten das Mitleid empfunden, das mein Volk
mir verweigert hatte. Er wird im Himmel den mir angebotenen Schluck
wiederfinden.
Wahrlich, ich sage euch, wenn ich
auf jeglichen Trost verzichtet habe, da man als Sühnopfer sein Los nicht zu
mildern suchen soll, so wollte ich doch den Heiden nicht abweisen; denn in
seiner Hilfe fühlte ich die Süße der ganzen Liebe, die mir von den Heiden
entgegengebracht werden wird als Ausgleich für die Bitterkeit, die mir Israel
gegeben hat. Er hat meinen Durst nicht gestillt. Aber er hat die
Trostlosigkeit von mir genommen. Deshalb habe ich diesen unbeachteten Schluck
angenommen. Um den an mich zu ziehen, der sich schon dem Guten zugewandt
hatte. Der Vater möge ihn segnen für sein Erbarmen!
Ihr sagt nichts mehr? Warum fragt
ihr nicht noch einmal nach dem Grund, weshalb ich so gehandelt habe? Wagt ihr
nicht mehr zu fragen? Ich werde ihn euch sagen. Alles will ich euch sagen über
die Gründe dieser Stunde.
Wer seid ihr? Meine Nachfolger.
Ja. Ihr seid es trotz eurer Verwirrung.
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Was habt ihr zu tun? Ihr habt die
Welt zu Christus zu bekehren. Bekehren! Dies ist eine sehr heikle und
schwierige Arbeit, meine Freunde. Verachtung, Abscheu, Hochmut und
übertriebener Eifer sind dem Erfolg nicht dienlich. Und da nichts und niemand
euch zur Güte, zur Nachgiebigkeit und zur Barmherzigkeit gegenüber denen, die
noch im dunkeln sind, bewegen könnte, war es notwendig – versteht ihr? –
notwendig, daß euer Stolz als Hebräer, als Männer, als Apostel zerbrochen
wird, um Platz zu schaffen für die wahre Weisheit eurer Aufgabe, für die
Sanftmut, die Geduld, die Barmherzigkeit und die Liebe ohne Hochmut und
Abscheu.
Ihr seht, daß alle, die ihr
verächtlich oder mit stolzem Mitleid betrachtet habt, euch im Glauben und
Handeln übertroffen haben. Alle! Die einstige Sünderin und Lazarus, der trotz
seiner umfangreichen profanen Bildung der erste war, der in meinem Namen
verziehen und den Weg gewiesen hat. Die heidnischen Frauen und die schwache
Gattin des Chuza. Schwach? Wahrlich, sie übertrifft euch alle! Sie ist die
erste Märtyrerin meines Glaubens. Und die Soldaten Roms, die Hirten und der
Herodianer Manaen. Sogar Gamaliel, der Rabbi. Erschrick nicht, Johannes.
Glaubst du, mein Geist sei in der Finsternis gewesen? Alle. Und dies, damit
ihr morgen an euer Versagen denkt und euer Herz denen nicht verschließt, die
zum Kreuz kommen.
Ich sage es euch und weiß schon
jetzt, daß ihr es, obwohl ich es sage, dennoch erst tun werdet, wenn die Kraft
des Herrn euch wie Halme meinem Willen beugen wird, der darin besteht, auf der
ganzen Welt Christen zu haben. Ich habe den Tod besiegt. Doch er ist weniger
hartnäckig als das alte Hebräertum. Aber ich werde euch beugen.
Anstatt zu weinen und zu jammern,
Petrus, der du der Fels meiner Kirche sein sollst, präge dir diese bittere
Wahrheit in dein Herz ein. Die Myrrhe wird verwendet, um vor Verwesung zu
bewahren. Tränke dich also mit Myrrhe. Und solltest du einmal dein Herz und
die Kirche einem Andersgläubigen verschließen wollen, dann denke daran, daß
nicht Israel, nicht Israel, nicht Israel, sondern Rom mich verteidigt hat und
Mitleid walten lassen wollte. Vergiß nie, daß nicht du, sondern eine Sünderin
am Fuß des Kreuzes ausgeharrt hat und daß sie deshalb verdient hat, mich als
erste zu sehen. Und damit du nicht Tadel verdienst, ahme deinen Gott nach.
Öffne dein Herz und die Kirche und sage: "Ich, der arme Petrus, kann nicht
verachten, denn wenn ich verachte, wird Gott mich verachten, und mein Fehler
wird vor seinen Augen wiedererstehen." Wehe, wenn ich dich nicht so zerbrochen
hätte! Nicht Hirte, ein Wolf wärest du geworden!»
Jesus steht auf. In strahlender
Majestät.
«Meine Söhne. Ich werde noch zu
euch reden in der Zeit, da ich unter euch weile. Doch einstweilen spreche ich
euch los und verzeihe euch. Nach dieser Prüfung, die zwar demütigend und
grausam, aber auch heilsam und
73
notwendig war, erfülle euch der
Friede der Vergebung. Und mit diesem Frieden im Herzen werdet ihr wieder meine
treuen und starken Freunde sein. Der Vater hat mich in die Welt gesandt. Ich
sende euch in die Welt, damit ihr fortfahrt, meine Lehre zu verkünden. Elend
aller Art wird zu euch kommen und euch um Hilfe bitten. Seid gütig und denkt
an euer eigenes Elend, als ihr ohne euren Jesus wart. Seid erleuchtet, denn in
der Finsternis kann man nicht sehen. Seid rein, um Reinheit zu vermitteln.
Seid Liebe, um lieben zu können. Dann wird der kommen, der Licht, Reinheit und
Liebe ist. Inzwischen aber will ich euch auf euer Amt vorbereiten: Empfanget
den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden nachlaßt, denen sind sie
nachgelassen. Und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten. Eure
Erfahrung mache euch gerecht, damit ihr gerecht urteilt. Der Heilige Geist
heilige euch, damit ihr heiligt. Der aufrichtige Wille, eure Mängel zu
überwinden, lasse euch heroisch werden für das Leben, das euch erwartet. Was
noch zu sagen ist, werde ich euch sagen, wenn auch der Abwesende hier ist.
Betet für ihn. Bleibt in meinem Frieden und zweifelt nie an meiner Liebe.»
Und Jesus verschwindet so wie er
gekommen ist und hinterläßt einen leeren Platz zwischen Johannes und Petrus.
Er verschwindet in einem Aufleuchten, das alle zwingt, die Augen zu schließen,
so hell ist es.
Und als sie die geblendeten Augen
wieder öffnen, ist nur der Friede Jesu geblieben; eine Flamme, die brennt,
heilt und die Bitterkeit der Vergangenheit in einem einzigen Wunsch verzehrt:
dem Wunsch zu dienen.
690. DIE RÜCKKEHR DES THOMAS
Die zehn Apostel sind im Innenhof
des Abendmahlhauses. Sie reden miteinander, beten gemeinsam und reden dann
wieder.
Simon der Zelote sagt: «Ich bin
wirklich bekümmert über das Verschwinden des Thomas. Ich weiß nicht mehr, wo
ich ihn suchen soll.»
«Ich auch nicht», sagt Johannes.
«Bei den Verwandten ist er nicht.
Und auch sonst hat ihn niemand gesehen. Ob sie ihn gefangengenommen haben?»
«Wenn dem so wäre, hätte der
Meister nicht gesagt: "Das übrige werde ich euch sagen, wenn der Fehlende da
ist."»
«Das ist wahr. Ich will aber noch
nach Bethanien gehen. Vielleicht irrt er in den Bergen umher und wagt nicht,
sich sehen zu lassen.»
«Geh, geh, Simon. Du hast uns
alle zusammengeführt und... dadurch gerettet, denn du hast uns zu Lazarus
gebracht. Habt ihr gehört, was der Herr über Lazarus gesagt hat? Er hat
gesagt: "Der erste, der in meinem Namen verziehen und den Weg gewiesen hat."
Warum setzt er ihn nicht an die Stelle des Iskariot?» fragt Matthäus.
74
«Weil er dem vollkommenen Freund
sicher nicht den Platz des Verräters geben will», antwortet Philippus.
«Ich habe vor kurzem, als ich
über den Markt gegangen bin und mit den Fischhändlern gesprochen habe,
erfahren, daß... – ja, ich kann mich auf sie verlassen – daß die im Tempel
nicht wissen, was sie mit dem Leichnam des Judas anfangen sollen. Ich weiß
nicht, wer es gewesen ist, aber heute morgen, bei Sonnenaufgang, haben die
Tempelwachen im heiligen, abgegrenzten Bereich den stinkenden Körper gefunden,
noch mit dem Strick um den Hals. Ich denke, es waren Heiden, die ihn
abgenommen und dann, wer weiß wie, dort hineingeworfen haben», sagt Petrus.
«Mir dagegen hat man gestern
abend am Brunnen gesagt, das heißt, ich habe gehört, daß sie die Eingeweide
des Verräters am Abend an die Haustür des Annas geworfen haben. Gewiß waren es
Heiden, denn kein Hebräer hätte nach mehr als fünf Tagen diesen Leichnam
angerührt. Wer weiß, wie verfault er schon war!» sagt Jakobus des Alphäus.
«Oh, er war schon am Sabbat
schrecklich!» Johannes wird blaß, als er daran denkt.
«Aber wie ist er denn an diesen
Ort gekommen? Gehörte er zu seinem Besitz?»
«Wer hat je etwas Genaues von
Judas Iskariot erfahren? Erinnert ihr euch nicht, wie kompliziert und
verschlossen er war ... ?»
«Du kannst ruhig sagen: verlogen,
Bartholomäus. Er war nie aufrichtig. Drei Jahre lang war er bei uns, und wir,
die wir alles gemeinsam hatten, hatten ihm gegenüber immer das Gefühl, vor der
hohen Mauer einer Festung zu stehen.»
«Einer Festung? Oh, Simon! Eines
Irrgartens!» ruft Judas des Alphäus aus.
«Oh! Hört! Wir wollen nicht von
ihm sprechen. Ich habe das Gefühl, wir beschwören dadurch vielleicht seinen
Geist und er könnte kommen und unseren Frieden stören. Ich möchte die
Erinnerung an ihn in mir und in allen Herzen auslöschen, seien sie hebräisch
oder heidnisch. In den hebräischen, um nicht erröten zu müssen bei dem
Gedanken, daß unsere Rasse ein solches Ungeheuer hervorgebracht hat. In den
heidnischen, damit nicht einer von ihnen uns eines Tages sagen kann: "Einer
aus Israel war sein Verräter." Ich bin noch ein Jüngling und dürfte nicht vor
euch als erster reden. Ich bin der Letzte, und du, Petrus, bist der Erste. Und
hier sind der Zelote und Bartholomäus, beide gelehrt, und die Brüder des
Herrn. Aber, nun ja, ich würde gerne den zwölften Platz möglichst bald neu
besetzen, mit einem, der heilig ist. Denn solange dieser Platz in unserer
Gruppe leer ist, werde ich den Rachen der Hölle mit seinem Gestank unter uns
sehen. Und ich habe Angst, daß er uns verdirbt...»
«Aber nein, Johannes! Du bist
beeindruckt von der Abscheulichkeit seines Verbrechens und seines hängenden
Körpers ...»
75
«Nein, nein. Auch die Mutter hat
gesagt: "Ich habe Satan gesehen, als ich Judas Iskariot sah." Oh, laßt uns
bald einen Heiligen suchen, der diesen Platz einnehmen kann!»
«Höre, ich wähle keinen. Wenn er,
der Gott war, einen Iskariot gewählt hat, was würde dann wohl der arme Petrus
aussuchen?»
«Und doch wirst du es tun müssen
...»
«Nein, mein Lieber. Ich wähle
keinen. Ich werde den Herrn bitten. Petrus hat genug Fehler gemacht!»
«Um so vieles müssen wir ihn
bitten. Neulich am Abend ist uns nichts eingefallen. Aber wir müssen uns
unterweisen lassen. Denn... Wie sollen wir wissen, ob etwas Sünde ist oder
nicht? Seht ihr, wie der Herr über die Heiden so ganz anders spricht als wir
es tun? Seht ihr, wie er eher eine Feigheit und eine Verleugnung entschuldigt
als den Zweifel an der Möglichkeit seiner Vergebung? Oh, ich fürchte, große
Fehler zu begehen», sagt Jakobus des Alphäus untröstlich.
«Er hat uns wirklich vieles
gesagt. Und doch habe ich das Gefühl, nichts zu wissen. Seit einer Woche komme
ich mir vor wie ein Dummkopf», bekennt der andere Jakobus verzweifelt.
«Ich auch.»
«Ich auch.»
«Und ich auch.»
Alle empfinden dasselbe und
schauen einander erstaunt an. Sie treffen die nun schon zur Gewohnheit
gewordene Entscheidung: «Wir gehen zu Lazarus. Vielleicht finden wir dort den
Herrn... und Lazarus wird uns helfen.»
Man klopft ans Tor. Alle
schweigen und horchen. Dann folgt ein überraschtes «Oh!», als sie Elias
zusammen mit Thomas die Vorhalle betreten sehen. Es ist ein so veränderter
Thomas, daß er nicht mehr er selbst zu sein scheint.
Die Gefährten umringen ihn und
rufen ihm freudig zu: «Weißt du, daß er auferstanden und zu uns gekommen ist?
Er wartet nur auf dich, um wiederzukommen.»
«Ja, auch Elias hat es mir
gesagt. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube nur, was ich sehe. Und ich sehe,
daß für uns alles zu Ende ist. Ich sehe, daß wir alle zerstreut sind. Ich
sehe, daß es nicht einmal mehr ein Grab gibt, an dem man ihn beweinen kann.
Ich sehe, daß das Synedrium sich sowohl der Anhänger des Nazareners entledigen
will als auch seines Komplizen, den es wie ein unreines Tier am Fuß des
Ölbaums, an dem er sich erhängt hat, begraben läßt. Ich bin am Freitag am Tor
angehalten worden, und man hat mir gesagt: "Warst nicht auch du einer von den
Seinen? Er ist nun tot. Geh und werde wieder Goldschmied." Da bin ich
weggelaufen...»
«Aber wohin denn? Wir haben dich
überall gesucht!»
«Wohin? Ich bin zum Haus meiner
Schwester nach Rama gegangen.
76
Dann habe ich nicht den Mut
gehabt, es zu betreten... weil ich nicht von einer Frau getadelt werden
wollte. So bin ich in den Bergen von Judäa herumgeirrt und gestern zur
Geburtsgrotte in Bethlehem gekommen. Oh, wie habe ich geweint... Ich bin dort
zwischen dem Schutt eingeschlafen, und dann hat mich Elias gefunden, der
gekommen war... ich weiß nicht, warum.»
«Warum? Nun, in den Stunden
übergroßer Freude und Schmerzen geht man dorthin, wo man Gott am stärksten
fühlt. Sehr oft in diesen Jahren bin ich nachts wie ein Dieb dorthin gegangen,
damit meine Seele die Liebkosung der Erinnerung an sein erstes Wimmern spürt.
Und dann bin ich im ersten Morgengrauen geflohen, um nicht gesteinigt zu
werden. Aber ich war getröstet. Nun bin ich hingegangen, um an diesem Ort zu
sagen: "Ich bin glücklich" und um von dort mitzunehmen, was ich konnte. So
haben wir es beschlossen. Wir wollen seinen Glauben verkünden, und ein Stein
aus dieser Mauer, eine Handvoll dieser Erde oder ein Splitter von dem Gebälk
wird uns die Kraft dazu geben. Wir sind keine Heiligen, daß wir uns erlauben
könnten, Erde vom Kalvarienberg zu nehmen ...»
«Du hast recht, Elias. Wir
sollten dasselbe tun. Und wir werden es tun. Aber Thomas ... ?»
«Thomas weinte im Schlaf. Ich
habe zu ihm gesagt: "Wach auf und weine nicht mehr. Er ist auferstanden." Er
wollte mir nicht glauben. Aber ich habe so lange auf ihn eingeredet, bis ich
ihn überzeugt habe. Hier ist er also. Nun ist er bei euch, und ich ziehe mich
zurück. Ich will die Gefährten einholen, die schon auf dem Weg nach Galiläa
sind. Der Friede sei mit euch.» Elias entfernt sich.
«Thomas, er ist auferstanden! Ich
sage es dir. Er war hier bei uns. Er hat gegessen. Er hat gesprochen. Er hat
uns gesegnet. Er hat uns verziehen. Er hat uns die Vollmacht gegeben zu
verzeihen. Oh, warum bist du nicht früher gekommen?»
Thomas kann seine
Niedergeschlagenheit nicht überwinden. Er schüttelt eigensinnig den Kopf. «Ich
glaube nicht. Ihr habt ein Gespenst gesehen. Ihr seid alle von Sinnen. Die
Frauen als erste. Ein toter Mensch kann nicht aus eigener Kraft auferstehen.»
«Ein Mensch nicht. Aber er ist
Gott. Glaubst du das nicht?»
«Ja, ich glaube, daß er Gott ist.
Aber gerade weil ich das glaube, denke und sage ich, daß selbst seine große
Güte nicht so weit gehen kann, daß er zu jemandem kommt, der ihn so wenig
geliebt hat. Und ich sage, daß er trotz seiner großen Demut genug davon haben
muß, sich in unserem elenden Fleisch zu verdemütigen. Nein. Er ist ganz gewiß
triumphierend im Himmel und wird vielleicht als Geist erscheinen. Ich sage:
vielleicht. Denn wir verdienen nicht einmal das! Aber mit Fleisch und Blut
auferstanden, nein, das glaube ich nicht.»
«Aber wir haben ihn doch geküßt
und gesehen, wie er gegessen hat; wir
77
haben doch seine Stimme gehört,
seine Hand gefühlt und die Wunden gesehen!»
«Nein. Ich glaube es nicht. Ich
kann es nicht glauben. Ich müßte sehen, um glauben zu können. Wenn ich nicht
an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meine Finger hineinlege, wenn ich
nicht die Wunden der Füße berühre und meine Hand nicht dorthin lege, wo die
Lanze die Seite geöffnet hat, glaube ich nicht. Ich bin kein Kind und kein
Weib. Ich will Gewißheit. Was mein Verstand nicht begreifen kann, das lehne
ich ab. Und ich kann euren Worten nicht glauben!»
«Aber Thomas! Glaubst du, wir
wollen dich belügen?»
«Nein, ihr Armen. Im Gegenteil!
Selig seid ihr, die ihr euch bemüht, mich den Frieden finden zu lassen, den
ihr durch eure Einbildungskraft erlangt habt. Aber... Ich glaube nicht an
seine Auferstehung!»
«Fürchtest du nicht, von ihm
bestraft zu werden? Er sieht und hört alles, weißt du?»
«Ich bitte ihn, mich zu
überzeugen. Ich habe einen Verstand und gebrauche ihn. Er, der Herr des
menschlichen Verstandes, soll meinen zurechtrücken, wenn er entgleist ist.»
«Aber er hat gesagt, der Verstand
ist frei.»
«Ein Grund mehr, ihn nicht zum
Sklaven einer gemeinsamen Einbildung zu machen. Ich liebe euch, und ich liebe
auch den Herrn. Ich werde ihm dienen, so gut ich kann, und ich werde bei euch
bleiben, um euch zu helfen, ihm zu dienen. Ich werde seine Lehre predigen.
Aber ich kann nicht glauben, was ich nicht sehe.» Und der eigensinnige Thomas
läßt nichts anderes als sich selbst gelten.
Sie berichten ihm von allen, die
den Auferstandenen gesehen haben und wie sie ihn gesehen haben. Doch er
schüttelt den Kopf, setzt sich auf eine steinerne Bank, und sein Kopf ist
härter als der Stein. Eigensinnig wie ein Kind wiederholt er: «Ich werde
glauben, wenn ich sehe...»
Das große Wort der Unglücklichen,
die leugnen, was so gut und heilig zu glauben ist: daß Gott alles vermag.
Jesus sagt:
«Kleiner Johannes, der Zyklus ist
beendet. Danach werdet ihr die Erscheinung vor dem ungläubigen Thomas vom 9.
April 1944 einfügen. Aber wenn das ganze Evangelium geschrieben ist, wird noch
viel einzufügen sein über den Palmsonntag, den Montag, den Dienstag, den
Mittwoch und den Vormittag des Donnerstags der Karwoche, wie ich euch von
Anfang an gesagt habe. Die einzufügenden Teile aus dem, was du voriges Jahr
gesehen hast, habe ich dir schon genannt. Wenn Pater M. meint, kann er die
Diktate des vergangenen Jahres einfügen, die ich dir jetzt nenne.
Da ich die Einwände der vielen
Thomasse und der vielen Schriftgelehrten von heute voraussehe, einen Satz des
Diktates betreffend, der im Widerspruch steht zu dem von Longinus gereichten
Schluck Wasser – oh, wie würden sich die Leugner des Übernatürlichen, die
Rationalisten der verkehrten Vollkommenheit freuen, wenn sie eine Lücke
entdecken könnten im herrlichen Komplex dieses Werkes der Güte Gottes und
deines Opfers, kleiner Johannes;
78
wie sie den Pickel ihres
mörderischen Rationalismus dort ansetzen würden, um alles zum Einsturz zu
bringen! – um diesen zuvorzukommen, sage und erkläre ich dir:
Dieser arme Schluck Wasser: ein
Tropfen nur in das Feuer des Fiebers und auf die Trockenheit der blutleeren
Adern, aus Liebe zu einer Seele angenommen, die von der Liebe überzeugt werden
mußte, um zur Wahrheit zu gelangen; dieses Wasser, das ich nur mit größter
Mühe schlucken konnte – denn so sehr hatten mich die furchtbaren Geißelhiebe
zerrissen, daß ich weder richtig atmen noch schlucken konnte – gewährte mir
nur eine übernatürliche Erquickung. Für den Körper war es nichts, um nicht zu
sagen eine Qual... Ströme waren nötig gewesen für meinen damaligen Durst...
Und ich konnte nicht trinken wegen der großen Herzschmerzen. Du kennst diese
Art von Schmerz... Ströme wären nötig gewesen... und man hat sie mir nicht
gegeben. Ich hätte sie auch gar nicht annehmen können wegen der wachsenden
Erstickung. Doch welcher Trost wäre es für mein Herz gewesen, wenn man sie mir
angeboten hätte. Ich bin an Liebe gestorben. An verweigerter Liebe. Mitleid
ist Liebe. Und in Israel hatte niemand Mitleid.
Wenn ihr Guten also diesen
"Schluck" betrachtet, wenn ihr Skeptiker ihn analysiert, dann gebt ihm den
richtigen Namen: "Mitleid", nicht Getränk. Man kann also sagen ohne zu lügen,
daß "ich vom Abendmahl an keinerlei Trost mehr gehabt habe" ' Von dem ganzen
Volk, das mich umgab, hat kein einziger mir Trost gespendet, da ich den
betäubenden Wein nicht angenommen habe. Nur Essig und Spott, Verrat und
Schläge erhielt ich, sonst nichts.
Du hast gesagt: "Warum ist mir
letztes Jahr diese Tat des Longinus nicht aufgefallen?" Weil die plötzliche
Schau meiner Marter dich so sehr erschreckt hatte. Du warst noch nicht
imstande, zu schreiben und zu beobachten. Ich habe die Zeiten abgekürzt, um
dir einen Trost in deiner kurz bevorstehenden Passion zu geben. Doch du
siehst, ich habe dich noch einmal auf meinen Weg mitnehmen müssen, damit du
mein ganzes Leiden mit größerer Ruhe und Genauigkeit erleben kannst. Ist es
nun vollkommen dargestellt? O nein! Das Geschöpf, auch wenn ich es in meine
Arme nehme und es ganz mit mir verschmelze, bleibt immer ein Geschöpf, und
seine Reaktionen und Fähigkeiten sind immer menschlich begrenzt. Da es ein
Geschöpf ist, kann es niemals absolut wahrheitsgetreu und absolut vollkommen
die Gefühle und Leiden des Gottmenschen verstehen und beschreiben.
Und im übrigen würden sie ja auch
von den wenigsten verstanden werden. Schon diese Visionen werden nicht
verstanden. Und anstatt niederzuknien und Gott zu danken, der ihnen diese
Erkenntnisse geschenkt hat – das einzige, was zu tun wäre – nehmen die meisten
dicke Bücher, schlagen nach, wägen ab, analysieren und hoffen, hoffen,
hoffen... Worauf? Widersprüche mit anderen ähnlichen Werken zu finden! Und zu
vernichten, vernichten, vernichten, im Namen der (menschlichen) Wissenschaft,
der (menschlichen) Vernunft und der (menschlichen) Kritik, des dreimal
menschlichen Hochmuts. Wie viele heilige Werke werden vom Menschen zerstört,
um aus den Trümmern unheilige Bauten zu errichten! Ihr habt das reine Gold
entfernt, ihr armen Menschen. Das einfache und kostbare Gold der Weisheit. Und
ihr habt es durch Stuck und Gips ersetzt und mit Flitter nur schlecht
vergoldet. Aber die Schläge des Lebens und der Menschen, die Unbilden des
Daseins haben die dünne Goldschicht sofort angegriffen und ein Bild des
Aussatzes zurückgelassen. Bald wird dieser Rest zu Staub zerfallen und von
eurem armseligen Wissen wird nichts übrigbleiben.
Oh, ihr armen Thomasse, die ihr
nur an das glaubt, was ihr versteht, was ihr prüft und wovon ihr innig
überzeugt seid! Dankt Gott und bemüht euch aufzusteigen, denn ich reiche euch
die Hand! Aufzusteigen im Glauben und in der Liebe. Ich habe die Demütigung
der Apostel gewollt, um sie zu befähigen, "Väter der Seelen" zu sein. Ich
bitte euch, und ich spreche besonders zu euch, meine Priester: Nehmt die
Demütigung an, einem Laien hintangestellt zu werden, damit ihr "Väter der
Seelen" werdet. Dieses Werk ist für alle. Doch es ist ganz besonders euch
gewidmet, dieses Evangelium, in dem der Meister seine Priester an die Hand
nimmt und sie mit sich in die Reihen der Schüler führt, damit sie, die
Priester und Lehrer, fähig werden, die Schüler zu führen; in dem er sie als
Arzt unter die Kranken führt, da jeder Mensch seine geistige Krankheit hat,
und ihnen die Symptome und die Heilmittel zeigt.
79
Auf also! Kommt und betrachtet.
Kommt und eßt. Kommt und trinkt. Und lehnt nicht ab. Haßt den kleinen Johannes
nicht. Die Guten unter euch werden an diesem Werk eine heilige Freude haben.
Die ehrlich Studierenden eine Erleuchtung. Die Gedankenlosen, aber nicht
Bösen, ein Vergnügen. Die Bösen etwas, woran sie sich mit ihrer falschen
Wissenschaft austoben können. Aber der kleine Johannes hat nur Schmerz und
Mühe damit gehabt, deretwegen er nun bei Beendigung des Werkes ein krankes,
schwaches Geschöpf ist.
Was soll ich also zu meinen und
seinen Freunden sagen, zu Maria von Magdala, Johannes, Martha, Lazarus, Simon
und den Engeln, die über seine Mühen gewacht haben? Ich werde sagen: "Der
kleine Johannes, unser Freund, ist krank und schwach. Wir wollen hingehen und
ihm das Wasser der ewigen Ströme bringen und ihm sagen: Komm, kleiner
Johannes, betrachte deine Sonne und stehe auf. Denn viele möchten sehen, was
du siehst. Aber nur den Auserwählten ist es gewährt, vor der Zeit den ewigen
Herrn und seine Tage auf Erden zu schauen. Komm. Der Erlöser kommt mit seinen
Freunden in deine Wohnung in Erwartung des Augenblickes, da du mit ihm und
ihnen in seine Wohnung eingehen wirst."
Geh in Frieden. Ich bin mit dir.»
(7. April 1945, 17 Uhr)
691. JESUS ERSCHEINT DEN APOSTELN
MIT THOMAS
Jesus sagt:
«Komm, kleiner Johannes. Wie der
kleine Benjamin, dessen Vision dir so sehr gefallen hat, lege deine Hand in
meine Hand, daß ich dich in meine Gärten der Gnaden führe.
Gnaden für dich und die anderen.
Gaben über Gaben, denn alles, was ich dir enthülle oder dir sage, ist ein
großes Geschenk. Du kannst seinen Wert nicht ermessen. Ich meine nicht den
geistigen Wert, dieser ist für dich unendlich. Ich meine den kulturellen oder
geschichtlichen, wenn dir dies besser gefällt. Es sind wertvolle Edelsteine,
die dir in die Hände gelegt werden, und du liebst sie wie ein Kind ihrer
vielfältigen Farben wegen. Aber du kannst ihnen keinen anderen Wert beimessen
als den eines Geschenkes, den ihrer Schönheit, den eines Beweises meiner
Liebe. Andere jedoch, die gebildeter sind als du, aber nicht so bevorzugt,
betrachten sie mit großem Interesse und verlangen sie ungeduldig von dir,
diese geistigen Edelsteine, die dein Jesus dir schenkt; sie verfolgen,
studieren und bewerten sie auf wissenschaftlichere Weise als du, und möge ihr
Wille sie dazu führen, es mit derselben Liebe zu tun wie du. Doch das ist viel
schwieriger für sie, denn sie sind komplizierter. Nur Kinder verstehen,
einfach, ehrlich und rein zu lieben.
Du verstehst nur zu lieben. Aber
bleibe immer so. Erfreue dich an den verschiedenen Edelsteinen, die ich dir
schenke, und gib sie weiter mit freudigem Großmut an alle, die darauf warten.
Ich werde deine kleine Hand immer wieder mit neuen Schätzen füllen. Hab keine
Angst. Gib, gib! Dein König hat unerschöpfliche Schatzkammern, um seine
Kleinen zu erfreuen.»
Nun sehe ich folgendes:
Die Apostel sind im Abendmahlsaal
versammelt. Sie sitzen um den Tisch, an dem das Abendmahl eingenommen wurde.
Doch aus Ehrfurcht haben sie den Platz Jesu in der Mitte freigelassen.
Auch ist die Sitzordnung nicht
mehr dieselbe, nun, da niemand mehr den Mittelpunkt bildet und die Plätze nach
eigenem Ermessen oder aus Liebe verteilt. Petrus ist noch an seinem Platz.
Aber auf dem Platz des
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Johannes sitzt jetzt Judas
Thaddäus. Dann kommt der älteste der Apostel, Bartholomäus, dann Jakobus, der
Bruder des Johannes, fast an der rechten Ecke der Tafel, von mir aus gesehen.
Neben Jakobus, aber an der Schmalseite des Tisches, sitzt Johannes. Nach
Petrus kommt Matthäus, und nach diesem Thomas. Dann Philippus, Andreas,
Jakobus, der Bruder des Judas Thaddäus, und Simon der Zelote. Die Längsseite
Petrus gegenüber ist leer, da die Apostel enger beisammensitzen als beim
Ostermahl.
Die Fenster und Türen sind fest
verriegelt. Die Lampe, an der nur zwei Flammen brennen, wirft ein mattes Licht
auf den Tisch. Der Rest des großen Saales liegt im Halbschatten.
Johannes, hinter dem eine
Anrichte steht, hat den Auftrag, den Gefährten herüberzureichen, was sie von
der kargen Mahlzeit essen wollen: Fisch, der schon auf dem Tisch steht, Brot,
Honig und kleine, frische Käse. Als er sich wieder zum Tisch wendet, um dem
Bruder den gewünschten Käse zu geben, sieht Johannes den Herrn.
Jesus ist auf ganz eigenartige
Weise erschienen. Die Wand hinter den Tischgenossen, in der es außer der
kleinen Tür in der Ecke keine Öffnung gibt, hat in der Mitte, etwa einen Meter
über dem Boden, sanft und phosphoreszierend zu leuchten begonnen, wie es
manche Bilder im Dunkeln tun. Der fast zwei Meter hohe, ovale Lichtschein
erinnert an eine Nische. Aus diesem Leuchten, wie aus schimmernden
Nebelschleiern, tritt Jesus immer deutlicher hervor.
Ich weiß nicht, ob ich es richtig
erkläre. Es sieht aus, als würde sein Körper durch die Wand fließen. Denn sie
öffnet sich nicht, sie bleibt kompakt. Doch der Körper kommt trotzdem durch
die Wand. Das Licht scheint dem Körper vorauszugehen, um seine Nähe
anzukündigen. Der Körper besteht zuerst nur aus leuchtenden Umrissen, so wie
ich den Vater im Himmel und die heiligen Engel sehe: unkörperlich. Dann
materialisiert er sich immer stärker und hat schließlich das Aussehen eines
wirklichen Körpers. Seines verherrlichten Körpers.
Ich habe lange gebraucht, um es
zu beschreiben, aber das Ganze hat sich in wenigen Augenblicken abgespielt.
Jesus ist weiß gekleidet, so wie
er bei der Auferstehung war und seiner Mutter erschienen ist. Er ist
wunderschön, liebevoll und lächelt. Die Arme hält er gerade an den Seiten, in
geringem Abstand vom Körper, die Fingerspitzen zeigen auf den Boden und die
Handflächen sind den Aposteln zugekehrt. Die beiden Wunden der Hände gleichen
diamantenen Sternen, von denen zwei außerordentlich helle Strahlen ausgehen.
Die Wunden der Füße und der Seite sehe ich nicht, da sie unter dem Gewand
verborgen sind. Aber durch den Stoff seines unirdischen Kleides schimmert
Licht an den Stellen, wo es die göttlichen Wunden verbirgt. Zuerst scheint es,
als sei Jesus ein Körper aus leuchtendem Mondlicht, dann, als
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er sich verdichtet und aus dem
Schein heraustritt, nehmen Haar, Augen und Haut ihre natürliche Farbe an. Und
er ist Jesus, der Gottmensch, aber um vieles feierlicher, nun, nach seiner
Auferstehung.
Johannes bemerkt ihn, als er
schon so aussieht. Kein anderer hat die Erscheinung wahrgenommen. Johannes
springt auf, läßt den Teller mit dem runden Käse auf den Tisch fallen, stützt
die Hände auf den Rand des Tisches, neigt sich leicht schräg, wie von einem
Magnet angezogen, etwas über den Tisch und stößt ein leises, aber inbrünstiges
«Oh!» aus.
Die anderen, die beim Klirren des
Käsetellers und Aufspringen des Johannes die Köpfe von ihren Tellern erhoben
haben, sehen ihn überrascht an, als sie seine ekstatische Haltung bemerken und
folgen seiner Blickrichtung. Sie drehen die Köpfe oder wenden sich ganz um, je
nachdem, wo sie sitzen, und erblicken Jesus. Sie stehen gerührt und selig auf
und eilen zu ihm, der noch mehr lächelt und auf sie zukommt. Dabei geht er nun
wie ein gewöhnlicher Mensch auf dem Boden.
Jesus, der zuerst nur Johannes
angesehen hat – und ich glaube, daß die Liebkosung dieses Blickes Johannes
veranlaßt hat, sich umzudrehen – schaut nun alle an und sagt: «Der Friede sei
mit euch.»
Nun umringen ihn alle, die einen
auf den Knien zu seinen Füßen, und unter diesen sind Petrus und Johannes –
Johannes küßt den Saum seines Gewandes und drückt ihn an seine Wange, wie um
von ihm liebkost zu werden – die anderen stehen etwas weiter hinten, doch
ehrfurchtsvoll und tief verneigt.
Petrus ist, um schneller beim
Meister zu sein, mit einem Satz über den Sitz gesprungen, ohne abzuwarten, daß
Matthäus ihn als erster verläßt und Platz macht. Ich muß zur Erklärung
hinzufügen, daß es Sitze für zwei Personen sind.
Der einzige, der verlegen etwas
abseits bleibt, ist Thomas. Er ist am Tisch niedergekniet, wagt nicht
näherzukommen, und es sieht vielmehr so aus, als wolle er sich hinter dem
Tisch verbergen.
Jesus, der den Aposteln seine
Hände zum Kuß reicht – denn sie verlangen in heiligem, liebendem Eifer danach
– läßt seinen Blick über die gebeugten Häupter schweifen, als suche er den
elften. Aber er hat ihn vom ersten Augenblick an gesehen und will Thomas nur
ein wenig Zeit lassen, Mut zu fassen und heranzukommen. Da er sieht, daß der
Ungläubige sich seines Zweifels schämt und nicht wagt näherzutreten, ruft er
ihn: «Thomas, komm her.»
Thomas hebt den Kopf, verwirrt
und beinahe weinend, aber er hat nicht den Mut zu kommen. Er senkt den Kopf
wieder. Jesus geht ein Stück auf ihn zu und sagt wiederum: «Komm her, Thomas.»
Die Stimme Jesu ist
gebieterischer als beim ersten Mal. Thomas steht widerstrebend und verwirrt
auf und nähert sich Jesus.
«Hier ist also der, der nicht
glaubt, wenn er nicht sieht!» ruft Jesus aus.
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Doch in seiner Stimme liegt ein
Lächeln der Vergebung. Thomas fühlt es, wagt es, Jesus anzuschauen, und sieht,
daß dieser wirklich lächelt. Da faßt er Mut und eilt zu ihm.
«Komm her, ganz nahe. Sieh! Lege
einen Finger in die Wunden deines Meisters, wenn das Sehen dir nicht genügt.»
Jesus streckt ihm die Hände entgegen und öffnet das Gewand über der Brust, um
die Seitenwunde zu entblößen.
Nun strahlen die Wunden kein
Licht mehr aus. Sie strahlen nicht mehr, seit Jesus aus dem Halo aus Mondlicht
herausgetreten ist und wie ein sterblicher Mensch zu gehen begonnen hat. Die
Wunden erscheinen nun in ihrer grausamen Wirklichkeit: zwei unregelmäßige
Löcher, von denen das linke bis zum Daumen reicht, das eine am Handgelenk und
das andere auf der Handfläche, und ein langer, am oberen Ende nicht ganz
gerader Schnitt in der Brust.
Thomas zittert, schaut und
berührt die Wunden nicht. Er bewegt die Lippen, bringt jedoch kein Wort
hervor.
«Gib mir deine Hand, Thomas»,
sagt Jesus sehr sanft. Er ergreift die rechte Hand des Apostels mit seiner
Rechten, nimmt den Zeigefinger und legt diesen tief in den Schnitt seiner
linken Hand, um ihm zu zeigen, daß die Handfläche durchbohrt ist. Dann führt
er die Hand zur Seitenwunde. Er nimmt nun die vier Finger an ihrem Anfang, an
der Mittelhand, und legt diese vier großen Finger in die Seitenwunde, nicht
nur an den Rand, sondern tief in die Wunde hinein. Dabei schaut er Thomas fest
an.
Ein strenger und doch gütiger
Blick, während er weiterspricht: «Lege deine Finger, die Finger und, wenn du
willst, auch die Hand hier in meine Seitenwunde und sei nicht ungläubig,
sondern gläubig!» So spricht Jesus, als er tut, was ich gerade beschrieben
habe.
Thomas – es scheint, daß die Nähe
des göttlichen Herzens, das er beinahe berührt, ihm Mut eingeflößt hat –
gelingt es nun endlich zu reden und einige Worte hervorzubringen; er fällt mit
erhobenen Armen auf die Knie und sagt mit von Reuetränen erstickter Stimme:
«Mein Herr und mein Gott!» Er weiß nichts anderes zu sagen.
Jesus verzeiht ihm. Er legt ihm
die Rechte aufs Haupt und antwortet: «Thomas! Thomas! Nun glaubst du, da du
gesehen hast... Selig, die an mich glauben und nicht sehen. Welcher Lohn wird
diese erst erwarten, wenn ich euch belohnen muß, euch, deren Glaube das Sehen
bestätigt ? ...»
Dann legt Jesus Johannes einen
Arm um die Schultern und nimmt Petrus bei der Hand, um sich mit ihnen zum
Tisch zu begeben. Er setzt sich an seinen Platz. Nun sitzen sie wie am Abend
des Ostermahles. Aber Jesus will, daß Thomas sich neben Johannes setzt.
«Eßt, Freunde», sagt Jesus.
83
Aber keiner hat mehr Hunger. Die
Freude sättigt sie. Die Freude der Betrachtung.
Da nimmt Jesus die herumliegenden
kleinen Käse, legt sie auf den Teller zurück, zerschneidet sie und teilt sie
aus. Das erste Stückchen gibt er auf einem Stück Brot hinten an Johannes
vorbei Thomas. Dann gießt er Wein aus dem Krug in den Kelch und reicht ihn
seinen Freunden. Diesmal ist Petrus der erste. Schließlich läßt Jesus sich die
Honigwaben reichen, zerbricht sie in Stücke und gibt das erste Johannes mit
einem Lächeln, das süßer ist als der blonde, flüssige Honig. Und um sie zu
ermutigen, ißt auch er davon. Jesus nimmt nur Honig zu sich.
Johannes legt wie üblich seinen
Kopf an die Schulter Jesu, und Jesus zieht ihn an sein Herz, hält ihn so und
sagt:
«Ihr dürft nicht erschrecken,
meine Freunde, wenn ich euch erscheine. Ich bin immer noch euer Meister, der
mit euch die Speisen und die Ruhe geteilt hat und der euch erwählt hat, weil
er euch geliebt hat. Ich liebe euch immer noch!» Jesus betont diesen letzten
Satz ganz besonders.
Dann fährt er fort: «Ihr wart bei
mir in den Prüfungen... Ihr werdet auch in der Herrlichkeit bei mir sein.
Senkt nicht das Haupt. Am Sonntag abend, als ich das erste Mal nach meiner
Auferstehung zu euch kam, habt ihr den Heiligen Geist empfangen... Auch über
dich, der du abwesend warst, möge der Geist kommen... Wißt ihr nicht, daß die
Ausgießung des Heiligen Geistes einer Feuertaufe gleicht, da der Geist Liebe
ist und die Liebe die Sünden tilgt? Somit ist eure Sünde, mich bei meinem Tod
alleingelassen zu haben, vergeben.»
Während Jesus dies sagt, küßt er
Johannes aufs Haupt, der ja nicht davongelaufen ist, und Johannes weint vor
Freude.
«Ich habe euch die Vollmacht
gegeben, Sünden zu vergeben. Aber man kann nicht geben, was man nicht hat. Ihr
müßt daher überzeugt sein, daß ich diese Macht absolut besitze und sie für
euch ausübe, die ihr vollkommen rein sein müßt, um die von Sünden Befleckten
zu reinigen, die zu euch kommen. Wie könnte einer richten und rein machen, der
selbst eine Verurteilung verdient und unrein ist? Wie könnte einer einen
anderen richten, der Balken in seinen Augen und die Last der Hölle in seinem
Herzen hat? Wie könnte er sagen: "Ich spreche dich los im Namen Gottes", wenn
seiner Sünden wegen Gott nicht mit ihm ist?
Freunde, denkt an eure Würde als
Priester. Bisher war ich unter den Menschen, um zu richten und zu verzeihen.
Nun gehe ich zum Vater. Ich kehre in mein Reich zurück. Doch ist mir die Macht
zu richten nicht genommen. Im Gegenteil, sie ist ganz in meinen Händen, denn
der Vater hat sie mir übertragen. Ein furchtbares Gericht. Denn es wird
kommen, wenn die Menschen nicht mehr die Möglichkeit haben werden, Vergebung
zu erlangen durch Jahre der Buße auf Erden. Die Seele jedes Geschöpfes wird
vor mir erscheinen, wenn es im irdischen Tod das Fleisch als wertlose
84
Hülle zurückläßt. Und ich werde
sie ein erstes Mal richten. Dann wird die Menschheit auf Befehl des Himmels
und erneut mit ihrem Fleisch bekleidet, ein zweites Mal vor mir erscheinen und
in zwei Teile geteilt werden. Die Schafe kommen zu ihrem Hirten, die wilden
Böcke zu ihrem Henker. Aber wie viele Menschen könnten zu ihrem Hirten kommen,
wenn sie nach dem Bad der Taufe niemanden mehr hätten, der ihnen in meinem
Namen verzeiht?
Und deshalb setze ich die
Priester ein. Um die durch mein Blut Erlösten zu retten. Mein Blut rettet.
Doch die Menschen fallen fortwährend in den Tod, fallen in den Tod zurück. Es
braucht jemanden, der die Macht hat, sie immer wieder mit meinem Blut zu
waschen, siebzigmal und siebzigmal siebenmal, damit sie nicht dem Tod
anheimfallen. Ihr werdet dies tun, und eure Nachfolger. Daher spreche ich euch
los von allen euren Sünden; denn ihr müßt imstande sein zu sehen, und die
Sünde macht blind, da sie dem Geist das Licht raubt, das Gott ist; denn ihr
müßt imstande sein zu verstehen, und die Schuld macht töricht, da sie dem
Geist die Intelligenz nimmt, die Gott ist; denn ihr habt die Aufgabe, zu
reinigen, und die Sünde befleckt, da sie der Seele die Reinheit nimmt, die
Gott ist.
Ein hohes Amt ist das eure, in
meinem Namen zu richten und loszusprechen. Wenn ihr für euch das Brot und den
Wein opfert und in mein Fleisch und mein Blut verwandelt, werdet ihr ein
großes, übernatürlich großes und erhabenes Werk vollbringen. Um es würdig zu
vollbringen, müßt ihr rein sein, denn ihr berührt den, der rein ist, und ihr
nährt euch mit dem Fleisch eines Gottes. Reinen Herzens, reinen Geistes und
reinen Leibes müßt ihr sein und reine Lippen haben, denn mit dem Herzen müßt
ihr die Eucharistie lieben, und neben dieser himmlischen Liebe darf es keine
profane Liebe, die ein Sakrileg wäre, geben. Reinen Geistes müßt ihr sein,
denn ihr müßt an dieses Mysterium der Liebe glauben und es verstehen. Unreine
Gedanken töten den Glauben und den Intellekt; die Wissenschaft der Welt
bleibt, aber die Weisheit Gottes in euch stirbt. Reinen Leibes müßt ihr sein,
denn das Wort wird in euch herabsteigen, wie es einst durch die Liebe in den
Schoß Marias herabgestiegen ist.
Ihr habt ein lebendiges Beispiel
dafür, wie ein Leib sein muß, der das fleischgewordene Wort aufnimmt. Das
Beispiel ist die Frau ohne Erbsünde und ohne eigene Sünde, die mich getragen
hat. Schaut, wie rein der Gipfel des Hermon ist, den noch der Schleier des
winterlichen Schnees verhüllt. Vom Ölberg aus gleicht er den Blütenblättern
der Lilien oder dem Schaum des Meeres, und wie ein Opfer erhebt er sich zu den
weißen Wolken, die der Aprilwind über die azurblauen Gefilde des Himmels
trägt. Betrachtet eine Lilie, die ihre Blüte zu einem duftenden Lächeln
öffnet. Und doch gleicht weder die eine noch die andere Reinheit der Reinheit
des Schoßes, der mir Mutterschoß war. Die Winde haben Staub auf den Schnee des
Gipfels und auf die Seide der Blüte geweht. Er ist so fein, daß
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das menschliche Auge ihn nicht
sieht, aber er ist da und trübt die Reinheit. Mehr noch: Betrachtet die
reinste Perle, geboren in einer Muschel und dem Meer geraubt, um das Szepter
eines Königs zu zieren. Sie ist vollkommen in ihrem Schimmer, den keine
Berührung durch ein Fleisch entweiht hat, der entstanden ist in der
perlmutternen Höhlung der Auster, allein im flüssigen Saphir der Tiefe. Und
doch ist diese Perle weniger rein als der Schoß, der mich getragen hat. In
ihrem Innern ist ein Sandkörnchen, ein winziges, aber dennoch irdisches
Körnchen. In ihr, der Perle des Meeres, ist nicht das geringste Körnchen der
Sünde, nicht einmal der Widerschein einer Sünde. Sie ist die Perle, die im
Ozean der Dreifaltigkeit geboren wurde, um die Zweite Person in die Welt zu
bringen, und vollkommen und fest umschließt sie ihren inneren Kern, der nicht
der Same irdischer Lust, sondern der Funke der göttlichen Liebe ist. Der
Funke, der in ihr seine Entsprechung fand und die Wirbel des göttlichen
Meteors zeugte, der nun die Kinder Gottes ruft und anzieht: mich, Christus,
den Morgenstern. Diese unversehrte Reinheit gebe ich euch als Beispiel.
Aber wenn ihr dann, wie Winzer an
einem Fasse, eure Hände in das Meer meines Blutes taucht und daraus schöpft,
um die verdorbenen Gewänder der armen Sünder zu waschen, müßt ihr nicht nur
rein, sondern vollkommen sein, um euch nicht mit einer noch größeren Sünde,
oder sogar mehreren Sünden zu beflecken, indem ihr sakrilegisch das Blut eines
Gottes berührt und ausgießt oder gegen Liebe und Gerechtigkeit sündigt, indem
ihr beides verweigert oder nur mit einer Strenge gewährt, die der Art des
Christus nicht entspricht. Denn er war gut zu den Übeltätern, um sie an sein
Herz zu ziehen, und dreimal gut zu den Schwachen, um sie im Vertrauen zu
stärken. Ihr sollt solche Strenge nicht gegen meinen Willen, meine Lehre und
meine Gerechtigkeit dreimal unwürdig üben. Wie kann man streng mit den Lämmern
verfahren, wenn man selbst ein götzendienerischer Hirte ist?
O meine Auserwählten, meine
Freunde, die ich auf die Wege der Welt sende, um das Werk fortzuführen, das
ich begonnen habe und das fortdauern wird, solange die Zeit dauert, denkt an
meine Worte. Ich sage sie euch, damit ihr sie jenen sagt, die ihr zu dem
Dienst weiht, zu dem ich euch geweiht habe.
Ich sehe... ich schaue in die
Jahrhunderte. Die Zeit und die zahllosen Scharen der zukünftigen Menschen
ziehen vor meinem Blick vorüber... Ich sehe... Katastrophen und Kriege,
falschen Frieden und schrecklichen Völkermord, Haß und Diebstahl, Leidenschaft
und Hochmut. Ab und zu eine grüne Oase: eine Zeit der Rückkehr zum Kreuz. Wie
ein Obelisk, der eine reine Quelle im trockenen Wüstensand anzeigt, so wird
mein Kreuz mit Liebe aufgerichtet werden, nachdem das Gift des Bösen die
Menschen tollwütig gemacht hat; und rings um das Kreuz, an den Ufern der
heilenden Wasser, werden die Palmen einer Zeit der Güte und des Friedens
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in der Welt erblühen. Wie Hirsche
und Gazellen, wie Schwalben und Tauben werden die Seelen zu dieser
friedvollen, frischen, erquickenden Zufluchtsstätte kommen, um von ihren
Schmerzen geheilt zu werden und erneut zu hoffen. Und die Palmen werden ihre
Zweige wie eine Kuppel ineinanderschlingen, um vor Gewittern und Sonnenglut zu
schützen, und Schlangen und Raubtiere werden ferngehalten werden durch das
Zeichen, das den Bösen in die Flucht schlägt. So wird es sein, solange die
Menschen es wollen.
Ich sehe... Menschen und wieder
Menschen... Frauen, Greise, Kinder, Krieger, Gelehrte, Doktoren, Bauern...
Alle kommen und ziehen mit ihrer Last der Hoffnung und der Leiden vorüber. Und
ich sehe viele, die wanken, denn der Schmerz ist zu groß, und als erstes von
ihrer schweren Bürde, ihrer zu schweren Bürde, haben sie die Hoffnung
verloren, und sie ist am Boden zerschellt... Und ich sehe viele, die am
Wegrand zusammenbrechen, weil andere, die stärker sind, stärker oder
glücklicher, weil ihre Last nur leicht ist, sie zur Seite stoßen. Und viele
sehe ich, die sich von den Vorübergehenden verlassen oder gar getreten sehen,
die sich sterben fühlen und schließlich hassen und verfluchen.
Arme Kinder! Unter diese vom
Leben geplagten Menschen, die vorübergehen oder fallen, hat meine Liebe bewußt
die barmherzigen Samariter, die guten Ärzte, die Leuchten in der Nacht und die
Stimmen in der Stille geschickt, damit die Schwachen, die zusammenbrechen,
Hilfe finden, wieder ein Licht sehen und die Stimme vernehmen, die sagt:
"Hoffe, denn du bist nicht allein. Über dir ist Gott. Jesus ist mit dir." Ich
habe diese barmherzigen Helfer bewußt eingesetzt, damit meine armen Kinder
nicht im Geist sterben und die väterliche Heimat verlieren, sondern
fortfahren, an mich, die Liebe, zu glauben, wenn sie in meinen Dienern meinen
Widerschein sehen.
Aber, o Schmerz, der du die Wunde
meines Herzens wieder bluten läßt wie auf Golgotha, als sie geöffnet wurde!
Was sehen meine göttlichen Augen? Sind denn in den vorüberziehenden
Volksmassen keine Priester? Blutet mein Herz deswegen? Sind die Seminare leer?
Hören die Herzen also meine göttliche Einladung nicht mehr? Ist das
menschliche Herz nicht mehr fähig, sie zu hören? Nein. Es wird in allen
Jahrhunderten Seminare geben und in ihnen Leviten. Aus diesen werden Priester
hervorgehen, da meine Einladung mit himmlischer Stimme an viele jugendliche
Herzen ergangen sein wird und sie ihr gefolgt sein werden. Aber andere,
andere, andere Stimmen werden in der Jugend und in der Reifezeit dazugekommen
sein und meine Stimme in den Herzen übertönt haben. Meine Stimme, die in allen
Jahrhunderten zu ihren Dienern spricht, auf daß sie immer seien, was ihr jetzt
seid: Apostel in der Schule Christi. Das Gewand ist geblieben, doch der
Priester ist tot. Bei allzu vielen wird dies im Laufe der Jahrhunderte
geschehen. Als nutzlose, dunkle Schatten werden
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sie nicht der Hebel sein, der
emporhebt, nicht das Seil, das zieht, nicht der Brunnen, der den Durst stillt,
nicht der Weizen, der sättigt, nicht das Herz, an dem man ausruht, nicht das
Licht in der Finsternis, nicht die Stimme, die wiederholt, was der Meister
ihnen sagt. Sie werden für die arme Menschheit eine anstößige Last, eine
todbringende Last sein, sie werden Schmarotzer und Verderben sein.
Schrecklich! Die schlimmsten Judasse der Zukunft werde ich immer wieder unter
meinen Priestern haben!
Freunde: Ich bin in der
Herrlichkeit, und dennoch weine ich. Ich habe Mitleid mit diesen großen
Menschenscharen, mit diesen Herden ohne Hirten oder mit zu wenigen Hirten. Ein
unendliches Mitleid! Nun wohl! Ich schwöre bei meiner Gottheit, ich werde
ihnen Brot geben, Wasser, Licht und die Worte, die die zu diesem Dienst
Erwählten nicht geben wollen. Ich werde in allen Jahrhunderten das Wunder der
Brote und der Fische wiederholen. Mit wenigen, unbeachteten Fischlein und
spärlichen Brotkrumen: demütigen Laienseelen, werde ich vielen zu essen geben,
und sie werden satt werden, und es wird auch für die Zukünftigen etwas
übrigbleiben, denn "mich erbarmt des Volkes" und ich will nicht, daß es
zugrunde geht.
Gesegnet jene, die es verdienen,
solche zu sein. Nicht gesegnet, weil sie so sind, sondern weil sie es durch
ihre Liebe und ihr Opfer verdient haben. Und am gesegnetsten die Priester, die
es verstehen, Apostel zu bleiben: Brot, Wasser, Licht, Stimme, Ruhe und Arznei
für meine armen Kinder. In einem besonderen Licht werden sie im Himmel
erstrahlen. Ich schwöre es, ich, der ich die Wahrheit bin.
Erheben wir uns, Freunde, und
kommt mit mir, daß ich euch noch einmal beten lehre. Das Gebet nährt die
Kräfte des Apostels, denn es läßt eins werden mit Gott.»
Jesus steht auf und geht zu der
kleinen Treppe.
Doch als er am Fuß der Treppe
steht, wendet er sich um und schaut mich an. O Pater, er schaut mich an! Er
denkt an mich! Er sucht seine kleine «Stimme», und die Freude, bei seinen
Freunden zu sein, läßt ihn mich nicht vergessen! Er schaut mich an, über die
Köpfe der Jünger hinweg, und lächelt mir zu. Er hebt seine Hand, segnet mich
und sagt: «Der Friede sei mit dir.»
Und die Vision endet so.
692. DER AUFERSTANDENE JESUS IN
GETHSEMANE
Die Apostel legen ihre Mäntel um
und fragen: «Wohin gehen wir, Herr?»
Ihre Sprechweise ist nicht mehr
so vertraulich wie vor der Passion. Wenn man diesen Ausdruck benützen könnte,
würde ich sagen, daß sie
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mit kniender Seele sprechen. Mehr
als ihre ehrfürchtige, immer etwas gebeugte Körperhaltung vor dem
Auferstandenen, mehr als ihre Scheu, ihn zu berühren, mehr als ihre bebende
Freude, wenn er sie berührt, liebkost, küßt oder das Wort persönlich an einen
von ihnen richtet, ist es ihr ganzes Aussehen, etwas, was man nicht
beschreiben kann und was doch so offensichtlich ist. Etwas, das zeigt, daß es
mehr der Geist als der Mensch ist, der nicht zu seiner früheren Beziehung zum
Meister zurückkehren kann und dessen neues Fühlen in jeder Handlung des
Menschen zum Ausdruck kommt.
Früher war er «der Meister». Der
Meister, der für ihren Glauben zwar Gott war, für ihre Sinne aber trotzdem ein
Mensch. Nun ist er «der Herr». Er ist Gott. Und es bedarf keines besonderen
Glaubens mehr, um davon überzeugt zu sein. Die Tatsachen haben diese
Notwendigkeit aufgehoben. Er ist Gott. Er ist der Herr, dem der Herr gesagt
hat: «Setze dich zu meiner Rechten» und den er bestätigt hat durch sein Wort
und das Wunder der Auferstehung. Gott wie der Vater. Und er ist der Gott, den
sie aus Angst verlassen haben, nachdem sie so viel von ihm empfangen hatten...
Sie betrachten ihn nun mit der
ehrfürchtigen Verehrung, mit der ein wahrer Gläubiger die strahlende Hostie in
einer Monstranz oder den Leib Christi, den der Priester beim täglichen
Meßopfer erhebt, betrachtet. In ihrem Blick, der das geliebte Bild, das nun
schöner ist als in der Vergangenheit, betrachten will, liegt auch der Ausdruck
dessen, der es nicht wagt, lange in der Betrachtung zu verweilen... Die Liebe
drängt sie, ihren Geliebten anzusehen, die Furcht läßt sie sofort die Lider
und das Haupt wieder senken, als hätte sein Glanz sie geblendet.
Und wirklich, obgleich Jesus, der
auferstandene Jesus, wahrhaft er selbst ist, ist er es gleichzeitig doch auch
nicht mehr. Sieht man ihn richtig an, ist er anders. Die Gesichtszüge, die
Farbe der Augen und der Haare, die Gestalt, die Hände und die Füße sind gleich
geblieben, und doch ist er anders. Er hat dieselbe Stimme und bewegt sich wie
früher, und doch ist er anders. Er hat einen wahren Körper, der auch jetzt
noch im Licht der untergehenden Sonne, deren letzte Strahlen durch das offene
Fenster hereinfallen, einen seiner Größe entsprechenden langen Schatten wirft,
und doch ist er anders. Er ist nicht stolz oder unnahbar geworden, und doch
ist er anders.
Eine neue, ewige Majestät
erstrahlt nun da, wo zuvor Bescheidenheit und Demut des unermüdlichen Meisters
vorherrschten, eine so große Demut, daß man sie manchmal für Resignation hätte
halten können. Nun ist die Abgezehrtheit der letzten Zeit verschwunden; die
Spuren der körperlichen und geistigen Müdigkeit, die ihn älter erscheinen
ließen, sind gelöscht, und er hat nicht mehr den traurigen, bittenden Blick,
der wortlos fragte: «Warum weist ihr mich ab? Nehmt mich auf ...» Und der
auferstandene Christus erscheint sogar größer und kräftiger, befreit von jeder
89
Last, sicher, siegreich,
majestätisch, göttlich. Nicht einmal, wenn er bei seinen größten Wundern seine
Macht zeigte oder in den herausragendsten Momenten seines Lehramtes am
eindrucksvollsten war, war er so wie jetzt, da er auferstanden und
verherrlicht ist. Er strahlt kein Licht aus. Nein, er strahlt kein Licht aus
wie bei der Verklärung und den ersten Erscheinungen nach der Auferstehung. Und
doch scheint er zu leuchten. Es ist wahrlich der Leib Gottes in der Schönheit
der verherrlichten Leiber. Man fühlt sich angezogen und empfindet zugleich
eine gewisse Scheu.
Vielleicht sind es auch die so
auffälligen Wunden an den Händen und Füßen, die diese tiefe Ehrfurcht
einflößen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß die Apostel, obwohl Jesus so
sanft und gütig ist und wieder die frühere Atmosphäre zu schaffen versucht,
nun anders sind. So aufdringlich und geschwätzig sie vordem waren, so
schweigsam sind sie nun, und wenn Jesus nicht gleich antwortet, drängen sie
nicht weiter. Wenn er ihnen oder einem von ihnen zulächelt, wechseln sie die
Farbe und wagen nicht, sein Lächeln zu erwidern. Wenn er, wie er es jetzt tut,
die Hand nach seinem weißen Mantel ausstreckt – er trägt seit der Auferstehung
immer ein weißes Gewand, glänzender als blütenweißer Atlas – dann eilt keiner
der Apostel herbei, wie sie es früher immer getan und sich die Freude und
Ehre, ihm zu helfen, streitig gemacht haben. Es scheint, als hätten sie Angst,
seine Kleider und seine Glieder zu berühren. Und er selbst muß sagen, wie er
es jetzt tut: «Komm, Johannes, hilf deinem Meister. Diese Wunden sind wahre
Wunden... und meine verwundeten Hände sind nicht so beweglich wie früher...»
Johannes gehorcht und hilft Jesus
beim Anziehen des weiten Mantels, und es sieht aus, als kleide er einen Papst,
so vorsichtig und konzentriert sind seine Bewegungen. Dabei achtet er darauf,
die Hände nicht zu berühren, auf denen die Wundmale rötlich leuchten. Aber so
sehr er auch achtgibt, er stößt an die linke Hand Jesu, schreit auf, als sei
er selbst gestoßen worden, und starrt auf den Rücken dieser Hand, als fürchte
er, wieder Blut aus ihr tropfen zu sehen. Diese furchtbare Wunde ist so
lebendig!
Jesus legt ihm die Rechte aufs
Haupt und sagt: «Du hattest mehr Mut, als du mich vom Kreuz abnahmst. Und da
floß das Blut noch so stark, daß sogar dein Haar ganz rot davon wurde. Neuer
Tau der Nacht auf den neuen Geliebten. Du hast mich abgenommen, wie eine
Traube vom Weinstock... Warum weinst du? Ich habe dir den Tau meines
Martyriums gegeben. Du hast mein Haupt mit dem Tau deines Mitleids besprengt.
Damals hattest du Grund zum Weinen... Jetzt nicht. Und du, Simon Petrus? Warum
weinst du? Du hast meine Hand nicht gestoßen. Du hast mich nicht tot
gesehen...»
«Oh, mein Gott! Gerade deswegen
weine ich ja! Über meine Sünde.»
«Ich habe dir verziehen, Simon
des Jonas.»
90
«Aber ich verzeihe mir nicht.
Nein, nichts wird meine Tränen zum Versiegen bringen. Nicht einmal deine
Vergebung.»
«Aber meine Herrlichkeit schon.»
«Du bist in der Herrlichkeit, ich
bin ein Sünder.»
«Du wirst in der Herrlichkeit
sein, nachdem du mein Fischer gewesen bist. Einen großen, reichen, wunderbaren
Fischfang wirst du machen, Petrus. Dann werde ich zu dir sagen: "Komm zum
ewigen Gastmahl", und du wirst nicht mehr weinen. Doch ihr habt alle Tränen in
den Augen. Und du, Jakobus, mein Bruder, du lehnst dort im Winkel, als ob du
alles verloren hättest. Warum?»
«Weil ich gehofft habe, daß... Du
spürst also die Wunden noch? Du fühlst sie noch? Ich habe gehofft, daß es für
dich nun keinen Schmerz mehr geben würde und daß jede Spur gelöscht sein
würde. Auch für uns. Für uns Sünder. Diese Wunden... ! Welch ein Schmerz, sie
zu sehen!»
«Ja, warum hast du sie nicht
ausgelöscht? Bei Lazarus sind keine Male zurückgeblieben... Diese Wunden...
sind eine Anklage! Sie schreien mit furchtbarer Stimme! Sie sind leuchtender
und furchteinflößender als die Blitze des Sinai», sagt Bartholomäus.
«Sie klagen uns unserer Feigheit
an, denn wir sind geflohen, als sie dir geschlagen wurden...» sagt Philippus.
«Und je mehr wir sie betrachten,
desto mehr klagt uns unser Gewissen an und wirft uns Feigheit, Dummheit und
Unglauben vor», sagt Thomas.
«Um unseres Friedens willen, um
des Friedens dieses sündigen Volkes willen, tilge diese Anklagen, o Herr, da
du gestorben und auferstanden bist für die Vergebung der Sünden der Welt»,
bettelt Andreas.
«Diese Wunden sind das Heil der
Welt. In ihnen ist das Heil. Die Welt, die haßt, hat sie aufgerissen, doch die
Liebe hat aus ihnen Arznei und Licht gemacht. Durch sie wurde die Schuld
angenagelt. Durch sie wurden alle Sünden der Menschen emporgehoben und
angeheftet, damit das Feuer der Liebe sie auf dem wahren Altar verzehre. Als
der Allerhöchste Moses gebot, die Bundeslade und den Rauchopferaltar
anzufertigen, wollte er sie da nicht mit Löchern und Ringen versehen, damit
sie emporgehoben und getragen werden könnten, wohin der Herr wollte? Auch ich
bin durchbohrt. Und ich bin mehr als die Bundeslade und der Altar. Ich bin
sehr viel mehr als die Bundeslade und der Altar. Ich habe den Duft meiner
Liebe für Gott und den Nächsten verbrannt und habe die Last aller
Ungerechtigkeiten der Welt auf mich genommen. Und daran muß die Welt sich
erinnern. Damit sie nicht vergißt, wieviel es einen Gott gekostet hat. Damit
sie nicht vergißt, wie sehr Gott sie geliebt hat. Damit sie die Folgen der
Sünde nicht vergißt, und daß nur in einem das Heil ist: in dem, den sie
durchbohrt haben. Wenn die Welt meine roten Wunden nicht mehr sähe, wahrlich,
sie würde sehr rasch vergessen, daß ein Gott sich geopfert hat um ihrer Sünden
willen; sie würde vergessen, daß ich wirklich unter
91
den furchtbarsten Qualen
gestorben bin; sie würde vergessen, welches der Balsam für ihre Wunden ist.
Hier ist der Balsam. Kommt und küßt sie. Jeder Kuß ist vermehrte Reinigung und
Gnade für euch. Wahrlich, ich sage euch, Reinigung und Gnade kann es nie genug
geben, denn die Welt verbraucht, was der Himmel schenkt, und das Verderben der
Welt muß mit dem Himmel und seinen Schätzen aufgewogen werden. Ich bin der
Himmel. Der ganze Himmel ist in mir, und die himmlischen Schätze fließen aus
diesen offenen Wunden.»
Jesus reicht den Aposteln die
Hände zum Kuß. Und er muß diese durchbohrten Hände selbst auf die
sehnsüchtigen und zugleich ängstlichen Lippen drücken, denn die Angst, seine
Schmerzen zu vergrößern, hält sie zurück, ihre Lippen auf diese Wunden zu
pressen.
«Nicht dies schmerzt, auch wenn
ich es spüre. Schmerz bereitet mir etwas anderes... !»
«Was, Herr?» fragt Jakobus des
Alphäus.
«Daß ich für viele vergebens
gestorben bin... Aber gehen wir. Vielmehr, geht ihr voraus. Nach Gethsemane
gehen wir... Was ist? Habt ihr Angst?»
«Nicht unseretwegen, Herr... Aber
die Großen von Jerusalem hassen dich mehr denn je.»
«Fürchtet nichts. Nicht für euch,
denn Gott beschützt euch; und nicht für mich, denn für mich ist die
Beschränktheit des menschlichen Daseins zu Ende. Ich gehe nun zu meiner
Mutter, und dann komme ich euch nach. Wir müssen viele schreckliche Dinge
auslöschen, die jüngst durch Sünde und Haß geschehen sind. Und wir werden es
durch Liebe tun, durch das Gegenteil dessen, was Sünde war... Seht ihr? Euer
Kuß löscht und lindert den Schmerz und die Folgen der Nägel im lebendigen
Fleisch. So wird auch, was wir nun tun, die furchtbaren Zeichen auslöschen und
die Orte heiligen, die die Sünden geschändet haben. Damit sie euch nicht allzu
großen Schmerz bereiten, wenn ihr sie seht ...»
«Gehen wir auch zum Tempel?»
Schrecken und Angst zeichnet sich auf den Gesichtern aller ab.
«Nein. Ich würde ihn durch meine
Gegenwart heiligen, und das geht nicht. Es hätte sein können, aber man hat es
nicht gewollt. Nun gibt es keine Rettung mehr für ihn. Der Tempel ist ein
Leichnam, der rasch verwest. Lassen wir ihn seinen Toten. Sie sollen ihn
begraben. Wahrlich, die Löwen und die Aasgeier werden das Grab und den Kadaver
zerreißen, und es wird nicht einmal das Skelett des Großen Toten bleiben, der
das Leben nicht gewollt hat.»
Jesus geht die Treppe hinauf und
verläßt den Saal. Die anderen folgen ihm schweigend. Doch als sie den Gang
betreten, der als Vorhalle dient, ist Jesus verschwunden. Das Haus ist still
und scheint verlassen zu sein. Alle Türen sind geschlossen.
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Johannes zeigt auf die Tür
gegenüber dem Abendmahlsaal und sagt: «Dort ist Maria. Sie ist immer dort. Wie
in ständiger Ekstase. Ihr Antlitz strahlt in unbeschreiblichem Licht. Es ist
die Freude, die aus ihrem Herzen strahlt. Gestern hat sie zu mir gesagt:
"Denke nur, Johannes, wieviel Glückseligkeit sich in alle Reiche Gottes
ergossen hat." Ich habe sie gefragt: "In welche Reiche?" Ich dachte, sie habe
wunderbare Offenbarungen über das Reich ihres Sohnes, des Siegers auch über
den Tod, gehabt. Doch sie hat nur geantwortet: "Ins Paradies, ins Fegefeuer
und in den Limbus. Verzeihung für die Büßenden. Einlaß in den Himmel für alle
Gerechten und alle, denen verziehen worden ist. Das Paradies von Seligen
bevölkert. Gott in ihnen verherrlicht. Unsere Vorfahren und Verwandten dort
oben, in der Freude. Und auch Freude im Reich auf Erden, wo nun sein Zeichen
erstrahlt und die Quelle erschlossen ist, die Satan besiegt und die Erbschuld
und die Sünde tilgt. Nicht mehr nur Friede den Menschen, die guten Willens
sind, sondern auch Erlösung und Wiederzulassung in den Stand der Kinder
Gottes. Ich sehe die Menschenscharen, oh, wie viele!, die zu diesem Brunnen
hinabsteigen, in das Wasser tauchen und erneuert und schön herauskommen, im
hochzeitlichen Gewand, im königlichen Gewand. Die Hochzeit der Seelen mit der
Gnade, das Königtum, Kinder des Vaters und Brüder Jesu zu sein."»
Indessen sind sie hinaus auf die
Straße gegangen und entfernen sich, während der Abend herniedersinkt.
Die Straße ist nicht sehr belebt,
besonders zu dieser Stunde, da sich die Leute zur Abendmahlzeit um den Tisch
zusammenfinden. Jerusalem, das an Ostern von Menschenscharen überflutet war,
die es nach dem dieses Jahr so tragisch verlaufenen Fest wieder verlassen
haben, erscheint noch leerer als gewöhnlich. Thomas bemerkt es und macht die
anderen darauf aufmerksam.
«Es stimmt. Die Fremden haben die
Stadt nach dem Freitag entsetzt und überstürzt verlassen, und wer der großen
Angst jenes Tages widerstanden hat, ist beim zweiten Erdbeben geflohen, das
sich gewiß ereignet hat, als der Herr das Grab verlassen hat. Und auch die,
die nicht Heiden waren, sind geflüchtet. Viele, das weiß ich sicher, haben
nicht einmal das Lamm verzehrt und werden wiederkommen müssen, um das
zusätzliche Osterfest zu feiern. Und auch Bürger dieser Stadt sind geflohen
oder haben sich entfernt; die einen, um ihre Toten wegzubringen, die beim
Erdbeben des Rüsttags umgekommen sind, die anderen aus Furcht vor dem Zorn
Gottes. Es war ein furchtbares Beispiel der Macht Gottes», sagt der Zelote.
«Und es war gut so. Blitze und
Steinhagel über alle Sünder!» schimpft Bartholomäus.
«Sag das nicht! Sag das nicht!
Wir haben mehr als alle anderen die Strafen des Himmels verdient. Auch wir
sind Sünder... Erinnert ihr euch
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an diesen Ort ... ? Wie lange ist
es her? Zehn? Zehn Tage oder zehn Jahre oder zehn Stunden? So fern und doch so
nah erscheinen mir meine Sünden, diese Stunden und dieser Abend... daß ich es
nicht sagen könnte... Ich bin ganz verwirrt! Wir fühlten uns so sicher, so
mutig, so heroisch. Und dann? Dann! Ach ... !» Petrus schlägt sich mit der
Hand auf die Stirn und zeigt auf eine Stelle, denn sie sind schon an dem
kleinen Platz: «Hier, hier hatte ich schon Angst!»
«Schluß! Genug, Simon! Er hat dir
verziehen. Und vor ihm schon Maria. Genug! Du quälst dich unnötig!» sagt
Johannes.
«Oh, wenn es doch so wäre! Du,
Johannes, mußt mir immer helfen, weißt du? Immer! Weil du zu führen verstehst,
hat er dir seine Mutter anvertraut. Und das ist gut so. Aber ich, ein feiger,
lügenhafter Wurm, habe es nötiger als Maria, geführt zu werden. Denn ich habe
Schuppen vor den Augen und sehe nicht...»
«Wenn du so weitermachst, wirst
du sie bald wirklich haben. Du wirst dir noch die Augen ausweinen, und der
Herr wird nicht mehr da sein, um dich zu heilen...» sagt wiederum Johannes und
umarmt ihn, um ihn zu trösten.
«Mir würde genügen, daß meine
Seele gut sieht. Die Augen... zählen ja doch nicht.»
«Sie zählen sogar sehr viel! Was
werden die Kranken jetzt tun? Hast du gestern gesehen, wie verzweifelt die
Frau war?» sagt Andreas.
«Ja...» Sie sehen sich
gegenseitig an und bekennen dann alle: «Und keiner von uns hat sich für würdig
erachtet, ihr die Hände aufzulegen...»Die Erinnerung an ihr schmähliches
Benehmen erdrückt sie.
Doch Thomas sagt zu Johannes: «Du
hättest es aber tun können. Du bist nicht davongelaufen. Du hast ihn nicht
verleugnet und bist nicht ungläubig gewesen...»
«Auch ich habe meine Sünde auf
dem Gewissen. Auch ich habe gegen die Liebe gefehlt. Beim Torbogen des Hauses
von Josua habe ich Elchias am Kragen gepackt und beinahe erwürgt, denn er
hatte die Mutter beleidigt. Und außerdem habe ich Judas von Kerioth gehaßt und
verflucht!» sagt Johannes.
«Schweig! Nenne diesen Namen
nicht! Es ist der Name eines Dämons, und ich habe den Eindruck, daß er noch
nicht in der Hölle ist und hier um uns herumgeistert, damit wir noch mehr
sündigen», sagt Petrus wirklich erschrocken.
«Oh, der ist schon in der Hölle!
Aber selbst wenn er hier wäre, mit seiner Macht ist es nun zu Ende. Er hatte
alles, um ein Engel zu werden, und er ist der Teufel geworden, und Jesus hat
den Teufel besiegt», sagt Andreas.
«Gut... Aber es ist besser,
seinen Namen nicht zu nennen. Ich habe Angst, denn ich weiß jetzt, wie schwach
ich bin. Was dich betrifft,
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Johannes, so brauchst du keine
Schuldgefühle zu haben. Alle werden den Menschen verfluchen, der den Meister
verraten hat!»
«Nein. Maria hat mir gesagt, daß
das Gericht Gottes über ihn genügt und daß es bei uns nur ein Gefühl geben
darf: das der Dankbarkeit, nicht selbst zu Verrätern geworden zu sein. Und
wenn sie, die Mutter, die die Qualen des Sohnes miterlebt hat, ihn nicht
verflucht, dürfen wir es dann tun? Vergessen wir ...»
«Das können nur Dummköpfe tun!»
ruft sein Bruder Jakobus aus.
«Und doch waren dies die Worte
des Meisters, als er von den Sünden des Judas sprach...» Johannes seufzt und
schweigt.
«Was, gibt es noch andere? Was
weißt du? ... Sprich!»
«Ich habe versprochen, zu
vergessen, und ich bemühe mich, es zu tun. Was Elchias betrifft... bin ich zu
weit gegangen... Aber an jenem Tag hatte jeder von uns seinen Engel und seinen
Teufel zur Seite, und nicht immer haben wir auf den Engel des Lichtes
gehört...»
Der Zelote sagt: «Weißt du, daß
Nahum zum Krüppel geworden ist und sein Sohn von einer Mauer oder einem
Felsbrocken zerschmettert wurde? Ja, am Tag des Todes. Man hat ihn erst später
gefunden. Oh, sehr viel später, als er schon stank. Einer, der auf den Markt
ging, hat ihn entdeckt. Und Nahum war bei seinesgleichen, und ich weiß nicht,
ob er von einem Stein oder einem Keulenschlag getroffen wurde. Ich weiß nur,
daß er erledigt ist und nichts mehr begreift. Er gleicht einem Tier, geifert
und winselt, und gestern hat er mit der einen heilen Hand seinen... Herrn, der
zu ihm gekommen war, am Hals gepackt und geschrien, geschrien: "Deinetwegen!
Deinetwegen!" Wenn die Diener nicht zu Hilfe geeilt wären ...»
«Woher weißt du das, Simon?»
fragen sie den Zeloten.
«Ich habe Joseph gestern
gesehen», antwortet dieser lakonisch.
«Mir scheint, der Meister
verspätet sich. Ich mache mir Gedanken», sagt Jakobus des Alphäus.
«Kehren wir zurück...» schlägt
Matthäus vor.
«Laßt uns hier an der kleinen
Brücke warten», meint Bartholomäus.
Sie bleiben stehen. Doch Jakobus
des Zebedäus und der andere Jakobus, Andreas und Thomas kehren um, blicken
nachdenklich auf den Boden, sehen dann die Häuser an. Plötzlich wird Andreas
bleich und zeigt mit dem Finger auf eine Hauswand, wo auf dem weißen Kalk ein
rotbrauner Fleck zu sehen ist, und sagt: «Das ist Blut! Blut des Meisters
vielleicht? Hat er denn schon hier Blut verloren? Oh, sagt es mir!»
«Was sollen denn wir dir sagen,
da doch keiner von uns ihm gefolgt ist?» sagt Jakobus des Alphäus traurig.
«Aber mein Bruder und vor allem
Johannes sind ihm gefolgt ...»
«Nicht sofort, nicht sofort.
Johannes hat uns gesagt, daß sie ihm erst vom Haus des Malachias an
nachgegangen sind. Hier war keiner. Keiner von uns...» sagt Jakobus des
Zebedäus.
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Hypnotisiert starren sie auf den
großen, dunklen, nicht sehr weit vom Erdboden entfernten Fleck auf der weißen
Wand, und Thomas bemerkt: «Nicht einmal der Regen hat ihn abgewaschen. Nicht
einmal der starke Hagel dieser Tage hat ihn entfernt... Wenn ich wüßte, daß es
sein Blut ist, würde ich die Mauer abkratzen...»
«Fragen wir die Hausbewohner.
Vielleicht wissen sie es ...» schlägt Matthäus vor, der sie eingeholt hat.
«Nein, du weißt, sie könnten uns
als seine Apostel erkennen; sie könnten Feinde des Christus sein und...»
entgegnet Thomas.
«Und wir sind immer noch
Feiglinge...» beendet Jakobus des Alphäus mit einem tiefen Seufzer den Satz.
Langsam, langsam haben sie sich
alle der Mauer genähert und betrachten sie... Eine Frau, die mit ihren Krügen,
von denen das frische Wasser tropft, verspätet vom Brunnen kommt, beobachtet
sie. Schließlich stellt sie die Krüge auf den Boden und fängt zu fragen an:
«Schaut ihr den Fleck an der Mauer an? Ihr seid Jünger des Meisters? Ihr
scheint es zu sein, obwohl eure Gesichter hager und abgezehrt sind und..
obwohl ich euch nicht hinter dem Herrn gesehen habe, als er hier gefangen
vorüberging, um zum Tod geführt zu werden. Dies macht mich unsicher, denn ein
Jünger, der dem Meister in den guten Stunden folgt, der stolz ist, sein Jünger
zu sein, und mit strengen Blicken andere anschaut, die nicht wie er sofort
alles liegen und stehen lassen, um dem Meister zu folgen, ein solcher Jünger
muß auch in bösen Stunden bei seinem Meister sein. Wenigstens müßte er es
sein. Aber ich habe euch nicht gesehen. Nein, ich habe euch nicht gesehen. Und
da ich euch nicht gesehen habe, ich, die Frau aus Sidon, so heißt das, daß ich
dem gefolgt bin, dem seine israelitischen Jünger nicht gefolgt sind. Aber mir
hat er Gutes getan. Ihr... Hat er euch denn nie Gutes getan? Das erscheint mir
sonderbar, denn er hat Heiden und Samaritern, Sündern und sogar Verbrechern
Gutes getan und ihnen das ewige Leben geschenkt, wenn er ihnen das irdische
nicht mehr geben konnte. Hat er euch denn nicht geliebt? Dann ist das ein
Beweis dafür, daß ihr schlimmer als Giftschlangen und unreine Hyänen seid;
obwohl, in Wahrheit glaube ich, daß er auch Vipern und Schakale geliebt hat,
nicht weil sie sind, was sie sind, sondern weil sie Geschöpfe seines Vaters
sind.
Dies hier ist Blut. Ja. Es ist
Blut. Das Blut einer Frau vom Ufer des großen Meeres. Einst waren es Gebiete
der Philister, und die Bewohner jener Gegend werden noch immer ein wenig von
den Hebräern verachtet. Und dennoch hat diese Frau den Meister verteidigt, bis
ihr Ehemann sie umgebracht hat. Nachdem er sie geschlagen hatte, schleuderte
er sie mit solcher Wucht gegen die Mauer, daß ihr Schädel brach und das Gehirn
und das Blut an die Mauer ihres Hauses spritzten, in dem jetzt die Waisen um
die Mutter weinen. Sie hatte eine Wohltat empfangen. Der Meister hatte ihren
Mann von einer furchtbaren unreinen Krankheit geheilt. Und sie
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hat den Meister deshalb geliebt.
Sie hat ihn so geliebt, daß sie für ihn gestorben ist. Sie ist ihm
vorausgegangen in den Schoß Abrahams, wie ihr sagt. Auch Annalia ist ihm
vorausgegangen und wäre ebenso für ihn gestorben, wenn der Tod sie nicht zuvor
ereilt hätte. Und auch eine Mutter dort weiter oben hat den Weg mit Blut
gewaschen, mit dem Blut ihres Leibes, den ihr brutaler Sohn ihr aufriß, als
sie den Meister verteidigen wollte. Und eine Greisin ist vor Schmerz
gestorben, als sie den verwundet und geschlagen vorübergehen sah, der ihrem
Sohn das Augenlicht wiedergegeben hatte. Und ein alter Bettler mußte sterben,
weil er sich schützend vor ihn gestellt hatte und einen Stein an den Kopf
bekam, der für den Kopf eures Herrn bestimmt war. Ihr habt doch an ihn als an
den Herrn geglaubt, nicht wahr? Die tapferen Soldaten eines Königs umringen
ihn und sterben. Aber keiner von euch ist gestorben. Ihr wart weit weg von
denen, die ihn quälten. Ah, nein! Einer ist gestorben! Er hat sich selbst
getötet. Aber nicht aus Gram. Nicht um den Meister zu verteidigen. Zuerst hat
er ihn verkauft, dann hat er ihn mit einem Kuß verraten, und schließlich hat
er sich umgebracht. Er konnte nichts anderes mehr tun. Seine Bosheit konnte
nicht noch größer werden. Er war vollkommen -wie Beelzebub. Die Welt hätte ihn
gesteinigt, um die Erde von ihm zu befreien. Oh, ich glaube, daß jene
mitleidige Frau, die gestorben ist, weil sie den Märtyrer vor den Schlägen
schützen wollte, ich glaube, daß die alte Anna, die vor Schmerz, ihn so sehen
zu müssen, gestorben ist, daß der alte Bettler, die Mutter des Samuel und die
Jungfrau, die gestorben ist, daß ich, die ich nicht imstande bin, zum Tempel
hinaufzugehen, weil mir die geopferten Lämmer und Tauben leidtun – ich glaube,
daß wir den Mut gehabt hätten, ihn zu steinigen und daß wir nicht gezittert
hätten beim Anblick seiner Verletzungen von den Steinen. Er hat dies gewußt
und der Welt die Mühe erspart, ihn zu töten, und uns hat er davor bewahrt,
seine Henker zu werden, um den Unschuldigen zu rächen...»
Die Frau schaut sie voller
Verachtung an. Ihre Verachtung ist immer deutlicher geworden, während sie
gesprochen hat. Ihre großen, schwarzen Augen sind hart wie die Augen eines
Raubvogels, als sie die Gruppe betrachtet, die nichts zu entgegnen weiß,
nichts entgegnen kann... Das letzte Wort: «Mißgeburten!» zischt sie zwischen
den Zähnen, nimmt ihre Krüge und geht zufrieden weiter, weil sie ihren Unmut
über die Jünger, die den Meister verlassen haben, zum Ausdruck gebracht hat.
Die Apostel sind völlig
niedergeschmettert, vernichtet. Sie stehen mit gesenkten Köpfen da und lassen
traurig die Arme hängen ... Die Wahrheit erdrückt sie. Sie denken über die
Folgen ihrer Feigheit nach ... schweigen... wagen nicht einander anzusehen.
Selbst Johannes und der Zelote, die beiden, auf die diese Anklage nicht
zutrifft, stehen wie die anderen da, vielleicht aus Kummer, die Gefährten so
gedemütigt zu sehen und nicht in der
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Lage zu sein, die Wunden, die die
aufrichtigen Worte der Frau geschlagen haben, zu heilen...
Die Straße liegt nun im
Halbschatten. Der Mond, im letzten Viertel geht spät auf, und die Dämmerung
bricht rasch herein. Es herrscht absolute Stille. Kein Laut, keine menschliche
Stimme. Nur der Kedron rauscht in diesem Schweigen. Und als plötzlich die
Stimme Jesu zu hören ist, schrecken sie auf, als wäre es ein
furchteinflößender Klang, während Jesus doch so sanft sagt: «Was tut ihr hier?
Ich habe bei den Ölbäumen auf euch gewartet... Was betrachtet ihr tote Dinge,
da euch das Leben erwartet? Kommt mit mir.» Jesus scheint vom Gethsemane zu
ihnen gekommen zu sein und bleibt neben ihnen stehen.
Er sieht den Blutfleck an, auf
den die entsetzten Blicke der Apostel gerichtet sind, und sagt: «Diese Frau
ist schon im Frieden. Sie hat den Schmerz vergessen. Sie sorgt sich nicht mehr
um die Kinder? Nein. Doppelt sorgt sie sich um sie und wird sie heiligen, denn
um nichts anderes bittet sie Gott.»
Er macht sich auf den Weg. Die
Apostel folgen ihm schweigend.
Doch Jesus dreht sich um und
sagt: «Warum fragt ihr in euren Herzen: "Warum bittet sie nicht um die
Bekehrung ihres Mannes? Sie ist nicht heilig, wenn sie ihn haßt..."? Sie haßt
ihn nicht. Sie hat ihm sofort verziehen, als er sie umbrachte. Aber eine
Seele, die ins Reich des Lichtes eingegangen ist, sieht alles mit Weisheit und
Gerechtigkeit. Und sie sieht, daß es keine Bekehrung und Vergebung für den
Ehemann geben wird. Also betet sie für die, denen es nützen kann. Es ist nicht
mein Blut, nein. Und doch habe ich auch auf diesem Weg viel Blut verloren... !
Aber die Schritte der Feinde haben es mit Staub und Schmutz vermischt, und der
Regen hat es aufgelöst und unter den Staub geschwemmt. Trotzdem ist immer noch
viel Blut zu sehen, denn es ist so viel geflossen, daß Schritte und Wasser es
nicht leicht verwischen können. Wir wollen zusammen hingehen, und ihr werdet
das für euch vergossene Blut sehen...»
«Wohin? Wohin will er gehen? An
den Ort, an dem er geweint hat? Zum Prätorium?» fragen sie sich.
Und Johannes sagt: «Claudia ist
zwei Tage nach dem Sabbat wieder abgereist, wie man sagt, aus Empörung und
sogar aus Furcht, an der Seite ihres Gemahls zu bleiben... Der Lanzenträger
hat es mir gesagt. Claudia trennt ihre Verantwortung von der des Gatten. Denn
sie hatte ihn davor gewarnt, den Gerechten zu verfolgen, und ihm gesagt, es
sei besser, von den Menschen als vom Allerhöchsten verfolgt zu werden, dessen
Messias der Meister sei. Auch Plautina und Lydia sind nicht mehr da. Sie sind
Claudia nach Caesarea gefolgt. Und Valeria ist mit Johanna nach Bether
gegangen. Wenn sie dagewesen wären, hätten wir hineingehen können. Aber nun...
ich weiß nicht. Auch Longinus ist nicht da, denn Claudia wollte ihn in ihrer
Eskorte haben», sagt Johannes.
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«Dann wird es der Ort sein, an
dem du das Blut im Gras gesehen hast...»
Jesus, der vorausgeht, dreht sich
um und sagt: «Wir gehen zum Golgotha. Dort ist so viel von meinem Blut, daß
die Erde hartem Eisenerz gleicht. Und es ist schon jemand vor euch dort
gewesen ...»
«Aber der Ort ist unrein!»
schreit Bartholomäus.
Jesus lächelt mitleidig und
antwortet: «Jeder Ort in Jerusalem ist unrein nach dieser furchtbaren Sünde;
aber ihr fühlt nur deshalb Unbehagen, weil ihr die Leute fürchtet ...»
«Dort sind immer die Verbrecher
gestorben...»
«Ich bin dort gestorben. Und ich
habe diesen Ort für immer geheiligt. Wahrlich, ich sage euch, bis an das Ende
der Zeiten wird es keinen heiligeren Ort als diesen geben, und Menschen aus
allen Teilen der Welt werden zu allen Zeiten kommen, um seinen Boden zu
küssen. Und es ist schon jemand vor euch dort gewesen. Jemand, der den Spott
und die Rache nicht fürchtet, und auch nicht fürchtet, sich zu verunreinigen.
Und doch hatte dieser Mensch doppelt Grund, dies zu fürchten.»
«Wer ist es, Herr?» fragt
Johannes, den Petrus mit dem Ellbogen in die Seite stößt, damit er fragt.
«Maria des Lazarus. So wie sie
die Blumen aufgelesen hat, die meine Füße berührt hatten, als ich vor Ostern
ihr Haus betrat, und sie als Andenken der Freude an die Jüngerinnen verteilt
hat, so ist sie jetzt den Kalvarienberg hinaufgestiegen und hat mit ihren
Händen die von meinem Blut hart gewordene Erde aufgegraben. Dann ist sie mit
ihrer Last hinabgestiegen, um sie in den Schoß meiner Mutter zu legen. Sie hat
sich nicht gefürchtet. Und sie war als die "Sünderin" und auch als die
"Jüngerin" bekannt. Und auch sie, die die Erde der Schädelstätte in ihrem
Schoß hielt, glaubte sich nicht zu verunreinigen. Mein Blut hat alles
ausgelöscht, und die Erde, auf die es gefallen ist, ist heilig. Morgen, vor
der sechsten Stunde, werdet ihr zum Golgotha hinaufsteigen. Dort werde ich zu
euch kommen... Aber, wer mein Blut sehen will: hier ist es.» Jesus zeigt auf
das Geländer der kleinen Brücke. «Hier ist mein Mund angestoßen und Blut aus
meinen Lippen geflossen. Mein Mund hatte nur heilige Worte und Worte der Liebe
gesprochen. Warum also wurde er geschlagen, und warum hat ihn niemand mit
einem Kuß geheilt ... ?»
Sie betreten Gethsemane. Jesus
muß zuerst ein Schloß öffnen, das nun den Zugang zum Ölgarten versperrt. Ein
neues Schloß. Ein fester, hoher Zaun mit scharfen Spitzen und einem starken,
ganz neuen Schloß. Jesus nimmt den Schlüssel, der so neu ist, daß er wie Stahl
glänzt, und öffnet das Schloß im Licht eines brennenden Spans, den Philippus
angezündet hat, da es inzwischen Nacht geworden ist.
«Dieser Zaun war vorher nicht
da... Warum ... ?» flüstern sie und betrachten die Umzäunung des Gethsemane.
«Gewiß will Lazarus, daß
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niemand mehr hier hereinkommt.
Schau dort: Steine, Ziegel und Kalk. Jetzt ist es noch ein Holzzaun, aber bald
wird es eine Mauer sein...»
Jesus sagt: «Kommt. Kümmert euch
nicht um tote Dinge, sage ich euch... Seht, hier seid ihr gewesen... Und hier
hat man mich umstellt und gefangengenommen, und in diese Richtung seid ihr
geflohen... Wenn dieser Zaun schon dagewesen wäre... hätte er eure eilige
Flucht verhindert. Aber wie hätte Lazarus, dessen brennender Wunsch es war,
mir zu folgen, so wie es euer brennender Wunsch war, zu fliehen, wie hätte er
auf den Gedanken kommen sollen, daß ihr fliehen würdet? Ich bereite euch
Schmerz? Zuerst habe ich gelitten. Und ich möchte diesen Schmerz vergessen.
Küsse mich, Petrus...»
«Nein, Herr! Nein! Die Tat des
Judas, hier, zur gleichen Stunde, nein, nein, nein!»
«Küsse mich. Ich brauche es, daß
ihr mit aufrichtiger Liebe die unaufrichtige Geste des Judas wiederholt.
Danach werdet ihr glücklich sein. Wir werden glücklich sein. Ihr und ich.
Komm, Petrus, küsse mich.»
Petrus küßt ihn nicht nur. Er
wäscht die Wange des Herrn mit seinen Tränen und zieht sich dann zurück,
verhüllt sein Antlitz, setzt sich auf den Boden und weint. Auch die übrigen
küssen Jesus, einer nach dem anderen, auf die gleiche Stelle. Und alle haben
mehr oder weniger tränennasse Gesichter...
«Und nun wollen wir gehen. Alle
zusammen. Ich habe mich an jenem Abend nur wenige Stunden von euch getrennt,
nachdem ich euch mit meinem Leib gestärkt hatte. Und doch seid ihr sofort
gefallen. Denkt immer daran, wie schwach ihr gewesen seid und daß ihr ohne die
Hilfe Gottes nicht eine Stunde in der Gerechtigkeit verharren könntet. Hier
habe ich die zu wachen gebeten, die sich für die Stärksten hielten, für so
stark, daß sie von meinem Kelch zu trinken verlangten und erklärten, lieber
sterben zu wollen als mich zu verleugnen. Und ich habe sie zurückgelassen und
ihnen aufgetragen, zu beten... Ich bin gegangen, und sie haben geschlafen.
Denkt daran und lehrt es: Wenn Jesus euch alleinläßt und ihr nicht durch Gebet
mit ihm verbunden bleibt, fallt ihr leicht in Schlaf und könnt
gefangengenommen werden. Hätte ich euch nicht aufgeweckt, hättet ihr im Schlaf
sogar getötet werden können und so, in eurer ganzen menschlichen Schwäche, vor
dem Gericht Gottes erscheinen müssen. Kommt weiter... Da! Zieh den Zweig
herunter, Philippus. Hier. Wer mein Blut sehen will, soll schauen. Hier habe
ich in der größten Todesangst Blut geschwitzt. Schaut... So viel, daß der
Boden hart und das Gras noch blutbefleckt ist; denn der Regen konnte die
Blutkrusten nicht von den Blüten und Stengeln abwaschen. Seht! Dort habe ich
mich angelehnt, und hier erschien der Engel, um meinen Willen, den Willen
Gottes zu erfüllen, zu stärken. Denn, vergeßt das nicht: Wenn man immer den
Willen Gottes tun will und als Geschöpf versagen würde, kommt Gott mit seinem
Engel dem erschöpften
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Helden zu Hilfe. Wenn ihr von
Ängsten heimgesucht werdet, dann fürchtet nicht, feige zu werden oder
abzufallen, wenn ihr nur tun wollt, was Gottes Wille ist. Gott wird euch zu
Riesen des Heroismus machen, wenn ihr seinem Willen treu bleibt. Denkt daran!
Denkt daran! Ich habe euch schon einmal gesagt, daß ich nach der Versuchung in
der Wüste von Engeln gestärkt wurde. Nun sollt ihr wissen, daß ich auch hier
nach der letzten Versuchung von einem Engel gestärkt wurde. So wird es auch
euch ergehen und all denen, die meine Getreuen sein werden. Denn, wahrlich,
ich sage euch, die Hilfe, die ich erhalten habe, werdet auch ihr erhalten. Ich
selbst werde euch diese Hilfe erlangen, wenn sie euch nicht schon der Vater in
seiner liebevollen Gerechtigkeit gewährt hat. Nur der Schmerz wird immer
geringer sein als der meine... Setzt euch. Im Osten geht der Mond auf, und es
wird hell. Ich glaube nicht, daß ihr heute nacht schlafen werdet, obgleich ihr
immer noch die Alten seid und immer noch nur Menschen. Nein, ihr werdet nicht
schlafen, denn in euch wirkt nun etwas, was zuvor nicht vorhanden war. Es sind
die Gewissensbisse. Eine Qual, gewiß. Aber sie dienen dazu, höhere Stufen zu
erklimmen, sowohl im Guten wie auch im Bösen. In Judas von Kerioth, der sich
von Gott entfernt hatte, führten sie zu Verzweiflung und Verdammung. In euch,
die ihr euch nie von Gott entfernt habt – ich versichere euch dies, denn ihr
habt nicht aus freiem Willen und bewußt gehandelt – werden sie eine
vertrauensvolle Reue hervorbringen, die euch zur Weisheit und Gerechtigkeit
führen wird. Bleibt, wo ihr seid. Ich werde mich einen Steinwurf weit
entfernen, in Erwartung des Morgens.»
«Oh, verlasse uns nicht, Herr! Du
selbst hast doch gesagt, was wir fern von dir sind!» bettelt Andreas auf den
Knien und mit ausgestreckten Händen, als ob er um ein Almosen bitten würde.
«Ihr habt die Reue. Sie ist eine
gute Freundin der Guten.»
«Entferne dich nicht, Herr! Du
hast uns versprochen, daß wir zusammen beten werden...» fleht Thaddäus, der
dem Auferstandenen gegenüber nicht mehr die Gesten des Verwandten wagt,
sondern – hochgewachsen wie er ist – ehrerbietig und leicht verneigt dasteht.
«Ist nicht die Betrachtung das
wirksamste Gebet? Habe ich euch nicht zur Sammlung und Betrachtung aufgerufen
und euch Gegenstände der Betrachtung genannt, seit ich euch auf dem Weg
begegnet bin und eure Herzen mit heiligen Gefühlen erfüllt habe? Dies ist das
Gebet, o Menschenkinder: Mit dem Ewigen in Verbindung zu treten und mit den
Dingen, die dazu dienen, den Geist weit über die Erde hinauszuführen; die
Vollkommenheit Gottes zu betrachten und das Elend der Menschen, der eigenen
Person; das Erwecken von Willensakten der Liebe oder Wiedergutmachung, immer
aber der Anbetung, auch wenn dieser Wille der Betrachtung einer Schuld oder
einer Strafe entspringt. Das Gute und das Böse dienen dem letzten Ziel, wenn
man das Richtige daraus macht. Ich
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habe es schon so oft gesagt. Die
Sünde ist nur dann eine unheilbare Krankheit, wenn man ihr nicht die Reue und
die Wiedergutmachung folgen läßt. Im anderen Fall, mit der Reue im Herzen,
schafft man den Zement, der die Fundamente der Heiligkeit festigt, deren
Bausteine die guten Vorsätze sind. Könnt ihr die Steine ohne Zement
zusammenhalten? Ohne diese scheinbar grobe und gewöhnliche Substanz, ohne die
die glatten Steine und der glänzende Marmor nicht zusammenhalten und ein
Bauwerk bilden würden?»
Jesus schickt sich an zu gehen.
Johannes, mit dem sein Bruder,
der andere Jakobus, Petrus und Bartholomäus leise gesprochen haben, steht auf,
folgt ihm und sagt: «Jesus, mein Gott, wir hatten gehofft, mit dir zu deinem
Vater beten zu dürfen. Dein Gebet. Wir haben nicht das Gefühl, daß uns
verziehen worden ist, wenn du uns nicht gewährst, zusammen mit dir dieses
Gebet zu sprechen. Wir fühlen, daß wir es sehr nötig haben ...»
«Wo zwei zum Gebet versammelt
sind, da bin ich mitten unter ihnen. Sprecht also das Gebet miteinander, und
ich werde bei euch sein.»
«Ah! Du hältst uns nicht mehr für
würdig, mit dir zu beten», schreit Petrus, verbirgt sein Gesicht in dem noch
immer vom göttlichen Blut befleckten Gras und weint bitterlich.
Jakobus des Alphäus ruft: «Wir
sind unglücklich, Bru... Herr!» Er verbessert sich und sagt Herr statt Bruder.
Jesus sieht ihn an und sagt:
«Warum nennst du mich nicht Bruder, du, der du meines Blutes bist? Bruder
aller Menschen bin ich, und für dich bin ich es doppelt und dreifach: als Sohn
Adams, als Sohn Davids und als Sohn Gottes. Sprich zu Ende.»
«Bruder, mein Herr, wir sind
unglücklich und töricht, du weißt es. Und die Traurigkeit, in der wir
versinken, macht uns noch törichter. Wie können wir das Gebet mit der
richtigen inneren Teilnahme sprechen, wenn wir es nicht einmal richtig
begreifen?»
«Wie oft habe ich es euch schon
wie kleinen Kindern erklärt! Aber euer Geist ist schwerfälliger als der des
zerstreutesten Schülers irgendeines Lehrers, und ihr habt meine Worte nicht
behalten!»
«Das ist wahr! Aber nun ist unser
Geist von dem Schmerz erfüllt, dich nicht verstanden zu haben... Oh! Nichts
haben wir begriffen. Ich bekenne es für alle! Immer noch verstehen wir dich
nicht recht, o Herr. Doch ich bitte dich, sei nachsichtig mit unserer
Unfähigkeit, eben wegen des Übels, das uns so schwerfällig macht. Du warst
gestorben, und der große Rabbi hat am Fuß deines Kreuzes die Wahrheit über die
Verstocktheit Israels hinausgeschrien. Und du, allgegenwärtiger Gott, vom
Kerker des Fleisches befreiter Geist Gottes, hast diese Worte vernommen:
"Jahrhunderte über Jahrhunderte geistiger Blindheit liegen auf meinen inneren
Augen." Und er hat dich gebeten: "Durchdringe du, Befreier, diese meine armen
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Gedanken, die Gefangene der
Formeln sind!" O mein angebeteter und anbetungswürdiger Jesus, der du uns von
der Erbsünde befreit hast, indem du unsere Sünden auf dich genommen und sie im
Feuer deiner vollkommenen Liebe verbrannt hast, nimm und verbrenne auch
unseren Verstand, den Verstand dieser verstockten Israeliten, und gib uns
einen neuen Geist, jungfräulich wie der eines neugeborenen Kindes; nimm uns
unser Gedächtnis und erfülle uns nur mit deiner Weisheit. So vieles aus der
Vergangenheit ist an jenem schrecklichen Tag gestorben. Mit dir gestorben.
Aber nun, da du der Auferstandene bist, laß in uns ein neues Denken entstehen.
Schaffe uns ein neues Herz und einen neuen Geist, mein Herr, und wir werden
dich verstehen», bittet Johannes.
«Das ist nicht meine Aufgabe,
sondern Aufgabe dessen, von dem ich beim letzten Abendmahl gesprochen habe.
Jedes meiner Worte verliert sich ganz oder teilweise im Abgrund eures Denkens
oder bleibt verborgen und verschlossen in seinem Geist. Erst der Heilige Geist
wird meine Worte aus eurem Abgrund heraufholen und sie euch erschließen, um
euch ihren Sinn verständlich zu machen.»
«Aber du hast ihn uns doch
eingegossen», entgegnet der Zelote.
«Aber du hast doch gesagt, daß
er, der Geist der Wahrheit, kommen wird, sobald du zum Vater heimgekehrt
bist», entgegnet Matthäus gleichzeitig mit dem Zeloten.
«Sagt mir: Hat das Kind bei der
Geburt schon eine Seele?»
«Gewiß hat es eine», antworten
alle.
«Hat diese Seele aber die Gnade
Gottes?»
«Nein. Die Erbsünde lastet auf
ihr und raubt ihr die Gnade.»
«Und die Seele und die Gnade,
woher kommen sie?»
«Von Gott!»
«Warum schenkt Gott dem Geschöpf
also nicht gleich eine Seele in der Gnade?»
«Weil Adam bestraft wurde, und
wir in ihm. Aber nun, da du der Erlöser geworden bist, wird es so sein.»
«Nein, es wird nicht so sein. Die
Menschen werden immer unrein geboren werden in ihrer Seele, die Gott
erschaffen und das Erbe Adams befleckt hat. Doch durch einen Ritus, den ich
euch ein anderes Mal erklären werde, wird die dem Menschen eingegossene Seele
durch die Gnade belebt werden und der Geist des Herrn wird von ihr Besitz
ergreifen. Ihr jedoch, die ihr von Johannes mit Wasser getauft seid, werdet
mit dem Feuer der Macht Gottes getauft werden. Und dann wird der Geist Gottes
wirklich in euch sein. Er wird der Meister sein, den die Menschen nicht
verfolgen und vertreiben können und der euch im Innersten den Sinn meiner
Worte erklären und viele andere Unterweisungen geben wird. Ich habe ihn euch
eingegossen, denn nur durch meine Verdienste kann man alles erlangen und kann
alles gültig sein. Nur durch sie könnt ihr Gott besitzen, und nur
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durch sie kann das Wort eines
Gesandten Gottes Gültigkeit haben. Aber noch ist er nicht als Meister in euch,
der Geist der Wahrheit.»
«Nun, so sei es. Er wird zu
gegebener Zeit kommen. Doch laß uns inzwischen wenigstens deine Vergebung
fühlen. Sei uns Meister, o mein Herr. Noch, immer noch, denn du hast gesagt,
daß man siebenmal siebzigmal verzeihen soll», drängt Johannes. Und er endet –
er, der immer der Vertrauensvollste und Liebevollste ist und es wagt, die
herunterhängende linke Hand Jesu, deren Nagelwunde der Mond noch zu vergrößern
scheint, in seine Hände zu nehmen: «Du, der du das ewige Licht bist, laß nicht
zu, daß deine Diener in der Finsternis bleiben.» Und Johannes küßt sanft die
Spitzen der Finger, die etwas gekrümmt geblieben sind, gerade wie bei einem
Verletzten, der zwar geheilt ist, dessen Sehnen aber leicht zusammengezogen
sind.
Jesus gibt nach: «Kommt. Wir
wollen weiter hinaufgehen und das Gebet zusammen sprechen.» Er läßt seine Hand
in der Hand des Johannes und nähert sich nun schon der oberen Umzäunung des
Gethsemane, dem oberen Weg, der durch das Lager der Galiläer nach Bethanien
führt.
Auch hier kann man sehen, daß die
von Lazarus angeordnete Einfassung errichtet wird. An dieser Seite, die weiter
vom Haus des Hüters des Ölgartens entfernt ist, erhebt sich schon eine hohe,
glatte Mauer entlang dem gewundenen Feldweg und der Hecke, die bisher die
Grenze von Gethsemane gebildet haben.
Unten taucht Jerusalem nach und
nach aus der Finsternis auf, denn der Mond steht im Zenit und übergießt alles
mit dem weißen Licht seiner schmalen Sichel, die wie eine diamantene Flamme am
dunklen Firmament hängt, an dem die leuchtenden Punkte unzähliger Sterne
flimmern, diese unglaublich schönen Sterne des orientalischen Himmels.
Jesus breitet die Arme aus, seine
übliche Haltung beim Beten, und stimmt an: «Vater unser, der du bist im
Himmel.» Er unterbricht sich und erklärt: «Daß er Vater ist, hat er euch
dadurch bewiesen, daß er euch verziehen hat. Euch, die ihr mehr als alle
anderen zur Vollkommenheit
- ihr,
verpflichtet seid, euch, die er
mit Wohltaten überhäuft hat und die wie ihr selbst sagt, so unfähig seid, eure
Aufgabe zu erfüllen, hätte euch nicht jeder andere Herr, der nicht euer Vater
gewesen wäre, bestraft? Ich habe euch nicht bestraft. Der Vater hat euch nicht
bestraft. Denn was der Vater tut, das tut auch der Sohn, und was der Sohn tut,
das tut auch der Vater, da wir, vereint in der Liebe, ein einziger Gott sind.
Ich bin im Vater, und der Vater ist bei mir. Das Wort ist immer bei Gott, der
ohne Anfang ist. Und das Wort ist vor allen Dingen, seit einer Ewigkeit, die
den Namen "immer" trägt, seit einer ewigen Gegenwart bei Gott, und es ist Gott
wie Gott, da es das Wort des göttlichen Gedankens ist.
Wenn ich also fortgegangen bin
und ihr so zum Vater betet, meinem und eurem Vater – daher sind wir Brüder,
ich der Erstgeborene, ihr die
104
jüngeren Brüder – dann sollt ihr
immer auch mich in meinem und eurem Vater sehen. Ihr sollt das Wort sehen, das
für euch "der Meister" gewesen ist und euch geliebt hat bis zum Tod und über
den Tod hinaus. Denn ich habe euch mich selbst als Speise und Trank
hinterlassen, damit ihr in mir bleibt und ich in euch, solange das Exil
dauert, und wir uns dann alle in dem Reich wiedersehen, um das zu beten ich
euch gelehrt habe: "Zu uns komme dein Reich" nachdem ihr zuerst darum gebetet
habt, daß eure Werke den Namen des Herrn heiligen und ihn im Himmel und auf
Erden verherrlichen mögen. Ja. Es gäbe für euch kein Reich im Himmel, kein
Reich für die, die wie ihr glauben werden, wenn ihr nicht zuvor das Reich
Gottes in euch gehabt hättet durch die tatsächliche Befolgung des Gesetzes
Gottes und meines Wortes. Denn dieses ist die Vervollkommnung des Gesetzes, da
es euch in der Zeit der Gnade die Gesetze der Auserwählten gegeben hat, also
die Gesetze derer, die über den bürgerlichen, moralischen und religiösen
Verfassungen der mosaischen Zeit stehen und schon im geistigen Gesetz der Zeit
Christi leben.
Ihr seht, was es heißt, Gott zwar
nahe zu sein, Gott aber nicht in sich zu haben; was es heißt, das Wort Gottes
zwar zu besitzen, dieses Wort aber nicht wirklich zu befolgen. Jegliche
Missetat begeht man, wenn Gott zwar nahe, aber nicht im Herzen ist; wenn man
das Wort zwar kennt, ihm aber nicht gehorsam ist. Alles, alles nur deswegen.
Die Verstocktheit und die Verderbtheit, der Gottesmord, der Verrat, die
Marter, der Tod des Unschuldigen und seines Kain, alles rührt daher. Und doch,
wer ist so wie Judas von mir geliebt worden? Aber er hatte mich, Gott, nicht
in seinem Herzen. Und er ist der verdammte Gottesmörder, der unendlich
Schuldige als Israelit und Jünger, als Selbstmörder und Gottesmörder, ganz
abgesehen von seinen sieben Hauptsünden und allen seinen anderen Sünden.
Ihr könnt das Reich Gottes nun
mit größerer Leichtigkeit in euch haben, denn ich habe es euch erworben durch
meinen Tod. Ich habe euch durch meine Leiden erkauft. Vergeßt das nicht. Und
niemand soll die Gnade mit Füßen treten, denn sie hat das Leben und das Blut
eines Gottes gekostet. Möge also das Reich Gottes durch die Gnade in euch
sein, ihr Menschen; möge es auf Erden sein durch die Kirche; möge es im Himmel
sein durch die Scharen der Seligen, die es, nachdem sie mit Gott im Herzen
gelebt haben – vereint mit dem Leib, dessen Haupt Christus ist, vereint mit
dem Weinstock, dessen Reben alle Christen sind – verdienen, sich im Reich
dessen auszuruhen, für den alles geschaffen wurde: Ich, der zu euch spricht
und der sich selbst dem Willen des Vaters übergeben hat, auf daß alles erfüllt
werde. Daher kann ich euch ohne Heuchelei lehren: "Dein Wille geschehe, wie im
Himmel, also auch auf Erden." Denn daß ich den Willen meines Vaters erfüllt
habe, das können die Erdschollen, die Kräuter, die Blumen, die Steine
Palästinas, mein verwundetes Fleisch und ein ganzes Volk bestätigen.
105
Tut, was ich getan habe. Bis zum
äußersten. Bis zum Tod am Kreuz, wenn Gott es will. Denn, denkt daran, ich
selbst habe es getan, und es gibt keinen Jünger, der mehr Mitleid verdient als
ich. Und doch habe ich die größten Schmerzen ertragen. Und doch habe ich mit
stetiger Selbstverleugnung gehorcht. Ihr wißt es, und ihr werdet es in der
Zukunft noch besser verstehen, wenn ihr mir ähnlicher werdet, indem ihr einen
Schluck aus meinem Kelch trinkt... Haltet euch immer diesen Gedanken vor
Augen: "Durch seinen Gehorsam gegenüber dem Vater hat er uns gerettet." Und
wenn ihr Retter sein wollt, dann tut, was ich getan habe. Der eine oder andere
von euch wird auch das Kreuz kennenlernen, oder die Marter durch Tyrannen,
oder die Qual der Liebe, das Exil vom Himmel, nach dem er sich bis ins höchste
Alter sehnen wird, bevor er zu ihm aufsteigt. Nun, in allen Dingen geschehe
der Wille Gottes. Denkt daran, die Qual des Todes oder die Qual des Lebens,
wenn ihr euch nach dem Tod sehnt, um dorthin zu kommen, wo ich bin, sind
gleich in den Augen Gottes, wenn sie in frohem Gehorsam ertragen werden. Sie
sind sein Wille; daher sind sie heilig.
"Unser tägliches Brot gib uns
heute." Tag um Tag, Stunde um Stunde. Es ist Glaube, es ist Liebe, es ist
Gehorsam, es ist Demut und es ist Hoffnung, dieses Bitten um das Brot für
einen Tag und es so anzunehmen, wie es kommt. Heute süß, morgen bitter, viel
oder wenig, gut gewürzt oder mit Asche vermischt. Wie immer es ist, es ist
recht. Gott gibt es, Gott, der Vater ist. Daher ist es gut.
Einmal werde ich von dem anderen
Brot sprechen. Es wäre heilsam, dieses täglich zu genießen und den Vater zu
bitten, es euch immer zu erhalten. Denn, wehe den Tagen und den Orten, an
denen es durch den Willen der Menschen fehlen wird! Ihr seht, wie stark die
Menschen in den Werken der Finsternis sind. Bittet den Vater, daß er sein Brot
verteidige und es euch schenke. Und er möge es euch um so mehr schenken, je
mehr die Finsternis das Licht und das Leben ersticken will, wie es am Rüsttag
geschehen ist. Am zweiten Rüsttag gäbe es keine Auferstehung. Denkt alle
daran. Wenn auch das Wort nicht mehr getötet werden kann, so könnte seine
Lehre doch noch getötet und die Freiheit und der Wille, sie zu lieben, in
allzu vielen vernichtet werden. Aber dann wären auch Leben und Licht für die
Menschen zu Ende. Und wehe jenem Tag! Der Tempel diene euch als Beispiel.
Denkt daran, ich habe gesagt: "Er ist der große Leichnam."
"Vergib uns unsere Schuld, wie
auch wir vergeben unseren Schuldigern."
Da ihr alle Sünder seid, seid gut
zu den Sündern. Denkt an meine Worte: "Was siehst du den Splitter im Auge
deines Bruders, wenn du vorher nicht den Balken aus deinem Auge entfernt
hast?" Der Geist, den ich euch eingeflößt, und der Befehl, den ich euch
gegeben habe, befähigen euch, im Namen Gottes die Sünden des Nächsten zu
vergeben. Aber wie könnt ihr es tun, wenn Gott euch nicht die euren vergibt?
Später einmal werde ich davon reden. Jetzt sage ich euch: Verzeiht denen, die
euch beleidigen, damit
106
euch vergeben wird und ihr das
Recht habt, zu vergeben oder zu verurteilen. Wer ohne Sünde ist, kann dies mit
vollem Recht tun. Wer aber in Sünde ist und nicht verzeiht, sondern Entrüstung
vortäuscht, ist ein Heuchler, und die Hölle erwartet ihn. Denn wenn den
Unmündigen auch Barmherzigkeit widerfährt, so wird doch der Urteilsspruch
streng sein für deren Vormünder, die derselben oder noch größerer Sünde
schuldig sind, obwohl die Fülle des Geistes ihnen beisteht.
"Und führe uns nicht in
Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen." Seht, die Demut ist der
Grundstein der Vollkommenheit. Wahrlich, ich sage euch, segnet auch jene, die
euch demütigen, denn sie geben euch das Nötige für euren himmlischen Thron.
Nein, die Versuchung ist nicht
Verderb, wenn der Mensch demütig beim Vater bleibt und ihn bittet, nicht
zuzulassen, daß Satan, die Welt und das Fleisch über ihn triumphieren. Die
Kronen der Seligen sind geschmückt mit den Edelsteinen der besiegten
Versuchungen. Sucht sie nicht, aber seid nicht feige, wenn sie kommen.
Demütig, und gerade deshalb stark, schreit zu meinem und eurem Vater: "Erlöse
uns von dem Bösen", und ihr werdet das Böse besiegen. Und ihr werdet wahrhaft
den Namen Gottes durch eure Werke ehren, wie ich zu Beginn gesagt habe, denn
alle, die euch sehen werden, werden sagen: "Es gibt einen Gott, denn diese
leben wie Götter, so vollkommen ist ihre Lebensweise"; und sie werden zu Gott
kommen und so die Bewohner des Reiches Gottes vermehren.
Kniet nieder, damit ich euch
segne und mein Segen euch den Geist zur Betrachtung öffne.»
Sie werfen sich vor ihm nieder,
und er segnet sie und verschwindet dann, als ob ein Mondstrahl ihn aufgesogen
hätte.
Nach einer Weile heben die
Apostel erstaunt die Köpfe, da sie nichts mehr hören, und sehen, daß Jesus
verschwunden ist... Sie werfen sich erneut auf ihr Antlitz mit der
jahrhundertealten Furcht eines jeden Israeliten, der fühlt, mit dem Gott des
Himmels in Berührung gekommen zu sein.
693. DIE APOSTEL GEHEN NACH
GOLGOTHA; UND DANN...
Jerusalem brütet schon in der
Mittagssonne. Im Schatten der Bögen können sich die von dem grellen Weiß der
Mauern und den glühenden Straßen geblendeten Augen etwas erholen. Dieses
grelle Weiß der Mauern und das Halbdunkel unter den Bögen verwandeln Jerusalem
in eine sonderbare Schwarz-Weiß-Malerei, in ein Wechselspiel von heftigem
Licht und Halbschatten, der durch den Kontrast zum Licht einer Finsternis
gleicht – ein quälendes, bedrückendes Wechselspiel, denn man kann
107
weder im Übermaß an Licht noch im
Übermaß an Dunkelheit etwas sehen. Man geht mit halb geschlossenen Augen,
möglichst schnell an den heißen und sonnigen Stellen, und langsamer unter den
Bögen, wo dies sogar notwendig ist, da man bei dem Helligkeitsunterschied
selbst mit offenen Augen nur sehr wenig sieht.
So gehen auch die Apostel durch
eine Stadt, die in den Mittagsstunden leer und verlassen ist. Sie schwitzen
und schnaufen und trocknen sich Gesicht und Hals mit ihren Kopfbedeckungen ab.
Doch als sie die Stadt verlassen,
enden auch die erholsamen Bögen. Die staubige Straße längs der Stadtmauer, die
sich wie ein blendendes Band glühenden Staubes im Norden und Süden verliert,
gleicht einem Backofen. Die von ihr aufsteigende Gluthitze trocknet die Lungen
aus. Das Bächlein außerhalb der Mauer ist nur ein kleines Rinnsal in der Mitte
seines Bettes, dessen Kiesel in der Sonne gebleichten Schädeln gleichen. Die
Apostel stürzen sich auf dieses Rinnsal und trinken. Sie tauchen ihre
Kopfbedeckungen hinein und legen sie tropfnaß auf den Kopf, nachdem sie sich
das Gesicht gewaschen haben. Sie patschen mit bloßen Füßen im Bächlein herum.
Aber es ist nur eine armselige Erfrischung. Das Wasser ist so warm, als käme
es aus einem über dem Feuer hängenden Kessel. Und sie sagen es auch: «Es ist
warm und spärlich und riecht nach Schlamm und Natron. Wenn es so spärlich
fließt, bewahrt es den Geruch der morgendlichen Wäsche.»
Sie beginnen den Golgotha
hinaufzusteigen. Den öden Golgotha, auf dem die brennende Sonne das spärliche
Gras versengt hat, das noch vor etwa zwei Wochen den gelblichen Berg wie
dünner Flaum bedeckte. Nun gibt es nur noch wenige starre Büschel dorniger
Gewächse, ganz Stacheln und keine Blätter, die sich hier und da wie der Erde
entronnene Knochenhände emporrecken, und ihre durch den Staub des Berges mehr
gelbe als grüne Farbe gleicht tatsächlich soeben ausgegrabenem Gebein. Ja, sie
sehen wie kalzinierte, in den Boden gesteckte Knochen aus. Eines der Büschel
ist etwa zwei Handbreit lang gerade gewachsen, krümmt sich dann plötzlich wie
ein Ellbogen und endet nach einer Art Schaufel in fünf Stäbchen. Es ähnelt
wirklich einer ausgestreckten Hand, die die Vorübergehenden packen und sie an
diesem unheimlichen Ort festhalten will.
«Wollt ihr den kurzen oder den
langen Weg nehmen?» fragt Johannes, der einzige, der diesen Berg schon
bestiegen hat.
«Den kürzeren! Den kürzeren! Wir
wollen rasch oben sein! Hier kommt man ja vor Hitze um!» sagen alle mit
Ausnahme des Zeloten und Jakobus des Alphäus.
«Gehen wir!»
Die Steine der gepflasterten
Straße sind so heiß, als kämen sie aus einem Brennofen.
108
«Hier können wir nicht
weitergehen! Unmöglich!» sagen sie nach einigen Metern.
«Und doch ist der Herr bis zu dem
Dornbusch dort gegangen, obwohl er schon voller Wunden war und das Kreuz
tragen mußte», gibt Johannes zu bedenken, der weint, seit sie am Kalvarienberg
angelangt sind.
Sie gehen weiter. Doch bald
werfen sie sich erschöpft und keuchend zu Boden. Die im Bach naßgemachten
Tücher sind schon in der Sonne getrocknet, dafür triefen aber die Kleider von
Schweiß.
«Zu steil und zu heiß!» stöhnt
Bartholomäus.
«Ja, zu heiß!» bestätigt
Matthäus, der ganz rot im Gesicht ist.
«Die Sonne ist überall gleich.
Aber nehmen wir den anderen Weg hinauf. Er ist weniger mühsam, wenngleich
länger. Auch Longinus hat ihn gewählt, um dem Herrn den Aufstieg überhaupt
möglich zu machen. Seht ihr dort den etwas dunkleren Stein? Dort ist der Herr
zusammengebrochen, und wir glaubten ihn schon tot, wir, die wir von dort nach
Norden blickten, von der Vertiefung dort vor dem steilen Anstieg des Abhangs.
Seht ihr sie? Er rührte sich nicht mehr. Oh, der Schrei der Mutter! Ich höre
ihn noch! Ich werde diesen Schrei nie vergessen. Ich werde keinen ihrer
Seufzer vergessen... Ach, es gibt Dinge, durch die man in einer Stunde zum
Greis wird und die uns alle Schmerzen der Welt ermessen lassen... Auf, kommt!
Unser Märtyrer, der Herr, hat weniger Pausen gemacht als ihr», drängt
Johannes.
Sie stehen verstört auf und
folgen ihm bis zu der Stelle, wo der gepflasterte Weg den anderen kreuzt, der
in einer Spirale nach oben führt, und nehmen nun diesen. Er ist in der Tat
nicht so steil. Aber was für eine Hitze! Sie ist noch größer als zuvor, denn
der Hang, an dem dieser Weg verläuft, strahlt ebenfalls Hitze aus auf die
Wanderer, die sowieso schon unter den direkten Sonnenstrahlen zu leiden haben.
«Warum zwingst du uns, zu dieser
Stunde hier heraufzusteigen?! Hätten wir es nicht im ersten Morgengrauen tun
können, sobald es hell genug gewesen wäre, um zu sehen, wohin man den Fuß
setzt? Wir waren ja außerhalb der Stadtmauern und hätten nicht warten müssen,
bis man die Tore öffnet», jammern sie und brummen.
Sie sind Menschen, noch und immer
Menschen, auch jetzt, nach der Tragödie des Karfreitags, die mehr noch die
Tragödie ihrer stolzen und feigen Menschlichkeit als die Tragödie des Christus
gewesen ist, der immer heldenhaft und siegreich war, auch im Sterben. Menschen
wie damals, als sie trunken waren vor Freude bei den Hosanna-Rufen der
Menschenmenge und bei dem Gedanken an die Feste und prunkvollen Gastmähler im
Haus des Lazarus jubelten... Blind, taub und unachtsam gegenüber allen
Warnungen und Vorzeichen des kommenden Sturms.
Jakobus des Alphäus und der
Zelote schweigen weinend. Auch Andreas beklagt sich nicht mehr nach den
letzten Worten des Johannes. Und
109
wiederum spricht Johannes und
erinnert sie, und seine Worte sind eine brüderliche Mahnung, eine
Aufforderung, sich nicht zu beklagen... Er sagt: «Es ist dieselbe Stunde, zu
der er hier heraufgestiegen ist. Und dabei hatte er schon einen weiten Weg
hinter sich. Oh, ich kann euch versichern, daß er nach dem Verlassen des
Abendmahlsaales keinen Augenblick der Ruhe mehr hatte! Und es war sehr heiß an
jenem Tal, herrschte die Schwüle vor dem Gewitter... Und er brannte im Fieber!
Nike sagt, sie glaubte Feuer zu berühren, als sie das Linnen auf sein Antlitz
legte. Hier etwa mußte es gewesen sein, wo er den Frauen begegnet ist ... Wir
auf der gegenüberliegenden Seite haben die Begegnung nicht gesehen. Aber
demnach, was Nike und die anderen sagen... Auf, gehen wir! Denkt daran, daß
die an die Sänfte gewohnten Römerinnen diesen Weg zu Fuß gegangen sind und vom
Morgen, von der dritten Stunde an, als er verurteilt wurde, immer der Sonne
ausgesetzt waren. Oh, diese Heidinnen sind allen vorausgegangen und haben ihre
Sklaven ausgesandt, um die anderen zu benachrichtigen, die aus irgendeinem
Grund nicht da waren ...»
Sie gehen weiter. Dieser Weg ist
ein Martyrium im Feuer! Sie wanken sogar. Petrus sagt: «Wenn er kein Wunder
wirkt, werden wir einen Hitzschlag bekommen.»
«Ja, mein Herz schlägt mir bis
zum Hals», bestätigt Matthäus.
Bartholomäus spricht nicht mehr.
Er sieht wie betrunken aus. Johannes faßt ihn an einem Arm und stützt ihn, wie
er es an dem schrecklichen Freitag bei der Mutter getan hat. Er tröstet ihn:
«Bald kommt etwas Schatten, dort, wo ich auch die Mutter hingeführt habe. Dort
werden wir uns ausruhen.»
Sie gehen immer langsamer... bis
zu dem Felsen, wo Maria gestanden ist, wie Johannes sagt. Hier ist wirklich
etwas Schatten, doch die Luft ist glühend heiß und regt sich nicht.
«Wenn es hier wenigstens einen
Stengel Anis, ein Minzeblatt oder einen Grashalm gäbe! Mein Mund fühlt sich an
wie an der Flamme getrocknetes Pergament. Aber es gibt nichts! Nichts!» stöhnt
Thomas, dem bereits die Hals- und Stirnadern anschwellen.
«Ich würde den Rest meines Lebens
für einen Tropfen Wasser geben», sagt Jakobus des Zebedäus.
Judas Thaddäus bricht erneut in
Tränen aus und ruft: «Mein armer Bruder, wieviel hast du doch gelitten! Er hat
gesagt... hat gesagt, erinnert ihr euch? Er hat gesagt, daß er fast verdurstet
ist. Oh, nun verstehe ich ihn! Vorher konnte ich das Ausmaß dieser Worte nicht
begreifen. Er starb vor Durst, und es war niemand da, als er noch trinken
konnte, der ihm einen Schluck Wasser gegeben hätte! Und dann war da außer der
Sonne noch das Fieber!»
«Johanna hatte ihm eine
Erfrischung gebracht...» sagt Andreas.
110
«Da konnte er nicht mehr trinken!
Er konnte auch nicht mehr sprechen... Als er die Mutter traf, dort, zehn
Schritte von uns entfernt, konnte er nur noch sagen: "Mama!" Er konnte ihr
keinen Kuß mehr geben, nicht einmal von ferne, obgleich Simon von Cyrene ihm
das Kreuz abgenommen hatte. Seine Lippen waren hart von den Wunden und
brannten... Oh, ich habe es gut gesehen über die Reihe der Legionäre hinweg!
Denn ich bin nicht auf diesem Weg gekommen. Hätten sie mich durchgelassen,
hätte ich sein Kreuz genommen! Aber sie hatten Angst vor mir... und vor dem
Volk, das uns steinigen wollte... Er konnte nicht reden, nicht trinken, nicht
küssen... Er konnte fast nicht mehr aus seinen schmerzenden Augen schauen, die
verkrustet waren von dem Blut, das ihm von der Stirne rann... ! Sein Gewand
war am Knie zerrissen, und durch den Riß sah man das aufgeschlagene, blutende
Knie... Seine Hände waren geschwollen und verletzt... Sein Kinn und seine
Wangen waren verwundet... Das Kreuz hatte auf seiner Schulter, die schon die
Geißelhiebe getroffen hatten, eine Wunde aufgerissen... Seine Mitte war von
den Stricken wundgescheuert... Von seinem Haar tropfte das Blut aus den Wunden
der Dornenkrone... Er hatte...»
«Schweig! Schweig! Man kann es
nicht mehr mitanhören! Schweig! Ich bitte dich und befehle es dir!» schreit
Petrus, der auf der Folterbank zu liegen scheint.
«Man kann es nicht mehr
mitanhören! Ihr könnt es nicht hören! Aber ich mußte ihn sehen und seinen
Schmerz mitfühlen! Und die Mutter? Und die Mutter erst?»
Sie neigen schluchzend die Köpfe
und gehen weiter, immer weiter... Sie beklagen sich nun nicht mehr, sondern
weinen nur über die Schmerzen Jesu.
Endlich sind sie oben auf dem
kleinen unteren Platz angelangt: eine glühendheiße Platte. Die Hitzestrahlung
ist so stark, daß die Erde zu vibrieren scheint; dasselbe Phänomen wie beim
heißen Sand unter der Wüstensonne.
«Kommt, wir wollen hier
hinaufgehen. Hier hat uns der Hauptmann durchgelassen. Auch mich. Er hielt
mich für den Sohn Marias. Die Frauen standen dort. Die Hirten dort. Und hier
waren die Juden...» Johannes deutet auf die Stellen und fügt hinzu: «Aber die
Leute bedeckten den ganzen Abhang bis hinunter ins Tal, bis zur Straße. Sie
waren auf der Mauer, auf den Terrassen nahe der Mauer, so weit man sehen
konnte. Das alles habe ich gesehen, als die Sonne begann, sich zu verdunkeln.
Zuerst war es wie jetzt, und ich konnte nichts sehen...»
Und wirklich gleicht Jerusalem
dort unten einer flimmernden Luftspiegelung. Das gleißende Licht wird zum
Schleier für den Beschauer. Und Johannes fährt fort: «Maria des Lazarus hat
gesagt – aber ich wußte nicht, wann und warum sie hierhergekommen war – daß
man zu einer
111
anderen Stunde die schwarzen
Reste der von den Blitzen eingeäscherten Häuser sieht. Die Häuser der
Hauptschuldigen ... vieler von ihnen zumindest... Hier! (Johannes mißt mit
Schritten ab und rekonstruiert die Szene.) Hier stand Longinus und hier Maria
und ich. Und hier war das Kreuz des reuigen Schächers und dort das andere. Und
hier wurde um die Kleider gewürfelt. Und dort brach die Mutter zusammen, als
er gestorben war... Und von hier aus sah ich, wie die Lanze sein Herz
durchbohrte (Johannes wird totenblaß), denn hier stand sein Kreuz», und er
kniet nieder und legt sein Gesicht in eine längliche Mulde am Boden, dort wo
das Blut vom Querbalken und rings um den Stamm des Kreuzes heruntergetropft
ist.
Magdalena muß schwer gearbeitet
haben, um die Erde dieses harten Bodens voller Steine und Schutt, die eine
feste Kruste bilden, wenigstens eine Handbreit tief aufzugraben! Alle haben
sich zu Boden geworfen, um die Erde zu küssen, die nun ihre Tränen trinkt...
Johannes erhebt sich als erster
und erzählt in liebevoller Unerbittlichkeit alle Einzelheiten... Er spürt die
Sonne nicht mehr... Keiner spürt sie mehr... Er spricht davon, wie Jesus den
mit Myrrhe vermischten Wein zurückwies, wie er sich entkleidete und sich mit
dem Schleier der Mutter bedeckte; wie man dann die Wunden der furchtbaren
Geißelung sah, wie er sich auf das Kreuz legte und beim ersten Nagel aufschrie
und danach nicht mehr, weil die Mutter nicht so leiden sollte; wie sie ihm das
Handgelenk aufrissen und den Arm ausrenkten, um ihn bis zur richtigen Stelle
zu strecken; wie sie dann, als er ganz angenagelt war, das Kreuz umdrehten, um
die Nägel hinten krummzuschlagen, und das ganze Gewicht des Kreuzes auf dem
armen Märtyrer lastete, dessen keuchenden Atem man hören konnte; wie sie
danach das Kreuz wieder drehten, es aufhoben, es zur vorgesehenen Stelle
schleppten, es in das Loch fallen ließen und befestigten; wie der Körper am
Kreuz heruntersackte und dabei die Wunden noch tiefer aufgerissen wurden; wie
die verschobene Dornenkrone das Haupt erneut verletzte; und dann die Worte an
den Vater im Himmel, die Worte, die um Verzeihung für die Kreuziger baten, und
die Vergebung für den reuigen Schächer; die an die Mutter und Johannes
gerichteten Worte, und die Ankunft von Joseph und Nikodemus, die so offen und
heldenmütig eine ganze Welt herausforderten; der Mut der Maria von Magdala,
der Angstschrei zum Vater, der ihn verlassen hatte, der Durst, der Essig und
die Galle, der Todeskampf, das schwache Rufen nach der Mutter und die Worte
der Mutter, die durch die Qualen, die furchtbaren Qualen, mehr tot als
lebendig war... und die Ergebung und die Hingabe an Gott; der furchtbare
letzte Krampf, der Schrei, der die Welt erbeben ließ, und der Schrei Marias,
als sie sah, daß er tot war...
«Schweig! Schweig! So schweig
doch!» schreit Petrus, und es scheint, als hätte ihn die Lanze durchbohrt.
Auch die anderen bitten: «Hör auf! Schweig! ...»
112
«Ich habe nichts mehr zu sagen.
Das Opfer war vollbracht. Das Begräbnis ... war eine Qual für uns, nicht für
ihn. Nur der Schmerz der Mutter war da von Bedeutung. Unser Schmerz! Verdient
unser Schmerz etwa Mitleid? Schenken wir ihm unser Mitleid, anstatt Mitleid
für uns zu erhoffen. Zu oft haben wir den Schmerz, die Mühe und die
Verlassenheit gemieden und alles ihm überlassen, ihm allein. Wahrlich, wir
waren unwürdige Jünger, die ihn liebten aus Freude, von ihm geliebt zu werden,
aus Stolz, groß in seinem Reich zu sein! Aber in seinem Schmerz wußten wir ihn
nicht zu lieben... Nun soll es nicht mehr so sein. Hier, hier müssen wir
schwören, daß es nicht mehr so sein wird; hier, denn dies ist ein Altar, und
er ist erhaben im Angesicht des Himmels und der Erde. Nun gebührt ihm die
Freude und uns das Kreuz. Wir wollen es schwören. Nur so können wir unseren
Seelen den Frieden wiedergeben. Hier ist Jesus von Nazareth, der Messias, der
Herr, gestorben, um Retter und Erlöser zu sein. Hier soll der Mensch sterben,
unser alter Mensch, und der neue, wahre Jünger auferstehen. Erhebt euch! Wir
wollen im heiligen Namen Jesu Christi schwören, daß wir seine Lehre annehmen
und bereit sind, für die Erlösung der Welt zu sterben.» Johannes gleicht einem
Seraph. Während er gestikuliert hat, ist seine Kopfbedeckung
heruntergeglitten, und das blonde Haar glänzt nun in der Sonne. Er ist auf
einen Geröllhaufen gestiegen, vielleicht die Steine, mit denen man die Kreuze
der Schächer befestigt hat, und hat unwillkürlich die Haltung mit den
ausgebreiteten Armen eingenommen, die Jesus oft bei seinen Unterweisungen
einnimmt, vor allem aber die Haltung, in der er am Kreuz hing.
Die anderen bewundern Johannes,
der so schön, so begeistert, so jung und, obwohl der jüngste von allen,
geistig so reif ist. Der Kalvarienberg hat ihm das rechte Alter gegeben... Sie
schauen ihn an und rufen: «Wir schwören es!»
«Dann wollen wir beten, damit der
Vater unseren Schwur bestätigt: "Vater unser, der du bist im Himmel ...»
Der Chor der elf Stimmen wird
immer sicherer, je weiter sie beten. Petrus schlägt sich an die Brust, als er
sagt: «Vergib uns unsere Schuld», und alle knien nieder bei der letzten Bitte:
«Erlöse uns von dem Bösen.»Dann bleiben sie so, zu Boden geneigt, in stiller
Betrachtung...
Jesus ist unter ihnen. Ich habe
nicht gesehen, wann und von wo er gekommen ist. Wie mir scheint, von der
unzugänglichen Seite des Berges. Er strahlt vor Liebe in der hellen
Mittagssonne und sagt: «Wer in mir bleibt, dem wird der Böse nicht schaden.
Wahrlich, ich sage euch, wer im Dienst des allerhöchsten Schöpfers mit mir
vereint bleibt und nach dem Heil aller Menschen verlangt, der wird Teufel
austreiben und Schlangen und Gifte unschädlich machen, durch Flammen und
Scharen wilder Tiere gehen, ohne Schaden zu erleiden, solange Gott will, daß
er auf Erden weilt und ihm dient.»
113
«Wann bist du gekommen, Herr?»
sagen sie und neigen das Haupt, bleiben aber auf den Knien.
«Euer Schwur hat mich
herbeigerufen. Und nun, da die Füße meiner Apostel diesen Boden betreten
haben, kehrt rasch in die Stadt, in den Abendmahlsaal zurück. Am Abend werden
die Frauen aus Galiläa mit meiner Mutter aufbrechen. Du und Johannes, ihr
werdet sie begleiten. Wir werden uns dann alle in Galiläa auf dem Tabor
treffen», sagt er zum Zeloten und zu Johannes.
«Wann, Herr?»
«Johannes wird es erfahren und
euch mitteilen.»
«Du verläßt uns, Herr? Segnest du
uns nicht? Wir haben deinen Segen so nötig.»
«Hier und im Abendmahlsaal werde
ich euch segnen. Werft euch zu Boden!»
Er segnet sie, und der
Sonnenschein umgibt ihn wie bei der Verklärung, nur daß er ihn hier verbirgt.
Jesus ist nicht mehr da.
Sie schauen auf. Nichts mehr: nur
Sonne und verbranntes Land...
«Stehen wir auf und machen wir
uns auf den Weg. Er ist gegangen!» sagen sie traurig.
«Sein Verweilen unter uns wird
immer kürzer.»
«Aber heute schien er zufriedener
als gestern abend. Ist es dir nicht auch so vorgekommen, Bruder?» fragt
Thaddäus Jakobus des Alphäus.
«Er war glücklich über unseren
Schwur. Gesegnet seist du, Johannes, daß du uns dazu veranlaßt hast», sagt
Petrus und umarmt Johannes.
«Ich hatte gehofft, er würde von
seiner Passion reden! Warum hat er uns hierher kommen lassen, wenn er dann
doch nichts gesagt hat?» sagt Thomas.
«Wir werden ihn heute abend
fragen», sagt Andreas.
«Ja, aber nun gehen wir. Der Weg
ist lang, und wir wollen doch noch ein wenig mit Maria beisammensein, bevor
sie geht», sagt Jakobus des Alphäus.
«Noch ein Trost, der zu Ende
geht!» seufzt Thaddäus.
«Wir bleiben als Waisen zurück!
Was werden wir tun?»
Sie wenden sich Johannes und dem
Zeloten zu und sagen mit einer Spur Neid in der Stimme: «Ihr könnt wenigstens
mit der Mutter gehen und immer bei ihr bleiben.»
Johannes macht eine Bewegung, als
wolle er sagen: «So ist es.» Aber da ihr Neid nicht bösartig ist, bekennen sie
sofort: «Das ist auch richtig so, denn du bist bei ihr geblieben, und du bist
gehorsam gewesen und hast darauf verzichtet. Wir hingegen ...»
Sie beginnen den Abstieg. Doch
als sie den unteren Platz erreichen, sehen sie eine Frau, die gerade im
glühenden Sonnenschein auf dem steilen Weg heraufgekommen ist. Sie blickt die
Apostel schweigend an und begibt sich dann sofort zu dem höher gelegenen
Platz.
114
«Schon kommt jemand hierher!
Nicht nur Maria. Kommt! Aber was tut sie? Sie weint und sucht etwas auf dem
Boden. Ob sie an jenem Tag hier etwas verloren hat?» fragen sie sich. Das wäre
schon möglich, denn man erkennt sie nicht. Das Gesicht der Frau ist tief
verschleiert.
Thomas fragt mit seiner kräftigen
Stimme: «Frau, hast du etwas verloren?»
«Nein. Ich suche den Platz, an
dem das Kreuz des Herrn gestanden ist. Ich habe einen sterbenden Bruder, und
der gute Meister ist nicht mehr auf Erden ...» Sie weint hinter ihrem
Schleier. «Die Menschen haben ihn verstoßen.»
«Er ist auferstanden, Frau. Er
wird für immer da sein.»
«Ich weiß, daß er immer da sein
wird, denn er ist Gott, und Gott stirbt nicht. Aber er ist nicht mehr unter
uns. Die Welt hat ihn nicht gewollt, und er hat sie verlassen. Die Welt hat
ihn verleugnet. Selbst seine Jünger haben ihn verlassen, als wäre er ein
Räuber, und er hat die Welt verlassen. Ich bin gekommen, um ein wenig von
seinem Blut zu suchen. Ich habe den festen Glauben, daß es meinen Bruder
heilen wird. Mehr als die Auflegung der Hände seiner Jünger, denn ich denke
nicht, daß sie noch Wunder wirken können, nachdem sie so treulos gewesen
sind.»
«Der Herr ist soeben hier
gewesen, Frau. Er ist mit Leib und Seele auferstanden und immer noch unter
uns. Der Duft seines Segens umgibt uns noch. Sieh, hier ist er vor kurzem
gestanden», sagt Johannes.
«Nein. Ich suche einen Tropfen
seines Blutes. Ich bin nicht hier gewesen und kenne den Ort nicht...» Gebückt
sucht sie den Boden ab.
Johannes sagt zu ihr: «Hier ist
sein Kreuz gestanden. Ich war dabei...»
«Du warst dabei? Als Freund oder
als Kreuziger? Man sagt, daß nur einer seiner Auserwählten hier unter dem
Kreuz gestanden ist und einige treue Jünger in der Nähe. Aber ich möchte nicht
mit einem seiner Kreuziger reden.»
«Ich bin keiner von diesen, Frau.
Schau: hier, wo das Kreuz gestanden ist, ist noch blutgetränkte Erde, obgleich
schon jemand gegraben hat. Es ist so viel Blut geflossen, daß es tief in das
Erdreich eingedrungen ist. Nimm! Möge dein Glaube belohnt werden!» Johannes
hat mit der Hand in das Loch des Kreuzes hineingegriffen und ein rotes
Stückchen Erde herausgeholt, das die Frau in ein kleines Stück Linnen legt.
Sie dankt ihm und eilt mit ihrem Schatz davon.
«Du hast gut daran getan, ihr
nicht zu sagen, wer wir sind.»
«Warum hast du ihr aber nicht
gesagt, wer du bist?» fragen andere Apostel. Wie immer gibt es
unterschiedliche Meinungen bei den Menschen.
Johannes sieht sie nur an und
sagt nichts. Er geht als erster den steilen, gepflasterten Weg hinunter. Wenn
das Hinuntergehen auch weniger anstrengend als das Hinaufsteigen ist, so
brennt die Sonne doch immer noch
115
heiß, und als sie unten am Fuß
des Golgotha ankommen, haben sie furchtbaren Durst. Aber nun sind an dem
Bächlein Schafe und einige Hirten, die wohl zum abendlichen Weidegang aus
einem nahen Stall gekommen sind. Das Wasser ist trübe und nicht trinkbar.
Der Durst ist so groß, daß
Bartholomäus sich an einen der Hirten wendet und ihn fragt: «Hast du in deiner
Flasche einen Schluck Wasser?»
Der Mann schaut ihn streng an und
schweigt.
«Ein wenig Milch vielleicht? Die
Euter deiner Schafe sind prall gefüllt. Wir bezahlen dafür. Wir hätten gerne
etwas Kaltes gehabt, aber wir sind froh, wenn wir nur irgend etwas zu trinken
bekommen.»
«Ich habe weder Wasser noch Milch
für jene, die ihren Meister verlassen haben. Ich erkenne euch wieder, wißt
ihr? Ich habe euch gesehen und gehört an einem Tag in Bethsur. Dich, gerade
dich, der du fragst... Aber ich habe euch nicht gesehen, als ich denen
begegnet bin, die den Getöteten heruntergetragen haben. Nur dieser hier ist
dabeigewesen. Es gab kein Wasser für den Gekreuzigten, haben mir die Leute
gesagt, die oben gewesen sind. Also gibt es auch für euch kein Wasser.» Er
pfeift seinem Hund, sammelt die Schafe und geht nach Norden, wo die mit
Ölbäumen und spärlichem Gras bewachsenen Hügel beginnen.
Die erschöpften Apostel
überqueren die Brücke und gehen in die Stadt hinein. Sie schleichen an der
Mauer entlang, die Kopfbedeckungen tief über die Augen gezogen und ein wenig
gebückt. Denn nun, da die große Hitze der ersten Nachmittagsstunden vorüber
ist, wird es auf den Straßen wieder lebendig.
Doch sie müssen die ganze Stadt
durchqueren, um zum Haus des Abendmahlsaales zu gelangen; und es sind zu
viele, die die Apostel kennen, als daß sie den langen Weg ohne Zwischenfälle
zurücklegen könnten. Und bald schon hören sie höhnisches Lachen, als ein
Schriftgelehrter (ich war schon glücklich, da ich glaubte, nun keinen mehr
sehen zu müssen) den vielen, an dieser engen Kreuzung um einen Brunnen
stehenden Leuten zuruft: «Da, seht sie euch an: die traurigen Überreste des
Heeres des großen Königs! Die unkriegerischen Helden. Die Jünger des
Verführers. Verachtung und Hohn über sie. Und das Mitleid, das man mit den
Verrückten hat!»
Und sogleich werden sie mit Spott
und Hohn überschüttet.
Die einen schreien: «Wo habt ihr
gesteckt, als er leiden mußte?»; andere: «Seid ihr nun überzeugt, daß er ein
falscher Prophet war?»; wieder andere: «Vergebens habt ihr den Leichnam
fortgetragen und verborgen! Die Idee hat nun ausgespielt. Der Nazarener ist
tot. Jahwe hat den Galiläer vernichtet. Und euch mit ihm.» Einige sagen mit
geheucheltem Mitleid: «Laßt sie doch in Ruhe. Sie sind zur Einsicht gekommen
und haben bereut, zwar spät, aber immer noch beizeiten, um im richtigen
Augenblick zu entfliehen!» Einer spricht zu dem einfachen Volk, meist Frauen,
116
die eher geneigt scheinen, zu den
Aposteln zu halten: «Für euch, die ihr immer noch an unserer Gerechtigkeit
zweifelt, sollte das Verhalten der vertrautesten Jünger des Nazareners eine
Erleuchtung sein. Wäre er Gott gewesen, hätte er sie gestärkt. Hätten sie ihn
als den wahren Messias erkannt, wären sie nicht geflohen und hätten geglaubt,
daß menschliche Macht nicht über den Christus triumphieren kann. Stattdessen
ist er vor den Augen des Volkes gestorben. Und den Leichnam hat man umsonst
gestohlen, nachdem man die schlafenden Wachen überfallen hat. Fragt nur die
Wachen, ob es nicht so war. Er ist tot und seine Leute versprengt. Und groß in
den Augen des Allerhöchsten ist der, der die letzten seiner Spuren vom
heiligen Boden Jerusalems tilgt. Anathema über die Anhänger des Nazareners!
Nimm Steine, o heiliges Volk, und steinige sie außerhalb der Stadtmauern.»
Das ist zu viel für den noch
schwachen Mut der Apostel! Sie haben sich schon etwas in Richtung der Mauer
zurückgezogen, um dem Aufruhr nicht Nahrung zu geben durch eine unkluge
Herausforderung der Ankläger. Doch nun siegt die Angst über die Klugheit. Sie
drehen sich um und retten sich durch die Flucht in Richtung des Tores. Jakobus
des Alphäus und Jakobus des Zebedäus, Johannes, Petrus und der Zelote bewahren
mehr Ruhe und beherrschen sich besser und folgen den anderen, ohne zu laufen.
Und sie werden von einigen Steinen und viel Unrat getroffen, bevor sie durch
das Tor hinausgehen.
Die Wachen, die nun aus ihrer
Stellung heraustreten, sorgen dafür, daß sie außerhalb der Mauer nicht
verfolgt werden. Aber sie laufen und laufen und flüchten in den Apfelgarten
des Joseph, wo das Grab war.
Es ist ein ruhiger, stiller Ort,
und das sanfte Licht unter den kräftigen Ästen der Bäume, die in diesen Tagen
noch nicht sehr zahlreiche, smaragdene Blättchen getrieben haben, ist wie
durch einen zarten Schleier gedämpft. Sie werfen sich zu Boden, um erst einmal
ihr starkes Herzklopfen vorübergehen zu lassen. Am Ende des Gartens hackt ein
Mann mit Hilfe eines Jünglings die Erde und häufelt sie um das Gemüse. Er
bemerkt die Apostel, die sich hinter einer Hecke verborgen haben, erst,
nachdem er den Himmel geprüft und laut gesagt hat: «Komm, Joseph, bring den
Esel und spanne ihn an das Wasserrad», und sich zu der Stelle begibt, wo sich
im Schatten eines Dorngestrüpps verborgen ein Brunnen befindet.
«Was tut ihr hier? Wer seid ihr?
Was wollt ihr im Garten des Joseph von Arimathäa? Und du, Dummkopf, warum hast
du das Tor offengelassen? Joseph hat doch befohlen, es immer zu schließen,
nun, da er es hat anbringen lassen! Weißt du nicht, daß er niemanden dort
haben will, wo man den Christus beigesetzt hat?»
Ich muß ehrlich sagen, daß ich in
meiner Betrübnis beim Begräbnis Jesu und in meinem Staunen bei der
Auferstehung nicht bemerkt habe, ob der Garten außer der Einfassung durch eine
grüne Mauer aus Buchsstauden
117
und Brombeeren ein Tor hatte oder
nicht; aber ich glaube, daß man es erst vor kurzem angebracht hat, denn der
Putz seiner beiden viereckigen Pfosten weist keine Spuren von Verwitterung
auf. Auch Joseph hat, wie Lazarus, an allen Orten, die durch Jesus geheiligt
sind, Gitter anbringen lassen.
Johannes erhebt sich zusammen mit
dem Zeloten und Jakobus des Alphäus vom Boden und sagt ohne Angst: «Wir sind
die Apostel des Herrn. Ich bin Johannes, dieser hier ist Simon, der Freund des
Lazarus, und dieser Jakobus, der Bruder des Herrn. Der Herr hatte uns auf den
Golgotha gerufen, und nun kommen wir von dort. Er hat uns befohlen, in das
Haus zu gehen, in dem sich seine Mutter befindet, und die Menge hat uns
verfolgt. Deshalb sind wir hier hereingekommen, um auf den Abend zu warten
...»
«Aber du bist ja verletzt! Und du
auch! Und du! Kommt, ich will euch helfen. Habt ihr Durst? Ihr seid ganz
erschöpft. Du hier, schöpfe! Schnell! Das erste Wasser ist immer klar, während
es später dann durch den Eimer getrübt wird. Gib ihnen zu trinken und dann
wasche einige frische Salatköpfe und gieße etwas von dem Öl darauf, mit dem
wir die Veredelungsstellen einfetten. Ich kann euch leider nichts anderes
geben. Mein Haus ist nicht hier. Aber wenn ihr wartet, nehme ich euch mit zu
mir ...»
«Nein, nein. Wir müssen zum Herrn
gehen. Gott möge es dir vergelten.» Sie trinken und lassen sich verbinden. Sie
sind alle am Kopf verletzt. Die Juden zielen gut!
«Geh auf die Straße und schau
unauffällig nach, ob Spione in der Nähe sind», befiehlt der Gärtner dem
Jungen.
«Es sind keine da, Vater. Die
Straße ist leer», sagt er, als er zurückkehrt.
«Geh zum Tor und schau dort nach,
und dann komm sofort zurück.»
Der Mann nimmt Anisstengel und
bietet sie den Aposteln an, wobei er sich entschuldigt, daß er nichts als
Gemüse, Salat und diesen Anis hat, da die Apfelbäume ja erst geblüht haben.
Der Junge kommt zurück. «Niemand,
Vater. Die Straße vor dem Tor ist leer.»
«Dann wollen wir gehen. Spanne
den Esel an den Wagen und wirf das ausgejätete Grünzeug darauf. So werden wir
Leuten gleichen, die von den Feldern heimkehren. Kommt mit mir! Der Weg wird
etwas länger sein, aber das ist besser als ein Steinhagel.»
«Wir werden trotzdem in die Stadt
hineingehen müssen...»
«Das schon, aber wir kommen von
einer anderen Seite und nehmen ungefährliche Gassen. Ihr könnt beruhigt sein.»
Er schließt das Gittertor mit dem
großen Schlüssel, läßt die älteren auf den Wagen steigen, gibt den anderen
Hacken und Rechen, belädt Thomas mit einem Bündel abgeschnittener Zweige und
Johannes mit einem Ballen Gras und macht sich dann furchtlos auf den Weg
entlang der Mauer in südlicher Richtung.
«Aber dein Haus? Hier so
verlassen...»
118
«Das Haus liegt dort, auf der
anderen Seite. Es läuft mir nicht davon. Die Frau wird warten. Zuerst muß ich
den Dienern des Herrn dienen.» Er schaut sie an... «Nun, wir machen alle
Fehler! Auch ich habe Angst gehabt. Und wir alle werden um seines Namens
willen gehaßt. Auch Joseph. Was macht das. Gott ist mit uns. Die Leute ... ?
Sie hassen und lieben. Sie lieben und hassen. Und dann... Was sie heute tun,
ist morgen schon vergessen. Ja, wenn nur nicht diese Hyänen wären! Sie sind
es, die das Volk aufwiegeln. Sie sind voller Zorn, weil er auferstanden ist.
Oh, würde er sich doch auf einer Zinne des Tempels zeigen, um das Volk davon
zu überzeugen, daß er auferstanden ist. Warum tut er es nicht? Ich glaube.
Aber nicht alle verstehen zu glauben. Und sie bezahlen die Leute gut, die
überall herumerzählen, daß er von euch gestohlen und in einer Höhle von
Josaphat vergraben oder verbrannt worden ist, da er schon ganz verwest war.»
Sie sind nun auf der Südseite der
Stadt, im Hinnomtal.
«So, dort ist das Tor von Sion.
Findet ihr von da euren Weg zu dem Haus? Es ist nicht mehr weit.»
«Wir finden ihn. Gott sei mit dir
um deiner Güte willen.»
«Für mich seid ihr immer die
Heiligen des Meisters. Ihr seid Menschen, wie ich ein Mensch bin. Er allein
ist mehr als ein Mensch und brachte es fertig, nicht zu zittern. Ich verstehe
und habe Verständnis. Und ich sage euch, heute seid ihr schwach, aber morgen
werdet ihr stark sein. Der Friede sei mit euch.»
Er nimmt ihnen die Bündel und die
landwirtschaftlichen Geräte ab und kehrt zurück, während sie flink wie Hasen
in die Stadt hineineilen und wie Katzen durch die Gassen am Stadtrand zum Haus
des Abendmahlsaals schleichen.
Doch die Widerwärtigkeiten dieses
Tages sind noch nicht zu Ende. Eine Gruppe Legionäre auf dem Weg zum nahen
Gasthaus kommt ihnen entgegen, und einer bemerkt sie und macht die anderen auf
sie aufmerksam. Alle lachen. Und da die armen, geschmähten Apostel gezwungen
sind, an ihnen vorbeizugehen, ruft ihnen einer der am Tor stehenden Soldaten
zu: «He! Hat euch der Kalvarienberg nicht gesteinigt, und haben euch die
Menschen nicht geschlagen? Beim Jupiter! Ich hätte euch für mutiger gehalten!
Ihr fürchtet doch wohl nichts, da ihr es gewagt habt, dort hinaufzugehen.
Haben euch die Steine des Berges nicht der Feigheit angeklagt? Und ihr habt
den Mut gehabt hinaufzugehen? Ich habe immer nur beobachtet, daß die
Schuldigen die Orte meiden, die sie an ihre Schuld erinnern, da die Nemesis 1)
sie verfolgt. Aber vielleicht hat sie euch heute dort
1) Unter Nemesis verstanden die
Griechen eine Gottheit oder göttliche Macht, die die Ordnung, die
Gerechtigkeit und das Gleichgewicht im Universum bewahrten. Daher wird hier
gesagt, daß sie die Schuldigen verfolgt, die die Ordnung gestört und gegen die
Gerechtigkeit gefehlt haben.
119
hinaufgeschleppt, um euch vor
Schrecken erzittern zu lassen, da ihr damals nicht vor Mitleid zittern
wolltet.»
Eine Frau, anscheinend die Wirtin
der Taverne, stellt sich an die Tür und lacht. Sie hat ein furchteinflößendes
Spitzbubengesicht und keift laut: «Hebräische Weiber, kommt und schaut, was
aus eurem Schoß hervorgegangen ist! Feige Eidbrüchige, die ihre Höhlen
verlassen, wenn die Gefahr vorüber ist. Ein römischer Schoß gebiert nur
Helden. Kommt, ihr Soldaten, und trinkt auf die Größe und Macht Roms! Edler
Wein und schöne Mädchen ...» Sie entfernt sich, gefolgt von den Soldaten, in
ihre finstere Spelunke.
Eine Jüdin schaut zu – denn auf
der Straße sind einige Frauen mit ihren Krügen unterwegs zu dem Brunnen am
Haus des Abendmahls, dessen Plätschern man schon hört – und hat Mitleid. Es
ist eine ältere Frau. Sie sagt zu den Gefährtinnen: «Sie haben gefehlt... doch
ein ganzes Volk hat gefehlt.» Dann geht sie zu den Aposteln und grüßt sie:
«Der Friede sei mit euch. Wir werden nicht vergessen. Sagt uns nur das eine:
Ist der Meister wirklich auferstanden?»
«Er ist auferstanden. Wir
schwören es.»
«Dann fürchtet nicht. Er ist
Gott, und Gott wird siegen. Der Friede sei mit euch, Brüder! Und sagt dem
Herrn, er möge diesem Volk verzeihen.»
«Und ihr, betet, daß das Volk uns
verzeihen und das Ärgernis vergessen möge, das wir gegeben haben. Ihr Frauen,
ich, Petrus, bitte euch um Verzeihung!» Petrus weint.
«Wir sind Mütter, Schwestern und
Ehefrauen, Mann. Deine Sünde ist die Sünde unserer Söhne, Brüder und Gatten.
Allen möge der Herr barmherzig sein.»
Die mitleidigen Frauen haben die
Apostel bis zum Haus begleitet und klopfen nun an die verschlossene Tür. Jesus
selbst öffnet die Tür, und seine verherrlichte Gestalt erfüllt den dunklen
Raum, als er sagt: «Der Friede sei mit euch um eures Mitleids willen.»
Die Frauen sind wie versteinert
vor Staunen. Sie bleiben so stehen, bis die Tür sich hinter den Aposteln und
dem Herrn schließt. Dann erst kommen sie wieder zu sich.
«Hast du ihn gesehen? Er war es!
Schön! Schöner als zuvor. Und lebendig! Kein Gespenst! Ein wahrer Mensch. Die
Stimme! Das Lächeln! Er hat die Hände bewegt. Hast du gesehen, wie rot die
Wunden waren? Nein, ich habe gesehen, wie der Brustkorb sich beim Atmen hob
und senkte, wie bei einem lebendigen Menschen. Oh, sie sollen uns ja nicht
kommen und behaupten, daß es nicht wahr ist! Gehen wir! Gehen wir in die
Häuser und berichten wir. Nein, wir wollen anklopfen, um ihn noch einmal zu
sehen. Was sagst du? Er ist der auferstandene Sohn Gottes. Es ist schon viel,
daß er sich uns armen Frauen gezeigt hat! Er ist nun bei
120
seiner Mutter, den Jüngerinnen
und den Aposteln. Nein. Ja ...» Die Klugen siegen. Die Gruppe entfernt sich.
Jesus hat inzwischen mit seinen
Aposteln den Abendmahlsaal betreten. Er schaut sie an und lächelt. Sie haben
die Kopfbedeckungen, die sie wie Binden um den Kopf gewickelt hatten, gemäß
dem Brauch vor dem Betreten des Hauses abgenommen und nun wieder angelegt. So
kann man die Verletzungen nicht sehen. Sie setzen sich schweigend und müde,
eher betrübt als müde.
«Ihr habt euch verspätet», sagt
Jesus sanft.
Schweigen.
«Habt ihr mir nichts zu sagen?
Sprecht. Ich bin immer noch euer Jesus. Ist euer Eifer von heute schon
verflogen?»
«Oh, Meister! Herr!» schreit
Petrus und fällt zu Füßen Jesu auf die Knie. «Der Eifer ist nicht verflogen.
Aber wir sind völlig vernichtet von der Feststellung, welchen Schaden wir
deinem Glauben zugefügt haben. Wir sind zutiefst betrübt.»
«Wenn der Stolz stirbt, wird die
Demut geboren. Mit der Erkenntnis wächst die Liebe. Habt keine Angst. Nun seid
ihr im Begriff, echte Apostel zu werden. Dies habe ich gewollt.»
«Aber wir werden nichts mehr für
dich tun können! Das Volk verhöhnt uns, und mit Recht! Wir haben dein Werk
zerstört, deine Kirche zerstört.» Alle sind sehr in Sorge, schreien und
gestikulieren.
Jesus bewahrt feierliche Ruhe. Er
sagt und unterstreicht die Worte durch eine Geste: «Frieden! Frieden! Nicht
einmal die Hölle wird meine Kirche zerstören. Ein wackelnder Stein, der noch
nicht richtig eingemauert ist, bringt nicht gleich das Bauwerk zum Einsturz.
Ruhe! Ruhe! Ihr werdet es schaffen. Und ihr werdet es gut machen, nun, da ihr
demütig erkennt, was ihr seid; denn nun seid ihr auch zu der sehr wichtigen
Erkenntnis gelangt, daß jede Tat große, manchmal nicht wiedergutzumachende
Auswirkungen hat, und daß, wer oben ist – erinnert euch an das, was ich euch
gesagt habe über das Licht, das man auf den Leuchter stellen muß, damit es
gesehen wird, das aber, gerade weil es von allen gesehen wird, mit reiner
Flamme brennen muß – daß also wer oben ist, mehr als die anderen, die es nicht
sind, die Pflicht hat, vollkommen zu sein. Seht ihr, meine Kinder? Was
unbemerkt bleibt und verzeihlich ist, wenn es ein Gläubiger tut, bleibt aber
nicht unbemerkt und wird vom Volk mit Strenge verurteilt, wenn es ein Priester
tut. Doch eure Zukunft wird eure Vergangenheit auslöschen. Ich habe auf
Golgotha kein Wort zu euch gesagt und habe das Reden der Welt überlassen. Ich
tröste euch. Auf, weint nicht! Eßt nun und laßt euch von mir heilen. So.»
Jesus streichelt die verletzten Köpfe. Dann sagt er: «Aber es wird gut sein,
wenn ihr euch von hier entfernt. Deshalb habe ich gesagt: "Geht zum Tabor und
betet." Ihr könnt in den nahegelegenen Dörfern bleiben und jeden Morgen auf
den Berg steigen und mich erwarten!»
121
«Herr, die Welt glaubt nicht, daß
du auferstanden bist», sagt Thaddäus leise.
«Ich werde die Welt überzeugen.
Ich werde euch helfen, die Welt zu besiegen. Ihr, bleibt mir treu! Mehr
verlange ich nicht. Und segnet jene, die euch demütigen, damit ihr heilig
werdet.»
Er bricht das Brot, opfert es auf
und verteilt es. «Hier ist meine Wegzehrung für euch. Dort habe ich schon die
Verpflegung für meine Pilger vorbereitet. Macht ihr es in Zukunft ebenso, wenn
einer von euch abreisen muß. Seid väterlich zu allen Gläubigen. Alles, was ich
tue oder euch tun lasse, sollt auch ihr tun. Auch den Weg auf den
Kalvarienberg, die via dolorosa, sollt ihr in Zukunft oft betrachtend gehen
und diese Betrachtung lehren. Betrachtet! Betrachtet meine Schmerzen. Denn
durch die Schmerzen und nicht durch die jetzige Herrlichkeit habe ich euch
erlöst. Drüben ist Lazarus mit den Schwestern. Sie sind gekommen, um von der
Mutter Abschied zu nehmen. Geht auch ihr, denn meine Mutter wird in Kürze im
Wagen des Lazarus abreisen. Der Friede sei mit euch.» Er steht auf und geht
eilends hinaus.
«Herr! Herr!» ruft Andreas ihm
nach.
«Was willst du, Bruder?» fragt
Petrus.
«Ich wollte ihn so vieles fragen.
Ihm sagen, wer ihn um Genesung bittet... Ich weiß nicht, aber wenn er bei uns
ist, fällt uns nichts mehr ein 1
Und er läuft hinaus, um den Herrn
zu suchen.
«Das ist wahr! Wir sind so
vergeßlich», stimmen alle bei.
«Und er ist doch so gut zu uns.
Er hat uns so liebevoll "Kinder" genannt, daß mir ganz warm ums Herz geworden
ist!» ruft Jakobus des Alphäus aus.
«Aber er ist nun so sehr Gott!
Ich zittere, wenn er mir nahe ist, als stünde ich vor dem Allerheiligsten»,
sagt Thaddäus.
Andreas kommt zurück. «Er ist
nicht mehr da. Der Raum, die Zeit, die Mauern, alles ist ihm untertan.»
«Er ist Gott! Er ist Gott!» sagen
alle ehrfurchtsvoll...
694. JESUS BESTÄTIGT DEN
GLÄUBIGEN AN VERSCHIEDENEN ORTEN SEINE AUFERSTEHUNG
L Die Mutter der Annalia
Elisa, die Mutter Annalias, weint
untröstlich in ihrem Haus. Sie hat sich in ein Zimmer eingeschlossen, in dem
ein Lager ohne Decken steht»Vielleicht ist es das Bett Annalias. Ihr Kopf
liegt auf den über das Bett ausgestreckten Armen, mit denen sie es zu umarmen
scheint. Ihre kniende
122
Haltung ist ein Bild von
Niedergeschlagenheit und Schwäche, und was an Kraft in ihr ist, kommt nur in
ihren Tränen zum Ausdruck.
Nur wenig Licht dringt durch das
offene Fenster. Der Tag ist eben erst angebrochen. Doch als Jesus hereinkommt,
erfüllt große Helligkeit den Raum. Ich sage hereinkommt, und will damit sagen,
daß er sich im Zimmer befindet, wo er zuvor nicht war. Und ich werde immer so
sagen, um damit auszudrücken, daß er sich auf einmal in einem geschlossenen
Raum befindet, und nicht immer wiederholen zu müssen, wie er aus einem großen
Licht hervortritt, das an das Licht der Verklärung erinnert; wie er sozusagen
aus einem weißen Feuer kommt, wenn der Vergleich erlaubt ist, das Wände und
Türen zu schmelzen scheint, damit Jesus mit seinem wirklichen, atmenden,
festen verherrlichten Leib hereinkommen kann; ein Feuer, ein Leuchten, das
sich wieder hinter ihm schließt und ihn verbirgt, wenn er fortgeht. Er hat das
wunderschöne Aussehen des Auferstandenen, aber er ist Mensch, wirklich Mensch,
nur hundertmal schöner als er vor der Passion war. Er ist Er, aber er ist der
glorreiche König.
«Warum weinst du, Elisa?»
Mir ist es unverständlich, daß
die Frau diese unverwechselbare Stimme nicht erkennt. Vielleicht hat der
Schmerz sie verstört. Sie antwortet, als würde sie mit einem Verwandten
sprechen, der nach dem Tod Annalias vielleicht zu ihr gekommen ist.
«Hast du gestern abend die Männer
gehört? Er war nicht das, was wir glaubten. Seine Macht war nicht göttlichen
Ursprungs, sondern beruhte auf Zauberei. Und ich hatte mich mit dem Tod meiner
Tochter abgefunden im Gedanken daran, daß ein Gott sie liebt und sie nun im
ewigen Frieden ist... Er hatte es mir doch gesagt!» Und Elisa weint noch
heftiger.
«Viele haben den Auferstandenen
gesehen. Nur Gott kann aus sich selbst auferstehen.»
«Auch ich habe das gestern den
Leuten gesagt. Du hast es doch gehört. Ich habe ihnen widersprochen; denn ihre
Worte machten meine Hoffnung und meinen Frieden zunichte. Aber sie – hast du
sie gehört? – sie haben gesagt: "Alles nur Theater seiner Jünger, um nicht als
verrückt zu gelten. Er ist tot, richtig tot und verfault, und sie haben ihn
gestohlen und vernichtet und dann behauptet, daß er auferstanden ist..." Das
haben sie gesagt... Und daß der Allerhöchste deshalb das zweite Erdbeben
geschickt hat, um sie seinen Zorn über die sakrilegische Lüge fühlen zu
lassen. Oh! Es gibt keinen Trost mehr für mich.»
«Aber wenn du den auferstandenen
Christus mit eigenen Augen sehen und mit deinen Händen berühren könntest,
würdest du dann glauben?»
«Dessen bin ich nicht würdig...
Aber ganz gewiß würde ich glauben! Ich bräuchte ihn nur zu sehen. Ich würde
nicht wagen, seinen Leib zu berühren, denn wenn es so wäre, wäre es ein
göttlicher Leib, und eine Frau darf sich dem Allerheiligsten nicht nähern.»
123
«Blicke auf, Elisa, und sieh, wer
vor dir steht!»
Die Frau hebt das graue Haupt,
das tränenüberströmte Antlitz, und sieht... Sie sinkt auf die Fersen zurück,
reibt sich die Augen, öffnet den Mund zu einem Ausruf, den aber das Erstaunen
im Halse erstickt.
«Ich bin es, der Herr. Berühre
meine Hand. Küsse sie. Du hast mir deine Tochter geopfert. Du verdienst es.
Und finde auf dieser Hand den geistigen Kuß deines Kindes wieder. Es ist im
Himmel und selig. Sage das den Jüngern, und zwar heute noch.»
Die Frau ist so verzückt, daß sie
der Aufforderung nicht nachzukommen wagt und Jesus selbst seine Fingerspitzen
auf ihre Lippen drückt.
«Oh, du bist wahrhaft
auferstanden! Glücklich, überglücklich bin ich! Sei gepriesen, daß du mich
getröstet hast!»
Sie neigt sich zu Boden, um seine
Füße zu küssen, tut es und bleibt dann so. Das übernatürliche Licht umkleidet
Christus mit seinem Leuchten, und er ist nicht mehr im Zimmer... Aber in das
Herz der Mutter ist nun unerschütterliche Gewißheit eingezogen.
II. Bei Maria des Simon zu
Kerioth
Das Haus der Anna, der Mutter
Johannas. Das Landhaus, in das die Mutter des Judas Jesus geführt hat, und wo
er Anna durch ein Wunder geheilt hat. Auch hier ein Raum, und eine Frau auf
einem Lager. Eine Frau, die eine tödliche Angst bis zur Unkenntlichkeit
verändert hat. Das Gesicht ist ausgemergelt. Ihre Wangen sind stark
eingefallen, und das Fieber verzehrt sie und rötet die Haut über den nun
scharf hervortretenden Backenknochen. Die von Fieber und Tränen geröteten
Augen mit den schwarzen Ringen und geschwollenen Lidern sind halb geschlossen.
Wo nicht die Fieberröte vorherrscht, ist sie grünlichgelb, so als sei ihr Blut
mit Galle vermischt. Die abgemagerten Arme und die knochigen Hände liegen
willenlos auf der Decke, die der keuchende, rasche Atem hebt.
Bei der Kranken, die niemand
anders ist als die Mutter des Judas Iskariot, sitzt Anna, die Mutter Johannas.
Sie trocknet Tränen und Schweiß, fächelt mit einem Palmblatt, wechselt die mit
gewürztem Essig getränkten Tücher auf Stirn und Hals der Kranken, streichelt
ihre Hände, streichelt das aufgelöste, in kurzer Zeit beinahe weiß gewordene
Haar, das auf dem Kissen liegt und schweißnaß an den durchscheinenden Ohren
klebt. Und Anna weint ebenfalls, als sie Worte des Trostes spricht: «Nicht so,
Maria! Nicht so! Genug! Er... er hat gesündigt. Aber du, du weißt, wie der
Herr Jesus ...»
«Schweig! Dieser Name... zu mir
... zu mir gesagt... ist eine Lästerung... Ich bin die Mutter... des Kain ...
Gottes! Ach!» Das ruhige Weinen wird zu einem völlig gebrochenen,
herzzerreißenden Schluchzen. Die Kranke fühlt sich am Ersticken und hängt sich
an den Hals der Freundin, die ihr das gallige Erbrochene vom Mund wischt.
124
«Ruhe! Friede, Maria! Nicht so!
Oh! Was soll ich dir nur sagen, um dich davon zu überzeugen, daß er, der Herr,
dich liebt? Ich wiederhole es dir! Ich schwöre es dir bei den mir heiligsten
Dingen, meinem Erlöser und meinem Kind. Er hat es mir gesagt, als du ihn zu
mir gebracht hast. Er hat für dich die Worte und die Fürsorge einer
unendlichen Liebe gehabt. Du bist unschuldig. Er liebt dich. Ich bin sicher,
absolut sicher, daß er sich noch einmal opfern würde, um dir, arme Mutter und
Märtyrerin, Frieden zu schenken.»
«Mutter des Kain Gottes! Hörst
du? Dieser Wind da draußen... er sagt es... Die Stimme geht durch die Welt...
Die Stimme des Windes, die sagt: "Maria des Simon, Mutter des Judas, der den
Meister verraten und seinen Peinigern übergeben hat." Hörst du? Alle sagen
es... Der Bach, dort draußen... Die Turteltauben... Die Schafe... Die ganze
Erde schreit hinaus, was ich bin... Nein, ich will nicht gesund werden.
Sterben will ich... ! Gott ist gerecht, und im anderen Leben wird er mich
nicht bestrafen. Aber hier... Die Welt verzeiht nicht... unterscheidet
nicht... Ich werde verrückt, weil die ganze Welt schreit: "Du bist die Mutter
des Judas!"» Sie fällt erschöpft auf die Kissen zurück. Anna deckt sie wieder
zu und trägt die schmutzigen Tücher hinaus...
Maria klagt weiter, mit
geschlossenen Augen und kraftlos nach der Anstrengung: «Die Mutter des Judas!
Des Judas! Des Judas!» Sie keucht, fängt erneut an: «Aber was ist Judas? Was
habe ich geboren? Was ist Judas? Was habe ...»
Jesus ist im Zimmer, das von
einer flackernden Lampe erhellt wird; denn das Tageslicht ist noch zu schwach
und der Raum groß, während das Bett ganz hinten und weit entfernt von dem
einzigen Fenster steht. Er ruft sie sanft: «Maria! Maria des Simon!»
Die Frau liegt fast im Delirium
und schenkt der Stimme kein Gehör. Sie ist abwesend, versunken im Strudel
ihres Leids und wiederholt fortwährend die Gedanken, die von ihrem Hirn Besitz
ergriffen haben, wie das monotone Ticktack einer Pendeluhr: «Die Mutter des
Judas! Was habe ich geboren? Die Welt schreit: "Die Mutter des Judas"...»
Jesus hat zwei Tränen in den
Winkeln seiner so sanften Augen. Sie verwundern mich sehr. Ich hätte nicht
gedacht, daß Jesus nach seiner Auferstehung noch weinen kann... Er neigt sich
vor. Das Lager ist so niedrig für ihn, der hochgewachsen ist! Er legt seine
Hand auf die fieberheiße Stirn, nachdem er die essiggetränkten Tücher entfernt
hat, und sagt: «Einen Unglücklichen. Dies und nichts anderes. Wenn die Welt
auch schreit, Gott deckt den Schrei der Welt zu und sagt dir: "Sei im Frieden,
denn ich liebe dich." Sieh mich an, arme Mutter! Sammle deinen verwirrten
Geist und lege ihn in meine Hände. Ich bin Jesus... !»
Maria des Simon öffnet die Augen,
als sei sie aus einem Alptraum erwacht, und sieht den Herrn. Sie fühlt seine
Hand auf ihrer Stirn, schlägt
125
die zitternden Hände vor das
Gesicht und stöhnt: «Verfluche mich nicht! Hätte ich geahnt, was ich zur Welt
bringen würde, dann hätte ich mir die Eingeweide herausgerissen, um zu
verhindern, daß er geboren wird!»
«Und du hättest gesündigt. Maria!
Oh, Maria! Verlasse nicht den Weg der Gerechtigkeit wegen der Schuld eines
anderen. Die Mütter, die ihre Pflicht getan haben, dürfen sich nicht für die
Sünden ihrer Kinder verantwortlich fühlen. Du hast deine Pflicht getan, Maria.
Gib mir deine armen Hände. Beruhige dich, arme Mutter.»
«Ich bin die Mutter des Judas.
Unrein bin ich, wie alles, was dieser Dämon berührt hat. Die Mutter eines
Dämons! Rühre mich nicht an.» Sie windet sich im Bett, um den göttlichen
Händen zu entgehen, die sie halten wollen. Die beiden Tränen Jesu fallen auf
ihr Gesicht, das wieder im Fieber glüht.
«Ich habe dich gereinigt, Maria.
Die Tränen meines Mitleids sind auf dich gefallen. Über niemanden habe ich
geweint, seit ich mein Leiden vollendet habe. Aber über dich weine ich mit
meinem ganzen liebevollen Mitleid.» Jesus ist es gelungen, ihre Hände zu
fassen, und nun setzt er sich, ja, er setzt sich wahrhaftig auf den Bettrand
und hält diese zitternden Hände in den seinen.
Das liebevolle Erbarmen seiner
leuchtenden Augen liebkost, lindert, verbindet die Wunde der Unglücklichen,
die sich unter stillen Tränen beruhigt und flüstert: «Du hegst wirklich keinen
Groll gegen mich?»
«Ich liebe dich. Deshalb bin ich
gekommen. Der Friede sei mit dir.»
«Du verzeihst! Aber die Welt!
Deine Mutter! Sie wird mich hassen.»
«Sie denkt an dich wie an eine
Schwester. Die Welt ist grausam, das ist wahr; doch meine Mutter ist die
Mutter der Liebe, und sie ist gut. Du kannst nicht hinausgehen, aber sie wird
zu dir kommen, wenn sich alles wieder beruhigt hat. Die Zeit bringt
Frieden...»
«Laß mich sterben, wenn du mich
lieb hast...»
«Noch ein Weilchen. Dein Sohn hat
mir nichts zu geben gewußt. Gib du mir die Zeit deines Leidens. Sie wird kurz
sein.»
«Mein Sohn hat dir zu viel
gegeben... Unendlichen Schrecken hat er dir gegeben!»
«Und du, dein unsägliches Leiden.
Der Schrecken ist vorbei. Er nützt nicht mehr. Dein Schmerz nützt. Er
vereinigt sich mit diesen meinen Wunden, und deine Tränen und mein Blut
waschen die Welt. Alle Schmerzen vereint werden die Welt rein machen. Deine
Tränen mischen sich mit meinem Blut und den Tränen meiner Mutter, und sie sind
umgeben von allen Schmerzen der Heiligen, die um Christi und der Menschen
willen leiden werden, aus Liebe zu mir und zu den Menschen. Arme Maria.» Jesus
bettet sie sanft zurück, faltet ihre Hände und sieht, wie sie ruhiger wird...
Anna kommt wieder herein und
bleibt überrascht auf der Schwelle stehen.
126
Jesus, der aufgestanden ist,
schaut sie an und sagt: «Du warst meinem Wunsch gehorsam. Die Gehorsamen haben
Frieden. Deine Seele hat mich verstanden. Lebe in meinem Frieden!»
Er senkt seinen Blick auf Maria
des Simon, die ihn unter stillen Tränen und sogar mit einem Lächeln ansieht.
Er sagt noch einmal: «Setze deine ganze Hoffnung auf den Herrn. Er wird dir
alle seine Tröstungen schenken.» Jesus segnet sie und will gehen.
Maria des Simon schreit
leidenschaftlich: «Man sagt, daß mein Sohn dich mit einem Kuß verraten hat!
Ist das wahr, Herr? Wenn ja, dann laß mich ihn abwaschen mit einem Kuß auf
deine Hände. Ich kann nichts anderes tun. Nichts anderes kann ich tun, um ihn
auszulöschen... ihn zu löschen.» Der Schmerz überfällt sie wieder stärker.
Jesus, oh! Jesus reicht ihr nicht
die Hände zum Kuß, diese Hände, über die die weiten Ärmel des weißen Gewandes
bis zum Mittelglied der Finger fallen und die Wunden verbergen, sondern er
nimmt ihr Haupt in seine Hände und neigt sich über sie, um mit den göttlichen
Lippen die fieberglühende Stirn der unglücklichsten aller Frauen zu berühren.
Als er sich wieder aufrichtet, sagt er noch: «Meine Tränen und mein Kuß!
Niemand hat so viel von mir bekommen. Sei daher beruhigt, denn zwischen dir
und mir ist nichts als Liebe.» Er segnet sie, durchquert rasch den Raum und
geht hinter Anna hinaus, die nicht den Mut gehabt hat, näherzutreten und etwas
zu sagen, die aber vor Rührung weint.
Als sie jedoch im Flur sind, der
zur Haustür führt, wagt Anna zu sprechen und die Frage zu stellen, die ihr auf
dem Herzen liegt: «Meine Johanna?»
«Seit vierzehn Tagen ist sie
selig im Himmel. Ich habe es drinnen nicht gesagt, denn der Unterschied
zwischen deiner Tochter und ihrem Sohn ist zu groß.»
«Das ist wahr! Eine große Qual!
Ich glaube, daß sie aus Gram sterben wird.»
«Nein. Nicht sofort.»
«Nun wird sie mehr Frieden haben.
Du hast sie getröstet. Du! Du, der du mehr als alle anderen...»
«Ich bemitleide sie mehr als alle
anderen. Ich bin das göttliche Erbarmen. Ich bin die Liebe. Ich sage dir,
Frau: Hätte Judas mir nur einen Blick der Reue zugeworfen, dann hätte ich ihm
die Verzeihung Gottes erlangt ...»
Welche Trauer liegt auf dem
Antlitz Jesu! Die Frau ist erschüttert. Sie will sprechen, sie will schweigen,
aber sie ist eine Frau, und daher siegt die Neugier. Sie fragt: «Aber ist
es... Nun, ich meine: Hat dieser Unglückliche spontan gesündigt oder...»
«Seit Monaten hat er gesündigt,
und keines meiner Worte, nichts, was ich getan habe, konnte ihn davon
abhalten, so stark war sein Wille zu sündigen. Aber sage es ihr nicht...»
127
«Ich werde es nicht sagen, Herr!
Als Ananias, ohne das Osterfest zu beenden, in der Nacht des Rüsttags aus
Jerusalem floh, kam er hierher und schrie: "Dein Sohn hat den Meister verraten
und ihn seinen Feinden ausgeliefert. Mit einem Kuß hat er ihn verraten. Ich
habe gesehen, wie der Meister angespien und geschlagen, gegeißelt, mit Dornen
gekrönt, mit dem Kreuz beladen und gekreuzigt worden ist, und wie er gestorben
ist. Und dein Sohn ist an allem schuld. Unser Name wird mit obszönem Jubel von
den Feinden des Meisters herumgeschrien, und die Taten deines Sohnes sind in
aller Munde. Für weniger als den Preis eines Lammes hat er den Meister
verkauft und ihn mit einem verräterischen Kuß den Wachen angezeigt." Maria
fiel zu Boden und wurde auf einmal ganz schwarz, und der Arzt sagte, ihre
Galle sei ausgeflossen und die Leber zerrissen und das ganze Blut sei
verdorben. Und... die Welt ist schlecht. Sie hat recht... Ich mußte sie
hierher bringen, denn sie sind zum Haus nach Kerioth gelaufen und haben
geschrien: "Dein Sohn ist ein Gottesmörder und ein Selbstmörder! Er hat sich
erhängt! Und Beelzebub ist gekommen und hat seine Seele und auch seinen Leib
geholt." Ist diese schreckliche Nachricht wahr?»
«Nein, Frau. Man hat ihn tot an
einem Ölbaum hängend gefunden...»
«Ach! Und sie haben gerufen:
"Christus ist auferstanden und ist Gott. Dein Sohn hat Gott verraten. Du bist
die Mutter des Verräters Gottes. Du bist die Mutter des Judas." Bei Nacht habe
ich sie dann hierher gebracht, mit Ananias und einem treuen Diener, dem
einzigen, der mir geblieben ist; denn niemand wollte bei ihr bleiben... Aber
diese Schreie hört Maria im Wind, in den Geräuschen der Erde, in allem...»
«Arme Mutter! Ja, es ist
furchtbar.»
«Hat denn dieser Dämon nicht
daran gedacht, Herr?»
«Dies war eines der Argumente,
mit denen ich ihn zurückzuhalten versuchte. Aber es hat nichts genützt. Judas
hat schließlich sogar Gott gehaßt, und er hat ja auch nie mit wahrer Liebe
Vater und Mutter oder sonst irgendeinen Mitmenschen geliebt.»
«Das ist wahr!»
«Leb wohl, Frau. Mein Segen möge
dir die Kraft geben, die Verachtung der Welt wegen deines Mitleids für Maria
zu ertragen. Küsse meine Hand. Dir kann ich sie zeigen. Sie hätte furchtbar
gelitten, dies sehen zu müssen!» Jesus streift den Ärmel zurück und zeigt ihr
die durchbohrte Hand.
Anna stöhnt, als sie mit den
Lippen kaum die Fingerspitzen berührt.
Das Geräusch einer sich öffnenden
Tür und ein unterdrückter Schrei:
«Der Herr!» Ein alter Mann wirft
sich zu Boden und bleibt in dieser Stellung.
«Ananias, der Herr ist gut. Er
ist gekommen, um deine Verwandte zu trösten und auch uns Trost zu schenken»,
sagt Anna, die den Greis in seiner übergroßen Erregung beruhigen möchte.
128
Doch der Mann wagt es nicht, sich
zu rühren. Er weint und sagt: «Unser Blut ist verdammt. Ich kann den Herrn
nicht ansehen.»
Jesus geht zu ihm. Er berührt
sein Haupt und sagt dieselben Worte, die er schon Maria des Simon gesagt hat:
«Die Angehörigen, die ihre Pflicht erfüllt haben, dürfen sich nicht
verantwortlich fühlen für die Sünde des Verwandten. Mut, Mann! Gott ist
gerecht. Der Friede sei mit dir und diesem Haus. Ich bin gekommen, und du
wirst gehen, wohin ich dich schicke. Am zusätzlichen Osterfest werden die
Jünger in Bethanien sein. Du wirst zu ihnen gehen und sagen, daß du den Herrn
am zwölften Tag nach seinem Tod in Kerioth gesehen hast, lebend und
wahrhaftig, mit Seele und Leib und in seiner Göttlichkeit. Sie werden dir
glauben, denn ich bin schon lange bei ihnen gewesen. Aber es wird sie im
Glauben an meine göttliche Natur stärken, wenn sie erfahren, daß ich am
gleichen Tag an verschiedenen Orten gewesen bin. Und zuvor schon, heute noch,
wirst du nach Kerioth gehen und den Synagogenvorsteher bitten, das Volk zu
versammeln und in Anwesenheit aller zu sagen, daß ich hier gewesen bin und daß
sie sich meiner Worte beim Abschied erinnern sollen. Gewiß werden sie dir
sagen: "Warum ist er nicht zu uns gekommen?" Dann sollst du antworten: "Der
Herr läßt euch sagen, daß er sich euch gezeigt hätte, wenn ihr an der
unschuldigen Mutter getan hättet, worum er euch gebeten hatte. Ihr habt gegen
die Liebe gefehlt, und der Herr hat sich deshalb nicht gezeigt." Wirst du das
tun?»
«Es wird sehr schwierig sein,
Herr! Sehr schwer! Sie halten uns alle für Aussätzige des Herzens... Der
Synagogenvorsteher wird mich nicht anhören und mich nicht zum Volk reden
lassen. Vielleicht wird er mich schlagen... Doch ich werde es tun, weil du es
willst.» Der Greis schaut nicht auf. Er spricht tief gebeugt.
«Sieh mich an, Ananias!»
Der Mann erhebt sein in Ehrfurcht
erschauerndes Gesicht.
Jesus ist strahlend und schön wie
auf dem Tabor... Das Licht umhüllt ihn und verbirgt sein Antlitz und sein
Lächeln... Und der Hausflur ist auf einmal leer, ohne daß eine Tür sich bewegt
hätte, um ihn hinauszulassen. Die beiden beten an, beten immer noch an. Sie
sind ganz Anbetung der göttlichen Erscheinung.
III. In Jutta
Der Obstgarten beim Haus der
Sara. Die Kinder spielen unter den grünen Bäumen. Der Kleinste wälzt sich im
Gras unter einer Reihe dichtbelaubter Reben. Die anderen, etwas größeren
zwitschern glücklich wie Schwalben und spielen Verstecken zwischen den Hecken
und Reben.
Jesus erscheint bei dem
Kleinsten, dem er den Namen gegeben hat. O heilige Einfalt der Unschuldigen!
Jesai ist gar nicht erstaunt, ihn plötzlich
129
dort zu sehen. Er streckt seine
Händchen aus, um auf den Arm genommen zu werden. Und Jesus tut es. Die größte
Natürlichkeit liegt in dem Tun der beiden. Nun kommen die anderen Kinder
herbeigeeilt und – noch einmal selige Einfalt der Kinder! – sie nähern sich
ihm glückselig und keinesfalls überrascht. Für sie scheint sich nichts
geändert zu haben. Vielleicht wissen sie nichts. Doch nachdem Jesus eines nach
dem anderen liebkost hat, sagt Maria, die Älteste und Vernünftigste: «Leidest
du jetzt nicht mehr, Herr, nun da du auferstanden bist? Ich habe so großen
Schmerz empfunden!»
«Ich leide nicht mehr. Ich bin
gekommen, um euch zu segnen, bevor ich zu meinem und eurem Vater in den Himmel
auffahre. Aber auch von dort werde ich euch segnen, wenn ihr immer brav seid.
Sagt denen ' die mich lieben, daß ich euch heute meinen Segen für sie gelassen
habe. Und denkt immer an diesen Tag.»
«Kommst du nicht ins Haus? Die
Mama ist da. Uns werden sie nicht glauben», sagt wiederum Maria.
Ihr Bruder hingegen fragt nicht
lange, er schreit: «Mama, Mama, der Herr ist hier!» und läuft zum Haus und
ruft sie noch einmal.
Sara kommt heraus... Gerade noch
rechtzeitig, um Jesus am Rand des Obstgartens in seiner ganzen Schönheit zu
sehen, und wie er sich dann in Licht auflöst und verschwindet...
«Der Herr! Warum habt ihr mich
denn nicht früher gerufen ... ?» fragt Sara, sobald sie wieder imstande ist zu
sprechen. «Aber wann und woher ist er gekommen? Ist er allein gewesen? Wie
seid ihr doch dumm!»
«Wir haben ihn hier getroffen.
Auf einmal war er da... Von der Straße ist er nicht gekommen und auch nicht
aus dem Garten. Er hatte Jesai auf dem Arm. Und er hat gesagt, daß er gekommen
ist, um uns zu segnen und uns seinen Segen für all jene in Jutta zu lassen,
die ihn lieben. Er hat auch gesagt, daß wir diesen Tag nicht vergessen sollen.
Und nun geht er in den Himmel. Aber er wird uns lieben, wenn wir brav sind.
Wie schön er gewesen ist! Er hatte Wunden an den Händen. Aber sie tun ihm
nicht mehr weh. Auch die Füße waren verwundet. Ich habe sie im Gras gesehen.
Diese Blume dort hat die Wunde eines Fußes berührt. Ich will sie
pflücken...»Alle reden gleichzeitig und voll Begeisterung. Sie schwitzen sogar
vor lauter Aufregung.
Sara liebkost sie und flüstert:
«Gott ist groß! Gehen wir. Kommt. Wir wollen es allen sagen. Sprecht ihr, ihr
Unschuldigen. Ihr könnt von Gott sprechen.»
IV Beim Jüngling Jaia zu Pella
Der Jüngling steht vor einem
Wagen und belädt ihn eifrig mit Gemüse, das er in einem nahen Garten geerntet
hat. Das Eselchen schlägt mit den Hufen auf den harten Boden des Feldweges.
130
Als er sich umwendet, um einen
Korb voll Salat zu nehmen, sieht er Jesus, der ihm zulächelt. Er läßt den Korb
auf den Boden fallen und kniet nieder. Während er sich die Augen reibt und
nicht an das glauben kann, was er sieht, murmelt er: «Allerhöchster, laß mich
nicht einem Trugbild erliegen. Erlaube nicht, Herr, daß Satan mich mit
falschen, verführerischen Visionen täuscht. Mein Herr ist doch tot! Man hat
ihn begraben, und nun sagt man, daß sein Leichnam gestohlen worden ist.
Erbarmen, allerhöchster Herr! Zeige mir die Wahrheit!»
«Ich bin die Wahrheit, Jaia. Ich
bin das Licht der Welt. Schau mich an. Ich habe dir das Augenlicht
wiedergegeben, damit du meine Macht und meine Auferstehung bezeugen kannst.»
«Oh, es ist wirklich der Herr! Du
bist es! Ja, du bist Jesus!» Er rutscht auf den Knien zu Jesus, um ihm die
Füße zu küssen.
«Du wirst berichten, daß du mich
gesehen und mit mir geredet hast, und daß ich lebe. Du wirst sagen, daß du
mich heute gesehen hast. Der Friede und mein Segen seien mit dir.»
Jaia ist wieder allein. Und
glücklich. Er vergißt seinen Karren und das Gemüse. Vergebens scharrt das
Eselchen unruhig mit dem Huf und protestiert mit «iah» gegen das lange
Warten... Jaia ist außer sich vor Freude.
Eine Frau kommt aus dem Haus
neben dem Garten und sieht ihn bleich vor Erregung und mit abwesendem Blick
dastehen. Sie ruft: «Jaia! Was hast du? Was ist geschehen?» Sie eilt zu ihm,
schüttelt ihn, bringt ihn wieder zu sich...
«Der Herr! Ich habe den
auferstandenen Herrn gesehen! Ich habe seine Füße geküßt und die Wunden
gesehen! Sie haben alle gelogen! Er war wirklich Gott und ist auferstanden.
Ich hatte Angst, es könnte eine Täuschung sein. Doch er ist es! Er ist es!»
Die Frau zittert nun ihrerseits
vor Erregung und sagt leise: «Bist du wirklich sicher?»
«Du bist gut, Frau. Aus Liebe zu
ihm hast du meine Mutter und mich in deinen Dienst genommen. Sei nicht
ungläubig.»
«Wenn du sicher bist, glaube ich.
Aber ist es wirklich Fleisch gewesen? War er warm? Hat er geatmet? Hat er
gesprochen? Hatte er wirklich eine Stimme, oder hast du es dir nur
eingebildet?»
«Ich bin ganz sicher. Es war das
warme Fleisch eines Lebenden. Es war eine richtige Stimme. Und er hat geatmet.
Schön wie Gott, war er doch Mensch wie du und ich. Gehen wir, gehen wir, und
berichten wir denen, die leiden oder Zweifel haben.»
131
V Bei Johannes von Nob
Der Alte ist allein in seinem
Haus, scheint jedoch frohen Mutes zu sein. Er flickt eine Art Stuhl, der an
einer Seite aus dem Leim gegangen ist, und lächelt irgend einem Traum nach.
Da klopft es an der Tür. Der Alte
sagt, ohne seine Arbeit zu unterbrechen: «Herein. Was wollt ihr, ihr da
draußen? Immer noch dieselben? Ich bin zu alt, um mich zu ändern! Auch wenn
die ganze Welt mir zurufen würde: "Er ist tot", würde ich sagen: "Er lebt."
Auch wenn ich dafür sterben müßte. Herein also!»
Er steht auf und geht zur Tür, um
nachzusehen, wer da anklopft und nicht hereinkommt. Aber als er schon fast an
der Tür ist, geht sie auf und Jesus steht vor ihm.
«Oh! Oh! Oh! Mein Herr! Lebendig!
Ich habe geglaubt! Und nun kommt er, um meinen Glauben zu belohnen! Gepriesen
seist du! Ich habe nicht gezweifelt. In meinem Schmerz habe ich mir gesagt:
"Wenn er mir für das Mahl der Freude das Lamm geschickt hat, so ist das ein
Zeichen, daß er an diesem Tag auferstehen wird." Da habe ich alles verstanden.
Als du gestorben bist und die Erde gebebt hat, habe ich begriffen, was ich
zuvor nicht verstanden hatte. Und man hat mich in Nob für verrückt gehalten,
denn nach Sonnenuntergang am Tag nach dem Sabbat habe ich das Mahl
vorbereitet, bin hinausgegangen und habe Bettler eingeladen mit den Worten:
"Unser Freund ist auferstanden." Man sagte schon, daß es nicht wahr sei. Man
behauptete, daß sie dich in der Nacht gestohlen hätten. Aber ich habe das
nicht geglaubt, denn seit du gestorben bist, habe ich gewußt, daß du nur
gestorben bist, um wieder aufzuerstehen, und daß dies das Zeichen des Jonas
sein würde.»
Jesus läßt ihn reden und lächelt.
Dann fragt er: «Und nun willst du immer noch sterben? Oder willst du leben und
meine Herrlichkeit bezeugen?»
«Wie du willst, Herr!»
«Nein, wie du willst.»
Der Greis überlegt. Schließlich
entscheidet er sich: «Es wäre schön, die Welt zu verlassen, in der du nicht
mehr bist. Aber ich verzichte auf den Frieden des Himmels, um den Ungläubigen
zu sagen: "Ich habe ihn gesehen."»
Jesus legt ihm die Hand aufs
Haupt, segnet ihn und sagt. «Aber bald wird auch der Friede kommen, und du
wirst zu mir kommen mit dem Rang eines Bekenners Christi.»
Jesus geht. Vielleicht mit
Rücksicht auf den betagten Alten ist er hier nicht auf wunderbare Weise
erschienen und entschwunden, sondern hat es ganz so getan, als wäre er noch
der Jesus von zuvor, der wie ein gewöhnlicher Mensch ein Haus betrat oder
verließ.
132
VI. Bei Matthias, dem einsamen
Alten bei Jabes Galaad
Der alte Mann ist mit seinem
Gemüse beschäftigt und führt Selbstgespräche: «Meine ganzen Reichtümer sind
für ihn. Und er wird sie nicht mehr kosten. Umsonst habe ich gearbeitet. Ich
glaube, daß er der Sohn Gottes war, der gestorben und auferstanden ist. Aber
er ist nicht mehr der Meister, der sich an den Tisch des Reichen oder des
Armen setzt und mit gleicher Liebe, vielleicht, gewiß sogar, mit größerer
Liebe das Mahl mit dem Armen als mit dem Reichen teilt. Nun ist er der
auferstandene Herr. Er ist auferstanden, um uns, seine Gläubigen, im Glauben
zu bestärken. Und sie sagen, es ist nicht wahr. Sie sagen, daß niemand jemals
aus sich selbst auferstanden ist. Niemand. Nein. Kein Mensch. Aber er schon!
Denn er ist Gott.»
Er klatscht in die Hände, um
seine Tauben zu verjagen, die geflogen kommen, um Samen aus der gerade
umgegrabenen und eingesäten Erde zu stibitzen, und sagt: «Umsonst vermehrt ihr
euch nun. Er wird sich nicht mehr an eurer Brut erfreuen! Und ihr, nutzlose
Bienen? Für wen bereitet ihr noch Honig? Ich habe so sehr gehofft, ihn
wenigstens noch einmal bei mir zu haben, nun, da ich nicht mehr so bettelarm
bin. Alles ist gut gediehen, nachdem er hier war... Ah! Aber mit dem Geld, das
ich nie angerührt habe, will ich nach Nazareth zu seiner Mutter gehen und ihr
sagen: "Mache mich zu deinem Diener, doch laß mich bei dir sein, denn du bist
immer er..."» Und der Alte wischt sich mit dem Handrücken eine Träne ab.
«Matthias, hast du ein Brot für
einen Pilger?»
Matthias hebt den Kopf, aber da
er am Boden kniet, sieht er nicht, wer hinter der hohen Hecke spricht, die
seinen kleinen Besitz umgibt, der so verloren in dieser grünen Einsamkeit
jenseits des Jordan liegt. Er antwortet: «Wer du auch bist, komm im Namen des
Herrn Jesus!» Und er steht auf, um das Türchen zu öffnen.
Als er sich Jesus gegenübersieht,
bleibt er, die Hand auf dem Riegel, wie angewurzelt stehen.
«Willst du mich nicht als Gast
haben, Matthias? Du hast mich schon einmal gehabt und gerade bedauert, daß
sich das nicht wiederholen würde. Ich bin hier, und du willst mir nicht
öffnen?» sagt Jesus lächelnd.
«Oh, Herr, ich... ich bin nicht
würdig, daß mein Herr hier hereinkommt... Ich...»
Jesus legt die Hand auf den
Verschluß, schiebt den Riegel zurück und sagt: «Der Herr kann eintreten, wo er
will, Matthias!» Er geht durch den bescheidenen Garten zum Haus und sagt auf
der Schwelle: «Opfere also die Brut deiner Tauben. Nimm dein Gemüse aus der
Erde und hole den Honig deiner Bienen. Wir werden zusammen das Brot brechen,
und deine Arbeit wird nicht mehr umsonst und dein Wunsch nicht vergebens
gewesen
133
sein. Und dieser Ort wird dir
lieb sein, so daß du nicht mehr dorthin zu gehen brauchst, wo bald Schweigen
und Verlassenheit sein wird. Ich bin überall, Matthias. Wer mich liebt, ist
immer bei mir. Meine Jünger werden in Jerusalem sein. Dort wird meine Kirche
erstehen. Sieh zu, daß du am zusätzlichen Osterfest dort bist.»
«Verzeih mir, Herr. Aber ich habe
es dort nicht ausgehalten und bin geflohen. Ich war am Tag vor dem Rüsttag um
die neunte Stunde angekommen und tags darauf... Oh, da bin ich geflohen, um
dich nicht sterben sehen zu müssen! Nur deshalb, Herr!»
«Ich weiß es. Und ich weiß, daß
du als einer der ersten zurückgekehrt bist, um an meinem Grab zu weinen. Aber
es war schon leer. Ich weiß alles. Sieh, nun setze ich mich hierher und ruhe
mich aus. Ich habe mich immer ausgeruht hier... Und die Engel wissen es.»
Der Mann hantiert, aber mit so
ehrfürchtigen Bewegungen, als befände er sich in einer Kirche. Ab und zu
trocknet er eine Träne, die sich in sein Lächeln mischen möchte, während er
kommt und geht, die Täubchen holt, sie tötet, vorbereitet, und das Feuer
schürt. Dann holt er das Gemüse, wäscht es, legt auf einen Teller die ersten
Feigen und deckt den armseligen Tisch mit seinem besten Geschirr. Aber wie
kann er sich setzen und essen, als alles bereit ist? Er will nur dienen, und
das scheint ihm schon viel zu sein. Mehr will er nicht. Aber Jesus, der
gesegnet und aufgeopfert hat, reicht ihm die Hälfte des Täubchens, dessen
Fleisch er zerschnitten und auf ein zuvor in die Sauce getauchtes Stück Brot
gelegt hat.
«Oh, wie einem Lieblingssohn!»
sagt der Mann und ißt unter Tränen der Freude und Rührung, ohne den Blick von
Jesus zu wenden, der ißt... und trinkt, das Gemüse, das Obst und den Honig
genießt und ihm seinen Becher reicht, nachdem er einen Schluck Wein daraus
getrunken hat. Früher hat er nur Wasser getrunken.
Das Mahl ist beendet.
«Wie du siehst, lebe ich. Und du
bist glücklich. Vergiß nicht, daß ich vor zwölf Tagen durch den Willen der
Menschen gestorben bin. Doch der Menschen Wille ist nichts, wenn der Wille
Gottes ihm nicht zustimmt. Ja, das gegensätzliche Wollen der Menschen wird
sogar zum dienstbaren Werkzeug des ewigen Willens. Leb wohl, Matthias. Ich
habe gesagt, daß bei mir sein wird, wer mir zu trinken gegeben hat, als ich
ein Pilger war und man noch an mir zweifeln durfte. Und ich sage dir: Du wirst
teilhaben an meinem himmlischen Reich.»
«Aber nun verliere ich dich, o
Herr!»
«In jedem Pilger wirst du mich
sehen, in jedem Bettler, in jedem Kranken, in jedem, der Brot, Wasser und
Kleider braucht. Ich bin in jedem, der leidet, und daher wird man alles, was
man einem Leidenden tut, mir tun.»
Jesus breitet segnend die Arme
aus und verschwindet.
134
VII. Bei Abraham in Engedi
Der Marktplatz von Engedi: ein
von rauschenden Palmen gebildeter Säulentempel. Der Brunnen: ein Spiegel des
Aprilhimmels. Die Tauben: leise, tiefe Orgeltöne. Der alte Abraham überquert
den Platz und trägt seine Arbeitsgeräte auf der Schulter. Er ist noch älter
geworden, aber er ist still und heiter wie einer, der Ruhe gefunden hat nach
vielen Stürmen. Nachdem er die Stadt durchquert hat, geht er in die Weinberge
nahe den Quellen, in diese so fruchtbaren Weinberge, die schon eine reiche
Ernte versprechen. Dort beginnt er, den Boden zu lockern, zu beschneiden und
aufzubinden. Ab und zu schaut er auf, stützt sich auf die Hacke und denkt
nach. Er glättet seinen patriarchalischen Bart, seufzt und schüttelt das Haupt
in einem inneren Gespräch mit sich selbst.
Ein ganz in seinen Mantel
gehüllter Mann geht die Straße zu den Quellen und dem Weinberg hinauf. Ich
sage: ein Mann, doch es ist Jesus. Sein Mantel und sein Gang. Für den Alten
aber ist er ein Mann. Und dieser Mann fragt Abraham: «Darf ich mich hier
ausruhen?»
«Die Gastfreundschaft ist heilig.
Ich habe sie niemals jemandem verweigert. Komm, tritt ein. Die Ruhe möge dir
süß sein im Schatten meiner Reben. Möchtest du Milch? Brot? Ich will dir
geben, was ich hier habe.»
«Und ich, was kann ich dir geben?
Ich habe nichts.»
«Er, der der Messias ist, hat mir
alles gegeben, für alle Menschen. Und was immer ich auch gebe, es ist nichts
im Vergleich zu dem, was er mir gegeben hat.»
«Weißt du, daß sie ihn gekreuzigt
haben?»
«Ich weiß, daß er auferstanden
ist. Bist du einer von denen, die ihn gekreuzigt haben? Ich darf nicht hassen,
denn er will keinen Haß. Aber wenn ich dürfte, würde ich dich hassen, wenn du
einer von ihnen bist.»
«Ich bin keiner der Kreuziger.
Sei beruhigt. Du weißt also alles über ihn?»
«Alles. Und Elisäus... Das ist
mein Sohn, weißt du? Elisäus ist nicht mehr aus Jerusalem zurückgekommen und
hat mir sagen lassen: "Entlasse mich, Vater. Ich will meinen Besitz verlassen
und den Herrn predigen. Ich werde nach Kapharnaum gehen, Johannes suchen und
mich den treuen Jüngern anschließen."»
«Dein Sohn hat dich also
verlassen? In deinem Alter und allein?»
«Was du "verlassen" nennst, ist
für mich eine lange erträumte Freude. Hatte ich ihn nicht durch den Aussatz
verloren? Und wer hat ihn mir wiedergegeben? Der Messias. Und verliere ich ihn
denn, wenn er den Herrn predigt? Aber nein! Ich werde ihn auch im ewigen Leben
wiederfinden. Doch du redest in einer Weise, die mich mißtrauisch macht. Hat
dich der Tempel geschickt? Kommst du, um jene zu verfolgen, die an den
Auferstandenen glauben? Schlage mich! Ich fliehe nicht. Ich mache es nicht
135
wie die drei Magier in längst
vergangener Zeit. Ich bleibe. Denn wenn ich seinetwegen falle, werde ich ihm
im Himmel begegnen, und mein Gebet vom vorigen Jahr wird erhört werden.»
«Das ist wahr. Du hast damals
gesagt: "Ich habe gehofft auf den Herrn, und er neigte sich mir und hörte mein
Rufen."»
«Woher weißt du das? Bist du
einer seiner Jünger? Warst du hier bei ihm, als ich ihn gebeten habe? Oh, wenn
du einer von ihnen bist, so hilf mir, daß mein Rufen zu ihm gelangt und er
sich meiner erinnert.» Er wirft sich zu Boden in der Meinung, einen Apostel
vor sich zu haben.
«Ich bin es, Abraham von Engedi,
und ich sage dir: "Komm!"» Jesus gibt sich zu erkennen, breitet die Arme aus
und lädt ihn ein, an sein Herz zu kommen.
Im gleichen Augenblick kommt ein
Knabe in den Weingarten, gefolgt von einem Jüngling, und ruft: «Vater! Vater,
hier sind wir, um dir zu helfen.»
Aber ein gewaltiger Aufschrei des
kraftvollen Alten übertönt den zwitschernden Ruf des Kindes, ein Schrei wahrer
Befreiung: «Hier bin ich. Ich komme!» Und Abraham wirft sich in die Arme Jesu
und ruft noch einmal: «Jesus! Heiliger Messias! In deine Hände empfehle ich
meinen Geist!»
Seliger Tod! Beneidenswerter Tod!
Am Herzen Jesu, im heiteren Frieden der blühenden Frühlingslandschaft...
Jesus legt den Alten sanft auf
das blühende, in der Brise wogende Gras am Fuß eines Weinstockes und sagt zu
den erstaunten und erschrockenen Kindern, die den Tränen nahe sind: «Weint
nicht. Er ist im Herrn gestorben. Selig, die in ihm sterben. Geht, Knaben, und
sagt den Leuten von Engedi Bescheid, daß ihr Synagogenvorsteher den
Auferstandenen gesehen hat und daß dieser sein Gebet erhört hat. Weint nicht!
Weint nicht!» Er liebkost sie und geleitet sie zum Ausgang. Dann kehrt Jesus
zu dem Toten zurück, ordnet sein Haar und seinen Bart, schließt die
halbgeöffneten Augen, faltet die Hände und breitet den Mantel, den Abraham zur
Arbeit abgelegt hatte, über den Leichnam.
Er bleibt, bis er Stimmen auf dem
Weg hört. Dann richtet er sich auf. Strahlend... Die herbeieilenden Leute
sehen ihn noch. Sie schreien und beschleunigen ihre Schritte. Aber Jesus
entzieht sich ihren Blicken im Glanz eines Strahles, der heller leuchtet als
die Sonne.
VIII. Elias, der Essener vom
Kerith
Die rauhe Einsamkeit des wilden
Gebirges, in dem sich der Kerith erhebt. Elias betet. Er ist noch hagerer und
bärtiger geworden, und in dem groben Wollgewand, das weder grau noch braun
ist, unterscheidet er sich kaum von dem Gestein, das ihn umgibt.
136
Er vernimmt ein Geräusch, ähnlich
dem Sturm oder dem Donner, und blickt auf. Jesus ist auf einem Fels
erschienen, der über dem Abgrund hängt. In der Tiefe fließt ein Bach.
«Der Meister!» Elias wirft sich
nieder und berührt mit der Stirn den Boden.
«Ich bin es, Elias! Hast du das
Erdbeben am Rüsttag nicht bemerkt?»
«Ich habe es bemerkt und bin nach
Jericho und zu Nike gegangen. Aber ich habe keinen von denen gefunden, die
dich lieben. Ich habe nach dir gefragt, und man hat mich geschlagen. Dann habe
ich die Erde ein zweites Mal beben gefühlt, diesmal nicht mehr so stark, und
bin hierher zurückgekehrt, um Buße zu tun; denn ich dachte, die Schleusen des
göttlichen Zornes hätten sich geöffnet.»
«Der göttlichen Barmherzigkeit.
Ich bin gestorben und auferstanden. Sieh meine Wunden. Geh zum Tabor und
schließe dich den Dienern des Herrn an und sage ihnen, daß ich dich geschickt
habe.»
Jesus segnet ihn und
verschwindet.
IX. In Caesarea Philippi
Der kleine Junge der Dorkas macht
mit Hilfe seiner Mutter die ersten Schrittchen auf der Bastion der Festung.
Und Dorkas bemerkt in ihrer gebückten Haltung nicht, daß der Herr erscheint.
Doch nun, da sie das Kind losgelassen hat und dieses ganz sicher und flink zur
Ecke der Bastei läuft, richtet sie sich auf, um ihm zu folgen, damit es nicht
etwa fällt oder gar zwischen die Zinnen oder in eine Schießscharte schlüpft
und hinunterstürzt. Und während sie dies tut, sieht sie, daß Jesus das Kind in
seine Arme schließt und es küßt. Die Frau wagt sich nicht zu rühren. Sie stößt
nur einen lauten Schrei aus. Einen Schrei, der die Leute in den Höfen nach
oben schauen und Gesichter in den Fenstern erscheinen läßt. «Der Herr! Der
Herr! Der Messias ist da! Er ist wahrhaft auferstanden!» Aber noch bevor die
Leute herbeieilen können, ist Jesus schon verschwunden.
«Du bist von Sinnen! Du hast
geträumt! Ein Spiel des Lichts hat dich ein Gespenst sehen lassen.»
«Oh, er war sehr lebendig. Seht
mein Kind, wie es dorthin schaut und was für einen schönen Apfel, so schön wie
sein kleines Gesicht, es in seinen Händchen hat! Es beißt mit seinen ersten
Zähnchen hinein und lacht. Ich habe keine Äpfel...»
«Niemand hat um diese Zeit reife
Äpfel, und so frische ...» sagen alle verwundert.
«Wir wollen Tobias fragen», sagen
einige Frauen.
«Wie, was wollt ihr tun? Er kann
doch kaum "Mama" sagen», spotten die Männer.
137
Aber die Frauen neigen sich über
das Kind und sagen: «Wer hat dir den Apfel geschenkt?»
Und der Mund, der kaum die ersten
Worte eines Kindes aussprechen kann, zeigt lächelnd seine winzigen Zähnchen
und die Lücken dazwischen und sagt deutlich: «Jesus.»
«Oh!»
«Ihr nennt ihn Jesai! Er sagt nur
seinen Namen.»
«Jesus, du, oder Jesus, der Herr?
Welcher Herr? Wo hast du ihn gesehen?» fragen die Frauen weiter.
«Dort, den Herrn. Jesus, den
Herrn.»
«Wo ist er jetzt? Wo ist er
hingegangen?»
«Dorthin.» Das Kind zeigt zum
sonnenüberfluteten Himmel, lacht glücklich und nagt an seinem Apfel.
Während die Männer sich
kopfschüttelnd entfernen, sagt Dorkas zu den Frauen: «Er war schön. Er schien
in Licht gekleidet zu sein. Und er hatte an den Händen die Male der Nägel, die
in seinem hellen Licht wie rote Edelsteine leuchteten. Ich habe es gut
gesehen, denn er hielt das Kind so», und sie macht die Haltung Jesu nach.
Der Verwalter kommt herbei, läßt
sich das Vorgefallene noch einmal erzählen, überlegt und sagt schließlich: «Im
Psalm heißt es: "Aus dem Munde der Kinder und Säuglinge hast du dir Lob
bereitet." Warum soll es nicht wahr sein? Sie sind unschuldig. Und wir...
Vergessen wir diesen Tag nicht... Aber nein! Ich werde in das Dorf der Jünger
gehen. Ich will sehen, ob der Rabbi dort ist... Und doch... Er war tot ...»
Und mit diesem Entschluß entfernt
sich der Verwalter, während die Frauen dem Kind ganz aufgeregt immer wieder
Fragen stellen, worauf dieses lächelnd wiederholt: «Jesus, dort. Und dann da.
Jesus, der Herr.»Und es zeigt dabei auf die Stelle, wo Jesus gestanden ist,
und dann zur Sonne, in der er verschwunden ist. Es ist überglücklich.
X In Kedes
Die Leute von Kedes haben sich in
der Synagoge versammelt und besprechen mit dem alten Matthias, dem
Synagogenvorsteher, die letzten Ereignisse. In der Synagoge ist es ziemlich
dunkel, da die Türen geschlossen und die Vorhänge an den Fenstern zugezogen
sind; schwere Vorhänge, die der Frühlingswind kaum bewegt.
Da erhellt ein Blitz den Raum. Es
scheint ein Blitz zu sein, aber es ist das Licht, das den Erscheinungen Jesu
vorangeht. Und Jesus offenbart sich den überraschten Menschen. Er breitet die
Arme aus und die Wunden an Händen und Füßen sind deutlich zu sehen, denn er
steht auf der obersten der drei Stufen, die zu einer verschlossenen Türe
führen. Er sagt: «Ich bin auferstanden. Erinnert euch an das Gespräch zwischen
mir und
138
den Schriftgelehrten. Ich habe
nun diesem bösen Geschlecht das Zeichen gegeben, das ich versprochen hatte.
Das Zeichen des Jonas. Denen, die mich lieben und mir treu sind, gebe ich
meinen Segen.» Mehr sagt er nicht und ist schon verschwunden.
«Aber das war doch er! Woher ist
er gekommen? Er war lebendig! Er hatte es vorausgesagt! Jetzt, jetzt verstehe
ich das Zeichen des Jonas: drei Tage im Schoß der Erde und dann die
Auferstehung...»
Ein großes Stimmengewirr.
XI. In Gischala
Eine Gruppe giftiger Rabbis, die
einige zögernde Männer überzeugen wollen, ihrer Bitte zu entsprechen. Sie
möchten nämlich, daß diese zu Gamaliel gehen, der sich in seinem Haus
eingeschlossen hat und niemanden sehen will.
Die Männer sagen: «Wir sagen euch
doch, daß er nicht hier ist. Wir wissen nicht, wo er ist. Er ist gekommen, hat
ein paar Schriftrollen durchgesehen und ist wieder abgereist. Er hat kein Wort
gesagt. Und er schien so verstört und gealtert, daß man Angst bekam.»
Unfreundlich kehren die Rabbis
den Männern den Rücken und sagen im Weggehen: «Auch Gamaliel ist von Sinnen,
wie Simon. Es ist nicht wahr, daß der Galiläer auferstanden ist! Es ist nicht
wahr! Nichts ist wahr! Es ist nicht wahr, daß er Gott ist. Es ist nicht wahr.
Nichts ist wahr. Nur wir sind in der Wahrheit.» Schon die Erregung, mit der
sie sagen, daß es nicht wahr ist, zeigt ihre Angst, daß es doch wahr sein
könnte, und ihr Bedürfnis, sich selbst zu überzeugen.
Sie sind an der Hausmauer entlang
zum Grab des Hillel gegangen. Immer noch wiederholen sie mit Gezeter ihre
Leugnung, als sie aufschauen... und mit einem Angstschrei entfliehen. Jesus,
der so gut zu den Guten ist, steht vor ihnen: furchtbar in seiner Macht, mit
ausgebreiteten Armen wie am Kreuz... Die Wundmale an den Händen sind so rot,
als würden sie immer noch bluten. Er sagt kein Wort. Aber seine Blicke
schleudern Blitze.
Die Rabbis flüchten, fallen,
stehen wieder auf, verletzen sich an Bäumen und Steinen, sind vor Angst ganz
von Sinnen. Sie gleichen Mördern, denen man ihr Opfer zeigt.
XII. Bei Joachim und Maria in
Bozrah
«Maria! Maria! Joachim und Maria!
Kommt heraus!»
Die beiden sitzen in einem
stillen, von einer Lampe erhellten Raum. Die eine mit einer Näharbeit
beschäftigt, der andere über Abrechnungen gebeugt. Sie heben die Köpfe und
sehen sich an... Joachim wird blaß vor
139
Angst und flüstert: «Die Stimme
des Rabbi! Sie kommt aus dem Jenseits...» Die Frau schmiegt sich furchtsam an
den Mann. Doch der Ruf ertönt von neuem, und die beiden umarmen sich fest, um
sich gegenseitig Mut zu machen, und gehen hinaus, der Stimme entgegen.
Im Garten, über dem die Sichel
des Neumonds glänzt, erstrahlt in einem viel stärkeren Licht als dem vieler
Monde Jesus. Im Licht, das ihn umgibt, ist er Gott. Menschlich ist das sanfte
Lächeln und der liebevolle Blick. «Geht und sagt den Leuten von Bozrah, daß
ihr mich wirklich und wahrhaftig lebendig gesehen habt. Und du, Joachim, sage
es all denen, die sich auf dem Tabor versammelt haben.» Er segnet sie und
verschwindet.
«Er war es! Es war kein Traum!
Ich... Morgen werde ich nach Galiläa gehen. Er hat doch gesagt, auf dem Tabor,
nicht wahr?»
XIII. In Ephraim bei Maria des
Jakob
Die Frau rührt Mehl ein, um Brot
zu backen. Sie wendet sich um, da sie sich rufen hört, und sieht Jesus.
Sogleich wirft sie sich auf ihr Antlitz in stummer, etwas furchtsamer
Anbetung.
Jesus sagt: «Du sollst allen
sagen, daß du mich gesehen hast und daß ich mit dir gesprochen habe. Der Herr
ist nicht der Macht des Grabes unterworfen. Ich bin am dritten Tag
auferstanden, wie ich gesagt habe. Harrt aus, die ihr auf meinem Weg wandelt,
und laßt euch nicht von den Worten jener verführen, die mich gekreuzigt haben.
Mein Friede sei mit dir.»
XIV Bei Syntyche in Antiochia
Syntyche ist eben dabei, einen
Reisesack zu packen. Es ist Abend, denn eine kleine, flackernde Lampe, die nur
wenig Licht gibt, steht auf dem Tisch bei der Frau, die Kleider
zusammenfaltet.
Plötzlich erfüllt helles Licht
den Raum und Syntyche hebt erstaunt den Kopf, um zu sehen, was vor sich geht
und woher dieses helle Licht in dem ganz verschlossenen Zimmer kommt. Aber
noch bevor sie ihn sieht, sagt Jesus schon: «Ich bin es. Fürchte dich nicht.
Ich habe mich vielen gezeigt, um ihren Glauben zu stärken. Auch dir, der
gehorsamen und treuen Jüngerin, zeige ich mich. Ich bin auferstanden. Siehst
du? Ich habe keine Schmerzen mehr. Warum weinst du?»
Die Frau findet angesichts der
Schönheit des Verherrlichten keine Worte... Jesus lächelt ihr ermutigend zu
und sagt: «Ich bin derselbe Jesus, der dich auf dem Weg bei Caesarea
aufgenommen hat. Damals, als du so große Angst hattest und ich dir unbekannt
war, konntest du sprechen. Und nun sagst du kein Wort zu mir?»
«O Herr! Ich wollte abreisen...
Um mein Herz von so viel Unruhe und Leid zu befreien.»
140
«Warum Leid? Haben sie dir nicht
gesagt, daß ich auferstanden bin?»
«Sie haben es gesagt, und andere
haben es geleugnet. Aber die Widersprüche haben mich nicht beunruhigt. Ich
wußte, daß du nicht in einem Grab verwesen konntest. Ich habe über dein
Martyrium geweint. Ich habe an deine Auferstehung geglaubt, noch bevor mir
davon berichtet wurde. Und ich habe auch weiterhin daran geglaubt, als andere
kamen und sagten, es sei nicht wahr. Doch ich wollte nach Galiläa gehen. Ich
dachte: Ihm kann man nichts Böses mehr antun. Er ist nun mehr Gott als Mensch.
Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke...»
«Ich verstehe deine Gedanken.»
«Und ich sagte mir: Ich werde ihn
anbeten und Maria sehen. Da ich glaubte, daß du nicht lange unter uns weilen
würdest, habe ich die Abreise beschleunigt. Ich dachte: Wenn er zum Vater
zurückgekehrt ist, wie er gesagt hat, wird seine Mutter ein wenig traurig sein
in ihrer Freude. Denn sie ist eine Seele, aber auch eine Mutter... Und ich
werde versuchen, sie zu trösten, nun, da sie allein ist... Ich war stolz!»
«Nein, du warst barmherzig. Ich
werde meiner Mutter deine Absicht mitteilen. Aber gehe nicht dorthin. Bleibe,
wo du bist, und arbeite weiter für mich. Nun mehr denn je, denn deine Brüder,
die Jünger, brauchen die Mitarbeit aller, um meine Lehre zu verbreiten. Du
hast mich gesehen. Die Mutter ist Johannes anvertraut. Quäle dich also nicht
länger. Du wirst deinen Geist stärken in der Gewißheit, mich gesehen zu haben,
und in der Kraft meines Segens.»
Syntyche fühlt ein großes
Verlangen, ihn zu küssen, hat aber nicht den Mut. Jesus sagt zu ihr: «Komm.»
Und sie rutscht auf den Knien zu Jesus, um seine Füße zu küssen. Doch als sie
die beiden Wunden sieht, wagt sie es nicht, ergreift den Saum des Gewandes und
küßt ihn weinend. Sie flüstert: «Was haben sie dir angetan?» Und dann folgt
die Frage: «Und Johannes-Felix?»
«Er ist glücklich. Er erinnert
sich an nichts anderes mehr als an die Liebe, und er lebt in der Liebe. Der
Friede sei mit dir, Syntyche.» Jesus verschwindet.
Die Frau verharrt in ihrer
anbetenden Haltung, kniend, mit erhobenem Gesicht, die Hände ein wenig
ausgestreckt, Tränen in den Augen und mit einem Lächeln auf den Lippen.
XV Beim Leviten Zacharias
In einem kleinen Zimmer sitzt, in
Gedanken verloren und das Haupt in die Hand gestützt, der Levit Zacharias.
«Zweifle nicht. Höre nicht auf
die Stimmen, die dich verwirren. Ich bin die Wahrheit und das Leben. Sieh mich
an. Berühre mich.»
Der Jüngling, der bei den ersten
Worten den Blick erhoben, Jesus
141
gesehen hat und sogleich auf die
Knie geglitten ist, ruft: «Verzeih mir, Herr. Ich habe gesündigt. Ich habe den
Zweifeln an deiner Wahrheit in mir Raum gegeben.»
«Mehr als du sind jene schuldig,
die deine Seele verführen wollen. Erliege nicht ihren Versuchungen. Ich habe
einen lebendigen und wirklichen Leib. Fühle das Gewicht und die Wärme, die
Festigkeit und die Kraft meiner Hand.» Er ergreift ihn am Unterarm, stellt ihn
auf die Füße und sagt: «Steh auf und wandle auf den Wegen des Herrn. Fort mit
den Zweifeln und der Angst. Und selig sollst du sein, wenn du bis ans Ende
ausharren wirst.»
Er segnet ihn und verschwindet.
Der Jüngling stürzt nach einigen
Augenblicken betäubten Staunens aus dem Raum und ruft: «Mutter! Vater! Ich
habe den Meister gesehen. Es ist nicht wahr, was die anderen sagen! Ich war
nicht von Sinnen. Glaubt der Lüge nicht länger, sondern lobt mit mir den
Allerhöchsten, der Erbarmen mit seinem Diener gehabt hat. Ich breche auf. Ich
gehe nach Galiläa. Dort finde ich sicher einige seiner Jünger. Ich gehe und
sage ihnen, daß sie glauben sollen, daß er wahrhaft auferstanden ist.»
Er nimmt weder eine Tasche mit
Kleidern noch Lebensmittel, sondern wirft sich den Mantel um und eilt davon,
ohne den Eltern Zeit zu lassen, sich von ihrer Überraschung zu erholen und ihn
zurückzuhalten.
XVI. Bei einer Frau in der Ebene
von Saron
Eine Küstenstraße. Vielleicht die
Straße, die Caesarea mit Joppe verbindet oder eine andere. Ich weiß es nicht.
Ich weiß, daß ich Felder auf der einen Seite und Meer auf der anderen sehe,
ein lebhaftes Blau jenseits des gelben Uferstreifens. Es muß eine römische
Straße sein. Die Pflasterung deutet darauf hin.
Eine weinende Frau geht in den
ersten Stunden eines heiteren Morgens auf dieser Straße. Die Morgenröte ist
soeben erst erschienen, und die Frau muß todmüde sein; denn ab und zu bleibt
sie stehen und setzt sich auf einen Meilenstein oder direkt auf die Straße.
Dann steht sie wieder auf und setzt ihren Weg fort, als ob irgend etwas sie
antreiben würde, ungeachtet ihrer Müdigkeit.
Jesus, ein in seinen Mantel
gehüllter Wanderer, begibt sich an ihre Seite. Die Frau sieht ihn nicht an. In
ihren Schmerz versunken geht sie weiter. Jesus fragt sie: «Warum weinst du,
Frau? Woher kommst du? Wohin gehst du so allein?»
«Ich komme aus Jerusalem und gehe
nach Hause.»
«Ist es weit?»
«Auf halbem Weg zwischen Joppe
und Caesarea.»
«Zu Fuß?»
142
«Im Tal vor Modin haben Räuber
mir den Esel gestohlen, mit allem, was darauf war.»
«Es war nicht klug von dir, dich
allein auf den Weg zu machen. Es ist nicht üblich, allein zum Passahfest zu
gehen.»
«Ich bin nicht zum Passahfest
gegangen. Ich mußte zu Hause bleiben, weil ich ein krankes Kind habe.
Hoffentlich habe ich es noch. Mein Mann war mit den anderen gegangen. Ich habe
ihn vorausgeschickt, und vier Tage später bin dann ich gegangen. Denn ich habe
mir gesagt: "Gewiß ist er in Jerusalem am Passahfest. Ich werde ihn suchen."
Ich hatte ein wenig Angst. Aber ich habe gesagt: "Ich tue nichts Böses. Gott
sieht mich. Ich glaube. Ich weiß, daß er gut ist. Er wird mich nicht abweisen,
denn..."» Sie hält erschrocken inne und wirft einen flüchtigen Blick auf den
Mann, der an ihrer Seite geht und so fest in seinen Mantel gehüllt ist, daß
man kaum die Augen sieht, die unverwechselbaren Augen Jesu.
«Warum schweigst du? Hast du
Angst vor mir? Hältst du mich für einen Feind dessen, den du gesucht hast?
Denn du hast den Meister von Nazareth gesucht, um ihn zu bitten, in dein Haus
zu kommen und das Kind zu heilen, solange dein Mann abwesend ist ...»
«Ich sehe, daß du ein Prophet
bist. So ist es. Aber als ich in die Stadt kam, war der Meister tot.» Die
Tränen ersticken ihre Stimme....
«Er ist auferstanden. Glaubst du
das nicht?»
«Ich weiß es. Ich glaube es. Aber
ich... Aber ich... Einige Tage habe ich gehofft, ihn zu sehen... Man sagt, daß
er einigen erschienen ist. Ich habe die Abreise verschoben... Jeder Tag ein
Kampf, denn mein Kind ist so schwer krank ... Mein Herz war geteilt... Sollte
ich gehen, um es im Sterben zu trösten ... oder bleiben, um den Meister zu
suchen... Ich erwartete nicht, daß er in mein Haus kommen würde. Ich hoffte
nur, daß er mir die Heilung versprechen würde.»
«Und hättest du geglaubt? Meinst
du, daß er aus der Ferne...»
«Ich glaube! Oh! Wenn er zu mir
gesagt hätte: "Geh in Frieden. Dein Sohn wird gesund werden" ' ich hätte nicht
gezweifelt. Aber ich verdiene es nicht, denn...» Sie weint und preßt den
Schleier auf den Mund, wie um sich selbst zu hindern, weiterzusprechen.
«Weil dein Mann einer der
Ankläger und Henker Jesu Christi gewesen ist. Aber Jesus Christus ist der
Messias. Er ist Gott. Und Gott ist gerecht, Frau. Er bestraft nie den
Unschuldigen für den Schuldigen. Er läßt eine Mutter nicht leiden, weil der
Vater ein Sünder ist. Jesus Christus ist die lebendige Barmherzigkeit ...»
«Oh, bist du vielleicht einer
seiner Apostel? Und weißt du vielleicht, wo er ist? Du... Vielleicht hat er
dich zu mir gesandt, um mir dies zu sagen. Er hat mich gehört, hat meinen
Schmerz, meinen Glauben gesehen und schickt dich, wie der Allerhöchste den
Erzengel Raphael zu Tobias
143
gesandt hat. Sage mir, ob es so
ist, und ich werde, obgleich ich müde bin und beinahe fiebere, zurückkehren
und den Herrn suchen ...»
«Ich bin kein Apostel. Aber die
Apostel sind noch viele Tage nach der Auferstehung in Jerusalem geblieben...»
«Das ist wahr. Ich hätte sie
fragen können.»
«So ist es. Sie setzen das Werk
des Meisters fort.»
«Ich glaube nicht, daß sie Wunder
wirken können.»
«Sie haben es schon getan.»
«Aber jetzt... Man hat mir
gesagt, daß nur einer ihm treu geblieben ist, und ich dachte nicht ...»
«Ja. Dein Mann hat dir das gesagt
und dich verspottet in seinem Wahn als falscher Sieger. Aber ich sage dir,
jeder Mensch kann sündigen, denn Gott allein ist vollkommen. Der Mensch kann
aber auch bereuen. Und wenn er bereut, dann wächst seine Seelenstärke, und
Gott vermehrt seine Gnaden um der Reue willen. Hat der allmächtige Herr nicht
auch David vergeben?»
«Aber wer bist du denn? Wer bist
du, daß du so gütig und weise redest, wenn du kein Apostel bist? Vielleicht
ein Engel? Der Engel meines Kindes? Vielleicht ist es gestorben, und du bist
gekommen, um mich darauf vorzubereiten ...»
Jesus läßt den Mantel fallen und
enthüllt Haupt und Antlitz. Und während der einfache Pilger das herrliche
Aussehen des Gottmenschen annimmt, der von den Toten auferstanden ist, sagt er
mit sanfter Feierlichkeit: «Ich bin es. Der Messias, der vergebens gekreuzigt
wurde. Ich bin die Auferstehung und das Leben. Geh, Frau. Dein Sohn lebt, denn
ich habe deinen Glauben belohnt. Dein Sohn ist geheilt. Und wenn auch der
Rabbi von Nazareth seine Mission beendet hat, setzt der Emmanuel die seine
doch fort bis ans Ende der Zeiten für alle, die Gott Glauben, Hoffnung und
Liebe entgegenbringen; Gott, dem Einen und Dreieinen, dessen eine Person das
menschgewordene Wort ist, das aus göttlicher Liebe den Himmel verlassen hat
und gekommen ist, um zu lehren, zu leiden, zu sterben und den Menschen das
Leben zu schenken. Geh in Frieden, Frau. Sei stark im Glauben, denn die Zeit
ist gekommen, da in einer Familie der Mann gegen die Frau, der Vater gegen die
Kinder und diese gegen jenen sein werden aus Haß oder aus Liebe zu mir. Selig
aber, die trotz der Verfolgungen nicht von meinem Weg abweichen.»
Jesus segnet sie und
verschwindet.
XVII. Bei den Hirten auf dem
Großen Hermon
Eine Gruppe von Hirten und
Herden. Sie verweilen auf Hängen mit herrlichen Weiden und sprechen von den
Geschehnissen in Jerusalem. Traurig sagen sie zueinander: «Der Freund der
Hirten ist nicht mehr
144
auf der Welt», und erinnern sich
der vielen Begegnungen mit ihm hier und dort... «Begegnungen», sagt ein Greis,
«die wir nie mehr haben werden.»
Jesus erscheint an diesem Ort,
als trete er aus einem dichten Wald heraus, in dem das Unterholz zwischen den
hohen Stämmen die Sicht auf die Straße versperrt. Sie erkennen ihn nicht in
diesem einsamen Mann und flüstern, erstaunt über seine weiße Kleidung: «Wer
mag das wohl sein? Ein Essener? Hier? Ein reicher Pharisäer?» Sie sind
verblüfft.
Jesus fragt: «Warum sagt ihr, daß
ihr dem Herrn nicht mehr begegnen werdet? Der, von dem ihr redet, ist doch der
Herr.»
«Wir wissen es. Aber hast du
nicht gehört, was sie ihm angetan haben? Nun sagen die einen, daß er
auferstanden ist, und andere leugnen es. Aber selbst wenn er auferstanden ist,
was wir viel lieber glauben, wird er doch jetzt fortgegangen sein. Wie könnte
er noch ein Volk lieben und bei ihm verweilen, das ihn gekreuzigt hat! Und
wir, die wir ihn liebten, auch wenn wir ihn nicht alle gekannt haben, sind
traurig, ihn verloren zu haben.»
«Es ist aber möglich, ihn wieder
bei sich zu haben. Er hat es gelehrt.»
«O ja. Wenn man tut, was er
gelehrt hat, dann besitzt man das Reich des Himmels und ist bei ihm. Doch
zuerst muß man leben und dann sterben. Und er ist nicht mehr unter uns, um uns
zu trösten», sagen sie kopfschüttelnd.
«Meine Söhne, wer lebt, was er
gelehrt hat, und seine Lehre im Herzen bewahrt, hat gleichsam Jesus im Herzen.
Denn Wort und Lehre sind ein und dasselbe. Er war kein Meister, der Dinge
gelehrt hat, die anders sind als er. Wer daher tut, was Jesus gesagt hat, der
hat den lebendigen Jesus in sich und ist nicht von ihm getrennt.»
«Du hast recht. Aber wir sind
arme Menschen und... möchten auch mit eigenen Augen sehen, um die Freude recht
zu empfinden... Ich habe ihn niemals gesehen, mein Sohn ebenfalls nicht, und
auch dieser hier, Jakob, nicht. Und Melchias, Jakob dort und Saul nicht.
Siehst du, wie viele nur von uns ihn nie gesehen haben? Wir haben ihn immer
gesucht, aber wenn wir ankamen, war er gerade fortgegangen.»
«Wart ihr denn an jenem Tag nicht
in Jerusalem?»
«Oh ja, wir waren dort. Aber als
wir hörten, was sie mit ihm tun wollten, sind wir wie Irre in die Berge
geflohen und erst nach dem Sabbat in die Stadt zurückgekehrt. Wir sind nicht
schuldig an seinem Blut, denn wir sind nicht in der Stadt gewesen. Aber es war
schlecht von uns, so feige zu sein. Wir hätten ihn wenigstens sehen und grüßen
können. Gewiß hätte er uns für diesen Gruß gesegnet... Doch wir hatten
wirklich nicht den Mut, ihn während der Marter zu sehen...»
«Er segnet euch jetzt. Seht den,
dessen Antlitz ihr zu kennen gewünscht habt.»
Jesus offenbart sich in seiner
herrlichen Gottheit auf dem Grün der
145
Wiese. Ihre Überraschung hat sie
zu Boden geworfen, hält aber auch ihre Augen auf das göttliche Antlitz
geheftet, und er entschwindet in einem aufleuchtenden Lichtschein.
XVIII. In Sidon,- im Haus des
blindgeborenen Kindes
Der Knabe spielt ganz allein in
einer dichten Laube. Er hört seinen Namen rufen und sieht sich Jesus
gegenüber. Gar nicht ängstlich fragt er: «Bist du nicht der Rabbi, der mir die
Augen geschenkt hat?» Und er blickt mit seinen klaren Kinderaugen, vom
gleichen Blau wie die Augen Jesu, in die strahlenden, göttlichen Augen.
«Ich bin es, Kind. Hast du keine
Angst vor mir?» Jesus streichelt sein Köpfchen.
«Angst nicht. Aber ich und die
Mama, wir haben viel geweint, als der Vater vorzeitig zurückgekehrt ist und
gesagt hat, daß er geflohen ist, weil sie den Rabbi gefangengenommen haben, um
ihn zu töten. Er hat das Passahfest nicht gefeiert und muß nun noch einmal
fortgehen, um es nachzuholen. Dann bist du also nicht gestorben?»
«Ich bin gestorben. Schau, die
Wunden! Ich bin am Kreuz gestorben. Aber ich bin auferstanden. Sage deinem
Vater, daß er nach dem zweiten Passahfest etwas länger in Jerusalem bleiben
soll, in der Gegend des Ölgartens, in Bethphage. Dort wird er jemandem
begegnen, der ihm sagen wird, was er tun soll...»
«Mein Vater wollte dich suchen.
Beim Laubhüttenfest konnte er nicht mit dir reden. Er wollte dir sagen, daß er
dich gern hat, weil du mir Augen geschenkt hast. Aber er konnte es nicht tun,
damals nicht und jetzt nicht ...»
«Er wird es tun durch seinen
Glauben an mich. Leb wohl, Kind. Der Friede sei mit dir und deiner Familie.»
XIX. Bei den Landarbeitern des
Jochanan
Die Felder des Jochanan liegen im
Mondschein. Absolute Stille. Die armen Unterkünfte der Landarbeiter zwingen in
einer schwülen Nacht wie dieser dazu, wenigstens eine Tür offenzulassen, um
nicht zu ersticken in den niedrigen Räumen, in denen zu viele Menschen
zusammengepfercht sind.
Jesus betritt einen großen Raum.
Es sieht aus, als würde der Mond seine Strahlen verlängern, um den gestampften
Lehmboden für ihn mit einem königlichen Teppich zu bedecken. Jesus neigt sich
über einen der Schläfer, der bäuchlings den schweren Schlaf des Müden schläft.
Er ruft ihn. Dann geht er zu einem anderen, und so weiter. Er ruft sie alle,
seine treuen und armen Freunde. Und er geht leicht und rasch wie ein Engel im
Flug
146
vorbei. Danach betritt er die
anderen Hütten... Schließlich wartet er draußen bei einer Baumgruppe, bis die
noch verschlafenen Landarbeiter ihre elenden Löcher verlassen. Zwei, drei,
einer allein, fünf zusammen, einige Frauen. Sie sind erstaunt, daß eine so
bekannte Stimme sie alle gerufen und zu allen dieselben Worte gesagt hat:
«Kommt zu den Apfelbäumen.»
Während sie hingehen, ziehen die
Männer ihre armseligen Kleider vollends an, die Frauen stecken ihre Zöpfe auf,
und sie reden ganz leise.
«Mir schien es die Stimme Jesu
von Nazareth zu sein.»
«Vielleicht war es sein Geist.
Sie haben ihn getötet. Habt ihr es nicht gehört?»
«Ich kann es nicht glauben. Er
war Gott.»
«Und doch hat Joel ihn mit dem
Kreuz gehen sehen...»
«Mir haben sie gestern gesagt,
als ich warten mußte, bis der Verwalter mit seinem Handel fertig war, daß die
Jünger in Jezrael gewesen sind und verkündet haben, daß er wirklich
auferstanden ist.»
«Sei still! Du weißt, was der
Gutsherr sagt. Wer so etwas behauptet, wird gegeißelt.»
«Vielleicht auch getötet. Aber
wäre es denn nicht besser, als weiterhin so gequält zu werden?»
«Und nun ist er nicht mehr!»
«Sie behandeln uns jetzt noch
schlechter, seit es ihnen gelungen ist, ihn zu töten.»
«Sie sind wütend, weil er
auferstanden ist.»
Sie reden leise, während sie an
die Stelle gehen, die ihnen bezeichnet worden ist.
«Der Herr!» schreit eine Frau und
fällt als erste auf die Knie.
«Sein Geist!» schreien andere,
und manche haben Angst.
«Ich bin es. Fürchtet euch nicht.
Schreit nicht. Kommt her. Ich bin es wirklich. Ich bin gekommen, um euch in
dem Glauben zu festigen, den man zu erschüttern versucht. Seht ihr? Mein
Körper wirft einen Schatten, denn es ist ein wahrer Körper. Ihr träumt nicht,
nein. Meine Stimme ist eine wahre Stimme. Ich bin Jesus, der mit euch das Brot
gebrochen und euch Liebe geschenkt hat. Auch jetzt gebe ich euch Liebe. Ich
werde meine Jünger zu euch senden. Und so werde ich wieder bei euch sein, denn
sie werden euch geben, was ich euch gegeben habe und was ich ihnen gegeben
habe, damit sie es jenen mitteilen, die an mich glauben. Tragt euer Kreuz, so
wie ich das meine getragen habe. Seid geduldig! Verzeiht! Sie werden euch
sagen, wie ich gestorben bin. Ahmt mich nach! Der Weg der Leiden ist der Weg
zum Himmel. Folgt ihm in Frieden, und ihr werdet mein Reich besitzen. Es gibt
keinen anderen Weg als die Ergebung in den Willen Gottes, die Großmut und die
Liebe zu allen. Gäbe es einen anderen Weg, hätte ich ihn euch gewiesen. Ich
bin ihn vorausgegangen, denn er ist der rechte Weg. Seid dem Gesetz des Sinai
treu, dessen Zehn Gebote unveränderlich
147
sind, und bleibt meiner Lehre
treu. Es werden Leute kommen, die euch unterweisen, damit ihr nicht den
Machenschaften der Bösen ausgeliefert seid. Ich segne euch. Denkt immer daran,
daß ich euch geliebt habe und vor und nach meiner Verherrlichung zu euch
gekommen bin. Wahrlich, ich sage euch, viele wünschen, mich jetzt zu sehen,
und sie werden mich nicht sehen. Viele der Großen. Aber ich zeige mich denen,
die ich liebe und die mich lieben.»
Ein Mann wagt zu sagen: «Also...
gibt es wirklich ein Reich des Himmels? Bist du wahrhaft der Messias gewesen?
Sie haben uns eingeredet...»
«Hört nicht auf ihre Worte. Denkt
an die meinen und nehmt die Worte meiner euch bekannten Jünger an. Es sind
Worte der Wahrheit. Und wer sie aufnimmt und befolgt, sei er nun Diener oder
Sklave, wird Bürger und Miterbe meines Reiches.» Er segnet sie mit
ausgebreiteten Armen und verschwindet.
«Oh! Ich... Ich fürchte nun
nichts mehr!»«Ich auch nicht. Hast du gehört? Auch für uns gibt es dort einen
Platz.»«Man muß gut sein!» «Verzeihen!»«Geduld üben!»«Widerstehen.»«Die Jünger
aufsuchen.» «Zu uns armen Knechten ist er gekommen!» «Wir werden es seinen
Aposteln berichten.» «Wenn Jochanan es wüßte!» «Und Doras!»«Sie würden uns
töten, damit wir nicht reden.»
«Doch wir werden schweigen. Nur
den Dienern des Herrn werden wir es sagen.»
«Michäas, mußt du nicht mit
deiner Ladung nach Sephoris fahren? Warum gehst du nicht nach Nazareth und
sagst es ihnen ...»
«Wem denn?» «Der Mutter. Den
Aposteln. Vielleicht sind sie bei ihr ...»
Sie entfernen sich und schmieden
leise miteinander Pläne.
XX. Auf den Gütern Daniels, des
Verwandten des Elchias; In Beth Horon
Elchias, der Pharisäer, bespricht
mit anderen seinesgleichen, was mit dem Synedristen Simon anzufangen ist, der
am Karfreitag den Verstand verloren hat und zu viele Dinge redet und
ausplaudert. Es gibt verschiedene Vorschläge. Die einen meinen, man solle ihn
an einen einsamen Ort bringen, wo niemand sein Geschrei hören kann außer einem
treuen Diener, der ihre Ansichten teilt. Andere, Wohlwollendere, sind dafür,
daß man ihn läßt, wo er ist, da sie seine Krankheit für eine vorübergehende
halten.
148
Elchias antwortet: «Ich habe ihn
hierhergebracht, da ich nicht wußte, wohin ich ihn sonst bringen sollte. Doch
ihr wißt, daß ich meinem Verwandten Daniel sehr mißtraue ...»
Andere, die noch boshafter sind
als Elchias, sagen: «Er will immer fliehen, sich einschiffen. Warum stellen
wir ihn nicht zufrieden?»
«Weil er nicht fähig ist,
vernünftig zu handeln. Allein auf dem Meer würde er zugrundegehen, und keiner
von uns kann ein Boot steuern.»
«Und wenn schon... Was würde am
Ort der Landung geschehen, bei dem, was er sagt? Laßt ihn selbst einen Weg
wählen... Er soll in Gegenwart aller, auch deines Verwandten, seinen Willen
bekanntgeben, und so wie er will, wird es gemacht.»
Dieser Vorschlag wird angenommen,
und Elchias ruft einen Diener und befiehlt ihm, Simon herzuführen und Daniel
zu rufen. Die beiden erscheinen. Daniel sieht man an, daß er sich in Gegenwart
gewisser Leute nicht wohlfühlt. Der andere sieht wirklich aus wie ein Irrer.
«Hör zu, Simon. Du sagst, daß wir
dich gefangenhalten, weil wir dich töten wollen...»
«Ihr müßt es tun, denn der Befehl
lautet so.»
«Du redest im Wahn. Schweig und
hör zu. Wo, denkst du, könntest du gesund werden?»
«Auf dem Meer. Auf dem Meer.
Inmitten des Meeres. Wo ich keine Stimme mehr höre. Wo es kein Grab gibt. Denn
die Gräber öffnen sich, und die Toten kommen heraus und meine Mutter sagt ...»
«Schweig und hör zu. Wir lieben
dich, wie wenn du von unserem Blut wärest. Willst du wirklich dorthin gehen?»
«Natürlich will ich. Denn hier
öffnen sich die Gräber, und meine Mutter...»
«Also wirst du gehen. Wir werden
dich ans Meer bringen und dir ein Boot geben, und du ...»
«Aber das ist Mord! Er ist von
Sinnen! Er kann nicht allein aufs Meer!» schreit der ehrbare Daniel.
«Gott zwingt den Willen des
Menschen nicht. Können wir also tun, was Gott nicht tut?»
«Aber er ist doch von Sinnen! Er
hat keinen Willen mehr. Er ist hilfloser als ein Neugeborenes! Ihr könnt nicht
...»
«Schweig, du. Du bist ein Bauer,
sonst nichts. Wir aber wissen... Morgen fahren wir ans Meer. Freue dich,
Simon. Ans Meer, verstehst du?»
«Ah! Dann werde ich die Stimmen
der Erde nicht mehr hören! Nicht mehr die Stimmen... Ah!» Ein langgezogener
Schrei und heftigste Erregung, und er schließt die Augen und hält sich die
Ohren zu. Und noch ein Schrei, und Daniel läuft zu Tode erschrocken davon.
«Was ist denn los? Haltet den
Verrückten und diesen Dummkopf auf. Verlieren wir denn nun alle den Verstand?»
schreit Elchias.
149
Aber der, den Elchias Dummkopf
nennt, also sein Verwandter Daniel, wirft sich zu Boden, nachdem er einige
Meter weit gelaufen ist, während der andere an seinem Platz in einem
furchterregenden Anfall tobt und schäumt und schreit und heult: «Bringt ihn
zum Schweigen! Er ist nicht tot und schreit, schreit, schreit! Lauter als
meine Mutter, lauter als mein Vater, lauter als auf Golgotha! Dort, dort, seht
ihr ihn nicht?» Und er zeigt auf die Stelle, wo Daniel ruhig und lächelnd sein
Gesicht erhebt, mit dem er zuvor den Boden berührt hat.
Elchias geht zu ihm und schüttelt
ihn grob. Er ist außer sich vor Zorn und kümmert sich nicht um Simon, der sich
auf dem Boden wälzt, schäumt und bestialisch schreit, und den die anderen voll
Entsetzen umringen.
Elchias schreit Daniel an: «Du
lächerlicher Schwärmer! Willst du mir sagen, was du da tust?»
«Laß mich. Nun kenne ich dich.
Und ich werde dich verlassen. Ich habe ihn gesehen, gütig zu mir und furchtbar
für euch, ihn, von dem ihr mich glauben machen wollt, daß er tot ist. Ich
gehe. Mehr als Geld und Reichtum ist mir meine Seele wert. Leb wohl,
Verfluchter! Und wenn du kannst, sieh zu, daß du die Vergebung Gottes
erlangst.»
«Aber wohin gehst du denn? Wohin?
Ich will es nicht!»
«Hast du ein Recht, mich gefangen
zu halten? Wer hat es dir gegeben? Ich lasse dir das, was du liebst, und folge
dem, den ich liebe. Leb wohl!»Er kehrt ihm den Rücken und eilt davon, so
schnell als würde ihn eine übermenschliche Macht den grünen Hang mit seinen
Ölbäumen und Obstgärten hinuntertragen.
Elchias, und nicht nur er allein,
ist totenblaß. Sie alle platzen vor Zorn. Elchias schwört dem Verwandten Rache
und auch all denen, die «in ihrem Wahn», wie er sagt, behaupten, daß der
Galiläer lebt. Er schreit und droht...
Einer, ich weiß nicht, wer er
ist, sagt: «Wir werden handeln, aber wir können nicht allen den Mund und die
Augen verschließen, die reden, weil sie sehen. Wir sind besiegt! Das
Verbrechen lastet auf uns. Nun kommt die Sühne...» Und er schlägt sich in
furchtbarer Angst an die Brust wie einer, der die Stufen zum Galgen
emporsteigt. «Die Rache Jahwes», sagt er noch, und der ganze tausendjährige
Schrecken Israels liegt in seiner Stimme.
Verletzt , schäumend und
furchterregend schreit Simon inzwischen wie ein Verdammter: «Vatermörder hat
er mich genannt! Bringt ihn zum Schweigen! Schweigen! Vatermörder! Dasselbe
Wort wie meine Mutter! Gebrauchen denn die Toten alle dieselben Worte... !?»
150
XXI. Jesus erscheint einer Frau
in Galiläa
Der untergehende Mond ist im
Begriff, seine noch schmale Sichel hinter der Kuppe eines Hügels zu verbergen.
Sein Licht ist daher ziemlich schwach und wird bald gar nicht mehr über der
weiten Landschaft leuchten.
Und doch ist ein Wanderer auf der
einsamen Straße, ein Weg, ein Pfad, nur durch die Felder, mehr nicht. An einem
Ring hält er eine einfache Laterne, von der Art, die so alt ist wie die Welt
und wie sie die Fuhrleute im allgemeinen benützen, um bei Nacht die Straße zu
erhellen. Diese hat zum Schutz der Flamme, da Glas hier selten ist, etwas wie
Glimmer oder Pergament, möglicherweise aber auch ein mir ganz unbekanntes
Material, denn ich habe es in keinem Haus jemals gesehen, weder bei Bechern
oder Schüsseln, noch als Fenster. Es dringt nur wenig Licht durch dieses
Material, so daß die Lampe nur ihre allernächste Umgebung erhellt. Als aber
nun der Mond ganz verschwindet, scheint die Leuchtkraft der kümmerlichen
Laterne zuzunehmen, und sie bildet einen strahlenden, tanzenden Punkt im
Dunkel der Landschaft.
Der Wanderer geht und geht...
Der Himmel beginnt sich im
äußersten Osten aufzuhellen. Doch nur so wenig, daß man deshalb nicht besser
sieht und die einfache Lampe immer noch nützlich ist.
An einer kleinen Brücke wartet
oder ruht sich ein anderer, ganz in seinen Mantel gehüllter Wanderer aus. Der
Wanderer mit der Lampe, der auf diese Brücke zugeht, zögert und bleibt stehen.
Er weiß nicht, soll er weitergehen oder dorthin zurückkehren, wo man über
große Steine im Kies des Bächleins leicht durch das seichte Wasser auf die
andere Seite gelangen kann.
Der Mann, der auf dem rustikalen
Geländer sitzt, einem Baumstamm mit grünlichweißer Rinde, hebt den Kopf und
beobachtet den, der stehengeblieben ist. Dann steht er auf und sagt: «Fürchte
dich nicht vor mir. Komm näher! Ich bin ein guter Gefährte und kein Dieb.»
Es ist Jesus. Ich erkenne ihn
mehr an der Stimme als an seinem Aussehen, das die tiefe Dämmerung noch
verbirgt, denn der Schein der Laterne reicht nicht weit genug. Aber die
Person, die stehengeblieben ist, zögert noch.
«Komm, Frau. Hab keine Angst. Wir
wollen ein Stück zusammen gehen, und es wird gut für dich sein.»
Die Frau – nun weiß ich, daß es
eine Frau ist – kommt näher, überwältigt von der Güte in der Stimme oder
angezogen von einer geheimnisvollen Kraft, und murmelt dabei kopfschüttelnd:
«Es gibt nichts Gutes mehr für mich.»
Sie gehen nun Seite an Seite auf
dem Weg weiter, der gerade breit genug ist für zwei Wanderer. Im zunehmenden
Morgenlicht erkennt man auf
151
einer Seite den starren
Miniaturwald eines reifen Kornfeldes, das auf den Schnitter wartet; auf der
anderen Seite ist das Getreide schon gemäht, und die Garben liegen auf den
Stoppeln des seiner Pracht beraubten Ackers.
«Verflucht!» sagt die Frau leise,
als sie einen Blick auf die daliegenden Garben wirft.
Jesus schweigt.
Der Tag ist angebrochen. Die Frau
löscht die einfache Lampe und enthüllt dabei das vom Weinen verwüstete
Gesicht. Sie schaut nach Osten, wo ein rötlichgelber Streifen den
Sonnenaufgang ankündigt. Dann schüttelt sie die Faust in diese Richtung und
sagt wieder: «Verflucht sollst auch du sein!»
«Der Tag? Gott hat ihn
erschaffen. Wie er auch das Getreide erschaffen hat. Es sind Geschenke Gottes.
Man darf sie nicht verfluchen...» sagt Jesus sanft.
«Und ich verfluche sie. Ich
verfluche die Sonne und die Ernte. Und ich habe Grund dazu.»
«Waren sie nicht viele Jahre lang
gut zu dir? Hat die Sonne dir nicht das tägliche Brot reifen lassen, und die
Trauben, die zu Wein werden, das Gemüse und das Obst? Hat sie nicht das Gras
auf den Weiden wachsen lassen für deine Schafe und Lämmer, deren Fleisch und
Milch du genossen und aus deren Wolle du deine Kleider gewebt hast? Hat der
Weizen nicht dir, deinen Kindern, deinem Vater, deiner Mutter und deinem
Gatten das Brot geschenkt?»
Ein Tränenausbruch und ein
Aufschrei: «Ich habe keinen Gatten mehr! Sie haben ihn getötet! Er war
auswärts arbeiten gegangen, denn wir haben sieben Kinder und unser geringer
Besitz reicht nicht aus, um zehn Personen zu ernähren. Und gestern abend ist
er gekommen und hat gesagt: "Ich fühle mich müde und benommen" ' und hat sich
mit hohem Fieber auf das Bett geworfen. Ich und seine Mutter haben versucht,
ihm zu helfen, so gut es ging. Wir wollten heute den Arzt aus der Stadt
holen... Aber nach dem Hahnenschrei ist er gestorben. Die Sonne hat ihn
getötet. Ich gehe in die Stadt, ja, um das Nötige zu besorgen. Die Brüder
werde ich auf dem Rückweg benachrichtigen. Die Mutter wacht bei ihrem Sohn und
gibt auf die Kinder acht ... und ich bin fortgegangen, um zu tun, was getan
werden muß... Und soll ich da nicht die brennende Sonne und das Getreide
verwünschen?»
Bisher war sie so gefaßt, daß ich
sie nicht für eine Frau gehalten habe, und eine betrübte obendrein. Aber nun
sind alle Dämme ihres Schmerzes gebrochen, und er überwältigt sie. Sie sagt
alles, was sie zu Hause nicht gesagt hat, «um die Kinder, die im Nebenraum
schlafen, nicht zu wecken»; alles, was ihr Herz beschwert und zu zersprengen
droht. Erinnerungen der Liebe, Furcht vor der Zukunft und die Verzweiflung
einer Witwe, alles zieht wie die vom Hochwasser eines Flusses fortgeschwemmten
Trümmer vorüber...
152
Jesus läßt sie reden, denn Jesus
fühlt mit dem Schmerz. Er läßt sie sich abreagieren, da dies immer
Erleichterung bringt und die auf den Ausbruch des Schmerzes folgende
Erschöpfung sie in die Lage versetzt, den zu verstehen, der ihr Trost schenken
will. Dann sagt er sanft: «In Naim und Nazareth und in den Ortschaften
dazwischen sind die Jünger des Rabbi von Nazareth. Geh doch zu ihnen...»
«Und was sollen sie für mich tun?
Wenn er noch da wäre... ! Aber sie? Sie sind nicht heilig. Mein Mann war an
jenem Tag in Jerusalem. Und er weiß... Oh! Nein! Er wußte! Nun weiß er nichts
mehr! Er ist tot!»
«Was hat dein Mann an jenem Tag
getan?»
«Nun, als der Lärm auf der Straße
anschwoll, lief er auf die Terrasse des Hauses, in dem er sich mit seinen
Brüdern befand, und sah den Rabbi vorübergehen, der zum Prätorium geführt
wurde. Dann folgte er ihm mit anderen Galiläern, bis er tot war. Man hat ihn
und die anderen mit Steinen beworfen, als man sie als Galiläer erkannte, dort
auf dem Berg, und jagte sie weiter hinunter. Aber sie blieben, bis alles
vollbracht war. Dann erst haben sie sich entfernt. Und nun ist er tot. Oh!
Wenn ich wenigstens wüßte, ob er wegen seines Mitleids für den Rabbi nun im
Frieden ist!»
Jesus antwortet nicht auf diese
Frage, sondern sagt: «Dann wird er gesehen haben, daß auch Jünger auf Golgotha
waren. Haben denn alle Galiläer wie dein Mann gehandelt?»
«O nein! Viele, auch aus
Nazareth, haben ihn beschimpft. Das ist bekannt. Eine Schande!»
«Nun, wenn selbst viele aus
Nazareth keine Liebe für ihren Jesus hatten und er ihnen trotzdem verzeiht,
und wenn viele von diesen sich in der Zukunft heiligen werden, warum willst du
dann alle Jünger des Christus gleicherweise verurteilen? Willst du strenger
sein als Gott? Gott gewährt denen, die verzeihen, sehr viel ...»
«Der gute Rabbi ist nicht mehr!
Er ist nicht mehr! Und mein Mann ist tot.»
«Der Rabbi hat seinen Jüngern die
Macht gegeben, zu tun, was er getan hat.»
«Ich will es glauben. Aber nur er
hat den Tod besiegt. Nur er!»
«Steht nicht geschrieben, daß
Elias dem Sohn der Witwe von Sarepta das Leben wiedergegeben hat? Wahrlich,
ich sage dir, Elias war ein großer Prophet, doch die Diener des Erlösers, der
gestorben und wiederauferstanden ist, weil er der Sohn des wahren Gottes war,
der Fleisch angenommen hat, um die Menschen zu erlösen, haben eine größere
Macht; denn er hat ihnen als erster am Kreuz ihre Sünden verziehen, da er in
seiner göttlichen Weisheit den wahren Schmerz ihrer zerknirschten Seelen
kannte, und er hat sie nach seiner Auferstehung durch eine neue Vergebung
geheiligt und ihnen den heiligen Geist eingegossen, damit sie mich würdig
153
vertreten können in Worten und
Werken; damit die Welt nach meinem Weggang nicht trostlos und verlassen sei.»
Die Frau tritt ruckartig und
verwirrt einen Schritt zurück. Sie schlägt ihren Schleier zurück, um ihren
Begleiter besser zu sehen, erkennt ihn jedoch nicht. Sie glaubt, falsch
verstanden zu haben. Aber sie wagt nicht mehr zu sprechen...
«Hast du Angst vor mir? Zuerst
hast du mich für einen Räuber gehalten, der dir das Geld rauben will, das du
auf der Brust trägst und mit dem du das Nötige für das Begräbnis kaufen
willst. Und du hattest Angst. Nun hast du Angst, weil du mich als Jesus
erkennst? Ist nicht Jesus einer, der gibt und nicht nimmt? Der rettet und
nicht zerstört? Kehre zurück, Frau. Ich bin die Auferstehung und das Leben.
Leichentuch und Salben sind nicht nötig für einen, der nicht tot ist; der
nicht mehr tot ist, weil ich der Sieger über den Tod bin und den belohne, der
glaubt. Geh! Geh nach Hause. Dein Mann lebt. Der Glaube an mich bleibt nie
unbelohnt.» Jesus hebt die Hände zum Segen und will sich entfernen.
Aber die Frau kommt nach dem
lähmenden Staunen wieder zu sich. Sie fragt nicht, sie zweifelt nicht... Sie
fällt nur anbetend auf die Knie. Und dann, endlich, öffnet sie den Mund und
zieht einen kleinen Beutel aus ihrem Kleid hervor, eine abgegriffene Börse
armer Leute, denen die Not feierliche Ehrungen ihrer Toten versagt, reicht ihm
den Beutel und sagt: «Ich habe nicht mehr... um dir meine Dankbarkeit zu
bezeigen und dich zu ehren für...»
«Ich brauche kein Geld mehr,
Frau. Bringe es meinen Aposteln.»
«O ja. Ich werde mit meinem Mann
zu ihnen gehen... Aber was kann ich dir sonst geben, mein Herr? Was? Du, du
bist mir erschienen... dieses Wunder... und ich habe dich nicht erkannt... Ich
war so verwirrt... ja, sogar ungerecht zu den Dingen...»
«Ja, und du hast nicht daran
gedacht, daß sie sind, weil ich bin, und daß alles gut ist, was Gott gemacht
hat. Wäre die Sonne nicht gewesen, wäre das Getreide nicht gewesen, dann
hättest du auch die jetzige Gnade nicht erhalten.»
«Aber wieviel Leid!» Die Frau
weint bei der Erinnerung.
Jesus lächelt, zeigt ihr seine
Hände und sagt: «Dies ist nur der kleinste Teil meiner Schmerzen. Und ich habe
alles ohne zu klagen zu eurem Wohl erduldet.»
Die Frau verneigt sich bis zur
Erde, um zu bekennen: «Das ist wahr. Verzeih meine Klagen.»
Jesus entschwindet in seinem
Licht, und als sie aufschaut, ist sie wieder allein. Sie springt auf und
blickt um sich. Nichts behindert die Sicht, denn es ist nun heller Tag und
ringsum sind nur Getreidefelder. Die Frau sagt zu sich selbst: «Und doch habe
ich nicht geträumt!» Vielleicht versucht der Dämon, ihr Zweifel einzureden,
denn einen Augenblick scheint sie im
154
Ungewissen zu sein, während ihre
Hände mit der Börse spielen. Aber dann siegt der Glaube und sie kehrt der
Ortschaft, in die sie gehen wollte, den Rücken und läuft eilends zurück, so
schnell und mühelos, als würde der Wind sie tragen, und mit in
übermenschlicher Freude strahlendem und von Frieden erfülltem Gesicht. Immer
wieder sagt sie: «Wie gut ist der Herr. Er ist wahrlich Gott! Er ist Gott! Der
Allerhöchste und der, den er gesandt hat, sei gepriesen!» Sie weiß nichts
anderes zu sagen. Und diese ihre Litanei wird nun begleitet vom Gesang der
Vögel. Die Frau ist so vertieft in ihre Gedanken, daß sie den Gruß einiger
Schnitter nicht wahrnimmt, die sie vorübergehen sehen und sie fragen, woher
sie zu dieser frühen Stunde kommt...
Ein Mann folgt ihr und fragt sie:
«Geht es Markus besser? Bist du beim Arzt gewesen?»
«Markus ist beim Hahnenschrei
gestorben und wiederauferstanden. Der Messias des Herrn hat dies getan»,
antwortet sie, ohne ihren Schritt zu verlangsamen.
«Der Schmerz hat sie um den
Verstand gebracht!» murmelt der Mann und schüttelt den Kopf, als er zu den
anderen Arbeitern zurückkommt, die schon begonnen haben, das Getreide zu
mähen.
Die Felder beleben sich. Und die
Neugier siegt bei vielen, die sich entschließen, der immer rascher laufenden
Frau zu folgen.
Sie läuft und läuft. Da taucht
ein armes, niedriges, einsam in den Feldern gelegenes Häuschen auf. Sie geht
darauf zu und preßt die Hände aufs Herz.
Nun geht sie hinein. Und kaum hat
sie es betreten, wirft sich ihr eine Alte in die Arme und schreit: «Meine
Tochter! Welche Gnade des Herrn! Sei jetzt stark, Tochter, denn was ich dir zu
sagen habe, ist so groß, so beglückend, daß ...»
«Ich weiß es, Mutter! Markus ist
nicht mehr tot. Wo ist er?»
«Du weißt es? Woher?»
«Ich bin dem Herrn begegnet. Ich
habe ihn nicht erkannt, aber er hat mit mir gesprochen, und als es ihm
gefallen hat, hat er zu mir gesagt: "Dein Mann lebt." Doch hier... wann?»
«Ich hatte gerade das Fenster
geöffnet und sah den ersten Sonnenstrahl auf dem Feigenbaum. Ja, genau so war
es. Der erste Sonnenstrahl traf gerade den Feigenbaum vor dem Zimmer... da
hörte ich einen tiefen Seufzer, als ob jemand soeben erwachen würde. Ich
wandte mich erschrocken um und sah, wie Markus sich aufsetzte und das
Leinentuch zurückwarf, das ich über sein Gesicht gebreitet hatte. Er hat nach
oben geschaut... mit einem Gesicht... einem Gesicht... Dann hat er mich
angesehen und gesagt: "Mutter, ich bin geheilt!" Ich... Es hat wenig gefehlt,
und ich wäre gestorben, und er ist mir zu Hilfe geeilt und hat verstanden, daß
er tot gewesen ist. Er erinnert sich an nichts. Er sagt, er wisse nur, daß wir
ihn zu
155
Bett gebracht haben, und dann
nichts mehr, bis ihm ein Engel erschien, eine Art Engel, der das Aussehen des
Rabbi von Nazareth hatte und zu ihm sagte: "Steh auf." Und er ist
aufgestanden. Genau in dem Moment, da die Sonne vollends aufgegangen war.»
«Genau in dem Moment, als er zu
mir gesagt hat: "Dein Mann lebt." Oh, Mutter, welche Gnade! Wie sehr hat Gott
uns geliebt!»
Die Leute, die nun hereinkommen,
treffen die sich umarmenden Frauen weinend an. Sie glauben, daß Markus
gestorben ist und die Frau das Unglück plötzlich erkannt und begriffen hat.
Aber Markus, der die Stimmen hört, erscheint heiter mit einem Kind auf dem
Arm, während die anderen an seiner Tunika hängen, und sagt laut: «Hier bin
ich. Wir wollen dem Herrn danken!»
Die eben Angekommenen
überschütten ihn mit Fragen, und wie immer bei menschlichen Dingen gibt es
gegensätzliche Meinungen. Die einen glauben an eine wahre Auferstehung, die
anderen, die Mehrzahl, sagen, daß es nur eine Ohnmacht, aber nicht der Tod
war. Die einen sind überzeugt, daß Christus Rachel erschienen ist, andere
bemerken dazu, daß dies alles Märchen sind, denn «er ist tot», und wieder
andere sagen: «Er ist auferstanden, aber er ist so erzürnt, er muß es sein,
daß er für sein Volk von Mördern keine Wunder mehr wirkt.»
«Sagt, was ihr wollt», entgegnet
der Mann und verliert die Geduld, «und sagt es, wo ihr wollt. Sagt es nur
nicht hier, wo der Herr Jesus mich auferweckt hat. Und geht, ihr
Unglücklichen! Der Himmel möge euren Verstand erleuchten, damit ihr glauben
könnt! Aber nun geht und laßt uns in Frieden.»
Er schiebt sie hinaus und
schließt die Tür. Dann drückt er seine Frau und seine Mutter ans Herz und
sagt: «Nazareth ist nicht weit. Ich gehe hin und verkünde das Wunder.»
«Der Herr will es so, Markus. Wir
bringen dieses Geld seinen Jüngern. Laß uns gehen und dem Herrn danken. So wie
wir sind. Wir sind arm, aber auch er ist arm gewesen, und seine Apostel werden
uns nicht verachten.»
Sie macht sich daran, den Kindern
die Sandalen zu binden, während die Mutter etwas Mundvorrat in eine Tasche
packt und Türen und Läden verschließt und Markus noch irgend etwas zu
erledigen hat. Als alle fertig sind, brechen sie, die Kleinsten auf dem Arm
und die anderen Kinder fröhlich und etwas verwirrt um sich herum, in Richtung
Osten auf, nach Nazareth, versteht sich. Das Haus muß noch in der Ebene von
Esdrelon liegen, aber anderswo als der Besitz des Jochanan.
156
695. JESUS ERSCHEINT AM UFER DES
SEES
Eine ruhige, schwüle Nacht. Kein
Lüftchen regt sich. Die großen, flimmernden Sterne bedecken den klaren Himmel.
Der ruhige, unbewegte See, der einem riesigen, windgeschützten Becken gleicht,
spiegelt auf seiner Oberfläche die Schönheit dieses sternenfunkelnden Himmels
wider. Die Bäume an den Ufern gleichen einem massiven, reglosen Block. Der See
ist so ruhig, daß der Wellenschlag am Ufer einem Flüstern gleicht. Einige
Boote weit draußen erkennt man nur als vage Umrisse, und die Laternen an den
Masten hier und da, die mit ihrem Schein die kleinen Schiffe erleuchten, sind
Sternchen über der Oberfläche des Wassers. Ich weiß nicht, in welchem Teil des
Sees es ist. Aber ich würde sagen, es ist der südliche, dort, wo der See
wieder zum Fluß wird. In der Umgebung von Tarichäa vielleicht; nicht weil ich
die Stadt sehe, denn Bäume auf einer kleinen, hügeligen, in den See
vorspringenden Landzunge verbergen sie. Ich schließe es aus den Sternchen der
Bootslaternen, die sich nach dem Ablegen vom Ufer des Sees in nördlicher
Richtung entfernen. Ich sage Umgebung, denn eine Handvoll ärmlicher Hütten, so
wenige, daß man sie nicht einmal ein Dorf nennen kann, liegt dort am Fuß der
kleinen Landzunge. Häuschen armer Leute, fast unten am Ufer, die gewiß
Fischern gehören. Und auf den schmalen Strand gezogene Boote, und andere,
schon zur Ausfahrt bereit, im Wasser nahe dem Ufer; aber diese liegen so
still, als wären sie auf Grund gelaufen und würden nicht schwimmen.
Petrus streckt den Kopf aus einem
der kleinen Häuser. Das flackernde Licht eines in der raucherfüllten Küche
brennenden Feuers beleuchtet die kräftige Gestalt des Apostels von hinten und
zeichnet eine deutliche Silhouette. Er schaut auf den See und betrachtet den
Himmel... geht an den Rand des Ufers, geht dann in seiner kurzen Tunika und
barfuß in den See, bis ihm das Wasser bis an die Waden reicht, streckt den
muskulösen Arm aus und streichelt den Rand eines Bootes. Die Söhne des
Zebedäus gesellen sich zu ihm.
«Eine schöne Nacht.» «Der Mond
wird bald aufgehen.» «Ein idealer Abend für den Fischfang.»«Aber mit Rudern.»
«Es weht ja kein Lüftchen.»«Was tun wir?»
Sie sprechen langsam und nur
kurze Sätze, wie Männer, die an den Fischfang und das Hantieren mit Segeln und
Netzen gewohnt sind, was Aufmerksamkeit erfordert und daher wenig Worte.
«Es wäre gut, wenn wir
hinausfahren würden. Wir könnten einen Teil des Fangs verkaufen.»
Andreas, Thomas und Bartholomäus
kommen nun auch ans Ufer.
157
«Was für eine warme Nacht!» ruft
Bartholomäus aus.
«Wird es ein Unwetter geben?»
Erinnert ihr euch noch an die Nacht damals?» fragt Thomas.
«Oh! Nein! Flaute, Nebel
vielleicht, aber kein Unwetter. Ich... gehe fischen. Wer will mit mir kommen?»
«Wir kommen alle. Vielleicht ist
es dort draußen besser», sagt Thomas, der schwitzt, und er fügt hinzu: «Die
Frau mußte ein solches Feuer machen, aber für uns ist es wie im Caldarium der
Thermen...»
«Ich gehe und sage es Simon. Er
ist ganz allein dort», sagt Johannes.
Petrus bereitet schon mit Hilfe
von Andreas und Jakobus das Boot vor.
«Fahren wir bis nach Hause? Das
wäre eine Überraschung für meine Mutter...» sagt Jakobus.
«Nein. Ich weiß nicht, ob ich
Margziam mitnehmen darf. Vor... dem... Nun ja, bevor wir nach Jerusalem
gegangen sind -es war noch in Ephraim – hat der Herr mir gesagt, wir sollten
das zweite Passah mit Margziam feiern. Aber dann hat er nicht mehr darüber
gesprochen...»
«Ich meine, er sollte bei uns
sein», sagt Andreas.
«Ja, beim zweiten Passahfest
schon. Aber ich weiß nicht, ob er will, daß er schon vorher mitkommt. Ich habe
so viele Fehler gemacht, daß... Oh, kommst du auch mit?»
«Ja, Simon des Jonas. Dieser
Fischfang wird mich an viele Dinge erinnern ...»
«Nun, uns alle wird er an viele
Dinge erinnern... An Dinge, die nicht wiederkehren werden... In diesem Boot
sind wir mit dem Meister auf dem See gefahren... Und ich habe es geliebt wie
einen Königspalast und geglaubt, daß ich ohne es nicht leben könnte. Aber nun,
da er nicht mehr im Boot ist... Nun sitze ich darin, und es freut mich nicht
mehr», sagt Petrus.
«Niemand hat mehr Freude an den
vergangenen Dingen. Es ist nicht mehr das gleiche Leben. Und auch das
Zurückblicken... Zwischen den damaligen Stunden und den gegenwärtigen liegt
diese furchtbare Zeit...»seufzt Bartholomäus.
«Fertig. Kommt! Du ans Steuer,
und wir an die Ruder. Wir fahren in die Bucht von Hippos. Es ist ein guter
Platz. Auf! Los! Hau ruck!»
Petrus gibt den Takt der Ruder
an, und das Boot gleitet über das ruhige Wasser. Bartholomäus sitzt am Steuer.
Thomas und der Zelote sind die Schiffsjungen und bereit, die schon
ausgebreiteten Netze auszuwerfen. Der Mond geht auf, das heißt, er erscheint
über den Bergen von Gadara (wenn ich nicht irre) oder Gamala, jedenfalls
denen, die sich im Süden am Ostufer des Sees erheben, und seine Strahlen
gleichen einer Straße aus Diamanten auf dem stillen Wasser.
«Er wird uns bis zum Morgen
begleiten.»
«Wenn kein Dunst aufzieht.»
158
«Die Fische werden vom Mond
angezogen und kommen aus der Tiefe nach oben.»
«Es wäre gut, wenn wir einen
reichen Fang machen würden, denn wir haben kein Geld mehr. Wir könnten dann
Brot kaufen und denen auf dem Berg Geld und Fische bringen.» Langsam
gesprochene Worte und lange Pausen zwischen dem einen und dem anderen Satz.
«Du ruderst gut, Simon. Du hast
dein Handwerk noch nicht verlernt... !» sagt der Zelote bewundernd.
«Ja... Verflucht!»
«Was hast du denn?»
«Ich habe... Es ist, daß die
Erinnerung an diesen Mann mich überall verfolgt. Ich erinnere mich an den Tag,
an dem wir mit zwei Booten um die Wette ruderten, und er...»
«Ich hingegen dachte gerade
daran, daß mir zum ersten Mal der ganze Abgrund seiner Bosheit bewußt wurde,
als wir damals den Booten der Römer begegnet, oder vielmehr mit ihnen
zusammengestoßen sind. Erinnert ihr euch?» sagt der Zelote.
«Und ob wir uns erinnern... ! Er
hat ihn verteidigt... Und wir... zwischen der Verteidigung des Meisters und
der Falschheit unseres... wir haben nie so recht begriffen...» sagt Thomas.
«Hm! Ich habe mehr als einmal...
Doch er sagte immer: "Verurteile nicht, Simon!"»
«Thaddäus war er immer
verdächtig.»
«Was ich einfach nicht glauben
kann, ist, daß dieser hier nie etwas gewußt haben soll», sagt Jakobus und
stößt seinen Bruder mit dem Ellbogen an.
Aber Johannes schweigt und neigt
das Haupt.
«Jetzt kannst du es doch
sagen...» drängt Thomas.
«Ich bemühe mich, zu vergessen.
So ist es mir aufgetragen worden. Warum wollt ihr mich zum Ungehorsam
verleiten?»
«Er hat recht. Lassen wir ihn in
Ruhe!» verteidigt ihn der Zelote.
«Werft die Netze aus. Langsam...
Rudert ihr. Langsam. Dreh nach links, Bartholomäus. Halt. Dreh ab. Halt. Dreh
ab. Ist das Netz gespannt? Ja? Dann zieht die Ruder ein, und warten wir»,
befiehlt Petrus.
Wie schön und still ist der See
im Frieden der Nacht unter dem Kuß des Mondes. Rein wie ein See des
Paradieses. Der runde Mond am Himmel spiegelt sich darin und verwandelt ihn in
Diamanten, und sein sanfter Schimmer zittert auf den Hügeln, entschleiert sie,
und läßt die Städte am Ufer gleich Schnee aufleuchten... Von Zeit zu Zeit
ziehen sie das Netz ein – eine Kaskade von Diamanten und Harfentönen auf dem
Silber des Sees. Leer. Sie werfen es wieder aus, fahren ein Stück weiter. Aber
sie haben kein Glück... Der Mond geht unter und das diffuse, grünblaue Licht
des Morgens bricht sich Bahn... Warmer Dunst zieht über die Ufer,
159
hüllt vor allem das südliche Ende
des Sees von Tiberias ein, hüllt auch Tarichäa ein. Niedriger Nebel, nicht
allzu dicht, den die ersten Sonnenstrahlen auflösen werden. Um ihm
auszuweichen, fahren sie am östlichen Ufer entlang. Hier ist er nicht so dicht
wie im Westen, denn er steigt auf aus dem Sumpf hinter Tarichäa am rechten
Ufer des Jordan und verdichtet sich dort, als ob der Sumpf dampfen würde. Sie
fahren vorsichtig, um Gefahren auf dem Grund zu vermeiden; sie kennen sich ja
aus auf dem See.
«Ihr dort im Boot, habt ihr
nichts zu essen?» Die Männerstimme kommt vom Ufer. Eine Stimme, die sie
auffahren läßt.
Sie zucken die Achseln und
antworten laut: «Nein!» Dann sagen sie zueinander: «Man könnte glauben, ihn zu
hören... !»
«Werft die Netze auf der rechten
Seite des Bootes aus, und ihr werdet etwas fangen.»
Rechts, das bedeutet zur Seemitte
hin. Sie werfen etwas verwundert das Netz aus, und bald darauf neigt sich das
Boot durch den Zug und das Gewicht des Netzes.
«Aber das ist doch der Herr!»
ruft Johannes.
«Der Herr, sagst du?» fragt
Petrus.
«Hast du noch Zweifel? Es schien
uns seine Stimme zu sein, aber das hier ist der Beweis. Schau dir das Netz an!
Wie damals! Er ist es, sage ich dir! Oh, mein Jesus! Wo bist du?»
Alle bemühen sich, mit ihren
Blicken die Nebelschleier zu durchdringen, nachdem sie das Netz gut befestigt
haben, um es in Schlepp zu nehmen; denn es ist zu gefährlich, es ins Boot zu
ziehen. Und so rudern sie zum Ufer. Doch dann muß Thomas das Ruder des Petrus
übernehmen, der rasch und ungestüm seine Tunika über die kurze Hose zieht, die
seine einzige Bekleidung war, ebenso wie die aller anderen außer Bartholomäus.
Petrus springt in den See, teilt mit kräftigen Armen das stille Wasser,
schwimmt dem Boot voraus und setzt als erster den Fuß auf das verlassene Ufer,
wo auf zwei Steinen im Schutz eines Dorngestrüpps ein Reisigfeuer flackert.
Und dort, neben dem Feuer, steht Jesus und lächelt sanft.
«Herr! Herr!» Petrus keucht
schwer vor Erregung und bringt kein weiteres Wort heraus. Da er von Wasser
trieft, wagt er nicht einmal, das Gewand seines Jesus zu berühren. In der
nassen Tunika, die ihm am Rücken klebt, wirft er sich anbetend in den Sand.
Das Boot knirscht auf dem Kies
und steht still. Alle sind aufgesprungen und ganz aufgeregt vor Freude...
«Bringt die Fische her. Das Feuer
ist bereit. Kommt und eßt», gebietet Jesus.
Petrus eilt zur Barke und hilft,
das Netz herauszuziehen. Er nimmt aus dem zappelnden Haufen drei große Fische,
schlägt sie an den Bootsrand,
160
um sie zu töten, und weidet sie
dann mit seinem Messer aus. Aber seine Hände zittern. Oh, nicht vor Kälte! Er
wäscht die Fische, bringt sie zum Feuer, legt sie darauf und gibt auf sie
acht, während sie braten. Die anderen beten den Herrn an, in gewisser
Entfernung und, wie immer, etwas furchtsam, seit er so göttlich und mächtig
auferstanden ist.
«Hier ist Brot. Ihr habt die
ganze Nacht gearbeitet und seid müde. Nun werdet ihr euch stärken. Sind die
Fische bereit, Petrus?»
«Ja, mein Herr», sagt Petrus mit
einer Stimme, die noch rauher als sonst klingt. Er beugt sich über das Feuer
und trocknet sich die Augen, aus denen es tropft, so als müßte er wegen des
Rauchs weinen, der auch die Kehle reizt. Aber der Rauch ist nicht die Ursache
der Tränen und der rauhen Stimme... Er bringt den Fisch, den er auf ein
haariges Blatt gelegt hat, anscheinend ein Kürbisblatt, das ihm Andreas
gegeben hat, nachdem er es zuvor im See gewaschen hat.
Jesus dankt und segnet, bricht
das Brot, zerlegt die Fische und teilt sie in acht Stücke. Er kostet ebenfalls
etwas davon. Sie essen mit einer Ehrfurcht, mit der sie ein Ritual vollziehen
würden. Jesus sieht ihnen zu und lächelt. Aber auch er schweigt, bis er
schließlich fragt: «Wo sind die anderen?»
«Auf dem Berg, wie du gesagt
hast. Wir sind fischen gegangen, weil wir kein Geld mehr haben und den Jüngern
nicht zur Last fallen wollen ...»
«Gut. Aber von jetzt an sollt ihr
Apostel auf dem Berg bleiben und beten und durch euer Beispiel die Jünger
erbauen. Schickt sie zum Fischfang. Für euch ist es besser, daß ihr dort im
Gebet verharrt und jene anhört, die euren Rat brauchen oder kommen, um euch
Nachrichten zu bringen. Haltet die Jünger eng beisammen. Ich werde bald
kommen.»
«Wir werden es tun, Herr.»
«Ist Margziam nicht bei dir?»
«Du hast nicht gesagt, daß ich
ihn sofort kommen lassen darf.»
«Laß ihn kommen. Sein Gehorsam
ist beendet.»
«Ich werde ihn kommen lassen,
Herr.»
Schweigen. Dann hebt Jesus, der
mit leicht geneigtem Haupt nachdenklich dagestanden ist, den Kopf und richtet
seinen Blick auf Petrus. Er schaut ihn an mit dem Blick der Stunden seiner
größten Wunder und Macht. Petrus schreckt fast ängstlich zusammen und weicht
ein wenig zurück... Aber Jesus legt ihm eine Hand auf die Schulter, hält ihn
fest mit energischem Griff und fragt ihn: «Simon des Jonas, liebst du mich?»
«Gewiß, Herr! Du weißt, daß ich
dich liebe», antwortet Petrus mit Nachdruck.
«Weide meine Lämmer... Simon des
Jonas, liebst du mich?»
«Ja, mein Herr. Und du weißt, daß
ich dich liebe.» Die Stimme ist nicht mehr so selbstsicher, eher etwas
erstaunt über die Wiederholung dieser Frage.
161
«Weide meine Lämmer ... Simon des
Jonas, liebst du mich?»
«Herr... Du weißt alles ... Du
weißt, daß ich dich liebe ...» Die Stimme des Petrus zittert, obwohl er seiner
Liebe sicher ist; aber er hat das Gefühl, daß Jesus nicht überzeugt ist.
«Weide meine Schafe. Das
dreimalige Bekenntnis deiner Liebe hat deine dreimalige Verleugnung getilgt.
Du bist ganz rein, Simon des Jonas, und ich sage dir: Bekleide dich mit dem
Gewand des Oberhirten und trage die Heiligkeit des Herrn in meine Herde. Gürte
dein Gewand um die Mitte und trage es gegürtet, bis auch du vom Hirten zum
Lamm wirst. Wahrlich, ich sage dir, als du jünger warst, hast du dich selbst
gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest; wenn du aber alt geworden bist,
wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich
führen, wohin du nicht willst. Jetzt aber bin ich es, der dir sagt: "Gürte
dich und folge mir auf meinem Weg." Steh auf und komm.»
Jesus steht auf, und auch Petrus
erhebt sich, und sie gehen ans Ufer, während die anderen das Feuer löschen,
indem sie es mit Sand ersticken. Aber Johannes folgt Jesus, nachdem er die
Brotreste gesammelt hat. Petrus, der die Schritte hört, dreht den Kopf. Er
sieht Johannes, zeigt auf ihn und fragt Jesus: «Und was wird mit diesem
geschehen?»
«Wenn ich will, daß er bleibt,
bis ich wiederkomme, was kümmert dich das? Du, folge mir nach.»
Sie sind am Ufer. Petrus möchte
noch sprechen; die Majestät Jesu und die gehörten Worte halten ihn davon ab.
Er kniet nieder, ebenso die anderen, und betet an. Jesus segnet und entläßt
sie. Sie besteigen das Boot und entfernen sich rudernd. Jesus schaut ihnen
nach.
696. JESUS AUF DEM TABOR
Alle Apostel und alle
Hirtenjünger, auch Jonathan, den Chuza aus dem Dienst entlassen hat, sind da.
Margziam, Manaen, viele Jünger von den Zweiundsiebzig und noch viele andere
sind da. Sie befinden sich im Schatten der Bäume, die mit ihrem dichten Laub
Licht und Hitze mildern. Sie sind nicht oben auf dem Gipfel, wo die Verklärung
stattgefunden hat, sondern auf halber Höhe, dort, wo ein Eichenwäldchen den
Gipfel zu verbergen und die Hänge des Berges mit seinen mächtigen Wurzeln zu
halten scheint.
Fast alle sind angesichts der
Tageszeit, der Untätigkeit und des langen Wartens schläfrig. Doch es genügt
der Ruf eines Knaben – ich weiß nicht, wer es ist, denn ich kann ihn von
meinem Standort aus nicht sehen – und alle stehen, einem Impuls folgend,
plötzlich auf, um sich dann wieder mit dem Gesicht ins Gras zu werfen.
162
«Der Friede sei mit euch allen.
Hier bin ich unter euch. Der Friede sei mit euch. Der Friede sei mit euch.»
Jesus geht segnend durch die Reihen. Viele weinen, andere lächeln selig. Aber
alle fühlen einen wunderbaren Frieden.
Jesus bleibt stehen, wo die
Apostel und die Hirten mit Margziam, Manaen, Stephanus, Nikolaus, Johannes von
Ephesus, Hermas und einigen anderen der getreuesten Jünger, an deren Namen ich
mich nicht erinnere, eine kompakte Gruppe bilden. Ich sehe den Mann aus
Chorazim, der darauf verzichtet hat, seinen Vater zu begraben, um Jesus zu
folgen, und einen anderen, den ich schon mehrmals gesehen habe. Jesus nimmt
den Kopf des Margziam, der ihn weinend ansieht, in seine Hände, küßt ihn auf
die Stirn und drückt ihn dann an sein Herz.
Dann wendet er sich den anderen
zu und sagt: «Viele und wenige. Wo sind die übrigen? Ich weiß, daß meine
treuen Jünger sehr zahlreich sind. Warum also sind hier von den vielen kaum
fünfhundert Personen zusammengekommen, abgesehen von den Kindern des einen
oder anderen unter euch?»
Petrus, der bisher im Gras
gekniet ist, steht auf und spricht für alle: «Herr, zwischen dem dreizehnten
und dem zwanzigsten Tag nach deinem Tod sind viele aus vielen Städten
Palästinas hierher gekommen und haben gesagt, daß du bei ihnen warst. So sind
viele von uns mit diesem oder jenem gegangen, um dich früher zu sehen. Einige
sind gerade erst aufgebrochen. Die gekommen sind, haben gesagt, daß sie dich
an verschiedenen Orten gesehen und mit dir gesprochen haben, und was am
meisten verwundert, alle haben gesagt, daß sie dich am zwölften Tag nach
deinem Tod gesehen haben. Wir hielten dies für einen Betrug eines jener
falschen Propheten, von denen du gesagt hast, daß sie kommen würden, um die
Auserwählten zu täuschen. Du hast im Ölgarten davon gesprochen, am Abend
vor... vor...» Petrus neigt das Haupt und schweigt, überwältigt von Schmerz
bei dieser Erinnerung. Zwei Tränen, gefolgt von weiteren, fließen in seinen
Bart und fallen zu Boden...
Jesus legt ihm die Rechte auf die
Schulter, und Petrus erschauert bei dieser Berührung, und da er nicht wagt,
diese Hand mit der seinen zu berühren, wendet er das Haupt, um die
anbetungswürdige Hand mit der Wange zu liebkosen und sie zu küssen.
Jakobus des Alphäus setzt seinen
Bericht fort: «Und wir haben den Leuten abgeraten, an diese Erscheinungen zu
glauben, denen, die aufbrechen wollten zum großen Meer oder nach Bozrah,
Caesarea Philippi, Pella und Kedes, zum Berg bei Jericho und in die Ebene, die
Ebene von Esdrelon beispielsweise, zum Großen Hermon, nach Beth Horon und
Bethsemes und zu anderen Orten, die keinen Namen haben, weil es einsam
gelegene Häuser in der Ebene bei Japhia oder Galaad sind. Die Nachrichten
waren zu ungewiß. Einige sagten: "Wir haben ihn gesehen
163
und gehört." Andere ließen uns
sagen, daß sie dich gesehen und sogar mit dir gegessen hatten. Ja, wir wollten
sie zurückhalten, weil wir glaubten, es könne sich um Fallen unserer Gegner
handeln oder auch um Phantasien von Gerechten, die so viel an dich denken, daß
sie dich schließlich sehen, wo du nicht bist. Aber die Leute sind trotzdem
aufgebrochen. Die einen dahin, die anderen dorthin. Und so sind wir auf
weniger als ein Drittel zusammengeschmolzen.»
«Ihr habt recht gehabt, darauf zu
bestehen, daß sie bleiben. Nicht, weil ich nicht wirklich an den Orten gewesen
wäre, die die hierher Gekommenen euch genannt haben, sondern weil ich befohlen
hatte, hier zu bleiben und mich, vereint im Gebet, zu erwarten. Und weil ich
will, daß meine Worte Gehorsam finden, vor allem bei denen, die meine Diener
sind. Wenn schon die Diener anfangen, ungehorsam zu sein, was sollen dann die
Gläubigen tun?
Hört gut zu, alle die ihr hier
seid. Denkt daran, daß ein Organismus, um gesund und funktionstüchtig zu
bleiben, eine Hierarchie braucht, also einen, der befiehlt, andere, die
Befehle weitergeben, und wieder andere, die gehorchen. So ist es am Hof der
Könige, und so ist es bei den Religionen; bei unserer hebräischen und bei
allen anderen, so unrein sie auch sein mögen. Es gibt immer ein Oberhaupt, es
gibt seine Amtsträger, die Diener dieser Amtsträger und endlich die Gläubigen.
Ein Oberhirte kann nicht allein wirken. Und auch ein König kann allein nichts
tun. Und dabei sind deren Anordnungen nur Dinge, die ausschließlich irdische
Angelegenheiten oder Formalitäten des Kults betreffen... Ja. Auch in der
mosaischen Religion sind leider nur noch die Formalitäten des Kults geblieben,
die weiterhin ablaufende Bewegung eines Triebwerks, das immer noch dieselben
Handlungen ausführt, auch nun, da der Geist dieser Handlungen tot ist. Für
immer tot. Der göttliche Geist und Antrieb, der diesen Riten Wert verlieh, hat
sich aus ihrer Mitte entfernt. Und so sind diese Riten nur leere Gesten, sonst
nichts. Gesten, die jeder Komödiant auf der Bühne eines Theaters nachmachen
könnte. Wehe, wenn eine Religion stirbt und die wahre, lebendige Kraft zur
lärmenden, äußerlichen Pantomime wird, zu einer sinnentleerten Pantomime vor
einem gemalten Hintergrund und in prunkvollen Gewändern, zur mechanischen
Bewegung von Maschinen, die gewisse vorgeschriebene Handlungen ausführen, so
wie ein Schlüssel eine Feder bewegt, wobei weder Schlüssel noch Feder sich
dessen bewußt sind, was sie tun. Wehe! Denkt darüber nach!
Vergeßt dies nie und sagt es
euren Nachfolgern, damit diese Wahrheit durch alle Jahrhunderte bekannt
bleibt. Das Herabfallen eines Planeten müßt ihr weniger fürchten als den
Niedergang der Religion. Blieben keine Sterne und Planeten mehr am Himmel, so
wäre dies für die Völker ein geringeres Übel, als wenn sie ohne wahre Religion
leben müßten. Gottes mächtige Vorsehung würde für die menschlichen Bedürfnisse
sorgen,
164
denn alles kann Gott für jene,
die auf dem Weg der Weisheit oder auf dem Weg, den ihre Unwissenheit kennt,
aufrichtigen Herzens die Gottheit suchen und lieben. Aber wenn der Tag käme,
an dem die Menschen Gott nicht mehr lieben, weil die Priester aller Religionen
diese zu einer leeren Pantomime gemacht haben und als erste nicht mehr an die
Religion glauben, dann wehe der Erde!
Nun, wenn ich das sogar für jene
Religionen sage, die unrein sind -einige von ihnen leiten sich her aus
teilweisen Offenbarungen an einen Weisen, andere aus dem natürlichen Bedürfnis
des Menschen, sich einen Glauben zu schaffen, um der Seele durch die Liebe zu
einem Gott Nahrung zu geben; denn dieses Bedürfnis ist der stärkste Trieb des
Menschen, der immerwährende Zustand der Suche nach dem, der ist; und der Geist
will ihn, auch wenn der stolze Verstand jeglichem Gott die Ehre verweigert,
auch wenn der Mensch in Verkennung seiner Seele diesem seinem innersten
Bedürfnis keinen Namen zu geben vermag – was soll ich dann sagen von der
Religion, die ich euch gegeben habe und die meinen Namen trägt, zu deren
Oberhirten und Priestern ich euch eingesetzt habe und deren Verbreitung auf
der ganzen Welt ich euch gebiete? Von dieser einen, wahren und vollkommenen
Religion, die sich auf meine, des Meisters, unveränderliche Lehre gründet und
vervollständigt werden wird durch die immerwährende Unterweisung dessen, der
kommen wird: des Heiligen Geistes, des heiligsten Führers meiner Oberhirten
und jener, die ihnen helfen werden, der Häupter zweiten Ranges in den Kirchen
der verschiedenen Gegenden, in denen mein Wort sich durchsetzen wird. Diese
Kirchen werden, obwohl verschieden an Zahl, doch nicht verschiedener
Denkungsart sein; sie werden vielmehr eins sein mit der Kirche, und aus ihren
einzelnen Teilen wird der große, immer größere Bau gefügt sein, der große,
neue Tempel, dessen Hallen bis an die Grenzen der Erde reichen werden. Nicht
verschieden im Denken, nicht gegensätzlich, sondern einig und brüderlich
zueinander, alle dem Oberhaupt der Kirche, Petrus und seinen Nachfolgern
untertan, bis ans Ende der Zeiten. Und jene, die sich aus welchem Grund auch
immer von der Mutterkirche trennen, werden abgetrennte Glieder sein und das
mystische Blut, die Gnade, die von mir, dem göttlichen Oberhaupt der Kirche,
kommt, wird sie nicht mehr nähren. Gleich verlorenen Söhnen, die aus eigenem
Willen das Vaterhaus verlassen haben, werden sie in ihrem vergänglichen
Reichtum und in ständigem und immer größerem Elend durch zu schwere Speisen
und Weine den Intellekt ihres Geistes abstumpfen und dann dahinsiechen und die
bitteren Eicheln der unreinen Tiere essen, bis sie mit zerknirschtem Herzen
ins Vaterhaus zurückkehren und sagen: "Wir haben gesündigt. Vater, verzeih uns
und öffne uns die Tür deines Hauses." Und wenn dann ein Glied einer getrennten
Kirche oder eine ganze getrennte Kirche zurückkehren sollte – oh, wäre es doch
so, aber wann, wo werde ich genügend Nachahmer
165
finden, die imstande sind, unter
Einsatz des eigenen Lebens diese ganzen Kirchen zu erlösen, damit ein
Schafstall und ein Hirte sei, wieder sei, so wie ich es brennend wünsche –
wenn also ein einzelner oder die ganze Gruppe zurückkehrt, dann öffnet ihnen
die Türen. Seid väterlich. Denkt daran, daß ihr alle, jeder einzelne, eine
oder mehrere Stunden lang, vielleicht sogar jahrelang verlorene und der
Begehrlichkeit verfallene Söhne gewesen seid. Seid also nicht hart zu denen,
die reuig zurückkehren. Denkt daran! Denkt daran!
Viele von euch sind heute vor
zweiundzwanzig Tagen geflohen. Habt ihr durch diese Flucht nicht eurer Liebe
zu mir abgeschworen? So wie ich euch wieder aufgenommen habe, sobald ihr reuig
zu mir zurückgekehrt seid, so sollt auch ihr handeln. Alles, was ich getan
habe, sollt ihr tun. Dies ist mein Befehl. Ihr habt drei Jahre lang mit mir
gelebt. Ihr kennt meine Werke und meine Gedanken. Wenn ihr euch in Zukunft vor
eine Entscheidung gestellt seht, dann denkt an die Zeit, die ihr mit mir
verbracht habt, und verhaltet euch so, wie ich mich verhalten habe. Dann
werdet ihr niemals fehlgehen. Ich bin das lebendige und vollkommene Beispiel
für euer Handeln.
Und vergeßt nicht, daß ich mich
nicht einmal Judas von Kerioth versagt habe... Der Priester muß mit allen
Mitteln zu retten suchen. Und unter den Mitteln zur Rettung soll immer die
Liebe vorherrschen. Denkt daran, daß mir die Untat des Judas nicht unbekannt
war... Aber ich habe jede Abneigung überwunden und den Elenden ebenso
behandelt, wie ich Johannes behandelt habe. Euch... euch wird oft die
Bitterkeit erspart bleiben, erkennen zu müssen, daß ihr euch umsonst bemüht,
einen geliebten Jünger zu retten. Und so werdet ihr unermüdlich arbeiten
können, ohne die Entmutigung, der man anheimfällt, wenn man weiß, daß alles
vergeblich ist... Man muß auch dann noch arbeiten... immer... bis alles
erfüllt ist...»
«Aber du leidest ja, Herr! ?» Oh,
ich habe nicht geglaubt, daß du jetzt noch leiden kannst! Du leidest immer
noch wegen Judas! Vergiß ihn, Herr!» ruft Johannes aus, der keinen Augenblick
den Blick von seinem Herrn abwendet.
Jesus öffnet seine Arme, die
übliche Geste ergebener Bestätigung einer schmerzlichen Tatsache, und sagt:
«So ist es... Judas war und ist der größte Schmerz im Meer meiner Schmerzen.
Er ist der bleibende Schmerz... Die anderen Schmerzen waren beendet am Ende
des Opfers. Aber dieser Schmerz bleibt. Ich habe ihn geliebt. Ich habe mich
selbst verzehrt in dem Bemühen, ihn zu retten... Ich konnte die Tore der
Vorhölle öffnen, um die Gerechten herauszuführen, und die Tore des Fegfeuers,
um die armen Seelen zu befreien. Doch der Ort des Schreckens blieb
verschlossen über ihm. Für ihn war mein Sterben vergebens.»
«Leide nicht! Leide nicht! Mein
glorreicher Herr! Dir gebührt Ehre
166
und Freude. Du hast deinen
Schmerz vollendet», bettelt wiederum Johannes.
«Wahrlich, niemand hätte
geglaubt, daß er immer noch leiden kann», sagen alle erstaunt und betroffen
und flüstern miteinander.
«Und ihr wißt nicht, welchen
Schmerz mein Herz im Laufe der Jahrhunderte leiden wird wegen eines jeden
unbußfertigen Sünders und einer jeden Häresie, die mich leugnet, wegen eines
jeden Gläubigen, der mir abschwört, und eines jeden – o Qual der Qualen –
jeden schuldigen Priester, der zur Ursache von Ärgernis und Verderben wird.
Ihr wißt nicht! Ihr wißt noch nicht! Ihr werdet es nie vollständig wissen,
solange ihr nicht mit mir im Licht des Himmels seid. Dann werdet ihr
verstehen... Wenn ich an Judas denke, denke ich an die Auserwählten, deren
Berufung ihnen zum Verderben wird wegen ihres verderbten Willens... Oh! Ihr,
die ihr treu seid, ihr, die ihr die zukünftigen Priester formt, denkt an
meinen Schmerz und bemüht euch, immer heiliger zu werden, um meinen Schmerz zu
trösten, bemüht euch, heilige Priester aus ihnen zu machen, damit sich, soweit
möglich, dieser Schmerz nicht wiederholt. Ermahnt, überwacht, belehrt,
bekämpft und seid sorgsam wie Mütter, unermüdlich wie Lehrer, wachsam wie
Hirten, stark wie Krieger, um die Priester zu stützen, die von euch
ausgebildet werden. Die Sünde des zwölften Apostels, oh, sorgt dafür, daß sie
sich in Zukunft nicht allzu oft wiederholt...
Seid so, wie ich zu euch gewesen
bin, wie ich zu euch bin. Ich habe zu euch gesagt: "Seid vollkommen wie der
Vater im Himmel." Und eure Menschlichkeit zittert vor diesem Befehl. Heute
noch mehr als damals, als ich es euch sagte, denn nun kennt ihr eure Schwäche.
Nun gut, um euch zu ermutigen,
werde ich euch sagen: "Seid wie euer Meister. Ich bin der Mensch." Also könnt
ihr tun, was ich getan habe. Auch Wunder wirken. Ja, auch das. Damit die Welt
erkennt, daß ich es bin, der euch sendet, und wer leidet, nicht untröstlich
weint bei dem Gedanken: "Er ist nicht mehr unter uns, um unsere Kranken zu
heilen und uns in unseren Schmerzen zu trösten." In diesen Tagen habe ich
Wunder gewirkt, um die Herzen zu trösten und sie davon zu überzeugen, daß
Christus nicht vernichtet ist, da er getötet wurde, sondern mächtiger als
zuvor, ewig mächtig und stark. Aber wenn ich nicht mehr unter euch sein werde,
werdet ihr tun, was ich bis jetzt getan habe und auch weiterhin tun werde.
Doch nicht so sehr um eurer Wundermacht willen, sondern eurer Heiligkeit wegen
wird die Liebe zur neuen Religion wachsen. Und über eure Heiligkeit, nicht
über die Gabe, die ich euch übertrage, müßt ihr sorgsam wachen. Je eifriger
ihr seid , desto teurer werdet ihr meinem Herzen sein, und der Geist Gottes
wird euch erleuchten, und die Güte Gottes und seine Macht werden eure Hände
mit himmlischen Gaben füllen. Das Wunder ist kein gewöhnliches Werk, und für
ein Leben im Glauben ist es nicht nötig. Vielmehr! Selig, die im Glauben
verharren ohne
167
außergewöhnliche Mittel als
Stütze dieses Glaubens! Doch ist das Wunder auch nicht so ausschließlich
besonderen Zeiten vorbehalten, daß es mit dem Ende dieser Zeiten aufhört.
Wunder wird es immer auf der Welt geben. Immer. Und um so zahlreicher werden
sie sein, je zahlreicher die Gerechten in der Welt sind. Wenn die wahren
Wunder selten werden, wird man wissen, daß es an Glauben und Gerechtigkeit
fehlt. Daher habe ich gesagt: "Wenn ihr glaubt, könnt ihr Berge versetzen."
Deshalb habe ich gesagt: "Die Zeichen, die jene begleiten, die wahren Glauben
an mich haben, werden der Sieg über die Dämonen und die Krankheiten, über die
Elemente und die Nachstellungen sein."
Gott ist mit dem, der ihn liebt.
Das Zeichen dafür, wie sehr meine Gläubigen in mir sind, wird die Anzahl und
die Macht der Wunder sein, die sie in meinem Namen und um Gott zu
verherrlichen wirken. Von einer Welt ohne wahre Wunder kann man ohne zu lügen
sagen: "Sie hat den Glauben und die Gerechtigkeit verloren. Sie ist eine Welt
ohne Heilige."
Also, um zum Anfang
zurückzukehren: Ihr habt gut daran getan, jene zurückzuhalten, die wie von
weither klingender Musik oder einem trügerischen Schein verführte Kinder dem,
was sicher ist, den Rücken gekehrt haben und davongelaufen sind. Seht ihr? Sie
haben ihre Strafe, denn sie müssen auf meine Worte verzichten. Aber auch ihr
habt einen Fehler begangen. Ihr habt euch zwar daran erinnert, daß ich gesagt
habe, nicht hierhin und dorthin jeder Stimme zu folgen, die euch meinen
angeblichen Aufenthaltsort nennt; aber ihr habt euch nicht erinnert, daß ich
auch gesagt habe, daß Christus bei seiner zweiten Ankunft einem Blitz gleichen
würde, der von Osten aufzuckt und bis zum Westen leuchtet in kürzerer Zeit als
ein Augenaufschlag.
Nun, diese zweite Ankunft hat im
Augenblick meiner Auferstehung begonnen. Sie wird ihren Höhepunkt erreichen in
der Erscheinung des Christus als Richter aller Auferstandenen. Vorher aber
werde ich noch sehr oft erscheinen, um zu bekehren, zu heilen, zu trösten, zu
unterweisen und Befehle zu erteilen! Wahrlich, ich sage euch: Ich kehre zu
meinem Vater zurück. Doch die Welt wird meiner Gegenwart nicht beraubt sein.
Ich werde Hüter und Freund, Lehrer und Arzt sein, dort, wo Körper oder Seelen,
Sünder oder Heilige mich brauchen oder von mir auserwählt werden, um meine
Worte anderen mitzuteilen. Denn die Menschheit, auch dies ist eine Wahrheit,
wird einen ununterbrochenen Akt der Liebe meinerseits nötig haben, da es ihr
so schwerfällt, sich zu beugen, da sie so leicht erkaltet, so rasch vergißt
und den Abstieg dem Aufstieg vorzieht. Wenn ich sie also nicht mit meinen
übernatürlichen Mitteln zurückhalten würde, dann würden das Gesetz, das
Evangelium und die göttlichen Hilfen, die meine Kirche verwalten wird, nicht
ausreichen, um die Menschheit in der Erkenntnis der Wahrheit zu erhalten und
in dem Willen, den Himmel zu erwerben. Und ich spreche von der an mich
glaubenden Menschheit,
168
die immer nur einen kleinen Teil
der großen Masse der Erdenbewohner ausmachen wird.
Ich werde kommen. Wer mich hat,
soll demütig bleiben. Wer mich nicht hat, soll nicht begierig darauf sein,
mich zu haben, um gelobt zu werden. Niemand soll das Außergewöhnliche
wünschen. Gott weiß, wann und wo er es gewährt. Es ist nicht notwendig, das
Außergewöhnliche zu haben, um in den Himmel zu kommen. Das Außergewöhnliche
ist sogar eine Waffe, die, falsch angewandt, die Hölle anstelle des Himmels
öffnen kann. Und ich will euch sagen, wie. Der Hochmut kann erwachen. Ein Gott
nicht wohlgefälliger geistiger Zustand kann eintreten, der der Trägheit
gleicht, bei der man es sich mit dem geschenkten Schatz bequem macht und sich
schmeichelt, schon im Himmel zu sein, weil man dieses Geschenk erhalten hat.
Nein. In diesem Fall wird die Gabe statt zu Flamme und Flügeln zu Kälte und
Felsen, und die Seele stürzt in die Tiefe und stirbt. Und außerdem kann der
falsche Gebrauch einer Gabe die Gier nach mehr hervorrufen, um noch größeres
Lob zu erhalten. In diesem Fall könnte anstelle des Herrn der Geist des Bösen
die Unklugen mit falschen Wundern betören. Bleibt den Verführungen aller Art
immer fern. Flieht sie. Gebt euch zufrieden mit dem, was Gott euch gewährt. Er
weiß, was euch nützt und auf welche Art. Und denkt immer daran, daß jede Gabe
nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine Prüfung ist, eine Prüfung eurer
Gerechtigkeit und eures Willens. Ich habe euch allen dasselbe gegeben. Doch
was euch besser gemacht hat, ist Judas zum Verderben geworden. War also die
Gabe schlecht? Nein, der Wille dieser Seele war böse...
Dies für jetzt. Ich bin vielen
erschienen. Nicht nur, um sie zu trösten und ihnen Gutes zu erweisen, sondern
um euch zufriedenzustellen. Ihr hattet mich gebeten, das Volk zu überzeugen,
daß ich auferstanden bin, da das Synedrium versucht, es vom Gegenteil zu
überzeugen. Ich bin Kindern und Erwachsenen erschienen, am selben Tag und an
verschiedenen, oft so weit voneinander entfernten Orten, daß mehrere
Tagesmärsche nötig wären, um sie alle zu erreichen. Aber für mich gibt es
keine irdischen Entfernungen mehr. Und dieses gleichzeitige Erscheinen hat
sogar euch verwirrt. Ihr habt euch gesagt: "Sie haben Gespenster gesehen." Ihr
habt also einen Teil meiner Worte vergessen, nämlich, daß ich von nun an
gleichzeitig im Osten und Westen, im Norden und Süden sein kann, wo es mir
gefällt, schnell wie der Blitz, der über den Himmel fährt, und daß nichts mich
daran hindern kann. Ich bin wahrer Mensch. Hier sind meine Glieder und mein
Körper, fest, warm, beweglich, und er atmet und spricht wie ihr. Aber ich bin
wahrer Gott. Und wenn auch zu höheren Zwecken die Gottheit dreiunddreißig
Jahre lang in der Menschheit verborgen war, so hat nun die Gottheit, obwohl
verbunden mit der Menschheit, die Vorherrschaft, und die Menschheit genießt
die vollkommene Freiheit der
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verherrlichten Leiber. Die
Menschheit ist nun Königin mit der Gottheit und keinen menschlichen
Beschränkungen mehr unterworfen. Hier bin ich. Ich bin hier bei euch und
könnte, wenn ich wollte, in einem Augenblick an den Enden der Erde sein, um
eine Seele zu gewinnen, die mich sucht.
Und welche Früchte wird dieses
mein Erscheinen bei Caesarea Maritima und im oberen Caesarea, auf dem Kerith
und in Engedi, bei Pella, in Jutta und anderen Orten Judäas, in Bozrah, auf
dem Großen Hermon, in Sidon und an den Grenzen von Galiläa wohl bringen? Nun,
ich habe ein Kind geheilt, einen kurz zuvor Gestorbenen wieder ins Leben
gerufen, eine Not gelindert, eine Seele in meinen Dienst berufen, die sich in
harter Buße verzehrte, und einen Gerechten zu Gott geführt, der mich darum
gebeten hatte. Ich habe unschuldigen Kindern meine Botschaft mitgeteilt und
einem treuen Herzen meine Anweisungen gegeben. Wird dies die Welt überzeugen?
Nein. Jene, die glauben, werden auch weiterhin glauben, mit größerem Frieden
in der Seele, aber nicht mit größerer Überzeugung, denn sie hatten schon den
wahren Glauben. Jene, die nicht mit wahrem Glauben zu glauben vermochten,
werden weiterhin im Zweifel bleiben. Und die Böswilligen werden sagen, daß die
Erscheinungen Einbildung und Lüge sind, und daß der Tote nicht tot war,
sondern nur geschlafen hat... Erinnert ihr euch an das Gleichnis vom reichen
Prasser? Ich habe gesagt, daß Abraham dem Verdammten antwortete: "Wenn sie
Moses und den Propheten nicht glauben, dann werden sie auch nicht glauben,
wenn einer von den Toten aufersteht und ihnen sagt, was sie tun müssen." Haben
sie etwa mir, dem Meister, geglaubt, und meinen Wundern? Was hat das Wunder an
Lazarus bewirkt? Meine um so raschere Verurteilung. Was hat meine Auferstehung
bewirkt? Eine Vermehrung ihres Hasses. Auch meine Wunder in dieser meiner
letzten Zeit unter euch werden die Welt nicht überzeugen, sondern nur jene,
die nicht mehr von der Welt sind, da sie das Reich Gottes mit seinen jetzigen
Mühen und Leiden und seiner künftigen Herrlichkeit gewählt haben.
Aber ich freue mich, daß ihr im
Glauben bestärkt und meinen Befehlen gehorsam gewesen seid, daß ihr hier auf
diesem Berg auf mich gewartet habt und nicht menschliche Eile hattet, euch an
zwar guten, aber doch nicht meinen Weisungen entsprechenden Dingen zu
erfreuen. Der Ungehorsam gibt ein Zehntel und nimmt neun Zehntel. Jene sind
gegangen und werden die Worte von Menschen hören, nur diese. Ihr seid
geblieben und habt mein Wort gehört, das immer gut und nützlich ist, auch wenn
es schon Gehörtes wiederholt. Dies möge euch allen, und auch den anderen, als
Lehre für die Zukunft dienen.»
Jesus läßt seine Blicke über die
Anwesenden schweifen und ruft: «Komm, Elisäus von Engedi. Ich muß dir etwas
sagen.»
Ich hatte den ehemaligen
Aussätzigen, den Sohn des alten Abraham,
170
nicht wiedererkannt. Damals war
er ein gespenstisches Skelett, nun ist er ein blühender Mensch im besten
Mannesalter. Er nähert sich und kniet zu Füßen Jesu nieder, der zu ihm sagt:
«Eine Frage möchtest du mir stellen, seit du erfahren hast, daß ich in Engedi
gewesen bin. Und die Frage lautet: "Hast du meinen Vater getröstet?" Ich sage
dir: "Mehr als getröstet! Ich habe ihn zu mir genommen."»
«Zu dir, mein Herr? Und wo ist
er, da ich ihn nicht sehe?»
«Elisäus, ich bin noch eine
kleine Weile hier. Dann gehe ich zu meinem Vater...»
«Herr... ! Du willst sagen...
Mein Vater ist tot!»
«Er ist an meinem Herzen
entschlafen. Auch für ihn ist der Schmerz zu Ende. Der Schmerz hat ihn ganz
verzehrt, und er ist dem Herrn trotzdem immer treu geblieben... Weine nicht!
Hast du ihn etwa nicht verlassen, um mir zu folgen?»
«Ja, mein Herr...»
«Nun, dein Vater ist bei mir.
Daher wirst du, wenn du mir nachfolgst, auch zu deinem Vater kommen.»
«Aber wann? Und wie?»
«In seinem Weinberg, dort, wo er
zum erstenmal von mir reden hörte. Er hat mich an seine Bitte vom Vorjahr
erinnert. Und ich habe zu ihm gesagt: "Komm." Er ist selig gestorben, weil du
alles verlassen hast, um mir zu folgen.»
«Verzeih mir meine Tränen... Er
war mein Vater.»
«Ich verstehe den Schmerz.» Jesus
legt ihm die Hand aufs Haupt, um ihn zu trösten, und sagt zu den Jüngern:
«Hier ist ein neuer Gefährte. Habt ihn lieb, denn ich habe ihn seinem Grab
entrissen, damit er mir diene.»
Dann ruft er: «Elias, komm zu
mir. Schäme dich nicht wie einer, der ein Fremder unter Brüdern ist. Die ganze
Vergangenheit ist nicht mehr. Und auch du, Zacharias, der du Vater und Mutter
um meinetwillen verlassen hast, komm und geselle dich zu den Zweiundsiebzig,
zusammen mit Joseph von Citium. Ihr verdient es, denn ihr habt die Wege der
Mächtigen um meinetwillen verlassen. Und du, Philippus, und auch du, sein
Begleiter, der du nicht mehr bei deinem Namen genannt sein willst, da er dir
furchtbar erscheint; nimm nun den Namen deines Vaters an, der ein Gerechter
ist, auch wenn er noch nicht zu denen zählt, die mir offen folgen. Seht ihr
alle? Ich schließe niemanden aus, der guten Willens ist. Nicht jene, die mir
schon als Jünger gefolgt sind, nicht jene, die bereits gute Werke in meinem
Namen vollbracht haben, obwohl sie noch nicht zur Schar meiner Jünger
gehörten, nicht jene, die verschiedenen Sekten angehörten, die nicht von allen
geliebt werden, die aber immer noch auf den rechten Weg kommen können und
nicht abgewiesen werden dürfen. Tut so, wie ich tue. Ich geselle diese den
alten Jüngern bei. Denn das
171
Himmelreich steht allen offen,
die guten Willens sind. Und obwohl keine hier sind, sage ich euch, daß ihr
auch die Heiden nicht abweisen dürft. Ich habe sie nicht abgewiesen, wenn ich
in ihnen das Verlangen nach Wahrheit erkannte. Tut, was ich getan habe. Und
du, Daniel, der du wahrlich der Höhle, nicht der Löwen, sondern der Schakale
entronnen bist, komm und bleibe bei diesen. Und komm auch du, Benjamin. Ich
reihe euch ein unter sie (Jesus zeigt auf die fast vollzählig anwesenden
Zweiundsiebzig), denn die Ernte des Herrn wird reich sein, und es braucht
viele Arbeiter.
Nun bleiben wir eine Weile hier
beisammen, den Rest des Tages. Am Abend werdet ihr den Berg verlassen, und im
Morgenrot werdet ihr mit mir kommen, ihr, die Apostel, und ihr beiden, die ich
besonders genannt habe, und alle, die von den Zweiundsiebzig hier sind (er
zeigt auf Zacharias und Joseph von Citium, der mir nicht neu ist). Die anderen
sollen hier auf jene warten, die wie müßige Wespen da- und dorthin geschwirrt
sind, und ihnen in meinem Namen sagen, daß man den Herrn nicht findet, wenn
man sich wie mutwillige und ungehorsame Kinder herumtreibt. Und alle sollen
zwanzig Tage vor Pfingsten in Bethanien sein, denn danach würden sie mich
vergebens suchen. Setzt euch alle und ruht euch aus. Ihr, kommt etwas beiseite
mit mir.»
Jesus entfernt sich mit Margziam
an der Hand, gefolgt von den zwölf Aposteln. Wo der Eichenwald am dichtesten
ist, setzt er sich und zieht Margziam zu sich heran, der sehr traurig ist. So
traurig, daß Petrus sagt: «Tröste ihn, Herr. Er war schon traurig, aber jetzt
ist er es noch mehr.»
«Warum, Kind? Bist du denn nicht
bei mir? Solltest du nicht glücklich sein zu wissen, daß ich den Schmerz
überwunden habe?»
Als einzige Antwort fängt
Margziam richtig zu weinen an.
«Ich weiß nicht, was er hat. Ich
habe ihn umsonst gefragt. Heute hatte ich aber nicht mit diesen Tränen
gerechnet», brummt Petrus etwas unruhig.
«Ich weiß den Grund», sagt
Johannes.
«Um so besser für dich! Also,
warum weint er?»
«Er weint nicht erst heute,
sondern schon seit Tagen ...»
«Das habe ich auch gemerkt. Aber
warum?»
«Der Herr weiß es, ich bin dessen
sicher. Und ich weiß, daß nur er die richtigen Worte findet, um ihn zu
trösten», sagt Johannes lächelnd.
«Es ist wahr, ich weiß es. Und
ich weiß, daß Margziam, der gute Jünger, in diesem Augenblick ein richtiges
Kind ist, das die Dinge nicht sieht, wie sie wirklich sind. Aber, mein
liebster unter allen Jüngern, denkst du nicht daran, daß ich gegangen bin, um
die im Glauben Wankenden zu stärken, um loszusprechen und gescheiterte
Existenzen aufzunehmen, um das den Schwächeren eingeflößte Gift des Zweifels
unschädlich zu machen, um denen mit Barmherzigkeit oder Strenge zu antworten,
die mich noch bekämpfen wollen, und um dort, wo man mich mit besonderer
172
Hartnäckigkeit für tot erklärt
hat, durch meine Gegenwart zu beweisen, daß ich auferstanden bin? War es denn
nötig, zu dir zu kommen, Kind, dessen Glaube, Hoffnung, Liebe, guter Wille und
Gehorsam mir bekannt sind? Zu dir für einen Augenblick, wenn ich dich doch, so
wie jetzt, noch mehrmals bei mir haben werde? Wer wird das Ostermahl mit mir
halten, wenn nicht du allein unter allen Jüngern? Siehst du diese hier? Sie
haben ihr Passahmahl gegessen, und der Geschmack des Lammes und der Kräuter,
des ungesäuerten Brotes und des Weines ist für ihre Gaumen in den
nachfolgenden Stunden zu Asche, Galle und Essig geworden. Aber ich und du,
mein Kind, wir werden unsere Ostern in Freude halten, und es wird Honig sein
und bleiben. Wer damals geweint hat, wird sich freuen. Wer sich damals gefreut
hat, kann nicht verlangen, sich noch einmal freuen zu dürfen.»
«Wahrlich, wir waren nicht sehr
glücklich an jenem Tag...» murmelt Thomas.
«Ja, unser Herz hat gezittert
...» sagt Matthäus.
«Und Verdacht und Zorn kochten in
uns, in mir wenigstens ...» sagt Thaddäus.
«Und deshalb, sagt ihr, wollt ihr
alle das zusätzliche Osterfest feiern ...»
«So ist es, Herr», sagt Petrus.
«Einmal hast du dich darüber
beklagt, daß die Jüngerinnen und dein Sohn nicht am Ostermahl teilnehmen
durften. Und nun beklagst du dich, weil die, die sich damals nicht freuen
durften, jetzt ihre Freude haben werden.»
«Es ist wahr. Ich bin ein
Sünder.»
«Und ich bin der Mitleidige. Ich
will, daß ihr alle um mich seid, nicht nur ihr allein, sondern auch die
Jüngerinnen. Lazarus wird uns noch einmal Gastfreundschaft gewähren. Ich habe
deine Töchter nicht bei uns gewollt, Philippus, und auch nicht eure Frauen,
und Myrtha, Noemi und das Mädchen, das bei ihnen ist. Auch diesen hier nicht.
Jerusalem war in jenen Tagen nicht für alle der geeignete Ort.»
«Das ist wahr! Gut, daß sie nicht
dort waren», seufzt Philippus.
«Ja, sie hätten unsere Feigheit
gesehen.»
«Schweig, Petrus. Sie ist
verziehen.»
«Ja. Aber ich habe sie meinem
Sohn bekannt und glaubte, daß er deswegen so traurig sei. Ich habe sie
bekannt, denn jedesmal wenn ich sie bekenne, ist es für mich eine
Erleichterung. Es ist, als ob eine Last von meinem Herzen genommen würde. Ich
fühle mich jedesmal mehr losgesprochen, nachdem ich mich verdemütigt habe.
Aber wenn Margziam traurig ist, weil du dich den anderen gezeigt hast...»
«Nur deshalb, aus keinem anderen
Grund, mein Vater.»
«Dann sei beruhigt! Er hat dich
geliebt und liebt dich immer noch. Du siehst es. Ich hatte es dir aber schon
gesagt wegen des zweiten Osterfestes ...»
173
«Ich fürchtete, zu ungern den
Gehorsam geleistet zu haben, den Porphyria mir in deinem Namen auferlegt
hatte, Herr, und glaubte, du hättest mich dafür bestraft. Und ich fürchtete
auch, daß ich dich nicht sehen dürfte, weil ich Judas und die, die dich
kreuzigen ließen, gehaßt habe», bekennt Margziam.
«Du sollst niemanden hassen. Ich
habe verziehen.»
«Ja, mein Herr, ich werde nicht
mehr hassen.»
«Und auch nicht mehr traurig
sein.»
«Ich werde nicht mehr traurig
sein, Herr!» Margziam, wie alle sehr jungen Menschen, ist Jesus gegenüber
weniger ängstlich als die anderen und begibt sich vertrauensvoll in seine
Arme, nun, da er sicher ist, daß Jesus ihm nicht zürnt. Er flüchtet sich
beinahe, wie ein Küchlein unter den mütterlichen Flügeln, in den Arm, der ihn
umfängt und an sich drückt, und da nun die Sorge schwindet, die ihn seit
vielen Tagen traurig und unruhig gemacht hat, schläft er selig ein.
«Er ist noch ein Kind», bemerkt
der Zelote.
«Ja, aber wie sehr hat er
gelitten! Porphyria hat es mir gesagt, als sie ihn zu uns brachte, nachdem
Joseph von Tiberias sie verständigt hatte», entgegnet Petrus. Dann sagt er zum
Meister: «Darf auch Porphyria nach Jerusalem?» Wie bittend klingt die Stimme
des Petrus!
«Alle. Ich will sie segnen, bevor
ich zu meinem Vater auffahre. Auch sie haben gedient, und oft besser als die
Männer.»
«Und zu deiner Mutter gehst du
nicht?» fragt Thaddäus.
«Wir sind beisammen.»
«Beisammen? Wann denn?»
«Judas, Judas! Glaubst du
wirklich, daß ich nun nicht bei ihr bin, da ich doch immer bei ihr Freude
gefunden habe?»
«Aber Maria ist allein in ihrem
Haus. Meine Mutter hat es mir gestern gesagt.»
Jesus lächelt und antwortet:
«Hinter den Vorhang des Allerheiligsten darf nur der Hohepriester treten.»
«Und? Was heißt das?»
«Daß es Seligkeiten gibt, die man
nicht beschreiben und bekanntmachen kann. Das will ich sagen.»
Jesus entfernt Margziam sanft von
sich und vertraut ihn den Armen des Johannes an, der ihm am nächsten sitzt. Er
steht auf und segnet sie. Und während sie kniend – mit Ausnahme des Johannes,
der den Kopf Margziams im Schoß hält – und mit gesenktem Haupt den Segen
empfangen, verschwindet er.
«Er ist wirklich wie der Blitz,
von dem er gesprochen hat», sagt Bartholomäus...
Die Apostel verbleiben
betrachtend in Erwartung des Sonnenuntergangs.
174
697. JESUS ZU DEN APOSTELN UND
JÜNGERN
Ich bin auf einem anderen, noch
dichter bewaldeten Berg, nicht weit von Nazareth, wohin eine Straße führt, die
am Fuß des Berges entlang verläuft.
Jesus heißt sie sich rings um ihn
setzen, zuvorderst die Apostel, hinter ihnen die Jünger, bzw. die von den
Zweiundsiebzig, die nicht da- und dorthin gegangen sind, sowie Zacharias und
Joseph. Margziam ist an seinem bevorzugten Platz zu Füßen Jesu.
Als alle sich gesetzt haben und
in Erwartung seiner Worte schweigen, beginnt Jesus zu sprechen.
Er sagt: «Schenkt mir eure ganze
Aufmerksamkeit, denn ich muß euch außerordentlich wichtige Dinge sagen. Ihr
werdet sie noch nicht alle verstehen oder nicht alle ganz richtig verstehen.
Aber er, der nach mir kommt, wird euch erleuchten. Hört mir also zu.
Niemand ist mehr als ihr davon
überzeugt, daß der Mensch ohne Gottes Hilfe sehr leicht sündigt, da seine
durch die Sünde geschwächte Verfassung sehr anfällig ist. Ich wäre daher ein
unkluger Erlöser, wenn ich, nachdem ich euch so viel gegeben habe, um euch zu
erlösen, euch nicht auch die Mittel geben würde, um die Früchte meines Opfers
zu bewahren. Ihr wißt, daß die Leichtigkeit zu sündigen von der Erbsünde
herrührt, die die Menschen der Gnade und daher auch ihrer Seelenstärke
beraubt: der Vereinigung mit der Gnade.
Ihr habt gesagt: "Aber du hast
doch den Menschen die Gnade wiedergegeben." Nein. Sie ist den Gerechten bis zu
meinem Tod wiedergegeben worden. Um sie den künftigen Menschen wiederzugeben,
bedarf es eines Mittels. Eines Mittels, das nicht nur ein Ritual sein wird,
sondern das alle, die es empfangen, wahrhaft zu Kindern Gottes machen wird. So
wie Adam und Eva es waren, deren von der Gnade belebte Seelen erhabene Gaben
besaßen, die Gott seinen geliebten Geschöpfen geschenkt hatte.
Ihr wißt, was der Mensch besessen
und was er verloren hat. Nun sind durch mein Opfer die Tore der Gnade wieder
geöffnet, und der Strom der Gnade kann sich über alle ergießen, die aus Liebe
zu mir darum bitten. Daher werden die Menschen die Eigenschaft haben, Kinder
Gottes zu sein durch die Verdienste des Erstgeborenen unter den Menschen,
desjenigen, der zu euch spricht, eures Erlösers und ewigen Hohenpriesters,
eures Lehrers und Bruders im gemeinsamen Vater. In Jesus Christus und durch
Jesus Christus werden die gegenwärtigen und die zukünftigen Menschen den
Himmel besitzen und sich in Gott, dem letzten Ziel des Menschen, erfreuen
können. Bis jetzt konnten auch die Gerechtesten der Gerechten dieses Ziel
nicht erreichen, obwohl sie beschnitten waren als Kinder des auserwählten
Volkes. Trotz ihrer von Gott anerkannten Tugenden und obwohl ihre Plätze im
Himmel bereit waren, war dieser doch verschlossen
175
und ihnen der Besitz Gottes
verwehrt, da auf ihren Seelen, den gesegneten Blumenbeeten aller Tugenden,
auch der verfluchte Baum der Erbsünde stand, und kein Werk, so heilig es auch
war, ihn zerstören konnte; und weil man nicht in den Himmel eingehen kann mit
den Wurzeln und dem Laub einer so schädlichen Pflanze.
Am Rüsttag verstummte das Seufzen
der Patriarchen und Propheten und aller Gerechten Israels in der Freude der
vollendeten Erlösung, und die Seelen, weißer als der Bergschnee durch ihre
Tugenden, waren nun rein von dem einzigen Makel, der sie vom Himmel trennte.
Aber das Leben auf der Welt geht weiter. Generationen kommen und gehen. Immer
neue Völker werden zu Christus kommen. Und kann Christus für jede neue
Generation sterben, um sie zu erlösen, oder für jedes Volk, das zu ihm kommt?
Nein. Christus ist einmal gestorben und wird in Ewigkeit nicht mehr sterben.
Sollen also diese Generationen, diese Völker durch mein Wort wissend werden,
aber nicht den Himmel besitzen und Gott schauen dürfen, weil sie von der
Erbsünde befleckt sind? Nein. Das wäre nicht gerecht, weder ihnen gegenüber,
deren Liebe zu mir vergeblich wäre, noch mir gegenüber, der ich dann für viel
zu wenige gestorben wäre.
Was dann? Wie kann man diese
verschiedenen Dinge in Einklang bringen? Welches neue Wunder wird Christus
wirken, der schon so viele Wunder gewirkt hat, bevor er die Welt verläßt, um
in den Himmel zurückzukehren, nachdem er die Menschen so sehr geliebt hat, daß
er sogar für sie sterben wollte? Ein Wunder hat er schon gewirkt, da er euch
sein Fleisch und Blut als stärkende und heiligende Speise und zum Gedenken an
seine Liebe gelassen und euch aufgetragen hat, zu tun, was er getan hat, zu
seinem Andenken und als heiligmachendes Mittel für die Jünger und die Jünger
der Jünger bis ans Ende der Zeiten.
Aber erinnert ihr euch, was ich
an jenem Abend getan habe, obwohl ihr äußerlich schon rein wart? Ich habe mir
ein Linnentuch umgebunden und euch die Füße gewaschen, und zu einem von euch,
der sich über diese erniedrigende Geste erregte, habe ich gesagt: "Wenn ich
dich nicht wasche, wirst du keinen Anteil an mir haben." Ihr habt nicht
verstanden, was ich damit sagen wollte, welchen Anteil ich meinte, welches
Symbol dies war. Nun, so will ich es euch sagen.
Ich habe euch nicht nur gelehrt,
daß Demut und Reinheit notwendig sind, um in das Himmelreich einzugehen und
Anteil an meinem Reich zu haben. Ich habe euch nicht nur mit Güte darauf
aufmerksam gemacht, daß Gott von einem Gerechten, der also reinen Geistes und
Verstandes ist, einzig und allein eine letzte Waschung des Teiles verlangt,
der naturgemäß selbst bei den Gerechten am leichtesten verunreinigt wird, und
sei es auch nur durch den Staub, den das notwendige Zusammenleben mit den
Menschen auf den reinen Gliedern, dem Fleisch hinterläßt, sondern ich habe
euch noch auf etwas anderes hingewiesen. Ich habe euch die
176
Füße gewaschen, den untersten
Teil des Körpers, der durch Schlamm und Staub, vielleicht auch durch Schmutz
geht, und habe damit das Fleisch gemeint, den materiellen Teil des Menschen,
der immer – außer bei denen, die durch das Wirken Gottes oder die göttliche
Natur frei sind vom Makel der Erbsünde – Unvollkommenheiten aufweist. Sie sind
manchmal so klein, daß nur Gott sie sieht; trotzdem muß man über sie wachen,
damit sie nicht wachsen und zur Gewohnheit werden, und man muß sie bekämpfen,
um sie auszurotten.
Ich habe euch also die Füße
gewaschen. Wann? Bevor ich das Brot gebrochen und es mit dem Wein in mein
Fleisch und mein Blut verwandelt habe. Denn ich bin das Lamm Gottes und kann
nicht dorthin kommen, wo Satan seine Spuren hinterlassen hat. Deshalb habe ich
euch zuvor gewaschen. Dann habe ich mich euch geschenkt. Auch ihr werdet durch
die Taufe jene waschen, die zu mir kommen, damit sie nicht unwürdig meinen
Leib empfangen und dies für sie nicht zum furchtbaren Todesurteil werde.
Ihr seid bestürzt. Ihr seht
einander an. Eure Blicke fragen: "Und Judas?" Ich sage euch: "Judas hat seinen
Tod gegessen." Dieser höchste Akt der Liebe hat sein Herz nicht berührt. Der
letzte Versuch seines Meisters ist am Stein seines Herzens abgeprallt, und
dieser Stein trug anstelle des Taus das furchtbare Siegel Satans eingemeißelt,
das Zeichen des Tieres.
Ich habe euch also gewaschen,
bevor ich euch zum eucharistischen Mahl zugelassen und das Bekenntnis eurer
Sünden entgegengenommen habe, bevor ich euch den Heiligen Geist eingegossen
und euch damit als wahre Christen in der Gnade und als meine Priester
bestätigt habe.
Und so soll es auch mit allen
anderen geschehen, die ihr auf das christliche Leben vorbereiten werdet.
Tauft mit Wasser im Namen des
Einen und Dreieinen und in meinem Namen, damit durch meine unendlichen
Verdienste die Erbschuld in den Herzen getilgt, die Sünden vergeben, die Gnade
und die heiligen Tugenden eingegossen werden und der Heilige Geist herabkommen
und Wohnung nehmen kann in den geweihten Tempeln, die die Leiber der in der
Gnade des Herrn lebenden Menschen sein werden. War das Wasser notwendig, um
die Sünde zu tilgen? Das Wasser berührt die Seele nicht, nein. Aber ein nicht
stoffliches Zeichen sieht der Mensch nicht, der in allen seinen Werken so auf
die Materie bezogen ist. Auch ohne sichtbares Zeichen hätte ich das Leben
eingießen können.
Aber wer hätte es dann geglaubt?
Wie viele Menschen können unerschütterlich glauben, auch wenn sie nicht sehen?
Nehmt daher vom alten mosaischen Gesetz das reinigende Wasser, mit dem man die
Unreinen wäscht, um sie, nachdem sie sich an einem Leichnam verunreinigt
haben, wieder zu den Versammlungen zulassen zu können. In Wahrheit ist jeder
Mensch, der geboren wird, verunreinigt, da er mit einer der Gnade gestorbenen
Seele in Berührung kommt. Er muß also mit dem reinigenden
177
Wasser von der unreinen Berührung
gereinigt werden, um würdig zu werden, in den ewigen Tempel einzutreten.
Haltet das Wasser in Ehren... Nachdem ich gesühnt und durch dreiunddreißig
Jahre mühsamen Lebens, das in der Passion seinen Höhepunkt erreichte, erlöst
hatte, nachdem ich mein ganzes Blut für die Sünden der Menschen gegeben hatte,
flossen aus dem ausgebluteten und verbrauchten Leib des Märtyrers die
heilsamen Wasser, die die Erbsünde abwaschen. Mit dem vollbrachten Opfer habe
ich euch von diesem Makel erlöst. Wäre ich an der Schwelle des Lebens durch
eines meiner göttlichen Wunder vom Kreuz gestiegen, wahrlich, ich sage euch,
durch das vergossene Blut hätte ich euch von euren Sünden gereinigt, aber
nicht von der Erbschuld. Für sie war das bis zum Ende vollbrachte Opfer
notwendig. Wahrlich, die heilsamen Wasser, von denen Ezechiel spricht, sind
aus dieser meiner Seitenwunde geflossen. Versenkt eure Seelen in dieses
Wasser, damit sie makellos daraus hervorgehen, um den Heiligen Geist zu
empfangen. Er wird im Gedenken an den Hauch, durch den der Schöpfer Adam eine
Seele gab und ihn damit zu seinem Bild und Gleichnis machte, wieder in den
Seelen der erlösten Menschen atmen und wohnen.
Tauft mit meiner Taufe, aber im
Namen des dreieinigen Gottes; denn in Wahrheit sage ich euch, hätte der Vater
nicht gewollt und der Geist nicht mitgewirkt, wäre das Wort nicht Fleisch
geworden und es hätte keine Erlösung gegeben. Daher ist es gerecht und
geziemend, daß der Mensch in der Taufe das Leben durch jene empfängt, die
ihren Willen vereint haben, um es ihm zu geben: der Vater, der Sohn und der
Heilige Geist, und daß der Getaufte von mir den Namen Christ empfängt, um
diesen Ritus von den anderen in der Vergangenheit und in der Zukunft zu
unterscheiden, die zwar Riten sind, aber dem unsterblichen Teil kein
unauslöschliches Zeichen aufprägen.
Und nehmt das Brot und den Wein,
so wie ich es getan habe, und segnet, teilt und verteilt sie in meinem Namen;
und die Christen sollen sich an mir sättigen. Brot und Wein opfert dem Vater
im Himmel und verzehrt sie dann zum Gedächtnis des Opfers, das ich zu eurem
Heil dargebracht und am Kreuz vollbracht habe. Ich, Priester und Opfer, habe
mich selbst geopfert und verzehrt, da kein anderer, wenn ich nicht gewollt
hätte, mich hätte opfern können. Ihr, meine Priester, sollt dies zu meinem
Gedächtnis tun, damit die unerschöpflichen Schätze meines Opfers flehend zu
Gott aufsteigen und wohltuend auf jene herabkommen, die mit festem Glauben
darum bitten.
Mit festem Glauben, sage ich. Es
ist keine Wissenschaft nötig, um an der eucharistischen Speise und dem
eucharistischen Opfer teilzuhaben. Nur Glaube! Der Glaube daran, daß das Brot
und der Wein, die einer, der von mir oder von denen, die nach mir kommen,
bevollmächtigt ist – ihr, du, Petrus, neuer Pontifex der neuen Kirche, du,
Jakobus des Alphäus,
178
du, Johannes, du, Andreas, du,
Simon, du, Philippus, du, Bartholomäus, du, Thomas, du, Judas Thaddäus, du,
Matthäus, du, Jakobus des Zebedäus – in meinem Namen segnet, mein wahrer Leib
und mein wahres Blut sind; daß, wer sie zur Speise und zum Trank erhält, mich
mit Fleisch und Blut, Seele und Gottheit empfängt; daß wer mich aufopfert,
wirklich Jesus Christus opfert, so wie er sich für die Sünden der Welt
geopfert hat. Ein Kind oder ein Unwissender kann mich ebenso empfangen wie ein
Gelehrter oder ein Erwachsener. Und ein Kind und ein Unwissender werden den
gleichen Nutzen von dem dargebrachten Opfer haben, wie jeder von euch ihn hat.
Es genügt, daß sie glauben und die Gnade des Herrn besitzen.
Aber ihr werdet noch eine neue
Taufe empfangen: die Taufe des Heiligen Geistes. Ich habe ihn euch
versprochen, und er wird euch gegeben werden. Der Heilige Geist selbst wird
auf euch herabkommen. Ich werde euch sagen, wann. Und ihr werdet von ihm
erfüllt sein, in der Fülle der priesterlichen Gaben. Ihr werdet daher den
Heiligen Geist, von dem ihr erfüllt sein werdet, weitergeben können, wie ich
es bei euch getan habe, um die Christen in der Gnade zu festigen und ihnen die
Gaben des Paraklet zu übermitteln. Das königliche Sakrament, das dem der
Priesterweihe nur wenig nachsteht, soll feierlich wie die mosaischen Weihen
durch Auflegung der Hände und Salbung mit duftendem Öl, wie man es früher zur
Weihe der Priester gebraucht hat, gespendet werden. Nein, schaut mich nicht so
erschrocken an! Ich sage keine sakrilegischen Worte. Ich lehre euch kein
sakrilegisches Werk! Die Würde des Christen ist, ich wiederhole es, nur wenig
geringer als die des Priesters.
Wo leben die Priester? Im Tempel.
Und ein Christ wird ein lebendiger Tempel sein. Was tun die Priester? Sie
dienen Gott durch Gebet, Opfer und Sorge um die Gläubigen. So wenigstens hätte
es sein sollen... Und der Christ dient Gott durch Gebet, Opfer und brüderliche
Liebe. Und ihr werdet das Bekenntnis der Sünden anhören, wie ich eure und die
Sünden vieler angehört und verziehen habe, wenn ich wahre Reue gesehen habe.
Ihr seid beunruhigt? Warum?
Fürchtet ihr, nicht unterscheiden zu können? Ich habe schon mehrmals über die
Sünde und über die Beurteilung der Sünde gesprochen. Aber denkt daran, daß ihr
bei eurer Beurteilung auf die sieben Bedingungen achten müßt, die etwas Sünde
sein lassen oder nicht, und Sünde von unterschiedlicher Schwere. Ich fasse
zusammen: Wann und wie oft wurde gesündigt; wer hat gesündigt; mit wem; womit;
welches war der Gegenstand der Sünde; welches die Ursache; warum wurde
gesündigt.
Habt keine Angst. Der Heilige
Geist wird euch beistehen. Worum ich euch aus ganzem Herzen bitte, ist, daß
ihr ein heiliges Leben führt. Dieses wird das übernatürliche Licht in euch so
sehr vermehren, daß ihr, ohne zu irren, in den Herzen der Menschen lesen und
mit Liebe oder Autorität zu den Sündern sprechen könnt, die sich scheuen, ihre
Schuld aufzudecken
179
oder sich weigern, sie zu
bekennen und den Zustand ihrer Seele zu offenbaren; daß ihr den Schüchternen
helfen und die Unbußfertigen demütigen könnt. Denkt daran, daß die Erde den,
der vergibt, verliert und ihr sein sollt, was ich gewesen bin: gerecht,
geduldig und barmherzig, aber nicht schwach. Ich habe euch gesagt: Alles, was
ihr auf Erden binden werdet, wird auch im Himmel gebunden sein, und was ihr
auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein. Deshalb sollt ihr mit
angemessener Überlegung jeden Menschen beurteilen, ohne euch von Zuneigung
oder Abneigung, von Geschenken oder Drohungen beeinflussen zu lassen,
unparteiisch in allem und gegenüber allen, wie Gott es ist, indem ihr auch die
Schwächen des Menschen und die Nachstellungen seiner Feinde berücksichtigt.
Ich erinnere euch daran, daß Gott
es manchmal zuläßt, daß auch seine Auserwählten zu Fall kommen, nicht weil es
ihm gefällt, sie fallen zu sehen, sondern weil aus einem Fall ein künftiges,
größeres Gut hervorgehen kann. Reicht daher dem Gefallenen die Hand, denn ihr
wißt nicht, ob dieser Fall nicht die entscheidende Krise eines Übels ist, das
für immer stirbt, und eine Reinigung des Blutes bewirkt, die zur Heilung
führt, hier also zur Heiligkeit. Seid jedoch streng mit denen, die keine
Achtung vor meinem Blut haben und sich mit der kaum im göttlichen Bad
gereinigten Seele wieder und wieder in den Schlamm werfen. Verflucht sie
nicht, aber seid streng mit ihnen. Redet ihnen zu, ermahnt sie siebzigmal
siebenmal und greift nur dann zum letzten Mittel, der Ausschließung aus dem
erwählten Volk, wenn sie hartnäckig in einer Sünde verharren, die den Brüdern
Ärgernis gibt und euch zwingt zu handeln, um nicht mitschuldig an ihren Taten
zu werden. Denkt an meine Worte: "Wenn dein Bruder gesündigt hat, dann stelle
ihn unter vier Augen zur Rede. Schenkt er dir kein Gehör, dann stelle ihn in
Gegenwart von zwei oder drei Zeugen zur Rede. Genügt dies nicht, so sage es
der Kirche. Hört er aber selbst auf diese nicht, so gelte er dir wie ein Heide
und Zöllner."
In der mosaischen Religion ist
die Ehe ein Vertrag. In der neuen christlichen Religion soll die Ehe ein
heiliger und unauflöslicher Akt sein, auf den die Gnade des Herrn herabsteigt,
um aus den Eheleuten zwei Diener Gottes bei der Vermehrung des
Menschengeschlechtes zu machen. Versucht von Anfang an, dem der neuen Religion
angehörigen Gatten zu raten, den anderen zu bekehren, der noch nicht zu den
Gläubigen gehört, damit er sich ihnen anschließt und so die schmerzlichen
Meinungsverschiedenheiten vermieden werden, die den Frieden stören, wie wir es
auch unter uns beobachtet haben. Doch wenn es sich um Gläubige im Herrn
handelt, dann darf unter keinen Umständen getrennt werden, was Gott verbunden
hat. Bei einer Mischehe zwischen Christen und Heiden rate ich, daß der
christliche Teil sein Kreuz mit Geduld und Sanftmut und auch mit Stärke trage
und sogar bereit sei zu sterben, um seinen Glauben
180
zu bewahren; aber er darf den
Gatten nicht verlassen, mit dem er sich in vollem Einverständnis verbunden
hat. Dies ist mein Rat für ein vollkommenes Leben im Ehestand, solange es
wegen der geringen Verbreitung des Christentums noch nicht möglich ist, Ehen
unter Gläubigen zu schließen. Danach wird die Bindung heilig und unauflöslich
sein und heilig die Liebe.
Es wäre schlimm, wenn wegen der
Härte der Herzen auch im neuen Glauben geschehen würde, was im alten geschehen
ist: wenn man sich erlauben würde, zu verstoßen und aufzulösen, um Skandale zu
vermeiden, die durch die Sittenlosigkeit der Menschen hervorgerufen werden.
Wahrlich, ich sage euch, jeder soll das Kreuz seines Standes tragen, auch das
des Ehestandes. Und wahrlich, ebenso sage ich euch, keinerlei Druck darf eure
Autorität hindern zu sagen: "Es ist nicht erlaubt", wenn jemand eine neue Ehe
eingehen will, bevor der andere Gatte gestorben ist. Es ist besser, sage ich
euch, wenn sich ein verfaulter Teil abtrennt, allein oder gefolgt von anderen,
als wenn man, um ihn in der Kirche zurückzuhalten, etwas erlaubt, was der
Heiligkeit der Ehe entgegensteht, den Demütigen zum Ärgernis gereicht und
Anlaß zu negativen Betrachtungen über die Integrität der Priester und über den
Wert von Reichtum und Macht gibt. Die Eheschließung ist ein schwerwiegender
und heiliger Akt. Und um dies zu bestätigen, habe ich an einer Hochzeit
teilgenommen und dort das erste Wunder gewirkt. Doch wehe, wenn die Ehe zu
Lüsternheit und Laune entartet. Die Ehe, der natürliche Vertrag zwischen Mann
und Frau, soll von nun an zu einem geistigen Vertrag werden, bei dem die
Seelen von zweien, die sich lieben, schwören, dem Herrn in gegenseitiger Liebe
zu dienen, ihm diese Liebe aufzuopfern und ihm Kinder zu schenken im Gehorsam
gegen sein Gebot, sich zu mehren.
Und weiter... Jakobus, erinnerst
du dich an die Rede auf dem Karmel? Schon damals habe ich davon gesprochen.
Aber die anderen wissen es nicht... Ihr habt gesehen, wie Maria des Lazarus
meine Glieder gesalbt hat beim Sabbatmahl in Bethanien. Ich habe euch damals
gesagt: "Sie hat mich für mein Begräbnis vorbereitet." Wahrlich, sie hat es
getan. Nicht für das eigentliche Begräbnis, weil sie diesen Schmerz noch in
weiter Ferne glaubte. Vielmehr wollte sie meine Glieder salben und reinigen
von aller Unreinheit der Wege, damit ich im Duft des balsamischen Öls meinen
Thron besteigen könnte. Das Leben des Menschen ist ein Weg. Der Eintritt des
Menschen ins andere Leben müßte der Eintritt ins Reich sein. Jeder König wird
gesalbt und parfümiert, bevor er seinen Thron besteigt und sich seinem Volk
zeigt. Auch der Christ ist der Sohn eines Königs, der seinen Weg geht zu dem
Reich, in das ihn der Vater ruft. Der Tod des Christen ist nur der Übergang
ins Reich, um den Thron zu besteigen, den der Vater ihm bereitet hat. Der Tod
hat keine Schrecken für den, der Gott nicht zu fürchten braucht, da er sich in
seiner Gnade weiß. Doch das
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Gewand dessen, der zum Thron
aufsteigt, soll rein sein von allem Schmutz, damit er es rein bewahre für die
Auferstehung, und der Geist soll geläutert sein, damit er erstrahle auf dem
Thron, den der Vater ihm bereitet hat, und die Würde widerspiegle, die dem
Sohn eines so großen Königs geziemt.
Vermehrung der Gnade, Tilgung der
Sünden, die der Mensch bereut, Erweckerin brennenden Verlangens nach dem
Guten, Kraftspenderin für den letzten Kampf, das möge die Salbung für die
sterbenden Christen sein; vielmehr für die Christen, die geboren werden, denn
in Wahrheit sage ich euch, wer im Herrn stirbt, wird zum ewigen Leben geboren.
Wiederholt die Geste Marias an
den Gliedern der Erwählten. Niemand soll sich darüber erhaben erachten. Ich
habe diesen Balsam angenommen von einer Frau. Jeder Christ soll sich geehrt
fühlen durch diese hohe Gnade seitens der Kirche, deren Kind er ist, und sie
vom Priester annehmen, um sich von seinen letzten Makeln zu reinigen. Jeder
Priester soll sich freuen, diesen Liebesakt Marias gegenüber dem leidenden
Christus am Leib des sterbenden Bruders vorzunehmen. Wahrlich, ich sage euch,
was ihr damals an mir nicht getan habt, als ihr euch von einer Frau habt
übertreffen lassen, und woran ihr nun schmerzerfüllt denkt, das könnt ihr in
Zukunft tun, sooft ihr euch mit Liebe über einen sterbenden Menschen neigt, um
ihn auf die Begegnung mit Gott vorzubereiten. Ich bin in den Bettlern und in
den Sterbenden, in den Pilgern, in den Waisen, den Witwen und den Gefangenen,
in den Hungernden und Frierenden, in allen, die traurig oder müde sind. Ich
bin in allen Gliedern meines mystischen Leibes, der die Vereinigung meiner
Gläubigen ist. Liebt mich in ihnen, und ihr werdet euren häufigen Mangel an
Liebe wiedergutmachen, mir große Freude bereiten und euch selbst große Ehre
machen.
Endlich müßt ihr bedenken, daß
die Welt, das Alter, die Krankheiten, die Zeit, die Verfolgungen sich gegen
euch verschwören. Geht daher nicht geizig und unklug um mit dem, was ihr
empfangen habt. Übertragt also in meinem Namen das Priesteramt auf die besten
der Jünger, damit die Welt nicht ohne Priester sei. Zu diesem heiligen Stand
sollt ihr jemanden erst zulassen, nachdem ihr genau die Werke und nicht nur
die Worte dessen geprüft habt, der Priester werden will oder den ihr für
geeignet haltet für diese Aufgabe. Denkt daran, was ein Priester ist. An das
Gute, das er tun kann, aber auch an das Böse, das er tun kann. Ihr habt ein
Beispiel dafür, was aus einem Priester werden kann, der seine Heiligkeit
verliert. Wahrlich, ich sage euch, wegen der Sünden des Tempels wird diese
Nation zerstreut werden. Aber ebenso sage ich euch, wahrlich, auch die Erde
wird zerstört werden, wenn der Greuel der Verwüstung in das neue Priestertum
eindringen und die Menschen zum Abfall verleiten wird, die sich dann Lehren
der Hölle zuwenden werden. Dann wird der Sohn Satans aufstehen, und die Völker
werden in furchtbarem Schrecken erzittern. Wenige
182
nur werden dem Herrn treu
bleiben. Und dann wird unter Konvulsionen und Entsetzen, nach dem Sieg Gottes
und seiner wenigen Auserwählten, das Ende kommen und der Zorn Gottes über alle
Verdammten. Wehe, dreimal wehe, wenn für diese wenigen nicht noch Heilige,
letzte Säulen des Tempels Christi, auf Erden sein werden. Wehe, dreimal wehe,
wenn es keine wahren Priester mehr geben wird, um die letzten Christen zu
trösten, so wie es sie für die ersten Christen geben wird. Wahrlich, die
letzte Verfolgung wird furchtbar sein, da es keine Verfolgung durch Menschen,
sondern durch die Söhne Satans und ihre Anhänger sein wird. Priester? Mehr als
Priester werden jene der letzten Stunde sein müssen, so furchtbar wird die
Verfolgung durch die Horden des Antichrist sein. Gleich dem in Linnen
gekleideten Mann, der so heilig ist, daß er an der Seite des Herrn steht in
der Vision des Ezechiel, müssen sie unermüdlich in ihrer Vollkommenheit ein
Tau auf die Seelen der wenigen Gläubigen zeichnen, damit die Flammen der Hölle
diese Zeichen nicht auslöschen. Priester? Engel! Engel, die das mit dem
Weihrauch ihrer Tugenden gefüllte Weihrauchfaß schwingen, um die Luft von den
Miasmen Satans zu reinigen. Engel? Mehr als Engel: andere Christusse, andere
Ich, damit die Gläubigen der letzten Zeit ausharren können bis ans Ende.
Das werden sie sein müssen. Doch
das künftige Gute und Böse hat seine Wurzel in der Gegenwart. Die Lawinen
beginnen mit einer Schneeflocke. Ein unreiner, unwürdiger, häretischer,
untreuer, ungläubiger, lauer oder kalter, erloschener, kraftloser, unzüchtiger
Priester verursacht hundertmal mehr Schaden als ein einfacher Gläubiger, der
dieselben Sünden begeht, und zieht viele andere nach sich in die Sünde. Die
Nachlässigkeit im Priesteramt, die Annahme unreiner Uhren, der Egoismus, die
Gier und die Unzucht im Priesterstand, ihr wißt, wo sie enden: im Gottesmord.
Der Sohn Gottes kann zwar nicht mehr getötet werden in späteren Jahrhunderten,
aber der Glaube an Gott, die Vorstellung von Gott. Und so wird ein Gottesmord
begangen, der noch viel weniger gutzumachen ist, da keine Auferstehung folgt.
Oh, man kann ihn begehen, ja. Ich sehe... Man wird ihn begehen können wegen
der vielen Judasse von Kerioth der künftigen Jahrhunderte. Schrecklich... !
Meine durch die eigenen Priester
aus den Angeln gehobene Kirche! Ich stütze sie mit Hilfe der Sühnopfer. Und
sie, die Priester, die nur das Gewand, aber nicht die Seele des Priesters
haben, tragen dazu bei, die von der höllischen Schlange aufgerührten Wellen
noch höher gegen dein Schiff schlagen zu lassen, o Petrus. Steh auf! Erhebe
dich! Übermittle diesen Befehl deinen Nachfolgern: "Hand ans Steuer! Stoße die
Schiffbrüchigen zurück, die Schiffbruch erleiden wollten und auch das Schiff
Gottes versenken wollen." Bestrafe, aber rette, und fahre weiter. Sei streng,
denn die Strafe für die Piraten ist gerecht. Verteidige den Schatz des
Glaubens. Halte hoch die Lampe über die aufgebrachten Wellen wie
183
einen Leuchtturm, damit alle, die
deinem Schiff folgen, sehen und nicht untergehen. Hirte und Seemann dieser
furchtbaren Zeiten, sammle, leite und halte mein Evangelium hoch, denn in ihm
und in keiner anderen Wissenschaft liegt das Heil. Es werden Zeiten kommen, in
denen die Priester – wie es in Israel geschehen ist, und noch schlimmer –
glauben werden, die bevorzugte Klasse zu sein, weil sie das Überflüssige
kennen und nicht mehr das Unentbehrliche; oder weil sie es nur in der toten
Form kennen, in der heute die Priester das Gesetz kennen: in ihrem übertrieben
mit Fransen behängten Gewand, aber nicht in seinem Geist. Es werden Zeiten
kommen, in denen alle Bücher das Buch ersetzen werden, und dieses wird so
gebraucht werden, wie wenn man einen Gegenstand zwangsweise benützen muß und
ihn mechanisch handhabt; ebenso wie ein Bauer pflügt, sät und erntet, ohne
sich Gedanken zu machen über die wunderbare Vorsehung hinter der jährlich sich
erneuernden Vervielfältigung des Samens: Ein Same wird in die vorbereitete
Erde gestreut und dann durch die väterliche Liebe Gottes zum Halm, zur Ähre
und zu Mehl und Brot. Wer von denen, die ein Stück Brot essen, erhebt denn
seinen Geist zu dem, der den ersten Samen geschaffen hat und ihn seit
Jahrhunderten aufgehen und wachsen läßt, der den Regen und die Wärme richtig
bemißt, damit der Same keimt, wächst und reift und nicht verfault oder
vertrocknet?
So wird die Zeit kommen, in der
das Evangelium wissenschaftlich gut, geistig aber schlecht gelehrt werden
wird. Was aber ist die Wissenschaft, wenn die Weisheit fehlt? Stroh ist sie!
Stroh, das aufbläht und nicht nährt. Wahrlich, ich sage euch, eine Zeit wird
kommen, in der viele Priester aufgeblasenen Strohköpfen, hochmütigen
Strohhaufen gleichen, die sich in ihrem Stolz noch damit brüsten, so
aufgeblasen zu sein, als hätten sie selbst alle die Ähren gemacht, die einst
das Stroh schmückten, als seien diese Ähren noch an den Strohhalmen. Sie
werden glauben, alles zu sein, weil sie statt einer Handvoll Körner, der
wahren Nahrung, dem Geist des Evangeliums, all dieses Stroh haben. Einen
Haufen! Einen ganzen Haufen! Aber kann das Stroh genügen? Nicht einmal für den
Bauch des Lasttieres genügt es, und wenn der Besitzer es nicht mit Hafer und
frischem Gras stärkt, dann erkrankt das nur mit Stroh gefütterte Tier.
Und doch sage ich euch, eine Zeit
wird kommen, in der die Priester, die vergessen haben, daß ich die Seelen mit
wenigen Ähren die Wahrheit gelehrt habe, und die auch vergessen haben, was
ihrem Herrn dieses wahre Brot des Geistes gekostet hat, das ganz und
ausschließlich von der göttlichen Weisheit stammt und verkündet wurde durch
das Wort Gottes -eine Lehre von würdigem Inhalt, unermüdlich wiederholt, damit
die gesagten Wahrheiten nicht verlorengehen, demütig in der Form, ohne Flitter
menschlicher Wissenschaft, ohne historische und geographische Ergänzungen –
die Priester also werden sich nicht mehr um den Geist des Evangeliums kümmern,
sondern um das Gewand, in das man es kleidet,
184
um der Menge zu zeigen, wieviel
sie wissen; und der Geist des Evangeliums wird ihnen verlorengehen und unter
einer Lawine menschlicher Wissenschaften begraben werden. Wenn sie ihn aber
selbst nicht haben, wie können sie ihn dann vermitteln? Was werden die
aufgeblasenen Strohköpfe den Menschen geben? Stroh! Wird dieses die Seelen der
Gläubigen nähren? Gerade genug, um ein kümmerliches Leben zu fristen. Welche
Früchte wird diese Belehrung und diese unvollkommene Kenntnis des Evangeliums
reifen lassen? Das Erkalten der Herzen und das Ersetzen der einzigen, wahren
Lehre durch häretische Lehren, durch Lehren und Ideen, die noch mehr als
häretisch sind, die Vorbereitung der Erde auf das Tier, auf sein flüchtiges
Reich der Kälte, der Finsternis und des Schreckens. Wahrlich, ich sage euch,
so wie der Vater und Schöpfer die Sterne vermehrt, damit der Himmel sich nicht
entvölkert durch jene, die erlöschen, weil ihre Zeit abgelaufen ist, ebenso
werde ich hundert- und tausendmal Jünger evangelisieren müssen, die ich im
Laufe der Jahrhunderte unter die Menschen senden werde. Und in Wahrheit sage
ich euch, ihr Schicksal wird dem meinen gleichen: Die Synagoge und die Stolzen
werden sie verfolgen, wie sie mich verfolgt haben. Doch wie ich werden auch
sie ihren Lohn haben: den Willen Gottes zu tun und ihm zu dienen bis zum Tod
am Kreuz, auf daß seine Herrlichkeit erstrahle und seine Gegenwart in den
Seelen nicht ende.
Aber du, Oberhirte, und ihr,
Hirten, ihr und eure Nachfolger wacht, damit der Geist des Evangeliums nicht
verloren gehe, und bittet unermüdlich den Heiligen Geist, daß sich das
Pfingstfest fortwährend in euch erneuere – noch wißt ihr nicht, was ich damit
meine, aber bald werdet ihr es wissen – damit ihr alle Sprachen verstehen und
meine Worte unterscheiden könnt von den Stimmen des Affen Gottes, von den
Stimmen Satans. Laßt meine künftigen Worte nicht ins Leere fallen. Jedes
meiner Worte ist Barmherzigkeit für euch, zu eurer Hilfe, und noch zahlreicher
werden meine Worte sein, wenn ich aus göttlichen Gründen sehe, daß das
Christentum sie braucht, um die Stürme der Zeiten zu überdauern.
Hirte und Seemann, Petrus! Hirte
und Seemann. Es wird eines Tages nicht mehr genügen, Hirte zu sein, wenn du
nicht Seemann bist, und Seemann zu sein, wenn du nicht Hirte bist. Du wirst
beides gleichzeitig sein müssen, um die Lämmer beisammenzuhalten, die
höllische Fangarme und grausame Krallen dir zu entreißen suchen oder mit der
trügerischen Musik falscher Versprechungen zu verführen trachten, und um das
Schiff vorwärtszubringen, das von allen Winden aus Norden und Süden, aus Osten
und Westen erfaßt, von den Mächten der Tiefe geschüttelt und hin und
hergerissen, von den Pfeilen der Bogenschützen des Tieres getroffen, vom Hauch
des Drachen versengt wird und dessen Bordwände sein Schwanz zertrümmert, so
daß die Unvorsichtigen verbrennen, in die tobenden Wellen stürzen und umkommen
werden.
185
Hirte und Seemann in furchtbaren
Zeiten... Dein Kompaß sei das Evangelium. In ihm ist das Leben und das Heil.
Und alles steht in ihm geschrieben. Jeder Artikel des heiligen Gesetzbuches,
jede Antwort auf die vielfältigen Fragen bezüglich der Seele ist in ihm
enthalten. Und sorge dafür, daß Priester und Gläubige nicht davon abweichen.
Sorge dafür, daß keine Zweifel daran aufkommen, daß nichts verändert, nichts
ersetzt wird durch Sophistereien. Das Evangelium bin ich selbst. Von der
Geburt bis zum Tod. Im Evangelium ist Gott. Denn in ihm offenbaren sich die
Werke des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Das Evangelium ist
Liebe. Ich habe gesagt: "Mein Wort ist Leben." Ich habe gesagt: "Gott ist die
Liebe." Daher sollen die Völker mein Wort kennen und Liebe, also Gott, in sich
haben, um das Reich Gottes zu besitzen. Denn wer nicht in Gott ist, der hat
das Leben nicht in sich. Und wer das Wort des Vaters nicht aufnimmt, kann
nicht eins sein mit dem Vater, mit mir und mit dem Heiligen Geist im Himmel,
und er kann auch nicht zu dem einen Schafstall gehören, der so heilig ist, wie
ich es will. Er wird keine Rebe am Weinstock sein, denn wer mein Wort ganz
oder teilweise ablehnt, ist ein Glied, durch das der Saft des Lebens nicht
mehr fließt. Mein Wort ist der Saft, der nährt, wachsen und Früchte bringen
läßt.
All dies sollt ihr zum Gedächtnis
an mich, der ich euch unterwiesen habe, tun. Vieles hätte ich euch noch
darüber zu sagen. Doch ich habe nur den Samen ausgeworfen. Der Heilige Geist
wird ihn in euch zum Keimen bringen. Ich wollte euch den Samen geben, weil ich
eure Herzen kenne und weiß, wie euch geistige, übernatürliche Befehle
schwanken lassen würden. Die Angst vor einer Täuschung würde euren ganzen
Willen lähmen. Daher habe ich als erster mit euch über alle diese Dinge
gesprochen. Später wird der Paraklet euch an meine Worte erinnern und sie im
einzelnen erläutern. Und ihr werdet euch nicht mehr fürchten, denn ihr werdet
euch daran erinnern, daß der erste Same von mir ausgeworfen wurde. Laßt euch
vom Heiligen Geist leiten. Wenn meine Hand sanft gewesen ist, als ich euch
geleitet habe, so wird sein Licht noch sanfter sein. Er ist die Liebe Gottes.
So kann ich nun beruhigt gehen, denn ich weiß, daß er meinen Platz einnehmen
und euch zur Erkenntnis Gottes führen wird. Noch kennt ihr ihn nicht, obgleich
ich euch so viel über ihn gesagt habe. Aber es ist nicht eure Schuld. Ihr habt
alles getan, um mich zu verstehen, und ihr seid daher gerechtfertigt, auch
wenn ihr in diesen drei Jahren wenig verstanden habt. Das Fehlen der Gnade hat
euren Geist verdunkelt. Auch jetzt versteht ihr wenig, obwohl die Gnade Gottes
von meinem Kreuz auf euch herabgekommen ist. Ihr braucht das Feuer. Einmal
habe ich zu einem von euch darüber gesprochen, als wir am Ufer des Jordan
entlanggingen. Nun ist die Stunde gekommen. Ich kehre zu meinem Vater zurück,
lasse euch aber nicht allein; denn ich lasse euch die Eucharistie, also euren
Jesus, der zur Speise für die Menschen geworden ist. Und ich lasse
186
euch den Freund, den Paraklet. Er
wird euch leiten. Ich führe eure Seelen aus meinem Licht in sein Licht, und er
wird eure Bildung vollenden.»
«Willst du uns jetzt verlassen?
Hier? Auf diesem Berg?» Sie sind alle untröstlich.
«Nein, noch nicht. Aber die Zeit
fliegt, und bald wird der Augenblick gekommen sein.»
«Oh, laß mich nicht ohne dich auf
der Erde zurück, Herr! Ich habe dich geliebt von deiner Geburt bis zu deinem
Tod, von deinem Tod bis zu deiner Auferstehung, und immer. Aber es wäre zu
traurig, wenn ich dich nicht mehr unter uns wüßte! Du hast das Gebet des
Vaters des Elisäus erhört. Du hast so viele erhört. Erhöre auch mein Gebet,
Herr!» fleht Isaak auf den Knien mit ausgestreckten Armen.
«Das Leben, das noch vor dir
liegen könnte, wäre, mich zu verkündigen, vielleicht auch die Ehre des
Martyriums. Du hast es verstanden, aus Liebe zu mir Märtyrer zu sein, als ich
noch ein Kind war, und fürchtest nun, es für mich zu sein, da ich verherrlicht
bin?»
«Meine Ehre wäre es, dir zu
folgen, Herr. Ich bin arm und töricht. Alles, was ich zu geben hatte, habe ich
mit gutem Willen gegeben. Nun möchte ich nur noch eines: dir folgen. Doch es
soll geschehen, wie du willst, nun und immer.»
Jesus legt seine Hand auf das
Haupt des Isaak und läßt sie dort lange und liebevoll liegen, während er sich
an alle wendet und sagt: «Habt ihr keine Fragen? Dies sind meine letzten
Belehrungen. Sprecht zu eurem Meister... Seht ihr, wie die Kleinen Zutrauen zu
mir haben?»
Tatsächlich hat Margziam auch
heute seinen Kopf an Jesus gelehnt und schmiegt sich ganz an ihn, und Isaak
hat sich nicht gescheut, seinen Wunsch auszusprechen.
«Wahrlich... Ja... Wir haben
viele Fragen ...» sagt Petrus.
«Dann fragt.»
«Nun... Gestern abend, nachdem du
uns verlassen hattest, haben wir miteinander gesprochen über alles, was du uns
gesagt hast. Und nun drängen sich uns neue Fragen auf hinsichtlich deiner
Worte. Gestern, und auch heute, wenn man es recht bedenkt, hast du so
gesprochen, als ob schon bald Häresien und Spaltungen entstehen würden. Das
läßt uns denken, daß wir sehr vorsichtig denen gegenüber sein müssen, die zu
uns kommen wollen. Denn gewiß wird unter ihnen der Same der Häresie und der
Spaltung sein.»
«Glaubst du das? Ist denn Israel
nicht schon gespalten, da ein Teil zu mir gekommen ist? Was du sagen willst,
ist, daß das Israel, das mich geliebt hat, niemals häretisch und gespalten
sein wird. Nicht wahr? Aber war es denn jemals einig in allen Jahrhunderten,
selbst in seiner alten Form? Und war es etwa einig in meiner Nachfolge?
Wahrlich, ich sage euch, die Wurzel der Häresie steckt in ihm.»
187
«Aber...»
«Aber Götzendienst und Häresie
gibt es seit Jahrhunderten unter dem äußeren Anschein der Treue. Ihr kennt
ihre Götzen. Auch ihre Häresien. Die Heiden werden besser sein als sie. Daher
habe ich sie nicht ausgeschlossen und gebiete euch zu tun, was ich getan habe.
Dies wird für euch eine der schwierigsten Aufgaben sein. Ich weiß es. Aber
denkt an die Propheten. Sie haben die Berufung der Heiden und die
Halsstarrigkeit der Juden vorausgesagt. Warum wollt ihr die Pforten des
Reiches jenen verschließen, die mich lieben und zu dem Licht kommen, das ihre
Seele gesucht hat? Ihr haltet sie für größere Sünder als ihr es seid, weil sie
Gott bisher nicht gekannt haben, weil sie ihre Religion ausgeübt haben und sie
auch weiter ausüben werden, solange sie nicht von unserer Religion angezogen
werden. Das dürft ihr nicht. Ich sage euch, sehr oft sind sie besser als ihr,
denn obwohl sie eine unheilige Religion haben, sind sie gerecht. In keiner
Nation und Religion fehlt es an Gerechten. Gott sieht auf die Werke und nicht
auf die Worte der Menschen. Und wenn er sieht, daß ein Heide mit gerechtem
Herzen von Natur aus tut, was das Gesetz des Sinai vorschreibt, warum soll er
ihn dann verwerfen? Wenn ein Mensch, dem das Gebot Gottes, dieses oder jenes
Böse nicht zu tun, unbekannt ist, sich selbst das Gebot auferlegt, nicht zu
tun, was ihn sein Verstand als schlecht erkennen läßt, und es treu befolgt –
ist dies nicht viel verdienstvoller im Vergleich zu dem sehr relativen
Verdienst dessen, der Gott, das Ziel des Menschen, und das Gesetz, das ihm
ermöglicht, dieses Ziel zu erreichen, kennt und der fortwährend Kompromisse
schließt und Berechnungen anstellt, um das vollkommene Gebot dem eigenen
verderbten Willen anzupassen? Was glaubt ihr? Daß Gott die Ausflüchte schätzt,
mit denen Israel den Gehorsam zu umgehen sucht, um nicht zu viel von seiner
Begierde opfern zu müssen? Was meint ihr? Wenn ein Heide diese Welt verläßt,
der in den Augen Gottes gerecht war, weil er dem richtigen, ihm von seinem
Gewissen auferlegten Gesetz gefolgt ist, wird Gott ihn dann als Teufel
richten? Ich sage euch: Gott wird die Werke der Menschen prüfen, und Christus,
der Richter aller Menschen, wird jene belohnen, in denen die Seele das innere
Gesetz befolgt hat, um das letzte Ziel des Menschen zu erreichen: die
Vereinigung mit seinem Schöpfer, mit dem den Heiden unbekannten Gott, den sie
aber als den wahren und heiligen Gott jenseits der gemalten Szenerie der
falschen Olympe erkennen. Achtet daher sehr darauf, daß ihr bei den Heiden
nicht Anstoß erregt. Schon zu oft ist der Name Gottes unter den Heiden
verspottet worden wegen der Werke des Volkes Gottes. Bildet euch nicht ein,
die ausschließlichen Schatzmeister meiner Gnaden und Verdienste zu sein. Ich
bin für die Juden und für die Heiden gestorben. Mein Reich wird für alle
Völker sein. Mißbraucht nicht die Geduld, die Gott bisher mit euch gehabt hat,
indem ihr sagt: "Uns wird alles gewährt." Nein. Ich sage es euch. Es wird
nicht mehr dieses
188
oder jenes Volk geben. Es wird
mein Volk geben. Und bei diesem haben die Gefäße, die im Dienst des Tempels
gebraucht wurden, und die, die nun auf die Altäre Gottes gestellt werden, den
gleichen Wert. Ja, viele Gefäße, die im Dienst des Tempels, aber nicht für den
Dienst Gottes gebraucht wurden, wird man in eine Ecke werfen, und an ihrer
Stelle werden andere auf den Altar gestellt werden, die Weihrauch, Öl, Wein
oder Balsam noch nicht kennen, aber danach verlangen, sich mit ihnen zu füllen
und zur Ehre des Herrn benutzt zu werden. Verlangt nicht zu viel von den
Heiden. Es genügt, daß sie Glauben haben und meinem Wort gehorchen. Eine neue
Beschneidung wird die frühere ersetzen. Der Mensch wird von nun an am Herzen
beschnitten, mehr noch am Geist als am Herzen; denn das Blut der
Beschnittenen, das die Reinigung von der Begierde, die Adam der
Gotteskindschaft beraubte, symbolisiert, ist nun durch mein reinstes Blut
ersetzt. Dies gilt für den am Fleisch Beschnittenen wie für den
Unbeschnittenen, wenn er nur meine Taufe hat und aus Liebe zu mir dem Satan,
der Welt und dem Fleisch entsagt. Verachtet nicht die Unbeschnittenen. Gott
hat Abraham nicht verachtet. Um seiner Gerechtigkeit willen hat er ihn zum
Haupt seines Volkes erwählt, noch bevor die Beschneidung sein Fleisch
verletzte. Wenn aber Gott sich dem unbeschnittenen Abraham genähert hat, um
ihm seine Befehle zu erteilen, dann könnt ihr euch den Unbeschnittenen nähern,
um sie im Gesetz des Herrn zu unterweisen. Überlegt, zu wie vielen Sünden und
zu welcher Sünde die Beschnittenen fähig gewesen sind. Seid daher nicht zu
streng mit den Heiden.»
«Aber sollen wir ihnen sagen, was
du uns gelehrt hast? Sie werden nichts davon verstehen, denn sie kennen das
Gesetz nicht.»
«Sagt es ihnen. Hat etwa Israel
es verstanden, das doch das Gesetz und die Propheten kannte?»
«Das ist wahr.»
«Doch gebt acht. Ihr werdet
sagen, was der Geist euch eingibt, wörtlich, ohne Furcht und ohne es von euch
aus tun zu wollen. Wenn dann bei den Gläubigen falsche Propheten erscheinen,
die ihre Ideen als eingegebene Ideen darstellen, obgleich sie Häretiker sind,
dann werdet ihr mit wirksameren Mitteln als dem Wort ihre häretischen Lehren
bekämpfen. Aber macht euch deshalb keine Sorgen. Der Heilige Geist wird euch
leiten. Ich sage nie etwas, was sich nicht erfüllt.»
«Und was tun wir mit den
Häretikern?»
«Ihr werdet die Häresie als
solche mit aller Kraft bekämpfen, aber mit allen Mitteln versuchen, die
Häretiker zum Herrn zu bekehren. Werdet nicht müde, die verirrten Schafe zu
suchen und sie in den Schafstall zurückzuführen. Betet und leidet, laßt beten
und leiden, bettelt um Opfer und Leiden bei den Reinen, den Guten, den
Großmütigen; denn durch diese Mittel bekehrt man die Brüder. Die Passion
Christi setzt sich in den Christen fort. Ich habe euch nicht ausgeschlossen
von diesem großen
189
Werk, das die Erlösung der Welt
ist. Ihr seid alle Glieder eines einzigen Leibes. Helft euch gegenseitig, und
wer stark und gesund ist, arbeite für die Schwächeren, und wer geeint ist,
strecke die Hand aus und rufe die fernen Brüder.»
«Aber wird es solche geben,
nachdem sie Brüder in einem Haus waren?»
«Es wird sie geben.»
«Und warum?»
«Aus so vielen Gründen. Sie
werden meinen Namen noch tragen, und sie werden sich dieses Namens sogar
rühmen. Sie werden arbeiten, um ihn bekannt zu machen. Sie werden dazu
beitragen, daß ich bis an die äußersten Grenzen der Erde bekannt werde. Laßt
sie gewähren, denn ich erinnere euch daran: Wer nicht gegen mich ist, ist für
mich. Aber, arme Kinder! Ihre Arbeit wird immer nur Stückwerk, und ihre
Verdienste werden stets unvollkommen sein. Sie können nicht in mir sein, wenn
sie vom Weinstock getrennt sind. Ihre Werke werden immer unvollständig sein.
Ihr, ich sage ihr, spreche aber auch zu den Zukünftigen, euren Nachfolgern,
sollt auch dort sein, wo sie sind. Sagt nicht wie die Pharisäer: "Ich gehe
nicht dorthin, damit ich mich nicht verunreinige"; sagt nicht aus Trägheit:
"Ich gehe nicht dorthin, weil sie ja schon den Herrn verkündigen"; sagt nicht
aus Furcht: "Ich gehe nicht dorthin, damit sie mich nicht verjagen." Geht! Ich
sage euch: Geht! Zu allen Völkern, bis an die Grenzen der Erde, damit meine
ganze Lehre und meine einzige Kirche bekannt werden und die Seelen die
Möglichkeit erhalten, ihr anzugehören.»
«Und werden wir alle deine Werke
berichten oder aufschreiben?»
«Ich habe euch schon gesagt, der
Heilige Geist wird euch wissen lassen, was gut zu sagen oder zu verschweigen
ist, je nach den Zeiten. Ihr seht es! Alles, was ich getan habe, es wird
geglaubt oder geleugnet, und manchmal wird es sogar als Waffe gegen mich
verwendet von solchen, die mich hassen. Man hat mich Beelzebub genannt, da ich
als Meister und in Gegenwart aller Wunder gewirkt habe. Und was werden sie
wohl jetzt sagen, wenn sie erfahren, welch übernatürlichen Dinge ich gewirkt
habe? Ich werde noch mehr gelästert werden. Und ihr würdet vor der Zeit
verfolgt werden. Daher schweigt, bis es Zeit ist zu reden.»
«Aber wenn diese Zeit erst kommen
sollte, wenn wir, die Zeugen, schon gestorben sind?»
«In meiner Kirche wird es immer
Priester, Gelehrte, Propheten, Exorzisten, Bekenner und Wundertäter geben, und
auch Erleuchtete, alles, was nötig ist, damit die Völker von ihnen erhalten,
was sie brauchen. Der Himmel – die triumphierende Kirche – wird die lehrende
Kirche nicht alleinlassen, und diese wird der streitenden Kirche beistehen.
Sie sind nicht drei Leiber, sie sind ein einziger Leib. Zwischen ihnen besteht
nicht Trennung, sondern eine Gemeinschaft in der Liebe und in ihrem Ziel: die
Liebe zu lieben und sie im Himmel, ihrem Reich, zu besitzen. Daher muß
190
auch die streitende Kirche denen
durch ihre Fürbitte liebevoll zu Hilfe eilen, die zwar schon für die
triumphierende Kirche bestimmt, aber noch von ihr ausgeschlossen sind, um
Sühne und Genugtuung zu leisten für ihre wohl vergebene, aber vor der
vollkommenen göttlichen Gerechtigkeit noch nicht gänzlich bezahlte Schuld.
Alles im mystischen Leib muß in Liebe und aus Liebe erfolgen, denn die Liebe
ist das Blut, das in diesem Leib kreist. Helft den büßenden Brüdern. Wie ich
gesagt habe, daß die leiblichen Werke der Barmherzigkeit ihren Lohn im Himmel
finden werden, ebenso habe ich gesagt, daß es mit den geistlichen geschieht.
In Wahrheit sage ich euch, die Fürbitte für die Verstorbenen, um ihnen zum
Frieden zu verhelfen, ist ein großes Werk der Barmherzigkeit, für das Gott
euch segnen wird und die Bedachten dankbar sein werden. Wenn ihr bei der
Auferstehung des Fleisches alle vor dem Richter Christus versammelt seid,
werden unter den von mir Gesegneten auch jene sein, die Liebe gegenüber den
büßenden Brüdern geübt und für ihren ewigen Frieden gebetet und geopfert
haben. Ich sage es euch: Kein einziges eurer guten Werke wird unbelohnt
bleiben; und viele werden hell erstrahlen im Himmel, ohne daß sie gepredigt,
verwaltet, apostolische Reisen unternommen oder einen besonderen Stand gewählt
haben, sondern nur weil sie gebetet und gelitten haben, um den Büßenden
Frieden und den Sterblichen Bekehrung zu erlangen. Auch diese der Welt
unbekannten Priester, verkannten Apostel, Sühnopfer, die nur Gott sieht,
werden ihren Lohn als Arbeiter des Herrn erhalten, da sie aus ihrem Leben ein
beständiges Opfer der Liebe für die Brüder und zur Ehre Gottes gemacht haben.
Wahrlich, ich sage euch, zum ewigen Leben führen viele Wege, und einer davon,
der meinem Herzen sehr teuer ist, ist dieser. Habt ihr noch andere Fragen?
Sprecht.»
«Herr, gestern, und nicht nur
gestern, haben wir nachgedacht über deine Worte: "Ihr werdet auf zwölf Thronen
sitzen und die zwölf Stämme Israels richten." Aber jetzt sind wir nur noch
elf...»
«Dann müßt ihr einen zwölften
wählen. Das ist deine Sache, Petrus.»
«Meine? Meine nicht, Herr!
Ernenne du ihn.»
«Ich habe meine Zwölf einmal
erwählt und sie herangebildet. Dann habe ich ihr Oberhaupt ernannt.
Schließlich habe ich ihnen die Gnade geschenkt und den Heiligen Geist
eingegossen. Nun müssen sie alleine gehen, denn sie sind keine unfähigen
Säuglinge mehr.»
«Aber sage uns wenigstens, wohin
wir unseren Blick richten sollen...»
«Nun, dies hier ist der
auserwählte Teil der Herde», sagt Jesus und weist ringsum auf die Anwesenden
aus den Zweiundsiebzig.
«Nicht wir, Herr! Nicht wir. Wir
haben Angst, den Platz des Verräters einzunehmen», bitten diese.
«Wir wollen Lazarus nehmen. Ist
es dir recht, Herr?»
Jesus schweigt.
191
«Joseph von Arimathäa? Nikodemus?
...»
Jesus schweigt.
«Aber ja, nehmen wir Lazarus.»
«Und dem vollkommenen Freund
wollt ihr den Platz geben, den ihr selbst nicht wollt?» sagt Jesus.
«Herr, ich möchte etwas sagen»,
sagt der Zelote.
«So sprich.»
«Aus Liebe zu dir würde Lazarus
auch diesen Platz annehmen, dessen bin ich sicher. Und er würde ihn auf so
vollkommene Weise ausfüllen, daß man vergessen könnte, wessen Platz es gewesen
ist. Aber mir erscheint es aus anderen Gründen nicht richtig. Die geistigen
Tugenden des Lazarus finden sich auch bei vielen der Geringen deiner Herde.
Ich denke, es wäre besser, diesen den Vorzug zu geben, damit die Gläubigen
nicht sagen, daß man nur die Macht und die Reichtümer sucht, wie die Pharisäer
es machen, statt der Tugend.»
«Das hast du gut gesagt, Simon,
um so mehr, als du gerecht und trotz deiner Freundschaft mit Lazarus
unparteiisch gesprochen hast.»
«Dann wollen wir Margziam zum
zwölften Apostel machen. Er ist ein Knabe.»
«Ich würde annehmen, um diese
schreckliche Leere auszufüllen, aber ich bin nicht würdig. Wie könnte ich, ein
Knabe, zu Erwachsenen sprechen? Herr, du mußt sagen, ob ich recht habe.»
«Du hast recht. Aber es hat keine
Eile. Die Stunde wird kommen, und ihr werdet überrascht sein, daß ihr dann
alle derselben Meinung seid. Betet inzwischen! Ich gehe. Zieht euch zum Gebet
zurück. Ich entlasse euch für heute. Und sorgt dafür, daß ihr alle zum
vierzehnten Ziw in Bethanien seid.»
Jesus steht auf, während alle
niederknien und mit der Stirn den Boden berühren. Er segnet sie, und das
Licht, sein Diener, der sein Kommen ankündigt und ihn bei seinem Weggang in
sich aufnimmt, umgibt und verbirgt ihn auch diesmal wieder.
698. DAS NACHGEHOLTE PASSAHFEST
Diesmal ist der Auftrag Jesu
buchstäblich ausgeführt worden. Bethanien quillt über von Jüngern. Sie sind
auf den Wiesen, den Wegen, in den Obst- und Ölgärten des Lazarus; und da diese
nicht genügen für so viele Leute, die den Besitz des Freundes Jesu nicht
beschädigen wollen, hat sich eine große Anzahl auch in die Ölgärten zwischen
Bethanien und Jerusalern entlang den Wegen über den Ölberg zerstreut.
Die ersten und ältesten Jünger
sind dem Haus am nächsten, weiter
192
entfernt unzählige andere.
Weniger bekannte Gesichter oder gänzlich unbekannte. Doch wer könnte die nun
so zahlreichen Gesichter wiedererkennen und sie beim Namen nennen? Ich glaube,
es sind Hunderte. Ab und zu erinnert mich ein Gesicht oder ein Name in dem
Durcheinander an jemanden, dem Jesus Gutes getan oder den er bekehrt hat,
vielleicht in der letzten Stunde. Aber es übersteigt meine Fähigkeiten, mich
an alle diese Gesichter und Namen zu erinnern, sie alle wiederzuerkennen. Es
wäre so, als hätte ich erkennen sollen, wer in der Volksmenge war, die sich am
Palmsonntag oder an dem schmerzlichen Karfreitag auf den Straßen Jerusalems
bewegte oder den Kalvarienberg mit einem Teppich von Gesichtern, meist von
haßverzerrten Gesichtern, bedeckte.
Die Apostel gehen im Haus des
Simon ein und aus und auch unter die Leute, um sie ruhig zu halten oder ihre
Fragen zu beantworten. Lazarus und Maximinus sind dabei behilflich. An den
hohen Fenstern im oberen Stockwerk von Simons Haus erscheinen die Gesichter
aller Jüngerinnen und verschwinden wieder: graue Mähnen, braune Mähnen, und
dazwischen die leuchtend blonden Köpfe von Maria des Lazarus und Aurea. Ab und
zu kommt eine heraus, schaut, und zieht sich wieder zurück. Es sind alle da,
wirklich alle, Junge und Alte, auch die, die bisher noch nie gekommen sind,
wie Sara von Apheca. Auf der Terrasse spielen die Kinder, die Sara dort
gesammelt hat, die Enkel der Anna von Meron, Maria, Matthias, der Knabe
Schalem, der Enkel des Nahum, der ein Krüppel war und nun gesund und munter
ist, und noch andere. Ein Schwarm glücklicher Vöglein, beaufsichtigt von
Margziam und anderen jungen Jüngern, wie dem Hirtenjungen von Ennon und Jaia
von Pella. Ich sehe unter den Kindern nun auch den früher blinden Knaben aus
Sidon. Offensichtlich hat sein Vater ihn mitgebracht.
Ein herrlicher, friedvoller
Sonnenuntergang beginnt.
Petrus beratschlagt mit Lazarus
und den Gefährten: «Ich meine, es wäre besser, die Leute jetzt zu entlassen.
Was sagt ihr dazu? Auch heute wird er nicht kommen. Und viele von diesen hier
müssen heute abend noch das kleine Passahfest feiern», sagt Petrus.
«Ja, es wäre besser, sie zu
entlassen. Vielleicht hat der Herr es für gut befunden, heute nicht zu kommen.
In Jerusalem sind alle vom Tempel versammelt. Ich weiß nicht, wie sie erfahren
haben, daß er kommen wird und ...» sagt Lazarus.
«Und wenn sie es auch wissen, was
können sie ihm jetzt noch antun?» sagt Thaddäus mit Nachdruck.
«Du vergißt, daß sie immer die
gleichen sind. Damit ist alles gesagt. Wenn sie auch ihm nichts mehr antun
können, so können sie doch denen sehr viel antun, die gekommen sind, um ihm zu
huldigen. Und der Herr will seinen Getreuen nicht schaden. Und außerdem!
Glaubst du, daß sie, die von ihrer Sünde und von ihren immer gleichen,
unwandelbaren
193
Gedankengängen verblendet sind,
nicht in dem großen Widerstreit in ihren Köpfen auf die Idee gekommen sind,
daß der Herr auferstanden ist, vielmehr, daß er nie gestorben und aus dem Grab
herausgekommen ist, daß er selbst aufgewacht ist oder mit Hilfe vieler
Komplizen? Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Wirrwarr von Gedanken,
was für ein Durcheinander, was für ein Sturm von Vermutungen bei ihnen
herrscht. Und dies nur, weil sie nicht die Wahrheit bekennen wollen. Man kann
wirklich sagen, daß die Komplizen von gestern heute geteilt sind, aus eben dem
Grund, der sie zuvor geeint hat. Und der eine oder andere läßt sich von ihren
Ideen verführen. Habt ihr gemerkt, daß einige der Jünger schon nicht mehr
unter uns sind?» sagt Lazarus.
«Laß sie laufen! Dafür sind
andere und bessere gekommen. Gewiß sind unter denen, die gegangen sind, auch
einige, die dem Synedrium berichtet haben, daß der Herr am vierzehnten Tag des
zweiten Monats hier erscheinen würde. Und nach diesem Verrat haben sie nicht
mehr den Mut, zu kommen. Fort mit ihnen! Genug der Verräter!» sagt
Bartholomäus.
«Freund, solche werden wir immer
haben. Der Mensch! ... Er läßt sich zu sehr durch Eindrücke und äußeren Druck
beeinflussen. Aber wir brauchen nichts zu fürchten. Der Herr hat gesagt, daß
wir nichts fürchten sollen», sagt der Zelote.
«Und wir fürchten uns nicht. Vor
einigen Tagen haben wir noch Angst gehabt. Erinnert ihr euch? Ich jedenfalls
dachte mit Schrecken an die Rückkehr hierher. Nun scheint es mir, als hätte
ich keine Angst mehr. Aber ich traue mir selbst nicht recht, und auch ihr
sollt euch nicht zu sehr auf euren Kephas verlassen. Ich habe schon einmal
bewiesen, daß ich bröckelnder Ton und nicht harter Granit bin. Nun, entlassen
wir also diese hier. Tue du es, Lazarus ...»
«Nein, Simon Petrus. Das ist
deine Sache. Du bist das Oberhaupt...»sagt Lazarus gütig und legt einen Arm um
die Schulter des Petrus. Er schiebt ihn zur Treppe und hinauf auf die
Terrasse, die das Haus des Simon umgibt.
Petrus macht ein Zeichen, daß er
sprechen will, und die Leute in seiner Nähe schweigen, und die weiter
entfernten kommen näher. Petrus wartet, bis fast alle da sind, und sagt dann:
«Ihr Männer aus allen Gegenden Israels, hört zu. Ich fordere euch auf, in die
Stadt zurückzukehren. Die Sonne geht bereits unter. Geht also! Wenn er noch
kommen sollte, lassen wir es euch auf jeden Fall wissen. Gott sei mit euch.»
Er zieht sich in einen luftigen
Raum zurück, in dem alle die getreuesten Jüngerinnen um die Jungfrau
versammelt sind und auch die anderen Frauen, die den Herrn als Meister geliebt
haben, ihm jedoch nicht auf seinen Pilgerfahrten gefolgt sind. Petrus setzt
sich in eine Ecke und betrachtet Maria, die ihm zulächelt.
Die Leute draußen teilen sich
langsam in zwei Teile. Die einen bleiben,
194
die anderen kehren in die Stadt
zurück. Stimmen von Erwachsenen rufen nach Kindern, Kinderstimmen antworten.
Dann läßt der Lärm nach.
«Und nun», sagt Petrus, «wollen
auch wir gehen...»
«Vater, der Herr hat aber gesagt,
daß er kommen wird!»
«Ich weiß schon! Aber wie du
siehst, ist er nicht gekommen. Und es ist der vorgeschriebene Feiertag...»
«Ja. Und mein Bruder hat alles
für euch vorbereitet. Und hier ist auch Markus des Jonas, der gekommen ist, um
euch zum Tor zu begleiten und es zu öffnen. Aber ich komme mit. Alle kommen
wir. Lazarus hat für alle gesorgt», sagt Maria von Magdala.
«Und wo werden so viele Menschen
das Abendmahl einnehmen?»
«Gethsemane wird der
Abendmahlsaal sein. Der Raum im Haus für die, die Jesus genannt hat. Draußen
vor dem Haus die Tische für die anderen. So hat er es gewollt.»
«Wer? Lazarus?»
«Der Herr.»
«Der Herr? Aber wann ist er denn
gekommen?»
«Er ist gekommen... Was kümmert
es dich, an welchem Tag? Er ist gekommen und hat mit Lazarus gesprochen.»
«Ich glaube, er kommt oder ist zu
jedem von uns gekommen, auch wenn keiner es sagt und diese Freude wie eine
kostbare Perle für sich bewahrt und sie nicht einmal zeigen will aus Furcht,
sie könnte ihren wunderbaren Glanz verlieren. Die Geheimnisse des Königs!»
sagt Bartholomäus und schaut die jungfräulichen Jüngerinnen an, deren
Gesichter purpurrot werden, als ob die untergehende Sonne sie träfe. Aber es
ist die geistige Flamme höchster Freude, die sie erröten läßt. Maria, die
Jungfrau der Jungfrauen im weißen Leinenkleid, eine strahlende Lilie, neigt
lächelnd das Haupt und schweigt. Wie sehr gleicht sie in diesem Augenblick dem
jungen Mädchen der Verkündigung!
«Gewiß... Er läßt uns nicht
allein, auch wenn er nicht sichtbar erscheint. Ich weiß, daß er es ist, der
gewisse Gedanken in mein armes Herz und in meinen noch ärmeren Verstand legt
...» bekennt Matthäus.
Die anderen sagen nichts... Sie
sehen sich gegenseitig forschend an, während sie die Mäntel anlegen. Doch die
Sorgfalt, mit der einige sich so weit wie möglich das Gesicht verhüllen, um
die Welle der geistigen Freude zu verbergen, die bei dem Gedanken an die
geheimen göttlichen Begegnungen aufleuchtet, verrät sie als die am meisten
Bevorzugten.
«So redet doch!» sagen die
anderen. «Wir sind nicht eifersüchtig! Wir sind nicht indiskret, weil wir es
wissen wollen. Aber es wird uns trösten, hoffen zu dürfen, daß wir nicht für
immer auf seinen Anblick verzichten müssen. Denkt an die Worte Raphaels zu
Tobias: "Es gehört sich, des Königs Geheimnis zu wahren, Gottes Werke aber zu
offenbaren und zu verkünden, ist wohlgetan." Der Engel Gottes hat recht!
Behaltet die Worte,
195
die er zu euch gesagt hat, für
euch, aber offenbart seine immerwährende Liebe zu uns.»
Jakobus des Alphäus schaut Maria
an, wie um von ihr eine Erleuchtung zu erhalten, und da er an ihrem Lächeln
erkennt, daß sie zustimmt, sagt er: «Es stimmt, ich habe den Herrn gesehen!»
Sonst nichts. Er ist der einzige, der es zugibt. Die anderen beiden, die ihr
Gesicht verborgen haben, also Johannes und Petrus, sagen kein Wort.
Sie gehen alle in kleinen Gruppen
hinaus, die Elf voran, dann Lazarus mit den Schwestern, den Jüngerinnen und
Maria, und zuletzt die Hirten und viele der zweiundsiebzig Jünger. Sie gehen
auf der oberen Straße, die zum Ölgarten führt, in Richtung Jerusalem. Die
übriggebliebenen Kinder hüpfen glücklich voraus und hintendrein. Markus zeigt
einen Weg, auf dem man das Lager der Galiläer und die am stärksten begangenen
Gegenden vermeidet und direkt zur neuen Mauer des Ölgartens gelangt. Er öffnet
das Tor, läßt alle eintreten und schließt es wieder. Viele Jünger flüstern
miteinander und einige gehen und fragen die Apostel, besonders Johannes. Doch
diese machen ihnen Zeichen zu warten, da es noch nicht an der Zeit ist, zu
tun, worum sie bitten, und alle geben sich zufrieden.
Wieviel Frieden im weiten
Ölgarten, dessen oberen Teil die letzten Sonnenstrahlen noch küssen, während
sich unten schon Schatten ausbreiten. Ein leises Säuseln des Windes in den
grünsilbernen Wipfeln und zartes Vogelgezwitscher, das den scheidenden Tag
verabschiedet.
Hier ist nun das Haus des
Verwalters. Auf der Terrasse, die auch das Dach des Hauses ist, hat Lazarus
einen Pavillon aus Zeltplanen errichten lassen, und die Terrasse ist zu einem
luftigen Abendmahlsaal geworden für die Jünger, die vor einem Monat das
Passahmahl nicht einnehmen konnten. Unten, auf der gesäuberten kleinen Tenne,
stehen weitere Tische. Und im Haus, im besten Raum, der Tisch für die
Jüngerinnen.
Man bringt nun zu den
verschiedenen Tischen derer, die das Passahfest nicht gefeiert haben,
gebratene Lämmer, Salate, ungesäuerte Brote und die rötliche Sauce und stellt
auch den rituellen Kelch auf die Tische. Auf dem der Frauen steht kein Kelch,
sondern ebenso viele Becher als Gäste. Man sieht, daß die Frauen von diesem
Teil der Zeremonie ausgenommen waren. Auf den Tischen derer, die das
Passahfest zur rechten Zeit gefeiert haben, steht das Lamm, aber die
ungesäuerten Brote und die Kräuter mit der roten Sauce fehlen. Lazarus und
Maximinus überwachen alles. Und Lazarus neigt sich über Petrus und sagt ihm
etwas, was den Apostel veranlaßt, heftig und hartnäckig den Kopf zu schütteln.
«Und doch... Es ist deine Sache»,
sagt Philippus, der an seiner Seite sitzt.
Aber Petrus zeigt auf Jakobus des
Alphäus: «Es ist seine Sache.»
Während sie noch diskutieren,
erscheint Jesus am Rand der kleinen Tenne und grüßt: «Der Friede sei mit
euch.»
196
Alle stehen auf, und das Geräusch
macht auch die Frauen aufmerksam. Sie wollen hinausgehen; doch Jesus betritt
das Haus und grüßt auch sie.
Maria sagt: «Mein Sohn!» und
verehrt ihn mit einer tieferen Verneigung als alle anderen. Durch diese Geste
zeigt sie, daß Jesus, so sehr er auch Freund, Freund und Verwandter, ja sogar
Sohn sein mag, immer Gott ist und als Gott verehrt werden muß, immer verehrt
mit anbetender Seele, auch wenn seine Liebe zu uns so groß ist, daß sie ihn
dazu führt, uns mit größter Vertraulichkeit als Bruder und Bräutigam zu
begegnen.
«Der Friede sei mit dir, Mutter.
Setzt euch und eßt. Ich gehe nach oben, wo Margziam auf seine Belohnung
wartet.»
Jesus geht wieder hinaus, steigt
das Treppchen hinauf und ruft laut: «Simon Petrus und Jakobus des Alphäus,
kommt.»
Die beiden Genannten gehen hinter
Jesus nach oben, und Jesus setzt sich an den mittleren Tisch zu Margziam und
sagt dann zu den beiden Aposteln: «Ihr werdet tun, was ich euch sage»; und zu
Matthias, der am oberen Ende des Tisches sitzt, sagt er: «Beginne mit dem
Passahmahl.»
Jesus hat heute abend Margziam an
seiner Seite, an dem Platz, wo letztes Mal Johannes gesessen ist. Petrus und
Jakobus stehen hinter dem Herrn in Erwartung seiner Befehle.
Und mit demselben Ritual des
Passahmahles läuft auch dieses nun ab: die Hymnen, die Fragen, die Trankopfer.
Ich weiß nicht, ob an den anderen Tischen dasselbe geschieht. Ich richte
meinen Blick auf Jesus, solange mir sein Wille nicht befiehlt, anderswohin zu
schauen; und ich vergesse alles andere in Betrachtung meines Herrn, der nun
die besten Bissen seines Lammes dem überglücklichen Margziam reicht. Jesus hat
zwar etwas Fleisch auf seinen Teller gelegt, ißt jedoch nichts davon, wie er
auch keine Kräuter und keine Sauce nimmt und nicht aus dem Kelch trinkt.
Zu Beginn hat er Petrus ein
Zeichen gegeben, sich zu ihm zu neigen und zuzuhören, und hat ihm leise etwas
gesagt. Und Petrus hat daraufhin ganz laut gesagt: «An diesem Punkt hat der
Herr als Vater und Familienoberhaupt für uns alle den Kelch aufgeopfert.»
Nun gibt Jesus Petrus wieder ein
Zeichen und dieser richtet sich auf, nachdem er ihm zugehört hat, und sagt:
«Und an diesem Punkt hat der Herr sich gegürtet, um uns reinzuwaschen und uns
zu lehren, wie wir selbst es halten sollen, um würdig das eucharistische Opfer
zu feiern.»
Das Abendmahl wird fortgesetzt,
bis Petrus nach einem weiteren Zeichen sagt: «Hier nahm der Herr das Brot und
den Wein, opferte sie, betete und segnete sie, brach das Brot, verteilte
beides an uns und sagte: "Das ist mein Leib, und das ist mein Blut des neuen
und ewigen Bundes, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der
Sünden."»
Jesus steht auf, in seiner ganzen
Majestät. Er befiehlt Petrus und Johannes, je ein Brot zu nehmen und es in
kleine Stückchen zu brechen, und
197
einen Kelch, den größten Kelch
auf den Tischen, mit Wein zu füllen. Sie gehorchen und halten das Brot und den
Wein vor ihn hin, und Jesus breitet seine Hände darüber aus und betet wortlos
und mit verklärtem Blick...
«Teilt die Brotstückchen aus und
reicht den brüderlichen Kelch. So oft ihr dies tut, tut es zu meinem
Gedächtnis.»
Die beiden Apostel gehorchen,
sehr ehrerbietig...
Während die Gestalten ausgeteilt
werden, begibt sich Jesus hinunter zu den Frauen. Ich nehme an – kann es aber
nicht sehen, da ich ihm nicht folge – daß Jesus seiner Mutter eigenhändig die
Kommunion reicht. Ich weiß nicht, ob es zutrifft, doch wüßte ich nicht, warum
er zu ihr gehen sollte, wenn nicht aus diesem Grund.
Dann kehrt er auf die Terrasse
zurück. Er setzt sich nicht mehr. Das Abendmahl geht seinem Ende zu.
Jesus sagt: «Ist alles
vollbracht?»
«Alles ist vollbracht, Herr.»
«So habe ich es am Kreuz gemacht.
Erhebt euch, wir wollen beten.»
Er breitet die Arme in Kreuzform
aus und stimmt das Vaterunser an.
Ich weiß nicht, warum ich weine.
Ich denke, vielleicht ist es das letzte Mal, daß ich ihn das Gebet sprechen
höre... Und so wie kein Maler oder Bildhauer uns jemals das wahre Bild Jesu
wiedergeben kann, ebensowenig kann jemand, so heilig er auch sein mag,
zugleich so männlich und sanft das Vaterunser beten. Ich werde immer eine
große Sehnsucht nach diesem Vaterunser haben, das ich von Jesus gehört habe,
eine wahre Zwiesprache der Seele mit dem geliebten und angebeteten Vater des
Himmels, ein Ausruf der Verehrung, des Gehorsams, des Glaubens, der
Unterwerfung, der Demut, der Barmherzigkeit, der Sehnsucht, des Vertrauens...
Alles!
«Geht! Und die Gnade des Herrn
sei in euch allen und sein Friede begleite euch.» Jesus entläßt sie und nimmt
Abschied in einem Aufleuchten von Licht, das das Licht des hoch über dem
stillen Garten stehenden Vollmondes bei weitem überstrahlt, und auch das der
Lampen auf den Tischen.
Kein Laut. Tränen auf den
Gesichtern. Anbetung in den Herzen. Sonst nichts ...
Die Nacht wacht und sieht
zusammen mit den Engeln die Rührung dieser Gesegneten.
699. DIE HIMMELFAHRT DES HERRN
Jesus geht mit seiner Mutter – im
Osten bricht kaum die Morgenröte an – über die Hänge des Gethsemane. Keine
Worte, nur Blicke unaussprechlicher Liebe wechseln sie. Vielleicht haben sie
sich schon alles gesagt. Vielleicht haben sie aber auch gar nichts gesagt, und
nur die beiden
198
Seelen haben Zwiesprache
gehalten: die Seele Christi und die Seele der Mutter Christi. Nun sind sie in
liebender Betrachtung, gegenseitiger Betrachtung versunken. Die taufrische
Natur sieht sie, das reine Licht des Morgens sieht sie, die lieblichen
Geschöpfe Gottes sehen sie: die Gräser, die Blumen, die Vögel und die
Schmetterlinge. Menschen sind keine da.
Ich fühle mich nicht ganz wohl,
bei diesem Abschied dabei zu sein. «Herr, ich bin nicht würdig», rufe ich aus
unter Tränen, die ich vergieße bei der Betrachtung der letzten Stunde des
irdischen Beisammenseins von Mutter und Sohn und bei dem Gedanken, daß wir nun
am Ende der liebevollen Mühe sind, sowohl Jesus und Maria, als auch das arme,
kleine, unwürdige Kind, das Jesus als Zeugen seines ganzen messianischen
Wirkens gewollt hat und das Maria heißt, das Jesus aber lieber «Kleiner
Johannes» oder auch «Veilchen des Kreuzes» nennt. Ja, kleiner Johannes! Klein,
weil ich ein Nichts bin. Johannes, weil ich wirklich ein Mensch bin, dem Gott
große Gnaden erwiesen hat, und weil ich, in allerkleinstem Maß – aber es ist
alles, was ich besitze, und da ich alles gebe, was ich habe, weiß ich, daß ich
in vollkommenem Maß gebe und Jesus damit zufrieden ist, weil es das «Alles»
meines Nichts ist – und weil ich in allerkleinstem Maß, wie der große
Johannes, der Liebling, Jesus und Maria meine ganze Liebe gegeben habe, ihre
Tränen und ihr Lächeln mit ihnen geteilt habe, ihnen gefolgt bin und betrübt
war, sie so traurig zu sehen und sie nicht unter Einsatz meines Lebens gegen
die Mißgunst der Welt verteidigen zu können; und nun klopft mein Herz zusammen
mit dem ihren, da dies alles für immer zu Ende geht.
Veilchen. Ja, ein Veilchen, das
sich bemüht hat, sich im Gras zu verbergen, damit Jesus ihm nicht ausweicht –
er, der alles Geschaffene liebt, weil alles das Werk seines Vaters ist –
sondern mich mit seinem göttlichen Fuß zertritt und ich sterben und meinen
schwachen Duft verströmen kann in dem Bemühen, ihm die Berührung mit dem
rauhen, harten Erdboden sanfter erscheinen zu lassen. Veilchen des Kreuzes,
ja. Und sein Blut hat meinen Kelch gefüllt, bis er sich zur Erde neigte...
Oh, mein Geliebter, der du mich
schon zuvor mit diesem Blut übergossen hast, als ich deine verwundeten Füße,
die an das Holz genagelt waren, betrachten mußte: «... ein blühendes
Märzveilchen war ich am Fuß des Kreuzes, und die Tropfen des göttlichen Blutes
fielen auf das blühende Veilchen ...»
Eine ferne Erinnerung, und doch
so nahe und gegenwärtig! Vorbereitung auf das, was ich dann geworden bin: dein
Sprachrohr, das nun ganz von deinem Blut besprengt ist, von deinem Schweiß und
deinen Tränen und von den Tränen Marias, deiner Mutter; das aber auch deine
Worte, dein Lächeln, alles, alles von dir kennt und nicht mehr nach Veilchen,
sondern nur nach dir, meine einzige Liebe, duftet, nach dem göttlichem Duft,
der gestern abend meinen Schmerz gemildert hat und der zu mir kommt, sanft wie
ein Kuß, tröstend wie der Himmel selbst, und mich alles vergessen läßt, damit
ich nur aus dir allein lebe...
Ich habe dein Versprechen. Ich
weiß, daß ich dich nicht verlieren werde. Du hast es mir versprochen, und dein
Versprechen ist aufrichtig: es ist das Versprechen Gottes. Ich werde dich
immer besitzen. Nur wenn ich durch Hochmut, Lüge oder Ungehorsam sündigen
würde, würde ich dich verlieren, hast du gesagt. Aber du weißt auch, daß ich
nicht sündigen will, wenn deine Gnade meinem Willen hilft, und ich hoffe,
nicht zu sündigen, weil du mir helfen wirst. Ich bin keine Eiche und weiß es.
Ich bin ein Veilchen. Ein zarter Stengel, der sich unter dem Fuß eines
Vögleins und sogar unter dem Gewicht eines Käfers neigen kann. Doch du bist
meine Stärke, Herr. Und meine Liebe zu dir ist mein Flügel.
Ich werde dich nicht verlieren.
Du hast es mir versprochen. Du wirst ganz zu mir kommen, um deinem sterbenden
Veilchen Freude zu schenken. Aber ich bin keine Egoistin. Du weißt es. Du
weißt, daß ich dich lieber nicht mehr sehen würde, wenn dafür viele andere
dich sehen und an dich glauben könnten. Du hast mir schon so viel gegeben, und
ich bin dessen nicht würdig. Du hast mich wahrlich geliebt, wie nur du allein
deine auserwählten Kinder lieben kannst.
199
Ich denke daran, wie süßes
gewesen ist, dich «leben» zusehen. Mensch unter Menschen. Und ich denke daran,
daß ich dich so nicht wieder sehen werde. Alles habe ich gesehen und gesagt.
Ich weiß auch, daß du nie meinem
Gedächtnis entschwinden wirst mit deinen Werken als Mensch unter Menschen, und
daß ich keine Bücher brauchen werde, um mich zu erinnern, wer du wirklich
warst. Es wird genügen, daß ich in mich hineinschaue, wo dein ganzes Leben in
unauslöschlichen Lettern eingegraben ist.
Aber es war schön, schön... Nun
fährst du auf... Die Erde verliert dich. Maria vom Kreuz verliert dich.
Meister, Heiland. Du wirst für sie ein gütiger Gott bleiben. Nicht mehr Blut,
sondern himmlischen Honig wirst du in den violetten Blütenkelch deines
Veilchens träufeln... Ich weine... Ich bin deine Jüngerin gewesen, zusammen
mit den anderen, auf den waldigen Wegen des Gebirges und den trockenen,
staubigen Straßen der Ebene, am See und an dem schönen Fluß deiner Heimat. Nun
gehst du fort, und ich werde Bethlehem und Nazareth auf ihren grünen Hügeln
mit den Ölbäumen nur noch in der Erinnerung sehen, und Jericho in der
glühenden Sonne unter den rauschenden Palmen, und das freundliche Bethanien,
und Engedi, die in der Wüste verlorene Perle, und das schöne Samaria, und die
fruchtbaren Ebenen von Saron und Esdrelon, und die bizarre Hochebene jenseits
des Jordan, und den Alptraum des Toten Meeres, und die sonnigen Städte am Ufer
des Mittelmeeres, und Jerusalem, die Stadt deiner Schmerzen, seine
ansteigenden und abfallenden Straßen, die Bögen, die Plätze und die Vororte,
die Brunnen und die Zisternen, die Hügel und sogar das traurige Tal der
Aussätzigen, wo deine Barmherzigkeit so viel Gutes getan hat ... und das Haus
des Abendmahles ... den Brunnen, der dort in der Nähe weint... die kleine
Brücke über den Kedron, den Ort deines Blutschweißes... den Hof des
Prätoriums... Ach nein! Was dir Schmerz bereitet hat, ist hier. Und es wird
immer bleiben... Ich werde alle Erinnerungen suchen müssen, um sie zu finden,
aber dein Gebet im Gethsemane, deine Geißelung, dein Aufstieg zum Golgotha,
dein Todeskampf und dein Tod und der Schmerz deiner Mutter, nein, nein, diese
werde ich nicht suchen müssen: diese Schmerzen sind immer gegenwärtig.
Vielleicht werde ich sie im Paradies vergessen... Und doch scheint es mir
selbst dort unmöglich, sie zu vergessen ... An alles erinnere ich mich von
diesen furchtbaren Stunden. Sogar an die Form des Steins, auf den du gefallen
bist. Sogar an die rote Rosenknospe, die einem Blutstropfen glich und an den
Granit, an den Verschluß deines Grabes pochte...
Meine göttliche Liebe, deine
Passion lebt in meiner Erinnerung fort ... und zerbricht mir das Herz...
Der Tag ist nun angebrochen. Die
Sonne steht schon hoch, und man hört die Stimmen der Apostel. Das ist ein
Zeichen für Jesus und Maria. Sie bleiben stehen, einander gegenüber, und
blicken sich an. Dann öffnet Jesus die Arme und zieht seine Mutter an seine
Brust ... Oh, er war ein Mensch, der Sohn einer Mutter! Um dies zu glauben,
braucht man sich nur diesen Abschied anzusehen. Die Liebe ergießt sich in
einer Flut von Küssen auf die geliebte Mutter. Die Liebe bedeckt den geliebten
Sohn mit Küssen. Sie scheinen sich nicht mehr trennen zu können. Wenn man
glaubt, sie würden es nun gleich tun, dann umarmen sie sich immer noch einmal,
und zwischen einem Kuß und dem anderen sprechen sie Worte gegenseitigen Segens
... Oh, es ist wahrlich der Menschensohn, der die verläßt, die ihn geboren
hat! Es ist wahrlich die Mutter, die den Sohn entläßt, um ihn dem Vater
wiederzugeben, ihr Geschöpf, das Pfand der Liebe für die Reinste ... !
Gott küßt die Mutter Gottes!
200
Endlich kniet die Frau als
Geschöpf zu Füßen ihres Gottes nieder, der aber auch ihr Sohn ist, und der
Sohn, der Gott ist, legt seine Hände auf das Haupt der Jungfrau-Mutter, der
Ewig-Geliebten, und segnet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes. Dann neigt er sich zu ihr, hilft ihr beim Aufstehen und
drückt einen letzten Kuß auf die Stirn, die so weiß ist wie die Blüte einer
Lilie unter dem Gold des noch so jugendlichen Haares...
Sie begeben sich wieder zum Haus,
und niemand, der die beiden so ruhig nebeneinander gehen sieht, kann sich die
Woge der Liebe vorstellen, die noch kurz zuvor beide überflutet hat. Doch
welch ein Unterschied bei diesem Lebewohl zu der Traurigkeit bei anderen, nun
überstandenen Trennungen und dem Schmerz des Abschieds der Mutter von ihrem
getöteten Sohn, den sie allein im Grab zurücklassen mußte... !
Obgleich die Augen feucht sind
von den begreiflichen Tränen eines Menschen, der sich von seinem Liebsten
trennen muß, lächeln doch die Lippen in der Freude, zu wissen, daß dieser
Geliebte an einen Ort geht, der seiner Herrlichkeit würdig ist...
«Herr! Da draußen, zwischen dem
Hügel und Bethanien sind alle, die du, wie du deiner Mutter gesagt hast, heute
segnen willst», sagt Petrus.
«Gut. Gleich gehen wir zu ihnen.
Aber zuvor, kommt. Ich möchte mit euch noch einmal das Brot brechen.»
Sie gehen in den Raum, in dem
zehn Tage zuvor die Frauen sich zum Abendmahl am vierzehnten Tag des zweiten
Monats versammelt haben. Maria begleitet Jesus dorthin und zieht sich dann
zurück. Jesus bleibt mit den Elf allein.
Auf dem Tisch stehen gebratenes
Fleisch, kleine Käse und schwarze Oliven, ein kleiner Krug mit Wein und ein
größerer mit Wasser und flache Brote. Ein einfaches Mahl, nicht für eine
aufwendige Zeremonie, nur um den Hunger zu stillen.
Jesus segnet und teilt aus. Er
sitzt in der Mitte, zwischen Petrus und Jakobus des Alphäus, die er an diese
Plätze gerufen hat. Johannes, Judas des Alphäus und Jakobus sitzen ihm
gegenüber und Thomas, Philippus, Matthäus auf der einen und Andreas,
Bartholomäus und der Zelote auf der anderen Seite. So können alle ihren Jesus
sehen... Eine kurze, schweigsame Mahlzeit. Die Apostel, für die nun der letzte
Tag ihres Zusammenseins mit Jesus gekommen ist, haben trotz seiner
wiederholten Erscheinungen bei einem von ihnen oder bei allen zusammen die
ehrfürchtige Zurückhaltung in ihren Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus
nicht verloren.
Das Mahl ist zu Ende. Jesus
streckt die Hände vor sich über den Tisch aus, die übliche Geste, mit der er
eine unumgängliche Tatsache andeutet, und sagt:
«Nun ist es soweit. Die Stunde
ist gekommen, da ich euch verlassen
201
muß und zu meinem Vater
zurückkehre. Hört die letzten Worte eures Meisters.
Verlaßt Jerusalem nicht in diesen
Tagen. Lazarus, mit dem ich gesprochen habe, hat noch einmal den Wünschen
seines Meisters entsprochen und überläßt euch das Haus des letzten
Abendmahles, damit ihr einen Ort habt, wo ihr zusammenkommen und euch im Gebet
sammeln könnt. Bleibt in diesen Tagen dort und betet inständig, um euch auf
die Ankunft des Heiligen Geistes vorzubereiten, der euch für eure Aufgabe
vervollkommnen wird. Denkt daran, daß ich, obgleich Gott, mich durch eine
schwere Buße auf meine Aufgabe, das Evangelium zu verkünden, vorbereitet habe.
Eure Vorbereitung wird in jedem Fall leichter und kürzer sein. Aber ich
verlange nicht mehr von euch. Es genügt mir, wenn ihr inbrünstig betet, in
Vereinigung mit den zweiundsiebzig Jüngern und unter der Leitung meiner
Mutter, die ich euch mit der Sorge eines Sohnes anvertraue. Sie wird euch
Mutter und Lehrerin der Liebe und der vollkommenen Weisheit sein. Ich hätte
euch anderswohin senden können, um euch auf die Herabkunft des Heiligen
Geistes vorzubereiten; doch ich will, daß ihr hierbleibt, denn das so
abweisende Jerusalem soll staunen über die Fortsetzung der göttlichen Wunder,
die eine Antwort auf seine Leugnung sind.
Später wird euch dann der Heilige
Geist die Notwendigkeit erkennen lassen, daß die Kirche gerade in dieser Stadt
entsteht, die nach menschlichem Urteil die unwürdigste für sie ist. Aber
Jerusalem ist immer Jerusalem, auch wenn diese Stadt voller Sünde ist und in
ihr der Gottesmord stattgefunden hat. Für Jerusalem gibt es keine Rettung
mehr. Es ist verurteilt. Aber wenn auch die Stadt verurteilt ist, so sind doch
nicht alle ihre Bürger verurteilt. Bleibt, der wenigen Gerechten wegen, die in
ihr wohnen, und bleibt, weil Jerusalem die königliche Stadt, die Stadt des
Tempels ist und weil, wie es bei den Propheten geschrieben steht, hier, wo der
Messias-König gesalbt, ausgerufen und erhöht worden ist, auch sein Weltreich
seinen Anfang nehmen muß, weil hier, wo die Synagoge von Gott wegen ihrer
zahlreichen abscheulichen Verbrechen den Scheidebrief der Verstoßung erhalten
hat, der neue Tempel erstehen muß, zu dem die Menschen aller Nationen kommen
werden. Lest die Propheten. Sie haben alles vorhergesagt. Zuerst wird euch
meine Mutter und dann der Heilige Geist die Worte der Propheten für diese Zeit
erhellen. Bleibt hier, bis Jerusalem euch verstößt, wie es mich verstoßen hat,
und meine Kirche haßt, wie es mich gehaßt hat, und Pläne schmiedet, um sie zu
zerstören. Dann verlegt den Sitz meiner geliebten Kirche an einen anderen Ort,
denn sie darf nicht untergehen.
Ich sage euch: Nicht einmal die
Hölle wird sie überwältigen. Doch wenn Gott euch auch seinen Schutz zusichert,
versucht nicht den Himmel, indem ihr alles vom Himmel erwartet.
202
Geht nach Ephraim, wie euer
Meister dorthin gegangen ist, weil die Stunde noch nicht gekommen war, da er
von seinen Feinden gefangengenommen werden sollte. Ich sage Ephraim und meine
damit die Länder der Götzen und der Heiden. Aber nicht Ephraim in Palästina
sollt ihr als Sitz meiner Kirche wählen. Denkt daran, wie oft ich zu euch,
einzeln oder allen zusammen, gesprochen und euch vorhergesagt habe, daß ihr
die Straßen der Welt durchwandern werdet, um zu ihrem Herzen zu gelangen und
dort meine Kirche zu begründen. Aus dem Herzen des Menschen gelangt das Blut
in alle Glieder. Und aus dem Herzen der Welt soll sich das Christentum über
die ganze Erde verbreiten.
Jetzt gleicht die Kirche noch
einem Mutterleib, und in ihm verteilt das noch kleine Herz, um das sich die
wenigen Glieder der entstehenden Kirche sammeln, das Blut in diese Glieder.
Aber sobald die von Gott festgesetzte Stunde gekommen ist, wird der
stiefmütterliche Leib das in seinem Schoß gebildete Geschöpf ausstoßen, und es
wird in ein neues Land gehen und zu einem großen Leib heranwachsen, der sich
über die ganze Erde ausbreiten wird. Und die Schläge des starken Herzens der
Kirche werden sich dem ganzen Körper mitteilen. Das Herz der Kirche wird
schlagen, befreit von allen Bindungen an den Tempel, ewig und siegreich, über
den Trümmern des zerstörten Tempels, lebendig im Herzen der Welt, um Hebräern
und Heiden zu sagen, daß Gott allein siegt und tut, was er will, und daß weder
der Haß der Menschen, noch die Scharen der Götzen seinem Willen ein Hindernis
sein können.
Doch dies wird erst später
geschehen, und ihr werdet dann wissen, was zu tun ist. Der Geist Gottes wird
euch leiten. Fürchtet nicht.
Versammelt jetzt die erste
Gemeinde der Gläubigen in Jerusalem. Später werden sich weitere Gruppen
bilden, je mehr die Zahl der Gläubigen wächst. Wahrlich, ich sage euch, die
Bürger meines Reiches werden sich rasch vermehren, wie in fruchtbares Erdreich
gestreuter Samen. Mein Volk wird sich über die ganze Erde ausbreiten.
Der Herr spricht zum Herrn: "Da
du dies alles getan und dich nicht geschont hast, will ich dich segnen und
deine Nachkommenschaft zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und den
Sand am Gestade des Meeres. Deine Nachkommen sollen das Tor ihrer Feinde
besetzen, und in deinen Nachkommen sollen alle Völker der Erde gesegnet sein!'
Mein Name, mein Zeichen und mein Gesetz sind ein Segen, dort wo sie anerkannt
werden.
Der Heilige Geist, der
Heiligmacher, ist im Kommen, und ihr werdet von ihm erfüllt werden. Sorgt
dafür, daß ihr rein seid, wie alles, was sich dem Herrn nähert, rein sein muß.
Ich war Herr wie er, und doch habe ich meine Gottheit unter einem Gewand
verborgen, um unter euch weilen zu können, nicht nur, um euch zu unterweisen
und zu erlösen mit den Gliedern und dem Blut dieses Gewandes, sondern auch um
den Heiligen der
203
Heiligen unter die Menschen zu
bringen, ohne daß jeder Mensch, auch der unreine, in ungebührlicher Weise den
Blick auf jenen richtet, den selbst die Seraphim nur mit Furcht und Zittern
schauen.
Aber der Heilige Geist wird ohne
die Hülle des Fleisches kommen, auf euch ruhen und sich mit seinen sieben
Gaben in euch ergießen und euch raten.
Nun ist der Rat Gottes etwas so
Erhabenes, daß es erforderlich ist, sich darauf vorzubereiten mit heroischem
Willen und einer Vollkommenheit, die euch eurem Vater und eurem Jesus ähnlich
macht, und eurem Jesus in seiner Beziehung zum Vater und zum Heiligen Geist.
Also vollkommene Liebe und vollkommene Reinheit, um die Liebe verstehen zu
können und sie auf dem Thron des Herzens zu empfangen.
Verliert euch im Abgrund der
Betrachtung. Bemüht euch zu vergessen, daß ihr Menschen seid, und versucht,
euch in Seraphim zu verwandeln. Werft euch in den Feuerofen, in die Flammen
der Betrachtung. Die Betrachtung Gottes gleicht dem Funken, der mit seinem
Feuer und Licht entsteht, wenn man den Feuerstein auf den Stahl schlägt. Das
Feuer reinigt, indem es die unreine und trübe Materie verzehrt und sie in eine
leuchtende, reine Flamme verwandelt.
Ihr werdet das Reich Gottes nicht
in euch haben, wenn ihr die Liebe nicht habt. Denn das Reich Gottes ist die
Liebe, erscheint mit der Liebe und nimmt durch die Liebe eure Herzen in Besitz
im Glanz eines überwältigenden Lichtes, das eindringt und befruchtet, die
Unwissenheit aufhebt, Weisheit verleiht, den Menschen vernichtet und
Göttliches erschafft, das Kind Gottes, meinen Bruder, den König für den Thron,
den Gott jenen bereitet hat, die sich Gott hingeben, um Gott zu besitzen,
Gott, Gott, Gott allein. Seid daher rein und heilig durch die glühende
Anbetung, die den Menschen heiligt, da sie ihn versenkt in das Feuer Gottes,
der die Liebe ist.
Ihr sollt heilig sein. Nicht in
dem relativen Sinn, den dieses Wort bis jetzt gehabt hat, sondern in dem
absoluten Sinn, den ich ihm gegeben habe, da ich euch die Heiligkeit des Herrn
als Beispiel und Maßstab gezeigt habe, also die vollkommene Heiligkeit. Wir
nennen den Tempel heilig, und auch den Ort, an dem der Altar steht, und das
Allerheiligste nennen wir den verhüllten Ort, wo sich die Bundeslade mit der
Versöhnungsplatte befindet. Aber wahrlich, ich sage euch, alle, die die Gnade
besitzen und in Heiligkeit leben aus Liebe zum Herrn, sind heiliger als das
Allerheiligste; denn Gott steigt nicht nur auf sie hernieder wie auf die
Versöhnungsplatte im Tempel, um seine Befehle zu erteilen, sondern er wohnt in
ihnen, um ihnen seine Liebe zu schenken.
Erinnert ihr euch an meine Worte
beim Letzten Abendmahl? Ich habe euch damals den Heiligen Geist versprochen.
Nun, er kommt bald und wird euch taufen; nicht mehr mit Wasser, wie Johannes
es getan hat, um
204
euch auf mich vorzubereiten,
sondern mit Feuer, um euch darauf vorzubereiten, dem Herrn zu dienen, wie er
es von euch verlangt. Er wird hier sein in wenigen Tagen. Und nach seinem
Kommen werden sich eure Fähigkeiten ins Grenzenlose vermehren, und ihr werdet
imstande sein, die Worte eures Königs zu verstehen und die Werke zu tun, die
er euch geboten hat, um sein Reich über die Erde auszubreiten.»
«Wirst du also nach der Ankunft
des Heiligen Geistes das Reich Israel wiederherstellen?» fragen sie und
unterbrechen ihn.
«Es wird kein Reich Israel mehr
geben, sondern mein Reich. Und es wird vollendet sein, wann der Vater gesagt
hat. Es ist nicht eure Sache, Zeit und Stunde zu wissen, die der Vater sich in
seiner Macht vorbehalten hat. Doch ihr werdet indessen die Kraft des Heiligen
Geistes empfangen, der über euch kommen wird, und ihr werdet meine Zeugen sein
in Jerusalern, in Judäa und in Samaria und bis an die Grenzen der Erde. Ihr
werdet Gemeinden gründen, wo Menschen in meinem Namen versammelt sind; ihr
werdet die Völker taufen im heiligsten Namen des Vaters, des Sohnes, des
Heiligen Geistes, so wie ich euch gesagt habe, damit sie die Gnade haben und
im Herrn leben; ihr werdet allen Menschen das Evangelium
,verkünden und lehren, was ich
euch gelehrt habe, und tun, was ich euch zu tun geboten habe.
Und ich werde bei euch sein alle
Tage bis ans Ende der Welt!
Und eines noch will ich. Jakobus,
mein Bruder, soll Vorsteher der Gemeinde von Jerusalem sein.
Petrus, als Haupt der ganzen
Kirche, wird häufig apostolische Reisen unternehmen müssen, denn alle
Neubekehrten werden verlangen, den Oberhirten der Kirche kennenzulernen. Aber
groß wird der Einfluß meines Bruders auf die Gläubigen dieser ersten Kirche
sein. Die Menschen sind immer Menschen und sehen die Dinge wie Menschen. Für
sie wird Jakobus meine Fortsetzung sein, nur weil er mein Bruder ist.
Wahrlich, ich sage euch, größer und Christus ähnlicher ist er durch seine
Weisheit, als durch die Verwandtschaft. Aber so ist es eben. Die Menschen, die
mich nicht gesucht haben, solange ich unter ihnen weilte, werden mich nun in
ihm suchen, der mit mir verwandt ist. Du, Simon Petrus, wirst zu anderen Ehren
bestimmt sein...»
«Das verdiene ich nicht, Herr.
Ich habe es dir schon gesagt, als du mir erschienen bist, und ich wiederhole
es noch einmal in Gegenwart aller. Du bist nicht nur weise, sondern auch gut,
göttlich gut, und du hast mich, der ich dich in dieser Stadt verleugnet habe,
zu Recht für nicht geeignet gehalten, hier das geistige Haupt zu sein. Du
willst mir viel gerechten Hohn ersparen...»
«Alle waren wir gleich, Simon,
mit Ausnahme von zweien. Auch ich bin geflohen. Nicht deshalb, sondern aus den
Gründen, die der Herr genannt hat, hat er mich für dieses Amt bestimmt. Aber
du bist mein Oberhaupt,
205
Simon des Jonas, und ich erkenne
dich als solches in Gegenwart des Herrn und aller Gefährten an und gelobe dir
Gehorsam. Ich werde dir geben, was ich kann, um dir bei deiner Aufgabe zu
helfen, aber ich bitte dich, gib mir deine Weisungen, denn du bist das Haupt
und ich der Untergebene. Als der Herr mir eine vor langer Zeit gegebene
Unterweisung in die Erinnerung zurückrief, habe ich das Haupt geneigt und
gesagt: "Es geschehe, wie du willst." Ebenso werde ich zu dir sagen, sobald
der Herr uns verlassen hat und du sein Stellvertreter auf Erden bist. Und wir
werden einander in Liebe im priesterlichen Amt behilflich sein», sagt Jakobus
und verneigt sich an seinem Platz, um Petrus Ehre zu bezeugen.
«Ja, liebt einander, seid euch
gegenseitig behilflich, denn dies ist das neue Gebot und der Beweis, daß ihr
wahrhaft Christus angehört.
Laßt euch durch nichts
beunruhigen. Gott ist mit euch. Ihr könnt tun, was ich von euch will. Ich
verlange nichts von euch, was ihr nicht tun könnt, denn ich will nicht euer
Verderben, sondern eure Verherrlichung.
Nun, ich gehe, um euren Platz an
der Seite meines Thrones vorzubereiten. Seid mit mir und mit dem Vater in der
Liebe vereint. Verzeiht der Welt, die euch haßt. Nennt jene, die zu euch
kommen oder schon aus Liebe zu mir mit euch verbunden sind, Söhne und Brüder.
Seid beruhigt in der Gewißheit,
daß ich immer bereit bin, euch das Kreuz tragen zu helfen. Ich werde bei euch
sein in den Mühen eures Amtes und in der Stunde der Verfolgungen, und ihr
werdet nicht umkommen und nicht unterliegen, auch wenn es denen, die euch mit
den Augen der Welt sehen, so scheinen mag. Ihr werdet eine große Last tragen,
traurig und müde sein und euch quälen, aber meine Freude wird in euch sein,
denn ich werde euch in allem helfen. Wahrlich, ich sage euch, wenn die Liebe
euer Freund ist, dann werdet ihr verstehen, daß alles leichtfällt, was man aus
Liebe zu mir durchlebt und erduldet, auch wenn es eine große Marter der Welt
ist. Denn wer alle seine freiwilligen oder unfreiwilligen Werke mit Liebe
umkleidet, verwandelt das vom Leben und der Welt auferlegte Joch in ein von
Gott, von mir, auferlegtes Joch. Und ich wiederhole euch, meine Bürde ist
immer eurer Kraft angemessen und mein Joch ist leicht, denn ich helfe euch, es
zu tragen.
Ihr wißt, daß die Welt nicht zu
lieben weiß. Doch ihr müßt von nun an die Welt mit übernatürlicher Liebe
lieben, um sie lieben zu lehren. Und wenn sie zu euch sagen, da sie euch
verfolgt sehen: "So liebt euch Gott? Indem er euch quält und Schmerz bereitet?
Dann lohnt es sich nicht, Gott anzugehören", dann müßt ihr antworten: "Der
Schmerz kommt nicht von Gott. Gott läßt ihn nur zu, und wir kennen die Gründe
nicht, aber wir rühmen uns, Anteil zu haben an dem Los Jesu, des Retters, des
Sohnes Gottes." Antwortet: "Wir rühmen uns, ans Kreuz geschlagen zu werden und
die Passion unseres Jesus fortzusetzen." Antwortet mit den Worten der
Weisheit: "Durch den Neid des Teufels sind der Tod und der Schmerz in die
206
Welt gekommen. Denn Gott hat den
Tod und den Schmerz nicht gemacht und freut sich nicht über den Schmerz der
Lebenden. Hat er doch alles zum Sein erschaffen und alles ist heilbringend."
Antwortet: "Jetzt scheinen wir verfolgt und besiegt zu sein, aber am Tag
Gottes wird sich alles ändern. Dann werden wir Gerechten, auf dieser Erde
Verfolgten, verherrlicht denen gegenübertreten, die uns bedrängt und
verspottet haben."
Ihr sollt aber auch zu ihnen
sagen: "Kommt zu uns! Kommt zum Leben und zum Frieden. Unser Herr will nicht
euren Untergang, sondern euer Heil. Daher hat er seinen geliebten Sohn
dahingegeben, auf daß ihr alle gerettet werdet."
Und freut euch, an meinen Leiden
teilhaben zu dürfen, um dann mit mir in der Herrlichkeit sein zu können.
"Ich werde euer übergroßer Lohn
sein", verspricht der Herr in Abraham allen seinen treuen Dienern. Ihr wißt,
wie man das Himmelreich erobert: mit Gewalt; und man geht dorthin durch viele
Mühsale und Bedrängnisse. Aber wer ausharrt, wie ich ausgeharrt habe, wird am
Ende sein, wo ich bin. Ich habe euch den Weg und die Pforte gewiesen, die ins
Reich des Himmels führen; den Weg, den ich als erster gegangen bin, und die
Pforte, durch die ich zum Vater zurückgekehrt bin. Gäbe es andere, hätte ich
sie euch gelehrt, denn ich habe Mitleid mit eurer menschlichen Schwäche. Aber
es gibt keine anderen... Indem ich sie euch als einzigen Weg und einzige
Pforte weise, sage ich euch auch, wiederhole ich euch, welches die Medizin
ist, die euch die Kraft verleiht, diesen Weg zu gehen und einzutreten. Es ist
die Liebe. Immer die Liebe. Alles wird möglich, wenn die Liebe in uns ist. Und
diese große Liebe wird euch die Liebe schenken, die euch liebt, wenn ihr sie
in meinem Namen um so viel Liebe bittet, daß ihr Meister der Heiligkeit
werdet.
Nun wollen wir uns den
Abschiedskuß geben, o meine geliebten Freunde!»
Er steht auf, um sie zu umarmen.
Alle tun es ebenfalls. Aber während Jesus friedvoll und wahrhaft göttlich
schön lächelt, weinen sie zutiefst betrübt. Und Johannes schmiegt sich an die
Brust Jesu und wird von oben bis unten von so qualvollem Schluchzen
geschüttelt, daß es ihm die Brust zu sprengen scheint. Da er ihren Wunsch
errät, bittet er im Namen aller: «Gib uns doch wenigstens dein Brot, daß es
uns in dieser Stunde stärke.»
«So sei es!» antwortet Jesus. Und
er nimmt ein Brot, segnet und opfert es, bricht es und wiederholt dabei die
rituellen Worte. Und dasselbe tut er mit dem Wein und wiederholt dann: «Tut
dies zu meinem Gedächtnis», und fügt hinzu: «Denn ich hinterlasse euch auch
dieses Unterpfand meiner Liebe, um noch und immer bei euch zu sein, bis ihr
mit mir im Himmel sein werdet.» Er segnet sie und sagt: «Und nun gehen wir.»
Sie verlassen den Raum und das
Haus...
207
Jonas, Maria und Markus, die
draußen stehen, knien nieder und beten Jesus an.
«Der Friede bleibe bei euch. Und
Gott möge euch vergelten, was ihr mir gegeben habt», sagt Jesus und segnet sie
im Vorübergehen.
Markus steht auf und sagt: «Herr,
die Ölgärten am Weg nach Bethanien sind voller Jünger, die auf dich warten.»
«Geh und sage ihnen, daß sie zum
Lager der Galiläer gehen sollen.»
Markus läuft mit seinen jungen
Beinen wie der Blitz davon.
«Dann sind also alle gekommen»,
sagen die Apostel zueinander.
Etwas weiter drüben, zwischen
Margziam und Maria des Kleophas, sitzt die Mutter des Herrn. Sie steht auf,
als sie Jesus kommen sieht, und betet ihn mit dem klopfenden Herzen der Mutter
und Getreuen an.
«Komm, Mutter, und auch du,
Maria...» lädt Jesus sie ein, als er sieht, daß sie stehenbleiben, gebannt von
seiner Majestät, die erstrahlt wie am Morgen der Auferstehung.
Aber Jesus will mit dieser
Majestät nicht einschüchtern und fragt Maria des Alphäus liebenswürdig: «Bist
du allein?»
«Die anderen... die anderen sind
vorausgegangen... mit den Hirten und... Lazarus und seiner ganzen Familie ...
Sie haben uns hier zurückgelassen, weil... Oh! Jesus! Jesus! Jesus ... ! Was
werde ich anfangen, wenn ich dich nicht mehr sehe, gebenedeiter Jesus, mein
Gott. Ich habe dich schon geliebt, bevor du geboren wurdest, ich, die ich
deinetwegen so sehr geweint habe, als ich nicht wußte, wo du warst nach dem
Kindermord... ich, deren Sonne dein Lächeln war, nachdem du zurückgekehrt
warst, und mein ganzes, mein ewiges Gut... ! Nun erst werde ich wirklich arm,
Witwe und allein sein... ! Solange du da warst, hatte ich alles... ! Ich
glaubte, an jenem Abend den größtmöglichen Schmerz kennengelernt zu haben...
Aber der Schmerz selbst, der ganze Schmerz dieses Tages, hatte mich betäubt...
ja, er war nicht so groß wie der jetzige... Und dann... Du würdest
auferstehen. Mir schien es, als würde ich nicht daran glauben, aber nun wird
mir bewußt, daß ich geglaubt habe; denn ich habe nicht das empfunden, was ich
jetzt empfinde...» Sie weint und keucht, denn die Tränen ersticken sie fast.
«Meine gute Maria, du bist
betrübt wie ein Kind, das glaubt, die Mutter liebe es nicht und habe es
verlassen, nur weil sie in die Stadt gegangen ist, um Geschenke einzukaufen,
die es glücklich machen werden, und bald zu ihm zurückkehren und es mit
Liebkosungen und Geschenken überschütten wird. Mache ich es denn nicht ebenso
mit dir? Gehe ich nicht, um dir die Freude vorzubereiten? Gehe ich nicht, um
wiederzukommen und dir zu sagen: "Komm, geliebte Verwandte und Jüngerin,
Mutter meiner geliebten Jünger"? Lasse ich dir nicht meine Liebe? Gebe ich dir
nicht meine Liebe, Maria? Du weißt doch, daß ich dich liebe! Weine nicht so,
sondern freue dich, denn du wirst mich nicht mehr geschmäht und erschöpft,
nicht
208
mehr verfolgt und nur von wenigen
geliebt sehen. Und mit meiner Liebe lasse ich dir meine Mutter. Johannes wird
ihr Sohn sein, doch du sollst ihr, wie immer, eine gute Schwester sein. Siehst
du? Sie, meine Mutter, weint nicht! Sie weiß, daß die Sehnsucht nach mir ihr
Herz verzehren wird, aber auch, daß die Wartezeit immer kurz sein wird im
Vergleich zur großen Freude der ewigen Vereinigung, und sie weiß, daß diese
unsere Trennung nicht so vollständig sein wird, daß sie sagen müßte: "Ich habe
keinen Sohn mehr." Das war der Aufschrei des Schmerzes am Tag der Schmerzen.
Nun singt die Hoffnung in ihrem Herzen: "Ich weiß, daß mein Sohn zum Vater
auffährt, aber er läßt mich nicht ohne seine geistige Liebe." So mußt auch du
glauben, und ihr alle... Hier sind nun die anderen Jünger und Jüngerinnen und
meine Hirten.»
Ich sehe die Gesichter des
Lazarus und seiner Schwestern unter denen der Diener von Bethanien; das
Gesicht der Johanna, das einer Rose unter einem Regenschleier gleicht, und die
Gesichter von Elisa und Nike, die schon vom Alter gezeichnet sind, und deren
Falten nun tiefer geworden sind durch den Schmerz, den Schmerz des Geschöpfes,
wenngleich die Seele jubelt über den Sieg des Herrn; und das Gesicht
Anastasicas, und die liliengleichen Gesichter der ersten Jungfrauen, und das
asketische Gesicht des Isaak, das vergeistigte des Matthias, das männliche des
Manaen und die ernsten Gesichter von Joseph und Nikodemus... Gesichter,
Gesichter, Gesichter...
Jesus ruft die Hirten, Lazarus,
Joseph, Nikodemus, Manaen, Maximinus und die übrigen der zweiundsiebzig Jünger
zu sich. Die Hirten jedoch behält er in seiner nächsten Nähe und sagt zu
ihnen: «Hierher. Kommt nahe zum Herrn, der vom Himmel gekommen ist und über
dessen Erniedrigung ihr euch geneigt habt. Kommt mit erfüllten Seelen zum
Herrn, der jetzt in den Himmel zurückkehrt, voll Freude über seine
Verherrlichung. Ihr habt diesen Platz verdient, denn ihr habt zu glauben
verstanden, allen widrigen Verhältnissen zum Trotz, und habt für euren Glauben
gelitten. Ich danke euch für eure treue Liebe. Euch allen danke ich. Dir,
Lazarus, mein Freund. Dir, Josef, und dir, Nikodemus, die ihr Christus eure
Liebe erzeigt habt, als dies für euch gefährlich sein konnte. Dir, Manaen, der
du die elende Gunst eines Unreinen verachtet hast, um auf meinem Weg zu
wandeln. Dir, Stephanus, blühende Krone der Gerechtigkeit, der du den
Unvollkommenen für den Vollkommenen verlassen hast und mit einem Kranz gekrönt
werden wirst, den du noch nicht kennst, den dir jedoch die Engel ankündigen
werden. Dir, Johannes, für kurze Zeit Bruder an der reinsten Brust und mehr
zum Licht gekommen als in Erscheinung getreten. Dir, Nikolaus, der du mich als
Proselyt über den Schmerz getröstet hast, den die Kinder dieser Nation mir
bereitet haben. Und euch, ihr guten, starken Jüngerinnen, die ihr trotz eurer
Sanftmut stärker als Judith gewesen seid. Und dir, Margziam, mein Junge, der
du von nun an Martial
209
heißen sollst zur Erinnerung an
den römischen Knaben, der auf der Straße getötet und vor das Tor des Lazarus
geworfen wurde mit der herausfordernden Tafel: "Nun sage dem Galiläer, daß er
dich auferweckt, wenn er Christus und auferstanden ist"; der letzte der
Unschuldigen, die in Palästina das Leben lassen mußten, um mir zu dienen, wenn
auch unbewußt, und der erste der Unschuldigen aller Nationen, die zu Christus
kommen und dafür gehaßt und vor der Zeit getötet werden, wie Blütenknospen,
die man von ihrem Stiel reißt, noch bevor sie erblüht sind. Und dieser Name, o
Martial, soll dir dein zukünftiges Schicksal weisen. Werde Apostel in
barbarischen Ländern und erobere sie für deinen Herrn, so wie meine Liebe den
römischen Knaben für den Himmel erobert hat. Alle, alle will ich bei diesem
Abschied segnen. Und ich erbitte vom Vater die Belohnung für sie, die dem
Menschensohn auf seinem schmerzhaften Weg Trost geschenkt haben. Gesegnet sei
die Menschheit in ihrem auserwählten Teil, den es bei den Juden wie bei den
Heiden gibt und der sich in der Liebe zu mir geoffenbart hat. Gesegnet sei das
Land mit seinen Kräutern und Blumen und seinen Früchten, die mir so oft Labung
und Erquickung geschenkt haben. Gesegnet sei das Land mit seinen Wassern und
seiner Wärme, seinen Vögeln und seinen Tieren, die oft den Menschen
übertroffen und dem Menschensohn Trost gespendet haben. Gesegnet seist du,
Sonne, und du, Meer, und ihr, Berge, Hügel und Ebenen. Gesegnet seid ihr,
Sterne, die ihr mir beim nächtlichen Gebet und im Leiden Gesellschaft
geleistet habt. Und du, Mond, der du mir auf meinen Pilgerwegen bei der
Verkündigung des Evangeliums Licht gespendet hast. Alle, alle, sollt ihr
gesegnet sein, ihr Geschöpfe und Werke meines Vaters, meine Gefährten in der
Todesstunde, Freunde dessen, der den Himmel verlassen hat, um die bedrängte
Menschheit von der Not der Sünde, die sie von Gott trennt, zu befreien. Auch
ihr, unschuldige Werkzeuge meiner Passion, Dornen, Nägel, Holz und Stricke,
sollt gesegnet sein, denn ihr habt mir geholfen, den Willen meines Vaters zu
vollbringen.»
Was für eine mächtige Stimme
Jesus hat! Sie breitet sich aus in der lauen, ruhigen Luft wie der Klang
angeschlagener Bronze. Sie breitet sich aus in Wellen über das Meer der
Gesichter, die ihn aus allen Richtungen anschauen. Mir scheint, es sind
Hunderte von Personen, die Jesus umgeben, der nun mit seinen Bevorzugten zum
Gipfel des Ölberges hinaufsteigt. Aber als er beim Lager der Galiläer
angekommen ist, wo nun zwischen dem einen und dem anderen Fest keine Zelte
stehen, befiehlt Jesus den Jüngern: «Sagt den Leuten, daß sie bleiben sollen,
wo sie sind, und folgt mir dann.»
Er geht noch weiter hinauf, bis
zum höchsten Punkt des Berges, der schon näher bei Bethanien als bei Jerusalem
liegt. Um ihn herum sind seine Mutter, die Apostel, Lazarus, die Hirten und
Margziam. Etwas weiter
210
hinten die anderen Jünger, die
einen Halbkreis bilden, um die Schar der Getreuen zurückzuhalten.
Jesus steht auf einem flachen,
weißen Stein, der etwas über das Grün einer Lichtung emporragt. Die Sonne
scheint auf ihn herab und läßt sein Gewand wie Schnee und sein Haar wie Gold
leuchten. Die Augen strahlen in einem göttlichen Licht.
Er öffnet die Arme, wie zu einer
Umarmung. Es scheint, als wolle er die ganze Menschheit an seine Brust ziehen,
die sein Geist in dieser Volksmenge vertreten sieht.
Seine unvergeßliche,
unnachahmliche Stimme gibt die letzte Anweisung: «Geht! Geht in meinem Namen
und verkündet den Völkern das Evangelium bis an die äußersten Grenzen der
Erde. Gott sei mit euch. Seine Liebe stärke euch, sein Licht leite euch, sein
Friede wohne in euch bis zum ewigen Leben.»
Er verklärt sich in Schönheit.
Schön! Schöner noch als auf dem Tabor. Alle fallen anbetend auf die Knie. Er
sucht noch einmal das Gesicht seiner Mutter, während er sich schon von dem
Stein, auf dem er steht, erhebt; und sein Lächeln strahlt eine Macht aus, die
niemand je wiedergeben können wird... Es ist sein letzter Gruß an die Mutter.
Er steigt und steigt... Die Sonne, die ihn nun noch ungehinderter küssen kann,
da keinerlei Laubwerk ihren Strahlen mehr im Weg ist, trifft mit ihrem ganzen
Glanz den Gottmenschen, der mit seinem allerheiligsten Körper zum Himmel
auffährt, und läßt die glorreichen Wunden wie lebendige Rubine aufleuchten.
Alles andere ist ein perlenschimmerndes Lächeln des Lichts. Es ist wahrhaft
das Licht, das sich in diesen letzten Augenblicken offenbart als das, was es
ist, wie in der Nacht der Geburt. Die Schöpfung erstrahlt im Licht des
auffahrenden Christus. Einem Licht, das die Sonne übertrifft. Ein
übernatürliches, beseligendes Licht. Ein Licht, das vom Himmel dem
aufsteigenden Licht entgegenkommt.
Und Jesus Christus, das Wort
Gottes, entschwindet dem Blick der Menschen in diesem Ozean von Licht...
Auf der Erde nur zwei Laute im
tiefen Schweigen der ekstatischen Menschenmenge: der Schrei Marias, als Jesus
entschwindet: «Jesus!» und das Weinen des Isaak.
Die anderen sind in andächtigem
Staunen verstummt und stehen da wie in Erwartung; bis zwei lichtstrahlende
Engel in menschlicher Gestalt erscheinen und die Worte sagen, die im ersten
Kapitel der Apostelgeschichte berichtet werden.
211
700. DIE WAHL DES MATTHIAS
Es ist ein friedlicher Abend. Das
Licht entschwindet sachte und breitet über den kurz zuvor noch purpurroten
Himmel einen zarten Schleier von Amethyst. Bald wird es dunkel sein, aber noch
herrscht das sanfte, matte abendliche Licht nach der heißen Sonne des Tages
vor.
Der weite Hof des Hauses des
Abendmahls zwischen den weißen Mauern ist voller Leute wie an den Abenden nach
der Auferstehung. Und von dieser Menschenmenge steigt der Klang von Gebeten
empor, nur unterbrochen von zeitweiser Betrachtung.
Da es immer dunkler in diesem von
hohen Mauern umschlossenen Hof wird, werden Lampen herbeigebracht und auf den
Tisch gestellt, an dem sich die Apostel versammelt haben: Petrus in der Mitte,
an seiner Seite Jakobus des Alphäus und Johannes und dann die anderen. Das
flackernde Licht der Flammen beleuchtet die Gesichter der Apostel von unten
und zeichnet ihre Züge und ihren Ausdruck in scharfen Linien: Das Gesicht des
Petrus konzentriert, fast angespannt in dem Bemühen, diese ersten Handlungen
seines Amtes würdig zu vollziehen; von asketischer Sanftmut das des Jakobus
des Alphäus; heiter und verträumt das des Johannes; und neben ihm das Gesicht
des Denkers Bartholomäus und das sehr lebhafte des Thomas; und dann das
Gesicht des Andreas, das sich quasi in Demut verhüllt und der mit fast
geschlossenen Augen und etwas gebeugt dasteht und zu sagen scheint: «Ich bin
nicht würdig»; neben ihm Matthäus, der einen Ellbogen auf die Hand des anderen
Armes stützt und die Wange in die Hand des aufgestützten Armes; und nach
Jakobus des Alphäus Thaddäus mit seinem würdevollen Gesicht und den Augen, die
in Farbe und Ausdruck so sehr an die Augen Jesu erinnern: ein wahrer Herrscher
über die Menge. Auch jetzt noch hält das Feuer seiner Augen die Versammlung in
Schach, mehr als alle anderen zusammen, und trotzdem erkennt man hinter seiner
ungewollt so würdevollen, königlichen Erscheinung die Zerknirschung seines
Herzens, wenn die Reihe an ihm ist, ein Gebet anzustimmen. Während er den
Psalm anstimmt: «Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib die
Ehre; um deiner Gnade willen und deiner Treue. Warum sollen sagen die Völker:
"Wo ist nun ihr Gott?"», betet Jakobus wirklich mit kniender Seele vor dem,
der ihn erwählt hat, und sein starkes innerliches Empfinden vibriert in seiner
Stimme. Auch er sagt mit seinem ganzen Beten: «Ich bin nicht würdig, dir zu
dienen, der du so vollkommen bist.» Das Gesicht des Philippus an seiner Seite
ist schon von den Jahren gezeichnet, obwohl er noch im besten Mannesalter ist;
er scheint etwas zu betrachten, was nur er allein sieht und drückt sein
Gesicht in die Hände, ein wenig gebeugt, ein wenig traurig... während der
Zelote in die Ferne schaut und innig lächelt, was sein nicht sehr schönes,
aber in seinem vornehmen Ernst anziehendes
212
Gesicht verschönt. Jakobus des
Zebedäus, impulsiv und lebhaft, spricht seine Gebete so, als würde er noch mit
dem geliebten Meister reden, und der zwölfte Psalm kommt voller Begeisterung
aus seinem glühenden Herzen.
Sie enden mit dem langen, sehr
schönen Psalm 118, von dem jeder zweimal reihum eine Strophe betet. Dann
verharren alle in Schweigen, bis Petrus, der sich inzwischen gesetzt hat, wie
von einer inneren Erleuchtung angetrieben aufspringt und laut und mit
ausgebreiteten Armen, wie der Herr es immer getan hat, zu beten beginnt:
«Sende uns, o Herr, deinen Geist, damit wir in deinem Licht erkennen können.»
«Maran Atha», sagen alle.
Petrus versinkt in inbrünstiges,
stummes Gebet, vielleicht ist es mehr ein Horchen als ein Beten, oder
zumindest ein Warten auf Worte des Lichtes... Dann hebt er wieder den Kopf und
breitet erneut die Arme aus, die er zuvor über der Brust gekreuzt hat, und da
er kleiner ist als die anderen, steigt er auf seinen Hocker, um die kleine im
Hof versammelte Schar zu überblicken und von allen gesehen zu werden. Und alle
schweigen, da sie verstehen, daß Petrus etwas zu sagen hat, und betrachten ihn
aufmerksam.
«Meine Brüder! Es war notwendig,
daß die Schrift erfüllt würde und Judas, wie vom Heiligen Geist durch den Mund
Davids vorhergesagt, denen den Weg wies, die unseren gebenedeiten Herrn und
Meister Jesus gefangennahmen. Er, Judas, war einer von uns, und er war zu
demselben Amt berufen. Aber seine Berufung wurde ihm zum Verderben, denn Satan
ergriff auf vielerlei Arten von seinem Inneren Besitz und machte aus dem
Apostel Jesu den Verräter seines Herrn. Er glaubte, siegen und genießen zu
können und sich so an dem Heiligen zu rächen, der die unreinen Hoffnungen
seines begierlichen, ungezügelten Herzens enttäuscht hatte. Aber als er zu
triumphieren und zu genießen glaubte, mußte er erkennen, daß der Mensch, der
sich zum Sklaven Satans, des Fleisches und der Welt macht, nicht siegt,
sondern im Staub kriecht wie der Besiegte. Und er mußte erkennen, daß der
Geschmack der Speisen, die vom Menschen und von Satan kommen, bitter und
vollkommen anders ist als das gute, einfache Brot, das Gott seinen Kindern
gibt. So verfiel er der Verzweiflung und haßte die ganze Welt, nachdem er Gott
gehaßt hatte, und verfluchte alles, was die Welt ihm gegeben hatte, und tötete
sich, indem er sich an einem Baum des Ölgartens erhängte, den er sich gekauft
hatte mit seinen Abscheulichkeiten. Und an dem Tag, an dem Christus glorreich
von den Toten auferstand, brach sein schon verfaulter, von Würmern
zerfressener Leib auf, und seine Eingeweide fielen zu Boden am Fuß des
Ölbaumes und machten den Ort zu einem unreinen Ort.
Auf Golgotha fiel das erlösende
Blut und reinigte die Erde, denn es war das Blut des Sohnes Gottes, der für
uns Mensch geworden war. Auf dem Hügel, der sich nahe dem Berg des Bösen Rates
befindet, fielen nicht Blut
213
und Tränen wahrer Reue in den
Staub, sondern ekelerregende, verweste Eingeweide. Denn kein anderes Blut
konnte sich mit dem des Heiligsten vermischen in jenen Tagen der Reinigung, an
denen das Lamm uns in seinem Blut wusch, und noch weniger konnte die Erde, die
das Blut des Sohnes Gottes getrunken hatte, auch das Blut des Sohnes Satans
trinken.
Die Sache ist allbekannt. Und so
weiß man auch, daß der verdammte Judas in seiner Raserei das unreine Geld des
niederträchtigen Handels in den Tempel zurückbrachte und es dem Hohenpriester
ins Gesicht warf. Und man weiß, daß die Hohenpriester und Ältesten sich
berieten und dann mit diesem Geld, das aus dem Tempelschatz stammte und nicht
mehr dorthin zurückgebracht werden konnte, weil es Blutgeld war, den
Töpferacker kauften, genau wie es bei den Propheten geschrieben steht, die
sogar den Preis dafür genannt haben. Und der Ort wird in die Geschichte der
Jahrhunderte eingehen unter dem Namen Hakeldama. Und alles, was zu Judas
gehörte, so steht es geschrieben, soll aus unserer Mitte getilgt werden,
selbst die Erinnerung an sein Gesicht. Was wir jedoch in Erinnerung behalten
müssen sind die Wege, auf denen der vom Herrn zum himmlischen Reich Berufene
hinabstieg, um Fürst im Reich der ewigen Finsternis zu werden, damit nicht
auch wir aus Mangel an Vorsicht in seine Fußstapfen treten und Judasse des
Wortes werden, das Gott uns anvertraut hat und das immer noch in Christus,
unserem Meister, unter uns ist.
Denn im Buch der Psalmen steht
geschrieben: "Seine Wohnstätte soll öde werden, niemand soll darin wohnen. Und
sein Amt soll ein anderer erhalten." Es ist daher nötig, daß aus diesen
Männern, die mit uns zusammen waren all die Zeit, da der Herr Jesus unter uns
ein- und ausging -angefangen von seiner Taufe durch Johannes, bis zu dem Tag,
an dem er aus unserer Mitte in den Himmel auffuhr – einer mit uns zum Zeugen
seiner Auferstehung werde. Und dies muß rasch geschehen, damit er mit uns die
Taufe durch das Feuer erhalte, von der der Herr gesprochen hat; damit auch er,
der den Heiligen Geist nicht schon durch den allerheiligsten Meister empfangen
hat, ihn direkt von Gott empfange und geheiligt und erleuchtet werde; damit er
die Macht erhalte, die wir erhalten werden, und richten und lossprechen kann,
damit er tun kann, was wir tun werden, und seine Werke gültig und heilig
seien.
Ich würde vorschlagen, ihn unter
den treuesten der treuen Jünger auszuwählen, unter denen, die schon
seinetwegen gelitten haben und ihm treu geblieben sind, als er der Welt noch
unbekannt war. Viele von diesen kommen von Johannes, dem Vorläufer des Messias
zu uns; Seelen, die seit Jahren im Dienst des Herrn erprobt sind. Der Herr hat
sie sehr geliebt, am meisten Isaak, der so viel für ihn gelitten hat, als
Jesus noch ein Kind war. Doch ihr wißt, daß sein Herz in der Nacht nach der
Himmelfahrt des Herrn gebrochen ist. Wir wollen nicht um ihn trauern. Er ist
214
wieder vereint mit seinem Herrn.
Das war sein einziger Herzenswunsch... Und es ist auch der unsere... Aber wir
müssen unseren Leidensweg gehen. Isaak hatte ihn schon hinter sich. Schlagt
daher ihr einige Namen vor, damit wir den zwölften Apostel wählen können gemäß
dem Brauch unseres Volkes, wonach wir es bei schweren Entscheidungen dem
allerhöchsten Herrn, der alles weiß, überlassen, uns ein Zeichen zu geben.»
Sie beraten sich untereinander.
Schon bald schlagen einige der wichtigeren Jünger (die nicht zu den Hirten
gehören) in Übereinstimmung mit den zehn Aposteln Joseph, den Sohn des Joseph
des Saba', vor, um den Vater, der für Christus gestorben ist, und den Sohn,
den treuen Jünger, zu ehren, und Matthias aus den gleichen Gründen und
überdies noch, um auch dessen ersten Meister, Johannes, zu ehren.
Und da Petrus ihren Rat annimmt,
lassen sie die beiden Jünger an den Tisch treten und beten mit vor sich
ausgestreckten Armen in der üblichen Gebetshaltung der Hebräer. «Du,
allerhöchster Herr, Vater, Sohn und Heiliger Geist, Heiligste Dreifaltigkeit,
ein einiger Gott, der du die Herzen aller kennst, zeige uns nun an, welchen
von diesen beiden du erwählt hast für dieses von Judas veruntreute Amt des
Apostels, um ihn zu ersetzen.»
«Maran Atha», antworten alle im
Chor.
Da sie keine Würfel und auch
nichts anderes haben, um das Los zu werfen, und Geld dazu nicht verwenden
wollen, sammeln sie im Hof herumliegende Steinchen, ebenso viele weiße wie
dunkle. Nachdem sie bestimmt haben, daß die weißen für Matthias und die
anderen für Joseph sind, werfen sie die Steinchen in einen Beutel, dessen
Inhalt sie zuvor ausgeleert haben, schütteln ihn und reichen ihn Petrus.
Petrus macht ein Segenszeichen darüber und greift dann, während er seine Augen
zum nun sternenübersäten Himmel erhebt und betet, mit der Hand hinein und holt
einen Stein heraus. Er ist weiß wie Schnee.
Der Herr hat Matthias zum
Nachfolger des Judas bestimmt.
Petrus geht um den Tisch herum
und umarmt ihn, «um ihn ihm ähnlich zu machen», wie er sagt.
Auch die übrigen Zehn wiederholen
diese Geste unter dem Beifall der kleinen Schar.
Zuletzt sagt Petrus, nachdem er
an seinen Platz zurückgekehrt ist, den Erwählten an der Hand an seiner Seite,
so daß Petrus nun zwischen Matthias und Jakobus des Alphäus steht: «Komm an
den Platz, den Gott dir bestimmt hat, und lösche durch deine Gerechtigkeit die
Erinnerung an Judas, indem du uns, deinen Brüdern, hilfst, die Werke zu
vollbringen, die der allerheiligste Jesus uns aufgetragen hat. Die Gnade
unseres Herrn Jesus Christus, sei immer mit dir.»
Barsabbas – Sohn des Saba
215
Petrus wendet sich an alle und
entläßt sie...
Während die Jünger sich langsam
durch eine Seitentür entfernen, kehren die Apostel in das Haus zurück und
führen Matthias zu Maria, die sich in andächtigem Gebet in ihrem Zimmer
befindet, auf daß der neue Apostel auch von der Mutter Gottes das Wort des
Grußes und der Erwählung empfange.
701. DIE HERABKUNFT DES HEILIGEN
GEISTES
Man hört keine Stimmen oder
Geräusche im Haus des Abendmahls. Es scheinen keine Jünger da zu sein;
wenigstens höre ich nichts, woraus ich schließen könnte, daß in anderen Räumen
des Hauses Personen versammelt sind. Man hört nur die Stimmen der zwölf
Apostel und der hochheiligen Maria, die sich im Abendmahlsaal aufhalten.
Der Saal scheint nun größer zu
sein, da die Einrichtung anders aufgestellt ist und den ganzen mittleren Teil
des Raumes und zwei Wände freiläßt. Der große Tisch des Abendmahls ist an die
dritte Wand gerückt, und zwischen ihm und den anderen Wänden, und auch an den
beiden Schmalseiten des Tisches, stehen nun die Liegen und der Schemel, den
Jesus bei der Fußwaschung benützt hat. Aber diese Liegen stehen jetzt nicht im
Winkel zum Tisch, sondern parallel dazu, so daß die Apostel sie zum Sitzen
nicht alle brauchen und eine, die einzige, die im Winkel zum Tisch steht, ganz
der heiligen Jungfrau überlassen können. So sitzt sie in der Mitte des
Tisches, an dem Platz, den Jesus beim Abendmahl eingenommen hat.
Auf dem Tisch liegt keine
Tischdecke, und auch kein Geschirr steht darauf, die Anrichten sind leer, die
Wände schmucklos. Nur die Lampe brennt. Aber nur die mittlere Flamme ist
angezündet, die anderen Lämpchen, die den merkwürdigen Leuchter wie eine Krone
umgeben, brennen nicht.
Die Fensterläden sind geschlossen
und mit schweren, schrägen Eisenstangen gesichert. Doch ein Sonnenstrahl
dringt keck durch ein winziges Loch und fällt wie eine lange, dünne Nadel auf
den Fußboden, wo er einen kleinen Lichtfleck bildet.
Die Jungfrau, die allein auf
ihrer Liege sitzt, hat Petrus und Johannes neben sich, rechts Petrus und links
Johannes. Matthias, der neue Apostel, befindet sich zwischen Jakobus des
Alphäus und Thaddäus. Vor der Muttergottes steht eine große, niedrige,
verschlossene Truhe aus dunklem Holz.
Maria ist dunkelblau gekleidet.
Auf dem Haar trägt sie den weißen Schleier und darüber den Saum des Mantels.
Von den anderen hat keiner das Haupt bedeckt.
216
Maria liest langsam und mit
lauter Stimme vor. Aber wegen des schwachen Lichtes glaube ich, daß sie
weniger liest als aus dem Gedächtnis die Worte der Schriftrolle wiederholt,
die sie entfaltet vor sich hält. Die anderen hören schweigend und nachdenklich
zu. Ab und zu antworten sie, wenn es angebracht ist.
Das Antlitz Marias ist von einem
verzückten Lächeln verklärt. Wer weiß, was sie sieht, daß ihre Augen strahlen
wie zwei helle Sterne und ihre elfenbeinfarbenen Wangen gerötet sind, als
würde eine rötliche Flamme ihren Schein auf sie werfen! Sie ist wahrlich die
mystische Rose...
Die Apostel neigen sich vor, um
ihr Gesicht zu sehen, da sie ein wenig schräg zu ihr sitzen, während sie so
sanft lächelt und liest und ihre Stimme dem Gesang eines Engels gleicht. Und
Petrus ist so gerührt, daß zwei dicke Tränen in seinen Augen erscheinen, durch
die Falten längs der Nase herunterrinnen und sich im Dickicht seines
graumelierten Bartes verlieren. Johannes hingegen spiegelt das jungfräuliche
Lächeln wider und ist in Liebe entflammt wie sie, während sein Blick auf dem
Pergament den Text verfolgt, den die Jungfrau liest; und wenn er ihr eine neue
Schriftrolle reicht, sieht er sie an und lächelt.
Die Lesung ist zu Ende. Die
Stimme Marias verstummt. Auch das Knistern der Pergamente beim Entrollen und
Aufrollen. Maria sammelt sich in stillem Gebet, faltet die Hände über der
Brust und lehnt das Haupt an die Truhe. Die Apostel beten ebenfalls...
Ein starkes, harmonisches
Brausen, das wie Wind und Harfenklang, wie Gesang von Menschen und der Akkord
einer herrlichen Orgel klingt, unterbricht plötzlich die morgendliche Stille.
Es nähert sich, wird immer wohltönender und lauter, erfüllt die Erde mit
seinen Schwingungen, erfaßt das Haus und überträgt sich auch auf Wände und
Möbel. Die bisher in der Ruhe des geschlossenen Raumes reglose Flamme des
Leuchters flackert wild, so als wehte ein Wind durch den Raum, und die
Kettchen der Lampe klirren und vibrieren bei diesem überwältigenden Klang.
Die Apostel heben bestürzt die
Köpfe, und da dieses großartige Brausen, in dem alle die schönsten Töne, die
Gott dem Himmel und der Erde geschenkt hat, enthalten sind, immer näher kommt,
stehen einige von ihnen auf, bereit zu entfliehen; andere kauern sich auf den
Boden, bedecken den Kopf mit den Händen und den Mänteln oder schlagen sich an
die Brust und bitten den Herrn um Vergebung; wieder andere klammern sich an
Maria, da sie zu erschrocken sind, um ihre sonst übliche Zurückhaltung
gegenüber der Reinsten zu wahren. Nur Johannes ist nicht erschrocken, denn er
sieht den strahlenden Frieden der Freude, der auf dem Antlitz Marias immer
ausgeprägter wird, als sie lächelnd das Haupt erhebt, einem nur von ihr
gesehenen Etwas entgegen, und dann auf die Knie sinkt und die Arme ausbreitet.
Die beiden blauen Flügel ihres so geöffneten Mantels bedecken Petrus und
Johannes, die wie sie ebenfalls niedergekniet sind.
217
Doch alles, was ich hier mit
einem gewissen Zeitaufwand niederschreibe, geschieht in einem Augenblick...
Und nun das Licht, das Feuer, der
Heilige Geist, der mit einem letzten melodischen Brausen in Form einer hell
leuchtenden, glühenden Kugel in den verschlossenen Raum eindringt, ohne daß
Türen oder Fenster sich bewegt hätten. Die Kugel schwebt einen Augenblick etwa
drei Handbreit über dem Haupt Marias, das nun unbedeckt ist, da Maria beim
Anblick des Feuers des Paraklets die Arme erhoben hat, als wolle sie es auf
sich herabrufen, und dabei den Kopf mit einem Freudenschrei, mit einem Lächeln
unendlicher Liebe, zurückgeworfen hat. Und nach diesem Augenblick, in dem sich
das ganze Feuer, die ganze Liebe des Heiligen Geistes auf seine Braut
konzentriert, teilt sich die heiligste Kugel in dreizehn wohlklingende und
hell strahlende Flammen, deren Licht keinen irdischen Vergleich zuläßt. Und
diese Flammen steigen herab und küssen die Stirn eines jeden Apostels.
Aber die Flamme, die sich auf
Maria niederläßt, ist keine senkrechte Feuerzunge, die die Stirn berührt,
sondern eine Krone, ein Stirnreif, der das jungfräuliche Haupt umgibt und die
Königin krönt, die Tochter, die Mutter, die Braut Gottes, die unversehrte
Jungfrau, die ganz Schöne, die ewig Geliebte und ewige Jungfrau, die nichts
Unreines berühren kann, sie, die durch den Schmerz gealtert war, aber in der
Freude der Auferstehung wiedererstanden ist und gemeinsam mit dem Sohn
vermehrte Schönheit und Frische des Fleisches und der Blicke und vermehrte
Lebenskraft erlangte... und so schon die Schönheit ihres glorreich in den
Himmel aufgenommenen Leibes, ihres zur Paradiesesblume erkorenen Leibes ahnen
läßt.
Der Heilige Geist läßt seine
Flammen um das Haupt der Geliebten erstrahlen. Was wird er ihr sagen?
Geheimnis. Das glückliche Antlitz ist verklärt in übernatürlicher Freude und
lächelt das Lächeln der Seraphim, während die Tränen auf den Wangen der
Gebenedeiten im Licht des Heiligen Geistes wie Diamanten strahlen.
Das Feuer verweilt einige Zeit...
Dann entschwindet es. An seine Herabkunft erinnert nur ein Duft, den keine
irdische Blume auszuströmen vermag... Der Duft des Paradieses...
Die Apostel kommen wieder zu
sich...
Maria bleibt in ihrer Ekstase.
Sie legt nur die Arme über die Brust, schließt die Augen, senkt das Haupt...
und setzt ihr Zwiegespräch mit Gott fort... unempfindlich gegen alles, was sie
umgibt...
Niemand wagt es, sie zu stören.
Johannes zeigt auf sie und sagt:
«Sie ist der Altar. Auf ihrer Herrlichkeit hat sich die Herrlichkeit Gottes
niedergelassen...»
«Ja. Stören wir ihre Freude
nicht. Gehen wir und verkünden wir den Herrn, damit seine Werke offenbar und
seine Worte den Völkern bekannt werden», sagt Petrus mit übernatürlicher
Begeisterung.
218
«Gehen wir! Gehen wir! Der Geist
Gottes brennt in mir», sagt Jakobus des Alphäus.
«Und er treibt uns an zu handeln.
Uns alle. Wir wollen gehen und den Heiden das Evangelium verkünden.»
Sie gehen hinaus, wie gezogen
oder geschoben von einer unwiderstehlichen Kraft.
Jesus sagt:
«Und damit ist das Werk beendet,
das meine Liebe für euch diktiert hat und das ihr durch die Liebe eines
Geschöpfes zu mir und zu euch erhalten habt.
Es ist heute beendet: am
Gedächtnistag der heiligen Zita von Lucca, der demütigen Magd, die ihrem Herrn
in Liebe in dieser Kirche von Lucca gedient hat, wohin ich meinen kleinen
Johannes aus der Ferne geführt habe, auf daß er mir in Demut und mit der
gleichen Liebe der heiligen Zita zu allen Unglücklichen diene.
Zita gab den Armen Brot im
Gedenken daran, daß ich in jedem Armen bin und alle an meiner Seite selig sein
werden, die die Hungrigen gespeist und die Durstigen getränkt haben.
Maria-Johannes hat meine Worte
denen weitergegeben, die schmachten in Unkenntnis oder in der Lauheit oder in
Glaubenszweifeln; eingedenk dessen, daß nach den Worten der ewigen Weisheit
alle, die sich bemühen, Gott unter den Menschen bekanntzumachen, wie Sterne in
der Ewigkeit leuchten werden, indem ihre Liebe verherrlicht und sie vielen zu
lieben vorgestellt wird.
Es ist beendet an dem Tag, an dem
die Kirche die reine Lilie des Feldes, Maria Teresa Goretti, zur Ehre der
Altäre erhebt, die Lilie, deren Stengel gebrochen wurde, als ihre Blüte noch
eine Knospe war. Und von wem gebrochen, wenn nicht von Satan, der neidisch auf
diese Reinheit war, die leuchtender war als seine frühere Engelsgestalt.
Gebrochen, weil sie dem göttlichen Liebenden heilig war. Jungfrau und
Märtyrerin Maria dieses schändlichen Jahrhunderts, in dem man die Ehre der
Frau verhöhnt und den Geifer von Reptilien ausspeit um zu leugnen, daß Gott
die Macht besitzt, seinem Wort, das durch den Heiligen Geist Fleisch
angenommen hat, um alle zu retten, die an ihn glauben, eine unversehrte
Wohnstatt zu bereiten.
Auch Maria-Johannes ist eine
Märtyrerin des Hasses, der nicht will, daß ihr meine Wunder durch dieses Werk
feiert, das als mächtige Waffe dient, um der Schlange viele Beute zu
entreißen. Aber auch Maria-Johannes weiß, wie Maria Teresa es gewußt hat, daß
das Martyrium, welchen Namen und welche Form es auch immer haben mag, ein
Schlüssel ist, der denen, die es erleiden, um meine Passion fortzusetzen,
unverzüglich das Reich des Himmels erschließt.
Das Werk ist zu Ende.
Und mit seinem Ende, mit der
Herabkunft des Heiligen Geistes, schließt der messianische Zyklus, den meine
Weisheit von seinem Beginn, der Unbefleckten Empfängnis Marias, bis zu seinem
Abschluß, der Herabkunft des Heiligen Geistes, erhellt hat. Der ganze
messianische Zyklus ist ein Werk des Geistes der Liebe für den, der zu sehen
versteht. Es ist daher richtig, ihn mit dem Geheimnis der Unbefleckten
Empfängnis der Braut der Liebe zu beginnen und mit dem feurigen Siegel des
Paraklets auf der Kirche Christi abzuschließen.
Die von Gott – von der Liebe
Gottes – kundgegebenen Werke enden mit Pfingsten. Von da an wirkt Gott auf
geheimnisvolle Weise in seinen Gläubigen, die vereint sind im Namen Jesu in
der einen, heiligen, katholischen, apostolischen, römischen Kirche. Und die
Kirche, also die Versammlung der Gläubigen: Hirten, Schafe und Lämmer, kann
voranschreiten, ohne zu irren, aufgrund des ununterbrochenen geistigen Wirkens
der Liebe, des Theologen der Theologen; dessen, der die wahren Theologen
unterrichtet, jene, die sich in Gott verlieren und in denen Gott wohnt, in
denen das Leben Gottes ist durch die Führung des Geistes Gottes, der sie
lenkt; jene, die wahrlich "Kinder Gottes" sind, nach der Vorstellung des
heiligen Paulus.
219
Am Ende des Werkes muß ich noch
einmal die Klage anfügen, die ihr am Ende des Kirchenjahres im Evangelium
findet, und in meinem Schmerz, meine Gabe mißachtet zu sehen, sage ich euch:
"Ihr werdet nichts anderes erhalten, weil ihr das, was ich euch gegeben habe,
nicht geschätzt habt!' Und ich wiederhole, was ich euch im vorigen Sommer habe
sagen lassen, um euch auf den rechten Weg zurückzuführen: "Ihr werdet mich
nicht mehr sehen bis zu dem Tag, an dem ihr sagt: 'Gebenedeit sei, der da
kommt im Namen des Herrn.-»
Das Werk ist heute, am 27. April
1947, beendet.
Viareggio – Via Fratti 113 –
Maria Valtorta
702. PETRUS, NICHT MEHR DER RAUHE
FISCHER,
IN SEINER NEUEN WÜRDE ALS
OBERHIRTE
(Von Pfingsten bis Mariä
Himmelfahrt)
Es ist eine der allerersten
Zusammenkünfte der Christen in den unmittelbar auf Pfingsten folgenden Tagen.
Die Apostel sind nun wieder zu
zwölft, denn Matthias, der bereits anstelle des Verräters gewählt wurde, ist
dabei. Und die Tatsache, daß sie alle zwölf beisammen sind, beweist, daß sie
sich noch nicht getrennt haben, um entsprechend der Weisung des Meisters seine
Botschaft zu verkünden. Daraus schließe ich, daß es kurz nach Pfingsten sein
muß und die Verfolgungen der Diener Christi durch das Synedrium noch nicht
begonnen haben. Wenn es nicht so wäre, dann würden sie nicht mit solcher Ruhe
die Feier abhalten, ohne sich viel um den Tempel zu kümmern, ohne
Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und das in einem Haus, nämlich im Haus des
Abendmahles, genauer gesagt im Saal des Letzten Abendmahles, in dem die
Eucharistie eingesetzt wurde und der Verrat und die Passion begonnen haben.
In dem großen Saal hat sich
einiges verändert, wie es wegen seiner neuen Verwendung als Kirche und in
Anbetracht der Zahl der Gläubigen notwendig war. Der große Tisch steht nicht
mehr an der Wand neben der Treppe, sondern an der gegenüberliegenden Wand,
damit jene, die im schon überfüllten Saal keinen Platz mehr finden – dem
Abendmahlsaal, der ersten Kirche der christlichen Welt – sehen können, was
drinnen geschieht. Sie stehen dicht gedrängt im Gang bis zur Tür, durch die
man den Raum betritt.
Im Saal sind Männer und Frauen
jeden Alters. Inmitten einer Gruppe von Frauen, nahe beim Tisch, aber in einer
Ecke, befindet sich Maria, die Mutter, umgeben von Martha und Maria des
Lazarus, Nike, Elisa, Maria des Alphäus, Salome, Johanna des Chuza,
schließlich viele der hebräischen oder auch nicht hebräischen Jüngerinnen, die
Jesus geheilt, getröstet, in seiner Lehre unterwiesen und zu Schäfchen seiner
Herde gemacht hat.
220
Bei den Männern sind Nikodemus,
Lazarus, Joseph von Arimathäa, sehr viele Jünger, unter ihnen Stephanus,
Hermas, die Hirten, sowie Elisäus, der Sohn des Synagogenvorstehers von
Engedi, und sehr viele andere. Auch Longinus ist da, nicht als Soldat
gekleidet, sondern wie ein gewöhnlicher Bürger in einem schlichten, langen,
gräulichen Gewand. Dann noch andere, die anscheinend erst nach Pfingsten und
den ersten Predigten der zwölf Apostel zur christlichen Gemeinde gekommen
sind.
Auch jetzt ergreift Petrus das
Wort, verkündet das Evangelium und unterweist die Anwesenden. Er spricht noch
einmal über das letzte Abendmahl. Noch einmal, denn seinen Worten ist zu
entnehmen, daß er schon öfters gesprochen hat. Er sagt: «Ich möchte noch
einmal von diesem Abendmahl sprechen» und betont diese Worte besonders, «bei
dem Jesus von Nazareth, genannt Jesus Christus, der Sohn Gottes und unser
Erlöser – wie es geschrieben steht und wie wir es von ganzem Herzen und ganzer
Seele glauben müssen, denn in diesem Glauben liegt unser Heil – bevor er von
den Menschen geopfert wurde, sich aus freiem Willen und im Übermaß seiner
Liebe selbst geopfert und sich den Menschen zur Speise und zum Trank geschenkt
hat. Dabei sagte er uns, seinen Dienern und Nachfolgern: "Tut dies zu meinem
Gedächtnis." Und dies wollen wir hiermit tun. Aber, o ihr Menschen, so wie
wir, seine Zeugen, glauben, daß in dem Brot und dem Wein, die wir, seinem
göttlichen Beispiel folgend, zu seinem Gedächtnis und im Gehorsam gegenüber
seinem Gebot aufopfern und segnen, sein heiligster Leib und sein heiligstes
Blut enthalten sind -dieser Leib und dieses Blut eines Gottes, des Sohnes des
Allerhöchsten Gottes, der gekreuzigt wurde und sein Blut aus Liebe und für das
Leben der Menschen vergossen hat – so sollt auch ihr, ihr alle, glauben, die
ihr gekommen seid, um zur wahren, neuen, unsterblichen Kirche zu gehören, die
die Propheten vorhergesagt haben und die Christus gegründet hat. Glaubt also
und preist den Herrn, der uns dieses ewige Zeichen seiner Vergebung
hinterläßt. Uns, die wir ihn, wenn auch nicht tatsächlich, so doch moralisch
und seelisch gekreuzigt haben durch unsere Schwäche in seinem Dienst, durch
unsere Schwerfälligkeit, ihn zu verstehen, durch unsere Feigheit, ihn in
seiner letzten Stunde verlassen zu haben und geflohen zu sein, durch unseren,
nein, durch meinen persönlichen Verrat, als ich so voll Angst und so feige
war, daß ich ihn sogar verleugnet und geleugnet habe, sein Jünger zu sein,
kurz vor der ersten Stunde, dort im Hof des Tempels, obwohl ich doch der erste
unter seinen Dienern bin (und dicke Tränen rollen über das Gesicht des
Petrus). Glaubt also und preist den Herrn, wie ich gesagt habe. Glaubt und
preist den Herrn, der jenen, die ihn nicht kannten, als er noch der Nazarener
war, die Gnade schenkt, ihn nun kennenlernen zu dürfen, da das menschgewordene
Wort sich wieder mit dem Vater vereint hat. Kommt und nehmt. Er hat es gesagt:
"Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, wird das ewige Leben haben."
Leider
221
haben wir es damals nicht
verstanden. (Petrus weint noch einmal.) Wir haben es nicht verstanden, denn
unser Geist war schwerfällig. Doch nun hat der Heilige Geist unseren Verstand
erleuchtet, unseren Glauben gefestigt und uns die Liebe eingegossen, und wir
begreifen. Und im Namen des allmächtigen Gottes, des Gottes Abrahams, Jakobs
und Moses, im höchsten Namen des Gottes, der zu Isaias, Jeremias, Ezechiel,
Daniel und den anderen Propheten gesprochen hat, schwören wir euch, daß dies
die Wahrheit ist, und wir beschwören euch zu glauben, damit ihr das ewige
Leben erlangt.»
Petrus ist voller Majestät bei
dieser Rede. Er hat nichts mehr von dem etwas rauhen Fischer an sich, der er
noch vor kurzem war. Er ist auf einen Hocker gestiegen, um zu sprechen und
besser gesehen und gehört zu werden, da er klein von Gestalt ist. Wäre er auf
dem Boden geblieben, hätten ihn die Leute weiter hinten nicht sehen können;
und er will die Versammlung überblicken. Er spricht in gemessenem Tonfall und
unterstreicht seine Worte mit den Gesten eines wahren Redners. Seine schon
immer ausdrucksvollen Augen sprechen nun mehr denn je. Liebe, Glaube,
Überzeugung, Reue, alles spricht aus seinem Blick, eilt seinen Worten voraus
und unterstreicht sie.
Nun hat er seine Rede beendet. Er
steigt von seinem Hocker und geht hinter den Tisch, zwischen den Tisch und die
Wand, und wartet.
Jakobus und Judas, die beiden
Söhne des Alphäus und Vettern Jesu, breiten jetzt ein blendend weißes Tuch
über den Tisch. Um dies tun zu können, heben sie den langen niedrigen Schrein
in der Mitte des Tisches hoch und legen dann auch über den Deckel des Schreins
ein feines Linnen.
Der Apostel Johannes geht nun zu
Maria und bittet sie um etwas. Maria löst von ihrem Hals eine Art
Schlüsselchen und gibt es Johannes. Johannes nimmt es, geht zu dem Schrein,
öffnet ihn, klappt die Vorderseite herab auf das Tischtuch und bedeckt sie mit
einem dritten Linnen.
Der Schrein ist innen waagrecht
in zwei Fächer geteilt. Im unteren Fach befinden sich ein Kelch und ein
Metallteller. Im oberen Fach steht in der Mitte der Kelch, den Jesus beim
Letzten Abendmahl für die erste Eucharistie verwendet hat, und darauf liegen
auf einem ebenso kostbaren Tellerchen wie der Kelch die Reste des Brotes, das
er gebrochen hat. Neben dem Kelch mit dem Tellerchen liegen auf einer Seite
die Dornenkrone, die Nägel und der Schwamm, und auf der anderen eines der
zusammengerollten Grabtücher, der Schleier, mit dem Nike das Antlitz Jesu
abgetrocknet hat, und der andere, den Maria ihrem Sohn als Lendentuch gegeben
hat. Weiter hinten sind noch andere Dinge, aber da man sie nicht richtig sieht
und auch niemand von ihnen spricht oder sie zeigt, weiß ich nicht, was es ist.
Die, die man sieht, werden nun den Anwesenden von Johannes und Judas des
Alphäus gezeigt, und die Leute knien davor nieder. Aber den Kelch und das
Tellerchen mit dem Brot berühren und zeigen sie nicht.
222
Auch rollen sie das Grabtuch
nicht auf, sondern zeigen nur die Rolle und erklären, was es ist. Vielleicht
wollen Johannes und Judas es nicht ausbreiten, um in Maria nicht die
schmerzliche Erinnerung an die grausamen Qualen ihres Sohnes zu wecken.
Nach Beendigung dieses Teils der
Zeremonie stimmen die Apostel im Chor Gebete an, ich würde sagen, Psalmen,
denn sie singen, wie es die Hebräer in ihren Synagogen oder auf den
Pilgerfahrten nach Jerusalem zu den vom Gesetz vorgeschriebenen Festen taten.
Die Volksmenge stimmt in den Chor der Apostel ein, der dadurch immer mächtiger
wird.
Schließlich werden Brote gebracht
und auf den Metallteller gelegt, der im unteren Teil des Schreins war. Auch
einige kleine Metallkannen bringt man.
Petrus, der immer zwischen dem
Tisch und der Wand und dem Volk zugewandt steht, empfängt von Johannes, der
vor dem Tisch kniet, den Teller mit den Broten, erhebt sie und opfert sie auf.
Dann segnet er sie und stellt den Teller auf den Schrein.
Judas des Alphäus, der neben
Johannes kniet, reicht nun Petrus den Kelch aus dem unteren Fach und die
beiden Kännchen, die zuvor neben dem Teller mit dem Brot gestanden sind, und
Petrus gießt den Inhalt der Kännchen in den Kelch, erhebt diesen und opfert
ihn auf wie zuvor das Brot. Er segnet auch den Kelch und stellt ihn auf den
Schrein neben die Brote.
Sie beten noch einmal. Petrus
bricht das Brot in viele Stückchen, während die Anwesenden sich noch tiefer
verneigen, und sagt: «Das ist mein Leib. Tut dies zu meinem Gedächtnis.»
Er kommt nun mit dem Teller mit
den Brotstückchen hinter dem Tisch hervor und geht zuerst zu Maria und gibt
ihr ein Stückchen. Dann stellt er sich vor den Tisch und teilt allen, die
kommen, um es zu empfangen, das konsekrierte Brot aus. Einige übriggebliebene
Stückchen legt er auf ihren Teller auf dem Schrein.
Nun nimmt er den Kelch und reicht
ihn, immer bei Maria beginnend, den Anwesenden. Johannes und Judas folgen ihm
mit den Kännchen und füllen nach, wenn der Kelch leer ist, während Petrus die
Erhebung, die Aufopferung und die Segnung wiederholt, um die Flüssigkeit zu
konsekrieren. Nachdem alle, die die Eucharistie empfangen wollen,
zufriedengestellt sind, nehmen die Apostel das übriggebliebene Brot und den
restlichen Wein zu sich. Dann singen sie noch einen Psalm oder Hymnus, und
anschließend segnet Petrus die Versammlung, die sich nach diesem Segen langsam
auflöst.
Maria, die Mutter, die während
der ganzen Zeremonie der Konsekration und der Austeilung der Gestalten von
Brot und Wein gekniet hat, steht nun auf und geht zu dem Schrein. Sie neigt
sich über den Tisch, berührt mit der Stirn das Fach des Schreins, in dem der
Kelch und das
223
Tellerchen aufbewahrt sind, die
Jesus beim Letzten Abendmahl benützt hat und küßt den Rand von beiden. Ein
Kuß, der allen hier aufbewahrten Reliquien gilt. Dann schließt Johannes den
Schrein und gibt Maria den Schlüssel zurück, die ihn wieder an ihren Hals
hängt.
703. MARIA EMPFÄNGT LAZARUS UND
JOSEPH VON ARIMATHÄA
Maria befindet sich noch im Haus
des Abendmahls. Sie ist allein in ihrem Zimmer und näht sehr feines Leinen,
ähnlich langen, schmalen Tischtüchern. Ab und zu hebt sie den Kopf und schaut
in den Garten hinaus, um am Stand der Sonne, die auf die Mauer scheint, zu
erkennen, wie spät es ist. Und wenn sie im Haus oder auf der Straße ein
Geräusch hört, lauscht sie aufmerksam. Es scheint, als würde sie jemanden
erwarten.
So vergeht die Zeit. Dann
vernimmt man ein Klopfen an der Haustür, dem das Knirschen von Sandalen folgt,
die herbeieilen, um zu öffnen. Immer lauter werdende Männerstimmen nähern sich
durch den Gang. Maria horcht... Dann ruft sie aus: «Sie hier?! Was kann
geschehen sein?!» Noch während sie diese Worte ausspricht, klopft jemand an
die Zimmertür. «Kommt herein, Brüder in Jesus, meinem Herrn», antwortet Maria.
Lazarus und Joseph von Arimathäa
treten ein, grüßen mit großer Ehrerbietung und sagen: «Gepriesen seist du
unter allen Müttern! Die Diener deines Sohnes und unseres Herrn grüßen dich»,
und sie werfen sich nieder, um den Saum ihres Kleides zu küssen.
«Der Herr sei immer mit euch. Was
habt ihr für einen Grund, mich zu besuchen, da die gärende Unruhe der
Verfolger Christi und seiner Jünger sich noch nicht gelegt hat?»
«Wir sind vor allem gekommen, um
dich zu sehen; denn dich sehen bedeutet ihn sehen, bedeutet, weniger
Traurigkeit über seinen Abschied von der Erde fühlen. Und dann, um dir
darzulegen, was wir nach einer Versammlung der getreuesten Diener Jesu, deines
Sohnes und unseres Herrn, in meinem Haus beschlossen haben», antwortet
Lazarus.
«So redet. Eure Liebe wird zu mir
sprechen, und ich höre euch mit meiner Liebe zu.»
Nun ergreift Joseph von Arimathäa
das Wort und sagt: «Frau, es ist dir nicht unbekannt, und du sagst selbst, daß
die gärende Unruhe und, noch Schlimmeres, weiterhin allen gegenüber andauert,
die deinem und Gottes Sohn nahestanden, durch Verwandtschaft, Glauben oder
Freundschaft. Und uns ist auch bekannt, daß du nicht die Absicht hast, diese
Orte zu verlassen, an denen du die vollkommene Offenbarung der göttlichen und
menschlichen Natur deines Sohnes erlebt hast und auch seine
224
vollkommene Demütigung, seine
vollkommene Verherrlichung durch die Passion und den Tod des wahren Menschen
und durch die glorreiche Auferstehung und Himmelfahrt des wahren Gottes. Und
wir verstehen auch, daß du die Apostel nicht allein lassen willst, da du ihnen
Mutter und Führerin sein möchtest in ihren ersten Prüfungen, du, Sitz der
göttlichen Weisheit, du, Braut des Geistes der Offenbarung ewiger Wahrheit,
du, von Anbeginn geliebte Tochter des Vaters, der dich von Ewigkeit zur Mutter
seines Eingeborenen erwählt hat, du, Mutter dieses Wortes des Vaters, das dich
gewiß seine unendliche und vollkommene Weisheit und Lehre gelehrt hat, noch
bevor es in dir zum Geschöpf wurde, noch bevor du es an deiner Seite hattest
als Sohn, der zunahm an Alter und Weisheit und zum Meister der Meister wurde.
Johannes hat es uns gesagt am Tag nach der ersten erstaunlichen apostolischen
Predigt und Offenbarung zehn Tage nach der Himmelfahrt Jesu. Du weißt – da du
es ja selbst gesehen hast in Gethsemane am Tag der Himmelfahrt deines Sohnes
zum Vater und es außerdem erfahren hast von Petrus, Johannes und anderen
Aposteln – daß ich und Lazarus gleich nach dem Tod und der Auferstehung mit
dem Bau einer Mauer um meinen Garten beim Golgotha und in Gethsemane auf dem
Ölberg begonnen haben, damit diese Orte, die geheiligt sind durch das Blut des
göttlichen Märtyrers, das fieberglühend in Gethsemane und eiskalt und geronnen
in meinem Garten zu Boden getropft ist, nicht von den Feinden Jesu entweiht
werden. Nun sind die Arbeiten beendet, und sowohl ich als auch Lazarus, und
mit ihm die Schwestern und die Apostel, die es zu sehr schmerzen würde, dich
nicht mehr in ihrer Nähe zu haben, sagen dir: "Nimm Wohnung im Haus des Jonas
und der Maria, den Hütern des Gethsemane!"»
«Und Jonas und Maria? Das Haus
ist klein, und ich liebe die Einsamkeit. Ich habe sie immer geliebt. Und nun
liebe ich sie noch mehr, denn ich brauche sie, um mich in Gott, in meinen
Jesus zu verlieren, um nicht aus Kummer darüber zu sterben, ihn nicht mehr bei
mir zu haben. Und es ist nicht gut, daß menschliche Blicke auf die Geheimnisse
Gottes fallen; denn er ist jetzt mehr denn je Gott. Ich bin Frau und Jesus ist
Mann. Aber unsere Menschlichkeit war und ist anders als die der übrigen
Menschen, da wir frei sind von jeder Sünde, auch der Erbsünde, und eine andere
Beziehung zum einen und dreieinen Gott haben. Wir sind einzigartig in diesen
Dingen unter allen Geschöpfen, die waren, die sind und die sein werden. Nun
aber läßt es sich nicht vermeiden, daß der Mensch, auch der beste und klügste,
von Natur aus neugierig ist, besonders wenn in seiner Nähe etwas
Außergewöhnliches vorgeht. Und nur ich und Jesus, solange er auf Erden weilte,
kennen das Leiden, das... ja, auch die Scham und das Unbehagen, die Qual, die
man empfindet, wenn die menschliche Neugier ausspäht, beobachtet und unsere
Geheimnisse mit Gott zu erforschen versucht. Es ist etwa so, als würde man uns
nackt mitten auf einen Platz
225
stellen. Denkt an meine
Vergangenheit, wie ich immer bemüht war, mich zu verbergen und zu schweigen,
und wie ich immer unter dem Anschein, das Leben einer einfachen, armen Frau zu
führen, die Geheimnisse Gottes zu verhüllen gesucht habe. Erinnert euch, daß
ich sie nicht einmal meinem Bräutigam Joseph enthüllt habe und er, der so
gerecht war, deshalb beinahe zum Ungerechten geworden wäre. Nur das
Dazwischentreten des Engels hat diese Gefahr verhindert. Denkt an das
bescheidene, verborgene Leben, das Jesus dreißig Jahre lang geführt hat, an
seine häufige Zurückgezogenheit und Absonderung, als er der Meister geworden
war. Er mußte Wunder wirken und lehren, denn dies war seine Mission. Aber ich
weiß es von ihm selbst, er litt – einer der vielen Gründe für den Ernst und
die Traurigkeit, die aus seinen großen, mächtigen Augen strahlten -er litt,
sage ich, unter der Erregung der Volksmenge, der mehr oder weniger ehrlichen
Neugier, mit der er bei all seinem Tun beobachtet wurde. Wie oft hat er zu
seinen Jüngern und den Geheilten gesagt: "Sagt nicht, was ihr gesehen habt.
Sagt nicht, was ich euch getan habe!"... Nun möchte ich nicht, daß menschliche
Augen die Geheimnisse Gottes in mir erforschen, Geheimnisse, die mit der
Rückkehr Jesu, meines Sohnes und meines Gottes, in den Himmel nicht aufgehört
haben, die vielmehr durch seine Güte fortdauern und zunehmen, damit ich am
Leben bleibe bis zu der von mir so ersehnten Stunde, da ich mich für alle
Ewigkeit mit ihm vereinigen werde. Ich möchte nur Johannes bei mir haben. Denn
er ist klug, ehrfürchtig und liebevoll wie ein zweiter Jesus. Jonas und Maria
werden dies verstehen...»
Lazarus unterbricht sie: «Es ist
schon geschehen, o Gesegnete! Wir haben vorgesorgt. Markus, der Sohn des
Jonas, ist nun bei den Jüngern; Maria, seine Mutter, und Jonas, sein Vater,
sind bereits in Bethanien.»
«Aber der Ölgarten muß doch
gepflegt werden!» antwortet Maria.
«Nur zur Zeit des Beschneidens,
des Umbrechens und der Ernte. Das sind wenige Tage im Jahr, und es werden noch
weniger sein, denn ich werde dann Markus mit meinen Dienern von Bethanien
schicken. Du, Mutter, wenn du uns eine Freude machen willst, mir und den
Schwestern, komm in diesen Tagen nach Bethanien, in die Einsamkeit des Hauses
des Zeloten. Wir werden dir nahe sein, aber deine Begegnungen mit Gott werden
wir nicht durch indiskrete Blicke ausforschen.»
«Aber die Ölpresse ... ?»
«Man hat sie schon nach Bethanien
transportiert. Der Gethsemane ist nun ganz von Mauern umgeben und daher noch
ausschließlicherer Privatbesitz des Lazarus des Theophilus, und er erwartet
dich, o Maria. Und ich versichere dir, die Feinde Jesu werden aus Furcht vor
Rom nicht wagen, den Frieden des Ortes und deinen Frieden zu stören.»
«Oh, wenn es so ist!» ruft Maria
aus. Und sie preßt die Hände auf die Brust und sieht ihn an mit seligem, fast
verzücktem Gesicht, ein
226
engelgleiches Lächeln auf den
Lippen und Freudentränen an den blonden Wimpern. Sie fährt fort: «Ich und
Johannes! Allein! Wir beide allein! Es wird mir scheinen, wieder mit meinem
Sohn in Nazareth zu sein! Allein! In Frieden! In diesem Frieden! Dort, wo er,
mein Jesus, so viele Worte gesprochen und so sehr den Geist des Friedens um
sich verbreitet hat. Dort, wo er allerdings auch so sehr leiden mußte, daß er
Blut geschwitzt hat, und wo er durch den niederträchtigen Kuß die größte
seelische Qual erduldet hat und die ersten ...» Ein Aufschluchzen und eine
zutiefst schmerzende Erinnerung lassen ihre Worte stocken und ihr aufgewühltes
Gesicht nimmt einige Augenblicke den leidenden Ausdruck der Tage der Passion
und des Todes ihres Sohnes an. Dann faßt sie sich wieder und sagt: «Dort, von
wo er in den unendlichen Frieden des Paradieses zurückgekehrt ist! Ich werde
Maria des Alphäus bald die Anweisung senden, auf mein kleines Haus in Nazareth
achtzugeben, das kleine Haus, das mir so teuer ist, weil sich dort das
Geheimnis erfüllt hat, weil mein so reiner und heiliger Bräutigam dort
gestorben ist und Jesus dort aufgewachsen ist. Das mir so liebe kleine Haus!
Doch nie so teuer wie diese Orte, an denen er den Ritus aller Riten eingesetzt
hat und Brot, Blut und Leben für die Menschen geworden ist, an denen er
gelitten, erlöst und seine Kirche gegründet und durch seinen letzten Segen
alle Dinge der Schöpfung gut und heilig gemacht hat. Ich werde hierbleiben.
Ja, ich werde bleiben. Ich werde nach Gethsemane gehen. Und von dort kann ich
außen an der Mauer entlang zum Golgotha gehen und in deinen Garten, Joseph, wo
ich so sehr geweint habe, und in dein Haus, Lazarus, wo ich immer, zuerst in
meinem Jesus und dann selbst, so viel Liebe erfahren habe. Aber ich möchte...»
«Was, Gesegnete?» fragen die
beiden.
«Ich möchte auch hierher
zurückkommen können. Denn ich habe zusammen mit den Aposteln beschlossen,
vorausgesetzt, daß es dir, Lazarus, recht ist...»
«Alles, was du willst, Mutter.
Alles, was mein ist, ist dein. Früher habe ich es Jesus gesagt. Nun sage ich
es dir. Und ich werde der Beschenkte sein, wenn du mein Geschenk annimmst.»
«Sohn – laß mich dich so nennen –
ich möchte, daß du uns erlaubst, dieses Haus, den Abendmahlsaal, zum Ort der
Versammlung und der brüderlichen Agape zu machen.»
«Das ist nur recht. An diesem Ort
hat dein Sohn den neuen und ewigen Ritus eingesetzt, die neue Kirche gegründet
und seine Apostel und Jünger zum neuen Oberhirtenamt und Priestertum berufen.
Es ist recht, daß dieser Raum der erste Tempel der neuen Religion sei, der
Same, der morgen zum Baum und dann zum mächtigen Wald werden wird; der Keim,
der morgen lebendiger Organismus sein und immer mächtiger in die Höhe, in die
Tiefe und in die Breite wachsen und sich über die ganze Erde ausbreiten wird.
Welcher Tisch und Altar ist heiliger als der, auf dem er das Brot
227
gebrochen und auf den er den
Kelch des neuen Ritus gestellt hat, des Ritus, der bestehen wird, solange die
Welt besteht?»
«Das ist wahr, Lazarus. Und
siehst du? Dafür nähe ich die neuen Tischdecken. Denn ich glaube – und mein
Glaube ist stärker als der aller anderen – daß er in diesem Brot und diesem
Wein ist, mit seinem Fleisch und seinem Blut; heiligstes und unschuldigstes
Fleisch und erlösendes Blut, zur Speise und zum Trank des Lebens den Menschen
gegeben. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist segnen euch, die ihr immer
gut, weise und voll Erbarmen mit dem Sohn und der Mutter seid.»
«Dann ist es also abgemacht.
Nimm! Dies ist der Schlüssel, der die verschiedenen Tore der Mauer von
Gethsemane öffnet. Und dies ist der Schlüssel des Hauses. Und sei so
glücklich, wie Gott es dir gewährt und unsere arme Liebe es dir wünschen
würde.»
Joseph von Arimathäa sagt nun,
als Lazarus schweigt: «Und dies ist der Schlüssel meines Gartens.»
«Aber du... Du hast das Recht
hineinzugehen.»
«Ich habe einen anderen
Schlüssel, Maria. Der Gärtner ist ein guter Mensch und sein Sohn auch. Nur sie
und ich werden dir also begegnen. Und wir werden zurückhaltend und ehrerbietig
sein.»
«Gott segne euch noch einmal»,
wiederholt Maria.
«Wir danken dir, Mutter. Unsere
Liebe und der Friede Gottes mögen immer mit dir sein.» Sie werfen sich nach
diesem letzten Gruß vor ihr nieder, küssen erneut den Saum ihres Gewandes und
gehen dann fort.
Kaum haben sie das Haus
verlassen, klopft es wieder leise an die Tür des Raumes, in dem Maria sich
aufhält.
«Komm nur herein», sagt Maria.
Johannes läßt sich das nicht
zweimal sagen. Er tritt etwas erregt ein und schließt die Tür. «Was wollten
Joseph und Lazarus? Besteht irgendeine Gefahr?»
«Nein, Sohn. Einer meiner Wünsche
ist erhört worden. Ein Wunsch, den ich und andere hatten. Du weißt, wie
betrübt Petrus und Jakobus des Alphäus sind, der erste als Oberhirte und der
andere als Oberhaupt von Jerusalem, bei dem Gedanken, mich zu verlieren, und
wie sehr sie fürchten, es ohne mich nicht richtig zu machen. Vor allem
Jakobus! Nicht einmal die besondere Erscheinung meines Sohnes und seine
Erwählung durch Jesus trösten und stärken ihn. Aber auch die anderen... ! Nun
kommt Lazarus diesem allgemeinen Wunsch entgegen und macht uns zu Besitzern
des Gartens Gethsemane. Ich und du, wir werden allein dort wohnen. Hier sind
die Schlüssel. Und dies ist der Schlüssel vom Garten des Joseph... Wir werden
nun zum Grab und nach Bethanien gehen können, ohne durch die Stadt zu
müssen... Und wir werden zum Golgotha gehen... und jedesmal hierher kommen,
wenn die brüderliche Agape stattfindet. Das alles gewähren uns Joseph und
Lazarus.»
228
«Sie sind wirklich zwei Gerechte.
Lazarus hat zwar viel von Jesus erhalten, aber noch bevor er es erhalten hat,
hat er Jesus immer alles gegeben. Freust du dich, Mutter?»
«Ja, Johannes, sehr. Ich werde
leben, solange Gott es will, und Petrus und Jakobus und euch allen helfen, und
ich werde auch den ersten Christen in jeder Weise beistehen. Wenn die Juden,
die Pharisäer und die Priester mir gegenüber nicht ebensolche Bestien sind wie
gegenüber meinem Sohn, dann werde ich meinen Geist dort aufgeben können, wo er
zum Vater aufgefahren ist.»
«Auch du, Mutter, wirst
auffahren.»
«Nein. Ich bin nicht Jesus. Ich
bin als Mensch geboren.»
«Aber ohne Erbsünde. Ich bin zwar
nur ein armer, unwissender Fischer und kenne von den Lehren und Schriften nur
das, was der Meister mich gelehrt hat. Aber ich bin wie ein Kind, denn ich bin
rein. Und daher weiß ich vielleicht mehr als alle Rabbis von Israel; denn Gott
verbirgt die Dinge den Weisen und offenbart sie den Kleinen, den Reinen, wie
Jesus gesagt hat. Und deshalb meine ich, vielmehr fühle ich, daß dir
beschieden sein wird, was Eva erwartet hätte, wenn sie nicht gesündigt hätte.
Um so mehr, als du nicht die Braut eines Adam, eines Menschen gewesen bist,
sondern die Braut Gottes, um der Welt den neuen, der Gnade treuen Adam zu
schenken. Als der Schöpfer die Stammeltern erschuf, hatte er ihnen nicht den
Tod bestimmt, den Zerfall des vollkommensten von ihm erschaffenen Leibes; denn
als einzigen von allen geschaffenen Körpern adelten ihn eine Geist-Seele und
andere großzügige Gaben Gottes, weshalb sich die Menschen "Adoptivkinder
Gottes" nennen konnten, der für sie nur den Übergang vom irdischen Paradies
ins himmlische wollte. Nun aber hat niemals eine Sünde deine Seele befleckt.
Nicht einmal die große, allgemeine Sünde, das Erbe der Menschen seit Adam, hat
dich berührt; denn Gott hat dich durch ein einmaliges, einzigartiges Privileg
davor bewahrt, da du von Ewigkeit her dazu bestimmt warst, die Bundeslade des
Wortes zu werden. Und die Bundeslade, auch die, die leider nur kalte, öde,
tote Dinge enthält, da sie das Volk Gottes wahrlich nicht in die Tat umsetzt
wie es sollte, ist und muß immer von makelloser Reinheit sein. Die Lade ist
es. Aber wer von denen, die sich ihr nähern, ob Hoherpriester oder Priester,
ist so rein wie du? Keiner. Und deshalb fühle ich, daß dich, zweite Eva, der
Gnade treue Eva, der Tod nicht treffen wird.»
«Mein Sohn, der zweite Adam, die
Gnade selbst, dem Vater und mir auf vollkommenste Weise gehorsam, ist
gestorben. Und welches Todes!»
«Mutter, er war gekommen, um der
Erlöser zu sein. Er hat den Vater, den Himmel verlassen, um Fleisch anzunehmen
und durch sein Opfer die Menschen zu erlösen, um ihnen die Gnade
wiederzuschenken und sie so wieder in den Rang von Adoptivkindern Gottes und
Erben des Himmels zu erheben. Er mußte sterben und starb in seiner
allerheiligsten
229
Menschheit. Und du bist im Herzen
gestorben, als du sein furchtbares Leiden und seinen Tod gesehen hast. Du hast
schon alles erlitten, um Miterlöserin zu sein. Ich bin ein armes, törichtes
Geschöpf, aber ich fühle, daß du, wahre Lade des wahren, lebendigen Gottes,
nicht der Verwesung anheimfallen kannst und wirst. So wie die feurige Wolke
die Lade des Moses schützte und sie in das Land der Verheißung führte, ebenso
wird das Feuer Gottes dich in seinen Mittelpunkt ziehen. So wie der Stab
Aarons nicht verdorrte und nicht abstarb, obwohl vom Baum abgetrennt, sondern
Knospen, Blätter und Früchte trug und im Offenbarungszelt grünte, ebenso wirst
du, von Gott Auserwählte unter allen Frauen, die jemals auf Erden gelebt haben
und leben werden, nicht sterben wie eine Pflanze, die vertrocknet; vielmehr
wirst du ewig und mit Leib und Seele im ewigen Zelt des Himmels leben. So wie
zur Zeit des Josua die Wasser des Jordan sich teilten, um die Bundeslade und
ihre Träger und das ganze Volk hindurchziehen zu lassen, ebenso werden sich
für dich die Schranken öffnen, die die Sünde Adams zwischen Himmel und Erde
errichtet hat, und du wirst aus dieser Welt in den ewigen Himmel eingehen. Ich
bin sicher, denn Gott ist gerecht. Und für dich gilt noch der Ratschluß Gottes
hinsichtlich der Menschen, deren Seele weder von der Erbsünde, noch von einer
freiwilligen Sünde befleckt ist.»
«Hat Jesus dir dies geoffenbart
?»
«Nein, Mutter. Der Heilige Geist,
der Paraklet, sagt es mir. Er, von dem der Meister uns gesprochen hat und der
uns die zukünftigen Dinge und jegliche Wahrheit offenbaren wird. Der Tröster
sagt es mir schon im Geist, um mir den Gedanken weniger bitter erscheinen zu
lassen, dich zu verlieren, o gebenedeite Mutter, die ich so sehr liebe und
verehre wie meine eigene Mutter, und noch mehr als sie, für alles, was du
gelitten hast, und weil du so gut und heilig bist und nur deinem
allerheiligsten Sohn nachstehst unter allen Heiligen der Gegenwart und der
Zukunft. Die größte Heilige aller Zeiten.» Und Johannes kniet gerührt und
ehrfürchtig vor ihr nieder.
704. MARIA UND JOHANNES AN DEN
ORTEN DER PASSION
Am frühen Morgen, einem klaren
Sommermorgen, verläßt Maria mit dem treuen Johannes das kleine Haus von
Gethsemane und geht mit raschen Schritten durch den stillen und verlassenen
Ölgarten. Nur vereinzeltes Vogelgezwitscher und das Piepsen der Brut
unterbrechen die tiefe Stille des Ortes. Maria begibt sich direkt zum Felsen
der Todesangst. Dort kniet sie nieder, küßt die Stellen, wo in einigen feinen
Rissen immer noch
230
die rostroten Spuren des Blutes
Jesu zu sehen sind, das in diese Spalten eingedrungen und dort geronnen ist.
Sie liebkost sie, als liebkose sie noch den Sohn oder eines seiner Glieder.
Johannes steht hinter ihr,
beobachtet sie und weint lautlos. Doch er trocknet sich rasch die Augen, als
Maria sich anschickt aufzustehen, und hilft ihr dabei. Und er tut dies mit so
viel Liebe, Verehrung und Mitleid.
Maria geht nun zu dem kleinen
Platz hinunter, an dem Jesus gefangengenommen wurde. Auch dort kniet sie
nieder, neigt sich und küßt den Boden, nachdem sie Johannes gefragt hat: «Ist
dies genau die Stelle des furchtbaren, abscheulichen Kusses, der diesen Ort
noch mehr befleckt hat als das unreine und verderbliche Gespräch der Schlange
mit Eva das irdische Paradies?»
Dann steht sie auf und sagt:
«Aber ich bin nicht Eva. Ich bin die Frau des Ave. Ich habe die Dinge
umgekehrt. Eva hat in den Schmutz geworfen, was des Himmels war. Ich habe
alles angenommen: Unverständnis, Kritik, Verdächtigungen, Schmerzen – wie
viele Schmerzen aller Art, noch vor dem höchsten Schmerz – um aus dem Schlamm
zu holen, was Adam und Eva hineingeworfen hatten, und es zum Himmel zu
erheben. Zu mir konnte der Dämon nicht sprechen, obgleich er es versucht hat,
wie er meinen Sohn versucht hat, um endgültig den Plan der Erlösung zu
zerstören. Mit mir konnte er nicht sprechen, denn ich hatte meine Ohren vor
seiner Stimme und meine Augen vor seinem Anblick verschlossen, und vor allem
mein Herz und meinen Geist vor jeglichem Angriff dessen, was nicht heilig und
rein ist. Mein klares und unangreifbares Inneres war ein reiner Diamant und
öffnete sich nur dem Engel der Verkündigung. Meine Ohren hörten nur auf die
Stimme des Geistes, und so habe ich wiedergutgemacht, wiedererrichtet, was Eva
verdorben und zerstört hatte. Ich bin die Frau des Ave und des Fiat. Ich habe
die von Eva gestörte Ordnung wiederhergestellt. Und nun kann ich mit meinem
Kuß und mit meinen Tränen die Spur dieses verfluchten Kusses und die
Verunreinigung abwaschen und entfernen. Die größte aller Verunreinigungen, da
dies vom Geschöpf nicht einem Geschöpf, sondern vom Geschöpf seinem Meister
und Freund, seinem Schöpfer und Gott angetan wurde.»
Dann geht Maria zum Gittertor,
das Johannes aufschließt. Sie verlassen zusammen Gethsemane, gehen zum Kedron
hinunter und überqueren das Brücklein. Und auch dort kniet Maria wieder
nieder, um das einfache Brückengeländer zu küssen, an der Stelle, auf die ihr
Sohn gefallen ist. Sie sagt: «Mir ist jeder Ort heilig, an dem er die größten
Schmerzen und die größte Schmach erlitten hat. Ich hätte am liebsten alles in
meinem Häuschen. Aber man kann nicht alles haben!» Sie seufzt und fügt hinzu:
«Gehen wir schnell, bevor die Leute anfangen, sich zu rühren.»
Zusammen mit Johannes setzt sie
ihren Weg fort. Aber sie gehen nicht in die Stadt hinein. Sie gehen am Rand
des Hinnom-Tales und an den
231
Höhlen der Aussätzigen vorbei.
Sie erhebt ihre Augen zu diesen Stätten der Schmerzen und gibt Johannes ein
Zeichen, der sofort Lebensmittel auf einen Stein legt, die er in einer Tasche
bei sich trägt, und gleichzeitig durch einen Schrei die Aussätzigen ruft.
Einige von ihnen zeigen sich, kommen zu dem Stein und bedanken sich. Aber
keiner bittet um Heilung. Maria fällt dies auf und sie sagt: «Sie wissen, daß
er nicht mehr da ist und sind so erschüttert von seinem furchtbaren Tod, daß
sie keinen Glauben mehr an ihn und seine Jünger haben. Doppelt Unglückliche!
Doppelt Aussätzige! Doppelt? Nein, vollkommen Unglückliche, Aussätzige, Tote!
Auf Erden und in der anderen Welt.»
«Willst du, daß ich mit ihnen zu
reden versuche, Mutter?»
«Es ist nutzlos. Petrus, Judas
des Alphäus und Simon der Zelote haben es versucht... und sind verlacht
worden. Maria des Lazarus, die ihnen im Gedenken an Jesus immer hilft, haben
sie ebenfalls verhöhnt. Auch Lazarus ist gekommen, und mit ihm Joseph und
Nikodemus, um sie zu überzeugen, daß er der Christus gewesen ist; sie haben
von seiner Auferweckung durch Jesus nach vier Tagen Grabesruhe berichtet, von
der Auferstehung des Gottmenschen aus eigener Kraft und von seiner
Himmelfahrt. Alles war umsonst. Sie haben nur geantwortet: "Alles Lügen. Jene,
die die Wahrheit kennen, haben es uns gesagt."»
«Und das sind gewiß die Pharisäer
und die Priester. Sie sind es, die sich bemühen, den Glauben an ihn
auszutilgen. Ich bin sicher, daß sie es sind.»
«Kann sein, Johannes. Gewiß ist,
daß die Aussätzigen, die sich nicht früher schon, nicht einmal bei den Wundern
Jesu, bekehrt haben, sich nie bekehren werden. Niemals mehr. Sie sind das
Sinnbild all jener, die sich im Laufe der Jahrhunderte nicht zu Christus
bekehren werden; die aus freiem Willen Aussätzige der Sünde sein werden, die
der Gnade und dem Leben gestorben sind; das Sinnbild all jener, für die Jesus
vergebens gestorben ist... Und in dieser Welt... !» Sie weint lautlos, ohne zu
schluchzen, aber ihre Tränen strömen.
Johannes nimmt sie am Arm, und
Maria bedeckt ihr Angesicht mit dem Schleier, um ihre Tränen vor den
Vorübergehenden, die sie beobachten, zu verbergen. Johannes sagt, während er
sie liebevoll geleitet: «Es ist nicht möglich, daß deine Tränen, deine Gebete,
deine, oder besser, eure Liebe zu allen Menschen – eure, denn ebenso wie die
deine wirkt die Liebe des verherrlichten Jesus im Himmel – und euer Schmerz,
dein Schmerz über die Taubheit der Menschen und sein Schmerz über die
unbußfertige Sündhaftigkeit so vieler, keine Frucht bringen. Hoffe, o Mutter!
Die Menschen haben dir viele Schmerzen bereitet, und sie werden dir noch mehr
bereiten, aber sie haben dir auch Liebe und Freude geschenkt und werden es
ebenfalls in Zukunft tun. Wer wird dich nicht lieben, wenn er von dir erfährt?
Jetzt bist du hier, der Welt unbekannt. Aber wenn die
232
Welt einmal von dir weiß, da sie
christlich geworden ist, wie sehr wird sie dich dann lieben! Dessen bin ich
gewiß, o heilige Mutter.»
Der Golgotha ist nunmehr nahe,
und noch näher ist der Garten des Joseph. Doch als sie dort ankommen, geht
Maria nicht hinein. Sie geht zuerst zum Golgotha. Und an den Orten, an denen
sich besondere Episoden der Passion ereignet haben, also an den Stellen, wo
Jesus gefallen ist, wo die Begegnung mit Nike stattgefunden hat, wo er der
Mutter selbst begegnet ist, kniet sie nieder und küßt den Boden.
Auf dem Gipfel bedeckt sie die
Stelle, an der sein Kreuz gestanden ist, mit Küssen. Beinahe krampfhaften
Küssen und stillen Tränen, die wie Regen auf die gelbliche Erde fallen, sie
tränken und das blasse Gelb dunkel färben. Ein Pflänzchen ist genau dort
gewachsen, wo man die Erde entfernt hat, um das Kreuz aufzustellen, ein
demütiges Wiesenkräutchen mit herzförmigen Blättern und kleinen Blümchen,
rotleuchtend wie Rubine. Maria betrachtet sie, denkt nach und löst die kleine
Pflanze dann vorsichtig mit etwas Erde aus dem Boden, legt sie in einen Zipfel
ihres Mantels und sagt zu Johannes: «Ich werde sie in einen Topf pflanzen. Es
scheint Blut von ihm zu sein, und sie ist auf der von seinem Blut geröteten
Erde gewachsen. Gewiß ist es ein Same, den der Sturm dieses Tages wer weiß
woher gebracht und hier fallengelassen hat, damit er in diesem durch das Blut
fruchtbar gewordenen Staub Wurzeln schlägt. Wäre es doch auch so bei allen
Menschenseelen! Warum ist die Mehrzahl widerwilliger als die unfruchtbare,
verfluchte Erde des Golgotha, des Ortes der Strafe für Räuber und Mörder und
des Gottesmordes eines ganzen Volkes? Verflucht? Nein. Er hat diesen Staub
geheiligt. Verflucht von Gott sind nur jene, die diesen Hügel zum Ort des
furchtbarsten, ungerechtesten und gotteslästerlichsten Verbrechens gemacht
haben, das es je auf Erden geben wird.» Nun schluchzt und weint sie.
Johannes legt einen Arm um ihre
Schultern, um sie seine ganze Liebe fühlen zu lassen, und bewegt sie dazu,
diesen für sie mit allzu schmerzlichen Erinnerungen verbundenen Ort zu
verlassen.
Sie gehen den Hügel wieder
hinunter und betreten den Garten des Joseph. Durch die weite Öffnung kann man
in das Grab hineinsehen, denn der Stein verschließt es nicht mehr und liegt
noch so, wie er zu Boden gefallen ist, im Gras. Das Innere ist leer. Jegliche
Spur der Grablegung und der Auferstehung ist verschwunden. Es scheint ein noch
nie benütztes Grab zu sein. Maria küßt den Stein der Einbalsamierung und
liebkost mit ihren Blicken die Wände. Dann fragt sie Johannes: «Wiederhole mir
noch einmal, wie du die Dinge hier vorgefunden hast, als du am Morgen der
Auferstehung mit Petrus hergekommen bist.»
Und Johannes beschreibt wiederum,
wie alles war und was Petrus und er getan haben, und dabei geht er hin und her
im Grab und auch außerhalb und sagt zum Schluß: «Wir hätten die Linnen
mitnehmen sollen.
233
Aber wir waren so erschüttert von
all den Ereignissen dieser Tage, daß wir nicht daran dachten. Als wir
wiederkamen, waren die Linnen nicht mehr da.»
«Die vom Tempel werden sie
genommen haben, um sie zu entweihen», unterbricht ihn Maria weinend. Und sie
fügt hinzu: «Nicht einmal Maria von Magdala hat daran gedacht, daß es besser
wäre, sie mitzunehmen und mir zu bringen. Auch sie war zu verwirrt.»
«Der Tempel? Nein. Ich denke,
Joseph hat sie genommen.»
«Er hätte es mir gesagt... Oh,
die Feinde Jesu werden sie genommen haben, um eine letzte Schandtat zu
begehen!» stöhnt Maria.
«Weine nicht, leide nicht mehr.
Er ist nun in der Herrlichkeit. In der unendlichen, vollkommenen Liebe. Haß
und Verachtung können ihn nicht mehr treffen.»
«Das ist wahr. Aber die
Linnen...»
«Sie würden dir nur Schmerz
bereiten, ebenso wie das erste Grabtuch, das auseinanderzufalten du immer noch
nicht die Kraft hast, weil außer den Spuren seines Blutes der Unrat daran
klebt, mit dem man seinen heiligsten Leib beworfen hat.»
«An jenem schon. Aber an diesen
hier nicht. Sie haben aufgesogen, was er noch absonderte, als er nicht mehr
litt... Oh, du kannst das nicht verstehen!»
«Ich verstehe, Mutter. Aber ich
habe geglaubt, daß du, da du gewiß nicht so von ihm, von Gott, getrennt bist
wie wir oder gar die einfachen Gläubigen, kaum den großen Wunsch oder das
Bedürfnis hättest, etwas von ihm, dem gemarterten Menschen, zu besitzen.
Entschuldige meine Unverständigkeit. Komm... Wir werden ein anderes Mal
wiederkommen. Nun müssen wir gehen, denn die Sonne steigt immer höher und
brennt schon stark, und der Weg ist weit für uns, da wir die Stadt meiden
müssen.»
Sie verlassen die Grabstätte und
dann den Garten auf demselben Weg, auf dem sie gekommen sind und kehren nach
Gethsemane zurück. Maria geht rasch und schweigsam, ganz in ihren Mantel
gehüllt. Sie erschauert nur vor Abscheu und Schrecken, als sie an dem Ölgarten
vorüberkommt, in dem Judas sich erhängt hat, und dann am Landhaus des Kaiphas,
und sie flüstert: «Hier hat er seine Verdammung als unbußfertiger
Verzweifelter vollendet, und dort hat er den schmählichen Handel
abgeschlossen.»
705. DAS GRABTUCH WIRD MARIA
ÜBERBRACHT
Es ist Nacht. Der Mond, der
seinen höchsten Stand erreicht hat, hüllt den ganzen Gethsemane und das kleine
Haus von Maria und Johannes in seinen silbernen Schein. Alles schweigt. Auch
der Kedron, der nur noch
234
ein dünnes Rinnsal ist, rauscht
nicht. Auf einmal hört man in der tiefen Stille das Knirschen von Sandalen,
das immer deutlicher wird und näher kommt, und gleichzeitig das Flüstern
einiger tiefer Männerstimmen. Dann treten drei Personen aus dem Gewirr der
Bäume und begeben sich zum Haus. Sie klopfen an die geschlossene Tür. Eine
Lampe wird angezündet und ihr schwacher, zitternder Schein dringt durch einen
Spalt in der Tür. Eine Hand öffnet, ein Kopf schaut heraus und die Stimme des
Johannes fragt: «Wer seid ihr?»
«Joseph von Arimathäa, und bei
mir sind Nikodemus und Lazarus. Die Stunde ist unpassend. Aber die Klugheit
gebietet uns, diese zu wählen. Wir möchten Maria etwas bringen, und Lazarus
hat uns begleitet.»
«Kommt herein. Ich gehe und rufe
sie. Sie schläft nicht. Sie betet in ihrem Zimmerchen auf der Terrasse. Es
gefällt ihr dort so gut!» sagt Johannes und geht rasch die Stufen hinauf, die
zur Terrasse und dem oberen Raum führen.
Die Drei sind in der Küche
geblieben und reden im schwachen Schein der Lampe leise miteinander. Sie
stehen beisammen am Tisch, noch ganz in ihre Mäntel gehüllt, und nur ihre
Köpfe sind nicht mehr bedeckt.
Johannes kehrt zurück mit Maria,
die die Drei begrüßt mit den Worten: «Der Friede sei mit euch allen.»
«Und mit dir, Maria», antworten
sie und verneigen sich.
«Besteht irgendeine Gefahr? Ist
den Dienern Jesu etwas zugestoßen?»
«Nein, Frau. Wir haben
beschlossen, zu kommen und dir etwas zu bringen, was du – nun wissen wir es
sicher, während wir es bisher nur ahnten – haben wolltest! Wir sind nicht eher
gekommen, da wir nicht miteinander einig waren, nicht miteinander und auch
nicht mit Maria des Lazarus. Martha hat sich nicht geäußert. Sie hat nur
gesagt: "Der Herr wird euch selbst oder durch andere sagen, was ihr tun
sollt." Und es ist uns wirklich gesagt worden, was wir tun sollen. Deshalb
sind wir gekommen», erklärt Joseph.
«Hat der Herr zu euch gesprochen?
Ist er zu euch gekommen?»
«Nein, Mutter. Nach seiner
Himmelfahrt nicht mehr. Vorher ja. Er ist uns – wir haben es dir erzählt –
nach der Auferstehung in meinem Haus auf übernatürliche Weise erschienen. Am
gleichen Tag ist er zur gleichen Zeit vielen erschienen, um seine Gottheit und
seine Auferstehung zu beweisen. Dann haben wir ihn noch gesehen, solange er
unter den Menschen war, aber nicht mehr auf übernatürliche Weise, sondern so,
wie ihn auch die Apostel und die Jünger gesehen haben», antwortet Nikodemus.
«Und wie hat er euch dann den Weg
gezeigt, den ihr einschlagen sollt?»
«Durch den Mund eines seiner
Bevorzugten und Nachfolger.»
«Petrus? Das glaube ich nicht. Er
ist noch zu verschreckt von all dem Vergangenen und von seiner neuen Aufgabe.»
235
«Nein, Maria, nicht Petrus. Aber
er wird immer sicherer, und nun, da er weiß, zu welchem Zweck Lazarus das Haus
des Abendmahls bestimmt hat, hat er beschlossen, mit regelmäßigen Agapen zu
beginnen und immer am Tag nach dem Sabbat das Geheimnis zu feiern. Denn dieser
Tag, sagt er, ist nun der Tag des Herrn, da er an diesem Tag auferstanden und
vielen erschienen ist, um sie im Glauben an seine ewige göttliche Natur zu
bestärken. Es gibt nun den Sabbat der Hebräer nicht mehr, aber vielleicht den
der Sabaoth. Der Sabbat ist nicht mehr, denn für die Christen gibt es keine
Synagoge mehr, sondern die Kirche, so wie es die Propheten vorhergesagt haben.
Aber es gibt noch den Tag des Herrn, und es wird ihn immer geben, zum
Gedächtnis des Gottmenschen, der Meister, Gründer und ewiger Hoherpriester der
christlichen Kirche geworden ist, nachdem er Erlöser war. Vom Tag nach dem
nächsten Sabbat an werden daher die Agapen der Christen stattfinden, und es
werden viele sein, die sich im Haus des Abendmahls versammeln. Bisher war das
nicht möglich, sowohl wegen des Zornes der Pharisäer, der Priester, der
Sadduzäer und der Schriftgelehrten, als auch wegen der vorübergehenden
Zerstreuung vieler Jünger Jesu, deren Glauben erschüttert war und die den Haß
der Juden fürchteten. Aber nun sind diese Haßerfüllten weniger aufmerksam, ich
würde sagen, sie zeigen kein Interesse mehr, gleichsam als sei die ganze Sache
gestorben und erledigt. Vielleicht fürchten sie Rom, das das Verhalten des
Prokonsuls und des Volkes getadelt hat, oder sie halten "die Überspanntheit
der Fanatiker" – so definieren sie den Glauben der Christen an Christus – für
beendet wegen der zeitweiligen Zerstreuung der Gläubigen, die in Wirklichkeit
nur sehr kurz gedauert und nun ein Ende hat, da alle Schafe in den Schafstall
des wahren Hirten zurückgekehrt sind. Und dies gestattet uns, zu den Agapen
zusammenzukommen. Wir möchten, daß du dieses Andenken an ihn hast und es schon
beim erstenmal den Gläubigen zeigen kannst, um sie im Glauben zu stärken, ohne
allzu großen Schmerz für dich.» Und Joseph reicht ihr eine umfangreiche, in
ein dunkelrotes Tuch gewickelte Rolle, die er bisher unter seinem Mantel
verborgen gehalten hat.
«Was ist das?» fragt Maria
erbleichend. «Vielleicht seine Kleider? Das, das ich für ihn angefertigt
hatte... Oh!» Sie weint.
«Nein, die können wir um keinen
Preis mehr finden. Wer weiß, wie und wo sie geendet haben», antwortet Lazarus
und fügt hinzu: «Aber auch dies ist eines seiner Gewänder. Sein letztes
Gewand. Es ist das saubere Grabtuch, in das der Reinste nach seiner Marter,
der wenn auch eiligen und oberflächlichen Reinigung seiner durch die Feinde
verunreinigten Glieder und der flüchtigen Einbalsamierung gehüllt worden ist.
Joseph hat nach der Auferstehung beide aus dem Grab genommen und zu uns nach
Bethanien gebracht, um ihre schimpfliche Entweihung zu verhindern. Ins Haus
des Lazarus wagen sich die Feinde Jesu kaum. Noch viel
236
weniger, seit sie wissen, wie Rom
das Verhalten des Pontius Pilatus getadelt hat. Nachdem die gefährlichste Zeit
vorüber war, haben wir dir das erste Grabtuch gegeben, und Nikodemus hat das
andere genommen und in sein Landhaus gebracht.»
«Eigentlich gehören sie Joseph, o
Lazarus», bemerkt Maria.
«Das stimmt, Frau. Aber das Haus
des Nikodemus liegt außerhalb der Stadt. Es wird daher weniger beachtet und
ist aus vielen anderen Gründen sicherer», erwidert Joseph.
«Ja, besonders seit Gamaliel mit
seinem Sohn eifrig darin verkehrt», bemerkt Nikodemus.
«Gamaliel?!» sagt Maria höchst
verwundert.
Lazarus kann ein spöttisches
Lächeln nicht unterdrücken, während er antwortet: «Ja, das Zeichen, das famose
Zeichen, auf das er gewartet hatte, um zu glauben, daß Jesus der Messias war,
hat ihn erschüttert. Es ist nicht zu leugnen, daß das Zeichen solcherart war,
daß es auch die härtesten Schädel und Herzen zerschmettert hat und sie klein
beigegeben haben. Und Gamaliel wurde von diesem mächtigen Zeichen stärker
erschüttert, gerüttelt und umgeworfen als die Häuser, die am Rüsttag
einstürzten, als es aussah, als würde die Welt zusammen mit dem Großen Opfer
untergehen. Er war mehr von seinen Gewissensbissen zerrissen als der Vorhang
des Tempels, den Gewissensbissen, Jesus nicht als den erkannt zu haben, der er
wirklich war. Das verschlossene Grab seines Geistes als alter, hartnäckiger
Hebräer öffnete sich wie die Gräber, die die Leiber der Gerechten herausgaben,
und nun sucht er unermüdlich Wahrheit, Licht, Vergebung und Leben. Das neue
Leben. Das Leben, das man nur durch Jesus und in Jesus finden kann. Oh, er
wird noch schwer arbeiten müssen, um sein altes Ich ganz von dem Schutt seiner
früheren Denkweise zu befreien! Aber er wird es schaffen. Er sucht Frieden,
Vergebung und Erkenntnis. Frieden für seine Gewissensbisse, Vergebung für
seine Hartnäckigkeit und Verstocktheit und die vollkommene Erkenntnis dessen,
den er nicht vollkommen kennenlernen wollte, solange er es gekonnt hätte.
Deshalb geht er zu Nikodemus, um das Ziel zu erreichen, das zu erreichen er
sich nun fest vorgenommen hat.»
«Bist du sicher, daß er dich
nicht verraten wird, Nikodemus?» fragt Maria.
«O nein, er wird mich nicht
verraten. Im Grund ist er ein Gerechter. Vergiß nicht, daß er es gewagt hat,
dem Synedrium zu widersprechen bei dem schändlichen Prozeß, und daß er den
ungerechten Richtern seinen Abscheu und seine Verachtung offen gezeigt hat,
indem er hinausgegangen ist und auch seinem Sohn befohlen hat, zu gehen, um
nicht durch passive Anwesenheit an diesem größten aller Verbrechen mitschuldig
zu werden. Dies zu Gamaliel. Was die Grabtücher betrifft, so habe ich mir
gedacht – so wenig bin ich mehr Hebräer und daher auch nicht mehr dem
237
Verbot des Deuteronomiums
hinsichtlich geschnitzter und gegossener Bilder unterworfen – daß ich, so gut
ich es eben kann, eine Statue des gekreuzigten Jesus anfertige. Ich werde eine
meiner riesigen Libanonzedern dazu verwenden und eines der Grabtücher darin
verbergen; das erste, wenn du, Mutter, es dafür hergibst. Es würde dir zu
großen Schmerz bereiten, es immer wieder zu sehen, da man an ihm allen Unflat
und Schmutz erkennen kann, mit dem Israel den Sohn seines Gottes so schmählich
beworfen hat. Außerdem, gewiß durch die Erschütterungen beim Abstieg von
Golgotha, die die Stellung des gemarterten Hauptes immer wieder verändert
haben, ist sein Bild verwischt und kaum zu erkennen. Aber mir ist diese
Leinwand, obwohl das Bild verwischt und beschmutzt ist, lieb und heilig, denn
sein Blut und sein Schweiß sind darauf. Und in dieser Skulptur verborgen wäre
sie sicher, denn kein Israelit der oberen Kasten würde es wagen, ein Bildwerk
anzurühren. Das andere, das zweite Grabtuch, das ihn vom Abend des Rüsttags
bis zur Auferstehung eingehüllt hat, mußt du erhalten. Und – ich sage es dir,
damit du bei seinem Anblick nicht allzu erschüttert bist – du mußt wissen, daß
im Verlauf der Tage seine Gestalt immer klarer auf dem Leinen in Erscheinung
getreten ist, so wie sie nach der Waschung war. Als wir es aus dem Grab
nahmen, schien es nur der Abdruck seiner von Salben und dem Blut und Sekret
der vielen Wunden bedeckten Glieder zu sein. Aber durch irgendeinen
natürlichen Vorgang oder, was viel wahrscheinlicher ist, durch einen
übernatürlichen Eingriff, durch eines seiner Wunder, mit der er dir Freude
bereiten will, erscheint der Abdruck immer klarer und deutlicher. Er ist hier
auf dieser Leinwand, schön und mächtig, obgleich verwundet, ruhig und
friedvoll, auch nach so viel Marter. Fühlst du dich stark genug, es
anzusehen?»
«Oh, Nikodemus! Aber dies war
doch mein größter Wunsch! Du sagst, daß sein Antlitz voll Frieden ist... Oh,
ihn so sehen zu können, und nicht mit dem gequälten Ausdruck, den er auf dem
Schleier der Nike hat!» antwortet Maria mit vor der Brust gefalteten Händen.
Die Vier rücken nun den Tisch in
die Mitte, um mehr Platz zu haben, und, Johannes und Lazarus auf der einen und
Nikodemus und Joseph auf der anderen Seite, entfalten langsam die lange
Leinwand. Zuerst erscheint die Rückseite, bei den Füßen beginnend, dann, wo
die Abdrücke des Kopfes fast aufeinander treffen, die Vorderseite. Die Linien
sind deutlich, und deutlich sind auch die Male – alle Male, die der Geißelung,
der Dornenkrönung – die Schürfwunden vom Kreuz, die Quetschungen der Schläge
und Stürze, und die Wunden der Nägel und der Lanze.
Maria fällt auf die Knie, küßt
das Tuch, streichelt die Abdrücke, küßt die Wundmale. Sie ist bekümmert, aber
ebenso sichtlich zufrieden, dieses übernatürliche, wunderbare Bild von ihm zu
haben.
Nachdem sie ihre Verehrung
beendet hat, wendet sie sich an Johannes,
238
der nicht neben ihr stehen kann,
weil er die Leinwand an einer Ecke halten muß: «Du warst es, der es ihnen
gesagt hat, Johannes. Nur du konntest es sagen, denn nur du allein hast um
diesen meinen Wunsch gewußt.»
«Ja, Mutter. Ich bin es gewesen.
Und ich habe diesen Wunsch kaum ausgesprochen, als sie ihn auch schon erfüllen
wollten. Sie mußten aber auf den geeigneten Moment warten, um es zu tun ...»
«Also auf eine klare Nacht, um
ohne Fackeln und Laternen kommen zu können; und auf eine Zeit ohne
Feierlichkeiten, bei denen hier in Jerusalern und in der Umgebung viel Volk
und die Vornehmen zusammenkommen. Und dies aus Vorsicht ...» erklärt
Nikodemus.
«Und ich habe sie zur größeren
Sicherheit begleitet. Als Herr des Gethsemane kann ich diesen Ort aufsuchen,
ohne aufzufallen oder Verdacht zu erregen bei dem einen oder anderen von
denen... die beauftragt sind, alle und alles zu beobachten», schließt Lazarus.
«Gott segne euch alle. Doch ihr
habt die Tücher gekauft... Es ist nicht recht...»
«Es ist recht, Mutter. Ich habe
von Christus, deinem Sohn, ein Geschenk erhalten, das nicht mit Geld zu
bezahlen ist: das Geschenk des Lebens nach vier Tagen im Grab und zuvor die
Bekehrung meiner Schwester Maria. Joseph und Nikodemus haben von Jesus das
Licht, die Wahrheit, das unsterbliche Leben erhalten. Und du... du hast durch
deinen Schmerz als Mutter und deine Liebe zu allen Menschen als heiligste
Mutter nicht nur ein Tuch, sondern die ganze christliche Welt, die immer
größer werden wird, für Gott erkauft. Was du gegeben hast, kann nicht mit Geld
bezahlt werden. Nimm wenigstens dies. Es gehört dir. Und es ist nur recht und
billig so. Auch Maria, meine Schwester, denkt dies. Sie hat es immer gedacht,
vom Augenblick seiner Auferstehung an, und mehr noch, seit er dich verlassen
hat, um zum Vater aufzufahren», antwortet Lazarus.
«So sei es also. Ich gehe und
hole das andere. Es schmerzt mich wirklich, es zu sehen... Dieses hier ist
anders. Es strahlt Frieden aus! Denn er ist hier ruhig und im Frieden. Es
scheint, als fühle er in seinem Todesschlaf schon das wiederkehrende Leben und
die Herrlichkeit, der niemand mehr etwas anhaben kann. Nun habe ich keinen
anderen Wunsch mehr, als mich mit ihm zu vereinigen. Auch dies wird geschehen,
wann und wie Gott will. Ich gehe. Und Gott möge euch die Freude, die ihr mir
bereitet habt, hundertfach vergelten.»
Maria nimmt ehrfürchtig das
Grabtuch, das die vier Männer wieder zusammengelegt haben, verläßt die Küche
und eilt die Treppe hinauf... Kurz darauf kommt sie wieder herunter mit dem
ersten Leichentuch und übergibt es Nikodemus, der sagt: «Gott schenke dir
seine Gnade, Frau. Nun wollen wir gehen, denn der Morgen graut, und es ist
ratsam, zu Hause zu sein, bevor es ganz hell ist und die Leute ihre Häuser
verlassen.»
Die Drei huldigen ihr, bevor sie
hinausgehen und mit raschen Schritten
239
und auf dem gleichen Weg, auf dem
sie gekommen sind, einem der Eingänge des Gethsemane, der der Straße nach
Bethanien am nächsten liegt, zueilen.
Maria und Johannes bleiben an der
Tür des Häuschens, bis sie verschwunden sind. Dann kehren sie in die Küche
zurück, schließen die Tür und sprechen leise miteinander...
706. DAS MARTYRIUM DES STEPHANUS
Der Versammlungssaal des
Synedriums ist noch genauso wie beim Prozeß Jesu in der Nacht vom Donnerstag
auf den Freitag, sowohl was die Einrichtung als auch was die Anwesenden
betrifft. Der Hohepriester und die anderen sitzen an ihren Plätzen. Vor dem
Hohenpriester, auf dem freien Platz in der Mitte, wo Jesus bei seinem Prozeß
gestanden ist, steht nun Stephanus. Er muß schon gesprochen und Zeugnis von
seinem Glauben und der wahren Natur Jesu und von seiner Kirche abgelegt haben,
denn die Heftigkeit des Tumults hat ihren Höhepunkt erreicht und gleicht in
allem dem Tumult, der gegen Christus losbrach in der verhängnisvollen Nacht
des Verrates und Gottesmordes.
Sie schütteln die Fäuste und
schleudern Flüche und furchtbare Lästerungen gegen den Diakon Stephanus, der
unter den brutalen Schlägen wankt und taumelt, während sie ihn gewaltsam hin
und her zerren.
Doch er bewahrt seine Ruhe und
Würde. Ja noch mehr. Er ist nicht nur ruhig und würdevoll, sondern selig,
beinahe verzückt. Ohne sich um den Speichel zu kümmern, der ihm über das
Gesicht rinnt, und um das Blut, das ihm nach einem heftigen Schlag aus der
Nase fließt, erhebt er auf einmal sein verklärtes Gesicht und seinen
leuchtenden, lächelnden Blick zu einer Vision, die nur er allein sieht. Dann
öffnet er die Arme in Kreuzform, erhebt sie und streckt sie empor, als wolle
er umarmen, was er sieht. Schließlich fällt er auf die Knie und ruft aus: «Ich
sehe den Himmel offen und den Menschensohn, Jesus, den Christus Gottes, den
ihr getötet habt, zur Rechten Gottes stehen.»
Nun verliert der Tumult noch den
letzten Rest an Menschlichkeit und Gesetzmäßigkeit, und mit der Raserei einer
Meute von Wölfen, Schakalen oder tollwütigen Raubtieren stürzen sich alle auf
den Diakon, beißen ihn, geben ihm Fußtritte, packen ihn, reißen ihn an den
Haaren auf die Füße, werfen ihn wieder zu Boden und behindern sich dabei
gegenseitig in ihrem Wüten und Drängen, denn die einen wollen den Märtyrer
hinausschleppen und können es nicht, weil andere ihn in eine andere Richtung
zerren, um ihn noch länger zu schlagen und zu treten.
Zu den Allerschlimmsten unter den
Rasenden gehört ein kleinwüchsiger,
240
häßlicher Jüngling, den sie
Saulus nennen. Die Wildheit seines Gesichtes ist unbeschreiblich.
In einer Ecke des Saales steht
Gamaliel. Er hat sich nicht an dem Handgemenge beteiligt und auch nie das Wort
an Stephanus oder an einen der Mächtigen gerichtet. Sein Abscheu vor der
ungerechten und wilden Szene ist augenscheinlich. In einer anderen Ecke,
ebenfalls angewidert und unbeteiligt am Prozeß und an dem Durcheinander, steht
Nikodemus und beobachtet Gamaliel, dessen Gesicht mehr sagt, als Worte es
können. An einem gewissen Punkt, gerade als er sieht, daß Stephanus zum
dritten Mal an den Haaren emporgerissen wird, hüllt sich Gamaliel in seinen
weiten Mantel und geht zu einer Tür, die dem Ausgang gegenüberliegt, zu dem
nun der Diakon gezerrt wird.
Dies entgeht Saulus nicht, der
sofort schreit: «Rabbi, du gehst fort?»
Gamaliel antwortet nicht. Saulus,
der wohl glaubt, Gamaliel habe nicht begriffen, daß die Frage an ihn gerichtet
war, wiederholt noch genauer: «Rabbi Gamaliel, du verläßt dieses Gericht?»
Gamaliel wendet sich mit einem
Ruck um und antwortet mit furchtbarem, stolzem, eisigem und von Abscheu
erfülltem Blick nur: «Ja.» Aber dieses «Ja» spricht Bände.
Saulus versteht die ganze
Bedeutung dieses «Ja», verläßt die wütende Meute und läuft Gamaliel nach. Er
holt ihn ein, hält ihn auf und sagt: «Du willst mir doch damit nicht sagen,
daß du das Urteil nicht billigst, Rabbi?»
Gamaliel sieht ihn nicht an und
gibt ihm auch keine Antwort. Saulus fängt wieder an: «Dieser Mensch ist
doppelt schuldig, weil er das Gesetz geleugnet hat, da er einem Samariter
gefolgt ist, der von Beelzebub besessen war, und weil er dies noch dazu getan
hat, nachdem er dein Jünger war!»
Gamaliel sieht ihn immer noch
nicht an und schweigt. Aber Saulus fragt: «Oder bist du etwa, auch du, ein
Jünger dieses Übeltäters Jesus ?»
Nun spricht Gamaliel: «Ich bin es
noch nicht. Aber wenn er der war, der er sagte, und wahrlich, vieles spricht
dafür, daß es so ist, dann bitte ich Gott, daß ich sein Jünger werde.»
«Entsetzlich!» schreit Saulus.
«Keineswegs entsetzlich! Jeder
besitzt einen Verstand, um ihn zu gebrauchen, und eine Freiheit, um sie zu
nützen. Jeder soll ihn daher anwenden in der Freiheit, die Gott jedem Menschen
gegeben hat, und in dem Licht, mit dem er jedes Herz erleuchtet. Die Gerechten
werden diese beiden Gaben Gottes früher oder später zum Guten und die Bösen
zum Bösen gebrauchen.» Und Gamaliel geht hinaus in den Hof des Tempelschatzes
und lehnt sich an dieselbe Säule, an der auch Jesus gestanden ist, als er von
der armen Witwe sprach, die dem Tempel alles gegeben hatte, was sie besaß:
zwei Heller. Er steht noch nicht lange dort, als Saulus wieder erscheint und
sich vor ihm aufpflanzt.
241
Der Unterschied zwischen beiden
ist sehr groß. Gamaliel ist hochgewachsen, von vornehmer Art, mit ausgeprägten
semitischen, aber schönen Gesichtszügen, hoher Stirn und rabenschwarzen,
intelligenten, durchdringenden großen Augen, die tief unter den dichten,
geraden Brauen liegen, und gerader, langer, schmaler Nase, die etwas an die
Nase Jesu erinnert. Auch die Hautfarbe und der Mund mit den schmalen Lippen
erinnern an Jesus. Nur der Bart und der Oberlippenbart Gamaliels sind nicht
mehr tiefschwarz wie früher, sondern stark graumeliert und etwas länger.
Saulus dagegen ist klein,
untersetzt, fast rachitisch, mit kurzen, dicken, an den Knien etwas
voneinander abstehenden Beinen, was man gut sehen kann, denn er hat seinen
Mantel abgelegt und trägt nur ein kurzes, gräuliches, tunikaartiges Gewand.
Seine Arme sind kurz und kräftig wie die Beine, der Hals kurz und gedrungen,
darauf ein großer Kopf mit braunem, kurzem, drahtigem Haar, eher abstehenden
Ohren, stumpfer Nase, aufgeworfenen Lippen, hohen, breiten Backenknochen,
gewölbter Stirn und dunklen Augen – Kuhaugen ähnlich, die aber ganz und gar
nicht sanft und demütig sind – unter den stark gewölbten, dichten, wirren
Brauen. Ein wie das Haar borstiger und sehr dichter, aber kurz gehaltener Bart
bedeckt die Wangen. Vielleicht läßt der kurze Hals ihn leicht bucklig oder
zumindest seinen Rücken ziemlich rund erscheinen.
Saulus schweigt zunächst und
schaut Gamaliel fest in die Augen. Dann sagt er leise etwas. Gamaliel
antwortet ihm mit klarer, lauter Stimme: «Ich lehne jede Gewalt ab. In jedem
Fall. Ich werde niemals meine Zustimmung zu einem gewaltsamen Vorgehen geben.
Ich habe dies bereits öffentlich, vor dem ganzen Synedrium, gesagt, als man
Petrus und die anderen Apostel zum zweiten Mal gefangengenommen und vor das
Synedrium gebracht hatte, um sie zu richten. Und ich wiederhole: "Stammt
dieses Vorhaben oder Unternehmen nur von Menschen, so geht es zugrunde; stammt
es aber von Gott, so können Menschen es nicht zerstören, vielmehr könnten sie
von Gott bestraft werden." Denke daran.»
«Bist du denn der Beschützer
dieser gotteslästerlichen Jünger des Nazareners, du, der größte Rabbi
Israels?»
«Ich bin der Hüter der
Gerechtigkeit. Und diese lehrt, vorsichtig und gerecht im Urteil zu sein. Ich
wiederhole es dir. Wenn es von Gott kommt, wird es fortdauern, wenn nicht,
wird es von selbst ein Ende nehmen. Und ich will meine Hände nicht mit einem
Blut beflecken, von dem ich nicht weiß, ob es den Tod verdient.»
«Du, du, der Pharisäer und
Gelehrte, sprichst so? Fürchtest du den Allerhöchsten nicht?»
«Mehr als du. Aber ich denke
nach. Und ich erinnere mich... Du warst noch klein, noch kein Sohn des
Gesetzes, da lehrte ich schon in diesem Tempel, zusammen mit dem weisesten
Rabbi dieser Zeit... und mit anderen
242
Klugen, aber nicht Gerechten.
Unsere Weisheit hat in diesen Mauern eine Lehre erhalten, die uns für den Rest
unseres Lebens nachdenklich gemacht hat. Die Augen des weisesten und
gerechtesten Rabbi unserer Zeit schlossen sich in der Erinnerung an jene
Stunde, während sein Verstand sich noch mit den Wahrheiten befaßte, die wir
von den Lippen eines Knaben vernommen hatten, der sich den Menschen
offenbarte, wenigstens den Gerechten. Meine Augen haben unentwegt beobachtet,
und mein Verstand hat nachgedacht und Vorfälle und Dinge abgewogen... Ich habe
das Privileg gehabt, den Allerhöchsten durch den Mund eines Kindes reden zu
hören, das ein gerechter, mächtiger, weiser, heiliger Mann wurde, der dann
gerade wegen dieser seiner Eigenschaften zum Tod verurteilt wurde. Seine Worte
von einst fanden ihre Bestätigung viele Jahre später in Ereignissen, die
Daniel zu seiner Zeit vorausgesagt hatte. Ich, Elender, habe es zu spät
verstanden! Ich habe auf das letzte furchtbare Zeichen gewartet, um zu glauben
und zu verstehen! Armes Volk Israel, das damals nicht begriffen hat und nicht
einmal jetzt begreift! Die Prophezeiungen Daniels und die der anderen
Propheten und des Wortes Gottes sind noch nicht völlig eingetroffen und werden
sich erfüllen an dem halsstarrigen Israel, dem blinden, tauben, ungerechten
Israel, das den Messias in seinen Dienern immer noch verfolgt.»
«Fluch über dich! Du lästerst
Gott! Wahrlich, es wird keine Rettung mehr geben für das Volk Gottes, wenn die
Rabbis von Israel lästern und Jahwe, den wahren Gott, verleugnen und einen
falschen Messias preisen und an ihn glauben!»
«Nicht ich lästere, sondern all
jene, die den Nazarener beschimpft haben und ihm immer noch Schimpf antun,
indem sie seinen Nachfolgern Schimpf antun. Du, ja, du lästerst ihn, denn du
haßt ihn, in ihm und in den Seinen. Aber du hast wahr gesprochen, wenn du
sagst, daß es für Israel keine Rettung mehr gibt. Aber nicht, weil es
Israeliten gibt, die zu seiner Herde gehören, sondern weil Israel ihn zum Tod
verurteilt hat.»
«Ich verabscheue dich! Du
verrätst das Gesetz, den Tempel!»
«Verklage mich nur beim
Synedrium, damit auch ich dasselbe Schicksal erleide wie jener, der nun
gesteinigt werden soll. Es wird der Beginn und die glückliche Vollendung
deiner Mission sein. Und ich werde durch mein Opfer Vergebung erlangen, daß
ich Gott, der vorüberging, nicht erkannt und verstanden habe, den Erlöser, den
Meister, der unter uns, seinen Kindern und seinem Volk, weilte.»
Saulus dreht sich mit einer
zornigen Gebärde und grob um und kehrt zurück in den Hof vor dem Saal des
Synedriums, wo immer noch das Geschrei der gegen Stephanus aufgebrachten
Volksmenge erschallt. Saulus gesellt sich zu den Henkersknechten, die in
diesem Hof auf ihn warten, verläßt zusammen mit den anderen den Tempel und
begibt sich zur Stadtmauer. Der Diakon wird immer noch verhöhnt, beschimpft
und
243
geschlagen, während er sich
erschöpft, verwundet und wankend zur Richtstatt schleppt.
Außerhalb der Stadtmauer ist ein
öder, steiniger, völlig verlassener Platz. Dort angekommen, bilden die
Henkersknechte einen Kreis und lassen den Verurteilten mit seinen zerrissenen
Kleidern allein in der Mitte stehen. Er blutet an vielen Stellen des Körpers
aus den Wunden, die sie ihm schon geschlagen haben. Bevor sie sich etwas
entfernen, reißen sie ihm auch noch die Kleider vom Leib. Stephanus behält nur
eine ganz kurze Tunika an. Dann legen sie alle die langen Gewänder ab und
stehen nun in kurzen Tuniken da, ähnlich der des Saulus, dem sie die Kleider.
übergeben, da er sich nicht an der Steinigung beteiligt, sei es, weil er
betroffen von den Worten des Gamaliel ist, sei es, weil er nicht gut zielen
kann.
Die Henkersknechte sammeln große
Kiesel und spitze Steine, von denen es hier mehr als genug gibt, und beginnen
mit der Steinigung.
Die ersten Steine treffen
Stephanus noch im Stehen, mit einem Lächeln der Vergebung auf den verwundeten
Lippen, die kurz vor Beginn der Steinigung Saulus zugerufen haben, als dieser
gerade die Kleider der Steiniger aufhob: «Mein Freund, ich erwarte dich auf
dem Weg Christi.»
Worauf Saulus geantwortet hat:
«Schwein! Besessener!» und ihm einen kräftigen Fußtritt gegen das Schienbein
gegeben hat, der den Diakon fast zu Fall gebracht hätte, sowohl durch den Stoß
als auch durch den Schmerz.
Nach mehreren Steinwürfen, die
Stephanus von allen Seiten treffen, fällt er auf die Knie und stützt sich auf
die blutenden Hände. Und gewiß erinnert er sich dabei an eine weiter
zurückliegende Episode, denn er betastet seine Schläfen und die verletzte
Stirn und flüstert: «Wie er es mir vorausgesagt hat! Die Krone... die
Rubine... O mein Gott, Meister, Jesus, nimm meinen Geist auf!»
Ein weiterer Steinhagel auf das
schon verwundete Haupt wirft ihn ganz auf den Boden, der sein Blut trinkt.
Während er unter den Steinen zusammensinkt, dem immer noch andauernden
Steinhagel, flüstert er sterbend: «Herr... Vater... verzeihe ihnen... Rechne
ihnen diese Sünde nicht an... Sie wissen nicht, was...» Der Tod läßt ihn
diesen Satz nicht zu Ende sprechen, in einer letzten Zuckung scheint er sich
zusammenzukauern, und so bleibt er liegen. Tot.
Die Henkersknechte kommen näher,
werfen weitere Steine auf ihn und begraben ihn beinahe darunter. Dann ziehen
sie sich wieder an und gehen in den Tempel zurück, um dort zu berichten, was
sie getan haben, trunken von satanischem Eifer.
Während sie mit dem Hohenpriester
und anderen Mächtigen reden, sucht Saulus Gamaliel. Er findet ihn nicht sofort
und kehrt, von glühendem Haß gegen die Christen erfüllt, zu den Priestern
zurück, spricht mit
244
ihnen und läßt sich ein Pergament
mit dem Siegel des Tempels geben, das ihn berechtigt, die Christen zu
verfolgen. Das Blut des Stephanus muß ihn rasend gemacht haben, wie ein rotes
Tuch einen Stier oder starker Wein einen Alkoholiker.
Er will gerade den Tempel
verlassen, als er unter dem Tor der Heiden Gamaliel erblickt. Er geht zu ihm.
Vielleicht will er sich rechtfertigen oder einen Streit anfangen. Aber
Gamaliel durchquert den Hof, betritt einen Saal und schließt die Tür vor der
Nase des Saulus, der beleidigt und zornig aus dem Tempel läuft, um die
Christen zu verfolgen.
707. DIE VERSCHIEDENEN WIRKUNGEN
UND FOLGEN DER BEGEGNUNGEN MIT CHRISTUS
«Ich habe mich oft und vielen
geoffenbart, auch in außergewöhnlichen Offenbarungen. Doch nicht bei allen hat
dies dieselbe Wirkung hervorgebracht. Wir können sehen, wie jede meiner
Offenbarungen der Heiligung derer entspricht, die den guten Willen hatten, der
von den Menschen verlangt wird, um Frieden, Leben und Gerechtigkeit zu
erlangen.
So hat in den Hirten die Gnade
während meines dreißigjährigen verborgenen Lebens gewirkt und ist dann zu
einer heiligen Ähre erblüht, als die Zeit gekommen war, da die Guten sich von
den Bösen trennten, um dem Sohn Gottes zu folgen, der auf den Wegen der Welt
vorüberging und den Ruf seiner Liebe erschallen ließ, um die verirrten und von
Satan zerstreuten Schafe der ewigen Herde zu sammeln. Sie waren unter den
Volksscharen, die mir folgten, und waren meine Boten; denn durch ihre
einfachen und überzeugten Berichte verkündeten sie Christus, da sie sagten:
"Er ist es. Wir erkennen ihn wieder. Auf sein erstes Wimmern haben Engel mit
Wiegenliedern geantwortet. Und uns haben die Engel gesagt, daß die Menschen
guten Willens den Frieden haben würden. Guter Wille ist der Wunsch nach dem
Guten und der Wahrheit. Folgen wir ihm! Folgt auch ihr ihm! Dann werden wir
alle den vom Herrn versprochenen Frieden haben."
Demütig, unwissend und arm
mischten sich meine ersten Boten unter die Menschen, wie Wachposten an den
Wegen des Königs von Israel, des Königs der Welt. Treue Augen, ehrliche
Zungen, liebende Herzen, Weihrauchgefäße, die den Duft ihrer Tugenden
verströmen, um die verdorbene Luft der Welt in der Umgebung meiner göttlichen
Person, die Mensch geworden war für sie und für alle Menschen, zu verbessern.
Und selbst am Fuß des Kreuzes habe ich sie gefunden, nachdem ich sie mit
meinem Blick auf dem blutigen Weg nach Golgotha gesegnet hatte, die einzigen,
außer ganz wenigen anderen, die mitten in dem entfesselten Pöbel nicht
fluchten,
245
sondern liebten, glaubten, immer
noch hofften und mich mit mitleidigen Blicken betrachteten, während sie an die
ferne Nacht meiner Geburt dachten und den Unschuldigen beweinten, der seinen
ersten Schlaf auf einem harten Holz schlief und seinen letzten auf einem noch
schmerzhafteren Holz. Dies war so, weil mein Erscheinen ihre aufrichtigen
Seelen geheiligt hatte.
Genauso war es bei den drei
Weisen aus dem Morgenland, bei Simeon und Anna im Tempel, bei Andreas und
Johannes am Jordan und bei Petrus, Jakobus und Johannes auf dem Tabor, bei
Maria von Magdala am Ostermorgen, bei den Elf, als ihnen im Ölgarten und schon
vorher in Bethanien ihre Verwirrung verziehen worden war. Nein... Johannes,
der Reine, brauchte keine Verzeihung. Er war immer der Getreue, der
Heldenmütige, der Liebende. Die reine Liebe, die in ihm war, und die Reinheit
seiner Gesinnung, seines Herzens und seines Fleisches bewahrten ihn vor jeder
Schwäche.
Gamaliel, und ebenso Hillel, war
nicht einfältig wie die Hirten, nicht heilig wie Simeon und nicht weise wie
die drei Weisen. In ihm und in seinem Lehrer und Verwandten war das Gewirr der
pharisäischen Lianen, die das Eindringen des Lichtes und die freie Entfaltung
des Baumes des Glaubens behinderten. Aber in ihrem pharisäischen Wesen besaßen
sie die Reinheit der Absicht. Sie glaubten, in der Wahrheit zu sein, und
verlangten danach, es zu sein. Sie verlangten instinktiv danach, denn sie
waren Gerechte, und auch ihr Verstand drängte sie dazu, denn ihre Seele schrie
voll Unzufriedenheit: "In dieses Brot ist zu viel Asche gemischt. Gebt uns das
Brot der echten Wahrheit."
Gamaliel war jedoch nicht so
stark, daß er den Mut gefunden hätte, diese pharisäischen Lianen zu zerreißen.
Er war noch zu sehr der Sklave seiner Menschlichkeit und der Sorge um sein
Ansehen, seine persönliche Sicherheit und das Wohlergehen seiner Familie. Aus
diesen Gründen konnte Gamaliel "den Gott, der unter seinem Volk wandelte"
weder verstehen noch "diesen Verstand und diese Freiheit" benutzen, die Gott
jedem Menschen gegeben hat, damit er sie zu seinem Besten gebrauche. Nur das
so viele Jahre erwartete Zeichen, das Zeichen, das ihn zu Boden schmetterte
und mit nicht mehr endenden Selbstvorwürfen quälte, konnte bei ihm die
Erkenntnis des Christus bewirken und die Wandlung seiner alten Ansichten,
worauf er, der Rabbi des Irrtums, nach langen Kämpfen zwischen seinem alten
und seinem neuen Ich, ein Jünger der göttlichen Wahrheit wurde; im Gegensatz
zu den Schriftgelehrten, Pharisäern und Lehrern, die das Wesen und den Geist
des Gesetzes verfälscht hatten, da sie die einfache, leuchtende, von Gott
stammende Wahrheit unter Bergen von menschlichen Vorschriften, die oft irrig,
aber immer für sie von Vorteil waren, erstickt hatten.
Er war übrigens nicht der
einzige, dem die Entscheidung schwerfiel und
246
der sich dann stark im Handeln
zeigte. Auch Joseph von Arimathäa und mehr noch Nikodemus konnten sich nicht
sofort der jüdischen Gepflogenheiten und Lianen entledigen und die neue Lehre
offen annehmen; und so kamen sie "heimlich" zu Christus, aus Furcht vor den
Juden; oder sie taten so, als seien sie ihm zufällig begegnet, oder trafen ihn
meistens in ihren Landhäusern oder im Haus des Lazarus in Bethanien; denn
dieses war sicherer und von den Feinden des Christus gefürchtet, da ihnen
bekannt war, daß der Sohn des Theophilus den vollen Schutz Roms genoß.
Natürlich waren sie Gamaliel im Guten weit voraus und auch so viel mutiger,
daß sie es wagten, am Karfreitag Barmherzigkeit zu üben.
Der Rabbi Gamaliel war nicht so
weit. Doch ihr, die ihr dieses Werk lest, bedenkt, wie stark sein guter Wille
war. Durch ihn wendet sich seine so menschliche Gerechtigkeit zum
Übernatürlichen. Die des Saulus hingegen sinkt ab ins Dämonische in der
Stunde, als die Entfesselung des Bösen ihn und seinen Meister Gamaliel an den
Scheideweg der Wahl zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht stellte.
Der Baum des Guten und des Bösen
erhebt sich vor jedem Menschen und zeigt ihm die Früchte des Bösen mit ihrem
einladenden, appetitlichen Aussehen, während in seinem Laub mit den
verführerischen Tönen der Nachtigall die Schlange zischt. Es ist am Menschen,
dem von Gott mit Verstand und Seele ausgestatteten Geschöpf, zu unterscheiden
und die gute Frucht zu wählen unter den vielen, die nicht gut sind und die
Seele tödlich verwunden; und sie zu pflücken, auch wenn sie sticht und nur
mühsam zu erlangen und von bitterem Geschmack und dürftigem Aussehen ist. Ihre
Metamorphose, durch die sie sich viel glatter und weicher anfühlt, süßer
schmeckt und schöner aussieht, erfolgt erst, wenn man mit gerechtem Geist und
Verstand die gute Frucht zu wählen versteht und sich von ihrem bitteren, aber
heiligen Saft genährt hat.
Saulus streckt seine gierige Hand
nach der Frucht des Bösen aus, nach dem Haß, der Ungerechtigkeit, dem
Verbrechen, und er wird sie ausstrecken, bis ihn der Blitz trifft, zu Boden
schmettert und ihn des irdischen Augenlichtes beraubt, damit er die
übernatürliche Sehkraft erlangt und nicht nur ein Gerechter, sondern sogar
Apostel und Bekenner dessen wird, den er zuerst gehaßt und in seinen Dienern
verfolgt hat.
Gamaliel zerriß die zähen Lianen
seiner Menschlichkeit und des Hebräismus, da der ferne Same des Lichtes und
der Gerechtigkeit, nicht nur der menschlichen, sondern auch der
übernatürlichen Gerechtigkeit, keimte und blühte. Meine vierte Epiphanie oder
Offenbarung – dieses Wort ist für euch vielleicht klarer und verständlicher –
hatte ihn ihm ins Herz gelegt, in sein Herz guten Willens; den Samen, den er
gehütet und verteidigt hatte mit aufrichtiger Zuneigung und dem sehnsüchtigen
Wunsch, ihn keimen und blühen zu sehen. Und so streckte er die Hand nach der
Frucht des Guten aus. Sein Wille und mein Blut zerbrachen die
247
harte Schale dieses Samens, den
er jahrzehntelang in seinem Herzen bewahrt hatte, in diesem Herzen von Stein,
das auseinanderbrach, als der Vorhang des Tempels zerriß und die Erde
Jerusalems sich auftat, und er dort, niedergeworfen am Fuß des Kreuzes, seinen
größten Wunsch zu mir hinaufschrie; zu mir, dessen menschliche Ohren ihn nicht
mehr hören konnten, dessen göttlicher Geist ihn aber sehr wohl hörte. Und
unter der Sonne der feurigen Worte der Apostel und der besten Jünger und dem
Regen des Blutes des ersten Märtyrers Stephanus schlug dieser Same Wurzeln,
wuchs, blühte und trug Früchte. Der neue Baum seines Christentums entsproß
dort, wo die Tragödie des Karfreitags alle alten Bäume und Kräuter umgestürzt,
entwurzelt und vernichtet hatte.
Der Baum seines neuen
Christentums und seiner neuen Heiligkeit wächst und erhebt sich vor meinen
Augen. Obwohl er schuldig war, mich nicht schon früher erkannt zu haben, hat
er von mir Verzeihung erlangt wegen seiner Gerechtigkeit, die nicht teilhaben
wollte an meiner Verurteilung und an der des Stephanus. Sein Wunsch, mein
Jünger und ein Sohn der Wahrheit und des Lichtes zu werden, wird auch vom
Vater und vom heiligmachenden Geist gesegnet. Und der Wunsch wird zur
Wirklichkeit, ohne daß dazu ein gewaltiger, heftiger Blitz nötig wäre wie bei
Saulus, dem Anmaßenden, auf dem Weg nach Damaskus. Ihn hätte kein anderes
Mittel erobern und zur Gerechtigkeit, zur Liebe, zum Licht, zur Wahrheit und
zum ewigen und glorreichen Leben im Himmel führen können.»
708. DIE BEISETZUNG DES HEILIGEN
STEPHANUS
Es ist mitten in der Nacht und
auch dunkel, denn der Mond ist schon untergegangen, als Maria mit Petrus,
Jakobus des Alphäus, Johannes, Nikodemus und dem Zeloten das Häuschen im
Gethsemane verläßt. Lazarus wartet vor dem Haus auf sie, am Anfang des Weges,
der zum unteren Tor führt, und da die Nacht so dunkel ist, zündet er ein
Öllicht an, eine Laterne mit einem Schutzschirm aus feinen Alabasterplättchen
oder sonst einem durchscheinenden Material. Das Licht ist spärlich, aber wenn
man es so nahe am Boden hält, wie er es tut, dient die Laterne doch dazu, die
Steine und sonstigen möglichen Hindernisse auf dem Weg zu erkennen. Lazarus
geht an der Seite Marias, damit vor allem sie gut sehen kann. Johannes ist auf
der anderen Seite und führt die Mutter am Arm. Die übrigen gehen in einer
Gruppe hinterdrein.
Sie gehen bis zum Kedron und dann
an ihm entlang, so daß sie hinter dem Gebüsch am Ufer kaum zu sehen sind. Und
das Rauschen des Wassers übertönt und verbirgt das Geräusch ihrer Schritte.
Sie setzen ihren Weg an der
Außenseite der Mauer entlang fort bis zu
248
dem Tor, das dem Tempel am
nächsten liegt, und gehen dann über den öden, unbewohnten Platz bis zu der
Stelle, an der Stephanus gesteinigt wurde. Sie begeben sich zu dem
Steinhaufen, unter dem er halb begraben liegt, und entfernen die Steine, bis
der arme Körper zum Vorschein kommt. Durch den Tod, die Stöße und die
Steinigung ist er nun bläulich und starr und so zusammengekrümmt, wie ihn der
Tod ereilt hat.
Maria, die Johannes aus
Barmherzigkeit in einigen Schritten Entfernung zurückgehalten hat, befreit
sich nun und eilt zu diesem armen, verletzten, blutigen Körper. Ohne sich um
die Flecken zu kümmern, die das geronnene Blut auf ihren Kleidern hinterläßt,
legt sie mit Hilfe von Jakobus des Alphäus und Johannes den Leichnam auf ein
Tuch, das sie im Staub an einer weniger steinigen Stelle ausgebreitet haben.
Mit einem Linnen, das sie in eine kleine Amphore taucht, die der Zelote ihr
hält, wäscht sie, so gut sie kann, das Antlitz des Stephanus, ordnet sein Haar
und versucht es über die Schläfen und die verwundeten Wangen zu legen, um die
furchtbaren Spuren der Steine zu verbergen. Sie wäscht auch die anderen
Glieder und bemüht sich, sie in eine weniger tragische Lage zu bringen. Aber
die Todesstarre, die schon vor vielen Stunden eingetreten ist, läßt dies nur
teilweise zu. Nun versuchen es auch die Männer, die kräftiger und weniger
empfindsam sind als Maria, die wieder der Mater dolorosa des Golgotha und des
Grabes gleicht. Aber auch sie müssen sich trotz aller Bemühungen schließlich
mit einem geringen Erfolg zufriedengeben. Sie legen ihm ein langes, reines
Gewand an, denn seine Kleider sind verlorengegangen oder von den Peinigern
gestohlen worden, um ihm einen Schimpf anzutun, und die kleine Tunika, die sie
ihm gelassen haben, ist nur noch ein zerrissener, blutverschmierter Fetzen.
Nachdem sie dies im schwachen
Schein der Laterne, die Lazarus nahe an den armen Leichnam hält, getan haben,
heben sie diesen auf und legen ihn auf ein anderes sauberes Tuch. Nikodemus
nimmt das erste Tuch, das völlig durchnäßt ist von dem Wasser, mit dem sie den
Märtyrer gewaschen haben, und von seinem geronnenen Blut, und verbirgt es
unter seinem Mantel. Johannes und Jakobus heben das Tuch mit dem Leichnam am
Kopfende und Petrus und der Zelote am Fußende, und so treten sie den Rückweg
an. Lazarus und Maria gehen voraus.
Sie kehren jedoch nicht auf dem
gleichen Weg zurück, sondern gehen durch die Felder und am Fuß des Ölberges
entlang und kommen so auf die Straße nach Jericho und Bethanien. Hier
verweilen sie, um sich auszuruhen und miteinander zu reden.
Und Nikodemus, der ja bei der
Verurteilung des Stephanus, wenngleich unbeteiligt, dabeigewesen ist und der
als Vorsteher der Juden besser als die anderen die Pläne des Synedriums kennt,
teilt den Anwesenden mit, daß eine Verfolgung der Christen angeordnet wurde
und begonnen hat, und
249
daß Stephanus nur der erste auf
einer langen Liste von Namen von Anhängern Christi ist.
Der erste Ausruf der Apostel ist:
«Sie sollen tun, was sie wollen! Wir werden nicht aufgeben, weder aus Furcht
noch aus Vorsicht.»
Aber die Besonneneren unter den
Anwesenden, also Lazarus und Nikodemus, machen Petrus und Jakobus des Alphäus
darauf aufmerksam, daß die Kirche noch sehr wenige Priester Christi hat; und
wenn die wichtigsten von ihnen, also Petrus, der Oberhirte, und Jakobus, der
Bischof von Jerusalem, getötet würden, könnte die Kirche nur schwerlich
überleben. Sie erinnern Petrus auch daran, daß ihr Gründer und Meister damals
Judäa verlassen hatte und nach Samaria gegangen war, um nicht getötet zu
werden, bevor er die Belehrung seiner Diener abgeschlossen hatte, und wie er
ihnen geraten hatte, seinem Beispiel zu folgen, bis die Zahl der Hirten so
zugenommen habe, daß bei ihrem Tod eine Zerstreuung der Gläubigen nicht mehr
zu befürchten sei. Und sie schließen mit den Worten: «Verteilt auch ihr euch
über Judäa und Samaria. Gewinnt unter diesen Leuten Proselyten und zahlreiche
Hirten und zerstreut euch von dort über die ganze Erde, damit gemäß seinem
Auftrag alle Völker das Evangelium kennenlernen.»
Die Apostel sind unschlüssig. Sie
sehen Maria an, als wollten sie von ihr hören, wie sie darüber denkt. Und
Maria, die diese Blicke versteht, sagt: «Der Rat ist gut. Befolgt ihn. Es ist
nicht Feigheit, sondern Vorsicht. Er selbst hat euch gelehrt: "Seid einfältig
wie die Tauben und klug wie die Schlangen. Ich sende euch wie Schafe unter die
Wölfe. Hütet euch vor den Menschen..."»
Jakobus unterbricht sie: «Ja,
Mutter. Aber er hat auch gesagt: "Wenn sie euch überliefern und vor
Statthalter und Könige führen, so seid nicht besorgt darüber, was ihr
antworten sollt. Nicht ihr werdet dann reden, sondern der Geist eures Vaters
wird für euch und in euch reden!" Und ich bleibe hier. Der Jünger muß sein wie
der Meister. Er ist gestorben, um seiner Kirche das Leben zu geben. Jeder von
uns, der stirbt, wird ein Stein für den neuen, großen Tempel sein und das
Leben des großen, unsterblichen Leibes der universalen Kirche vermehren.
Sollen sie mich also töten, wenn sie wollen. Im Himmel, an der Seite meines
Bruders, werde ich glücklicher und mächtiger sein. Den Tod fürchte ich nicht.
Nur die Sünde. Wenn ich meinen Platz verlassen würde, käme ich mir fast vor
wie Judas, der vollkommene Verräter. Diese Sünde wird Jakobus des Alphäus
niemals begehen. Wenn ich fallen muß, werde ich als Held an der Stätte meines
Kampfes fallen, an dem Platz, an den er mich gestellt hat.»
Maria antwortet ihm: «In deine
Geheimnisse mit dem Gottmenschen will ich nicht eindringen. Wenn er es dir so
eingibt, dann handle so. Er allein, der Gott ist, hat das Recht, zu gebieten.
An uns ist es, ihm immer und in allem zu gehorchen und seinen Willen zu tun.»
250
Petrus, der weniger heroisch ist,
spricht mit dem Zeloten, um seine Meinung dazu zu hören. Lazarus, der bei den
beiden steht und alles mitanhört, schlägt vor: «Kommt nach Bethanien. Es ist
nahe bei Jerusalem und nahe der Straße nach Samaria. Christus ist oft von dort
aufgebrochen, um seinen Feinden zu entgehen ...»
Nikodemus macht nun seinerseits
einen Vorschlag: «Kommt in mein Landhaus. Es ist sicher und liegt nicht weit
von Bethanien und von Jerusalem und an der Straße, die über Jericho nach
Ephraim führt.»
«Nein, mein Haus ist besser, denn
es steht unter dem Schutz Roms», sagt Lazarus wieder.
«Du bist schon zu sehr verhaßt,
seit Jesus dich zum Leben erweckt und damit so machtvoll seine göttliche Natur
bewiesen hat», erwidert Nikodemus.
«Und was ist mit meinem Haus?
Eigentlich gehört es Lazarus. Aber es trägt noch immer meinen Namen», sagt
Simon der Zelote.
Maria ergreift nun das Wort und
sagt: «Laßt mich nachdenken und entscheiden, was am besten zu tun ist. Gott
wird mir sein Licht nicht verweigern. Sobald ich es weiß, werde ich es euch
sagen. Nun kommt ihr zunächst zu mir nach Gethsemane.»
«Sitz aller Weisheit und Mutter
des Wortes und des Lichtes, du bist immer der Stern, der uns sicher führt. Wir
gehorchen dir», sagen alle miteinander, fast als hätte wirklich der Heilige
Geist in ihren Herzen und mit ihren Lippen gesprochen.
Sie stehen auf aus dem Gras, in
das sie sich am Rand der Straße gesetzt haben, und während Petrus, Jakobus,
Simon und Johannes mit Maria nach Gethsemane gehen, nehmen Lazarus und
Nikodemus das Tuch, in das der Leichnam des Stephanus gehüllt ist, und begeben
sich im ersten Morgengrauen zur Straße nach Bethanien und Jericho. Wohin
bringen sie den Märtyrer? Geheimnis.
709. GAMALIEL WIRD CHRIST
Jahre müssen vergangen sein, denn
Johannes ist nun im besten Mannesalter; seine Gestalt ist kräftiger, sein
Gesicht reifer, und Haar und Bart sind von viel dunklerem Blond.
Maria spinnt, während Johannes
die Küche im kleinen Haus von Gethsemane in Ordnung bringt. Die Wände sind
erst vor kurzem gekalkt worden, und alles, was aus Holz ist, ist frisch
gestrichen: Hocker, Türen und ein Regal, auf dem die Lampe steht. Maria hat
sich nicht verändert. Ihr Aussehen ist frisch und friedvoll. Jegliche Spur des
Schmerzes über den Tod des Sohnes, seine Rückkehr in den Himmel und die ersten
Verfolgungen
251
der Christen ist aus ihrem
Antlitz verschwunden. Die Zeit hat diesem sanften Gesicht ihre Zeichen nicht
aufgeprägt, und das Alter hat nicht die Macht, ihm seine frische, reine
Schönheit zu rauben.
Die auf dem Regal brennende Lampe
wirft ihr flackerndes Licht auf die kleinen, flinken Hände der Mutter, den
weißen, um den Rocken gewickelten Flachs, den dünnen Faden, die glänzende
Spindel und das blonde Haar, das im Nacken zu einem schweren Knoten
aufgesteckt ist.
Durch die offene Tür dringt ein
heller Mondstrahl in die Küche und wirft einen silbernen Streifen von der
Schwelle bis zu dem Hocker, auf dem Maria sitzt, auf den Boden. So beleuchtet
der Mondstrahl ihre Füße und das rötliche Licht der Lampe ihre Hände und ihren
Kopf. Draußen, in den das Haus im Gethsemane umgebenden Ölbäumen, singen die
Nachtigallen ihre Liebeslieder.
Plötzlich verstummen sie, als
hätte man sie erschreckt, und gleich darauf hört man das Geräusch von
Schritten, die immer näher kommen, bis sie an der Schwelle der Tür
stehenbleiben und sich gleichzeitig der weiße Streifen des Mondlichts
verdunkelt, der bisher die rauhen Ziegel des Bodens versilbert hat.
Maria hebt den Kopf und wendet
sich zum Eingang. Auch Johannes blickt zur Tür, und ein sehr verwundertes
«Oh!» kommt über ihre Lippen, während beide gleichzeitig zur Tür eilen, an der
Gamaliel erschienen und stehengeblieben ist. Ein nun sehr alter, in seiner
Magerkeit und den weißen Gewändern, die der Mond von hinten beleuchtet und
beinahe phosphoreszieren läßt, fast gespenstischer Gamaliel. Ein von den
Ereignissen, von seinen Gewissensbissen, von so vielen Dingen, mehr noch als
vom Alter vernichteter und gebeugter Gamaliel.
«Du hier, Rabbi? Komm herein!
Komm! Und der Friede sei mit dir», sagt Johannes, der nun sehr nahe vor ihm
steht, während Maria einige Schritte weiter hinten geblieben ist.
«Wenn du mich führst ... Ich bin
blind...» antwortet der alte Rabbi mit einer Stimme, die mehr wegen des
geheimen Schmerzes als wegen des hohen Alters zittert.
Johannes fragt überrascht, und
Rührung und Mitleid schwingen in seiner Stimme: «Blind?! Seit wann?»
«Oh, schon lange! Das Augenlicht
hat sofort nachgelassen, nachdem... nachdem... Ja, nachdem ich das wahre Licht
nicht zu erkennen wußte, das gekommen war, um die Menschen zu erleuchten, und
das Erdbeben den Vorhang des Tempels zerriß und die mächtigen Mauern
erschütterte, wie er gesagt hatte. Wahrlich, es zerriß den doppelten Vorhang,
der das Allerheiligste des Tempels verhüllte und das wahre Allerheiligste, das
Wort des Vaters, seinen ewig Eingeborenen in der Hülle des menschlichen,
allerreinsten Fleisches, den nur seine Passion und seine glorreiche
Auferstehung auch den Verstocktesten, mir als erstem, enthüllte
252
als den, der er wirklich war: der
Christus, der Messias, der Emmanuel. Von diesem Augenblick an begann sich die
Finsternis über meine Pupillen zu senken und wurde immer dichter. Gerechte
Strafe für mich. Seit einiger Zeit bin ich nun ganz blind. Und ich bin
gekommen ...»
Johannes unterbricht ihn und
fragt: «Vielleicht, um ein Wunder zu erbitten ?»
«Ja. Ein großes Wunder. Ich bitte
die Mutter des wahren Gottes darum.»
«Gamaliel, ich habe nicht die
Macht, die mein Sohn besaß. Er konnte den Toten das Leben und den erloschenen
Augen das Licht, den Stummen das Wort und den Lahmen die Beweglichkeit
wiedergeben. Ich kann das nicht», antwortet ihm Maria. Und sie fährt fort:
«Doch komm hierher zum Tisch und setze dich. Du bist müde und alt, Rabbi. Mühe
dich nicht noch mehr.» Und sie führt ihn zusammen mit Johannes zum Tisch und
läßt ihn auf einem Hocker Platz nehmen.
Bevor Gamaliel ihre Hand losläßt,
küßt er sie ehrerbietig und sagt dann: «Maria, ich bitte dich nicht um etwas
Materielles wie dies. Was ich von dir erbitte, o Gebenedeite unter allen
Frauen, sind Adleraugen für meinen Geist, damit ich die ganze Wahrheit
erkenne. Ich erbitte von dir nicht das Licht für meine erloschenen Augen,
sondern das übernatürliche, göttliche, wahre Licht, die Weisheit, die
Wahrheit, das Leben für meine Seele und mein Herz, die verwundet und erschöpft
sind von den Gewissensbissen, die mich nicht ruhen lassen. Ich habe nicht das
geringste Bedürfnis, mit meinen Augen diese hebräische Welt zu sehen, die
so... ja, die sich so hartnäckig gegen Gott auflehnt, der ihr eine
Barmherzigkeit erwiesen hat und erweist, die wir keineswegs verdienen. Ich bin
sogar froh, daß ich sie nicht mehr sehen muß und daß meine Blindheit mich von
jeder Pflicht im Tempel und im Synedrium entbunden hat, die so ungerecht mit
deinem Sohn waren und es jetzt auch mit seinen Anhängern sind. Was ich mit
meinem Verstand, meinem Herzen, meiner Seele zu sehen verlange, ist er, Jesus.
Ihn möchte ich sehen, in mir, in meiner Seele, in meinem Geist, so wie du, o
heilige Mutter Gottes, ihn gewiß siehst, wie Jakobus ihn sah, solange er
lebte, und wie der so reine Johannes und die anderen ihn sehen als Ermutigung
bei ihrer wichtigen und schwierigen Arbeit. Ihn möchte ich sehen, um ihn mit
meinem ganzen Sein zu lieben und durch diese Liebe meine Schuld
wiedergutzumachen und von ihm Verzeihung und das ewige Leben zu erlangen,
dessen ich unwürdig geworden bin ...» Er neigt den Kopf über die auf den Tisch
gestützten Arme und weint.
Maria legt eine Hand auf den von
Schluchzen geschüttelten Kopf und antwortet: «Nein, du bist des ewigen Lebens
nicht unwürdig geworden. Alles verzeiht der Erlöser dem, der seine begangenen
Irrtümer bereut. Selbst seinem Verräter hätte er verziehen, wenn er seine
furchtbare Sünde
253
bereut hätte. Und die Schuld des
Judas von Kerioth ist übergroß im Vergleich zu deiner. Überlege: Judas wurde
von Christus als Apostel angenommen und unterwiesen. Und Christus liebte ihn
mehr als alle anderen, wenn man bedenkt, daß er ihn, obwohl er alles von ihm
wußte, nicht aus der Gruppe seiner Apostel ausstieß, sondern im Gegenteil bis
zum letzten Augenblick alles unternahm, um diese nicht merken zu lassen, wer
Judas war und was er zu tun beabsichtigte. Mein Sohn war die Reinheit selbst,
und er konnte nicht lügen, aus keinem Grund. Aber als er den Verdacht der
anderen Elf sah und sie ihm Fragen stellten über Iskariot, gelang es ihm, ohne
zu lügen ihren Verdacht zu zerstreuen, ihre Fragen nicht zu beantworten und
sie zu veranlassen, nicht weiter zu fragen, sowohl aus Klugheit als auch aus
Liebe zu dem Bruder. Deine Schuld ist so viel geringer. Man kann sie nicht
einmal Schuld nennen. Du bist nicht ungläubig, sondern hast ein Übermaß an
Glauben. Du hast so fest an den zwölfjährigen Knaben geglaubt, der im Tempel
zu dir gesprochen hatte, daß du hartnäckig – aber in der guten Absicht, die
deinem absoluten Glauben an dieses Kind entsprang, aus dessen Mund du Worte
unendlicher Weisheit gehört hattest – auf das Zeichen gewartet hast, um an ihn
glauben und in ihm den Messias sehen zu können. Gott verzeiht dem, der einen
so starken und treuen Glauben hat. Mehr noch verzeiht er dem, der, obwohl er
noch im Zweifel ist über die wahre Natur eines zu unrecht angeklagten
Menschen, an dieser Verurteilung keinen Anteil haben will, da er die
Ungerechtigkeit fühlt. Deine geistige Erkenntnis der Wahrheit hat beständig
Fortschritte gemacht, seit du das Synedrium verlassen hast, um dieser
gotteslästerlichen Tat nicht zustimmen zu müssen. Und noch mehr ist diese
Erkenntnis gewachsen, als du im Tempel das so lange erwartete Zeichen gesehen
hast, das den Beginn des christlichen Zeitalters anzeigte. Noch einmal ist
deine Erkenntnis gewachsen, als du mit machtvollen, angsterfüllten Worten am
Fuß des Kreuzes meines Sohnes, der schon kalt und tot war, gebetet hast. Fast
vollkommen wurde sie, als du viele Male entweder mit Worten oder indem du dich
zurückzogst, die Diener meines Sohnes verteidigt hast und nicht an der
Verurteilung der ersten Märtyrer mitschuldig werden wolltest. Glaube mir,
Gamaliel, jeder Akt der Reue, der Gerechtigkeit und der Liebe hat deine
geistige Erkenntnis vermehrt.»
«Aber dies alles genügt noch
nicht! Sieh, ich hatte die seltene Gnade, deinen Sohn von seinem ersten
öffentlichen Auftreten an, am Tag seiner Volljährigkeit gekannt zu haben. Ich
hätte damals schon erkennen müssen. Begreifen! Und ich war blind und
töricht... Ich habe nichts gesehen und nichts verstanden, damals und auch
später, wenn mir die Gnade zuteil wurde, ihm zu begegnen, da er zum Mann und
Meister geworden war, und ich seine gerechten und immer mächtigeren Worte
hören konnte. Verstockt wartete ich nur auf das Zeichen für die Menschen, die
254
erschütterten Steine... und sah
nicht, daß alles an ihm ein sicheres Zeichen war! Ich sah nicht, daß er der
von den Propheten vorhergesagte Eckstein war, der Stein, der schon die Welt
erschütterte, die ganze Welt der Hebräer und der Heiden, der Stein, der durch
sein Wort und seine Wunder die Steine der Herzen erschütterte! Ich sah nicht
das deutliche Zeichen des Vaters über ihm bei allem, was er sagte oder tat.
Wie kann er so viel Halsstarrigkeit verzeihen?»
«Gamaliel, kannst du glauben, daß
ich dir richtig raten kann, ich, die ich der Sitz der Weisheit und die
Gnadenvolle bin, sowohl durch die Weisheit, die in mir Fleisch angenommen hat,
als auch durch die Gnade, die mir geschenkt wurde und durch die ich die Fülle
der Erkenntnis der übernatürlichen Dinge besitze?»
«O ja, das glaube ich! Gerade
weil ich glaube, daß du es bist, komme ich zu dir, um das Licht zu erhalten.
Nur du, Tochter, Mutter und Braut Gottes, der dich gewiß schon bei deiner
Empfängnis mit dem Licht seiner Weisheit erfüllt hat, kannst mir den Weg
zeigen, den ich einschlagen muß, um Frieden zu erlangen, um die Wahrheit zu
finden, um das wahre Leben zu erobern. Ich bin mir meiner Irrtümer voll bewußt
und von meiner geistigen Erbärmlichkeit so vernichtet, daß ich Hilfe nötig
habe, um den Mut zu finden, zu Gott zu gehen.»
«Was du als Hindernis
betrachtest, ist vielmehr der Flügel, der dich zu Gott trägt. Du hast dich
selbst vernichtet, hast dich verdemütigt. Du warst ein mächtiger Berg und hast
dich zum tiefen Tal gemacht. Du mußt wissen, daß die Demut dem Nährstoff
gleicht, der selbst die kargste Erde fruchtbar macht und sie vorbereitet, so
daß sie Pflanzen wachsen läßt und reiche Ernten hervorbringt. Die Demut ist
die Stufe, über die man aufsteigt. Ja, sie ist eine Leiter, um zu Gott
aufzusteigen, der den Demütigen sieht und ihn zu sich ruft, um ihn zu erheben,
ihn mit seiner Liebe zu entzünden und mit seinem Licht zu erleuchten, auf daß
er sehe. Deshalb sage ich dir, du bist schon im Licht und auf dem rechten Weg
zum wahren Leben der Kinder Gottes.»
«Aber um die Gnade zu erlangen,
muß ich der Kirche beitreten und die Taufe empfangen, die von der Schuld
befreit und uns wieder zu Kindern Gottes macht. Ich bin nicht dagegen. Im
Gegenteil! Ich habe den Sohn des Gesetzes in mir vernichtet; ich kann den
Tempel nicht mehr schätzen und lieben. Aber ich will nicht nichts sein.
Deshalb muß ich auf den Trümmern meiner Vergangenheit den neuen Menschen und
den neuen Glauben errichten. Ich fürchte jedoch, daß die Apostel und Jünger
mißtrauisch und voreingenommen gegen mich sind, gegen den großen Rabbi mit dem
harten Schädel ...»
Johannes unterbricht ihn und
sagt: «Du irrst, o Gamaliel. Ich als erster liebe dich und würde den Tag, an
dem ich dich ein Lamm der Herde Christi nennen kann, als einen Tag höchster
Gnade betrachten. Ich wäre nicht
255
sein Jünger, wenn ich die Lehren
des Christus nicht in die Tat umsetzen würde. Und er gebietet uns Liebe und
Verständnis für alle, besonders für die Schwachen, die Kranken und die
Verirrten. Er hat uns geboten, seinem Beispiel zu folgen. Und wir haben ihn
immer voll Liebe gesehen mit den reuigen Sündern, den verlorenen Söhnen, die
zum Vater zurückgekehrt sind, und den verirrten Schafen. Von Magdalena bis zur
Samariterin, von Aglaia bis zum Schächer, wie viele hat er durch seine
Barmherzigkeit erlöst! Er hätte auch Judas sein schwerstes Verbrechen
verziehen, wenn dieser bereut hätte. Er hatte ihm so oft verziehen! Ich allein
weiß, wie sehr er ihn geliebt hat, obwohl er alles wußte, was Judas tat. Komm
mit mir. Ich werde dich zu einem Kind Gottes und Bruder des Erlösers Christus
machen.»
«Du bist nicht der Oberhirte. Der
Oberhirte ist Petrus. Und wird Petrus so gut sein wie du? Ich weiß, daß er
ganz anders ist als du.»
«Er war anders. Aber seit er
seine eigene Schwäche, ja sogar seine Feigheit gesehen hat, seit er seinen
Meister verleugnet hat, ist er nicht mehr, was er war, und ist barmherzig mit
allen.»
«Dann führe mich sofort zu ihm.
Ich bin alt und habe schon zu lange gewartet. Ich fühlte mich zu unwürdig und
fürchtete, alle Diener Jesu würden mich ebenso beurteilen. Nun, nachdem die
Worte Marias und deine Worte mich ermutigt haben, will ich sofort in den
Schafstall des Meisters eintreten, bevor mein altes Herz, das so viele Dinge
gebrochen haben, stillsteht. Führe du mich, denn ich habe meinen Diener, der
mich hierher gebracht hat, entlassen, damit er nichts hört. Er wird um die
erste Stunde zurückkommen. Aber dann werde ich schon weit weg sein. In
zweifacher Hinsicht. Von diesem Haus und vom Tempel. Für immer. Zuerst will
ich, der rebellische Sohn, zum Haus des Vaters gehen, ich, das verirrte Schaf,
zum wahren Schafstall des ewigen Hirten. Dann werde ich in meine ferne Heimat
zurückkehren, um dort in Frieden und in der Gnade Gottes zu sterben.»
Maria umarmt ihn spontan und
sagt: «Gott schenke dir Frieden. Frieden und ewige Herrlichkeit, denn du hast
es verdient, da du den mächtigen Oberhäuptern Israels deine wahren Gedanken
geoffenbart und ihre Reaktion nicht gefürchtet hast. Gott sei immer mit dir.
Gott schenke dir seinen Segen.»
Gamaliel sucht wiederum nach
ihren Händen. Er nimmt sie in die seinen und küßt sie. Dann kniet er nieder
und bittet sie, ihre gesegneten Hände auf sein altes, müdes Haupt zu legen.
Maria stellt ihn zufrieden. Sie
tut noch mehr. Sie zeichnet ein Kreuz auf das geneigte Haupt. Schließlich
hilft sie Gamaliel zusammen mit Johannes beim Aufstehen, begleitet ihn zur Tür
und sieht ihm nach, wie er, von Johannes geführt, dem wahren Leben
entgegengeht, er, der als Mensch am Ende, geistig aber neu geboren ist.
256
710. UNTERREDUNG ZWISCHEN PETRUS
UND JOHANNES
Der Mond steht hoch am Himmel,
und auf der von seinem Licht überfluteten Terrasse des Hauses des Simon
befinden sich Petrus und Johannes. Sie sprechen leise miteinander und zeigen
auf das verschlossene, stille Haus des Lazarus. Sie reden lange und gehen
dabei auf der Terrasse auf und ab. Auf einmal wird die Unterhaltung aus wer
weiß welchem Grund lebhafter, und die zuvor leisen Stimmen werden lauter und
klar verständlich.
Petrus schlägt mit der Faust auf
die Brüstung und ruft aus: «Verstehst du denn nicht, daß man es so machen muß?
Ich rede im Namen Gottes zu dir, und du mußt auf mich hören und darfst nicht
so widerspenstig sein. Es ist besser, zu tun, was ich sage. Nicht aus Feigheit
und Angst, sondern um die vollständige Ausrottung zu verhindern, die der
Kirche Christi droht. Jeder unserer Schritte wird nun überwacht. Ich habe es
bemerkt, und Nikodemus hat mir bestätigt, daß ich richtig gesehen habe. Warum
konnten wir nicht in Bethanien bleiben? Aus eben diesem Grund. Warum ist es
nicht mehr klug, in diesem Haus zu bleiben oder in dem von Nikodemus, Nike
oder Anastasica? Immer aus demselben Grund. Um zu verhindern, daß die Kirche
durch den Tod ihrer Vorsteher zugrunde geht.»
«Der Meister hat uns oft genug
versichert, daß nicht einmal die Hölle sie überwältigen und vernichten kann»,
erwidert Johannes.
«Das ist wahr. Die Hölle wird
nicht siegen, wie sie auch Christus nicht besiegt hat. Aber die Menschen, ja.
So wie sie den Gottmenschen überwältigt haben, der Satan besiegt hatte, aber
nicht über die Menschen siegen konnte.»
«Weil er nicht siegen wollte. Er
mußte erlösen und daher sterben. Und eines solchen Todes. Aber wenn er sie
hätte besiegen wollen! Wie oft ist er ihren Angriffen jeglicher Art
entronnen!»
«Auch die Kirche wird bekämpft
werden und doch nicht ganz untergehen, wenn wir klug genug sind, die
Vernichtung ihrer jetzigen Oberhäupter zu verhindern, bevor nicht viele andere
Priester aller Rangstufen von uns, den ersten, auf ihre Aufgabe vorbereitet
und ausgebildet worden sind. Täusche dich nicht, Johannes. Pharisäer,
Schriftgelehrte, Priester und Synedristen werden alles tun, um die Hirten zu
töten, damit die Herde zerstreut wird. Die Herde, die noch schwach und
ängstlich ist. Besonders diese Herde Palästinas. Wir dürfen sie nicht ohne
Hirten lassen, solange nicht viele Lämmer ihrerseits zu Hirten geworden sind.
Du hast gesehen, wie viele man schon getötet hat. Bedenke, daß die ganze Welt
auf uns wartet! Der Befehl war klar: "Gehet hin und lehret alle Völker und
taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und
lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe." Und mir hat er am Ufer
des Sees dreimal befohlen, seine Lämmer und seine Schafe zu weiden, und
257
er hat vorhergesagt, daß ich erst
als alter Mann gebunden und fortgeführt und mit meinem Blut und meinem Leben
für Christus Zeugnis ablegen würde. Es ist noch lange nicht soweit! Wenn ich
eine seiner Reden vor dem Tod des Lazarus richtig verstanden habe, muß ich
nach Rom gehen und dort die unsterbliche Kirche gründen. Hat er selbst es
nicht für gut befunden, sich nach Ephraim zurückzuziehen, da die Verkündigung
des Evangeliums noch nicht vollendet war? Und erst zum entsprechenden
Zeitpunkt kehrte er nach Judäa zurück, um gefangengenommen und gekreuzigt zu
werden. Machen wir es ebenso! Man kann gewiß nicht sagen, daß Lazarus, Maria
und Martha ängstliche Geschöpfe sind. Und doch siehst du, daß sie, wenn auch
mit großem Bedauern, von hier fortgegangen sind, um das Wort Gottes, das hier
von den Juden erstickt worden wäre, anderswohin zu tragen... Ich, der von ihm
erwählte Oberhirte, habe entschieden. Und mit mir haben die anderen Apostel
und Jünger ebenso entschieden. Wir werden uns zerstreuen. Die einen werden
nach Samaria gehen, andere ans große Meer oder nach Phönizien und immer weiter
vordringen bis nach Syrien, auf die Inseln, nach Griechenland und ins römische
Imperium.
Wenn das jüdische Unkraut und
Gift die Äcker und Weinberge des Herrn in dieser Gegend hier unfruchtbar
macht, werden wir anderswohin gehen, neuen Samen ausstreuen und andere Äcker
und Weinberge pflanzen, um nicht nur eine Ernte zu erlangen, sondern eine
reiche Ernte. Wenn hier der jüdische Haß die Wasser vergiftet und verdirbt,
damit ich, der Seelenfischer, und meine Brüder keine Seelen für den Herrn mehr
fangen können, dann werden wir zu anderen Wassern gehen. Man muß vorsichtig
und zugleich schlau sein. Glaube mir, Johannes!»
«Du hast recht. Aber ich denke an
Maria. Ich kann und darf sie nicht alleinlassen. Wir würden beide zu sehr
darunter leiden. Und es wäre eine schlechte Tat, meinerseits» antwortet ihm
Johannes.
«Du bleibst. Und auch sie bleibt,
denn sie von hier wegzubringen, wäre ein Widersinn...»
«Dem Maria nie zustimmen würde.
Ich werde euch später nachkommen, wenn sie die Erde verlassen hat.»
«Du wirst kommen. Du bist jung...
Du hast noch ein langes Leben vor dir.»
«Und Maria nur noch eine kurze
Zeit.»
«Warum? Ist sie krank, leidend,
schwach?»
«O nein! Die Zeit und die
Schmerzen haben keine Macht über sie. Sie ist immer noch jung, von Aussehen
und Geist. Sie ist heiter, ich würde sagen, selig.»
«Warum sagst du dann ...»
«Weil ich verstehe, daß dieses
Aufblühen in Schönheit und Freude das Zeichen ist, daß sie ihre Vereinigung
mit dem Sohn nahen fühlt. Die
258
vollkommene Vereinigung meine
ich. Denn die geistige Vereinigung hat niemals aufgehört. Ich hebe nicht den
Schleier, der die Geheimnisse Gottes verhüllt, aber ich bin überzeugt, daß sie
ihren Sohn in seiner Herrlichkeit alle Tage sieht. Und das ist ihre Seligkeit.
Ich glaube, daß ihr Geist in dieser Betrachtung erleuchtet wird und fähig ist,
die Zukunft zu erkennen, so wie Gott sie kennt. Auch ihre eigene. Ihr Leib ist
noch auf der Erde, aber ich glaube, ohne mich zu irren sagen zu können, daß
ihre Seele fast immer im Himmel ist. So intensiv ist ihre Vereinigung mit
Gott, daß ich sicher keine Gotteslästerung ausspreche, wenn ich sage, daß Gott
in ihr ist, wie damals, als sie ihn in ihrem Schoß trug. Mehr noch. Wie das
Wort sich mit ihr vereinigt hat, um Jesus Christus zu werden, so vereinigt sie
sich jetzt so sehr mit Christus, daß sie ein zweiter Christus ist und eine
neue menschliche Natur angenommen hat, die von Christus selbst. Wenn ich damit
eine Häresie sage, dann möge Gott mich den Irrtum erkennen lassen und mir
verzeihen. Sie lebt in der Liebe. Dieses Feuer der Liebe entflammt sie, nährt
sie, erleuchtet sie, und dieses Feuer der Liebe wird sie uns zu gegebener Zeit
nehmen, ohne Schmerzen für sie und ohne den Zerfall ihres Körpers... Schmerz
werden nur wir empfinden... Ich vor allem ... Wir werden unsere Meisterin,
Führerin und Trösterin nicht mehr haben ... Und ich werde wirklich allein
sein...»
Und Johannes, der in dem Bemühen,
seine Tränen hinunterzuschlucken, zuletzt mit zitternder Stimme gesprochen
hat, beginnt nun herzzerreißend zu schluchzen. Noch nie, nicht einmal am Fuß
des Kreuzes und am Grab, habe ich ihn so weinen gesehen. Auch Petrus fängt an
zu weinen, wenn auch nicht so verzweifelt, und unter Tränen bittet er
Johannes, ihn nach Möglichkeit zu benachrichtigen, damit er beim Heimgang
Marias oder wenigstens bei ihrer Grablegung dabei sein kann.
«Wenn es mir möglich ist, werde
ich es gewiß tun. Doch ich zweifle sehr daran. Irgend etwas in meinem Inneren
sagt mir, daß es bei ihr so sein wird wie bei Elias, der vom himmlischen
Sturmwind in einem feurigen Wagen entrückt wurde. Ich werde kaum Zeit haben zu
bemerken, daß ihr Hinscheiden bevorsteht, und ihre Seele wird schon im Himmel
sein.»
«Aber ihr Leib wenigstens wird
bleiben. Auch beim Meister war es so, und er war Gott!»
«Bei ihm war es notwendig. Bei
ihr nicht. Er mußte durch seine Auferstehung die jüdischen Lügen entkräften
und durch seine Erscheinungen die Welt überzeugen, die zweifelte oder ihn
wegen seines Todes am Kreuz sogar verleugnete. Maria hat dies nicht nötig.
Aber wenn es mir möglich ist, will ich dich benachrichtigen. Leb wohl, Petrus,
Oberhirte und Bruder in Christus. Ich muß zu ihr zurückkehren, die mich sicher
schon erwartet. Gott sei mit dir.»
«Und mit dir. Und bitte Maria,
für mich zu beten und mir nochmals meine Feigheit in der Nacht des Prozesses
zu verzeihen, eine Erinnerung,
259
die ich niemals aus meinem Herzen
werde löschen können, und die mir niemals Ruhe läßt ...» Und dabei rinnen
Tränen über die Wangen des Petrus, der noch hinzufügt: «Sie möge mir Mutter
sein, Mutter der Liebe für ihren unglücklichen, verlorenen Sohn ...»
«Es ist nicht nötig, daß ich ihr
das sage. Sie liebt dich mehr als eine leibliche Mutter. Sie liebt dich als
Mutter Gottes und mit der Liebe der Mutter Gottes. Wenn sie willens war, Judas
zu verzeihen, dessen Sünde maßlos war, dann hat sie doch auch dir längst
verziehen! Der Friede sei mit dir, Bruder. Ich gehe nun.»
«Und ich komme mit, wenn du es
erlaubst. Ich möchte sie noch einmal sehen.»
«Komm nur. Ich weiß, wie man zum
Gethsemane gelangen kann, ohne gesehen zu werden.»
Sie machen sich auf den Weg und
gehen eilig und schweigend in Richtung Jerusalem, aber auf der oberen Straße,
die auf der von der Stadt am weitesten entfernten Seite zum Ölgarten führt.
Sie kommen dort an, als es schon
hell wird, betreten den Gethsemane und gehen zum Haus hinunter. Maria ist auf
der Terrasse und sieht die beiden kommen. Mit einem Freudenschrei steigt sie
hinab und eilt ihnen entgegen.
Petrus fällt ihr sofort zu Füßen,
neigt sein Haupt bis zum Boden und bittet: «Mutter, Verzeihung!»
«Wofür denn? Hast du irgendwie
gesündigt? Er, der mir alles enthüllt, hat mich nichts anderes wissen lassen,
als daß du sein würdiger Nachfolger im Glauben bist. Als Mensch hat er dich
immer als Gerechten befunden, auch wenn du manchmal etwas heftig bist. Was
soll ich dir also verzeihen?»
Petrus weint und schweigt.
Johannes erklärt: «Petrus kann
einfach keine Ruhe finden, weil er Jesus im Vorhof des Tempels verleugnet
hat.»
«Das ist doch längst
Vergangenheit. Es ist ausgelöscht, Petrus. Hat Jesus dich etwa dafür
getadelt?»
«O nein!»
«War er danach weniger liebevoll
mit dir?»
«Nein, wirklich nicht. Im
Gegenteil...»
«Und zeigt dir dies nicht, daß
er, und auch ich, dich verstanden und dir verziehen haben?»
«Das ist wahr. Ich bin immer der
gleiche Dummkopf.»
«Dann geh nun und sei im Frieden.
Ich sage dir, daß wir uns alle, ich, du und die anderen Apostel und Diakone,
im Himmel beim Menschensohn wiedersehen werden. So gut ich es vermag, segne
ich dich.» Und so wie sie es bei Gamaliel getan hat, legt Maria ihre Hände auf
das Haupt des Petrus und macht das Zeichen des Kreuzes darüber.
260
Petrus neigt sich, um ihre Füße
zu küssen. Dann steht er auf und kehrt viel ruhiger als zuvor und von Johannes
begleitet zum hohen Gittertor zurück. Er entfernt sich, während Johannes,
nachdem er diesen Eingang gut verschlossen hat, zu Maria zurückkehrt.
711. DER SELIGE HEIMGANG MARIAS
Maria befindet sich in ihrem
einsamen Zimmerchen oben auf der Terrasse. Sie ist ganz in weißes Linnen
gekleidet. Sowohl das Kleid, als auch der Mantel, der am Hals geschlossen ist
und über den Rücken herabfällt, und der feine Schleier, der das Haupt bedeckt
– alles ist weiß. Sie ist dabei, ihre Kleider und die Gewänder Jesu, die sie
immer aufbewahrt hat, zu ordnen. Sie sucht die besseren heraus. Es sind nicht
viele. Von ihren Kleidern nimmt sie das Kleid und den Mantel, die sie auf dem
Kalvarienberg getragen hat; von den Gewändern ihres Sohnes das Leinenkleid,
das Jesus an Sommertagen getragen hat, und den im Gethsemane wiedergefundenen
Mantel, an dem noch die Spuren des Blutschweißes dieser furchtbaren Stunden zu
sehen sind.
Nachdem sie diese Kleidungsstücke
schön gefaltet und den blutigen Mantel ihres Jesus geküßt hat, begibt sie sich
zu der Truhe, in der nun schon seit Jahren alle Reliquien des letzten
Abendmahls und der Passion gesammelt und aufbewahrt sind. Sie tut alle diese
Dinge in das obere Fach und legt die Kleider in das untere.
Johannes, der ganz leise auf die
Terrasse heraufgekommen ist, schaut durch die Tür, was Maria tut. Vielleicht
hat er sich Gedanken gemacht über ihre lange Abwesenheit von der Küche, die
sie wohl verlassen hat, um die Morgenstunden oben zu verbringen. Sie will
gerade die Truhe schließen und dreht sich mit einem Ruck um, als er fragt:
«Was tust du, Mutter?»
«Ich habe alles zurechtgelegt,
was wert ist, aufbewahrt zu werden. Alle Andenken... Alles, was Zeugnis ablegt
von seiner unendlichen Liebe und seinem unendlichen Schmerz.»
«Warum, Mutter, willst du die
Wunden deines Herzens wieder aufreißen durch den Anblick dieser traurigen
Dinge? Du bist bleich, und deine Hand zittert... Du leidest also, wenn du sie
betrachtest», sagt Johannes und geht auf sie zu, fast als fürchte er, daß die
so bleiche, zitternde Maria sich unwohl fühlen und ohnmächtig werden könnte.
«O nein, nicht deshalb bin ich
bleich und zittere. Es ist nicht, weil die Wunden wieder aufbrechen... Sie
haben sich in Wirklichkeit nie geschlossen, nie völlig geschlossen. Friede und
Freude sind in mir, und noch nie zuvor waren sie so groß.»
«Nie zuvor? Ich verstehe nicht...
In mir erweckt der Anblick dieser
261
Dinge nur die furchtbare
Erinnerung an die Qual dieser Stunden. Und ich bin nur einer seiner Jünger. Du
aber bist die Mutter ...»
«Und als solche müßte ich noch
mehr leiden, willst du sagen. Und aus menschlicher Sicht hast du recht. Aber
es ist nicht so. Ich bin es gewohnt, den Schmerz der Trennung von ihm zu
ertragen. Auch das ist ein Schmerz, denn seine Gegenwart und Nähe waren mein
Paradies auf Erden. Doch ich habe alles gerne und ruhigen Herzens ertragen,
denn alles, was er tat, war der Wille des Vaters und war Gehorsam gegenüber
dem Willen Gottes, und ich habe es angenommen, da auch ich immer dem Willen
Gottes und seinen Plänen mit mir gehorsam gewesen bin. Als Jesus mich verließ,
habe ich gelitten. Gewiß, denn ich fühlte mich verlassen. Als er mich, noch
ein Knabe, unbemerkt verlassen hatte, um mit den Gelehrten im Tempel zu
disputieren, nur Gott weiß, was ich da gelitten habe. Trotzdem stellte ich ihm
nur die für eine Mutter gerechtfertigte Frage, warum er mich so verlassen
hatte, und sagte nichts weiter. Und ich habe ihn auch nicht zurückgehalten,
als er mich verließ, um der Meister zu werden... und doch war ich schon Witwe
und allein in einer Stadt, die mich, mit Ausnahme weniger, nicht liebte. Und
ich war über seine Antwort bei der Hochzeit zu Kana nicht erstaunt. Er hat ja
nur den Willen seines Vaters getan. Und ich ließ ihm die Freiheit, ihn zu tun.
Ich konnte vielleicht einen Rat erteilen oder ein Gebet sprechen. Einen Rat
hinsichtlich der Jünger, ein Gebet für irgendeinen Unglücklichen. Doch mehr
als das nicht. Ich litt, als er mich verließ, um in die Welt zu gehen, die ihm
feind und so sündig war, daß das Leben in ihr für ihn zur Qual wurde. Aber
welche Freude habe ich jedesmal empfunden, wenn er zu mir zurückkehrte!
Wahrlich, sie war so groß, daß sie mir siebzigmal siebenmal den Schmerz der
Trennung vergalt. Herzzerreißend war der Schmerz der Trennung bei seinem Tod,
aber mit welchen Worten soll ich dir die Freude beschreiben, die ich empfand,
als er mir nach seiner Auferstehung erschien? Unendlich groß war der Schmerz
der Trennung nach seiner Rückkehr zum Vater, und ich wußte, daß er erst enden
würde, wenn ich selbst dieses irdische Leben beendet habe. Nun erfüllt mich
Freude, eine Freude, die so groß ist, wie der Schmerz es war, denn ich fühle,
daß mein Leben beendet ist. Ich habe getan, was ich tun mußte. Ich habe meine
irdische Mission abgeschlossen. Die andere, die himmlische, wird kein Ende
haben. Gott hat mich auf Erden gelassen, bis auch ich, wie mein Jesus, alles
vollbracht habe, was ich vollbringen mußte. Und ich fühle in mir die geheime
Freude, den einzigen Balsamtropfen in dem letzten, über alle Maßen bitteren
Leiden Jesu, die auch er fühlte, als er sagen konnte: "Es ist vollbracht."»
«Freude bei Jesus? In jener
Stunde?»
«Ja, Johannes. Eine den Menschen
nicht verständliche Freude. Aber verständlich für die Seelen, die schon im
Licht Gottes leben und in der Gnade dieses Lichtes die tieferen Dinge
erkennen, die verborgen sind
262
unter dem Schleier, mit dem der
Ewige die Geheimnisse des Königs verhüllt. Angsterfüllt und erschüttert durch
diese Ereignisse, eins mit ihm, meinem Sohn, auch in der Verlassenheit vom
Vater, verstand ich damals nicht. Das Licht war für die ganze Welt erloschen
in jener Stunde, für die ganze Welt, die ihn nicht hatte aufnehmen wollen. Und
auch für mich; nicht im Sinne einer gerechten Strafe, sondern weil ich die
Miterlöserin sein mußte, mußte auch ich die Qual erdulden, allen göttlichen
Trostes zu entbehren, die Qual der Finsternis, der Trostlosigkeit, der
Versuchung durch Satan, der mich überzeugen wollte, daß alles, was Jesus
gesagt hatte, nicht möglich sei. Alles, was er von Donnerstag bis Freitag
seelisch durchlitt, mußte also auch ich erleiden. Aber dann verstand ich. Als
das für immer auferstandene Licht mir erschien, verstand ich. Alles. Auch die
geheime und höchste Freude Christi, als er sagen konnte: "Alles habe ich
vollbracht, wie es der Vater wollte. Ich habe das Maß der göttlichen Liebe
vollgemacht, da ich den Vater bis zum Opfer meiner selbst geliebt habe, da ich
die Menschen bis in den Tod geliebt habe. Alles habe ich vollbracht, was ich
zu tun hatte. Nun sterbe ich glücklich im Geist, obwohl gemartert in meinem
unschuldigen Fleisch." Auch ich habe alles vollbracht, was mir von Ewigkeit zu
vollbringen bestimmt war, von der Empfängnis des Erlösers bis zur Hilfe für
euch, seine Priester, damit ihr vollkommene Priester werdet. Die Kirche hat
sich nun gebildet und ist stark. Der Heilige Geist erleuchtet sie, das Blut
der ersten Märtyrer festigt sie und läßt sie wachsen, und meine Mithilfe hat
dazu beigetragen, sie zu einem heiligen Organismus zu machen, den die Liebe zu
Gott und dem Nächsten nährt und immer mehr stärkt und in dem der Haß, die
Rachsucht und der Neid, die Lästerung, die schlechten Gewächse Satans nicht
gedeihen. Gott ist mit ihr zufrieden und will, daß ihr es von meinen Lippen
vernehmt, wie er auch will, daß ich euch sage, daß ihr fortfahren sollt, in
der Liebe zu wachsen, um so an Vollkommenheit zuzunehmen, die Zahl der
Christen zu mehren und die Kraft der Lehre zu stärken. Denn die Lehre Christi
ist die Lehre der Liebe. Und die Liebe war immer Leitstern und Beweggrund des
Lebens Jesu, wie auch meines Lebens. Wir haben niemanden abgewiesen und allen
verziehen. Einem einzigen konnten wir keine Verzeihung gewähren, da er als
Diener des Hasses sich unserer grenzenlosen Liebe verweigerte. Jesus hat euch
bei seinem Abschied vor dem Tod das Gebot gegeben, einander zu lieben. Und er
hat euch auch das Maß der Liebe genannt, das ihr anwenden sollt, als er zu
euch sagte: "Liebet einander, wie ich euch geliebt habe. Daran wird man
erkennen, daß ihr meine Jünger seid." Die Kirche braucht die Liebe, um zu
leben und zu wachsen. Vor allem die Liebe ihrer Diener. Wenn ihr einander
nicht mit allen Kräften liebt und ebenso eure Brüder im Herrn, wird die Kirche
unfruchtbar werden. Und nur mit Mühe und bei wenigen würde euch die
Neuerschaffung, die Wiedererhebung der Menschen in ihren Rang als Kinder
Gottes und
263
Miterben des Himmels gelingen,
denn Gott würde euch bei eurer Aufgabe nicht mehr helfen. Gott ist die Liebe.
Alle seine Werke sind Werke der Liebe. Von der Erschaffung der Welt bis zur
Menschwerdung. Von der Menschwerdung bis zur Erlösung. Von dieser bis zur
Gründung der Kirche. Und endlich von dieser bis zum himmlischen Jerusalem, das
alle Gerechten versammeln wird, damit sie im Herrn jubeln. Ich sage all dies
zu dir, weil du der Apostel der Liebe bist und es besser als alle anderen
verstehen kannst ...»
Johannes unterbricht sie und
sagt: «Auch die anderen lieben, lieben sich gegenseitig.»
«Ja. Aber du bist der vollkommen
Liebende. Jeder von euch hatte immer eine für ihn charakteristische
Eigenschaft, wie im übrigen jedes Geschöpf. Du warst unter den Zwölfen immer
die Liebe, die reine und übernatürliche Liebe. Vielleicht, oder vielmehr gewiß
bist du so voll Liebe, weil du so rein bist. Petrus dagegen war immer der
Mann, der freimütige und draufgängerische Mann. Sein Bruder Andreas war
schweigsam und schüchtern, ganz das Gegenteil von ihm. Jakobus, dein Bruder,
war so impulsiv, daß Jesus ihn den Donnersohn nannte. Der andere Jakobus, der
Bruder Jesu, war der Gerechte und Heldenhafte. Judas des Alphäus, sein Bruder,
war der immer Vornehme und Getreue. Die Abstammung von David war bei ihm
offensichtlich. Philippus und Bartholomäus waren die Traditionalisten. Simon
der Zelote war der Kluge. Thomas der Friedfertige. Matthäus war der Demütige,
der eingedenk seiner Vergangenheit bemüht war, unbemerkt zu bleiben. Und Judas
Iskariot, leider das schwarze Schaf in der Herde Christi, die Schlange, die
sich in Jesu Liebe sonnte, war immer der satanische Lügner. Aber du, der du
ganz Liebe bist, kannst besser verstehen und dich zur Stimme der Liebe machen
für all die anderen, die jetzt ferne sind, und ihnen meinen letzten Rat
übermitteln. Du wirst ihnen sagen, daß sie einander und alle lieben sollen,
auch ihre Verfolger, um eins zu sein mit Gott wie ich es war und so verdient
habe, die auserwählte Braut der ewigen Liebe zu werden und Christus zu
empfangen. Ich habe mich gänzlich Gott hingegeben, obwohl ich sofort
verstanden hatte, wieviel Schmerz mir daraus erwachsen würde. Die Worte der
Propheten standen vor meinem geistigen Auge und das göttliche Licht ließ sie
mich in aller Klarheit erkennen. Daher wußte ich von meinem ersten "Fiat" an,
das ich zum Engel sprach, daß ich mich dem größten Schmerz weihte, den eine
Mutter erleiden kann. Aber nichts konnte meiner Liebe Grenzen setzen, denn ich
wußte, daß sie für alle, die sie üben, Kraft und Licht ist, der Magnet, der
emporzieht, das Feuer, das alles, was es durchglüht, läutert und verschönt,
verwandelt und über das Menschliche hinaushebt. Ja, die Liebe ist wahrlich
eine Flamme. Die Flamme, die das Wertlose, das Verfaulte, das Schlechte, den
elenden Menschen verzehrt und ihn zum reinen, des Himmels würdigen Geist
macht.
264
Wieviel Fäulnis, wie viele
befleckte, verdorbene, gestrandete Menschen werdet ihr auf eurem Weg als
Künder des Evangeliums finden! Verachtet keinen. Liebt sie alle, damit sie zur
Liebe finden und sich retten. Flößt ihnen die Liebe ein. Oft wird ein Mensch
schlecht, weil niemand ihn je geliebt oder nur schlecht geliebt hat. Ihr sollt
sie lieben, damit der Heilige Geist wieder Wohnung nehmen kann in diesen
Tempeln, die so vieles verödet und verunreinigt hat. Bei der Erschaffung des
Menschen hat Gott weder einen Engel noch edle Materie verwendet. Er nahm Lehm,
die niedrigste Materie. Dann erhob er diese niedrige Materie in den erhabenen
Rang eines Adoptivkindes Gottes, indem er ihr seinen Atem, also wiederum seine
Liebe, einhauchte. Mein Sohn hat auf seinem Weg viele heruntergekommene, in
den Schlamm gefallene Menschen gefunden. Er zertrat sie nicht voll Verachtung.
Er hob sie vielmehr liebevoll auf, nahm sie an und verwandelte sie in Erwählte
des Himmels. Denkt immer daran. Und tut, was er getan hat. Erinnert euch an
alle Worte und Werke meines Sohnes. Erinnert euch an seine lieblichen
Gleichnisse, lebt sie, setzt sie in die Tat um. Und schreibt sie nieder, damit
sie den zukünftigen Menschen bis ans Ende der Zeiten erhalten bleiben und den
Menschen guten Willens immer als Richtschnur dienen, um das Leben und die
ewige Herrlichkeit zu erlangen. Ihr könnt natürlich nicht alle leuchtenden
Worte des ewigen Wortes, des Lebens und der Wahrheit wiederholen. Aber
schreibt nieder, soviel ihr niederschreiben könnt. Der Geist Gottes, der auf
mich herabgekommen ist, damit ich der Welt den Erlöser schenke, und der auch
auf euch herabgekommen ist, das eine und das andere Mal, wird euch helfen,
euch zu erinnern und so zu den Menschen zu sprechen, daß sie sich zum wahren
Gott bekehren. So werdet ihr die geistige Mutterschaft fortsetzen, die für
mich auf dem Kalvarienberg begonnen hat, um dem Herrn viele Kinder zu
schenken. Und derselbe Heilige Geist wird in den wiedergeborenen Kindern des
Herrn sprechen und ihnen so viel Kraft schenken, daß es ihnen süß erscheinen
wird, unter Qualen zu sterben und Exil und Verfolgungen zu erdulden, um ihre
Liebe zu Christus zu bekennen und ihm in den Himmel nachzufolgen, wie es
Stephanus, Jakobus, mein Jakobus, und andere schon getan haben. Wenn du allein
zurückgeblieben sein wirst, dann bewahre diese Truhe gut auf...»
Johannes erbleicht und ist noch
bestürzter als zuvor, als Maria gesagt hat, sie fühle ihre Aufgabe nun
beendet, und er unterbricht sie und ruft flehend: «O Mutter, warum sprichst du
so? Ist dir nicht gut?»
«Nein.»
«Du willst mich also verlassen?»
«Nein. Ich werde bei dir bleiben,
solange ich auf Erden bin. Aber bereite dich darauf vor, mein Johannes, allein
zu sein.»
«Dann bist du also doch krank und
willst es mir verbergen... !»
«Nein, glaube mir. Ich habe mich
noch nie so bei Kräften, so voller
265
Frieden und Freude gefühlt wie
jetzt. Ich empfinde in mir einen solchen Jubel, eine solche übernatürliche
Lebensfülle, daß ... ja, daß ich glaube, es nicht mehr ertragen und
weiterleben zu können. Ich bin ja nicht unsterblich. Das mußt du verstehen.
Meine Seele ist unsterblich, der Leib nicht. Er ist wie jeder menschliche Leib
dem Tod verfallen.»
«Nein, nein, rede nicht so. Du
kannst nicht, du darfst nicht sterben! Dein makelloser Leib kann nicht sterben
wie der eines Sünders!»
«Du irrst, Johannes. Mein Sohn
ist gestorben! Und auch ich werde sterben. Ich werde die Krankheit, den
Todeskampf und die Schrecken des Todes nicht erfahren. Aber ich werde sterben.
Und im übrigen sollst du wissen, mein Sohn, daß mein Wunsch, mein innigster
und eigenster Wunsch, seit er mich verlassen hat, genau dies ist. Dies ist
mein größter, mein einziger Wunsch. Ich kann sogar sagen: mein einziger Wille.
Alles andere in meinem Leben war nur Unterordnung meines Willens unter den
göttlichen Willen. Der Wille Gottes, den er selbst in mein kindliches Herz
gelegt hatte, war, daß ich Jungfrau bleibe. Sein Wille war auch die Vermählung
mit Joseph, sein Wille war die jungfräuliche und göttliche Mutterschaft. Alles
in meinem Leben war der Wille Gottes und mein Gehorsam seinem Willen
gegenüber. Doch dies, mit Jesus vereint zu sein, ist mein ganz eigener Wille.
Die Erde zu verlassen, um in den Himmel einzugehen und auf ewig und
ununterbrochen bei ihm zu sein! Mein Wunsch seit so vielen Jahren! Und nun
fühle ich, daß er bald in Erfüllung gehen wird. Sei nicht so betrübt,
Johannes! Höre meinen letzten Willen. Wenn der Lebensgeist aus meinem Leib
gewichen ist und er in Frieden ruht, dann unterziehe ihn nicht der bei den
Hebräern üblichen Einbalsamierung. Denn ich bin keine Hebräerin mehr, sondern
Christin. Die erste Christin, wenn du es recht bedenkst; denn ich trug als
erste Christus mit Fleisch und Blut in mir, ich war seine erste Jüngerin, ich
war die Miterlöserin und ich habe ihn fortgesetzt, hier, unter euch, seinen
Dienern. Kein Lebender, mit Ausnahme meines Vaters und meiner Mutter und
jener, die bei meiner Geburt anwesend waren, hat meinen Leib je gesehen. Du
nennst mich oft: "Die wahre Lade, die das göttliche Wort in sich birgt." Nun
ist dir bekannt, daß die Bundeslade nur vom Hohenpriester gesehen werden darf.
Du bist Priester und viel heiliger und reiner als der Hohepriester im Tempel.
Aber ich möchte, daß nur der Ewige Hohepriester zu seiner Zeit meinen Leib
sieht. Darum rühre mich nicht an. Übrigens habe ich mich, wie du siehst, schon
gereinigt und das saubere Gewand angelegt, das Gewand der ewigen Hochzeit...
Warum weinst du, Johannes?»
«Weil der Sturm des Schmerzes in
mir wütet. Ich verstehe, daß ich dich bald verliere! Wie werde ich ohne dich
weiterleben können? Dieser Gedanke zerreißt mir das Herz! Ich werde diesem
Schmerz nicht standhalten können.»
«Du wirst ihm standhalten. Gott
wird dir helfen, noch lange
266
weiterzuleben, so wie er auch mir
geholfen hat. Denn hätte er mir nicht geholfen auf Golgotha und im Ölgarten,
beim Tod Jesu und bei seiner Himmelfahrt, dann wäre ich gestorben, wie Isaak
gestorben ist. Er wird dir helfen, zu leben und nicht zu vergessen, was ich
dir zuvor gesagt habe, zum Wohl aller.»
«Oh, ich werde mich erinnern. An
alles. Und ich werde deinen Willen tun, auch hinsichtlich deines Körpers. Und
ich verstehe, daß die hebräischen Bräuche nicht mehr taugen für dich, die
Christin, die Reinste, die, dessen bin ich gewiß, nicht der Verwesung des
Fleisches anheimfallen wird. Dein Leib, der vergöttlicht ist wie kein anderer
sterblicher Leib, kann dem Gesetz der Verwesung, des Zerfalls allen toten
Fleisches nicht unterworfen sein, da du ohne den Makel der Erbsünde bist, und
mehr noch, da du, abgesehen von der Fülle der Gnade, in dir selbst die Gnade,
das Wort getragen hast und deshalb wahrlich ein Teil von ihm bist. Dieses wird
das letzte Wunder Gottes an dir, in dir sein, daß du so erhalten bleibst, wie
du bist ...»
«Dann weine nicht mehr!» sagt
Maria und betrachtet das so betrübte, tränenüberströmte Gesicht des Apostels.
Und sie fügt hinzu: «Wenn ich erhalten bleibe, wie ich bin, wirst du mich
nicht verlieren. Quäle dich also nicht!»
«Ich werde dich trotzdem
verlieren, auch wenn du unverwest erhalten bleibst. Ich fühle es. Und der
Schmerz tobt in mir wie ein heftiger Sturmwind. Ein Sturmwind, der mich
entwurzelt und zu Boden schmettert. Du warst mein Alles, besonders seit meine
Eltern gestorben und die anderen Brüder weit fort sind, die leiblichen Brüder
und die Brüder in der Sendung, selbst der geliebte Margziam, den Petrus mit
sich genommen hat. Nun bleibe ich allein zurück, im wildesten Sturm.» Und
Johannes fällt Maria zu Füßen und weint noch verzweifelter.
Maria neigt sich über ihn, legt
ihm die Hand auf das von Schluchzen geschüttelte Haupt und sagt: «Nein, nicht
so. Warum quälst du mich? Du warst so stark unter dem Kreuz, und dies war doch
eine Szene unvergleichlichen Schreckens, sowohl durch die Furchtbarkeit seines
Martyriums als auch durch den satanischen Haß des Volkes! So stark warst du,
und sein und mein Trost! Und heute, an diesem heiteren, ruhigen Sabbatabend
bei mir, die ich so glücklich bin über die bevorstehende unermeßliche Freude,
bist du so verzweifelt?! Mache es wie alles, was uns umgibt und was in mir
ist, oder besser, werde eins damit. Alles ist Frieden. Finde auch du Frieden.
Nur die Ölbäume rauschen leise in der stillen Abendluft. Und dieses leise
Rauschen ist so friedvoll, als würden Engel um das Haus fliegen. Und
vielleicht sind sie wirklich da. Denn in jeder wichtigen Stunde meines Lebens
waren mir Engel nahe, einer oder viele. Sie waren in Nazareth, als der Geist
des Herrn meinen jungfräulichen Schoß fruchtbar machte; und sie waren bei
Joseph, als er über meinen Zustand betrübt war
267
und nicht wußte, wie er sich mir
gegenüber verhalten sollte; sie waren wieder und wieder in Bethlehem, als
Jesus geboren wurde und als wir nach Ägypten fliehen mußten; sie waren in
Ägypten, als sie uns geboten, nach Palästina zurückzukehren; und wenn auch
nicht mir – weil der König der Engel gleich nach seiner Auferstehung selbst zu
mir kam – so sind sie doch den frommen Frauen am Morgen des ersten Tages nach
dem Sabbat erschienen und haben sie aufgefordert, dir und Petrus zu sagen, was
ihr tun sollt. Engel und Licht, immer in den entscheidenden Augenblicken
meines Lebens und des Lebens Jesu. Licht und Liebesglut, die vom Thron Gottes
zu mir, seiner Dienerin, herabstiegen und aus meinem Herzen zu Gott
emporstiegen, die mich, seine Magd, mit ihm, meinem Herrn und König,
verbanden, mich mit Gott, ihn mit mir, damit erfüllt würde, was geschrieben
steht; und auch, damit ein Lichtschleier die Geheimnisse Gottes verhülle und
Satan und seine Knechte nicht vor der Zeit die Erfüllung des höchsten Wunders
der Menschwerdung erkennen könnten. Auch heute abend fühle ich die Engel um
mich schweben, obwohl ich sie nicht sehe. Und ich fühle das Licht in mir und
um mich zunehmen, ein überwältigendes Licht gleich dem, das mich umgab, als
ich Christus empfing und als ich ihn gebar. Ein Licht, das aus einer Fülle der
Liebe kommt, die mächtiger ist als sonst. Durch eine ähnliche Macht der Liebe
entriß ich dem Himmel das Wort vor der Zeit, damit es Mensch und Erlöser
werde. Durch eine ähnlich machtvolle Liebe, wie sie mich heute abend erfüllt,
hoffe ich, vom Himmel geraubt und dorthin geführt zu werden, wohin zu gehen
meine Seele sich sehnt, um mit dem Volk der Heiligen und den Chören der Engel
Gott in Ewigkeit mein unsterbliches "Magnificat" zu singen für das Große, das
er an mir, seiner Magd, getan hat.»
«Wahrscheinlich nicht nur deine
Seele allein. Und die Erde wird dir antworten und dich mit ihren Völkern und
Nationen verherrlichen, ehren und lieben, solange die Welt besteht, so wie
Tobias es von dir, wenngleich verhüllt, vorhergesagt hat; denn du bist
wahrlich jene, in der der Herr gewohnt hat. Du allein hast Gott so viel Liebe
geschenkt wie alle Hohenpriester und alle anderen vom Tempel zusammen im Laufe
der Jahrhunderte. Glühende und reinste Liebe. Deshalb wird Gott dich mehr als
selig machen.»
«Und wird meinen einzigen Wunsch,
mein einziges Verlangen erfüllen. Denn die so große Liebe, die beinahe so
vollkommen ist wie die meines Sohnes und Gottes, vermag alles, auch was nach
menschlichem Ermessen unmöglich erscheint. Vergiß dies nicht, Johannes. Und
sage es auch deinen Brüdern. Ihr werdet so sehr bekämpft werden. Hindernisse
aller Art werden euch eine Niederlage fürchten lassen; Fallen eurer Verfolger
und die Abtrünnigkeit von Christen mit der Moral... eines Iskariot werden euch
bedrücken. Fürchtet nicht. Liebt und fürchtet euch nicht. In dem Maß, in dem
ihr lieben werdet, wird Gott euch helfen und euch zum Sieger
268
über alle und alles machen. Alles
erhält man, wenn man zum Seraph wird. Dann schwingt sich die Seele, dieses
Wunderbare, Ewige, der Atem Gottes, den er uns eingehaucht hat, zum Himmel
empor, fällt wie ein Feuerfunke am Fuß des Thrones Gottes nieder, spricht und
wird von Gott angehört und erlangt vom Allmächtigen, was sie erbittet. Wenn
die Menschen zu lieben wüßten, wie es das alte Gesetz gebietet und wie mein
Sohn liebte und zu lieben gelehrt hat, dann würden sie alles erlangen. Daher
fühle ich, daß ich aus einem Übermaß an Liebe aufhören werde, auf Erden zu
sein, so wie er aus einem Übermaß an Schmerz gestorben ist. Das Maß meiner
Fähigkeit zu lieben ist nun übervoll. Meine Seele und mein Fleisch können sie
nicht mehr fassen! Die Liebe strömt über, überflutet mich und erhebt mich
gleichzeitig zum Himmel und zu Gott, meinem Sohn. Und seine Stimme sagt zu
mir: "Komm! Komm heraus! Steige herauf zu unserem Thron und in unsere
dreifache Umarmung!" Die Erde, alles, was mich umgibt, versinkt in dem großen
Licht, das mir vom Himmel entgegenströmt! Alle Geräusche werden von dieser
himmlischen Stimme übertönt! Die Stunde der göttlichen Umarmung ist für mich
gekommen, mein Johannes!»
Johannes, obwohl immer noch
betrübt, ist etwas ruhiger geworden, während er Maria zugehört hat. Bei ihren
letzten Worten sieht er sie verzückt an und ist nun auch selbst fast in
Ekstase und ebenso blaß wie Maria, deren Blässe sich jedoch langsam in
strahlend weißes Licht wandelt. Er eilt zu ihr, um sie zu stützen, und ruft
aus: «Du gleichst Jesus, als er auf dem Tabor verklärt wurde! Dein Fleisch
leuchtet wie der Mond, deine Kleider strahlen wie ein Diamant vor einer
hellweißen Flamme! Du bist nicht mehr von dieser Welt, Mutter! Die Schwere und
die Undurchsichtigkeit des Fleisches sind verschwunden. Du bist Licht. Aber du
bist nicht Jesus. Er, der nicht nur Mensch, sondern auch Gott war, konnte sich
selbst aufrecht halten, dort auf dem Tabor, und auch hier im Ölgarten, als er
auffuhr. Du kannst es nicht. Komm. Ich will dir helfen, deinen müden, seligen
Leib auf dein Lager zu betten. Ruhe dich aus.» Und voller Liebe geleitet er
sie zu ihrem armen Lager, auf das Maria sich legt, ohne ihren Mantel
abzulegen.
Sie kreuzt die Arme über der
Brust, senkt die Lider über ihre sanften, vor Liebe leuchtenden Augen und sagt
zu Johannes, der sich über sie neigt: «Ich bin in Gott. Und Gott ist in mir.
Während ich ihn betrachte und seine Umarmung fühle, sprich du die Psalmen und
alle die Stellen der Heiligen Schrift, die sich auf mich beziehen, besonders
in dieser Stunde. Der Geist der Weisheit wird sie dir zeigen. Sprich dann das
Gebet meines Sohnes, wiederhole mir die Worte des Erzengels bei der
Verkündigung und die Worte Elisabeths an mich, und meinen Hochgesang... Ich
werde dir folgen mit dem, was von mir noch auf dieser Welt ist ...»
Johannes kämpft mit den Tränen,
die aus seinem Herzen aufsteigen,
269
zwingt sich, die ihn verwirrende
Rührung zu beherrschen, und mit seiner schönen Stimme, die im Laufe der Jahre
der Stimme Christi sehr ähnlich geworden ist – was Maria mit einem Lächeln
bemerkt: «Mir ist, als hätte ich meinen Jesus an meiner Seite» – stimmt er den
Psalm 118 an, den er beinahe ganz sagt; dann folgen die drei ersten Verse des
41. Psalms, die ersten acht Verse des 38. Psalms, der 22. Psalm und der 1.
Psalm. Schließlich betet er das Vaterunser, wiederholt die Worte Gabriels und
Elisabeths, den Gesang des Tobias, die Verse 11-46 des Kapitels 24 aus
Ecclesiastes. Und zuletzt stimmt er noch das Magnificat an. Aber als er beim
neunten Vers ankommt, merkt er, daß Maria nicht mehr atmet, obwohl sie ihre
natürliche Haltung und ihr Aussehen nicht verändert hat und friedlich lächelt,
so als habe sie das Ende ihres Lebens nicht bemerkt.
Johannes wirft sich mit einem
Aufschrei zu Boden, gegen die Einfassung des Lagers und ruft Maria wieder und
wieder. Er kann es nicht fassen, daß sie ihm nicht mehr antworten kann und daß
kein Leben mehr in ihrem Körper ist.
Er beugt sich über das Antlitz
Marias, das einen Ausdruck übernatürlicher Freude beibehalten hat, und Tränen
über Tränen fallen auf dieses sanfte Antlitz und auf die reinen Hände, die
gekreuzt auf der Brust liegen. Dies ist die einzige Waschung für den Leib
Marias: die Tränen des Apostels der Liebe und ihres Adoptivsohnes gemäß dem
Willen Jesu.
Nachdem der erste Schmerz sich
gelegt hat, erinnert Johannes sich an den Wunsch Marias und nimmt die Enden
des weiten Leinenmantels, die über die Bettkante hängen, und die des Schleiers
und schlägt sie über ihren Körper und ihr Antlitz.
Maria gleicht nun einer Statue
aus weissem Marmor auf dem Deckel eines Sarkophags. Johannes betrachtet sie
lange, und immer noch fließen Tränen über sein Gesicht.
Dann ordnet er die Dinge im Raum
anders an, entfernt alles Überflüssige und läßt nur das Bett, einen kleinen
Tisch an der Wand, auf den er den Schrein mit den Reliquien stellt, einen
Hocker, den er zwischen die Tür zur Terrasse und das Bett, auf dem Maria ruht,
stellt, und ein kleines Regal, auf dem die Lampe steht, die Johannes anzündet,
da es bereits Abend wird.
Schließlich geht er rasch in den
Ölgarten hinunter und sammelt, was er an Blumen finden kann, und Ölzweige, die
schon Früchte tragen. In den Raum zurückgekehrt, legt er im Schein der Lampe
Blumen und Zweige wie eine große Krone um den Körper Marias.
Während dieser Arbeit spricht er
zu der Schlafenden, als ob Maria ihn hören könnte. Er sagt: «Du warst immer
die Lilie der Täler, die wunderbare Rose, der schöne Ölbaum, der fruchtbare
Weinstock, die heilige Ähre. Du hast uns deine Wohlgerüche, das Öl des Lebens,
den Wein der Starken und das Brot gegeben, das den Geist jener vor dem Tod
bewahrt,
270
die sich würdig von ihm nähren.
Sie passen zu dir, diese Blumen, denn sie sind einfach und rein wie du, mit
Dornen geziert und friedfertig wie du. Nun wollen wir diese Lampe näherrücken.
So, an dein Bett, damit sie bei dir wacht und mir Gesellschaft leistet,
während ich wache und darauf warte, daß wenigstens eines der Wunder geschieht,
um die ich bete. Das erste ist, daß Petrus, wie er es wollte, und auch die
anderen, die ich durch den Diener des Nikodemus benachrichtigen lassen werde,
dich noch einmal sehen können. Das zweite ist, daß du, da dein Schicksal in
allem dem deines Sohnes ähnlich war, so wie er am dritten Tag auferstehst,
damit ich nicht zum zweitenmal Waise werde. Das dritte ist, daß Gott mir
Frieden schenken möge, wenn was ich für dich erhoffe nicht geschehen sollte,
so wie es bei Lazarus geschah, der dir nicht gleich war. Aber warum sollte es
anders sein? Die Tochter des Jairus, der Jüngling von Naim, der Sohn des
Theophilus wurden wieder lebendig... Allerdings hat der Meister dies noch
bewirkt... Aber er ist mit dir, auch wenn ich ihn nicht sehe. Und du bist
nicht an einer Krankheit gestorben, wie die durch Christus Wiedererweckten.
Aber bist du denn wirklich gestorben? So gestorben, wie jeder Mensch sterben
muß? Nein! Ich fühle, daß es nicht so ist. Dein Geist ist nicht mehr in dir,
in deinem Körper, und in diesem Sinn könnte man von Tod sprechen. Aber in
Anbetracht der Art und Weise deines Heimgangs glaube ich, daß dies nur eine
vorübergehende Trennung deiner schuldlosen Seele voll der Gnade von deinem
reinsten, jungfräulichen Leib ist. Es muß so sein! Es ist so! Wie und wann die
Wiedervereinigung stattfinden und das Leben in dich zurückkehren wird, weiß
ich nicht. Doch ich bin so sicher, daß es geschehen wird, daß ich hier an
deiner Seite bleiben werde, bis Gott mir durch sein Wort oder seinen Eingriff
die Wahrheit über dein Schicksal zeigt.»
Johannes, der nun alles wohl
geordnet hat, setzt sich auf den Hocker, stellt die Lampe neben das Bett auf
den Boden und betrachtet betend die Schlafende.
712. AUFNAHME MARIAS IN DEN
HIMMEL
Wie viele Tage sind wohl
vergangen? Es ist schwierig, es mit Sicherheit zu sagen. Nach den Blumen zu
schließen, die den leblosen Körper umkränzen, könnte man glauben, es seien
erst einige Stunden verflossen. Aber wenn man die Ölzweige sieht, auf denen
die frischen Blumen liegen und deren Blätter schon ganz vertrocknet sind, und
auch die anderen verwelkten Blumen, die wie Reliquien auf der Truhe liegen,
dann kommt man zu dem Schluß, daß bereits mehrere Tage vergangen sind.
Der Körper Marias jedoch ist noch
so wie bei ihrem Heimgang. Der
271
Tod hat keine Spuren auf ihrem
Antlitz und den kleinen Händen hinterlassen. Kein unangenehmer Geruch im
Zimmer. Im Gegenteil! Ein unbestimmter Duft von Weihrauch, Lilien, Rosen,
Maiglöckchen und Bergkräutern schwebt im Raum.
Johannes, der seit wer weiß wie
vielen Tagen schon wacht, ist, von Müdigkeit überwältigt, auf seinem Hocker
eingeschlafen und lehnt mit dem Rücken an der Wand, neben der offenen Tür, die
auf die Terrasse führt. Das Licht der am Boden stehenden Lampe beleuchtet ihn
von unten, so daß ich sein müdes und sehr bleiches Gesicht sehen kann, das nur
rings um die Augen vom Weinen gerötet ist.
Die Morgendämmerung muß eben
angebrochen sein, denn ihr schwacher Schein läßt die Terrasse und die das Haus
umgebenden Ölbäume erkennen. Dann wird der Schein heller, fällt durch die Tür,
und man sieht auch die Dinge im Raum deutlicher, die vorher kaum zu
unterscheiden waren, da das Licht des Lämpchens nicht weit genug reicht.
Auf einmal erfüllt ein großes
Licht den Raum, ein silbernes, leicht bläuliches, beinahe phosphoreszierendes
Licht, das immer stärker wird und die Morgenhelle und den Schein der Lampe
verblassen läßt. Es ist dasselbe Licht, das die Höhle von Bethlehem bei der
Geburt Gottes überflutete. Dann erscheinen in diesem paradiesischen Licht
Engelsgestalten -ein noch strahlenderes Licht in dem schon vorhandenen
gewaltigen Licht. Und so wie damals, als die Engel den Hirten erschienen,
entsteht ein Reigen sprühender, farbenprächtiger Funken und ein leiser,
harmonischer, süßer Harfenton, wenn sie ihre Flügel sanft bewegen.
Die Engel umringen die
Lagerstatt, neigen sich über sie, heben den reglosen Körper auf und
entschweben mit kräftigerem Flügelschlag, der den Harfenklang noch verstärkt,
durch eine Öffnung im Dach, die sich wunderbarerweise aufgetan hat, wie sich
das Grab Jesu wunderbarerweise geöffnet hat. Sie nehmen den Leib ihrer Königin
mit, der heilig, aber noch nicht verherrlicht und deshalb dem Gesetz der
Materie unterworfen ist, dem Jesus nicht mehr unterworfen war, da er bei
seiner Auferstehung schon verherrlicht war.
Der von den Flügeln der Engel
erzeugte Klang wird stärker und ist nun mächtig wie ein Orgelakkord. Johannes,
der sich, immer noch schlafend, schon mehrmals auf seinem Hocker bewegt hat,
als würden das helle Licht und der Klang der Engelsflügel ihn stören, wird nun
wach durch diesen mächtigen Akkord und einen starken Luftzug, der durch das
offene Dach und zur Tür hinaus weht, eine Art Wirbel bildet, in die Decken des
nun leeren Bettes und in die Kleider des Johannes fährt, die Lampe löscht und
die Tür mit einem lauten Knall zuschlägt.
Der Apostel sieht sich noch
ziemlich verschlafen um, um festzustellen, was geschieht. Er bemerkt das leere
Bett und das offene Dach, fühlt, daß ein Wunder geschehen ist und läuft auf
die Terrasse hinaus. Wie durch
272
eine innere Eingebung oder eine
himmlische Aufforderung hebt er den Kopf und beschattet sich die Augen mit der
Hand, damit ihn die aufgehende Sonne nicht blendet.
Und er sieht. Er sieht, wie der
noch reglose Leib Marias, die ganz einer Schlafenden gleicht, von der
Engelschar immer höher hinaufgetragen wird. Wie zum letzten Gruß flattert ein
Zipfel des Mantels und des Schleiers im durch den raschen Aufstieg oder die
Flügel der Engel entstandenen Wind. Und die Blumen, die Johannes rings um den
Leib Marias gelegt und wieder erneuert hat und die gewiß in den Falten des
Gewandes hängengeblieben sind, regnen auf die Terrasse und auf die Erde des
Gethsemane, während das mächtige Hosanna der Engelschar sich immer weiter
entfernt und immer leiser wird.
Johannes schaut immer noch dem
Leib nach, der zum Himmel auffährt. Und durch ein ihm von Gott gewährtes
Wunder – um ihn zu trösten und ihn für seine Liebe zur Adoptivmutter zu
belohnen – sieht er sehr genau, daß Maria, nun umhüllt von den Strahlen der
aufgegangenen Sonne, aus der Ekstase, die die Seele vom Leib getrennt hatte,
ins Leben zurückkehrt, sich aufrichtet und nun auch die Eigenschaften eines
schon verherrlichten Leibes besitzt.
Johannes schaut und schaut. Das
Wunder, das Gott ihm gewährt, verleiht ihm die Fähigkeit, entgegen allen
natürlichen Gesetzen zu sehen, wie Maria jetzt rasch zum Himmel aufsteigt,
umgeben, aber nicht mehr getragen von den jubilierenden Engeln. Und Johannes
ist verzückt von dieser Vision, die keine menschliche Feder, kein menschliches
Wort, kein Kunstwerk jemals beschreiben oder darstellen kann, da sie
unbeschreiblich schön ist.
Johannes, immer noch auf das
Mäuerchen der Terrasse gestützt, schaut und betrachtet diese immer höher
hinaufschwebende, herrliche, leuchtende göttliche Gestalt – denn das darf man
Maria wohl nennen, die Gott einzigartig erschaffen hat und unbefleckt wollte,
damit sie das fleischgewordene Wort in sich trage. Und ein letztes, größtes
Wunder gewährt der Gott der Liebe diesem seinem vollkommen Liebenden: das
Wunder, die Begegnung der heiligsten Mutter mit ihrem heiligsten Sohn zu
sehen, der herrlich und strahlend in unbeschreiblicher Schönheit rasch vom
Himmel herabkommt, der Mutter entgegen, und sie ans Herz drückt, worauf er mit
ihr, beide strahlender als zwei leuchtende Sterne, dorthin zurückkehrt, von wo
er gekommen ist. Nun sieht Johannes nichts mehr.
Er neigt das Haupt. Auf seinem
müden Antlitz mischt sich der Schmerz über den Verlust Marias mit der Freude
über ihre glorreiche Aufnahme. Doch die Freude siegt über den Schmerz. Er
sagt: «Danke, mein Gott! Danke! Ich habe geahnt, daß es so kommen würde. Und
ich wollte wachen, um keinen Augenblick ihrer Himmelfahrt zu versäumen. Aber
seit drei Tagen habe ich nicht mehr geschlafen. Der Schlaf, die Müdigkeit,
273
zusammen mit dem Schmerz haben
mich genau dann überwältigt, als die Aufnahme bevorstand... Vielleicht hast du
selbst es so gewollt, o Gott, damit ich in diesem Augenblick nicht störe und
nicht zu sehr leide... Ja, gewiß! Du hast es so gewollt, wie du auch gewollt
hast, daß ich sehe, was ich ohne ein Wunder von dir nicht hätte sehen können.
Du hast mir gewährt, sie noch einmal so zu sehen, als wäre sie mir nahe,
obwohl sie schon weit entfernt, schon verherrlicht und in der Glorie war. Und
du hast mir erlaubt, Jesus wiederzusehen! O selige, unerwartete Vision, die
ich nie zu erhoffen gewagt hätte. O größtes Geschenk der Geschenke Jesu,
meines Gottes, für seinen Johannes! O höchste Gnade! Meinen Meister und Herrn
wiederzusehen! Ihn mit der Mutter zu sehen! Er die Sonne, sie der Mond. Beide
nun über alle Maßen strahlend und herrlich im Glück der ewigen Vereinigung!
Wie schön muß nun das Paradies sein, da ihr in ihm leuchtet, ihr schönsten
Sterne des himmlischen Jerusalem! Welche Freude für die Chöre der Engel und
der Heiligen! Und so groß ist meine Freude, die Mutter mit ihrem Sohn gesehen
zu haben, daß sie all ihren Schmerz, den Schmerz von beiden, und auch den
meinen, vergessen läßt und der Friede bei mir einzieht. Von den drei Wundern,
die ich von Gott erbeten hatte, haben zwei sich erfüllt. Ich habe gesehen, wie
das Leben wieder in Maria zurückgekehrt ist, und ich fühle den Frieden in mich
zurückkehren. Meine ganze Angst ist verschwunden, denn ich habe sie in der
Herrlichkeit vereint gesehen. Ich danke dir dafür, o Gott! Und ich danke dir,
daß du mir gewährt hast, das Schicksal der Heiligen, wie es nach dem Jüngsten
Gericht sein wird, in diesem allerheiligsten, aber doch menschlichen Geschöpf
zu schauen; und die Auferstehung des Fleisches und seine Wiedervereinigung,
seine Verschmelzung mit der in der Todesstunde zum Himmel aufgestiegenen
Seele. Ich mußte nicht schauen, um zu glauben, denn ich habe immer fest an
jedes Wort des Meisters geglaubt. Aber viele werden bezweifeln, daß das zu
Staub zerfallene Fleisch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden wieder ein
lebendiger Körper werden kann. Diesen werde ich sagen können, indem ich auf
die erhabensten Dinge schwöre, daß nicht nur Christus wieder lebendig geworden
ist durch seine eigene göttliche Macht, sondern daß auch seine Mutter, nachdem
sie drei Tage tot gewesen war – wenn man ein solches Hinscheiden Tod nennen
kann – wieder ins Leben zurückgekehrt ist und mit Leib und Seele ihren Platz
in der ewigen himmlischen Wohnung an der Seite ihres Sohnes eingenommen hat.
Ich werde sagen können: "Glaubt, ihr Christen alle, an die Auferstehung des
Fleisches am Ende der Zeiten und an das ewige Leben der Seele und des Leibes;
ein seliges Leben für die Heiligen, ein schreckliches für die unbußfertigen
Sünder. Glaubt und lebt als Heilige, wie Jesus und Maria als Heilige lebten,
um wie sie in den Himmel einzugehen. Ich habe ihre Leiber zum Himmel auffahren
sehen. Und ich kann es bezeugen. Lebt als Gerechte, um eines Tages in der
neuen ewigen
274
Welt mit Seele und Leib bei
Jesus, der Sonne, und Maria, dem Stern aller Sterne, sein zu können." Ich
danke dir noch einmal, mein Gott! Und nun will ich sammeln, was von ihr noch
geblieben ist, die Blumen, die aus ihrem Gewand gefallen sind und die
Ölzweige, die noch auf dem Bett liegen, und alles wohl aufbewahren. Sie werden
dienen... Ja, sie werden dazu dienen, meinen Brüdern Hilfe und Trost zu
spenden. Meinen Brüdern, auf die ich vergeblich gewartet habe. Früher oder
später werde ich sie wiederfinden...»
Er sammelt auch die einzelnen
Blütenblätter in seinen Mantel, die sich im Fallen abgelöst haben, und kehrt
in das Zimmer zurück. Dann betrachtet er aufmerksam die Öffnung über dem Bett
und ruft: «Ein weiteres Wunder! Eine andere wunderbare Verhältnismäßigkeit der
Wunder im Leben Jesu und Marias. Er, Gott, ist selbst auferstanden, sein Wille
hat den Stein vom Grab entfernt, und aus eigener Kraft ist er in den Himmel
aufgefahren. Allein. Für Maria, die Heiligste, aber die Tochter von Menschen,
haben Engel eine Öffnung für ihre Himmelfahrt geschaffen, und wiederum mit
Hilfe von Engeln wurde sie aufgenommen. In den Leib Christi kehrte die Seele
zurück, als er noch auf Erden weilte, denn so mußte es sein, um seine Feinde
zum Schweigen zu bringen und alle seine Anhänger im Glauben zu bestärken. In
Maria kehrte die Seele zurück, als ihr heiligster Leib sich schon an der
Schwelle des Paradieses befand, denn für sie war nichts weiter nötig.
Vollkommene Macht der unendlichen Weisheit Gottes... !»
Johannes legt nun die Blumen und
Zweige, die auf dem Bett zurückgeblieben sind, auf ein Tuch, zusammen mit
denen, die er draußen gesammelt hat, und legt alles auf den Deckel der Truhe.
Dann öffnet er sie und legt das kleine Kopfkissen Marias und ihre Bettdecke
hinein, geht in die Küche hinunter und holt noch andere Gegenstände, die sie
benützt hat: die Spindel, den Rocken und das Geschirr, und tut alles zu den
übrigen Dingen in die Truhe. Endlich schließt er die Truhe, setzt sich auf den
Hocker und ruft aus:
«Nun ist alles vollbracht, auch
für mich! Nun bin ich frei zu gehen, wohin der Geist des Herrn mich hinführen
wird. Zu gehen, das göttliche Wort auszusäen, das der Meister mir gegeben hat,
damit ich es an die Menschen weitergebe und sie die Liebe lehre. Nun kann ich
sie lehren, damit sie an die Liebe glauben und an ihre Macht. Sie werden
erfahren, was der Gott der Liebe für die Menschen getan hat, und sein Opfer,
seine Sakramente und die ewigen Riten kennenlernen, durch die wir bis ans Ende
der Zeiten mit Jesus Christus in der Eucharistie verbunden sein und den Ritus
und das Opfer erneuern können, wie er es uns aufgetragen hat. Alles Geschenke
der vollkommenen Liebe! Die Liebe lieben zu lehren, damit die Menschen an sie
glauben, wie wir geglaubt haben und glauben. Die Liebe zu säen, auf daß die
Ernte und der Fischfang für den Herrn
275
reich seien. Die Liebe vermag
alles, hat Maria gesagt, als sie das letzte Mal zu mir gesprochen hat; zu mir,
den sie mit Recht den Liebenden in der Gruppe der Apostel genannt hat, den
Liebenden schlechthin, das Gegenstück zu Iskariot, der der Haß war, so wie
Petrus das Ungestüm, Andreas die Sanftmut und die Söhne des Alphäus die
Heiligkeit und die Weisheit und auch die Vornehmheit waren... Ich, der
Liebende, werde nun, da ich den Meister und die Mutter nicht mehr auf Erden
lieben kann, die Liebe zu den Völkern bringen. Die Liebe soll meine Waffe und
Lehre sein. Durch sie werde ich den Satan und das Heidentum besiegen und viele
Seelen gewinnen. Und so werde ich Jesus und Maria fortsetzen, die die
vollkommene Liebe auf Erden waren.»
713. ERWÄGUNGEN UND ERKLÄRUNGEN
ZUR HIMMELFAHRT UND ZUM HEIMGANG DER ALLERHEILIGSTEN JUNGFRAU MARIA
1. Erwägungen und Erklärungen zur
Himmelfahrt und zum Heimgang der Jungfrau Maria (18.4.48)
«Ich soll gestorben sein? Ja,
wenn man die Trennung des erhabenen Teils des Geistes vom Körper Tod nennen
will. Aber nicht, wenn man unter Tod die Trennung der lebengebenden Seele vom
Leib, den Zerfall der nicht mehr von der Seele belebten Materie versteht, und
zuvor das schaurige Grab, und als erstes den Todeskampf.
Wie ich gestorben bin, oder
besser, wie ich von der Erde in den Himmel übergegangen bin, zuerst mit dem
unsterblichen Teil und dann mit dem verderblichen Teil? Nun, so, wie es
gerecht war für die Sündenlose, die Unbefleckte.
An jenem Abend, die Sabbatruhe
hatte schon begonnen, sprach ich mit Johannes. Von Jesus. Von seinen
Angelegenheiten. Die Abendstunde war friedvoll. Der Sabbat hatte allem Lärm
der Menschenwerke ein Ende gemacht. Und die Abendstunde hatte alle
menschlichen Stimmen und auch die Vögel verstummen lassen. Nur die Ölbäume
rings um das Haus rauschten im Abendwind und Engelsflügel schienen die Wände
des einsamen Hauses zu streifen.
Wir sprachen von Jesus, vom
Vater, vom Himmelreich. Von der Liebe und vom Reich der Liebe sprechen
bedeutet, das lebendige Feuer entzünden und die Bande der Materie verbrennen,
um den Geist für seine mystischen Flüge zu befreien. Und wenn das Feuer sich
auch in den Grenzen hält, die Gott auferlegt, um die Geschöpfe in seinem
Dienst auf Erden zu erhalten, kann man leben und brennen und verbrennt doch
nicht in dieser
276
Glut, sondern vervollständigt
sein Leben. Aber wenn Gott die Begrenzung aufhebt und dem göttlichen Feuer die
Freiheit läßt, die Seele vollkommen in Besitz zu nehmen und an sich zu ziehen,
und die Seele sich ihrerseits vollkommen der Liebe hingibt, dann löst sie sich
von der Materie und fliegt, wohin die Liebe sie treibt und einlädt. Und dies
ist das Ende des Exils und die Rückkehr ins Vaterhaus.
An jenem Abend gesellte sich zur
grenzenlosen Liebesglut, zur unfaßbaren Lebendigkeit meiner Seele eine süße
Mattigkeit, ein geheimnisvolles Gefühl des Fernseins der Materie von allem,
was mich umgab, als würde der Körper müde einschlafen, während der Intellekt,
der noch klarere Verstand, sich in die göttliche Herrlichkeit vertiefte.
Johannes, der liebende und umsichtige Zeuge all meiner Handlungen, seit er
gemäß dem Willen meines Eingeborenen mein Adoptivsohn geworden war, überredete
mich sanft, mich auf meinem Lager auszuruhen, und wachte betend bei mir.
Und der letzte Klang, den ich auf
Erden hörte, waren die geflüsterten Worte des jungfräulichen Johannes. Sie
waren für mich wie das Wiegenlied einer Mutter. Sie begleiteten meine Seele in
ihrer letzten, unaussprechlich erhabenen Ekstase. Sie begleiteten mich in den
Himmel.
Johannes, der einzige Zeuge
dieses süßen Geheimnisses, hat mich allein gebettet und in meinen weißen
Mantel gehüllt, ohne mein Gewand und meinen Schleier zu wechseln, ohne
Waschungen oder Einbalsamierungen vorzunehmen. Die Seele des Johannes wußte
schon, daß ich nicht der Verwesung anheimfallen würde, wie seine Worte
zwischen dem Pfingstfest und meiner Himmelfahrt klar zum Ausdruck brachten;
und ich hatte dem Apostel gesagt, was er zu tun haben würde. Und er, der
Keusche, der Liebende und Bedachtsame im Umgang mit den Geheimnissen Gottes
und der fernen Gefährten, beschloß, das Geheimnis zu wahren und auf die
anderen Diener Gottes zu warten, damit sie mich noch einmal sehen und aus
diesem Anblick Trost und Kraft in ihren Leiden und Mühen schöpfen könnten. Er
wartete, als sei er ihres Kommens gewiß.
Aber Gott hatte andere Pläne. Er
war, wie immer, gut zu dem Lieblingsjünger. Er war, wie immer, gerecht zu
allen Gläubigen. Er ließ die Lider des Johannes schwer werden, damit der
Schlaf ihm die Qual erspare, auch meinen Leib entrückt zu sehen. Er schenkte
den Gläubigen eine Wahrheit mehr, um sie zu bestärken im Glauben an die
Auferstehung des Fleisches, an den Lohn eines ewigen und seligen Lebens, das
den Gerechten beschieden ist, und an die größten und süßesten Wahrheiten des
Neuen Testamentes: meine unbefleckte Empfängnis, meine jungfräuliche
Gottesmutterschaft und die göttliche und menschliche Natur meines Sohnes, der
wahrer Gott und wahrer Mensch ist, geboren nicht aus dem Willen des Fleisches,
sondern aus der göttlichen Vermählung und dem göttlichen Samen, den mein Schoß
empfing. Und endlich, damit sie glauben, daß im
277
Himmel immer noch das Herz der
Mutter aller Menschen in sorgender Liebe für sie schlägt, für Gerechte und
Sünder, und wünscht, euch alle in der seligen Heimat für die ganze Ewigkeit
bei sich zu haben.
Als ich von den Engeln aus dem
Haus geholt wurde, war da meine Seele schon in meinen Körper zurückgekehrt?
Nein. Die Seele durfte nicht mehr auf die Erde zurückkehren. Sie war schon
anbetend vor dem Thron Gottes. Doch als ich die Erde, das Exil, die Zeit und
den Ort der Trennung von meinem einen und dreieinen Herrn für immer verlassen
hatte, kehrte der Geist ins Innerste meiner Seele zurück und entriß das
Fleisch dem Schlaf, und es ist daher richtig zu sagen, daß ich mit Leib und
Seele in den Himmel aufgenommen wurde, nicht aus eigener Kraft wie Jesus,
sondern mit Hilfe der Engel. Ich erwachte aus diesem geheimnisvollen,
mystischen Schlaf, erhob mich und schwebte, da mein Fleisch nun die
Vollkommenheit der verherrlichten Leiber besaß. Und ich liebte. Ich liebte
meinen wiedergefundenen Sohn und Herrn, den Einen und Dreieinen, ich liebte
ihn, wie es allen ewig Lebenden bestimmt ist.»
11. Erläuterung oder Erklärung
(5.1.44)
«Als ihre letzte Stunde gekommen
war, legte Maria, meine Mutter, sich auf ihr Lager und verschloß ihre Augen
für alles, was sie umgab, um sich in einer letzten stillen Betrachtung in Gott
zu sammeln – wie eine müde Lilie, die all ihren Duft verströmt hat, sich im
Licht der Sterne neigt und ihren reinen Kelch schließt.
Über ihre Ruhe neigte sich
sorgend der Engel Marias und wartete, daß die Intensität der Ekstase zu der
von Gott festgesetzten Zeit ihre Seele vom Fleisch trenne und sie für immer
von der Erde nehme, während schon der sanfte und einladende Befehl Gottes vom
Himmel herabkam.
Auch Johannes, der irdische
Engel, neigte sich über diese geheimnisvolle Ruhe und wachte seinerseits über
die Mutter, die im Begriff war, ihn zu verlassen. Und als er sah, daß ihr
Leben erloschen war, wachte er weiterhin über ihren friedvollen, schönen
Schlaf, damit sie auch im Tod nicht von profanen und neugierigen Blicken
entweiht würde und immer die Unbefleckte, die Braut und Mutter Gottes bleibe.
Eine Überlieferung berichtet, daß
Thomas, als er das Grab Marias öffnete, nur Blumen darin fand. Das ist eine
reine Legende. Kein Grab hat den Leichnam Marias aufgenommen, denn es hat nie
einen Leichnam Marias im herkömmlichen Sinn gegeben, da Maria niemals
gestorben ist wie alle anderen Lebewesen.
Sie hatte sich nur auf göttliche
Anordnung von ihrer Seele getrennt, und mit dieser, die ihr vorangegangen war,
vereinte sich ihr heiligstes Fleisch. Entgegen den üblichen Gesetzen, nach
denen die Ekstase endet, wenn die Verzückung endet, wenn also die Seele in
ihren normalen Zustand
278
zurückkehrt, war es der Leib
Marias, der sich nach der langen Ruhe auf dem Totenbett wieder mit der Seele
vereinte.
Bei Gott ist alles möglich. Ich
habe das Grab aus eigener Kraft und ohne Hilfe verlassen. Maria kam zu mir, zu
Gott, in den Himmel, ohne das Grab mit seinen Schrecken der Verwesung und der
Finsternis kennengelernt zu haben. Dies ist eines der leuchtendsten Wunder
Gottes. Aber kein einzigartiges, wenn man an Henoch und Elias denkt, die dem
Herrn teuer waren und von der Erde genommen wurden, ohne den Tod
kennenzulernen, und an einen nur Gott und den Bewohnern des Himmels bekannten
Ort gebracht wurden. Sie waren Gerechte, aber ein Nichts im Vergleich zu
meiner Mutter, die an Heiligkeit nur Gott nachsteht.
Deshalb gibt es keine Reliquien
vom Leib und vom Grab Marias. Denn Maria hatte kein Grab, und ihr Leib wurde
in den Himmel aufgenommen.»
111. Erläuterung oder Erklärung
(8.7.44 und 15.7.44)
«Die Empfängnis meines Sohnes war
eine Ekstase. Die Geburt eine noch größere Ekstase. Mein Übergang von der Erde
in den Himmel die Ekstase der Ekstasen. Nur während der Passion machte keine
Ekstase meine furchtbaren Leiden erträglicher.
Das Haus, aus dem ich in den
Himmel aufgenommen wurde, war eine der unzähligen Großzügigkeiten des Lazarus
gegenüber Jesus und seiner Mutter. Das kleine Haus in Gethsemane war nahe dem
Ort der Himmelfahrt Jesu. Es hat keinen Sinn, nach Überresten zu suchen. Bei
der Zerstörung Jerusalems durch die Römer ist auch dieses Haus zerstört
worden, und seine Ruinen sind im Laufe der Jahrhunderte verschwunden.»
IV. Erläuterung oder Erklärung
(18.12.43)
«Wie die Geburt meines Sohnes für
mich eine Ekstase war, und ich aus der Verzückung in Gott, in die ich zu
dieser Stunde geriet, erst wieder erwachte und auf die Erde zurückkehrte, als
ich das Kind in den Armen hielt, so war das, was man fälschlicherweise meinen
Tod nennt, eine Verzückung in Gott.
Da ich mich fest auf das
Versprechen verließ, das ich im Feuer des Pfingstmorgens erhalten hatte,
glaubte ich, daß der Augenblick des letzten Besuches der Liebe, der mich mit
sich nehmen würde, sich ankündigen würde durch eine Zunahme der Liebesglut,
die immer in mir brannte. Und ich irrte mich nicht.
Je älter ich wurde, desto stärker
wurde in mir der Wunsch, mich mit der ewigen Liebe zu verschmelzen. Dieses
Verlangen wurde gefördert durch den Wunsch, mich mit meinem Sohn zu
vereinigen, und durch die
279
Gewißheit, daß ich auf Erden nie
so viel für die Menschen tun könnte wie durch mein Gebet und Wirken am Thron
Gottes. Und mit immer größerer Sehnsucht und mit allen Kräften meiner Seele
schrie ich zum Himmel: "Komm, Herr Jesus! Komm, ewige Liebe!"
Die Eucharistie, die für mich
dasselbe war wie der Tau für die dürstende Blume, war Leben, ja; aber je mehr
Zeit verging, desto weniger konnte sie der unbeschreiblichen Sehnsucht meines
Herzens genügen. Es genügte mir nicht mehr, mein göttliches Kind in mich
aufzunehmen und es in den heiligen Gestalten in mir zu tragen, wie ich es in
meinem jungfräulichen Fleisch getragen hatte. Mein ganzes Sein verlangte nach
Gott dem Einen und Dreieinen, aber nicht unter dem von meinem Jesus gewählten
Schleier, unter dem er das unergründliche Geheimnis des Glaubens verbarg,
sondern so, wie er war, ist und sein wird als Mittelpunkt des Himmels.
Mein Sohn entzündete mich bei
seinen eucharistischen Begegnungen mit Umarmungen unendlicher Sehnsucht, und
jedesmal, wenn er mit der ganzen Macht seiner Liebe zu mir kam, riß er in
einer ersten Aufwallung beinahe meine Seele mit sich. Dann verweilte er mit
unendlicher Zärtlichkeit in mir, nannte mich "Mama", und ich fühlte seine
Sehnsucht, mich ganz bei sich zu haben.
Ich wünschte nichts anderes mehr.
Nicht einmal den Wunsch, über die entstehende Kirche zu wachen, hatte ich mehr
in der letzten Zeit meines irdischen Lebens. Alles war aufgegangen in dem
Wunsch, Gott zu besitzen, da ich überzeugt war, daß alles vermag, wer Gott
besitzt.
Ihr Christen solltet zu dieser
totalen Liebe gelangen. Alles, was irdisch ist, sollte für euch an Wert
verlieren. Strebt nur nach Gott. Wie reich werdet ihr sein in dieser Armut der
Sehnsucht, die unermeßlicher Reichtum ist. Gott wird sich zu eurer Seele
neigen, um sie zuerst zu unterweisen und dann an sich zu nehmen, und mit ihr
werdet ihr zum Vater, zum Sohn und zum Heiligen Geist aufsteigen und sie in
der seligen Ewigkeit kennenlernen und lieben und ihren Reichtum der Gnade für
die Brüder besitzen. Nie kann man so viel für die Brüder tun, wie wenn man
nicht mehr unter ihnen weilt, sondern sich als Licht mit dem göttlichen Licht
vereint hat.
Die Annäherung der ewigen Liebe
offenbarte sich, wie ich es geahnt hatte. Alles verlor Licht und Farbe, Stimme
und Gegenwart unter dem Glanz und der Stimme, die für mein geistiges Auge
sichtbar vom Himmel kamen und sich auf mich senkten, um meine Seele
aufzunehmen. Man sagt oft, daß ich gejubelt hätte, wenn mir in jener Stunde
mein Sohn beigestanden hätte. Doch mein süßer Jesus war mit dem Vater durchaus
anwesend, als die Liebe, also der Heilige Geist, die dritte Person der ewigen
Dreieinigkeit, mir den dritten Kuß meines Lebens gab, den so göttlich
mächtigen Kuß, daß ich in ihm meine Seele aushauchte und sie sich in der
Betrachtung verlor gleich dem von der Sonne aufgesogenen Tautropfen im Kelch
einer Lilie.
280
Und mit jubelnder Seele stieg ich
auf zu Füßen der Drei, die ich immer angebetet hatte. Und dann, im gegebenen
Augenblick, zog ich wie eine in Feuer gefaßte Perle – zuerst getragen, dann
gefolgt von der Schar der Engelgeister, die gekommen waren, um mir bei meiner
ewigen Geburt für den Himmel beizustehen, schon vor der Schwelle der Himmel
von meinem Jesus erwartet und auf der Schwelle von meinem gerechten irdischen
Bräutigam, den Königen und den Patriarchen meines Geschlechtes, den ersten
Heiligen und Märtyrern – nach so viel Schmerz und Demut der armen Magd des
Herrn als Königin in das Reich der immerwährenden Freude ein. Und der Himmel
schloß sich wieder in der Freude, mich zu besitzen, seine Königin zu besitzen,
deren Leib als einziger unter allen sterblichen Körpern vor der letzten
Auferstehung und dem Jüngsten Gericht verherrlicht worden war.»
VO. Letzte Erläuterung oder
Erklärung (1.5.46)
«Es gibt einen Unterschied
zwischen der Trennung der Seele vom Körper beim wirklichen Tod und der
zeitweisen Trennung des Geistes vom Körper durch Ekstase oder kontemplative
Verzückung.
Während die Trennung der Seele
vom Körper den wirklichen Tod hervorruft, führt die kontemplative Verzückung,
also das zeitlich beschränkte Entweichen des Geistes aus den Schranken der
Sinne und der Materie, nicht zum Tod. Und dies deshalb, weil die Seele sich
nicht gänzlich vom Körper löst und trennt, sondern dies nur mit ihrem besten
Teil tut, der sich in das Feuer der Kontemplation versenkt.
Alle Menschen haben, solange sie
leben, eine Seele in sich, gleichgültig ob diese durch die Sünde tot oder
durch die Gerechtigkeit lebendig ist; aber nur die großen Liebenden Gottes
erreichen die wahre Kontemplation.
Dies beweist, daß die Seele, die
am Leben erhält, solange sie im Körper weilt – und dies ist bei allen Menschen
so – einen höheren Teil in sich birgt: die Seele der Seele oder den Geist des
Geistes, die bei den Gerechten sehr stark ausgeprägt sind, während sie bei
denen, die Gott und sein Gesetz nicht lieben oder sich auch nur ihrer Lauheit
und läßlichen Sünden hingeben, schwach werden und den Menschen um die
Fähigkeit bringen, Gott und seine ewigen Wahrheiten zu betrachten und zu
erkennen, soweit dies für ein menschliches Geschöpf je nach dem Grad der
erlangten Vollkommenheit möglich ist.
Je mehr das Geschöpf Gott mit
allen seinen Kräften und Möglichkeiten dient, desto mehr wächst die Fähigkeit
des höheren Teiles seines Geistes, die ewigen Wahrheiten zu erkennen, zu
betrachten und in sie einzudringen.
Der mit einer vernunftbegabten
Seele ausgestattete Mensch ist eine Schale, die Gott mit sich selbst füllt.
Maria, das heiligste der Geschöpfe
281
nach Christus, war eine von Gott
übervolle Schale, die über die Brüder in Christus aller Zeiten Gnaden, Liebe
und Erbarmen fließen läßt.
Von den Wogen der Liebe
überflutet, verließ sie diese Erde. Und nun, im Himmel zum Ozean der Liebe
geworden, ergießt sie über die ihr treuen Kinder und auch über die verlorenen
Söhne ihre Ströme der Liebe für das Heil der Welt, sie, die Mutter aller
Menschen.»
V. Erläuterung oder Erklärung
(Dezember 43)
«Meine Demut erlaubte mir nicht
zu denken, daß mich im Himmel eine so große Herrlichkeit erwarten würde. Ich
war mir fast sicher, daß mein menschliches Fleisch, das geheiligt war, weil es
Gott getragen hatte, die Verwesung nicht schauen würde; denn Gott ist Leben
und wenn er ein Geschöpf mit sich selbst durchdringt und erfüllt, so ist dies
wie ein vor der Verwesung bewahrendes, duftendes Öl.
Ich war nicht nur unbefleckt
geblieben, ich war nicht nur mit Gott in einer keuschen, befruchtenden
Umarmung vereinigt gewesen, sondern ich war auch bis in mein tiefstes Inneres
durchdrungen worden von der Ausstrahlung der in meinem Schoß verborgenen
Gottheit, die sich in sterblichem Fleisch verhüllen wollte. Doch daß die Güte
des Ewigen seiner Magd die Freude vorbehalten hatte, an ihren Gliedern die
Berührung der Hand des Sohnes, seine Umarmung und seinen Kuß zu verspüren, mit
ihren Ohren seine Stimme zu hören und mit ihren Augen sein Antlitz zu sehen,
das hätte ich nie zu erwarten gewagt, und ich hätte es auch nicht verlangt. Es
hätte mir genügt, wenn diese Seligkeiten nur meinem Geist geschenkt worden
wären, und ich wäre damit schon voll seliger Freude gewesen.
Aber zum Zeugnis seines ersten
schöpferischen Gedankens, in Anbetracht dessen, daß die Menschen von ihm, dem
Schöpfer, für das Leben bestimmt waren, um dann ohne Tod vom irdischen
Paradies in das himmlische, in das ewige Reich einzugehen, wollte Gott mich,
die Unbefleckte, mit Leib und Seele im Himmel. Unmittelbar nachdem mein
irdisches Leben beendet war.
Ich bin der sichere Beweis für
das, was Gott für den Menschen geplant und gewollt hatte: ein unschuldiges
Leben, das von Sünde nichts wußte, und einen friedlichen Übergang von diesem
zum ewigen Leben, bei dem, wie man die Schwelle eines Hauses überschreitet und
den Palast des Königs betritt, der Mensch mit seinem vollständigen, aus dem
materiellen Leib und der geistigen Seele bestehenden Sein von der Erde ins
Paradies hinübergegangen wäre. Dies war nach dem Willen Gottes allen
Geschöpfen zugedacht, die Gott und der Gnade treu bleiben. Die Vollkommenheit,
die sie erlangen im vollen Licht des Himmels, das sie erfüllt, wenn sie zu
Gott, der ewigen Sonne, die sie erleuchtet, eingehen.
282
Gott hat mich, die ich mit Leib
und Seele in die Herrlichkeit des Himmels aufgenommen wurde, den Patriarchen,
Propheten und Heiligen, den Engeln und Märtyrern gezeigt und gesagt:
"Dies ist das vollkommene Werk
des Schöpfers. Dies ist, was ich mir unter allen Menschenkindern zum wahren
Bild und Gleichnis schuf, die Frucht eines schöpferischen und göttlichen
Meisterwerkes, das Wunder des Universums, das in einem einzigen Wesen durch
die wie Gott ewige, geistige, vernunftbegabte, freie und heilige Geistseele
das Göttliche vereint mit dem materiellen Geschöpf im unschuldigsten,
heiligsten Fleisch, vor dem alles Lebende in den drei Reichen der Schöpfung
sich verneigen muß. Dies ist der Beweis meiner Liebe zum Menschen, für den ich
ein vollkommenes Wesen und das selige Los des ewigen Lebens in meinem Reich
wollte. Dies ist der Beweis meiner Vergebung für den Menschen, dem ich durch
den Willen einer dreifachen Liebe die Wiedergutmachung und Wiederherstellung
vor meinen Augen gewährt habe. Dies ist der mystische Prüfstein. Dies ist das
Verbindungsglied zwischen Mensch und Gott. Dies ist sie, die die ersten Tage
der Zeit wiederbringt und meinen göttlichen Augen die Freude gewährt, eine Eva
zu betrachten, wie ich sie erschaffen hatte und die nun noch viel schöner und
heiliger ist, denn sie ist die Mutter meines Wortes und die Märtyrerin der
großen Vergebung. Um ihres unbefleckten Herzens willen, das keinen Makel, auch
nicht den geringsten, kannte, öffne ich nun die Schätze des Himmels, und um
ihres Hauptes willen, in dem nie der Hochmut wohnte, fasse ich meinen Glanz in
einen Stirnreif und kröne sie, denn sie ist mir heilig und soll eure Königin
sein!"
Im Himmel gibt es keine Tränen.
Aber anstelle der Freudentränen, die die Seelen vor Rührung vergossen hätten,
wenn sie weinen könnten, gab es nach diesen göttlichen Worten ein Sprühen und
Funkeln von Lichtern, ein Farbenspiel von immer größerer Pracht, ein
Aufflammen von Liebesglut in immer hellerem Feuer und den unübertrefflichen
und unbeschreiblichen Klang himmlischer Harmonien, mit denen sich die Stimme
meines Sohnes vereinigte zum Lob Gottes des Vaters und seiner auf ewig seligen
Magd.»
714. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN
ZUM WERK
Jesus sagt:
«Außer der Freude, meinem kleinen
Johannes, dieser Sühneseele und Liebenden, eine genaue Kenntnis über mich zu
vermitteln, haben noch viele andere Gründe mich dazu bewogen, Episoden und
Worte aus meinem Leben zu zeigen und zu diktieren.
283
Aber vor allem war ich beseelt
von der Liebe zur Kirche, sei es die lehrende oder die streitende, und dem
Wunsch, den Seelen bei ihrem Aufstieg zur Vollkommenheit zu helfen. Mich zu
kennen, ist eine Hilfe für diesen Aufstieg. Mein Wort ist Leben.
Ich nenne die wichtigsten Gründe:
I. Die im Diktat vom 18.1.47
genannten Gründe, die der kleine Johannes hier ungekürzt wiedergeben wird.
Dies ist der Hauptgrund, denn ihr seid in Lebensgefahr, und ich möchte euch
retten.
Der eigentliche Grund, warum euch
dieses Werk gegeben wurde, ist, daß ich in dieser Zeit, in der der von Pius X.
verurteilte Modernismus in immer gefährlichere Lehren ausartet, der heiligen
Kirche, die durch den Papst vertreten wird, etwas in die Hand geben will,
womit sie jene besser bekämpfen kann, die leugnen:
- die Übernatur der Dogmen;
- die Gottheit Christi; die
Wahrheit der realen und vollkommenen Gottheit und Menschheit des Christus, im
Glauben wie auch in seiner überlieferten Geschichte (Evangelien,
Apostelgeschichte, Apostelbriefe, Überlieferung);
- die Lehre von Paulus und
Johannes, und der Konzilien von Nizäa, Ephesus und Chalcedon, als meine wahre
Lehre, die wörtlich von mir stammt;
- meine unbegrenzte, weil
göttliche und vollkommene Weisheit;
- den göttlichen Ursprung der
Dogmen der Sakramente der einen, heiligen, katholischen, apostolischen Kirche;
- die Universalität und
Kontinuität bis ans Ende der Zeiten des von mir für alle Menschen gegebenen
Evangeliums;
- die von Anfang an vollkommene
Natur meiner Lehre, die sich nicht entwickelt hat durch schrittweise
Veränderungen, sondern immer so gewesen ist: die göttliche, vollkommene,
unveränderliche Lehre Christi aus der Zeit der Gnade, des Himmelreiches und
des Reiches Gottes in euch. Die Frohe Botschaft für alle, die nach Gott
dürsten!
Dem roten Drachen mit den sieben
Köpfen, zehn Hörnern und sieben Diademen auf der Stirne, der mit dem Schwanz
den dritten Teil der Sterne des Himmels hintennach zieht und sie stürzen läßt
– und in Wahrheit sage ich euch, sie stürzen noch tiefer als auf die Erde -und
der die Frau verfolgt, stellt ihm und den Tieren des Meeres und des
Festlandes, die viele anbeten – zu viele, verführt von ihrem Anblick und ihren
Wundern – meinen Engel entgegen. Er fliegt in der Mitte des Himmels und hält
das ewige Evangelium offen, auch über die Seiten, die bis anhin verschlossen
waren, damit die Menschen sich durch sein Licht retten können vor den
Umschlingungen der großen Schlange mit dem siebenfachen Schlund. Sie will sie
in der Finsternis ersticken. Ich aber möchte bei meiner Wiederkunft den
Glauben und die Liebe im Herzen der Ausharrenden finden, und diese sollen
zahlreicher sein, als das Werk Satans und der Menschen es erwarten läßt.
11. In den Priestern und Laien
soll eine lebendige Liebe zum Evangelium und zu dem, was Christus betrifft,
geweckt werden. Vor allem eine erneuerte Liebe zu meiner Mutter, in deren
Fürbitte das Geheimnis des Heils der Welt liegt. Sie, meine Mutter, ist die
Siegerin über den verfluchten Drachen. Stärkt ihre Macht durch eure erneuerte
Liebe zu ihr und durch den erneuerten Glauben und die erneuerte Kenntnis
dessen, was sich auf sie bezieht. Maria hat der Welt den Heiland geschenkt.
Die Welt wird auch durch sie gerettet werden.
284
III. Dieses Werk soll für die
Seelsorger und Seelenführer eine Hilfe sein bei ihrer Aufgabe, da es die
verschiedenartigsten Menschen beschreibt, die mich umgaben, und die
unterschiedlichen Mittel, die ich anwandte, um sie zu retten.
Denn es wäre töricht, für alle
Seelen nur eine einzige Methode anwenden zu wollen. Die Art und Weise, wie man
einen Gerechten zur Vollkommenheit führt, der von sich aus danach strebt, ist
anders als die, die man bei einem Gläubigen, der aber ein Sünder ist, oder bei
einem Heiden anwendet. Und ihr habt so viele von letzteren unter euch, wenn
ihr wie euer Meister die armen Wesen als Heiden betrachtet, die den wahren
Gott durch den Götzen der Macht und Anmaßung, des Goldes, der Unzucht oder des
Stolzes auf ihr Wissen ersetzt haben. Und wiederum anders rettet man die
modernen Proselyten, also die, die zwar die christliche Idee angenommen, aber
nicht das christliche Bürgerrecht erworben haben, da sie getrennten Kirchen
angehören. Verachtet keinen, am wenigsten diese verlorenen Schafe. Liebt sie
und versucht sie in den einzigen Schafstall zurückzuführen, damit der Wunsch
des Hirten Jesus in Erfüllung gehe.
Einige werden beim Lesen dieses
Werkes einwenden: "Aus dem Evangelium geht nicht hervor, daß Jesus Verbindung
zu Römern oder Griechen gehabt hat, und wir verwerfen diese Seiten." Wie viele
Dinge sind nicht im Evangelium enthalten oder nur andeutungsweise zu erkennen
hinter dem dichten Vorhang des Schweigens, hinter dem die Evangelisten
Episoden verborgen haben, die ihre hartnäckig hebräische Mentalität nicht
gutheißen konnte. Glaubt ihr denn alles zu wissen, was ich getan habe?
Wahrlich, ich sage euch, nicht
einmal nachdem ihr diese Beschreibung meines öffentlichen Lebens gelesen und
angenommen habt, werdet ihr alles über mich wissen. Ich hätte durch die
Anstrengung, alle Tage meines Wirkens aufzuzeichnen, samt allem, was ich an
jedem einzelnen Tag getan habe, meinen kleinen Johannes umgebracht, wenn ich
ihm alles zu wissen gegeben hätte, damit er es euch übermittelt! "Es gibt noch
vieles andere, was Jesus getan hat. Wollte man das im einzelnen
niederschreiben, so könnte, glaube ich, selbst die Welt die Bücher nicht
fassen, die man schreiben müsste", sagt Johannes. Ohne zu übertreiben sage ich
euch wahrheitsgemäß, hätte man jede einzelne meiner Taten aufschreiben wollen,
jede einzelne Unterweisung, jede Buße und jedes Gebet, wären die Säle einer
eurer Bibliotheken nötig, und einer der größten, um alle Bücher
unterzubringen, die von mir berichten. Und wahrlich, ich sage euch auch, viel
nutzbringender wäre es für euch, so viel verstaubte und schädliche
Wissenschaft zu verbrennen, um Platz für meine Bücher zu schaffen, da ihr so
wenig von mir wißt und so sehr die meist Schmutz und Häresie verbreitende
Presse verehrt.
285
IV. Außerdem sollte dieses Werk
das wahrheitsgetreue Bild des Menschensohnes und Marias, als echte Kinder
Adams mit Fleisch und Blut, wiederherstellen, aber eines unschuldigen Adam.
Wie wir, Jesus und Maria, wären die Menschenkinder gewesen, wenn die
Stammeltern ihre vollkommene Menschheit – im Sinn des Menschen als Geschöpf
mit zweifacher Natur, der geistigen nach Gottes Bild und Gleichnis und der
materiellen Natur – nicht befleckt hätten, wie ihr wißt. Vollkommene, also
trotz ihrer großen Feinfühligkeit dem Verstand unterworfene Sinne; und damit
meine ich sowohl die moralischen als auch die leiblichen Sinne. Daher
vollständige und vollkommene Liebe, sowohl zu ihrem Bräutigam, an den nicht
Sinnlichkeit, sondern geistige Liebe sie bindet, wie auch zu ihrem Sohn. Dem
über alles geliebten Sohn. Geliebt mit der vollkommenen Liebe der vollkommenen
Frau zu dem von ihr geborenen Geschöpf. So hätte Eva lieben sollen! Wie Maria.
Also nicht wegen der fleischlichen Freude, die der Sohn darstellt, sondern
weil dieser Sohn ein Kind des Schöpfers ist und Gehorsam gegenüber seinem
Gebot bedeutet, das Menschengeschlecht zu mehren.
Er wurde geliebt mit der ganzen
Innigkeit der vollkommenen Gläubigen, die weiß, daß ihr Sohn nicht nur im
übertragenen Sinn, sondern wirklich der Sohn Gottes ist. Jene, die die Liebe
Marias zu ihrem Jesus als etwas übermäßig betrachten, mögen bedenken, wer
Maria war: die Frau ohne Sünde und daher mit einer makellosen Liebe zu Gott,
zu ihren Eltern, zu ihrem Bräutigam und zu ihrem Nächsten; sie mögen bedenken,
was die Mutter in mir sah außer dem Sohn ihres Schoßes; und schließlich mögen
sie die Nationalität Marias in Betracht ziehen, die hebräische, die
orientalische Rasse und die weit zurückliegende Zeit. Daraus erklären sich
gewisse weitschweifige Äußerungen der Liebe, die euch übertrieben erscheinen
mögen. Es ist der auch im täglichen Sprachgebrauch blumenreiche und pompöse
Stil der Orientalen und Hebräer. Alle Schriften dieser Zeit und dieser Rasse
beweisen es, und im Laufe der Jahrhunderte hat sich der damalige orientalische
Stil nicht viel verändert.
Verlangt ihr vielleicht, daß ich
euch, weil ihr zwanzig Jahrhunderte später diese Seiten lest, in einer Zeit,
in der die Perversität des Lebens so viel Liebe getötet hat, eine Maria von
Nazareth zeige, die der oberflächlichen, lieblosen Frau eurer Zeit gleicht?
Maria ist, was sie ist, und das sanfte, reine, liebevolle Mädchen aus Israel,
die Braut und jungfräuliche Mutter Gottes, wird nicht zur übermäßig, ja
krankhaft empfindsamen oder eiskalt egoistischen Frau eures Jahrhunderts
werden.
Jenen, die die Liebe Jesu zu
Maria für übermäßig halten, sollen daran denken, daß in Jesus Gott war und daß
der eine und dreieine Gott Trost darin fand, Maria zu lieben, sie, die ihn für
den Schmerz entschädigte, den die ganze Menschheit ihm zufügte, sie, durch die
Gott sich wieder seiner Schöpfung erfreuen und seinen Himmel bevölkern konnte.
Und sie
286
sollen bedenken, daß Liebe nur
schuldig wird, und ausschließlich dann, wenn sie Unordnung schafft, also wenn
sie dem Willen Gottes und der zu erfüllenden Pflicht entgegensteht.
Nun überlegt: Hat die Liebe
Marias das getan? Hat meine Liebe das getan? Hat sie mich aus eigensüchtiger
Liebe davon abgehalten, den Willen Gottes ganz zu erfüllen? Habe ich etwa aus
ungeordneter Liebe zu meiner Mutter meine Aufgabe vernachlässigt? Nein, die
eine wie die andere Liebe hat nur den einen Wunsch gehabt: daß sich der Wille
Gottes für das Heil der Welt erfüllen möge. Und die Mutter hat sich immer
wieder von ihrem Sohn verabschiedet, und der Sohn sich von seiner Mutter, und
sie hat den Sohn dem Kreuz des öffentlichen Lehramtes und dem Kreuz auf
Kalvaria überlassen, und er die Mutter der Einsamkeit und der Qual, auf daß
sie die Miterlöserin werde; und wir achteten nicht auf unsere Menschlichkeit,
die verwundet wurde, und auf unsere Herzen, die der Schmerz zerriß. Ist dies
Schwäche? Sentimentalität? Es ist vollkommene Liebe, o ihr Menschen, die ihr
nicht zu lieben wißt und die Liebe und ihre Stimme nicht mehr versteht.
Dieses Werk hat auch noch den
Zweck, Licht auf gewisse Stellen zu werfen, deren Sinn durch eine Reihe von
Umständen unklar geworden ist und die dadurch dunkle Punkte in der leuchtenden
Gesamtheit des Evangeliums bilden; Punkte, die einen Bruch darzustellen
scheinen, die aber eben nur unverständliche Punkte zwischen den einzelnen
Episoden sind und in deren Erklärung der Schlüssel zum genauen Verständnis
einiger Situationen liegt, die entstanden waren, und zu meiner gewissen Härte
und Unnachgiebigkeit – die so sehr im Gegensatz stehen zu meinen ständigen
Ermahnungen zu Vergebung, Sanftmut und Demut – gegenüber manchen hartnäckigen,
unbekehrbaren Gegnern. Denkt alle daran: Wenn Gott seine ganze Barmherzigkeit
hat walten lassen, kann er um seiner Ehre willen auch sagen: "Nun ist es
genug", zu denen, die glauben, seine Langmut mißbrauchen und ihn versuchen zu
dürfen, weil er gut ist. Gott läßt seiner nicht spotten. Das ist ein altes und
weises Wort.
V. Ihr sollt genau die
Verschiedenartigkeit und Dauer meiner langen Passion kennenlernen, die mich
verzehrt hatte in Jahrzehnte währenden und beständig zunehmenden Qualen und
die gipfelte in der grausamen, nur wenige Stunden dauernden Passion; und mit
ihr die Passion meiner Mutter, deren Herz das Schwert der Schmerzen
ebensolange durchbohrte. Und dieses Wissen soll euch bewegen, uns mehr zu
lieben.
VI. Dieses Werk veranschaulicht
die Macht meines Wortes und seine verschiedenen Wirkungen, je nachdem, ob es
die Schar der Menschen guten Willens hörte oder die Schar der anderen mit auf
das Sinnliche ausgerichtetem Willen, der niemals rechtschaffen ist.
287
Die Apostel und Judas. Da habt
ihr die beiden entgegengesetzten Beispiele. Die ersteren, äußerst
unvollkommen, rauh, unwissend, heftig, aber mit gutem Willen. Judas,
gebildeter als die Mehrzahl von ihnen, verfeinert durch das Leben in der
Hauptstadt und im Tempel, aber nicht guten Willens. Beobachtet die Entwicklung
zum Guten bei den ersten, ihren Aufstieg. Beobachtet die Entwicklung zum Bösen
beim zweiten, seinen Abstieg.
Diese Entwicklung und
Vervollkommnung der Elf sollten vor allem jene betrachten, die durch einen
geistigen Sehfehler gewöhnt sind, die Wirklichkeit der Heiligen zu verfälschen
und in dem Menschen, der in hartem Kampf gegen die finsteren, bedrückenden
Mächte zur Heiligkeit gelangt, ein unnatürliches, leidenschaftsloses,
farbloses Wesen sehen, und daher auch ein Wesen ohne Verdienste. Denn
Verdienste erwirbt man gerade durch den Sieg über die ungeordneten
Leidenschaften und Versuchungen aus Liebe zu Gott und um das letzte Ziel zu
erreichen: die ewige Freude in Gott. Besonders beobachten möge es auch, wer
glaubt, das Wunder der Bekehrung müsse allein von Gott kommen. Gott gibt die
Mittel zur Bekehrung, aber er vergewaltigt den Willen des Menschen nicht, und
wenn der Mensch sich nicht bekehren will, hat er vergebens erhalten, was dem
anderen zur Bekehrung dient.
Auch jene mögen es beobachten,
die die mannigfachen Wirkungen meines Wortes nicht nur auf den Menschen als
Mensch prüfen, sondern auch auf den geistigen Menschen. Nicht nur auf den
geistigen Menschen, sondern auch auf den Menschen als Mensch. Mein mit gutem
Willen aufgenommenes Wort verändert sowohl den einen als auch den anderen und
führt zu innerer und äußerer Vollkommenheit.
Die Apostel, die aufgrund ihrer
Unwissenheit und meiner Demut mit allzu großer Vertraulichkeit mit dem
Menschensohn umgingen – ich war für sie ein guter Lehrer, weiter nichts, ein
demütiger und geduldiger Meister, mit dem man sich gelegentlich übermäßige
Freiheiten herausnehmen durfte; aber es war nicht Ehrfurchtslosigkeit, es war
entschuldbare Unwissenheit. Die Apostel, streitsüchtig untereinander,
egoistisch, eifersüchtig in ihrer Liebe und auf meine Liebe, ungeduldig dem
Volk gegenüber, etwas eitel, "die Apostel" zu sein, begierig nach dem Staunen
des Volkes, das ihre Begabung mit außerordentlicher Macht hervorrief, diese
Apostel verwandelten sich langsam, aber beständig in neue Menschen, indem sie
zunächst ihre Leidenschaften beherrschten, um mich nachzuahmen und mich
zufriedenzustellen, und dann, nachdem sie mein wahres Ich immer mehr
erkannten, ihre Art und Weise mich zu sehen und zu lieben änderten, und mich
als göttlichen Herrn behandelten. Sind sie etwa am Ende meines irdischen
Lebens noch die oberflächlichen und fröhlichen Gefährten der ersten Zeit? Sind
sie, besonders nach der Auferstehung, noch die Freunde, die den Menschensohn
als Freund behandeln?
288
Nein. Sie sind zuerst die Diener
des Königs und dann die Priester Gottes. Ganz anders, vollkommen verändert.
Daran sollten jene denken, die
das Wesen der Apostel ungehörig finden und es als unnatürlich betrachten. Es
war so, wie beschrieben. Ich war kein schwieriger Lehrer und kein stolzer
König, und auch kein Meister, der die anderen Menschen für seiner unwürdig
hält. Ich habe Verständnis für sie gehabt. Ich wollte erziehen, formen, und
habe grobe Materie genommen. Ich wollte leere Gefäße mit Vollkommenheiten
aller Art füllen, zeigen, daß Gott alles kann, daß er einen Stein in einen
Sohn Abrahams, einen Sohn Gottes verwandeln kann, und ein Nichts in einen
Meister, um die auf ihre Wissenschaft so stolzen Meister zu beschämen, die
sehr oft den Duft der meinen verloren hat.
VII. Schließlich sollt ihr durch
dieses Werk das Geheimnis des Judas kennenlernen, das Geheimnis, das der
Untergang einer Seele ist, die Gott mit außergewöhnlichen Gaben bedacht hat.
Ein Geheimnis, das sich wahrlich allzu oft wiederholt und das Herz eures Jesus
aufs schmerzhafteste verwundet.
Ich wollte euch zeigen, wie man
fallen und vom Diener und Sohn Gottes zum Dämon und Gottesmörder werden kann,
der Gott in sich tötet, da er die Gnade tötet, damit ihr euren Fuß nicht auf
Wege setzt, von denen man in den Abgrund stürzt, und um euch zu lehren, wie
man die törichten Lämmer davor bewahrt, sich diesem Abgrund zu nähern.
Gebraucht euren Verstand, wenn ihr die furchtbare und doch häufig
anzutreffende Gestalt des Judas studiert, der in sich, gleich einem
Schlangenknäuel, alle Hauptlaster vereint, die euch begegnen und die ihr in
diesem oder jenem bekämpfen müßt. Dies ist die Lektion, die ihr vor allem
lernen müßt, denn sie wird euch am nützlichsten sein bei eurer Aufgabe als
Meister des Geistes und Seelenführer. Wie viele machen es in allen Lebenslagen
wie Judas, übergeben sich Satan und finden den ewigen Tod!
Sieben Gründe, wie auch sieben
Teile:
I. Das Vorevangelium (von der
Unbefleckten Empfängnis Marias, der allzeit reinen Jungfrau, bis zum Tod des
heiligen Joseph);
II. Das erste Jahr des
öffentlichen Lebens;
III. Das zweite Jahr des
öffentlichen Lebens;
IV. Das dritte Jahr des
öffentlichen Lebens;
V. Vor der Passion (vom Tebet bis
Nissan, also vom Todeskampf des Lazarus bis zum Gastmahl in Bethanien);
VI. Die Passion (vom Abschied von
Lazarus bis zu meinem Begräbnis und die folgenden Tage bis zum Ostermorgen);
VII. Von der Auferstehung bis
Pfingsten.
289
Diese Einteilung soll beibehalten
werden, wie ich es sage, denn so ist sie richtig.
Und nun? Was habt ihr eurem
Meister zu sagen? Ihr sagt mir nichts. Aber in eurem Herzen sprecht ihr, und
wenn ihr könnt, sprecht ihr mit dem kleinen Johannes. Aber in keinem dieser
beiden Fälle sprecht ihr mit der Gerechtigkeit, die ich in euch sehen möchte.
Denn mit dem kleinen Johannes sprecht ihr, um ihn zu quälen, und tretet die
Liebe zur Christin, zur Mitschwester, zum Werkzeug Gottes mit Füßen. Wahrlich,
ich sage euch noch einmal, es ist keine friedvolle Freude, mein Werkzeug zu
sein: Es ist Mühe und ständige Anstrengung und vor allem Schmerz, denn die
Welt hält für die Jünger des Meisters, wie für den Meister selbst, nur Schmerz
bereit; deshalb müßten wenigstens die Priester und besonders die Mitbrüder
diesen kleinen Märtyrern helfen, die unter ihrem Kreuz voranschreiten... Und
warum erhebt ihr in eurem Herzen, wenn ihr mit euch selbst redet, hochmütige,
neidische, ungläubige und andere Klagen! Ich werde euch die Antwort auf eure
Beschwerde und eure empörte Verwunderung geben.
Am Abend des letzten Abendmahls
habe ich zu den Elf, die mich liebten, gesagt: "Wenn der Geist, der Tröster
kommt, wird er euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe." Wenn ich
sprach, hatte ich immer außer den Anwesenden all jene vor Augen, die meine
Jünger im Geist sein würden, mit Aufrichtigkeit und festem Willen. Der Heilige
Geist, der euch schon durch seine Gnade die Fähigkeit verleiht, euch an Gott
zu erinnern, führt die Seelen auch aus der von der Erbsünde verursachten
Dumpfheit und befreit sie von der Verfinsterung, die als trauriges Erbe Adams
die Erkenntnisfähigkeit der Seelen mindert, die Gott geschaffen hat, damit sie
sich seines Anblicks und der geistigen Erkenntnis erfreuen. Er vollendet sein
Werk als Meister, indem er die Herzen derer, die er leitet und die Kinder
Gottes sind, an alles erinnert, was ich gesagt habe und was im Evangelium
steht. Erinnern heißt hier, den Geist des Evangeliums beleuchten. Denn es
nützt nichts, sich der Worte des Evangeliums zu erinnern, wenn man ihren Geist
nicht versteht.
Und der Geist des Evangeliums,
der Liebe ist, kann von der Liebe verständlich gemacht werden, also vom
Heiligen Geist; so wie er der wahre Verfasser des Evangeliums ist, so ist er
auch der einzige Kommentator, denn nur der Autor eines Werkes kennt dessen
Geist, auch wenn es ihm nicht gelingt, ihn seinen Lesern verständlich zu
machen. Aber dort, wo ein menschlicher Autor nichts vermag, da jede
menschliche Vollkommenheit Mängel aufweist, kommt der Geist der Vollkommenheit
und der Weisheit zu Hilfe. Denn nur der Heilige Geist, der Urheber des
Evangeliums, ist es auch, der es in der Tiefe der Seelen der Kinder Gottes in
Erinnerung bringt, erklärt und vervollständigt.
"Der Tröster, der Heilige Geist,
den der Vater euch in meinem Namen
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senden wird, wird euch alles
lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe."
"Wenn aber jener kommt, der Geist
der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit einführen; denn er wird nicht
aus sich selbst reden, sondern alles, was er hört, wird er reden, und was
zukünftig ist, euch verkünden. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von
dem Meinigen nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein;
darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem Meinigen und wird es euch verkünden."
Solltet ihr dann einwenden, daß
man nicht versteht, warum der Heilige Geist, der doch der wahre Autor des
Evangeliums ist, sich nie an all das erinnert hat, was in diesem Werk steht
und was Johannes in den abschließenden Worten seines Evangeliums andeutet, so
antworte ich euch, daß die Gedanken Gottes anders sind als die der Menschen
und immer gerecht und unanfechtbar.
Und weiter: Wenn ihr
entgegenhaltet, daß die Offenbarung mit dem letzten Apostel abgeschlossen und
nichts hinzuzufügen ist, da derselbe Apostel in der Apokalypse sagt: "Wer
etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buche
geschrieben steht" ' und dies gilt für die ganze Offenbarung, deren letzte
Krönung die Apokalypse des Johannes ist, dann antworte ich, daß mit diesem
Werk nichts zur Offenbarung hinzugefügt wird, sondern nur die Lücken gefüllt
werden, die aus natürlichen Ursachen und übernatürlichem Wollen entstanden
sind. Und wenn es mir gefallen hat, das Bild meiner göttlichen Liebe zu
rekonstruieren, wie der Restaurator eines Mosaiks die fehlenden oder
verblichenen Steinchen ersetzt und dem Mosaik seine volle Schönheit
wiedergibt, und wenn ich mir vorbehalten habe, es in diesem Jahrhundert zu
tun, in dem die Menschheit dem Abgrund der Finsternis und des Schreckens
zueilt, könnt ihr es mir verbieten?
Könnt ihr vielleicht sagen, daß
ihr dies nicht braucht, ihr mit eurem umnebelten, tauben und dem Licht, den
Stimmen und den Einladungen des Himmels so wenig zugänglichen Geist?
Wahrlich, ihr solltet mir dankbar
dafür sein, daß ich das vorhandene Licht durch neue Erkenntisse vermehre, das
Licht, das euch nicht mehr genügt, um euren Erlöser "zu sehen"; den Weg, die
Wahrheit und das Leben zu sehen, in euch die geistige Rührung der Gerechten
meiner Zeit aufsteigen zu fühlen und durch diese Erkenntnis zu einer
Erneuerung eurer Seelen in der Liebe zu gelangen, die eure Rettung, weil
Aufstieg zur Vollkommenheit, bedeuten würde.
Ich sage nicht, daß ihr "tot"
seid. Ihr schlaft nur, dämmert dahin. Wie die Pflanzen im Winter. Die
göttliche Sonne spendet euch ihren Glanz. Erwacht und preist die Sonne, die
sich euch schenkt. Nehmt sie mit Freuden an, damit sie euch erwärme, von außen
bis in die Tiefe, damit sie euch auferwecke und mit Blumen und Früchten
bedecke.
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Steht auf. Kommt zu meinem
Geschenk.
"Nehmet und esset. Nehmet und
trinket", habe ich zu den Aposteln gesagt.
"Wenn du die Gabe Gottes kenntest
und den, der zu dir sagt: 'Gib mir zu trinken', so hättest du selbst ihn darum
gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben", habe ich zu der
Samariterin gesagt.
Dasselbe sage ich nun auch zu
euch: zu den Gelehrten und den Samaritern. Denn diese beiden völlig
entgegengesetzten Gruppen brauchen es, und ebenso brauchen es alle, die sich
zwischen den beiden Extremen befinden. Erstere, um nicht selbst unterernährt
und kraftlos zu sein und der übernatürlichen Nahrung für jene zu ermangeln,
die die unzureichende Erkenntnis Gottes, des Gottmenschen, des Meisters und
Erlösers schwächt. Die zweiten, weil die Seelen das lebendige Wasser brauchen,
wenn sie fern von den Quellen verschmachten. Und alle anderen zwischen diesen
beiden Gruppen, die große Masse derer, die nicht schwer sündigen, die aber
statisch sind und keine Fortschritte machen, sei es aus Trägheit oder Lauheit
oder weil sie einen falschen Begriff von Heiligkeit haben; jene, die peinlich
darauf bedacht sind, sich nicht zu verdammen und alle Vorschriften zu
befolgen, und sich dabei in einem Labyrinth von oberflächlichen Praktiken
verlieren, die es aber nicht wagen, den Schritt auf den steilen, sehr steilen
Weg des Heldenmuts zu tun. Für sie möge dieses Werk der Anstoß sein, ihre
Unbeweglichkeit zu überwinden und den heroischen Weg einzuschlagen.
Ich sage euch diese Worte. Ich
biete euch diese Speise und diesen Trank lebendigen Wassers an. Mein Wort ist
Leben. Und ich will euch im Leben haben, bei mir. Und ich vervielfache meine
Worte als Gegengewicht zu den Miasmen Satans, die die Lebenskräfte eurer
Seelen zerstören.
Weist mich nicht ab. Ich dürste
danach, mich euch zu schenken, denn ich liebe euch. Dies ist mein unstillbarer
Durst. Ich habe das brennende Verlangen, mich euch mitzuteilen, um euch bereit
zu machen für das Gastmahl der himmlischen Hochzeit. Und ihr braucht mich, um
nicht zu darben, um euch mit dem Festgewand für die Hochzeit des Lammes zu
bekleiden, für das große Fest Gottes, nachdem die Trübsal in dieser Wüste
voller Gefahren, Dornen und Schlangen, die die Erde ist, hinter euch liegt;
damit ihr, ohne Schaden zu nehmen, durch das Feuer gehen, die Schlangen
zertreten und Gift trinken könnt, ohne daran zu sterben, da ihr mich in euch
habt.
Und weiter sage ich euch: "Nehmt,
nehmt dieses Werk und 'versiegelt es nicht" sondern lest es und laßt es lesen,
'denn die Zeit ist nahe', und wer heilig ist, heilige sich noch mehr!'
Die Gnade eures Herrn Jesus
Christus sei mit allen, die in diesem Buch mein baldiges Kommen erkennen und
die, auf daß es sich erfülle zu ihrer Verteidigung, darum bitten mit dem Ruf
der Liebe:
"Komm, Herr Jesus! "»
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Jesus sagt dann zu mir
persönlich:
«Als Einleitung des Werkes wirst
du das erste Kapitel des Evangeliums nach Johannes vom 1. bis zum 18. Vers
einschließlich nehmen. Johannes hat diese Worte geschrieben, wie du dieses
Werk niedergeschrieben hast, nach dem Diktat des Geistes Gottes. Es ist nichts
hinzuzufügen oder wegzulassen, wie auch nichts hinzuzufügen oder wegzulassen
war beim Vaterunser und bei meinem Gebet nach dem Letzten Abendmahl. Jedes
dieser Worte ist ein göttliches Juwel und darf nicht angerührt werden. Es
bleibt nur eines zu tun: inständig den Heiligen Geist zu bitten, daß er sie
euch erstrahlen lasse in ihrer ganzen Schönheit und Weisheit.
Wenn du zu der Stelle kommst, an
der mein öffentliches Leben beginnt, dann füge ebenfalls vom ersten Kapitel
des Johannes die Verse 19-28 und vom 3. Kapitel des Lukas die Verse 3-18,
jeweils einschließlich, ein, das eine nach dem anderen, als wäre es ein
einziges Kapitel. Dort findet sich alles über den Vorläufer, den wortkargen,
strengen und bußfertigen Asketen, und es ist nichts weiter hinzuzufügen. Dann
kommt meine Taufe und alles andere, wie ich es dir gesagt habe.
Deine Mühe ist beendet. Nun
bleibt dir, die Liebe und den Lohn zu genießen.
Meine Seele, was soll ich dir
sagen? Du fragst mich, deinen Geist in mir verloren: "Was wirst du nun mit
mir, deiner Dienerin, tun, mein Herr?"
Ich könnte dir sagen: "Ich werde
das tönerne Gefäß zerbrechen, um die Essenz herauszuholen und sie dorthin zu
bringen, wo ich bin." Und es wäre eine Freude für uns beide. Doch ich brauche
dich noch ein wenig hier, damit du deinen Duft verströmst, den Duft des
Christus, der in dir wohnt. Also sage ich zu dir, wie zu Johannes: "Wenn ich
will, daß du bleibst, bis ich dich holen komme, was macht es dir aus, zu
bleiben?"
Der Friede sei mit dir, meine
kleine, unermüdliche Stimme. Der Friede sei mit dir. Mein Friede und mein
Segen. Der Meister sagt dir: "Danke." Der Herr sagt dir: "Sei gesegnet."
Jesus, dein Jesus, sagt dir: "Ich werde immer bei dir sein, denn es ist süß,
bei jenen zu sein, die mich lieben."
Mein Friede, kleiner Johannes.
Komm und ruhe dich aus an meiner Brust.»
Und mit diesen Worten sind auch
die Angaben für die endgültige Form des Werkes gemacht und die letzten
Erklärungen gegeben.
Viareggio, 28. April 1947 Maria
Valtorta
293
Gepriesen sei Gott unser
Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus
Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,
Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.
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