Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band XI:
Die Passion
642. Verschiedene Einführungen: I. «Der Sohn Gottes und der Frau ohne Makel
war wie ein Wurm geworden». S. 9
643. Verschiedene Einführungen: II. «Man braucht nur die Wahrheiten zu sagen,
um gehasst zu werden». S. 12
644. Verschiedene Einführungen: III. «Ich habe darunter gelitten, meine
Mutterleiden zu sehen». S. 14
645. Verschiedene Einführungen IV. «Ich war und ich bin der Sohn Gottes. Aber
ich war auch der Menschensohn». S. 16
646. Verschiedene Einführungen: V:«Ihr denkt nie daran, wieviel ihr mich
gekostet habt». S. 21
647. Der Abschied von Lazarus. S. 23
648. Judas geht zu den Vorstehern des Synedriums. S. 33
649. Von Bethanien nach Jerusalem. S. 41
650. Der Einzug Jesu nach Jerusalem. S. 47
651. Der Abend des Palmsonntags. S. 60
652. Der Montag nach dem Einzug in Jerusalem: I. Tag. S. 64
653. Der Montag vor dem Passahfest: II. Die Nacht in Gethsemane. S. 80
654. Der Dienstag vor dem Passahfest. I. Der Tag. S. 85
655. Der Dienstag vor dem Passahfest: II. Die Nacht. S. 90
656. Der Mittwoch vor dem Passahfest: I. Der Tag. S. 94
657. Der Mittwoch vor dem Passahfest: II. Die Nacht. S. 128
658. Der Donnerstag vor dem Passahfest: I. Der Tag. S. 135
659. Beschreibung des Abendmahlsaales; Abschied von der Mutter vor dem letzten
Abendmahl. S. 148
660. Das Passahmahl. S. 152
661. Betrachtungen über das letzte Abendmahl. S. 178
662. Die Todesangst und die Gefangennahme in Gethsemane. S. 181
663. Die verschiedenen Prozesse. S. 198
664. Anmerkungen über das Verhalten des Pilatus Jesus gegenüber. S. 224
665. Judas von Kerioth nach seinem Verrat. S. 229
666. «Wenn Judas sich der Mutter zu Füssen geworfen und um Erbarmen gefleht
hätte, dann hätte die Barmherzigkeit ihn wie einen Verwundeten aufgehoben». S.
237
667. «Maria muss Eva annullieren. S. 239
668. Johannes holt die Mutter. S. 248
669. Vom Prätorium Kalvarienberg. S. 252
670. Die Kreuzigung. S. 265
671. Das Grab des Josephs von Arimathäa; Die furchtbare Seelenqual Marias und
die Einbalsamierung des Erlösers. S. 289
672. Die Rückkehr zum Abendmahlsaal. S. 299
673. Die Nacht des Karfreitags. S. 310
674. Die Klage der Jungfrau. S. 315
675. Der Tag des Karsamstags. S. 330
676. Die Nacht des Karsamstags. S. 340
642. VERSCHIEDENE EINFÜHRUNGEN:
1. «DER SOHN GOTTES UND DER FRAU OHNE MAKEL WAR WIE EIN WURM GEWORDEN»
Jesus sagt:
«Und nun komm. Auch wenn du heute
abend einer Sterbenden gleichst, komm, daß ich dich in meine Leiden einführe.
Es wird ein weiter Weg sein, den wir zusammen gehen müssen, denn kein Schmerz
ist mir erspart geblieben. Kein Schmerz des Fleisches, des Geistes, des
Herzens, der Seele. Alle habe ich sie verkostet, von allen habe ich mich
genährt, an allen meinen Durst gestillt, bis ich an ihnen gestorben bin.
Könntest du den Mund an meine
Lippen legen, würdest du noch immer die Bitterkeit dieser vielen Schmerzen
bemerken. Könntest du meine Menschheit in meinem nun so strahlenden Gewand
sehen, würdest du auch sehen, daß diese Strahlen aus den tausend und
abertausend Wunden hervorgehen, die meine aus Liebe zu euch zerrissenen,
ausgebluteten, zerschlagenen und durchbohrten Glieder mit einem Mantel
lebenden Purpurs bedeckten.
Nun erstrahlt meine Menschheit.
Aber es gab einen Tag, da glich sie der eines Aussätzigen, so zerschlagen und
gedemütigt war sie. Der Gottmensch, der als Sohn Gottes und der Frau ohne
Makel alle Schönheit des Leibes in Vollkommenheit besaß, war damals in den
Augen jener, die ihn liebevoll, neugierig oder verächtlich betrachteten,
abscheulich: ein "Wurm", wie David sagt, der Leute Spott und der Verachtetste
des Volkes.
Die Liebe zum Vater und zu den
Geschöpfen des Vaters hat mich dazu getrieben, meinen Körper denen zu
überlassen, die mich schlugen, mein Antlitz denen darzubieten, die mir
Backenstreiche gaben und mich bespien und die glaubten, verdienstvoll zu
handeln, als sie mir die Haare ausrissen, mich am Bart zerrten und mein Haupt
mit Dornen durchbohrten. Selbst die Erde, und was von ihr kommt, haben sie zum
Komplizen der ihrem Retter zugefügten Qualen gemacht, denn sie haben meine
Glieder verrenkt, meine Knochen bloßgelegt, mir meine Kleider vom Leib
gerissen und so meiner Reinheit die größte Qual zugefügt. Sie haben mich an
das Holz geschlagen, mich wie ein am Haken des Schlächters verblutendes Lamm
aufgehängt, sie haben meinen Todeskampf mit geiferndem Hohn verfolgt – ein
Rudel gieriger Wölfe, das der Blutgeruch noch rasender macht.
Angeklagt, verurteilt, getötet.
Verraten, verleugnet, verkauft. Selbst von Gott verlassen, denn auf mir lagen
die Verbrechen, die ich auf mich
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genommen hatte. Ich war ärmer als
ein unter die Räuber gefallener Bettler, denn man hat mir nicht einmal das
Kleid gelassen, um meine gemarterte, zerschlagene Blöße zu bedecken. Es wurde
mir nicht einmal die Schmach erspart, noch über den Tod hinaus verletzt und
von den Feinden verleumdet zu werden. Vom Schmutz all eurer Sünden bedeckt, in
die tiefste Nacht des Schmerzes gestürzt, ohne daß das Licht des Himmels
meinem sterbenden Blick begegnet wäre oder eine göttliche Stimme meinem
letzten Flehen geantwortet hätte.
Isaias nennt den Grund so vieler
Schmerzen: "Wahrlich, er hat all unsere Leiden auf sich genommen, unsere
Schmerzen hat er getragen."
Unsere Schmerzen! Ja, für euch
habe ich sie getragen! Um eure Schmerzen zu lindern, zu besänftigen, zu
beenden, wenn ihr mir nur treu gewesen wäret. Aber ihr wolltet es nicht sein.
Und was habe ich dafür bekommen? Ihr habt mich wie einen Aussätzigen, einen
von Gott Geschlagenen betrachtet. Ja, der Aussatz eurer unendlich vielen
Sünden war auf mir wie ein Bußgewand, wie ein Bußgürtel; aber warum habt ihr
nicht durch das Gewand, in das er seine Heiligkeit für euch kleidete, Gott in
seiner unendlichen Barmherzigkeit gesehen?
"Durchbohrt um eurer Sünden
willen, zerschlagen für eure Missetaten" ' sagt Isaias, der mit seinem
prophetischen Blick den Menschensohn als eine einzige Wunde gesehen hat, zur
Heilung der Wunden der Menschen. Und wenn nur mein Körper verwundet gewesen
wäre!
Aber was ihr mir noch viel mehr
verwundet habt, war mein Gefühl und mein Geist. Das eine wie das andere habt
ihr zur Zielscheibe eures Spottes gemacht, und ihr habt meine Freundschaft,
die ich euch geschenkt hatte, durch Judas mit Füßen getreten. Die Treue, die
ich von euch erhofft hatte, habt ihr durch die Verleugnung des Petrus
gebrochen. Ihr habt mich getroffen durch die Undankbarkeit jener, die mir
zuriefen: "Stirb!", nachdem ich sie von so vielen Übeln befreit hatte. Ihr
habt mich in der Liebe verletzt durch das meiner Mutter zugefügte Leid, und in
der Religion, als ihr mich Gotteslästerer nanntet; mich, der ich mich aus
Eifer für die Sache Gottes den Händen der Menschen überliefert habe, indem ich
Mensch geworden bin, ein Leben lang gelitten und mich der menschlichen
Grausamkeit überlassen habe, ohne ein Wort zu sagen oder zu klagen.
Ein Blick meiner Augen hätte
genügt, um die Kläger, Richter und Henker zu vernichten. Aber ich war
freiwillig gekommen, um das Opfer zu vollbringen, und als Lamm; denn ich war
das Lamm Gottes, und ich bin es auf ewig. Ich habe mich fortführen lassen, um
meiner Kleider beraubt und getötet zu werden, damit aus meinem Fleisch Leben
für euch werde.
Als ich erhöht wurde, war ich
schon verzehrt von namenlosen Schmerzen, von Schmerzen aller Namen. Schon in
Bethlehem habe ich zu Sterben angefangen, als ich das Licht der Welt
erblickte, das so erschreckend andersartig für mich war, der ich der Lebende
des Himmels war. Ich bin
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auch gestorben in der Armut, in
der Verbannung, bei der Flucht, bei der Arbeit, bei all meinen Mühen, dem
Unverständnis, dem Verrat, den verletzten Gefühlen, den Qualen, Lügen und
Gotteslästerungen. Dies alles hat der Mensch mir zugefügt, mir, der ich
gekommen war, um ihn wieder mit Gott zu versöhnen.
Maria, schau deinen Erlöser an.
Er trägt kein weißes Gewand und hat kein blondes Haupt. Er hat nicht den
saphirfarbenen Blick, den du kennst. Sein Gewand ist rot von Blut. Es ist
zerrissen und mit Schmutz und Speichel bedeckt. Sein Gesicht ist geschwollen
und entstellt und sein Blick von Blut und Tränen verschleiert, und er blickt
dich an durch diese Kruste aus Blut, Tränen und Staub, die seine Lider
bedecken. Meine Hände, siehst du, sind schon voller Wunden und warten auf die
letzte Wunde.
Schau mich an, kleiner Johannes,
so wie mich dein Bruder Johannes angeschaut hat. Meine Schritte hinterlassen
blutige Spuren. Der Schweiß wäscht das Blut ab, das aus den Wunden der
Geißelhiebe tropft, und das Blut, das mich noch bedeckt von der Todesangst im
Ölgarten. Die ausgetrockneten, zerschlagenen Lippen sprechen dieses Wort in
der Bedrängnis, im Kummer eines unter namenlosen Qualen schon sterbenden
Herzens.
Von nun an wirst du mich oft so
sehen. Ich bin der König der Schmerzen und werde in diesem königlichen Gewand
kommen, um dir von meinen Schmerzen zu sprechen. Folge mir, trotz deiner
Todesangst. Ich werde, da ich der Barmherzige bin, deine von meinem Schmerz
bitteren Lippen auch mit dem duftenden Honig der friedvollsten Betrachtungen
erquicken. Aber du mußt die blutigen vorziehen, denn durch sie erhältst du das
Leben und wirst auch andere zum Leben führen. Küsse meine blutende Hand und
wache in der Betrachtung über mich, den Erlöser.»
Ich sehe Jesus so, wie er sich
beschreibt. Heute abend, seit 19 Uhr, ringe ich wirklich mit dem Tod.
Jesus sagt heute morgen, den 11.
Februar, um 7.30 Uhr, zu mir:
«Gestern abend wollte ich nur von
mir als dem Leidenden sprechen, denn die Beschreibung und die Vision meiner
Schmerzen haben begonnen. Gestern abend war die Einführung. Und du warst so
erschöpft, meine Freundin! Doch bevor die Agonie zurückkehrt, muß ich dir eine
sanfte Rüge erteilen.
Gestern früh bist du egoistisch
gewesen. Du hast zum Pater gesagt: "Hoffentlich halte ich durch, denn meine
Mühen sind die allergrößten." Nein. Seine Mühen sind die größten, denn sie
ermüden und werden nicht ausgeglichen durch die Seligkeit, Jesus zu sehen und
bei sich zu haben, wie du ihn auch in seiner heiligen Menschheit hast. Man
darf niemals egoistisch sein, auch nicht in den kleinsten Dingen. Eine
Jüngerin, ein kleiner Johannes, muß über alle Maßen demütig und liebevoll
sein, wie ihr Jesus.
Und nun komm zu mir. "Die Blumen
sind erschienen... die Zeit des Beschneidens ist gekommen... der Ruf der
Turteltaube erschallt auf dem Land..." Und es sind die Blumen, die den
Blutlachen deines Christus entsprungen sind. Und jener, der wie der Zweig
beschnitten wird, ist der Erlöser. Und die Stimme der Turteltaube, die die
Braut zu ihrem schmerzhaften und heiligen Hochzeitsmahl ruft, ist die meine,
die dich liebt.
Steh auf und komm, wie in der
heiligen Messe heute gesagt wird. Komm, um zu betrachten und zu leiden. Das
ist das Geschenk für meine Auserwählten.»
643. VERSCHIEDENE EINFÜHRUNGEN:
11. «MAN BRAUCHT NUR DIE WAHRHEIT ZU SAGEN, UM GEHASST ZU WERDEN»
Jesus sagt:
«Mein Blick hat im Herzen des
Judas Iskariot gelesen. Niemand soll glauben, die Weisheit Gottes sei nicht
imstande gewesen, dieses Herz zu verstehen. Aber wie ich zu meiner Mutter
sagte, ist es notwendig gewesen. Wehe ihm, daß er zum Verräter wurde! Aber es
mußte einen Verräter geben. Doppelzüngig, hinterhältig, geizig, lasterhaft,
diebisch, intelligent, und zudem gebildeter als der Durchschnitt, hat er es
verstanden, auf alle Eindruck zu machen. Mit großer Kühnheit ebnete er mir den
Weg, auch wenn es schwierig war. Es gefiel ihm vor allem, als meine
Vertrauensperson zu gelten und dies noch hervorzuheben. Er war nicht von Natur
aus und aus Liebe hilfsbereit, sondern einzig und allein, weil er einer von
denen war, die ihr "Wichtigtuer" nennt. Das machte es ihm auch möglich, das
Geld zu verwalten und sich den Frauen zu nähern. Zwei Dinge, die er neben dem
dritten, dem Ansehen bei den Menschen, grenzenlos liebte.
Die Reine, die Demütige, die von
allen Reichtümern der Welt Losgelöste konnte nicht anders als Abscheu vor
dieser Schlange empfinden. Auch ich empfand Abscheu. Und nur ich allein, der
Vater und der Geist wissen, welche Überwindung es mich gekostet hat, ihn in
meiner Nähe zu ertragen. Doch dies werde ich dir zu gegebener Zeit erklären.
Ebenso war mir die Feindseligkeit
der Priester, Pharisäer, Schriftgelehrten und Sadduzäer nicht unbekannt. Sie
waren schlaue Füchse, die versuchten, mich in ihre Höhle zu locken, um mich
dort zu zerreißen. Sie dürsteten nach meinem Blut. Und sie versuchten, mir
überall Fallen zu stellen, um mich gefangennehmen zu können, um eine Waffe der
Anklage zu haben und mich aus der Welt zu schaffen. Drei Jahre hat diese
Bosheit gedauert, und sie fand erst ein Ende, als sie wußten, daß ich tot war.
An jenem Abend erst konnten sie ruhig schlafen. Die Stimme ihres Anklägers war
für immer verstummt. So glaubten sie. Aber nein, sie ist nicht verstummt. Sie
wird niemals verstummen. Wie Donner ertönt sie und verflucht alle, die heute
gleich ihnen sind. Wieviel Leid mußte meine Mutter durch ihre Schuld ertragen!
Und ich werde dieses Leid nie vergessen.
Daß die Menge wankelmütig ist,
war nichts Neues für mich. Sie ist das wilde Tier, das dem Bändiger die Hand
leckt, wenn dieser mit der Peitsche kommt oder ihm ein Stück Fleisch für
seinen Hunger reicht. Doch es genügt, daß er fällt und seine Peitsche nicht
mehr gebrauchen kann, oder daß er kein Futter mehr hat, und das Tier fällt ihn
an und zerreißt ihn. Es genügt, die Wahrheit zu sagen und zu den Guten zu
gehören, um von der Masse gehaßt zu werden, wenn die erste Begeisterung
verflogen ist. Die
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Wahrheit ist Mahnung und Rüge.
Die Güte beraubt der Peitsche und führt dazu, daß die Bösen keine Furcht mehr
haben. Daher das "Kreuzige ihn" nach dem "Hosanna". In meinem ganzen Leben als
Meister haben mich diese beiden Rufe begleitet. Und der letzte war "Kreuzige
ihn"! Das "Hosanna" ist wie das tiefe Atemholen des Sängers, damit er genügend
Luft für den hohen Ton hat. Maria hat am Abend des Karfreitag in ihrem Inneren
alle diese verlogenen "Hosanna" noch einmal gehört, die für ihren Sohn zu
Todesurteilen geworden sind. Und sie haben ihr Herz durchbohrt. Auch das
vergesse ich nicht.
Die Menschlichkeit der Apostel!
Wieviel Menschlichkeit! Schwere Steine, die sich von der Erde angezogen
fühlten, habe ich auf meinen Armen getragen, um sie zum Himmel emporzuheben.
Auch jene, die sich nicht wie Judas Iskariot als Diener eines irdischen Königs
sahen, die nicht wie er damit rechneten, bei nächster Gelegenheit an meiner
Statt den Thron zu besteigen, waren trotzdem alle zu sehr auf Ruhm bedacht. Es
kam der Tag, an dem selbst mein Johannes und sein Bruder dieses Verlangen nach
Ruhm verspürten, das euch sogar in himmlischen Dingen wie eine Fata Morgana
irreführt. Es ist nicht das heilige Verlangen nach dem Paradies, das ihr
meinem Willen gemäß haben sollt, es ist vielmehr der menschliche Wunsch, daß
eure Heiligkeit bekannt werde. Und nicht nur das; es ist euer Profitdenken in
der Art der Wechsler und Wucherer, mit dem ihr für ein wenig Liebe, die ihr
dem gebt, dem ihr nach meinen Worten alles, euch selbst, geben müßt, einen
Platz zu seiner Rechten im Himmel verlangt.
Nein, Kinder. Nein! Zuerst muß
man den ganzen Kelch austrinken, den ich getrunken habe. Den ganzen Kelch,
indem man mit Liebe auf Haß antwortet, mit Reinheit auf die Stimmen der Sinne,
mit Heldentum auf die Prüfungen, und sich aus Liebe zu Gott und den Brüdern
selbst zum Opfer bringt. Dann, wenn ihr alle eure Pflichten erfüllt habt,
sollt ihr noch sagen: "Wir sind unnütze Knechte" und warten, bis mein und euer
Vater euch in seiner Güte einen Platz in seinem Reich gewährt. Man muß sich
allem Menschlichen entäußern, wie du mich im Prätorium entkleidet gesehen
hast, und nur das unumgänglich Notwendige behalten aus Achtung vor dem Leben,
dem Geschenk Gottes, und vor den Brüdern, denen wir vom Himmel aus mehr nützen
können als auf Erden. Überlaßt es Gott allein, euch mit dem im Blut des Lammes
gewaschenen Gewand der Unsterblichkeit zu bekleiden.»
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644. VERSCHIEDENE EINFÜHRUNGEN:
111. «ICH HABE DARUNTER GELITTEN, MEINE MUTTER LEIDEN ZU SEHEN»
Jesus sagt:
«Auch diese Schmerzen meiner
Mutter Maria habe ich nicht vergessen: daß ich ihr durch das Warten auf mein
Leiden so große Qualen bereiten mußte, daß ich sie weinen sehen mußte. Und
deshalb schlage ich ihr nichts ab. Sie hat mir alles gegeben, und ich gebe ihr
alles. Sie hat alle Schmerzen erlitten. Ich gebe ihr alle Freuden.
Ich möchte, daß ihr, wenn ihr an
Maria denkt, ihre dreiunddreißig Jahre dauernde Todesangst betrachtet, die
ihren Höhepunkt am Fuß des Kreuzes erreicht hat. Sie hat sie euretwegen
erlitten. Euretwegen wurde sie von der Menge verlacht und Mutter eines
Verrückten genannt. Euretwegen der Tadel der Verwandten und der angesehenen
Personen. Euretwegen meine anscheinende Verleugnung: "Meine Mutter und meine
Brüder sind jene, die den Willen Gottes tun."
Wer hat mehr als sie den Willen
Gottes getan, und welch furchtbaren Willen, der ihr die Qual auferlegte, ihren
Sohn gemartert zu sehen?
Euretwegen die Mühe, mir da- und
dorthin nachzufolgen. Euretwegen die Opfer: angefangen von dem, ihr kleines
Haus zu verlassen und sich unter das Volk zu begeben, bis zu dem Opfer, ihr
kleines Vaterland zu verlassen wegen des Tumultes in Jerusalem. Euretwegen
mußte sie mit dem Menschen in Berührung kommen, der in seinem Herzen auf
Verrat sann. Euretwegen der Schmerz, mich der satanischen Besessenheit und der
Häresie angeklagt zu sehen. Alles, alles euretwegen.
Ihr wißt nicht, wie sehr ich
meine Mutter geliebt habe. Ihr denkt nicht daran, wie empfänglich das Herz des
Sohnes Marias für ihre Liebe war. Und ihr glaubt, daß meine Marter nur aus
körperlichen Schmerzen bestand und fügt höchstens noch die geistige Qual
hinzu, am Ende meiner Leiden vom Vater verlassen worden zu sein.
Nein, meine Kinder! Auch die
Gefühle des Menschen habe ich kennengelernt. Ich habe darunter gelitten, meine
Mutter leiden zu sehen; sie wie ein geduldiges Lamm zum Opfer führen zu
müssen; sie quälen zu müssen mit meinem wiederholten Abschied, in Nazareth vor
dem Beginn des öffentlichen Lebens; mit dem Abschied, den ich euch gezeigt
habe und der meinem bevorstehenden Leiden vorausgeht; dem Abschied vor dem
Abendmahl, als Iskariot schon im Begriff war, mich zu verraten, und mit dem
anderen furchtbaren auf dem Kalvarienberg.
Ich habe gelitten, als ich
verspottet, gehaßt, verleumdet und von ungesunder Neugier, die nicht zum
Guten, sondern nur zum Bösen führte, umgeben war. Ich habe bei allen Lügen,
die ich hören mußte oder in meiner Nähe wirksam sah, gelitten; bei denen der
scheinheiligen Pharisäer,
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die mich Meister nannten und die
mir Fragen stellten, nicht weil sie an meine Weisheit glaubten, sondern um mir
Fallen zu stellen; bei den Lügen der Menschen, denen ich Gutes getan hatte und
die dann beim Synedrium und im Prätorium als Ankläger gegen mich auftraten;
bei der lange bedachten, schlauen und fein gesponnenen Lüge des Judas, der
mich verkauft und sich weiterhin als Jünger ausgegeben hat, der mich dann mit
dem Zeichen der Liebe dem Henker ausgeliefert hat. Ich habe gelitten wegen der
Lüge des Petrus, den die Angst vor den Menschen gepackt hatte.
Wie viele Lügen, und wie
abstoßend für mich, der ich die Wahrheit bin! Wie viele Lügen auch jetzt noch
mir gegenüber! Ihr sagt, daß ihr mich liebt, doch ihr liebt mich nicht. Ihr
habt meinen Namen auf den Lippen und betet im Herzen den Satan an und befolgt
ein Gesetz, das meinem widerspricht.
Ich habe gelitten bei dem
Gedanken, daß in Anbetracht des unendlichen Wertes meines Opfers, dem Opfer
eines Gottes, viel zu wenige gerettet werden würden. Alle, ich will sagen,
alle jene, die in den Jahrhunderten der irdischen Zeit den Tod dem ewigen
Leben vorziehen und so mein Opfer nutzlos machen würden, sie alle habe ich vor
Augen gehabt. Und mit diesem Wissen bin ich dem Tod entgegengegangen.
Siehst du, kleiner Johannes, daß
dein Jesus und seine Mutter in ihrer Seele sehr gelitten haben? Und lange.
Geduld also, wenn du wirst leiden müssen. "Kein Jünger ist mehr als der
Meister", habe ich gesagt.
Morgen werde ich über die
geistigen Leiden sprechen. Nun ruhe dich aus. Der Friede sei mit dir.»
Dann sagt Maria und antwortet
damit auf ein Gebet, das aus meinem Herzen aufgestiegen ist, nachdem ich das
andere gebetet habe, das unter dem Bild des Unbefleckten Herzens geschrieben
steht: «Unsere liebevollste Mutter, enthülle uns die Geheimnisse deines
Unbefleckten Herzens. Gib, daß ein süßer und reiner Strahl von dir unser Herz
durchdringe und es umwandle und vorbereite auf die göttliche Einkehr des
Heiligen Geistes.» Ich hatte hinzugefügt: «Ja, Mutter Jesu und meine Mutter,
enthülle mir die Geheimnisse deines Herzens und bereite mein Herz mit deinem
Licht vor.»
Und sie: «Ich habe dich in mein
Herz versenkt, dessen Freuden und Leiden ich dir gezeigt habe. Ich habe dein
Herz mit dem Strahl meiner Liebe durchbohrt, damit du die Stimme meines Sohnes
und die Erleuchtungen des göttlichen Geistes verstehst; denn ohne die
Erleuchtungen des Paraklet bleibt es dunkel und still in den Herzen. Es ist
immer der Geist, dessen Braut ich bin, der euch die Wahrheit begreifen läßt
und euch für Gott heiligt. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist müssen in
euren Herzen wohnen, damit ihr die Geheimnisse Gottes und die dreifache
Offenbarung seiner Macht, seiner Erlösung und seiner Liebe verstehen könnt.
Der Vater mit seiner Güte ist in seinen wahren Kindern immer gegenwärtig, der
Sohn mit seiner Lehre, und der Geist mit seinem Licht, denn niemals fehlt er
dort, wo sich ein Mensch heiligt; und das Wort meines Jesus ist die vom euch
liebenden Vater gewollte und gewährte Heiligung.»
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645. VERSCHIEDENE EINFÜHRUNGEN:
IV. «ICH WAR UND ICH BIN DER SOHN GOTTES. ABER ICH WAR AUCH DER MENSCHENSOHN.»
Jesus sagt:
«Das Leiden meiner geistigen
Agonie hast du am Abend des Donnerstags betrachtet. Du hast deinen Jesus
zusammensinken sehen wie einen zu Tode Getroffenen, der sein Leben durch seine
blutenden Wunden entfliehen fühlt, oder wie ein von einem seelischen und seine
Kräfte übersteigenden Trauma überwältigtes Geschöpf. Du hast die immer
heftigeren Phasen dieses Traumas gesehen, das im Blutschwitzen gipfelte und
hervorgerufen wurde durch Störungen des Blutkreislaufs als Folge der
Anstrengung, mich zu beherrschen und die Last zu ertragen, die sich auf mich
gesenkt hatte.
Ich war, ich bin der Sohn Gottes,
des Allerhöchsten. Aber ich war auch der Menschensohn. Ich will, daß aus
diesen Seiten meine doppelte, in beiden Teilen vollkommene Natur klar
hervorgehe.
Von meiner Göttlichkeit zeugt
mein Wort, das Akzente setzt, wie nur Gott sie setzen kann. Von meiner
Menschheit zeugen die Bedürfnisse, die Leidenschaften und die Schmerzen, die
ich euch gezeigt und in meinem Fleisch als wahrer Mensch erlitten habe, als
Vorbild für euer Menschsein, so wie ich euren Geist in meiner Lehre als wahrer
Gott unterweise.
Das Bild sowohl meiner
allerheiligsten Gottheit als auch meiner vollkommenen Menschheit hat im Laufe
der Jahrhunderte durch die zersetzende Wirkung eurer unvollkommenen
Menschlichkeit Minderungen und Verzerrungen erfahren. Ihr habt meine
Menschheit unwirklich, ihr habt sie unmenschlich gemacht, ebenso wie ihr mich
als Gott verkleinert, herabgemindert und sogar geleugnet habt in vielem, was
anzuerkennen euch unbequem war oder was ihr mit eurem durch die Krankheit der
Laster, des Atheismus, des Humanismus und des Rationalismus geschwächten Geist
nicht mehr erkennen konntet.
Ich komme in dieser tragischen
Stunde, der Vorbotin universellen Unglücks; ich komme, um eurem Geist meine
doppelte Natur als Gott und Mensch in Erinnerung zu rufen, damit ihr sie
erkennt, wie sie ist, damit ihr sie wiedererkennt nach so viel Obskurantismus,
mit dem ihr sie vor eurem Geist verborgen habt; damit ihr sie liebt und zu ihr
zurückkehrt, damit ihr euch durch sie rettet. Es ist euer Erlöser, und wer ihn
kennt und liebt, wird sich retten.
In diesen Tagen hast du meine
physischen Leiden kennengelernt. Sie haben meine Menschheit gequält. Du hast
meine moralischen Leiden kennengelernt, die mit denen meiner Mutter verbunden,
verknüpft, verschmolzen waren, wie die unentwirrbaren Lianen der tropischen
Urwälder, die man nicht trennen kann, um eine einzelne abzuschneiden, sondern
die
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man mit einem einzigen Axthieb
alle zusammen abschlagen muß, um sich einen Weg zu bahnen; wie die Adern des
Körpers, von denen man nicht eine allein blutleer machen kann, da sie von
einer einzigen Quelle gespeist werden; so, oder besser noch, so wie ein
Geschöpf im Mutterleib, das den Tod findet, wenn die Mutter stirbt – denn es
sind das Leben, die Wärme, die Nahrung, das Blut der Mutter, die im Rhythmus
des mütterlichen Herzschlags durch die inneren Membranen zu dem Ungeborenen
gelangen und es für das Leben vollenden.
Sie, oh! Sie, meine reine Mutter,
hat mich nicht nur die neun Monate getragen, wie jede menschliche Frau die
menschliche Frucht trägt, sondern das ganze Leben. Unsere Herzen waren durch
geistige Fasern verbunden und haben immer zusammen geschlagen. Sie weinte
keine mütterliche Träne, deren Salz nicht auf mein Herz gefallen wäre, und
jede meiner lautlosen inneren Klagen fand bei ihr Widerhall und schmerzte sie.
Ihr habt Mitleid mit einer
Mutter, deren Sohn durch eine unheilbare Krankheit zum Tod verurteilt ist; mit
der Mutter eines von der Strenge der menschlichen Gerichtsbarkeit zur
Hinrichtung Verurteilten. Aber denkt an meine Mutter, die vom Augenblick
meiner Empfängnis an gezittert hat im Gedanken daran, daß ich der Verurteilte
sein würde. Denkt an diese Mutter, die beim ersten Kuß auf die weichen rosigen
Wangen des Neugeborenen schon die künftigen Wunden ihres Geschöpfes gefühlt
hat. Denkt an diese Mutter, die zehnmal, hundertmal, tausendmal ihr Leben
gegeben hätte, um mich daran zu hindern, Mensch zu werden und den Augenblick
der Opferung zu erreichen. Denkt an diese Mutter, die die schreckliche Stunde
kannte und herbeiwünschen mußte, um dem Willen des Herrn zu entsprechen, zur
Ehre Gottes und aus Liebe zur Menschheit. Nein, es hat keinen Todeskampf
gegeben, der länger gedauert und mit einem größeren Schmerz geendet hätte, als
der meiner Mutter.
Und kein Schmerz ist je größer
und vollständiger gewesen als der meine. Ich war eins mit dem Vater. Er hatte
mich von Ewigkeit geliebt, wie nur Gott lieben kann. Er hatte sein
Wohlgefallen an mir und in mir seine göttliche Freude gefunden. Und ich hatte
ihn geliebt, wie nur ein Gott lieben kann, und in der Vereinigung mit ihm
meine göttliche Freude gefunden. Die unaussprechliche Verbindung, die seit
Ewigkeiten zwischen dem Vater und dem Sohn besteht, kann euch nicht einmal
durch mein Wort erklärt werden, denn sie ist vollkommen, und eure Intelligenz
ist es nicht, und ihr könnt nicht verstehen und erkennen, was Gott ist, bis
ihr bei ihm im Himmel seid.
Und ich habe, wie steigendes
Wasser gegen einen Deich drückt, Stunde um Stunde die Strenge des Vaters mir
gegenüber zunehmen gefühlt. Um der Beschränktheit der Menschen, die nicht
verstehen wollten, zu bezeugen, wer ich war, hat Gott während der Zeit meines
öffentlichen Lebens dreimal den Himmel geöffnet: am Jordan, auf dem Tabor und
in Jerusalem
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am Vorabend der Passion. Aber er
hat dies für die Menschen getan, nicht um mir Erleichterung zu verschaffen.
Ich war bereits der Sühnende.
Viele Male, Maria, läßt Gott für
die Menschen einen seiner Diener erkennen, damit sie durch ihn erschüttert
werden und zu Gott finden; aber dies geschieht auch durch die Leiden des
Dieners. Denn dieser bezahlt für die Tröstungen und die Rettung der Brüder,
indem er das bittere Brot der Strenge Gottes ißt. Ist es nicht so? Die
Sühnopfer kennen die Strenge Gottes. Danach kommt die Herrlichkeit. Aber erst,
wenn die Gerechtigkeit befriedigt ist. Es ist nicht wie bei meiner Liebe, die
ihren Opfern Küsse gibt. Ich bin Jesus, ich bin der Erlöser, ich bin der, der
gelitten hat und aus eigener Erfahrung weiß, wie sehr es schmerzt, den Blick
Gottes in all seiner Strenge auf sich zu fühlen und von ihm verlassen zu
werden. Und ich bin niemals streng, und ich verlasse nie. Ich verzehre
ebenfalls, aber in einem Feuer der Liebe.
Je näher die Stunde der Sühne
rückte, desto mehr fühlte ich, wie der Vater sich von mir entfernte. Und je
größer die Entfernung, desto weniger war die Göttlichkeit Gottes meiner
Menschheit eine Stütze. Ich litt auf die verschiedenste Art darunter.
Die Trennung von Gott bringt
Angst mit sich, bringt Anhänglichkeit an das Leben mit sich, bringt Schwäche,
Müdigkeit und Lauheit mit sich. Je größer sie ist, um so stärker sind diese
ihre Folgen. Ist sie vollständig, führt sie zur Verzweiflung. Und je mehr
einer, durch Zulassung Gottes und ohne sie verdient zu haben, diese Trennung
fühlt, desto mehr leidet er, denn der lebendige Geist erfährt die Trennung von
Gott so, wie lebendiges Fleisch die Amputation eines Gliedes. Es ist ein
schmerzlicher, niederschmetternder Schrecken, den jemand, der ihn nicht erlebt
hat, nicht verstehen kann. Ich habe ihn erlitten. Alles mußte ich
kennenlernen, um für euch beim Vater in allem fürbitten zu können. Oh, ich
habe erfahren, was es heißt, sich sagen zu müssen: "Ich bin allein. Alle haben
mich verraten und verlassen. Auch der Vater, auch Gott hilft mir nicht mehr."
Und daher wirke ich
geheimnisvolle Wunder der Gnade in den armen Herzen, die die Verzweiflung
erdrückt, und verlange von meinen Lieblingen, daß sie meinen so bitteren Kelch
der Erfahrung austrinken, damit jene, die im Meer der Verzweiflung Schiffbruch
erleiden, das Kreuz nicht ablehnen, das ich ihnen als Anker und zur Rettung
anbiete, sondern sich daran klammern und ich sie zum seligen Ufer, an dem nur
Friede herrscht, bringen kann.
Nur ich allein weiß, wie nötig
ich am Abend des Donnerstags den Vater gehabt hätte. Mein Geist rang schon mit
dem Tod durch die Anstrengung, die beiden größten Schmerzen eines Menschen
bewältigen zu müssen: den Abschied von der geliebten Mutter und die Nähe des
untreuen Freundes. Es waren zwei Wunden, die in meinem Herzen brannten: die
eine mit ihren Tränen, die andere mit ihrem Haß.
18
Ich mußte mein Brot mit meinem
Kain brechen. Ich mußte mit ihm wie mit einem Freund sprechen, um ihn vor den
anderen nicht bloßzustellen, denn ich war mir nicht sicher, ob sie nicht
gewalttätig reagieren würden; und ich wollte ein Verbrechen verhindern, das
andererseits auch nutzlos gewesen wäre, da alles bereits im großen Buch des
Lebens aufgezeichnet war: mein heiliger Tod und der Selbstmord des Judas.
Keine weiteren, von Gott verworfenen Toten. Kein anderes Blut als das meine
sollte vergossen werden, und kein anderes ist vergossen worden. Der Strang
beendete dieses Leben und verschloß in der unreinen Hülle des Körpers des
Verräters sein unreines, an Satan verkauftes Blut, das Blut, das nicht zur
Erde fallen und sich mit dem reinsten Blut des Unschuldigen vermischen durfte.
Diese beiden Wunden hätten
genügt, um mich in meinem Inneren mit dem Tod ringen zu lassen. Aber ich war
der Sühnende, das Opfer, das Lamm. Das Lamm lernt, bevor es geopfert wird, das
Brandmal kennen, es lernt die Schläge, die Entblößung und den Verkauf an den
Schlächter kennen. Und erst zuletzt lernt es die Kälte des Messers kennen, das
in die Kehle dringt, die Adern durchtrennt und tötet. Zuerst muß es alles
verlassen: die Weide, auf der es groß geworden ist; die Mutter, die es genährt
und gewärmt hat; die Gefährten, mit denen es gelebt hat. Alles. Ich habe all
dies kennengelernt, ich, das Lamm Gottes.
Daher ist Satan gekommen, während
sich der Vater in die Himmel zurückzog. Er war schon am Anfang meiner Mission
gekommen, um mich zu versuchen und mich von ihr abzubringen. Nun kehrte er
zurück. Seine Stunde war gekommen. Die Stunde, in der die Hölle losgelassen
war.
Scharen und immer neue Scharen
von Dämonen waren in jener Nacht auf der Erde, um die Versuchung in den Herzen
zu Ende zu führen und sie darauf vorzubereiten, am nächsten Tag den Tod des
Erlösers zu fordern. Jeder Synedrist hatte seinen Dämon, Herodes den seinen,
Pilatus den seinen und jeder einzelne Jude, der dann mein Blut auf sich
herabrufen würde, den seinen. Auch an der Seite der Apostel waren die
Versucher, die sie einschläferten, während ich litt, und sie auf die Feigheit
vorbereiteten. Sieh, wie groß die Macht der Reinheit ist! Johannes, der Reine,
befreite sich als erster von allen aus den Klauen der Dämonen und kehrte
sofort zu seinem Jesus zurück. Er verstand seinen unausgesprochenen Wunsch und
führte Maria zu mir.
Aber Judas hatte Luzifer, und ich
hatte Luzifer. Er im Herzen, ich an meiner Seite. Wir waren die beiden
Hauptpersonen der Tragödie, und Satan bemühte sich persönlich um uns. Nachdem
er Judas so weit gebracht hatte, daß es für diesen kein Zurück mehr gab,
wandte er sich mir zu.
Mit seiner perfekten
Verschlagenheit stellte er mir die Qualen des Fleisches in unübertrefflich
realistischer Weise vor Augen. Auch in der Wüste hatte er beim Fleisch
angefangen. Betend habe ich ihn besiegt. Der Geist beherrscht die Angst des
Fleisches.
19
Dann versuchte er, mich von der
Nutzlosigkeit meines Sterbens zu überzeugen, und daß es viel sinnvoller sei,
für mich selbst zu leben, ohne mich um die undankbaren Menschen zu kümmern:
reich, glücklich und geliebt zu leben. Für meine Mutter zu leben, damit sie
nicht mehr leiden müsse. Zu leben, um Gott durch ein langes Apostolat viele
Menschen zuzuführen, die mich, wenn ich tot wäre, doch nur vergessen würden,
während sie, wenn ich nicht nur drei Jahre, sondern jahrzehntelang ihr Meister
wäre, sich meine Lehren zu eigen machen würden. Seine Engel würden mir dabei
helfen, die Menschen zu verführen. Sah ich denn nicht, daß die Engel Gottes
nichts unternahmen, um mir zu helfen? Gott würde mir später verzeihen, wenn er
die Ernte der Gläubigen, die ich ihm bringe, sähe. Auch in der Wüste wollte
Satan mich dazu bewegen, Gott durch Unklugheit zu versuchen. Ich habe ihn
durch Gebet besiegt. Der Geist beherrscht die moralische Versuchung.
Satan stellte mir die
Gottverlassenheit vor Augen. Er, der Vater, würde mich nicht mehr lieben. Ich
sei beladen mit den Sünden der Welt. Ich würde ihn anekeln. Er hätte sich
zurückgezogen, würde mich alleinlassen. Er würde mich der Willkür einer
grausamen Menge überlassen und mir ach seinen göttlichen Trost versagen.
Allein, allein, allein. In jener Stunde war nur Satan bei Christus. Gott und
die Menschen, die ihn nicht liebten, die ihn haßten oder denen sein Schicksal
gleichgültig war, waren weit weg. Ich betete, um durch mein Gebet die Worte
Satans zu verdrängen. Doch das Gebet stieg nicht mehr auf zu Gott. Es fiel auf
mich zurück wie die Steine einer Steinigung und zermalmte mich unter seinem
Gewicht. Das Gebet, das für mich immer eine dem Vater geschenkte Liebkosung
war, eine emporsteigende Stimme, der die Liebkosung und das Wort des Vaters
antworteten, war nun tot und schwer, und vergebens sandte ich es zum
verschlossenen Himmel.
Nun erfuhr ich die Bitterkeit auf
dem Grund des Kelches. Ich lernte den Geschmack der Verzweiflung kennen. Und
das hatte Satan gewollt. Mich zur Verzweiflung treiben, um mich zu seinem
Sklaven zu machen. Ich habe die Verzweiflung besiegt, und ich habe sie aus
eigener Kraft besiegt, weil ich sie besiegen wollte. Nur mit meinen
menschlichen Kräften. Denn ich war nur noch der Mensch. Und ich war nur noch
ein Mensch, dem Gott seine Hilfe verweigert.
Wenn Gott hilft, ist es leicht,
selbst die Welt hochzuheben und sie wie ein Kinderspielzeug zu halten. Aber
wenn Gott nicht mehr hilft, kann auch das Gewicht einer Blume uns ermüden.
Ich habe die Verzweiflung und
Satan, ihren Urheber, besiegt um Gott und euch zu dienen und euch das Leben zu
schenken. Aber ich habe den Tod kennengelernt. Nicht den physischen Tod am
Kreuz – dieser war weniger schrecklich – sondern den absoluten, bewußten Tod
des Kämpfers, der fällt, nachdem er mit gebrochenem Herzen gesiegt und Blut
vergossen
20
hat in dem Trauma einer seine
Kräfte übersteigenden Anstrengung. Ich habe Blut geschwitzt. Ich habe Blut
geschwitzt, um dem Willen Gottes treu zu sein.
Daher hat mich der Engel meines
Schmerzes zur Linderung meiner Todesqualen auf die Hoffnung all derer
hingewiesen, die durch mein Opfer gerettet würden. Eure Namen! Jeder war für
mich wie ein Tropfen Medizin, der durch meine Adern floß und mich neu belebte
und stärkte, jeder war für mich wiederkehrendes Leben, wiederkehrendes Licht,
wiederkehrende Kraft. In den unmenschlichen Qualen habe ich mir eure Namen
wiederholt, um nicht meinen menschlichen Schmerz hinauszuschreien und an Gott
zu verzweifeln, um ihm nicht zu große Strenge und Ungerechtigkeit mit seinem
Opfer vorzuwerfen. Ich habe euch gesehen und habe euch schon damals gesegnet.
Seit damals trage ich euch im Herzen. Und wenn für euch die Stunde eures
Erscheinens auf der Erde naht, neige ich mich vom Himmel, um eure Ankunft zu
begleiten, und juble bei dem Gedanken, daß eine neue Blume der Liebe in der
Welt geboren wurde, die für mich leben würde.
Oh, meine Gesegneten! Trost des
sterbenden Christus! Die Mutter, der Jünger und die frommen Frauen waren bei
mir, als ich starb, aber auch ihr wart bei mir. Meine brechenden Augen sahen,
zusammen mit dem schmerzerfüllten Antlitz meiner Mutter, eure liebevollen
Gesichter und schlossen sich so, schlossen sich glücklich, denn ich hatte euch
gerettet, euch, die ihr das Opfer eines Gottes verdient.»
646. VERSCHIEDENE EINFÜHRUNGEN:
V. «IHR DENKT NIE DARAN, WIEVIEL IHR MICH GEKOSTET HABT»
Jesus sagt:
«Du hast alle Schmerzen
kennengelernt, die der eigentlichen Passion vorausgegangen sind. Nun werde ich
dir die Schmerzen zeigen, die ich während der Passion erduldet habe. Jene
Schmerzen, die euren Geist immer tiefer ergreifen, je mehr ihr sie betrachtet.
Aber ihr betrachtet sie nur wenig. Zu wenig. Ihr denkt nicht daran, wieviel
ihr mich gekostet habt und welche Qual mir eure Erlösung bereitet hat.
Ihr, die ihr euch über eine
kleine Hautschürfung beklagt, über Kopfschmerzen oder wenn ihr euch an einer
scharfen Kante stoßt, ihr denkt nie daran, daß ich eine einzige Wunde war; daß
diese Wunden von vielen Dingen vergiftet wurden; daß gerade diese Dinge dazu
dienten, ihrem Schöpfer Leiden zu bereiten; denn sie quälten den schon
gequälten Gottessohn ohne Ehrfurcht vor dem, der sie als Vater der Schöpfung
gemacht hatte.
21
Aber die Dinge waren nicht
schuldig. Einzig und allein der Mensch war der Schuldige. Der Schuldige von
dem Tag an, da er Satan im irdischen Paradies Gehör schenkte. Bis dahin hatten
die Dinge der Schöpfung weder Dornen noch Gift, noch Wildheit für den
Menschen, das auserwählte Geschöpf. Gott hatte diesen Menschen zum König
gemacht, nach seinem Bild und Gleichnis, und er hatte in seiner väterlichen
Liebe nicht gewollt, daß die Dinge dem Menschen schaden könnten. Satan brachte
das Unheil, zuerst in das Herz des Menschen. Dann entsprangen daraus für den
Menschen, mit der Strafe für die Sünde, Plagen und Dornen.
Und so mußte ich, der Mensch,
nicht nur durch die Menschen, sondern auch wegen der Dinge und durch die Dinge
leiden. Jene beschimpften und quälten mich; diese wurden dabei zur Waffe.
Die Hand, die Gott dem Menschen
gegeben hatte, um ihn von den Tieren zu unterscheiden, die Hand, die zu
gebrauchen Gott die Menschen gelehrt hatte, die Hand, die Gott in Beziehung
zum Geist gebracht hatte, damit sie die Befehle des Geistes ausführe, dieser
so vollkommene Teil von euch; die den Sohn Gottes nur hätte liebkosen dürfen,
von dem sie nur Liebkosungen erhalten hatte, und Heilung, wenn sie krank war;
diese Hand erhob sich gegen den Sohn Gottes, gab ihm Backenstreiche und
Faustschläge, ergriff die Geißel, wurde zur Zange, um ihm Haar und Bart
auszureißen, und nahm den Hammer, um die Nägel einzuschlagen.
Die Füße des Menschen, die einzig
und allein zu mir hätten eilen müssen, um den Sohn Gottes anzubeten, liefen,
um mich gefangenzunehmen, mich durch die Straßen zu treiben und zu zerren,
meinen Henkern entgegen, und mir Fußtritte zu geben, wie man dies nicht einmal
bei einem störrischen Maulesel tut.
Der Mund des Menschen, der das
Wort hätte gebrauchen sollen – das Wort, das eine unter allen Lebewesen nur
dem Menschen verliehene Gabe ist – um den Sohn Gottes zu loben und zu preisen,
füllte sich mit Flüchen und Lügen und bespie mich mit diesen und mit seinem
Geifer.
Der Verstand des Menschen, der
Beweis seiner himmlischen Herkunft, ermüdete beim Ersinnen von Qualen von
ausgesuchter Furchtbarkeit. Der Mensch gebrauchte alles, sein ganzes Selbst
und alle seine Teile, um den Sohn Gottes zu quälen.
Und er rief die Erde und alles
auf ihr zu Hilfe, um zu quälen. Er machte aus den Steinen der Bäche
Wurfgeschosse, um mich zu verwunden. Aus den Zweigen der Bäume Ruten, um mich
zu schlagen. Aus dem gedrehten Hanf Seile, die mir ins Fleisch schnitten, um
mich hinter sich herzuziehen, aus den Dornen eine Krone stechenden Feuers für
mein müdes Haupt, aus den Mineralien eine noch furchtbarere Geißel, aus dem
Rohr ein Marterwerkzeug, aus den Steinen der Straße ein Hindernis für den
wankenden Fuß dessen, der sterbend hinaufstieg, um gekreuzigt zu werden.
22
Und zu den Dingen der Erde
gesellten sich auch die des Himmels. Die Kälte des Morgens, die meinen schon
durch die Todesangst im Garten erschöpften Körper erzittern ließ; der Wind,
der die Schmerzen der Wunden verschlimmerte; die Sonne, die den brennenden
Durst und das Fieber verstärkte und Fliegen und Staub brachte, die die müden
Augen reizten, ohne daß die gefesselten Hände etwas dagegen tun konnten.
Und zu den Dingen des Himmels
kamen die Stoffe, die es dem Menschen erlauben, seine Blöße zu bedecken: das
Leder wurde zur Peitsche, die Wolle der Kleider blieb an den offenen Wunden
der Geißelhiebe kleben und verursachte mir bei jeder Bewegung durch ihr Reiben
und erneutes Aufreißen der Wunden Qualen.
Alles, alles, alles hat dazu
beigetragen, den Sohn Gottes zu quälen. Ihm, um dessentwillen alle Dinge
geschaffen worden waren, wurden in der Stunde, da er die Gott dargebrachte
Opfergabe war, alle Dinge zum Feind. Dein Jesus, Maria, hat nichts gehabt, was
ihm Erleichterung verschafft hätte. Alles, was ist, wandte sich gleich
zornigen Vipern gegen mich, um mein Fleisch zu zerreißen und meine Leiden zu
vermehren.
An all dies solltet ihr denken,
wenn ihr leidet. Wenn ihr eure Unvollkommenheit mit meiner Vollkommenheit
vergleicht und meinen Schmerz mit dem eurigen, werdet ihr erkennen, daß der
Vater euch mehr liebt, als er mich in jener Stunde geliebt hat; und daher
sollt ihr ihn mit eurem ganzen Sein lieben, wie ich ihn trotz seiner Strenge
geliebt habe.»
647. DER ABSCHIED VON LAZARUS
Jesus ist in Bethanien. Es ist
Abend. Ein friedlicher Aprilabend. Durch die großen Fenster des Speisesaals
sieht man den Garten des Lazarus in voller Blüte und dahinter den Obstgarten,
der einer Wolke leichter Blütenblätter gleicht. Ein Duft von frischem Grün,
von herbsüßen Obstbaumblüten, von Rosen und anderen Blumen dringt mit dem
sanften Abendwind, der leise die Türvorhänge bewegt und die Flämmchen des
Leuchters an der Zimmerdecke erzittern läßt, in den Raum und vermischt sich
mit dem starken Duft einer Mischung seltener Essenzen aus Tuberosen,
Maiglöckchen und Jasmin, der noch übriggeblieben ist von dem Balsam, mit dem
Maria Magdalena ihren Jesus parfümiert hat. Seine Haare sind noch dunkel von
der Salbung.
Im Saal sind außerdem Simon,
Petrus, Matthäus und Bartholomäus. Die anderen fehlen; wahrscheinlich machen
sie Besorgungen.
Jesus hat sich von der Tafel
erhoben und betrachtet eine Pergamentrolle, die Lazarus ihm gezeigt hat. Maria
von Magdala geht im Saal umher... Sie gleicht einem vom Licht angezogenen
Schmetterling. Sie kann
23
nur um ihren Jesus herumflattern.
Martha überwacht die Diener, die das kostbare, überall auf dem Tisch stehende
Geschirr abräumen.
Jesus legt die Schriftrolle auf
eine mit Elfenbein eingelegte hohe Anrichte aus schwarzem, glänzendem Holz und
sagt: «Lazarus, komm mit mir hinaus. Ich muß mit dir sprechen.»
«Sofort, Herr», und Lazarus
erhebt sich von seinem Sitz am Fenster und folgt Jesus in den Garten, wo sich
das letzte Licht des Tages mit dem ersten hellen Schein des Mondes vermischt.
Jesus durchquert den Garten und
begibt sich zu dem Grab, in dem Lazarus gelegen ist und dessen leere Öffnung
nun eine große Menge blühender Rosen umrahmen. Darüber sind die Worte in den
leicht schrägen Fels eingemeißelt: «Lazarus, komm heraus!» Jesus bleibt
stehen. Das Haus kann man nicht mehr sehen, da es hinter Bäumen und Hecken
verborgen ist. Es herrscht vollkommene Stille, und sie sind ganz allein.
«Lazarus, mein Freund», fragt
Jesus, stellt sich vor seinen Freund und betrachtet ihn mit dem Anflug eines
Lächelns auf seinem sehr schmal gewordenen Gesicht, das bleicher ist als
sonst. «Lazarus, mein Freund, weißt du, wer ich bin?»
«Du? Du bist Jesus von Nazareth,
mein lieber Jesus, mein heiliger Jesus, mein mächtiger Jesus!»
«Das bin ich für dich. Aber wer
bin ich für die Welt?»
«Du bist der Messias Israels.»
«Und sonst?»
«Du bist der Verheißene, der
Erwartete... Aber warum fragst du mich das? Zweifelst du an meinem Glauben?»
«Nein, Lazarus. Aber ich möchte
dir eine Wahrheit anvertrauen. Niemand außer meiner Mutter und einem von den
Meinen kennt sie. Meine Mutter, da ihr nichts unbekannt ist. Einer, da er an
dieser Sache beteiligt ist. Den anderen habe ich sie in diesen drei Jahren,
seit sie bei mir sind, wieder und wieder gesagt. Aber ihre Liebe läßt sie in
einem Glashaus leben und schirmt sie ab vor der angekündigten Wahrheit. Sie
können nicht alles begreifen... Und es ist gut, daß sie nicht begriffen haben,
denn sonst hätten sie, um ein Verbrechen zu verhindern, ein anderes begangen.
Und umsonst. Denn was geschehen muß, würde trotz allem Mord und Totschlag
geschehen. Aber dir will ich es sagen.»
«Glaubst du, daß ich dich weniger
liebe als sie? Von welchem Verbrechen sprichst du? Welches Verbrechen muß
geschehen? Sprich, im Namen Gottes!» Lazarus ist sehr erregt.
«Ich spreche, ja. Ich zweifle
nicht an deiner Liebe. So wenig zweifle ich an ihr, daß ich dir nun meinen
Willen anvertraue...»
«Oh, mein Jesus! Aber das tut
doch nur einer, der dem Tod nahe ist! Ich habe es getan, als ich begriff, daß
du nicht kommen würdest und ich sterben würde.»
24
«Und ich muß sterben.»
«Nein!» Lazarus stöhnt laut auf.
«Schrei nicht. Niemand darf uns
hören. Ich muß mit dir allein sprechen. Lazarus, mein Freund, weißt du, was
jetzt gerade geschieht, da du mir nahe bist mit deiner treuen Freundschaft,
die du mir vom ersten Augenblick an geschenkt hast und die nie aus irgendeinem
Grund getrübt wurde? Ein Mensch handelt soeben mit anderen Menschen den Preis
für das Lamm aus. Kennst du den Namen des Lammes? Sein Name ist: Jesus von
Nazareth.»
«Nein! Feinde hast du, das ist
wahr. Aber es kann dich keiner verkaufen! Wer? Wer ist es?»
«Einer der Meinen. Es konnte nur
einer von denen sein, die ich am meisten enttäuscht habe, und der sich nun,
des Wartens müde, von dem befreien will, der nur noch eine persönliche Gefahr
für ihn darstellt. Er glaubt, sich neues Ansehen zu verschaffen bei den Großen
der Welt. So denkt er. Stattdessen wird er jedoch von den Guten wie von den
Bösen verachtet werden. Er ist meiner müde geworden, er ist des Wartens auf
das müde geworden, was er mit allen Mitteln zu erreichen versuchte: irdische
Größe. Zuerst hat er es im Tempel versucht, dann hat er seine Hoffnungen auf
den König von Israel gesetzt, und nun versucht er es wieder im Tempel und bei
den Römern... Er hofft... Aber wenn auch Rom seine treuen Diener zu belohnen
versteht... so straft es doch die feigen Verräter mit tödlicher Verachtung. Er
ist meiner müde, müde des Wartens und der Last, gut sein zu müssen. Für einen,
der schlecht ist, ist Gutsein oder Gutsein vortäuschen zu müssen eine
erdrückende Last. Man kann sie eine Zeitlang ertragen... aber dann... geht es
nicht mehr, und man befreit sich von ihr, um wieder frei zu sein. Frei? So
meinen die Bösen. So meint auch er. Aber es ist keine Freiheit. Gott zu
gehören ist Freiheit. Gegen Gott sein bedeutet eine Gefangenschaft mit Fesseln
und Ketten, mit Gewichten und Peitschenhieben, wie kein Galeerensträfling am
Ruder und kein Sklave an den Bauwerken unter der Peitsche des Aufsehers sie zu
ertragen hat.»
«Wer ist es? Sage es mir. Wer ist
es?»
«Es würde nichts nützen.»
«Sicher würde es etwas nützen...
Oh! Es kann niemand anderes sein als er: der Mensch, der immer ein Schandfleck
in deiner Schar gewesen ist. Der Mensch, der erst vor kurzem meine Schwester
beleidigt hat. Es ist Judas von Kerioth!»
«Nein. Es ist Satan. Gott hat in
mir, Jesus, Fleisch angenommen. Satan hat in ihm, Judas von Kerioth, Fleisch
angenommen. Eines Tages... es ist lange her... habe ich hier in deinem Garten
einen Weinenden getröstet und einen in den Schmutz gefallenen Geist
entschuldigt. Ich habe gesagt, daß die Besessenheit eine Ansteckung durch
Satan ist, der dem Menschen seine Säfte einflößt und ihn damit völlig
durchdringt. Ich habe gesagt,
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daß sie das Bündnis einer Seele
mit Satan und dem Tierischen ist. Aber die Besessenheit ist noch etwas
Geringfügiges im Vergleich zur Inkarnation. Meine Heiligen werden von mir
Besitz ergreifen, und ich werde von ihnen Besitz ergreifen. Aber nur in Jesus
Christus ist Gott, so wie er im Himmel ist, denn ich bin der fleischgewordene
Gott. Es gibt nur eine göttliche Inkarnation. Ebenso wird nun Satan, Luzifer,
nur in einem einzigen sein, so wie er in seinem Reich ist; denn nur im Mörder
des Sohnes Gottes ist Satan Fleisch geworden. Während ich hier mit dir rede,
steht er vor dem Synedrium, verhandelt und verpflichtet sich, mich
auszuliefern. Aber es ist nicht er: es ist Satan! Nun höre, Lazarus, mein
treuer Freund. Ich bitte dich um einige Gefälligkeiten. Du hast mir nie etwas
verweigert. Deine Liebe ist so groß, daß sie, ohne jemals gegen den Respekt zu
verstoßen, mir immer zur Seite stand mit vielen vorausschauenden
Hilfeleistungen und mit klugen Ratschlägen, die ich immer angenommen habe, da
ich sah, daß dir mein Wohl wirklich am Herzen lag.»
«Oh, mein Herr! Aber es war mir
doch eine Freude, mich deiner anzunehmen! Was werde ich nun tun, wenn ich mich
nicht mehr um meinen Herrn und Meister kümmern kann? Viel zu wenig hast du
mich für dich tun lassen. Meine Schuld dir gegenüber, der du Maria meiner
Liebe und der Ehre wiedergeschenkt, der du mich dem Leben wiedergegeben hast,
ist so groß, daß... Oh, warum hast du mich dem Tod entrissen, um mich diese
Stunde erleben zu lassen? Ich hatte nun den ganzen Schrecken vor dem Tod, die
ganze Beklemmung der Seele, mit denen Satan mich versuchte und ängstigte im
Augenblick meines Erscheinens vor dem ewigen Richter, überwunden und es war
dunkel! Was hast du, Jesus? Warum zitterst du und wirst noch bleicher, als du
es schon bist? Dein Antlitz ist weißer als der Schnee dieser Rose, die im
Mondlicht dahinwelkt. Oh, Meister! Es scheint, als ob Blut und Leben dich
verlassen würden ...»
«Ich bin tatsächlich wie einer,
der mit aufgeschnittenen Adern stirbt. Ganz Jerusalem, und ich meine damit
"alle Feinde unter den Mächtigen Israels" ' verfolgt mich mit gierigem Rachen
und saugt aus mir Leben und Blut. Sie wollen die Stimme zum Schweigen bringen,
die sie, obwohl sie sie geliebt hat, drei Jahre lang gequält hat; ... denn
jedes meiner Worte, auch wenn es ein Wort der Liebe war, war ein Anstoß, der
ihre Seele ermahnte aufzuwachen, und sie wollten von ihrer Seele nichts
wissen, nachdem sie sie mit ihrer dreifachen Sinnlichkeit gefesselt hatten.
Und nicht nur die Großen... Alle, ganz Jerusalem ist dabei, gegen den
Unschuldigen in Raserei zu geraten und seinen Tod zu fordern... Und mit
Jerusalem Judäa... und mit Judäa Peräa, Idumäa, die Dekapolis, Galiläa und
Syro-Phönizien... alle, ganz Israel ist auf dem Sion zusammengekommen, um beim
"Übergang" des Christus vom Leben zum Tod dabei zu sein... Lazarus, der du tot
gewesen und auferstanden bist, sage mir, was ist das Sterben? Was hast du
gefühlt? Woran erinnerst du dich?»
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«Das Sterben? ... Ich erinnere
mich nicht genau, wie es war. Nach dem großen Leiden kam eine große
Schwäche... Mir kam es vor, als hätte ich keine Schmerzen mehr, als überkäme
mich eine große Müdigkeit... Licht und Geräusche wurden immer schwächer und
entfernter... Die Schwestern und Maximinus sagen, allen Anzeichen nach hätte
ich sehr gelitten... Ich erinnere mich jedoch nicht mehr daran...»
«Ja, die Barmherzigkeit des
Vaters verdunkelt den Sterbenden das Bewußtsein, so daß sie nur körperlich
leiden, um das Fleisch durch dieses Vorfegefeuer, den Todeskampf, zu reinigen.
Aber ich... Welche Erinnerung an den Tod ist dir geblieben?»
«Keine, Meister. Da ist eine
dunkle Stelle in meinem Geist. Ein leerer Raum. Eine Unterbrechung im Verlauf
meines Lebens, die ich nicht ausfüllen kann. Ich habe keine Erinnerung. Wenn
ich in dieses schwarze Loch hinunterschauen würde, in dem ich vier Tage lang
gelegen bin, würde ich, obwohl es Nacht ist und dunkel darin, aus seiner Tiefe
die feuchte Kälte aufsteigen und mir ins Gesicht wehen fühlen, wenn ich auch
nichts sehen könnte. Das wäre ein Gefühl! Aber wenn ich an die vier Tage
denke, erinnere ich mich an nichts. An gar nichts. Mein Wort darauf.»
«Ja, jene, die zurückkommen,
können nichts sagen... Das Geheimnis enthüllt sich dem Sterbenden Schritt für
Schritt. Aber ich, Lazarus, weiß, was ich leiden werde. Ich weiß, was ich bei
vollem Bewußtsein leiden werde. Es wird keinen lindernden Trank und keine
Betäubung geben, um meinen Todeskampf weniger bitter zu machen. Ich werde
fühlen, wie ich sterbe. Schon jetzt fühle ich es... Schon jetzt sterbe ich,
Lazarus. Wie ein an einer unheilbaren Krankheit Leidender sterbe ich seit
dreiunddreißig Jahren. Und immer mehr hat sich das Sterben beschleunigt, je
näher diese Stunde gerückt ist. Zuerst war dieses Sterben das Wissen darum,
daß ich auf die Welt gekommen war, um der Erlöser zu sein. Dann war es das
Sterben dessen, der sieht, daß er bekämpft, angeklagt, verspottet, verfolgt
und behindert wird... welche Müdigkeit! Dann... das Sterben, den Verräter an
meiner Seite zu haben, immer näher, bis er sich an mich klammerte wie ein
Polyp an einen Schiffbrüchigen. Welcher Ekel! Nun sterbe ich an der Qual,
meinen liebsten Freunden und meiner Mutter "Lebewohl" sagen zu müssen...»
«Oh, Meister, du weinst!? Ich
weiß, daß du auch an meinem Grab geweint hast, da du mich liebst. Aber
jetzt... Du weinst wieder. Du bist eiskalt. Deine Hände sind so kalt wie die
eines Toten. Du leidest... Zu sehr leidest du... !»
«Ich bin Mensch, Lazarus. Ich bin
nicht nur Gott. Vom Menschen habe ich die Empfindsamkeit und die Gefühle. Mein
Herz ist zutiefst betrübt, wenn ich an die Mutter denke... Und doch, ich sage
dir, am furchtbarsten ist die Qual geworden, die Nähe des Verräters ertragen
zu müssen, den satanischen Haß einer ganzen Welt, die Taubheit jener, die mich
zwar
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nicht hassen, die aber auch nicht
aktiv lieben können; denn aktiv lieben heißt, so werden, wie es der Geliebte
will und lehrt. Hier hingegen! Ja, viele lieben mich. Aber sie sind sie selbst
geblieben. Sie haben sich nicht aus Liebe zu mir geändert. Weißt du, wer von
den mir am nächsten Stehenden es verstanden hat, sich selbst zu verleugnen, um
Christus so anzugehören, wie Christus es will? Eine allein: deine Schwester
Maria. Ausgehend von größter animalischer Lasterhaftigkeit, ist sie zu
engelgleicher Vergeistigung gelangt. Und dies nur durch die Kraft der Liebe.»
«Du hast sie erlöst.»
«Alle habe ich durch das Wort
erlöst. Aber nur sie hat sich total geändert durch die aktive Liebe. Aber ich
sagte: Ich leide so furchtbar unter diesen Dingen, daß ich nichts sehnlicher
erwarte, als daß alles vollbracht sei. Meine Kräfte lassen nach... Das Kreuz
wird weniger schwer sein als diese Qualen des Geistes und des Gefühls...»
«Das Kreuz?! Nein! Oh! Nein! Das
ist zu schrecklich! Das ist zu schändlich! Nein!» Lazarus, der vor seinem
Meister gestanden ist und eine Zeitlang die eiskalten Hände Jesu in den seinen
gehalten hat, läßt sie nun los und sinkt auf die steinerne Bank neben ihnen,
schlägt die Hände vor sein Gesicht und weint verzweifelt.
Jesus geht zu ihm, legt ihm die
Hand auf die von Schluchzen geschüttelte Schulter und sagt: «Wie? Muß ich, der
Sterbende, dich, den Lebenden, trösten? Freund, ich brauche Kraft und Hilfe.
Und ich bitte dich darum. Ich habe nur dich, der sie mir geben kann. Es ist
besser, wenn die anderen nicht davon wissen. Denn wenn sie es wüßten... würde
Blut fließen. Und ich will nicht, daß aus Lämmern Wölfe werden, auch nicht aus
Liebe zu dem Unschuldigen. Die Mutter... oh, welche Qual, von ihr zu sprechen!
... Die Mutter leidet schon Todesängste! Auch sie ist eine erschöpfte
Sterbende... Auch sie stirbt seit dreiunddreißig Jahren und ist nun eine
einzige Wunde, wie das Opfer einer grausamen Tortur. Ich schwöre es dir, Geist
und Herz, Liebe und Vernunft haben in mir um die Entscheidung gekämpft, ob es
nicht besser wäre, sie fernzuhalten und nach Hause zu schicken, wo sie immer
noch von der Liebe träumt, die sie Mutter werden ließ, wo sie immer noch den
Geschmack ihres Feuerkusses verkostet, bei dieser Erinnerung in Ekstase gerät
und mit den Augen der Seele das Wehen der im Leuchten der Engelserscheinung
bewegten Luft schaut. In Galiläa wird die Nachricht meines Todes etwa zur
gleichen Zeit ankommen, da ich zu ihr werde sagen können: "Mutter, ich bin der
Sieger!" Aber ich kann nicht, nein, ich kann es nicht tun. Der arme, mit den
Sünden der Welt beladene Jesus braucht einen Trost. Und die Mutter wird ihn
mir geben. Die noch ärmere Welt braucht zwei Opfer. Denn der Mann sündigt, und
die Frau sündigt; und die Frau muß erlösen, wie der Mann erlöst. Aber solange
die Stunde noch nicht geschlagen hat, werde ich der Mutter ein beruhigendes
Lächeln schenken... Sie zittert... Ich weiß es. Sie
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spürt die Qual auf sich zukommen.
Ich weiß es. Und ihrer Natur und ihrer heiligen Liebe schaudert davor, so wie
mir vor dem Tod schaudert, weil ich ein "Lebender" bin, der sterben muß. Wehe,
wenn sie wüßte, daß in fünf Tagen... Sie würde diese Stunde nicht erleben, und
ich will sie lebend haben, um von ihren Lippen Kraft zu empfangen, wie ich von
ihrem Leib das Leben empfing. Gott will sie auf meinem Kalvarienberg, um das
Wasser der jungfräulichen Tränen mit dem Wein des göttlichen Blutes zu
vermischen und das erste Meßopfer zu feiern. Weißt du, was das Meßopfer sein
wird? Du weißt es nicht. Du kannst es nicht wissen. Es wird mein Tod, mein
ewig erneuerter Tod für das lebende oder büßende Menschengeschlecht sein.
Weine nicht, Lazarus. Sie ist stark und weint nicht. Sie hat ihr ganzes Leben
als Mutter geweint. Nun weint sie nicht mehr. Sie hat sich das Kreuz ihres
Lächelns auferlegt... Hast du gesehen, wie ihr Gesicht sich in letzter Zeit
verändert hat? Sie trägt das Kreuz ihres Lächelns, um mich zu trösten. Ich
bitte dich, meine Mutter nachzuahmen. Ich konnte mein Geheimnis nicht mehr für
mich behalten. Ich habe mich umgesehen und einen aufrichtigen und verläßlichen
Freund gesucht. Ich bin deinem treuen Blick begegnet. Ich habe gesagt: "Ich
werde Lazarus einweihen." Als du eine große Last auf dem Herzen hattest, habe
ich dein Geheimnis respektiert und es vor aller, selbst der natürlichen,
teilnehmenden Neugier geschützt. Nun bitte ich dich, mit meinem das gleiche zu
tun. Später, nach meinem Tod wirst du reden. Du wirst von diesem Gespräch
berichten, damit man erfährt, daß Jesus bewußt dem Tod entgegengegangen ist
und zu den bekannten Qualen auch noch die hinzugefügt hat, daß ihm nichts
unbekannt war, weder was die Personen noch was sein Los betraf. Man soll
erfahren, daß Jesus, als er sich noch retten konnte, dies nicht tun wollte, da
seine unendliche Liebe zu den Menschen nur danach brannte, das Opfer für sie
zu vollbringen.»
«Oh, rette dich, Meister! Rette
dich! Ich kann dir zur Flucht verhelfen. Noch heute nacht. Du bist schon
einmal nach Ägypten geflohen. Flieh auch jetzt. Komm, laß uns gehen. Nehmen
wir Maria und die Schwestern mit uns, und gehen wir. Meine Reichtümer bedeuten
mir nichts, du weißt es. Für mich, Maria und Martha bist du der einzige
Reichtum. Gehen wir.»
«Lazarus, damals bin ich
geflohen, weil meine Stunde noch nicht gekommen war. Nun ist die Stunde
gekommen, und ich bleibe.»
«Dann komme ich mit dir. Ich
lasse dich nicht allein.»
«Nein, du bleibst hier. Da es
eine Vorschrift gibt, die es erlaubt, das Lamm im eigenen Haus zu essen, wenn
man nicht weiter als die am Sabbat erlaubte Wegstrecke entfernt wohnt, wirst
du dein Lamm wie immer hier essen. Aber laß deine Schwestern mitkommen...
meiner Mutter wegen... Oh, was verbergen dir, o Märtyrer, die Rosen der
göttlichen Liebe! Den Abgrund! Den Abgrund! Und aus diesem steigen jetzt die
Flammen des
29
Hasses auf und breiten sich aus,
um dein Herz zu zerreißen! Die Schwestern, ja. Sie sind stark und rührig...
und die Mama wird gleichsam mit dem Tod ringen, während sie sich über meinen
Leichnam beugt. Johannes genügt nicht. Johannes ist die Liebe. Aber er ist
noch nicht reif. Oh, er wird zum Mann heranreifen in der Qual der nächsten
Tage. Aber die Frau braucht Frauen für ihre schrecklichen Wunden. Wirst du es
mir gewähren ?»
«Alles, alles habe ich dir immer
mit Freuden gegeben, und es hat mich nur geschmerzt, daß du so wenig verlangt
hast... !»
«Du siehst es. Von niemandem habe
ich so viel angenommen, wie von den Freunden in Bethanien. Dies hat mir der
Ungerechte mehr als einmal vorgeworfen. Aber hier, bei euch, habe ich als
Mensch so viel Trost gefunden, für alle Bitterkeit des Menschen. In Nazareth
war es Gott, der Trost fand in der einzigen Freude Gottes. Hier fand der
Mensch Trost. Und bevor ich zum Tod hinaufsteige, möchte ich dir danken,
treuer, liebevoller, hochherziger, fürsorglicher, verschwiegener, gelehrter,
diskreter und großmütiger Freund. Für alles danke ich dir. Mein Vater wird
dich belohnen ...»
«Ich habe schon alles erhalten
mit deiner Liebe und der Erlösung Marias.»
«0 nein! Viel sollst du noch
erhalten. Und du wirst es erhalten. Höre. Sei nicht so verzweifelt. Hilf mir
mit deiner Intelligenz, damit ich dir sagen kann, worum ich dich noch bitte.
Du wirst hierbleiben und warten...»
«Nein, das auf keinen Fall! Warum
Maria und Martha, und ich nicht?»
«Weil ich nicht will, daß du
verdorben wirst, wie alle Männer verdorben werden. Jerusalem wird in den
kommenden Tagen verdorben sein wie die Luft in der Umgebung eines stinkenden
Kadavers, der durch den unbedachten Fußtritt eines Vorübergehenden
auseinanderbirst, stinkend und krankmachend. Durch seine giftigen Dünste
werden auch die weniger Grausamen von Sinnen sein. Sogar meine eigenen Jünger.
Sie werden fliehen. Und wohin werden sie in ihrer Verwirrung eilen? Zu
Lazarus. Wie oft sind sie in diesen drei Jahren hierher gekommen, um Brot,
Bett, Schutz und Unterkunft und den Meister zu finden! ... Nun werden sie
wieder kommen. Wie versprengte Schafe, denen der Wolf den Hirten geraubt hat,
werden sie zu einem Schafstall flüchten. Sammle sie. Ermutige sie. Sage ihnen,
daß ich ihnen verzeihe. Ich vertraue dir meine Vergebung für sie an. Sie
werden keine Ruhe finden, weil sie geflohen sind. Sage ihnen, sie sollen nicht
in noch größere Sünde fallen, indem sie an meiner Vergebung verzweifeln.»
«Werden alle fliehen?»
«Alle, außer Johannes.»
«Meister, du wirst mich doch
nicht darum bitten, Judas aufzunehmen? Laß mich qualvoll sterben, aber
verlange dies nicht von mir. Oft hat meine Hand auf dem Schwertknauf gezittert
und war versucht, die Schande
30
der Familie auszulöschen. Ich
habe es nie getan, denn ich bin kein gewalttätiger Mensch. Ich war nur
versucht, es zu tun. Aber ich schwöre dir, wenn ich Judas wiedersehe, werde
ich ihn umbringen, wie man dem Sündenbock die Kehle durchschneidet.»
«Du wirst ihn nie mehr
wiedersehen. Ich schwöre es dir.»
«Wird er fliehen? Das macht
nichts. Ich habe gesagt: "Wenn ich ihn wiedersehe." Nun sage ich: "Wenn ich
ihn erwische, und sei es am Ende der Welt, werde ich ihn töten."»
«Das darfst du nicht wünschen.»
«Ich werde es tun.»
«Du wirst es nicht tun, denn
dort, wo er sein wird, kannst du nicht hingehen.»
«Im Synedrium? Im Heiligtum? Auch
dort werde ich ihn erreichen und ihn umbringen!»
«Er wird nicht dort sein.»
«Bei Herodes? Man wird mich
töten. Doch zuvor werde ich ihn töten.»
«Er wird bei Satan sein. Und du
wirst niemals bei Satan sein. Aber vergiß sofort diese Mordabsichten, sonst
verlasse ich dich.»
«Oh! Oh! ... Aber ... Ja,
deinetwegen... Oh, Meister! Meister! Meister!»
«Ja, dein Meister ... Du wirst
die Jünger aufnehmen, sie trösten und ihnen den Frieden wiedergeben. Ich bin
der Friede. Und auch danach... danach wirst du ihnen helfen. Bethanien wird
immer Bethanien sein, solange der Haß nicht diesen Feuerherd der Liebe
auseinanderreißt in dem Glauben, die Flammen würden sich dann verlieren.
Stattdessen werden sie sich über die Welt zerstreuen und alles entzünden. Ich
segne dich, Lazarus, für alles, was du getan hast und noch tun wirst.»
«Nichts, nichts. Du hast mich dem
Tod entrissen und willst mir nicht erlauben, dich zu verteidigen. Was habe ich
also getan?»
«Du hast mir deine Häuser
gegeben. Siehst du? Es war Bestimmung. Die erste Unterkunft in Sion, auf einem
Boden, der dein Eigentum ist. Die letzte wieder in einem deiner Häuser. Es war
bestimmt, daß ich dein Gast sein sollte. Aber vor dem Tod könntest du mich
nicht bewahren. Ich habe dich zu Beginn dieser Unterredung gefragt: "Weißt du,
wer ich bin?" Nun antworte ich: "Ich bin der Erlöser." Der Erlöser muß das
Opfer bis zum Ende vollbringen. Glaube mir. Er, der am Kreuz erhöht und den
Blicken und dem Spott der Welt ausgesetzt sein wird, wird kein Lebender sein,
sondern ein Toter. Ich bin jetzt schon tot. Getötet mehr und zuerst vom Mangel
an Liebe als von der Marter. Und noch etwas, Freund. Morgen bei Tagesanbruch
gehe ich nach Jerusalem. Und du wirst hören, daß Sion seinem sanften König,
der auf einem Eselsfüllen in die Stadt reitet, wie einem Sieger zugejubelt
hat. Laß dich von diesem Triumph nicht täuschen und glaube nicht, daß die
Weisheit, die zu dir spricht, an
31
jenem friedlichen Abend unwissend
war. Rascher als ein Stern, der am Himmel dahineilt und in unbekannten Räumen
entschwindet, wird die Gunst des Volkes sich wandeln; und fünf Abende später,
zu dieser selben Stunde, wird meine Marter mit einem Kuß der Lüge beginnen.
Und die Münder, die mir morgen ihr Hosanna zurufen, werden sich zu einem Chor
wilder Lästerungen und grausamer Verurteilungen öffnen.
Ja, du wirst nun endlich, o Stadt
Sion, o Volk Israel, das Osterlamm haben! Du wirst es an diesem bevorstehenden
Fest haben. Hier ist es. Es ist die seit Jahrhunderten vorbereitete Opfergabe.
Die Liebe hat sie geschaffen, als sie sich als Wohnstatt einen Leib ohne Makel
bereitet hatte. Und die Liebe verzehrt sie nun. Siehe, es ist das bewußte
Opferlamm. Nicht wie das Lamm, das, während der Schlächter schon das Messer
wetzt, um es zu töten, noch das Gras auf der Weide nascht oder mit seinem
rosigen Mäulchen ahnungslos an das runde Euter der Mutter stößt. Ich bin das
Lamm, das sich bewußt verabschiedet vom Leben, von der Mutter, von den
Freunden, und zum Opferpriester geht und sagt: "Hier bin ich." Ich bin die
Speise des Menschen. Satan hat einen Hunger gebracht, der nie gestillt wurde
und der nicht gestillt werden kann. Nur eine Speise kann es und stillt diesen
Hunger. Und diese Speise: hier ist sie. O Mensch, hier ist dein Brot. Hier ist
dein Wein. Verzehre dein Ostermahl, o Menschheit! Geh durch dein Meer, das
gerötet ist von den Flammen Satans. Von meinem Blute gefärbt wirst du, o
Menschengeschlecht, es durchschreiten und verschont bleiben vom höllischen
Feuer. Die Himmel öffnen schon, von meinem sehnlichen Wunsch bedrängt, die
ewigen Pforten. Seht, o Geister der Toten! Seht, o lebende Menschen! Seht, o
Seelen der zukünftigen Menschen dieser Erde! 1) Seht, ihr Engel des
Paradieses! Seht, ihr Dämonen der Hölle! Sieh, o Vater! Sieh, o Paraklet! Das
Opfer lächelt. Es weint nicht mehr...
Alles ist gesagt. Leb wohl,
Freund. Auch dich werde ich vor dem Tod nicht wiedersehen. Geben wir uns den
Abschiedskuß. Laß keine Zweifel in dir aufkommen. Sie werden dir sagen: "Er
war ein Verrückter! Er war ein Dämon! Ein Lügner! Er ist gestorben, obwohl er
gesagt hat, er sei das Leben." Ihnen, und im besonderen dir selbst, sollst du
antworten: "Er war und ist die Wahrheit und das Leben. Er ist der Sieger über
den Tod. Ich weiß es. Und er kann nicht der ewig Tote sein. Ich erwarte ihn.
Und das Öl der Lampe, die der Freund bereithält, um der zur Hochzeit des
Siegers geladenen Welt Licht zu spenden, wird noch nicht verbraucht sein, da
wird er, der Bräutigam, schon zurückkehren. Und das Licht wird nun nie mehr
erlöschen!" Glaube daran, Lazarus. Gehorche meinem Wunsch. Hörst du die
Nachtigall, wie sie singt, nachdem dein Schluchzen sie verstummen ließ? Mache
auch du es so. Nach den unvermeidlichen Tränen
---------------
1) Die seit Ewigkeiten im
Gedanken Gottes lebenden Menschen.
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über den Getöteten soll deine
Seele den siegessicheren Hymnus deines Glaubens singen. Sei gesegnet. Vom
Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist.»
Wie habe ich gelitten! Die ganze
Nacht des Donnerstags, des 1. März, bis 5 Uhr früh am Freitag. Ich habe Jesus
in einer Todesangst geschaut, die der im Ölgarten kaum nachstand, besonders,
wenn er von der Mutter und von dem Verräter sprach und seinen Widerwillen
gegen den Tod erkennen ließ. Ich habe Jesus gehorcht und dies in ein eigenes
Heft geschrieben, um die Passion ausführlicher zu schildern. Sie haben heute
morgen mein Gesicht gesehen... ein schwaches Abbild der erlittenen Qualen...
Und ich sage nichts weiter, denn es gibt unüberwindliche Schamgefühle.
648. JUDAS GEHT ZU DEN VORSTEHERN
DES SYNEDRIUMS
Judas kommt beim Landhaus des
Kaiphas an, als es bereits dunkel ist. Der Mond macht sich zum Komplizen des
Mörders und erhellt ihm den Weg. Judas muß sicher sein, hier in dem Haus vor
der Stadtmauer den anzutreffen, den er sucht, denn ich denke, er hätte sonst
wohl versucht, in die Stadt zu kommen und wäre zum Tempel gegangen.
Stattdessen geht er mit sicheren Schritten durch den Olivenhain auf dem
kleinen Hügel. Er fühlt sich sicherer als das letzte Mal, denn es ist jetzt
Nacht, und die Dunkelheit und die späte Stunde bewahren ihn vor einer
möglichen Überraschung. Die Landstraßen sind nun verlassen, nachdem sie den
ganzen Tag über von Pilgerscharen, die zum Osterfest nach Jerusalem ziehen,
belebt waren. Selbst die armen Aussätzigen sind in ihren Höhlen und vergessen
im Schlaf für einige Stunden ihr Unglück.
Nun ist Judas bei dem im
Mondlicht weiß leuchtenden Haus angelangt. Er klopft an. Drei Schläge, ein
Schlag, drei Schläge, zwei Schläge... Sogar das übliche Klopfzeichen kann er
bestens.
Und es muß ein unfehlbares Signal
sein, denn das Tor öffnet sich einen Spalt, ohne daß der Pförtner erst durch
den kleinen Spion in der Tür geschaut hätte.
Judas schlüpft hinein und fragt
den Pförtner, der sich verbeugt: «Sind alle versammelt?»
«Ja, Judas von Kerioth.
Vollzählig, würde ich sagen.»
«Führe mich zu ihnen. Ich habe
Wichtiges zu berichten. Schnell!»
Der Mann verschließt die Tür mit
allen Riegeln, geht ihm durch den halbdunklen Gang voraus und bleibt vor einer
schweren Tür stehen, an die er klopft. Das Stimmengewirr in dem
abgeschlossenen Raum verstummt. Dafür hört man das Geräusch des Schlosses und
das Knarren der Tür, die sich öffnet. Ein Lichtkegel fällt in den dunklen
Korridor.
«Du bist es? Komm herein!» sagt
der Mann, der die Tür geöffnet hat und den ich nicht kenne.
33
Judas betritt den Saal, während
jener, der geöffnet hat, die Tür wieder mit dem Schlüssel verschließt.
Staunen, oder besser, eine
gewisse Erregung macht sich im Saal bemerkbar, als Judas erscheint. Doch sie
begrüßen ihn im Chor: «Der Friede sei mit dir, Judas des Simon.»
«Der Friede sei mit euch,
Mitglieder des heiligen Synedriums», grüßt Judas.
«Tritt vor. Was willst du?»
fragen sie ihn.
«Berichten, euch von Christus
berichten. Es kann unmöglich so weitergehen. Ich kann euch nicht mehr helfen,
wenn ihr euch nicht entschließt, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Der
Mann schöpft nun Verdacht.»
«Hast du, Dummkopf, dich
verraten?» unterbrechen sie ihn.
«Nein, aber ihr Dummköpfe, ihr
habt in eurer törichten Eile falsche Schritte getan. Ihr wußtet doch sehr
wohl, daß ich euch dienen würde. Ihr habt mir nicht getraut.»
«Du hast ein schwaches
Gedächtnis, Judas des Simon! Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie du uns
das letzte Mal verlassen hast? Wer hätte noch glauben können, daß du uns treu
bleiben würdest, nachdem du auf diese Art erklärt hattest, daß du ihn nicht
verraten könntest?» sagt Elchias ironisch, mehr Schlange denn je.
«Glaubt ihr, es falle leicht,
einen Freund zu betrügen, den Einzigen, der mich wahrhaft liebt, einen
Unschuldigen? Glaubt ihr, es sei leicht, zum Verbrecher zu werden?» Judas ist
schon erregt.
Sie versuchen, ihn zu beruhigen
und umschmeicheln ihn. Sie verführen ihn, oder versuchen es wenigstens, indem
sie bemerken, daß es sich bei ihm nicht um ein Verbrechen handelt, sondern «um
ein heiliges Werk für das Vaterland, das er vor Repressalien der Herrschenden
bewahrt; denn diese lassen schon Anzeichen der Ungeduld erkennen über die
ständigen Unruhen und Spaltungen der Parteien und der Volksmassen. Ein
heiliges Werk auch für die Menschheit, wenn er tatsächlich überzeugt ist von
der göttlichen Natur des Messias und seiner geistigen Mission.»
«Wenn es wahr ist, was er sagt –
was wir aber unmöglich glauben können – wirst du dann nicht an der Erlösung
mitgewirkt haben? Dein Name wird in allen Jahrhunderten mit seinem Namen
verbunden sein, und das Vaterland wird dich zu seinen Helden zählen und dich
mit höchsten Ämtern ehren. Ein Sitz unter uns für dich ist schon bereit. Du
wirst aufsteigen, Judas. Du wirst Israel Gesetze geben. Oh, wir werden nicht
vergessen, was du zum Wohl des heiligen Tempels, des heiligen Priestertums,
zur Verteidigung des allerheiligsten Gesetzes und zum Wohl der ganzen Nation
getan hast! Hilf uns nur, dann, das schwöre ich dir im Namen meines mächtigen
Vaters und des Kaiphas, der das Ephod trägt, wirst du der größte Mann in
Israel sein. Größer als die Tetrarchen, größer
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selbst als mein Vater, der nun
sein Amt als Hoherpriester abgegeben hat. Wie ein König, wie ein Prophet wirst
du bedient und angehört werden. Wenn aber Jesus von Nazareth nichts als ein
falscher Messias ist, wenn er auch nicht des Todes schuldig wäre, da seine
Taten nicht die eines Räubers, sondern eines Geisteskranken sind, dann
erinnern wir dich an die erleuchteten Worte des Hohenpriesters Kaiphas – du
weißt, daß die Rede dessen, der das Ephod und das Rationale trägt, von Gott
eingegeben ist, und daß er das Gute und das zum Guten Notwendige prophezeit.
Kaiphas, erinnerst du dich? Kaiphas hat gesagt: "Es ist besser, daß ein Mensch
für das Volk stirbt, als daß das ganze Volk zugrunde geht." Dies ist ein
prophetisches Wort.»
«Wahrlich, das ist es. Der
Allerhöchste hat durch den Mund des Hohenpriesters gesprochen. Ihm muß
gehorcht werden!» rufen sie theatralisch im Chor und gleichen dabei Automaten,
die vorgegebene Gesten machen müssen – diese ekelhaften Marionetten, die
Mitglieder des Hohen Rates des Synedriums sind.
Judas ist beeindruckt,
verführt... Aber ein klein wenig gesunder Menschenverstand oder Güte ist noch
in ihm und läßt ihn die fatalen Worte nicht aussprechen.
Sie umringen ihn mit
Ehrerbietung, mit geheuchelter Liebenswürdigkeit und drängen: «Glaubst du uns
nicht? Sieh, wir sind die Häupter der einundzwanzig priesterlichen Familien,
die Ältesten des Volkes, die Schriftgelehrten, die größten Pharisäer Israels,
die weisen Rabbis und die Vertreter des Tempels. Die Elite Israels ist hier,
umgibt dich. Sie ist bereit, dich zu beglückwünschen und sagt einstimmig: "Tu
es, denn es ist eine heilige Tat."»
«Und wo ist Gamaliel? Und Joseph
und Nikodemus, wo sind sie? Und wo ist Eleazar, der Freund des Joseph, und wo
Johannes von Gaasch? Ich sehe sie nicht.»
«Gamaliel tut große Buße,
Johannes ist bei seiner schwangeren Frau, der es heute abend nicht gut geht.
Von Eleazar wissen wir nicht, warum er nicht gekommen ist. Aber ein Unwohlsein
kann jeden unversehens befallen, meinst du nicht auch? Was Joseph und
Nikodemus betrifft... Nun, wir haben diese beiden nicht von der heutigen
geheimen Sitzung benachrichtigt, dir zuliebe, um deine Ehre nicht aufs Spiel
zu setzen... Denn sollte die Sache unglücklicherweise mißlingen, so wird der
Meister wenigstens nichts erfahren... Wir schützen deinen guten Ruf. Wir
lieben dich, Judas, neuer Makkabäer und Retter des Vaterlandes.»
«Der Makkabäer hat einen guten
Kampf gekämpft. Ich begehe... einen Verrat!»
«Betrachte nicht die Einzelheiten
der Tat, sondern die Gerechtigkeit des Zweckes. Sprich du, o Sadok, goldener
Schriftgelehrter. Aus deinem Mund fließen goldene Worte. Wenn Gamaliel gelehrt
ist, so bist du weise,
35
denn mit deinen Lippen spricht
die Weisheit Gottes. Sprich du zu ihm, da er noch zögert.»
Und die gute Haut von Sadok tritt
vor und mit ihm auch der altersschwache Chananias. Ein zum Skelett
abgemagerter, sterbender Fuchs an der Seite eines heimtückischen, kräftigen,
reißenden Schakals.
«Hör zu, Mann Gottes!» beginnt
Sadok pompös und nimmt die Haltung eines erleuchteten Redners ein, streckt den
rechten Arm wie ein Cicero vor sich aus und rafft mit der Linken den ganzen
Wust von Falten seines Schriftgelehrtengewandes. Dann aber hebt er auch den
linken Arm, so daß das ganze Kleidungsmonument auseinanderfällt und in
Unordnung gerät; und so, Gesicht und Arme zur Decke des Raumes erhoben,
donnert er: «Ich sage es dir! Ich sage es dir in Gegenwart des Allerhöchsten!»
«Maran Atha!» antworten alle und
verneigen sich, als ob ein göttlicher Windstoß sie dazu zwingen würde; dann
richten sie sich wieder mit über der Brust gekreuzten Armen auf.
«Ich sage es dir. Es steht in den
Seiten unserer Geschichte und unseres Geschickes geschrieben! Es steht in den
Zeichen und Symbolen der zurückliegenden Jahrhunderte! Es steht in dem Ritus,
der kein Ende gehabt hat seit der Schicksalsnacht der Ägypter! Es steht in der
Gestalt des Isaak! Es steht in der Gestalt des Abel! Und was geschrieben
steht, soll geschehen.»
«Maran Atha!» sagen die anderen
in einem tiefen, unheimlichen, suggestiven Chor, mit den Gebärden von zuvor
und bizarren Lichtspielen auf den Gesichtern. Denn die Lampen an den beiden
Enden des Raumes mit ihren blaßvioletten Glimmerschirmen verbreiten ein
gespenstisches Licht. Wirklich, diese Versammlung fast ausschließlich weiß
gekleideter Männer mit den blassen oder olivfarbenen Gesichtern ihrer Rasse,
die durch die diffuse Beleuchtung noch blasser und grüner erscheinen, läßt
mich an eine Versammlung von Gespenstern denken.
«Das Wort Gottes ist auf die
Lippen des Propheten herabgekommen, um diesen Beschluß zu bekräftigen. Er muß
sterben! Es steht geschrieben!»
«So steht es geschrieben! Maran
Atha!»
«Er muß sterben, sein Schicksal
ist besiegelt!»
«Er muß sterben, Maran Atha!»
«Bis in die kleinsten
Einzelheiten ist sein unabwendbares Schicksal beschrieben. Und das Schicksal
ändert man nicht.»
«Maran Atha!»
«Sogar der symbolische Preis, der
dem bezahlt wird, der sich zum Werkzeug Gottes macht, um die Vorhersagen zu
erfüllen, ist bestimmt.»
«Er ist bestimmt! Maran Atha!»
«Ob Erlöser oder falscher
Prophet, er muß sterben!»
36
«Er muß sterben! Maran Atha»
«Die Stunde ist gekommen! Jahwe
will es! Ich höre seine Stimme! Sie ruft: "Es muß sich erfüllen!"»
«Der Allerhöchste hat gesprochen!
Es muß sich erfüllen. Es muß sich erfüllen! Maran Atha!»
«Der Himmel möge dich stärken,
wie er Jael und Judith stärkte, die Frauen waren und es verstanden, Heldinnen
zu sein; wie er Jephtha stärkte, den Vater, der dem Vaterland seine Tochter
opferte; wie er David stärkte im Kampf gegen Goliath, so daß er die Tat
vollbringen konnte, die den Namen Israels auf ewig in das Gedächtnis der
Völker einschreiben wird.»
«Der Himmel möge dir Kraft geben,
Maran Atha!»
«Werde ein Sieger!»
«Werde Sieger! Maran Atha!»
Die heisere Greisenstimme des
Chananias erhebt sich: «Wer zaudert bei der Ausführung des heiligen Befehls,
ist zur Entehrung und zum Tod verurteilt.»
«Er ist verurteilt. Maran Atha!»
«Wenn du die Stimme des Herrn,
deines Gottes, nicht hören willst und seinen Befehl und was er dir durch
unseren Mund gebietet nicht ausführst, sollen alle Verwünschungen über dich
kommen!»
«Alle Verwünschungen! Maran Atha!»
«Es schlage dich der Herr mit
allen mosaischen Verwünschungen und liefere dich den Heiden aus! Maran Atha!»
«Er schlage dich und liefere dich
aus. Maran Atha!»
Ein tödliches Schweigen folgt
dieser beeindruckenden Szene... Alles verharrt in furchterregender
Unbeweglichkeit.
Endlich spricht Judas, und es
fällt mir schwer, ihn wiederzuerkennen, so sehr hat er sich verändert: «Ja,
ich werde es tun. Ich muß es tun. Und ich werde es tun. Der letzte Teil der
mosaischen Verwünschungen trifft mich schon, und ich muß mich davon befreien,
denn zu lange habe ich gewartet. Und ich verliere den Verstand, da ich weder
Rast noch Ruhe finde. Mein Herz ist voller Angst, meine Augen sind matt, meine
Seele versinkt in Traurigkeit. Ich zittere davor, entdeckt zu werden und von
ihm für mein doppeltes Spiel vernichtet zu werden; denn ich weiß nicht, ich
weiß nicht, inwieweit er meine Gedanken kennt. Ich sehe mein Leben an einem
Faden hängen, und vom Morgen bis zum Abend bin ich nur von dem einen
verzweifelten Wunsch erfüllt: daß diese Stunde vorübergehe, wegen des
Schreckens, der mein Herz verwirrt. Wegen der schrecklichen Tat, die ich
vollbringen muß. Oh, beschleunigt diese Stunde! Befreit mich von diesen
Ängsten. Alles soll sich erfüllen. Sofort! Jetzt! Und ich werde frei sein!
Gehen wir!»
Die Stimme des Judas ist beim
Sprechen immer fester und immer lauter geworden. Die Gesten, zuerst
automatisch und unsicher wie die eines
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Schlafwandlers, sind nun frei und
spontan. Er reckt sich zu voller Größe, satanisch schön, und schreit: «Die
Bande einer unsinnigen Furcht sollen fallen! Ich habe mich endlich von der
ängstlichen Untertänigkeit befreit. Christus! Ich fürchte dich nicht mehr und
liefere dich deinen Feinden aus! Gehen wir!» Es ist der Schrei eines
sieghaften Dämons, und Judas geht tatsächlich entschlossen auf die Tür zu.
Aber man hält ihn zurück:
«Langsam! Antworte uns: Wo ist Jesus von Nazareth jetzt?»
«Im Haus des Lazarus. In
Bethanien.»
«In dieses Haus, das voll ist von
treuen Dienern, können wir nicht eindringen. Außerdem ist es das Haus eines
Günstlings der Römer. Wir würden uns mit Sicherheit Unannehmlichkeiten
einhandeln.»
«Im Morgengrauen gehen wir in die
Stadt. Stellt Wachen an die Straße von Bethphage, organisiert einen Tumult und
laßt ihn gefangennehmen!»
«Woher weißt du, daß er diese
Straße nimmt? Er könnte auch auf der anderen kommen...»
«Nein, er hat zu den Jüngern
gesagt, daß er auf dieser in die Stadt kommt, durch das Tor von Ephraim. Sie
sollen ihn bei En Rogel erwarten. Wenn ihr ihn vorher gefangennehmt...»
«Wir können nicht. Wir müßten mit
ihm an den Wachen vorbei in die Stadt gehen, und außerdem ist jede Straße, die
zu den Toren führt, und jede Straße in der Stadt von früh bis abends voller
Menschen. Es würde einen Tumult geben. Das darf nicht geschehen.»
«Er wird zum Tempel hinaufgehen.
Ruft ihn in einen Saal, um ihn zu befragen. Ruft ihn im Namen des
Hohenpriesters. Er wird kommen, denn er achtet euch mehr als sein eigenes
Leben. Wenn er dann mit euch allein ist... wird es euch nicht schwerfallen,
ihn an einen sicheren Ort zu bringen und zu gegebener Zeit zu verurteilen.»
«Es würde trotzdem einen Tumult
geben. Du solltest bemerkt haben, daß die Leute fanatisch an ihm hängen. Und
nicht nur das Volk, auch die Großen und die Hoffnung Israels. Gamaliel
verliert seine Schüler, Jonathan ben Uziel und andere von uns ebenfalls. Alle
lassen sich von ihm verführen und verlassen uns. Selbst die Heiden verehren
ihn oder fürchten ihn, was einer Verehrung gleichkommt. Und sie sind bereit zu
revoltieren, wenn wir ihm Gewalt antun. Unter anderem sind einige der Räuber,
die wir angeworben haben, damit sie als falsche Jünger auftreten und Streit
anzetteln, gefangengenommen worden. Sie haben gesprochen in der Hoffnung auf
Milderung der Strafe. Und der Prätor weiß ... Die ganze Welt läuft ihm nach,
während wir nichts zustande bringen ... Aber wir müssen klug vorgehen, damit
das Volk nichts merkt.»
«Ja, so müssen wir es machen.
Auch Annas hat es uns empfohlen. Er sagt: "Daß ja nichts während des Festes
passiert und kein Tumult unter dem fanatischen Volk entsteht!" Dies hat er
befohlen, und er hat auch
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befohlen, daß man ihm im Tempel
und auch sonst respektvoll begegnet und ihn nicht belästigt, um ihn so zu
täuschen.»
«Aber was wollt ihr dann tun? Ich
war heute Nacht bereit, doch ihr zögert...» sagt Judas.
«Nun, du müßtest uns zu ihm
führen, wenn er allein ist. Du kennst seine Gewohnheiten. Du hast uns
geschrieben, daß er dich mehr als die anderen in seiner Nähe behält. Daher
mußt du wissen, was er vorhat. Wir werden immer bereit sein. Wenn du Ort und
Zeit für günstig hältst, dann komm, und wir werden eingreifen.»
«Abgemacht. Und was bekomme ich
dafür?» Judas redet nun ganz kalt, als handle es sich um irgendein
alltägliches Geschäft.
«Das, was die Propheten gesagt
haben, um den erleuchteten Worten treu zu bleiben: dreißig Denare ...»
«Dreißig Denare für das Leben
eines Menschen, und dieses Menschen?! Das ist der Preis eines gewöhnlichen
Lammes während dieser Feiertage! Seid ihr von Sinnen? Nicht, daß ich Geld
brauche. Ich habe genug. Glaubt daher nicht, daß ihr mich überzeugt, weil ich
geldgierig bin. Aber es ist zu wenig für meinen Schmerz, den verraten zu
müssen, der mich immer geliebt hat.»
«Wir haben dir doch gesagt, was
wir für dich tun werden. Ehre und Ruhm sollst du haben. Also das, was du von
ihm erwartet und nicht erhalten hast. Wir werden deine Enttäuschung
wiedergutmachen. Aber der Preis ist von den Propheten festgesetzt. Oh, es ist
nur eine Formalität, ein Symbol, sonst nichts. Das andere kommt danach ...»
«Und das Geld, wann bekomme ich
das?»
«In dem Augenblick, da du uns
sagst: "Nun kommt". Nicht früher. Niemand bezahlt, bevor er die Ware in Händen
hat. Scheint dir das vielleicht nicht richtig?»
«Es ist richtig. Aber
verdreifacht wenigstens die Summe...»
«Nein, so haben es die Propheten
gesagt und so muß es geschehen! Oh, wir wissen den Propheten zu gehorchen! Wir
werden kein Jota übersehen von dem, was sie über ihn geschrieben haben. Ha,
ha, ha! Wir halten uns an das eingegebene Wort! Ha, ha, ha!» lacht dieses
abstoßende Skelett Chananias. Viele stimmen in das unheimliche, falsche, tiefe
Lachen ein. Ein wahrhaft dämonisches Gelächter, denn die Dämonen können nur
hohnlachen. Das Lachen aber kommt aus einem frohen, liebenden Herzen, das
Hohnlachen dagegen aus einem verstörten Herzen voller Mißgunst.
«Es ist alles besprochen. Du
kannst gehen. Wir erwarten den Sonnenaufgang, um auf verschiedenen Wegen in
die Stadt zu gehen. Leb wohl. Der Friede sei mit dir, verlorenes Schaf, das du
in den Schoß Abrahams zurückkehrst. Der Friede sei mit dir! Der Friede sei mit
dir! Der Dank Israels ist dir gewiß! Du kannst auf uns zählen! Dein Wunsch ist
uns
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Befehl. Gott sei mit dir, wie er
immer mit allen seinen treuen Dienern gewesen ist. Aller Segen komme über
dich!»
Sie begleiten ihn unter
Umarmungen und Liebesbezeugungen bis zur Tür ... schauen ihm nach, während er
im halbdunklen Gang verschwindet ... und hören das Geräusch der Riegel an der
Tür, die sich öffnet und schließt...
Dann kehren sie jubelnd an ihre
Plätze zurück.
Nur zwei oder drei Stimmen werden
laut, die der weniger dämonischen: «Und nun? Was werden wir mit Judas des
Simon anfangen? Wir wissen genau, daß wir ihm nicht geben können, was wir ihm
versprochen haben, außer diesen armseligen dreißig Silberlingen! ... Was wird
er sagen, wenn er sich von uns betrogen sieht? Werden wir nicht einen noch
größeren Schaden angerichtet haben? Wird er nicht umhergehen und dem Volk
sagen, was wir getan haben? Wir wissen doch, daß er ein wankelmütiger Mensch
ist.»
«Ihr seid recht naiv und töricht,
so zu denken und euch solche Sorgen zu machen! Es ist schon beschlossen, was
wir mit Judas tun werden. Beschlossen seit dem letzten Mal. Habt ihr es
vergessen? Wir werden unseren Beschluß nicht ändern. Wenn die ganze Geschichte
mit dem Christus zu Ende ist, wird Judas sterben. Auch dies steht
geschrieben.»
«Aber wenn er vorher spricht?»
«Zu wem? Zu den Jüngern oder zum
Volk, um gesteinigt zu werden? Er wird nichts sagen. Das Entsetzen über seine
Tat wird ihm den Mund stopfen.»
«Aber es könnte ihn in der
Zukunft reuen, er könnte schwere Gewissensbisse bekommen und den Kopf
verlieren...»
«Er wird keine Zeit dazu haben.
Wir werden schon vorsorgen. Alles zu seiner Zeit. Zuerst der Nazarener, und
dann der, der ihn verraten hat...»sagt langsam und furchtbar Elchias.
«Ja, und gebt acht! Kein Wort zu
den Abwesenden. Zu viel wissen sie schon von unserem Plan. Ich traue Joseph
und Nikodemus nicht, und auch den anderen nur wenig.»
«Zweifelst du an Gamaliel?»
«Er meidet uns schon seit
Monaten. Ohne ausdrücklichen Befehl des Hohenpriesters wird er an unseren
Sitzungen nicht teilnehmen. Er sagt, daß er mit Hilfe seines Sohnes an seinem
Werk schreibt. Aber ich spreche von Eleazar und Johannes.»
«Oh, sie haben uns noch nie
widersprochen», sagt rasch ein Synedrist, den ich schon öfters mit Joseph von
Arimathäa gesehen habe, an dessen Namen ich mich jedoch nicht erinnern kann.
«Eben! Sie haben uns sogar zu
wenig widersprochen. Ha, ha, ha! Und wir werden auf sie aufpassen müssen!
Viele Schlangen haben sich im Synedrium eingenistet, glaube ich... Ha, ha, ha!
Aber wir werden sie
40
ausheben... Ha, ha, ha!» sagt
Chananias und geht gebeugt und zittrig, auf seinen Stock gestützt, zu den
niedrigen breiten, mit schweren Teppichen bedeckten Sitzen an den Wänden des
Saals, um sich einen bequemen Platz zu suchen. Zufrieden läßt er sich nieder
und schläft auch bald, mit offenem Mund – ein häßlicher, böser Alter.
Die anderen betrachten ihn. Und
Doras, der Sohn des Doras, sagt: «Er hat die Genugtuung, diesen Tag erleben zu
dürfen. Mein Vater hat ihn ersehnt, aber er hat ihn nicht mehr erlebt. Ich
werde jedoch seinen Geist im Herzen tragen, damit er dabei ist am Tag der
Rache am Nazarener und seine Freude hat...»
«Vergeßt nicht, daß wir
abwechslungsweise, und immer zu mehreren, ununterbrochen im Tempel sein
müssen.»
«Wir werden es sein.»
«Wir müssen Anweisung geben, daß
Judas des Simon jederzeit zum Hohenpriester geführt wird.»
«Wir werden es tun.» «Und nun
wollen wir unser Herz vorbereiten auf die letzte Aufgabe.» «Es ist schon
bereit! Es ist schon bereit!»«Mit Schlauheit.» «Mit Schlauheit.» «Mit
Raffiniertheit.» «Mit Raffiniertheit.»«Um jeden Verdacht zu zerstreuen.»«Um
jedes Herz zu verführen.»
«Was er auch sagt oder tut, wir
reagieren nicht. Wenn die Stunde gekommen ist, werden wir uns für alles auf
einmal rächen.»
«Das werden wir tun. Und es wird
eine furchtbare Rache sein.» «Eine vollkommene!»«Eine entsetzliche!»
Sie setzen sich und versuchen
sich auszuruhen in Erwartung des Morgens.
649. VON BETHANIEN NACH JERUSALEM
Jesus geht durch die blühenden
Obstgärten und Olivenhaine. Selbst die silbernen Blättchen der Ölbäume
gleichen Blüten mit ihren Tauperlen, die unter den ersten Strahlen der
Morgenröte und sanft gewiegt von einem leichten duftenden Wind überall
aufblitzen. Jeder Ast ist eine Goldschmiedearbeit, und das Auge betrachtet
bewundernd seine Schönheit. Die Mandelbäume, schon ganz mit Grün bedeckt,
erheben sich über die Masse der anderen weißen und rosaroten Obstbäume, und
unten zeigen
41
die Reben die Ansätze ihrer
ersten zarten Blättchen, so glänzend und seidig, daß sie hauchfeinen
Smaragdschuppen oder Stückchen kostbarer Seide gleichen. Darüber wölbt sich
ein Himmel von tiefem, makellosem, friedvollem und feierlichem Türkis. Überall
Vogelgezwitscher und Blumendüfte. Ein frisches Lüftchen erquickt und erfreut.
Es ist wahrlich die Fröhlichkeit des April, die aus allem lacht.
Jesus ist von seinen Aposteln
umgeben, allen zwölfen, und spricht: «Ich habe die Frauen vorausgeschickt,
denn ich möchte mit euch allein reden. In der ersten Zeit mit euch habe ich
denen, die damals bei mir waren, gesagt: "Betrübt die Mutter nicht durch
Berichte über böse Unternehmungen, die gegen den Sohn gerichtet sind." Es
schienen so schlimme Unternehmungen zu sein... Ihr drei – Johannes, Simon und
Judas von Kerioth – ihr seid Zeugen dieser Dinge gewesen, die den Anfang einer
Kette bildeten, an der der Menschensohn zum Tod geführt werden wird; und ihr
könnt nun sehen, daß es herabrieselnde Sandkörner waren im Vergleich zu dem
Felsblock, den Felsblöcken, die man heute auf mich wirft. Aber damals wart
ihr, war ich, war auch die Mutter nicht vorbereitet auf die menschliche
Bosheit. Weder im Guten noch im Bösen erreicht der Mensch ganz plötzlich den
Gipfel. Er steigt stufenweise auf oder ab. So ist es auch beim Schmerz. Ihr
seid gut, ihr habt im Guten Fortschritte gemacht und könnt nun, ohne Anstoß
von früher daran zu nehmen, feststellen, bis zu welchem Grad der Verderbtheit
ein Mensch absinken kann, der sich mit Satan verbündet. Ebenso können wir, ich
und die Mutter, nun den ganzen Schmerz ertragen, den uns die Menschen zufügen,
ohne daran zu sterben. Wir haben unsere Seelen abgehärtet. Alle. Im Guten, im
Bösen oder im Leiden. Und doch haben wir den Gipfel noch nicht erreicht... Wir
haben den Gipfel noch nicht erreicht. Oh, wenn ihr wüßtet, wie hoch der Gipfel
des Guten, des Bösen und des Schmerzes ist! Ich wiederhole euch nun die Worte
von damals. Sagt der Mutter nichts von dem, was der Menschensohn euch nun
sagen wird. Es würde sie zu sehr schmerzen. Einer, der getötet werden soll,
trinkt den barmherzigen betäubenden Trank, um die Stunde des Leidens ohne
beständiges Zittern und Beben abwarten zu können. Euer Schweigen wird der
barmherzige Trank für sie, die Mutter des Erlösers, sein! Nun möchte ich,
damit euch nichts verborgen bleibt, den Sinn der Prophezeiungen erklären. Und
ich bitte euch, viel, sehr viel bei mir zu sein. Tagsüber werde ich allen
gehören. In der Nacht bitte ich euch, bei mir zu bleiben, denn ich möchte bei
euch sein. Ich habe das Bedürfnis, nicht allein zu sein...»
Jesus ist tieftraurig. Die
Apostel sehen es und sind betrübt. Sie drängen sich um ihn. Auch Judas
versteht es, sich an Jesus heranzumachen, als ob er der liebevollste der
Jünger wäre.
Jesus liebkost sie und fährt
fort: «Ich möchte in dieser Stunde, die mir noch gegeben ist, eures Wissen
über den Christus vervollkommnen. Zu
42
Beginn habe ich Johannes, Simon
und Judas die Wahrheit der Prophezeiungen über meine Geburt gezeigt. Die
Prophezeiungen haben mich von meinem Aufgang bis zu meinem Untergang so gut
dargestellt, wie der beste Maler es nicht fertiggebracht hätte. Gerade der
Morgen und der Abend meines Lebens sind die zwei von den Propheten am besten
beschriebenen Phasen. Nun soll der vom Himmel herabgekommene Christus, der
Gerechte, den die Wolken vom Himmel regnen ließen, das edle Reis, getötet
werden, wie eine Zeder vom Blitz gespalten wird. Sprechen wir also von seinem
Tod. Seufzt nicht und schüttelt nicht den Kopf. Murrt nicht in euren Herzen
und verflucht die Menschen nicht. Es hat keinen Wert. Wir gehen nach Jerusalem
hinauf. Das Passahfest ist nun nahe.
"Dieser Monat soll euch der erste
Monat des Jahres sein." Dieser Monat wird für die Welt der Beginn einer neuen
Zeit sein, die niemals aufhören wird. Vergeblich wird der Mensch von Zeit zu
Zeit versuchen, eine neue Zeit einzuführen. Jene, die eine neue Zeit einführen
und ihr den Namen ihres Idols, ihrer selbst, geben wollen, werden geschlagen
und getötet werden. Es ist nur ein Gott im Himmel und ein Messias auf Erden:
der Sohn Gottes, Jesus von Nazareth. Da er sich ganz gibt, kann er alles
verlangen, und er drückt sein königliches Siegel nicht dem auf, was Fleisch
und Schmutz ist, sondern dem, was Zeit und Geist ist.
"Am zehnten Tag dieses Monats
soll jeder ein Lamm für jede Familie und für jedes Haus nehmen. Wenn aber eine
Familie zu klein ist für ein ganzes Tier, so nehme er eines zusammen mit
seinem nächsten Nachbarn, um das ganze Lamm verzehren zu können." Denn das
Opfer und die Hostie müssen vollständig verzehrt werden. Es darf kein Rest
übrigbleiben. Es wird nichts übrigbleiben. Zu viele sind es, die sich an dem
Lamm sättigen werden. Eine unzählbare Schar für ein Gastmahl ohne Ende. Und es
braucht kein Feuer, um das Übriggebliebene zu verbrennen, denn es wird nichts
übrigbleiben. Die Teile, die dem Haß angeboten und von ihm verschmäht werden,
wird das Feuer des Opfers, seine Liebe, verzehren. Ich liebe euch, ihr Männer.
Euch zwölf, meine Freunde, die ich selbst erwählt habe; euch, in denen die
zwölf Stämme Israels vertreten sind und die dreizehn Adern der Menschheit.
Alles habe ich in euch versammelt, und alles sehe ich in euch... Alles.»
«Aber unter den Adern des Leibes
Adams ist auch die des Kain. Keiner von uns hat die Hand gegen einen seiner
Gefährten erhoben. Wo ist also Abel?» fragt Iskariot.
«Du sagst es. Unter den Adern des
Leibes Adams ist auch die des Kain. Und der Abel bin ich, der sanfte Abel, der
Hirte der Herden, der dem Herrn wohlgefällig war, da er ihm seine Erstlinge
und alles, was fehlerlos war, opferte, als erstes sich selbst. Ich liebe euch,
o Menschen. Auch wenn ihr mich nicht liebt, ich liebe euch. Die Liebe
beschleunigt und vollendet das Werk der Opfernden.
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"Das Lamm soll fehlerlos,
männlich und einjährig sein." Für das Lamm Gottes existiert die Zeit nicht. Es
ist. Es ist am letzten Tag wie am ersten Tag dieser Welt. Er, der ist wie der
Vater, kennt in seiner göttlichen Natur kein Altern. Nur ein Altern, eine
Müdigkeit kennt er: die Enttäuschung, für allzu viele vergebens gekommen zu
sein. Wenn ihr wißt, wie man mich getötet hat – und die Augen, die ihren Herrn
in einen von Wunden bedeckten Aussätzigen verwandelt sehen werden, glänzen nun
naß an meiner Seite und sehen diese lachenden Hügel nicht mehr, da die Tränen
ihren Blick trüben – dann sagt: "Nicht daran ist er gestorben, sondern weil er
von denen, die ihm die Liebsten waren, verkannt und von zu vielen Menschen
zurückgewiesen wurde." Aber wenn auch der Sohn Gottes kein Alter kennt und
sich darin vom Opferlamm unterscheidet, so ist er ihm doch gleich, da er
makellos und männlich und so dem Herrn heilig ist. Ja, vergeblich werden die
Henker, jene, die mich mit Waffen, durch ihren Willen oder durch Verrat töten,
sich zu entschuldigen versuchen, indem sie sagen: "Er war schuldig." Keiner,
der aufrichtig und ehrlich ist, kann mich der Sünde beschuldigen. Könnt ihr
es?
Wir stehen dem Tod gegenüber. Ich
stehe ihm gegenüber. Und auch andere. Wer? Du willst wissen, wer, Petrus?
Alle. Der Tod rückt näher, Stunde um Stunde, und rafft jene dahin, die es am
wenigsten erwarten. Aber auch die anderen, die noch lange zu leben haben,
rücken mit jeder Stunde dem Tod näher; denn die Zeit ist nur ein Augenblick im
Vergleich zur Ewigkeit. Und in der Todesstunde war auch das längste Leben nur
ein Hauch. Alle Handlungen so vieler Jahrzehnte, von frühester Kindheit an,
kehren wieder und sagen: "Siehe: gestern hast du dies getan!" Gestern! Beim
Sterben ist alles gestern geschehen. Und Ehren und Gold, nach denen der Mensch
strebte, sind nur Staub! Und die Frucht, nach der er gierte, hat jeden
Geschmack verloren! Die Frau? Die Börse? Die Macht? Die Wissenschaft? Was
bleibt? Nichts! Nur das Gewissen und das Gericht Gottes, vor dem das Gewissen
ohne menschliche Protektion und irdischen Überfluß erscheinen muß, einzig mit
seinen Werken beladen.
"Von dem Blut aber sollen sie
nehmen und es an die beiden Türpfosten und an die Oberschwelle streichen, und
der Engel wird beim Vorübergehen die Häuser verschonen, an denen das Zeichen
des Blutes ist." Nehmt mein Blut. Bestreicht damit nicht die toten Steine,
sondern das tote Herz. Dies ist die neue Beschneidung. Ich lasse mich für die
ganze Welt beschneiden. Und ich opfere nicht einen überflüssigen Teil, sondern
gebe meine herrliche, gesunde, reine Männlichkeit dahin, opfere sie
vollständig, und aus den verwundeten Gliedern, den geöffneten Adern nehme ich
mein Blut und zeichne um die Menschheit rettende Ringe, Bande ewiger
Vermählung mit dem Gott, der im Himmel ist, mit dem Vater, der wartet. Und ich
sage: "Siehe, nun kannst du sie nicht mehr abweisen, denn du würdest dein
eigenes Blut abweisen."
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"Und Moses sagte: '... Nehmt ein
Ysopbüschel, taucht es in das Blut und bestreicht damit die Türpfosten .... ..
Genügt das Blut also nicht? Nein, es genügt nicht. Zu meinem Blut müßt ihr
eure Reue hinzufügen. Ohne die bittere und heilsame Reue würde ich vergebens
für euch gestorben sein.
Dies ist das erste Wort, das in
der Heiligen Schrift vom erlösenden Lamm spricht. Aber das Buch ist voll
solcher Worte. So wie bei jedem neuen Sonnenaufgang die Blüten an diesen
Zweigen sich vermehren, ebenso vermehren sich mit jedem vergangenen und neuen
Jahr die Hinweise auf den Erlöser, je näher wir der Zeit der Erlösung kommen.
Und nun sage ich euch mit
Zacharias, euch anstelle von Jerusalem: "Siehe, dein König kommt zu dir,
sanftmütig und reitend auf einer Eselin und auf einem Füllen. Er ist arm."
Aber er wird die Mächtigen, die den Menschen unterdrücken, vernichten. Er ist
sanftmütig, und doch wird sein zum Segen erhobener Arm den Dämon und den Tod
besiegen. "Er wird den Frieden verkünden, denn er ist der Friedensfürst." Er
wird, obwohl er an das Kreuz genagelt ist, sein Reich von Meer zu Meer
ausdehnen. "Er wird nicht schreien und nicht lärmen. Das geknickte Rohr bricht
er nicht ab, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; den, der nicht
stark ist, sondern schwach, den, der allen Tadel verdient; er wird das Recht
auf Erden begründen in der Wahrheit." Dein Messias, o Stadt Sion, dein
Messias, o Volk des Herrn, dein Messias, o Volk der Erde.
"Er wird nicht ermatten oder
Gewalt üben". Ihr findet in mir weder die trostlose Niedergeschlagenheit des
Besiegten noch die mißgünstige Niedergeschlagenheit des Verderbten, sondern
nur den Ernst dessen, der sieht, wie weit das Ergriffensein von Satan den
Menschen bringen kann; und ihr seht, wie ich, dessen Wille in einem Augenblick
alles zerstören und zerstreuen könnte, drei Jahre lang allen und unaufhörlich
meine Hände in einer Einladung der Liebe entgegengestreckt habe. Und auch
jetzt noch werde ich diese meine Hände ausstrecken, und sie werden verwundet
werden! "Ohne zu ermatten oder Gewalt zu üben, werde ich mein Reich
begründen." Dieses Reich des Christus, das die Rettung der Welt ist.
Mein Vater, der ewige Herr, sagt
zu mir: "Ich habe dich berufen, ich habe deine Hand erfaßt, ich habe dich zum
Bunde zwischen den Völkern und Gott gemacht, zum Licht für die Heiden." Und
ich bin Licht gewesen. Licht, um die Augen der Blinden zu öffnen; Wort, um den
Stummen die Sprache zu geben; Schlüssel, um die unterirdischen Kerker zu
öffnen, jener, die in der Finsternis des Irrtums lebten.
Und nun gehe ich, der ich dies
alles bin, zum Sterben. Ich trete ein in das Dunkel des Todes. Des Todes,
versteht ihr? ...
Die ersten vorhergesagten Dinge,
die sich nun erfüllen, sage ich euch mit den Worten des Propheten. Die anderen
werde ich euch sagen, bevor uns der Dämon trennen wird.
Seht Sion, dort am Horizont. Geht
und holt die Eselin und das
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Eselsfüllen. Sagt zu dem Mann:
"Der Rabbi Jesus bedarf ihrer." Und sagt der Mutter, daß ich komme. Sie ist
dort auf der Anhöhe mit den beiden Marien. Sie erwartet mich. Dies wird mein
menschlicher Triumph sein... Möge es ihr Triumph sein. Seid immer vereint! Oh,
vereint... !
Und wem gehört das Herz, das Herz
einer Hyäne, das mit einem Hieb seiner krallenbewehrten Tatze das Herz des
mütterlichen Herzens niederstreckt: mich, ihren Sohn? Einem Menschen? Nein.
Jeder Mensch wird von einer Frau geboren. Und instinktiv und aus moralischen
Gründen kann er eine Mutter nicht so verletzen, da er an die seine denkt. Ein
Mensch ist er also nicht. Wer dann? Ein Dämon. Aber kann ein Dämon die
Siegerin kränken? Um sie zu kränken, muß er sie antasten. Und Satan erträgt
das jungfräuliche Licht der Rose Gottes nicht. Also? Wer, meint ihr, ist es
wohl? Ihr sagt nichts? Dann will ich es euch sagen.
Der verschlagenste der Dämonen
ist eins geworden mit dem verderbtesten der Menschen; und wie das Gift in den
Zähnen der Viper verborgen ist, ebenso hat er sich verborgen in ihm, der sich
der Frau nähern und sie heimtückisch beißen kann. Verflucht sei dieses hybride
Scheusal aus Satan und Mensch! Verfluche ich es? Nein. Das ist kein Wort des
Erlösers. Und daher sage ich zu der Seele dieser Mißgeburt, was ich zu
Jerusalem, der abscheulichen Stadt Gottes und Satans, gesagt habe: "Oh, wenn
es dir doch gegeben wäre, in dieser Stunde, die dir noch bleibt, zu deinem
Erlöser zu kommen!" Es gibt keine größere Liebe als die meine! Und es gibt
keine größere Macht. Auch der Vater stimmt zu, wenn ich sage: "Ich will. Und
so habe ich nur Worte des Erbarmens für jene, die gefallen sind und aus ihrem
Abgrund die Arme nach mir ausstrecken. Seele des größten aller Sünder, an der
Schwelle des Todes neigt sich dein Erlöser über deinen Abgrund und lädt dich
ein, seine Hand zu ergreifen. Mein Tod wird nicht verhindert werden... Aber
du... aber du... wärest gerettet, du, den ich immer noch liebe, und die Seele
deines Freundes würde nicht vor Entsetzen erbeben bei dem Gedanken, daß der
Tod, dieser furchtbare Tod, den er erleiden muß, das Werk des Freundes ist...»
Jesus schweigt... bedrückt...
Die Apostel flüstern miteinander
und fragen sich gegenseitig: «Aber von wem spricht er denn? Wer ist es?»
Und Judas lügt unverschämt: «Es
ist gewiß einer dieser falschen Pharisäer... Ich denke an Joseph oder
Nikodemus oder auch an Chuza und Manaen... Alle hängen an ihrem Leben und an
ihrem Besitz... Ich weiß, daß Herodes... Ich weiß, daß das Synedrium... Er hat
ihnen zu viel Vertrauen geschenkt! Ihr habt doch gesehen, daß sie auch gestern
nicht da waren! Sie haben nicht den Mut, ihm gegenüberzutreten ...»
Jesus hört diese Worte nicht. Er
hat seine Mutter eingeholt, die mit den Marien und mit Martha und Susanna auf
ihn wartet. Nur Johanna des Chuza fehlt in der Gruppe der frommen Frauen.
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650. DER EINZUG JESU IN JERUSALEM
Jesus legt seinen Arm um die
Schultern seiner Mutter, die aufgestanden ist, als Johannes und Jakobus des
Alphäus sie erreicht und ihr gesagt haben: «Dein Sohn kommt.» Sie sind dann zu
ihren Gefährten zurückgekehrt, die nur langsam weitergehen und miteinander
reden, während Thomas und Andreas nach Bethphage gelaufen sind, um die Eselin
und das Füllen zu holen und sie Jesus zu bringen.
Jesus spricht inzwischen zu den
Frauen: «Wir sind nun in der Nähe der Stadt. Ich würde euch raten
weiterzugehen. Geht beruhigt weiter. Geht vor mir in die Stadt hinein. Bei En
Rogel sind alle Hirten und die zuverlässigsten Jünger. Sie haben den Auftrag,
euch zu begleiten und zu beschützen.»
«Weißt du... Wir haben mit Aser
von Nazareth und Abel von Bethlehem in Galiläa und auch mit Salomon
gesprochen. Sie sind hierher gekommen, um deine Ankunft rechtzeitig zu wissen.
Das Volk bereitet ein großes Fest vor. Und wir würden es gerne sehen... Siehst
du, wie die Wipfel der Olivenbäume sich bewegen? Es ist nicht der Wind, der
sie so schüttelt. Es sind die Menschen, die Zweige abbrechen, um sie auf die
Straße zu legen und dich damit vor der Sonne zu schützen. Und dort! ? Schau,
dort holen sie die Fächerblätter von den Palmen. Sie sehen wie Trauben aus,
aber es sind Männer, die an den Stämmen hinaufgeklettert sind... Und an den
Abhängen sieht man die Kinder sich bücken, um Blumen zu pflücken. Und gewiß
holen auch die Frauen Blüten und duftende Kräuter aus den Gärten, um deinen
Weg mit Blumen zu bestreuen. Wir möchten dabeisein... und es machen wie Maria
des Lazarus, die alle Blumen, die dein Fuß im Garten des Lazarus berührte,
eingesammelt hat...» bittet Maria des Kleophas, auch im Namen der anderen.
Jesus streichelt die Wange seiner
alten Verwandten, die einem kleinen Mädchen gleicht, das gern einem Schauspiel
beiwohnen möchte, und sagt zu ihr: «Bei all den Leuten würdest du nichts
sehen. Geht voraus. Zu dem Haus des Lazarus, dessen Hüter Matthias ist. Ich
werde dort vorüberkommen, und ihr könnt mich von der Terrasse aus sehen.»
«Mein Sohn... du gehst allein?
Darf ich nicht in deiner Nähe sein?» sagt Maria, hebt dabei ihr so trauriges
Gesicht und richtet ihre himmlischen Augen auf das Antlitz ihres lieben
Sohnes.
«Ich möchte dich bitten, dich
verborgen zu halten. Wie die Taube in der Felsspalte. Mehr als deine
Anwesenheit brauche ich dein Gebet, geliebte Mutter!»
«Wenn es so ist, mein Sohn,
werden wir nur beten. Alle. Für dich.»
«Ja, wenn ihr den Einzug gesehen
habt, dann kommt ihr mit uns in meinen Palast in Sion. Ich werde Diener zum
Tempel und hinter dem Meister herschicken, damit sie uns seine Weisungen und
Nachrichten von ihm
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bringen», entscheidet Maria des
Lazarus, die immer am schnellsten versteht, was am besten zu tun ist, und es
auch unverzüglich ausführt.
«Du hast recht, Schwester. Obwohl
es mir leid tut, nicht mit ihm gehen zu können, verstehe ich die Richtigkeit
der Anordnung. Im übrigen hat Lazarus uns befohlen, dem Meister in nichts zu
widersprechen, sondern ihm auch in den kleinsten Dingen zu gehorchen. Und das
werden wir tun.»
«Dann geht also. Seht ihr? Die
Straßen beleben sich. Die Apostel werden auch gleich hier sein. Geht. Der
Friede sei mit euch. Ich werde euch kommen lassen, wenn ich es für richtig
halte. Mutter, leb wohl. Sei beruhigt, Gott ist mit uns.» Er küßt sie und
verabschiedet sich von ihr. Und die gehorsamen Jüngerinnen entfernen sich
rasch.
Die zehn Apostel sind nun bei
Jesus angelangt. «Hast du sie vorausgeschickt?»
«Ja, sie werden meinen Einzug von
einem Haus aus sehen.»
«Von welchem Haus?» fragt Judas
von Kerioth.
«Ja, es gibt nun so viele
befreundete Häuser!» sagt Philippus.
«Gehen sie nicht zu Annalia?»
drängt Iskariot.
Jesus antwortet verneinend und
geht Bethphage zu, das nicht mehr weit entfernt ist.
Sie sind fast dort angelangt, als
die beiden, die er weggeschickt hat, um die Eselin und das Füllen zu holen,
zurückkommen. Sie rufen: «Wir haben alles gefunden, wie du gesagt hast, und
wir hätten dir die Tiere gleich gebracht. Aber ihr Besitzer will sie erst
striegeln und mit dem schönsten Zaumzeug schmücken, um dich zu ehren. Und die
Jünger und alle, die zu deiner Ehre die Nacht auf den Straßen um Bethanien
verbracht haben, wollten die Ehre haben, dir die Tiere zuzuführen. Wir haben
uns einverstanden erklärt, denn wir glauben, daß ihre Liebe eine Belohnung
verdient.»
«Das war richtig. Gehen wir
unterdessen weiter.»
«Sind es viele Jünger?» fragt
Bartholomäus.
«Oh, eine Unmenge! Es ist
unmöglich, durch die Straßen von Bethphage zu kommen. Deshalb habe ich Isaak
aufgetragen, die Esel zu Kleon, dem Käsemacher, zu bringen», antwortet Thomas.
«Das hast du gut gemacht. Wir
wollen bis zu dem Hügelvorsprung dort gehen und im Schatten der Bäume warten.»
Sie begeben sich an die von Jesus
genannte Stelle.
«Aber so entfernen wir uns ja! Du
gehst ja hinten um Bethphage herum!» ruft Iskariot aus.
«Und wenn ich das tun will, wer
kann es mir verbieten? Bin ich denn schon ein Gefangener, daß es mir nicht
mehr erlaubt ist, zu gehen, wohin ich will? Oder hat man es vielleicht eilig
damit und fürchtet, daß ich meiner Gefangennahme entgehen könnte? Wenn ich es
für richtig hielte,
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mich an weiter entfernte, sichere
Orte zu begeben, wer könnte mich daran hindern?» Jesus richtet seine
blitzenden Augen auf den Verräter, der den Mund nicht mehr aufmacht und die
Achseln zuckt, als ob er sagen wollte: «Tu, was du willst.»
Sie gehen hinten um den Ort
herum. Ich würde sagen, daß es fast ein Vorort der Stadt ist, denn auf der
Westseite grenzt er an die Hänge des Ölberges. Unten, zwischen den Abhängen
und der Stadt, glänzt der Kedron in der Aprilsonne.
Jesus setzt sich in das stille
Grün und vertieft sich in seine Gedanken. Dann steht er auf und geht bis zum
äußersten Rand des Vorsprungs.
«Hier füge die Vision vom 31.
Juli 1944 ein: Jesus weint über Jerusalem, beginnend mit dem Satz, den ich am
Anfang der Vision gesagt habe.»
Dann fährt er fort, mir die
Phasen seines triumphalen Einzuges zu zeigen.
30. Juli.
Ich weiß nicht, ob ich es
schaffen werde, weiterzuschreiben, denn ich habe starke Herzschmerzen und kann
nur mit Mühe sitzen. Aber ich muß schreiben, was ich sehe.
Von einem Hügel bei Jerusalem
schaut Jesus auf die zu seinen Füßen liegende Stadt.
Es ist kein sehr hoher Hügel.
Höchstens so hoch wie der Platz des heiligen Miniatus auf dem Berg bei
Florenz, aber hoch genug, daß das Auge ganz Jerusalem überblickt mit seinen
kleinen Bodenerhebungen, seinen Häusern und seinen hinauf- und
hinunterführenden Straßen. Dieser Hügel ist auf alle Fälle sehr viel höher als
der Kalvarienberg, wenn man vom niedrigsten Punkt der Stadt ausgeht, aber er
liegt näher an der Stadtmauer. Er beginnt gleich an der Mauer und steigt auf
dieser Seite steil an, auf der anderen dagegen fällt er sanft ab und geht in
eine grüne Ebene über, die sich nach Osten erstreckt. Wenigstens glaube ich,
daß es Osten ist, wenn ich den Stand der Sonne richtig beurteile.
Jesus und die Seinen sitzen im
Schatten einer Baumgruppe. Sie ruhen sich vom Weg aus. Dann steht Jesus auf,
verläßt den baumbestandenen Platz und geht bis an den Rand des
Hügelvorsprungs.
Seine hohe Gestalt zeichnet sich
scharf ab von der Leere, die ihn umgibt. Er sieht noch größer aus als sonst,
so aufrecht und allein. Er kreuzt die Arme über der Brust, über dem blauen
Mantel, und schaut ernst, sehr ernst hinunter.
Die Apostel beobachten ihn. Aber
sie lassen ihn in Ruhe und regen sich nicht, sprechen auch nicht. Sie glauben
wohl, daß er sich abgesondert hat, um zu beten.
Aber Jesus betet nicht. Nachdem
er lange die Stadt betrachtet hat, alle ihre Viertel, alle ihre Hügel, alle
ihre Besonderheiten, vielleicht auch mit den Blicken länger auf diesem oder
jenem Punkt verweilt ist, und auf einem anderen nur kurz, beginnt Jesus zu
weinen. Reglos und lautlos. Die
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Tränen füllen seine Augen,
fließen über auf die Wangen und fallen... Große, stille und so traurige
Tränen. Tränen eines Menschen, der weiß, daß er allein und ohne Hoffnung auf
den Trost und das Verständnis anderer weinen muß, daß niemand seinen Schmerz
von ihm nehmen kann, daß er ihn bis zum Ende durchleiden muß.
Der Bruder des Johannes bemerkt
von seinem Platz aus als erster dieses Weinen und sagt es den anderen, die
sich erschrocken ansehen.
«Keiner von uns hat etwas
Schlechtes getan», sagt einer; und ein anderer: «Auch die Leute haben ihn
nicht beleidigt. Es war unter ihnen kein einziger Feind.»
«Warum weint er dann?» fragt der
älteste von ihnen.
Petrus und Johannes stehen
gleichzeitig auf und nähern sich dem Meister. Sie sind der Meinung, das
einzige, was man tun könne, sei, ihn fühlen zu lassen, daß man ihn liebt, und
ihn zu fragen, warum er weint.
«Meister, du weinst?» sagt
Johannes und legt sein blondes Haupt auf die Schulter Jesu, der einen ganzen
Kopf größer ist als er.
Petrus legt ihm die Hand um die
Taille, umarmt ihn fast, zieht ihn an sich und fragt: «Was betrübt dich,
Jesus? Sage es uns, die wir dich lieben.»
Jesus legt seine Wange an den
blonden Kopf des Johannes, öffnet die verschränkten Arme und legt seinerseits
einen Arm um die Schultern des Petrus. So umarmt bleiben sie alle drei in
einer von Liebe zeugenden Haltung stehen. Doch die Tränen rinnen immer noch.
Johannes, der seine Haare naß
werden fühlt, fragt noch einmal: «Warum weinst du, mein Meister? Haben wir
dich vielleicht gekränkt?»
Die anderen Apostel haben sich
der liebenden Gruppe genähert und erwarten besorgt eine Antwort.
«Nein», sagt Jesus. «Ihr nicht.
Ihr seid meine Freunde, und wenn eine Freundschaft aufrichtig ist, dann ist
sie Balsam und Lächeln, niemals Tränen. Ich möchte, daß ihr immer meine
Freunde bleibt, auch jetzt, da wir in die Verderbnis gehen, die alle in Gärung
bringt und zerstört, die nicht den festen Willen haben, redlich zu bleiben.»
«Wohin gehen wir, Meister? Nicht
nach Jerusalem? Die Volksmenge hat dich schon freudig begrüßt. Willst du sie
enttäuschen? Gehen wir etwa nach Samaria aus irgendeinem besonderen Grund?
Ausgerechnet jetzt, vor dem Passahfest?»
Die Fragen kommen gleichzeitig
von mehreren.
Jesus hebt die Hände und gebietet
Schweigen. Dann zeigt er mit der Rechten auf die Stadt. Eine ausladende Geste,
wie die eines Sämanns, der vor sich aussät. Er sagt: «Dies ist die Verderbnis.
Wir gehen nach Jerusalern. Dorthin. Und nur der Allerhöchste weiß, wie sehr
ich mich sehne, es zu heiligen, ihm die Heiligkeit zu bringen, die vom Himmel
kommt. Wieder heiligen möchte ich Jerusalem, das die heilige Stadt sein
sollte. Doch ich kann nichts tun. Sie ist verderbt und wird verderbt bleiben.
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Die Ströme der Heiligkeit, die
aus dem lebendigen Tempel fließen und in den nächsten Tagen immer mächtiger
fließen werden, bis er selbst leer und ohne Leben sein wird, werden nicht
ausreichen, sie zu erlösen. Samaria und die heidnische Welt werden zum
Heiligen kommen. Über den Lügentempeln werden die Tempel des wahren Gottes
erstehen. Die Herzen der Heiden werden Christus anbeten. Aber dieses Volk,
diese Stadt, werden ihm immer feind sein, und ihr Haß wird sie zur größten
Sünde führen. So muß es kommen. Aber wehe jenen, die die Werkzeuge dieses
Verbrechens sind. Wehe... !»
Jesus schaut Judas, der ihm
beinahe gegenübersteht, fest in die Augen.
«Das wird uns niemals passieren.
Wir sind deine Apostel und glauben an dich. Wir sind bereit, für dich zu
sterben.» Judas lügt unverschämt und hält dem Blick Jesu unbefangen stand.
Auch die anderen stimmen diesen
Beteuerungen zu.
Jesus antwortet allen, ohne
direkt auf die Worte des Judas einzugehen: «Gebe der Himmel, daß ihr so seid.
Doch viel Schwäche ist noch in euch. Die Versuchung könnte euch denen ähnlich
werden lassen, die mich hassen. Betet viel und seid wachsam. Satan weiß, daß
seine Niederlage bevorsteht, und er versucht sich zu rächen, indem er euch mir
entreißt. Satan ist uns allen nahe. Mir, um mich daran zu hindern, den Willen
des Vaters zu tun und meine Mission zu erfüllen. Euch, um euch zu seinen
Dienern zu machen. Seid wachsam. In diesen Mauern wird Satan den ergreifen,
der nicht stark sein kann. Den, dessen Fluch es sein wird, daß er erwählt
wurde, da er seine Berufung zu menschlichen Zwecken mißbrauchte. Ich habe euch
für das Himmelreich und nicht für ein Reich in dieser Welt erwählt. Denkt
daran.
Und du, Stadt, die du deinen
Untergang willst und über die ich weine, wisse, daß dein Christus für deine
Erlösung betet. Oh, wenn doch auch du an diesem deinem Tag, der dir noch
bleibt, erkennen würdest, was dir zum Frieden dient! Wenn du doch wenigstens
in dieser Stunde die Liebe, die vorübergeht, erkennen und deinen Haß ablegen
würdest, der dich blind und von Sinnen macht, grausam gegen dich selbst und
gegen dein eigenes Wohl! Aber der Tag wird kommen, an dem du dich dieser
Stunde erinnerst. Dann wird es zu spät sein, zu weinen und zu bereuen! Die
Liebe wird vorübergegangen und von deinen Straßen verschwunden sein, und
bleiben wird der Haß, den du vorgezogen hast. Der Haß wird sich gegen dich
richten, gegen deine Kinder; denn man erhält das, was man gewollt hat, und Haß
wird mit Haß vergolten. Es wird dann nicht der Haß der Starken gegen den
Schwachen sein, sondern Haß gegen Haß und daher Krieg und Tod. Eingeschlossen
von Wällen und Bewaffneten wirst du schmachten, bevor du zerstört wirst. Du
wirst deine Kinder durch Waffen und Hunger sterben und die Übriggebliebenen in
Gefangenschaft und verachtet und verspottet sehen. Du wirst um Erbarmen flehen
und kein
51
Erbarmen mehr finden, denn du
wolltest nicht erkennen, was dir zum Heil dient.
Ich weine, Freunde, denn ich habe
ein menschliches Herz, und die Zerstörung der Heimat läßt meine Tränen
fließen. Aber es ist gerecht, daß dies geschehe, denn die Verderbtheit in
diesen Mauern ist grenzenlos und zieht die Strafe Gottes herab. Wehe den
Bürgern, die am Elend des Vaterlandes Schuld haben! Wehe den Vorstehern, denn
sie tragen die Hauptschuld! Wehe denen, die heilig sein und die anderen zur
Ehrbarkeit führen sollten, und statt dessen das Haus ihres Dienstes und sich
selbst entweihen! Kommt, was ich tue, wird nichts nützen. Aber lassen wir das
Licht noch einmal in der Finsternis leuchten.»
Jesus geht hinab, gefolgt von den
Seinen. Er schreitet rasch mit ernstem, fast finsterem Gesicht auf dem Weg
voran und sagt nichts mehr. Er betritt ein kleines Haus am Fuß des Hügels, und
ich sehe nichts mehr.
Jesus sagt:
«Die von Lukas berichtete Szene
erscheint zusammenhanglos, beinahe unlogisch. Beweine ich das Unglück einer
schuldigen Stadt und kann nicht Nachsicht üben hinsichtlich der Gewohnheiten
dieser Stadt?
Nein, ich kann es nicht, ich kann
nicht nachsichtig sein, denn gerade diese Gewohnheiten sind die Ursache des
Unheils, und dies sehen zu müssen, schmerzt mich noch mehr. Mein Zorn über die
Tempelschänder ist die logische Folge meiner Betrachtung über den kommenden
Untergang Jerusalems.
Es sind immer die Profanierungen
des Gottesdienstes, der Gebote Gottes, die die Strafen Gottes herausfordern.
Diese unwürdigen Priester und diese unwürdigen Gläubigen, die es nur dem Namen
nach sind, haben aus dem Haus Gottes eine Räuberhöhle gemacht und auf das
ganze Volk Fluch und Tod herabgerufen. Es nützt nichts, dem Übel, unter dem
ein ganzes Volk leidet, diesen oder jenen Namen zu geben. Nennt es: Bestrafung
für eine tierische Lebensweise. Gott zieht sich zurück und das Übel schreitet
voran. Dies ist die Frucht des Lebens einer Nation, die nicht würdig ist, den
Namen "christlich" zu tragen.
Wie damals, so habe ich auch
jetzt, in diesem ausgehenden Jahrhundert, nicht versäumt, durch Wunder zu
erschüttern und zu mahnen. Aber wie damals habe ich für mich und meine
Werkzeuge nur Verachtung, Gleichgültigkeit und Haß geerntet. Die einzelnen
Menschen und die Nationen sollten jedoch daran denken, daß ihre Tränen nutzlos
sind, da sie ihr Heil vorher nicht erkennen wollten. Vergebens werden sie mich
anrufen, wenn sie mich in der Stunde, da ich bei ihnen weilte, in einem
sakrilegischen Krieg verjagt haben; einem Krieg, der von den einzelnen, dem
Bösen ergebenen Seelen, auf die ganze Nation übergegriffen hat. Die Länder
können sich nicht so sehr durch Waffen retten als durch eine Lebensweise, die
die Hilfe des Himmels herabruft.
Ruhe dich aus, kleiner Johannes.
Sei deiner Berufung immer treu. Geh in Frieden.»
Welche Mühe! Ich kann nicht
mehr...
Jesus hat gerade das Haus
betreten, dessen Bewohner er segnet, als draußen heiteres Schellengeläut und
fröhliche Stimmen hörbar werden. Bald darauf erscheint das hagere, blasse
Gesicht Isaaks im Türspalt. Der getreue Hirte kommt herein und kniet vor
seinem Herrn Jesus nieder.
Durch die nun offene Tür kann man
eine Unzahl von Köpfen sehen, und hinter ihnen noch mehr... Man stößt sich,
drängelt, will sich
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durchzwängen... Frauen rufen,
Kinder, die mitten ins Gedränge geraten sind, weinen. Begrüßungen, festlicher
Lärm: «Glücklich dieser Tag, der dich wieder zu uns bringt! Der Friede sei mit
dir, Herr! Willkommen, Meister, der du unsere Treue belohnst!»
Jesus steht auf und gibt ein
Zeichen, daß er reden will. Alle schweigen, und klar erklingt die Stimme Jesu.
«Der Friede sei mit euch!
Drängelt nicht so. Wir gehen jetzt miteinander zum Tempel hinauf. Ich bin
gekommen, um mit euch zusammen zu sein. Friede! Friede! Tut euch nicht weh.
Macht Platz, meine Lieben! Laßt mich hinaus und folgt mir, denn wir wollen
zusammen in die heilige Stadt einziehen.»
Die Leute gehorchen wohl oder
übel und gehen etwas zur Seite, so daß Jesus herauskommen und das Eselsfüllen
besteigen kann. Denn er wählt das Füllen, auf dem noch nie jemand geritten
ist, als sein Reittier. Einige reiche Pilger in der Menge haben ihre
prächtigen Mäntel über den Rücken des Tierchens gebreitet, und einer der
Männer setzt ein Knie auf den Boden und bietet dem Herrn das andere als
Steigbügel an. Er steigt auf das Füllen, und der Zug setzt sich in Bewegung.
Auf der einen Seite des Meisters geht Petrus, Isaak auf der anderen. Dieser
hält die Zügel des nicht zugerittenen Tieres, das jedoch friedlich
dahintrottet, als hätte es nie etwas anderes getan, und auch nicht erschrickt
über die Blumen, die man Jesus zuwirft und die oft das weiche Maul und die
Augen des Eselchens treffen. Es scheut auch nicht vor den Oliven- und
Palmzweigen, die man ringsum und vor ihm schwenkt oder auf den Boden wirft, um
einen Blumenteppich zu bilden; noch vor den immer lauter werdenden Rufen
«Hosanna dem Sohne Davids!», die zum heiteren Himmel aufsteigen, während die
Menge immer dichter und zahlreicher wird durch die neu Hinzukommenden.
Es ist nicht leicht, durch die
engen, gewundenen Gäßlein von Bethphage zu kommen. Die Mütter müssen ihre
Kinder auf den Arm nehmen und die Männer ihre Frauen vor zu heftigen Stößen
schützen. Manche Väter lassen den kleinen Sohn auf den Schultern reiten oder
halten ihn über die Köpfe der Menschen, während die Kinderstimmen sich wie das
Blöken der Lämmer oder das Gezwitscher der Schwalben anhören und ihre Händchen
Blumen und Olivenblätter streuen, die die Mütter ihnen reichen. Viele werfen
dem gütigen Jesus Kußhändchen zu...
Als er die Enge der kleinen
Ortschaft verlassen hat, ordnet sich der Zug und lockert sich auf, und viele
Freiwillige begeben sich an die Spitze, um die Straße freizumachen, und andere
folgen ihnen und streuen Zweige auf den Boden. Einer breitet als erster seinen
Mantel als Teppich aus, dann ein anderer, dann tun es ihnen vier, zehn,
hundert, tausend nach. In der Mitte der Straße liegt nun das bunte Band der
ausgebreiteten Mäntel, und nachdem Jesus vorübergeritten ist, hebt man sie
wieder auf und trägt sie,
53
zusammen mit immer neu
Hinzukommenden, voraus. Und Blumen, Zweige, Palmblätter werden geschwenkt und
geworfen, und immer lautere Rufe ertönen zu Ehren des Königs von Israel, des
Sohnes Davids und seines Reiches.
Die Wachsoldaten am Tor kommen
heraus, um nachzusehen, was geschieht. Aber es ist kein Aufruhr, und so
bleiben sie, auf ihre Lanzen gestützt, an den Seiten des Tores stehen und
betrachten erstaunt oder spöttisch lächelnd das eigenartige Gefolge dieses
Königs, der auf einem Eselsfüllen daherreitet, schön wie ein Gott und demütig
wie der ärmste der Menschen, sanftmütig und Segen spendend... umgeben von
Frauen, Kindern und unbewaffneten Männern, die «Friede, Friede!» rufen; dieses
Königs, der vor seinem Einzug in die Stadt einen Augenblick auf der Höhe der
Gräber der Aussätzigen von Hinnom und Siloe verweilt (ich hoffe, daß ich die
Namen dieser Orte, an denen ich Jesus schon mehrmals Wunder an Aussätzigen
habe wirken sehen, richtig schreibe) und sich etwas aufrichtet in dem einen
Steigbügel, in dem er einen Fuß hat, da er nicht rittlings, sondern seitlich
auf dem Eselchen sitzt. Er richtet sich auf, öffnet die Arme weit und ruft in
die Richtung dieser schrecklichen Hänge, an denen sich furchterregende
Gesichter und Körper zeigen. Sie sehen Jesus an und lassen den klagenden Ruf
der Aussätzigen erschallen: «Unrein, unrein», um Unvorsichtige abzuschrecken,
die sogar auf die verseuchten, verpesteten Felsen steigen würden, um Jesus
besser zu sehen. «Wer an mich glaubt, rufe meinen Namen an, und er wird durch
ihn geheilt werden!» Dann segnet Jesus sie, setzt seinen Weg fort und gebietet
Judas von Kerioth: «Du wirst Lebensmittel für die Aussätzigen kaufen und sie
ihnen vor dem Abend zusammen mit Simon bringen.»
Als der Zug durch das Tor von
Siloe zieht und sich wie ein Strom durch den Vorort Ophel in die Stadt
ergießt, gleicht jede Terrasse einem kleinen, in der Luft schwebenden Platz
voller Menschen, die Blumen werfen und duftende Essenzen auf die Straße
hinunterschütten und versuchen, den Meister damit zu treffen. Die Luft ist
erfüllt vom Duft der unter den Füßen des Volkes sterbenden Blüten und der
Essenzen, die ihren Wohlgeruch verbreiten, bevor sie in den Staub der Straße
fallen. Das Geschrei der Volksmenge scheint lauter zu werden und es hört sich
an, als ob jeder in ein Horn blase, denn die zahlreichen Gewölbe von Jerusalem
verstärken die Rufe durch ihren Widerhall.
Ich höre Rufe und mir scheint, es
ist das: «Schalom, Schalom, Melech!» das sich auch bei den Evangelisten
findet. Das Geschrei nimmt kein Ende und gleicht dem Brausen einer stürmischen
See. Das Tosen einer Sturzwelle, die den Strand und die Klippen peitscht, ist
noch nicht vorüber, da folgt schon die nächste Welle, setzt es fort und
verstärkt das Getöse, pausenlos. Ich bin halb taub davon.
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Düfte, Gerüche, Rufe, Schwenken
von Zweigen und Kleidungsstücken, Schreie... Es ist eine betäubende Vision.
Ich sehe die Menschenmenge
ständig in Bewegung. Bekannte Gesichter tauchen auf und verschwinden wieder.
Alle Jünger aus allen Orten Palästinas, alle Anhänger... Einen Augenblick sehe
ich Jairus; ich sehe Jaia, den Jüngling aus Pella, wie mir scheint, der blind
war wie seine Mutter und den Jesus geheilt hat. Ich sehe Joachim von Bozrah
und den Landmann aus der Ebene von Saron mit seinen Brüdern; ich sehe den
alten und einsamen Matthias vom Ostufer des Jordan, bei dem Jesus Unterkunft
gefunden hat, als alles überschwemmt war; ich sehe Zachäus mit seinen
bekehrten Freunden; ich sehe den alten Johannes von Nob und fast alle dortigen
Bürger; ich sehe den Gatten der Sara aus Jutta... Aber wie soll ich alle
Gesichter und Namen aufzählen bei diesem Kaleidoskop unbekannter und bekannter
Gesichter, die ich schon mehrmals oder auch nur einmal gesehen habe? ... Da
ist nun das Gesicht des Hirtenknaben, den sie von Ennon mitgenommen haben. In
seiner Nähe ist der Jünger aus Chorazim, der das Begräbnis seines Vaters
anderen überlassen hat, um Jesus nachzufolgen; neben ihm sehe ich einen
Augenblick den Vater und die Mutter des Benjamin von Kapharnaum mit ihrem
Söhnchen, das beinahe unter die Hufe des Esels gerät, als es sich vordrängt,
um eine Liebkosung Jesu zu erhaschen. Und leider auch Gesichter, die grün und
blau vor Zorn sind über diesen Triumph, von Pharisäern und Schriftgelehrten,
die mit Gewalt den Ring der Liebe durchbrechen, der sich um Jesus gebildet
hat, und dem Meister zuschreien: «Bring diese Verrückten zum Schweigen! Rufe
sie zur Vernunft! Nur Gott darf man Hosanna zurufen. Gebiete ihnen zu
schweigen!»
Worauf Jesus sanftmütig
antwortet: «Auch wenn ich ihnen Schweigen gebiete und sie gehorchen, werden
die Steine die Wunder des Wortes Gottes verkünden.»
Denn die Leute rufen nicht nur:
«Hosanna, Hosanna, dem Sohne Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des
Herrn! Hosanna ihm und seinem Reich! Gott ist mit uns! Der Emanuel ist
gekommen! Gekommen ist das Reich Christi des Herrn! Hosanna! Hosanna von der
Erde bis hinauf in die Himmelshöhen! Friede! Friede, mein König! Friede und
Segen dir, heiliger König! Friede und Ehre im Himmel und auf Erden! Lob sei
Gott für seinen Christus! Friede den Menschen, die ihn aufnehmen. Friede auf
Erden den Menschen, die guten Willens sind, und Ehre Gott in der Höhe, denn
die Stunde des Herrn ist gekommen.» Dieser letzte Ruf kommt von dem kompakten
Grüppchen der Hirten, die den Ruf der Nacht der Geburt wiederholen. Außer
diesen ständigen Zurufen erzählen die Leute aus Palästina den Pilgern aus der
Diaspora von den Wundern, die sie gesehen haben; und allen, die nicht wissen,
was hier geschieht, da sie Fremde und nur zufällig in der Stadt sind und
fragen: «Wer ist denn
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dieser? Was geht hier vor?»
erklären sie: «Es ist Jesus! Jesus, der Meister von Nazareth in Galiläa! Der
Prophet! Der Messias des Herrn! Der Verheißene! Der Heilige!»
In einem Haustor, an dem sie
soeben vorbeigekommen sind – das Vorwärtskommen ist bei diesem Durcheinander
nur sehr langsam möglich – erscheint eine Gruppe kräftiger Jünglinge, die
Gefäße mit glühenden Kohlen und Weihrauch in die Höhe halten und Wolken
duftenden Rauchs verbreiten. Diese Geste wird sofort aufgegriffen und
nachgeahmt, und viele eilen voraus oder zurück, um in den Häusern Feuer und
duftendes Harz zu holen und es zu Ehren des Christus zu verbrennen.
Das Haus Annalias ist nun zu
sehen. Reben umranken seine Terrasse, und die jungen Blättchen zittern im
sanften Aprilwind. Auf der Straßenseite wartet eine ganze Reihe junger Frauen
in weißen Kleidern und mit weißen Schleiern, in ihrer Mitte Annalia, mit
Körben voller Rosenblätter und Maiglöckchen, die schon durch die Luft
flattern.
«Die Jungfrauen Israels grüßen
dich, Herr!» sagt Johannes, der sich einen Weg gebahnt hat, nun an der Seite
Jesu geht und dessen Aufmerksamkeit auf die Girlande der Reinheit lenkt, die
sich lächelnd über die Brüstung beugt und die Straße mit blutroten
Rosenblättern und perlweißen Maiglöckchen bestreut.
Jesus zügelt einen Augenblick den
Esel und hält ihn an. Er erhebt das Antlitz und die Hand, um diese
Jungfräulichkeit zu segnen, die ihn so sehr liebt, daß sie auf jede andere
irdische Liebe zu verzichten bereit ist.
Annalia beugt sich vor und ruft:
«Deinen Triumph habe ich gesehen, o mein Herr! Nimm nun mein Leben zu deiner
Verherrlichung vor der ganzen Welt!» Und mit einem lauten Aufschrei grüßt sie
ihn: «Jesus!», während er unten an ihrem Haus vorbei- und weiterreitet.
Und ein anderer,
verschiedenartiger Aufschrei übertönt den Lärm der Menge. Doch die Leute
halten nicht an, obwohl sie ihn hören. Es ist ein Strom der Begeisterung, ein
Strom ekstatischer Leute, der nicht anhalten kann. Und während die letzten
Wellen dieses Stromes noch außerhalb des Stadttors sind, haben die ersten
schon die Straßen erreicht, die zum Tempel hinaufführen.
«Deine Mutter!» schreit Petrus
und deutet auf ein Haus, das fast an der Ecke einer Straße steht, die zum
Moriah hinaufführt und in die der Zug nun einbiegt. Jesus hebt das Antlitz, um
seiner Mutter zuzulächeln, die dort oben mit den treuen Frauen steht.
Eine zahlreiche Karawane kommt
ihnen entgegen und hält den Zug wenige Meter nach dem Haus auf, an dem er
schon vorbei ist. Während Jesus mit den anderen wartet und dabei die Kinder
liebkost, die ihm die Mütter entgegenhalten, drängt sich ein Mann schreiend
durch die Menge: «Laßt mich durch! Eine Frau ist gestorben. Ein Mädchen. Ganz
plötzlich. Ihre
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Mutter ruft nach dem Meister.
Laßt mich durch! Er hat sie schon einmal gerettet!»
Die Leute machen Platz, und der
Mann eilt zu Jesus: «Meister, die Tochter Elisas ist gestorben. Sie hat dich
mit diesem Ruf gegrüßt, dann hat sie sich umgedreht und gesagt: "Ich bin
glücklich", und ist gestorben. Ihr Herz ist zersprungen in dem großen Jubel,
dich triumphieren zu sehen. Ihre Mutter hat mich auf der Terrasse neben ihrem
Haus gesehen und mich zu dir geschickt. Komm, Meister!»
«Tot! Annalia ist tot! Aber sie
war doch gestern noch gesund und blühend und glücklich!» Die Apostel kommen
aufgeregt herbei, ebenso die Hirten. Alle haben sie gestern noch bei bester
Gesundheit gesehen. Soeben noch haben sie Annalia rosig und lächelnd
gesehen... Sie können das Unglück nicht fassen... Sie fragen, wollen
Einzelheiten erfahren...
«Ich weiß nicht. Ihr habt alle
ihre Worte gehört. Sie hat klar und laut gesprochen. Dann habe ich sie nach
rückwärts fallen sehen, mit weißerem Gesicht als ihr Kleid, und habe den
Schrei der Mutter gehört... Mehr weiß ich nicht.»
«Regt euch nicht auf. Sie ist
nicht tot. Eine Blüte ist abgefallen, und die Engel Gottes haben sie
aufgehoben, um sie in den Schoß Abrahams zu tragen. Bald wird diese Lilie der
Erde sich glücklich öffnen im Paradies und für immer die Schrecken der Welt
vergessen. Mann, sage Elisa, sie soll das Los ihrer Tochter nicht beweinen.
Sage ihr, daß Gott ihr eine große Gnade erwiesen hat. In sechs Tagen wird sie
begreifen, welche Gnade Gott ihrer Tochter geschenkt hat. Weint nicht. Niemand
soll weinen. Ihr Triumph ist noch größer als der meine, denn die Jungfrauen
werden von den Engeln in den Frieden der Gerechten geleitet. Es ist ein ewiger
Triumph, der noch zunimmt, niemals abnimmt. Wahrlich, ich sage euch, über
euch, nicht über Annalia habt ihr Grund zu weinen. Gehen wir.»Jesus wiederholt
den Aposteln und jenen, die sie umgeben: «Eine Blüte ist abgefallen. Sie hat
sich zur Ruhe gelegt, und die Engel haben sie aufgehoben. Selig, die reinen
Leibes und Herzens ist, denn bald wird sie Gott schauen.»
«Aber wie, woran ist sie denn
gestorben, Herr?» fragt Petrus, der noch immer nicht begreift.
«Aus Liebe. In Ekstase. Aus
unendlicher Freude! Ein seliger Tod!»
Wer weit vorn oder weit hinten
ist, hat nichts bemerkt. Daher fahren sie fort, «Hosanna» zu rufen, während
hier, um Jesus herum, schmerzliches Schweigen eingekehrt ist.
Es ist Johannes, der das
Schweigen bricht: «Oh, ich wollte, dieses Los wäre auch das meine vor den
kommenden Stunden!»
«Ich auch», sagt Isaak. «Ich
würde gern das Antlitz des Mädchens sehen, das aus Liebe zu dir gestorben
ist...»
«Ich bitte euch, mir euren Wunsch
zu opfern. Ich brauche eure Nähe...»
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«Wir werden dich nicht verlassen,
Herr. Aber gibt es für diese Mutter keinen Trost?» fragt Nathanael.
«Ich werde für sie sorgen...»
Sie sind nun am Tor der
Tempelmauer angelangt. Jesus steigt vom Esel, den jemand aus Bethphage
übernimmt.
Ich muß noch hinzufügen, daß
Jesus nicht beim ersten Tor des Tempels abgestiegen, sondern an der
Umfassungsmauer entlanggeritten ist und erst auf der Nordsseite, nahe der
Antonia angehalten hat. Dort steigt er ab und geht in den Tempel, als wolle er
zu erkennen geben, daß er sich nicht vor der herrschenden Macht versteckt, da
er sich in allen seinen Handlungen unschuldig fühlt.
Im ersten Vorhof des Tempels
herrscht der übliche Spektakel von Geldwechslern und Händlern mit ihren
Tauben, Sperlingen und Lämmern. Nur haben die Händler jetzt nichts zu tun, da
alle herbeigeeilt sind, um Jesus zu sehen.
Jesus geht hinein. Er wirkt sehr
feierlich in seinem Purpurgewand und läßt den Blick über diesen Markt
schweifen und über eine Gruppe von Pharisäern und Schriftgelehrten, die in
einem Säulengang stehen und ihn beobachten. Sein Blick flammt vor Unwillen.
Mit einem Sprung ist er in der Mitte des Hofes. Ein unvorhergesehener Sprung,
der einem Flug gleicht; dem Flug einer Flamme, denn sein Gewand ist eine
Flamme im Sonnenlicht, das den Hof überflutet. Er donnert mit mächtiger
Stimme: «Hinaus aus dem Haus meines Vaters! Hier ist kein Ort des Wuchers und
des Handels! Es steht geschrieben: "Mein Haus soll ein Bethaus sein." Warum
habt ihr also dieses Haus, in dem der Name des Herrn angerufen wird, zu einer
Räuberhöhle gemacht? Hinaus! Reinigt mein Haus. Damit ich euch nicht anstatt
mit der Peitsche mit dem Blitz des himmlischen Zornes treffe. Hinaus! Weg von
hier, ihr Diebe, Krämer, Schamlosen und Mörder, ihr Gotteslästerer und
Götzendiener des schlimmsten Götzendienstes: des eigenen stolzen Ich, ihr
Verderber und Lügner! Hinaus! Hinaus! Oh, ich sage euch, Gott der Allerhöchste
wird diesen Ort für immer ausfegen und seine Rache an einem ganzen Volk
nehmen!» Er gebraucht nicht die Peitsche wie beim ersten Mal, doch als er
sieht, daß die Händler und Geldwechsler sich Zeit lassen zu gehorchen, geht er
zum nächsten Tisch und stürzt ihn um, so daß Waagen und Münzen zu Boden
fallen.
Die Händler und Wechsler beeilen
sich nun, nach diesem ersten Beispiel, den Befehl Jesu zu befolgen. Und Jesus
ruft ihnen nach: «Wie oft muß ich euch noch sagen, daß dies kein Ort der
Unreinheit, sondern ein Ort des Gebetes ist?» und er schaut die vom Tempel an,
die, entsprechend dem Befehl des Hohenpriesters, keinerlei Einwände erheben.
Nachdem der Hof nun gereinigt
ist, geht Jesus zu den Säulengängen, wo Blinde, Lahme, Stumme, Krüppel und
andere Kranke mit lauter Stimme nach ihm rufen.
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«Was wollt ihr, daß ich euch tun
soll?»
«Ich möchte sehen, Herr! Die
Glieder! Daß mein Kind spricht. Daß meine Frau gesund wird. Wir glauben an
dich, Sohn Gottes!»
«Gott möge euch erhören. Steht
auf und preist den Herrn!»
Jesus heilt nicht einen nach dem
anderen, sondern macht eine weite Bewegung mit der Hand, und Gnade und Heilung
kommen auf die Unglücklichen herab.
Sie erheben sich mit
Freudenschreien, die sich mit denen der vielen Kinder vermischen, die sich um
Jesus scharen und immer wiederholen: «Ehre, Ehre dem Sohn Davids! Hosanna
Jesus von Nazareth, dem König der Könige, dem Herrn der Herren!»
Einige Pharisäer rufen ihm mit
scheinheiliger Ehrerbietung zu: «Meister, hörst du sie? Diese Kinder sagen
Dinge, die man nicht sagen darf. Tadle sie. Sie sollen schweigen!»
«Warum? Hat der königliche
Prophet, der König meines Geschlechtes, nicht gesagt: "Aus dem Mund der Kinder
und Säuglinge hast du dir vollkommenes Lob bereitet, zu beschämen die Feinde."
Habt ihr diese Worte des Psalmisten nicht gelesen? Laßt die Kinder mein Lob
singen. Ihre Engel haben es ihnen eingegeben, denn sie schauen allezeit meinen
Vater, kennen seine Geheimnisse und teilen sie diesen Unschuldigen mit. Laßt
mich nun alle gehen und den Herrn anbeten!» und Jesus begibt sich, vorbei an
den Leuten, in den Vorhof der Israeliten, um zu beten...
Dann geht er zu einem anderen Tor
hinaus, vorbei am Probatica-Teich, und verläßt die Stadt, um zu den Hügeln des
Ölberges zurückzukehren.
Die Apostel sind begeistert...
Der Triumph hat ihnen Sicherheit gegeben und sie alle Schrecken vergessen
lassen, vollständig vergessen lassen, die die Worte des Meisters in ihnen
hervorgerufen hatten... Sie reden über die Ereignisse... Sie brennen darauf,
von Annalia zu hören. Nur mit Mühe hindert Jesus sie daran, zu ihrem Haus zu
gehen, indem er ihnen versichert, daß er schon weiß, was er tut... Sie sind
alle taub, taub, taub für jeden göttlichen Hinweis... Menschen, Menschen,
Menschen, die ein Hosanna-Ruf alles vergessen läßt.
Jesus spricht mit den Dienern der
Maria von Magdala, die im Tempel zu ihm gekommen sind, und entläßt sie dann...
«Wo gehen wir jetzt hin?» möchte
Philippus wissen.
«Zum Haus des Markus des Jonas?»
fragt Johannes.
«Nein, zum Lager der Galiläer.
Vielleicht sind meine Brüder dort, und ich würde sie gern begrüßen», sagt
Jesus.
«Das könntest du morgen tun»,
bemerkt Thaddäus.
«Es ist gut, etwas zu tun,
solange man es tun kann. Gehen wir zu den Galiläern. Sie werden sich freuen,
uns zu sehen. Ihr werdet erfahren, wie es euren Angehörigen geht, und ich
werde die Kinder sehen...»
«Und heute abend? Wo werden wir
schlafen? In der Stadt? In welchem
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Haus? Vielleicht dort, wo deine
Mutter ist? Oder bei Johanna?» fragt Judas Iskariot.
«Ich weiß es nicht. Gewiß nicht
in der Stadt. Vielleicht in einem galiläischen Zelt...»
«Aber warum denn?»
«Weil ich Galiläer bin und meine
Heimat liebe. Gehen wir.»
Sie machen sich wieder auf den
Weg und gehen zum Lager der Galiläer hinauf, das sich auf dem Ölberg in
Richtung Bethanien befindet und dessen Zelte weiß glänzen in der heiteren
Aprilsonne.
651. DER ABEND DES PALMSONNTAGS
Jesus ist mit den Seinen im
Frieden des Ölgartens. Es ist Abend. Ein lauer Vollmondabend. Sie haben sich
auf den natürlichen Sitzgelegenheiten niedergelassen, den ersten steilen
Hängen des Ölgartens, der an diesem kleinen, von der Natur gebildeten Platz,
einer Lichtung, beginnt. Der Kedron rauscht über die Steine und scheint mit
sich selbst zu reden. Einige Nachtigallen schlagen. Ein leichtes Lüftchen
weht. Sonst nichts.
Jesus spricht:
«Nach dem Triumph von heute
morgen ist euer Geisteszustand sehr verändert. Was soll ich sagen? Daß er
gehoben ist? O ja! Nach menschlichen Maßstäben ist er gehoben. Ihr seid in die
Stadt hineingegangen und habt wegen meiner Worte gezittert. Es schien, daß
jeder von euch fürchtete, die Wachen von jenseits der Mauer würden über ihn
herfallen und ihn gefangennehmen.
In jedem Menschen steckt ein
anderer Mensch, der sich in den schwierigsten Stunden offenbart. Da ist der
Held, der in den Stunden größter Gefahr in Erscheinung tritt bei einem sonst
Sanftmütigen, den die Welt immer als unbedeutend angesehen hat, der Held, der
im Kampf sagt: "Hier bin ich", und dem Feind, dem Anmaßenden sagt: "Mit mir
mußt du dich messen." Und dann gibt es den Heiligen, der sagt: "Nehmt mich als
Geisel und Opfer. Ich zahle für alle", während die anderen entsetzt flüchten
vor den Gewalttätigen, die nach Opfern dürsten. Dann gibt es den Zyniker, der
bei dem allgemeinen Elend noch auf seinen Profit bedacht ist und über die
Leichen der Opfer lacht. Es gibt den Verräter, der einen ihm eigenen Mut hat:
Den Mut zum Bösen. Der Verräter, eine Verbindung des Zynikers mit dem Feigen,
ist doch auch ein Menschentyp, der in schwerwiegenden Stunden zum Vorschein
kommt. Denn zynisch schlägt er Profit aus einer Katastrophe, und feige geht er
zur stärkeren Partei über. Und er wagt es um seines Nutzens willen, der
Verachtung der Feinde und den Flüchen der Verlassenen zu trotzen. Dann gibt es
endlich, und
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das ist der vorherrschende Typ,
den Feigling, der in der Stunde der Gefahr nur bedauern kann, sich zu einer
Partei oder zu einem Menschen bekannt zu haben, auf denen nun das Anathema
liegt, und die fliehen müssen... Dieser Feigling ist kein Verbrecher wie der
Zyniker und auch nicht abstoßend wie der Verräter. Doch auch er läßt die
Unvollkommenheit seiner geistigen Verfassung erkennen.
Ihr seid von dieser Art. Sagt
nicht nein. Ich lese in den Herzen. Heute früh habt ihr gedacht: "Was wird
geschehen? Gehen auch wir dem Tod entgegen?" Und das Niedrigste in euch
stöhnte: "Wir erst recht... !"
Ja, aber habe ich euch jemals
getäuscht? Von meinen ersten Worten an habe ich zu euch von Verfolgung und Tod
gesprochen. Und wenn einer von euch, aus einem Übermaß an Bewunderung, mich
als König sehen und vorstellen wollte, als einen der armen Könige der Erde,
die immer arm sind, selbst wenn sie als König das Königreich Israel
wiederhergestellt hätten, habe ich seinen Irrtum sofort berichtigt und gesagt:
"König des Geistes bin ich. Ich biete euch Entbehrungen und Opfer und Leiden.
Ich habe nichts anderes. Hier auf Erden habe ich nichts anderes. Aber nach
meinem, nach eurem Tod in meinem Glauben werde ich euch ein ewiges Reich
geben: das Himmelreich." Habe ich vielleicht etwas anderes gesagt? Nein. Ihr
sagt nein.
Und ihr habt damals gesagt: "Wir
wollen nur dies. Mit dir, wie du und für dich wollen wir sein und leiden, wie
dir soll es uns ergehen." Ja, das habt ihr gesagt. Und ihr wart auch
aufrichtig. Aber das kam daher, daß ihr wie Kinder gedacht, wie unbesonnene
Kinder gesprochen habt. Ihr dachtet, es sei leicht, mir nachzufolgen, und ihr
wart so durchdrungen von eurer dreifachen Sinnlichkeit, daß ihr nicht zugeben
konntet, das, was ich angedeutet hatte, könnte wahr sein. Ihr dachtet: "Er ist
der Sohn Gottes. Er sagt dies, um unsere Liebe auf die Probe zu stellen. Aber
er kann nicht von den Menschen geschlagen werden. Er, der Wunder wirkt, wird
auch zu seinen eigenen Gunsten ein großes Wunder zu wirken wissen." Und jeder
fügte noch hinzu: "Ich kann nicht glauben, daß er verraten, gefangengenommen
und getötet werden wird." Euer menschlicher Glaube an meine Macht war so
stark, daß ihr schließlich keinen Glauben mehr an meine Worte gehabt habt,
keinen wahren, geistigen, heiligen und heiligmachenden Glauben.
"Er, der Wunder wirken kann, wird
wohl eines zu seinen Gunsten wirken", habt ihr gesagt. Nicht nur eines,
sondern viele werde ich noch wirken. Und zwei werden so sein, daß kein
menschlicher Verstand sie sich ausdenken kann.' Es werden Wunder sein, die nur
jene, die an den Herrn
' Anspielung auf die beiden
größten Wunder: die Eucharistie und die glorreiche Auferstehung.
61
glauben, erkennen können. Alle
anderen werden zu allen Zeiten sagen: "Unmöglich." Auch nach meinem Tod werde
ich Gegenstand des Widerspruchs für viele sein.
An einem schönen Frühlingsmorgen
habe ich auf einem Berg die verschiedenen Seligkeiten genannt. Es gibt noch
eine: "Selig jene, die glauben und nicht sehen." Ich habe auf den Wegen
Palästinas schon gesagt: "Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen."
Und weiter: "Selig, die den Willen Gottes tun." Und anderes, vieles mehr habe
ich euch gesagt, denn im Haus meines Vaters gibt es zahlreiche Freuden, die
die Heiligen erwarten. Aber auch diese gibt es: Oh, selig jene, die glauben
werden, ohne mit den leiblichen Augen gesehen zu haben! Viele Heilige wird es
geben, die schon auf Erden Gott sehen, den verborgenen Gott im Mysterium der
Liebe.
Aber ihr, ihr habt nach drei
Jahren, in denen ihr bei mir seid, diesen Glauben noch nicht erlangt. Ihr
glaubt nur an das, was ihr seht. Deshalb sagt ihr seit heute früh, nach dem
Triumph: "Es ist so, wie wir gesagt haben. Er wird siegen und wir mit ihm."
Wie die Vöglein, denen neue Flügel gewachsen sind, nachdem ein grausamer
Mensch sie ihnen ausgerissen hatte, erhebt ihr euch zum Flug, trunken vor
Freude, sicher und befreit von der Bedrückung, die meine Worte in euren Herzen
zurückgelassen hatten.
Ist somit euer Geist nun auch
freier? Nein, er ist sogar weniger frei. Denn ihr seid jetzt noch weniger
vorbereitet auf die Stunde, die anbricht. Ihr habt die Hosanna wie starken,
wohltuenden Wein getrunken, und ihr seid trunken davon. Ist ein Betrunkener
jemals stark? Ein Kinderhändchen genügt, um ihn ins Wanken und zu Fall zu
bringen. So seid ihr. Und das Erscheinen der Häscher wird ausreichen, um euch
in die Flucht zu schlagen wie scheue Gazellen, die die spitze Schnauze des
Schakals hinter einem Felsen des Berges auftauchen sehen und wie der Wind in
der Einsamkeit der Wüste verschwinden.
Oh, hütet euch, an schrecklichem
Durst zu sterben in der trockenen Wüste der Welt ohne Gott! Sagt nicht, sagt
nicht, o meine Freunde, was Isaias sagt, wenn er auf diesen euren falschen und
gefährlichen Geisteszustand hinweist. Sagt nicht: "Dieser redet nur von
Verschwörungen. Aber es gibt nichts zu fürchten, nichts zu erschrecken. Wir
brauchen nicht zu fürchten, was er uns prophezeit. Israel liebt ihn. Wir haben
es gesehen." Wie oft tritt der nackte, zarte Fuß eines Kindes auf die
blühenden Gräser einer Wiese, um Blumen zu pflücken und sie der Mama zu
bringen, in der Meinung, es gäbe nur Gräser und Blumen; indessen setzt es
seine Ferse auf eine Schlange, wird gebissen und stirbt! Die Blumen hatten die
Schlange verborgen.
Auch heute morgen... auch heute
morgen ist es so gewesen. Ich bin der mit Rosen bekränzte Verurteilte. Die
Rosen! ... Wie lange halten Rosen? Was bleibt von ihnen, wenn ihre Blüte sich
entblättert hat und ihre Blütenblätter duftender Schnee geworden sind? Nur
Dornen.
62
Ja, Isaias hat es gesagt, ich
werde für euch Heiligung sein, und ich sage, nicht nur für euch, sondern für
die ganze Welt. Aber auch der Stein des Anstoßes werde ich sein, der Stein des
Ärgernisses, Schlinge und Ruin für Israel und die Welt. Ich werde alle
heiligen, die guten Willens sind, und ich werde alle fallen und zerschellen
lassen, die bösen Willens sind.
Die Engel lügen nicht, und ihre
Worte haben nicht nur kurze Gültigkeit. Sie kommen von Gott, der die Wahrheit
und ewig ist, und was sie sagen, ist Wahrheit und unveränderliches Wort. Sie
haben gesagt: "Friede den Menschen, die guten Willens sind." Damals wurde, o
Erde, dein Erlöser geboren. Nun geht dein Erlöser in den Tod. Aber um Frieden
bei Gott zu haben, also Heiligung und Ehre, ist es erforderlich, "guten
Willens" zu sein. Vergebens meine Geburt, vergebens mein Tod für jene, denen
dieser gute Wille fehlt. Mein erstes Wimmern und mein letztes Röcheln, der
erste Schritt und der letzte, die Wunde der Beschneidung und die der
Erfüllung, alles wird vergebens gewesen sein, wenn ihr, wenn die Menschen
nicht den guten Willen haben, sich zu erlösen und zu heiligen.
Und ich sage euch: Sehr viele
werden an mir anstoßen, der ich als Säule und Stütze, und nicht als Falle für
den Menschen gesandt bin. Sie werden fallen, weil sie trunken von Hochmut,
Unzucht und Geiz sind, und sie werden im Netz ihrer Sünden gefangen und Satan
gegeben werden. Senkt diese Worte in eure Herzen und versiegelt sie für die
künftigen Jünger.
Gehen wir. Der Stein erhebt
sich'. Ein weiterer Schritt voran. Auf den Berg. Er muß auf dem Gipfel
leuchten, denn er ist Sonne, er ist Licht, er ist Aufgang. Und die Sonne
strahlt auf den Gipfeln. Er muß auf dem Berg sein, denn der wahre Tempel muß
von der ganzen Welt gesehen werden. Ich selbst errichte ihn mit dem lebendigen
Stein meines geopferten Fleisches. Ich werde die Teile verbinden mit dem Kalk
aus Schweiß und Blut. Auf meinem Thron werde ich in einen Mantel aus
lebendigem Purpur gehüllt sein, mit einer neuen Krone gekrönt, und jene, die
fern sind, werden zu mir kommen und in meinem Tempel arbeiten und in seinem
Umkreis. Ich bin der Grundstein und der Gipfel. Aber ringsherum wird sich das
Haus Gottes immer weiter ausdehnen. Ich selbst werde meine Steine und meine
Bauleute bearbeiten. So wie ich vom Vater, von der Liebe, vom Menschen und vom
Haß mit dem Meißel bearbeitet wurde, ebenso werde ich sie bearbeiten. Und
nachdem an einem einzigen Tag die Ungerechtigkeit von der Erde genommen sein
wird, werden auf dem Stein des ewigen Priesters die sieben Augen ruhen, um
Gott zu sehen, und die sieben Quellen entspringen, um das Feuer Satans zu
besiegen.
Satan... Judas, wir wollen gehen.
Vergiß nicht, daß die Zeit drängt und das Lamm für den Donnerstagabend
ausgeliefert sein muß.»
Zacharias 3,9
63
652. DER MONTAG NACH DEM EINZUG
IN JERUSALEM 1. DER TAG
Jesus verläßt rasch das Zelt
eines Galiläers, dort auf dem Plateau des Ölberges, wo viele Galiläer sich
anläßlich der Feste versammeln. Das Lager schläft unter dem Schein des Mondes,
der langsam untergeht und die Zelte, die Bäume, die Hügel und die in der Tiefe
ruhende Stadt in sein reines, silbernes Licht taucht.
Jesus geht sicher und geräuschlos
zwischen den Zelten hindurch. Nachdem er das Lager verlassen hat, eilt er den
steilen Weg nach Gethsemane hinunter, läßt diesen hinter sich, überquert die
kleine Brücke des Kedron – ein silbernes Band, das im Mondschein glitzert –
und kommt zu dem von Legionären bewachten Tor. Es ist dies wohl eine
Vorsichtsmaßnahme des Prokonsuls, bei Nacht Wachen an die geschlossenen Tore
zu stellen. Die Soldaten, es sind vier, sitzen auf großen Steinen, die als
Bänke dienen, an der mächtigen Mauer. Sie unterhalten sich und wärmen sich an
einem Reisigfeuerchen, das einen rötlichen Lichtschein auf die glänzenden
Harnische und die gestrengen Helme wirft, unter denen Gesichter zu sehen sind,
deren italienische Physiognomie so verschieden von der hebräischen ist.
«Wer geht da?» fragt der erste,
der die hohe Gestalt Jesu an der Ecke eines kleinen Hauses nahe beim Tor
erscheinen sieht. Er ergreift den Speer mit der scharfen Spitze, den er an die
Mauer gelehnt hatte, nimmt die vorgeschriebene Haltung an, und die anderen tun
desgleichen. Ohne Jesus Zeit zu einer Antwort zu lassen, sagt er gleich
darauf: «Wir können dich nicht hineinlassen. Weißt du nicht, daß die zweite
Nachtwache sich schon ihrem Ende nähert?»
«Ich bin Jesus von Nazareth.
Meine Mutter ist in der Stadt. Ich gehe zu ihr.»
«Oh, der Mann, der den Toten von
Bethanien auferweckt hat! Beim Jupiter! Nun sehe ich ihn endlich!» Und er geht
zu ihm hin und betrachtet ihn neugierig von allen Seiten, wie um sich zu
vergewissern, daß es sich nicht um etwas Unwirkliches, um etwas Sonderbares
handelt, sondern um einen Menschen wie alle anderen. Schließlich sagt er: «0
ihr Götter! Er ist schön wie Apollo, aber sonst genau wie wir. Und er hat
weder einen Stab noch eine Mütze noch sonst ein Zeichen seiner Macht!» Der
Soldat ist ganz perplex. Jesus schaut ihn geduldig an und lächelt ihm
freundlich ZU.
Die anderen, die weniger
neugierig zu sein scheinen, weil sie Jesus vielleicht schon öfter gesehen
haben, sagen: «Es wäre gut gewesen, wenn er um die Mitte der ersten Nachtwache
hier gewesen wäre, als das schöne Mädchen zu Grab getragen wurde, das heute
früh gestorben ist. Wir hätten sie dann auferstehen sehen...»
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Jesus wiederholt sanft: «Kann ich
zu meiner Mutter gehen?»
Die vier Soldaten halten Rat.
Dann sagt der älteste: «Die Vorschrift verbietet uns eigentlich, um diese
Stunde jemanden passieren zu lassen. Doch du würdest sowieso hineinkommen. Für
einen, der die Pforten des Hades bezwingt, sind auch die verschlossenen Tore
einer Stadt kein Hindernis. Zudem bist du nicht einer, der Aufruhr anzettelt.
Also gilt das Verbot nicht für dich. Laß dich aber nicht von den Wachen in der
Stadt erwischen. Mach auf, Marcus Gratus. Und du, versuche kein Geräusch zu
machen. Wir sind Soldaten und müssen gehorchen...»
«Keine Angst, eure Güte wird euch
keine Strafe einbringen.»
Einer der Legionäre öffnet
vorsichtig die kleine Tür in dem riesigen Tor und sagt: «Beeile dich. Gleich
ist die zweite Nachtwache zu Ende und wir werden von den anderen abgelöst.»
«Der Friede sei mit euch.»
«Wir sind Krieger...»
«Auch im Krieg bleibt der Friede,
den ich euch gebe; denn es ist der Friede der Seele.»
Jesus taucht im Dunkel des
Mauerbogens unter und geht leise an der Wachstube vorbei, aus deren Tür das
flackernde Licht einer Öllampe dringt; einer einfachen Lampe, die an einem
Haken von der niedrigen Decke hängt und die Körper schlafender Soldaten auf am
Boden ausgebreiteten Matten erkennen läßt, alle in ihre Mäntel eingehüllt und
die Waffen an der Seite.
Jesus ist nun in der Stadt... und
ich verliere ihn aus den Augen, während ich zwei Soldaten von zuvor beobachte,
die wieder hereinkommen und nachsehen, ob er verschwunden ist, bevor sie in
die Wachstube gehen, um die Schlafenden zu wecken und sich ablösen zu lassen.
«Man sieht ihn schon nicht
mehr... Was wollte er wohl mit diesen Worten sagen? Das würde ich gerne
wissen», sagt der jüngere.
«Du hättest ihn fragen sollen. Er
verachtet uns nicht. Er ist der einzige Hebräer, der uns nicht verachtet und
uns in keiner Weise beleidigt», antwortet der andere, der schon im besten
Mannesalter ist.
«Ich habe es nicht gewagt. Ich
bin nur ein Bauer aus Beneventum und soll mit einem reden, von dem man sagt,
er sei ein Gott?»
«Ein Gott auf einem Esel? Ha, ha!
Wenn er betrunken wie Bacchus wäre, könnte er ein Gott sein. Aber er ist nicht
betrunken. Ich glaube, er trinkt nicht einmal Mulsum 1). Siehst du nicht, wie
blaß und mager er ist?»
«Aber die Hebräer...»
«Die trinken schon, obwohl sie so
tun, als täten sie es nicht. Und betrunken vom starken Wein und dem Most
dieser Gegend, haben sie Gott
____________
1) Mulsum: mit Honig gemischter
Wein.
65
in einem Menschen gesehen. Glaube
mir. Die Götter sind Hirngespinste. Der Olymp ist leer, und auch auf der Erde
gibt es keine.»
«Wenn sie dich hören würden... !»
«Du bist noch so ein Kind, daß du
nicht mitreden kannst und nicht weißt, daß selbst der Caesar, die Auguren, die
Haruspizes, die Arvales und die Vestalinnen nicht an die Götter glauben, noch
sonst irgend jemand.»
«Aber warum dann...»
«Warum die Riten? Nun, weil sie
dem Volk gefallen, den Priestern nützen und dem Caesar dazu dienen, sich
Gehorsam zu verschaffen, als wäre er ein irdischer Gott, den die olympischen
Götter an der Hand führen. Doch die ersten, die nicht daran glauben, sind die,
die wir als Diener der Götter ehren. Ich bin Pyrrhonianer und habe die Welt
bereist. Ich habe viele Erfahrungen gesammelt. Meine Haare sind schon ergraut
an den Schläfen, und mein Denken ist gereift. Mein persönlicher Kodex besteht
aus drei Grundregeln: Rom, die einzige Göttin und einzige Gewißheit, lieben
bis zum Opfer des Lebens. Nichts glauben, denn alles, was uns umgibt, ist nur
Erscheinungsform, mit Ausnahme des heiligen, unsterblichen Vaterlandes. Sogar
an uns selbst müssen wir zweifeln, denn es ist auch ungewiß, ob wir wirklich
leben. Verstand und Sinne genügen nicht, um uns die Sicherheit zu geben, daß
wir zur Wahrheit gelangen können. Leben und Sterben haben den gleichen Wert,
denn wir wissen nicht, was Leben ist, und wir wissen nicht, was Sterben ist»,
sagt er und trägt dabei die Überlegenheit des philosophischen Skeptizismus zur
Schau.
Der andere schaut ihn unsicher
an. Dann sagt er: «Ich hingegen glaube. Ich würde gerne wissen... Ich würde
gerne den Mann fragen, der soeben vorbeigekommen ist. Er kennt gewiß die
Wahrheit. Etwas Eigenartiges geht von ihm aus. Es ist wie ein Licht, das ins
Innere dringt!»
«Äskulap möge dich retten! Du
bist krank! Du bist erst vor kurzem aus dem Tal zur Stadt heraufgekommen, und
wer eine solche Reise unternimmt, wird leicht von Fieber befallen. Du bist
noch nicht an diese Gegend gewöhnt. Du fieberst. Komm, das einzig sichere
Mittel, um durch Schwitzen das Gift des jordanischen Fiebers aus den Poren zu
treiben, ist der heiße Würzwein», und er drängt ihn zur Wachstube.
Doch der andere befreit sich und
sagt: «Ich bin nicht krank. Ich will keinen heißen Würzwein. Ich will hier
außen an der Mauer wachen (dabei zeigt er auf die Innenseite der Bastion) und
auf den Mann warten, der sich Jesus nennt.»
«Wenn es dir Spaß macht, zu
warten... Ich gehe die Ablösung wecken. Leb wohl...»
Er betritt geräuschvoll die
Wachstube, weckt die Kameraden und ruft: «Es ist Zeit. Auf, ihr lahmen
Faulpelze! Ich bin müde ...» dann gähnt er vernehmlich und flucht, denn sie
haben das Feuer ausgehen lassen und
66
den ganzen heißen Wein getrunken,
«der so nötig ist, um diesen palästinensischen Tau zu trocknen...»
Der andere, der junge Legionär,
lehnt sich an die vom sinkenden Mond beschienene Mauer und wartet darauf, daß
Jesus zurückkommt. Die Sterne wachen über seiner Hoffnung...
Jesus ist inzwischen am Haus des
Lazarus auf dem Berg Sion angelangt und klopft. Levi öffnet ihm.
«Du, Meister?! Die Herrinnen
schlafen noch. Warum hast du nicht einen Diener geschickt, wenn du etwas
brauchst?»
«Sie hätten ihn nicht
durchgelassen.»
«Ah, ja, das stimmt. Aber wie
bist du hereingekommen?»
«Ich bin Jesus von Nazareth. Und
die Legionäre haben mich passieren lassen. Aber darüber soll man nicht reden,
Levi.»
«Ich werde nichts sagen... Sie
sind besser als viele von uns.»
«Führe mich dorthin, wo meine
Mutter schläft, und wecke sonst niemanden im Haus.»
«Wie du willst, Herr. Der Befehl
des Lazarus an alle seine Hausverwalter lautet, dir in allem zu gehorchen,
ohne Widerrede und Verzug. Die Sonne war kaum aufgegangen, als ein Bote, viele
Boten, ihn in alle Häuser brachten. Gehorchen und schweigen. Wir werden es
tun. Du hast uns unseren Herrn wiedergegeben...»
Der Mann trottet voraus durch die
weiten Korridore, die wie Galerien den herrlichen Palast des Lazarus auf dem
Berg Sion durchziehen. Die Lampe, die er in der Hand hält, erzeugt
fantastische Lichtspiele auf den Möbeln und Wandteppichen, die diese weiten
Gänge schmücken. Schließlich bleibt er vor einer verschlossenen Tür stehen.
«Hier ist deine Mutter.»
«Geh nur.»
«Und die Lampe? Willst du sie
nicht haben? Ich kann im Dunkeln zurückgehen. Ich kenne mich im Haus aus. Ich
bin hier geboren.»
«Laß sie hier und zieh den
Schlüssel nicht von der Tür ab. Ich gehe gleich wieder.»
«Du weißt, wo du mich findest.
Ich werde die Tür vorsichtshalber abschließen, aber ich werde bereit sein, sie
bei deinem Kommen sofort zu öffnen.»
Jesus bleibt allein. Er klopft
leise an. Es ist ein so leises Klopfen, daß nur einer, der ganz wach ist, es
hören kann.
Ein Geräusch im Zimmer, wie das
Verrücken eines Stuhls. Dann leise Schritte und eine gedämpfte Stimme: «Wer
klopft?»
«Ich, Mama, öffne mir.»
Die Tür öffnet sich sofort. Nur
der Mondschein erhellt den stillen Raum und wirft seine Strahlen auf das
unbenutzte Bett. Ein Stuhl steht am Fenster, das weit offen ist für das
Geheimnis der Nacht.
«Du hast noch nicht geschlafen?
Es ist schon spät!»
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«Ich habe gebetet... Komm, mein
Sohn. Setz dich hierher, wo ich gesessen bin.» Maria zeigt auf den Stuhl am
Fenster.
«Ich kann nicht bleiben. Ich bin
gekommen, um dich zu holen, damit du mit mir nach Ophel zu Elisa gehst.
Annalia ist gestorben. Habt ihr es noch nicht erfahren?»
«Nein, niemand... Wann, Jesus?»
«Nachdem ich vorübergeritten
war.»
«Nachdem du vorübergeritten
warst! So warst du also für sie der Engel der Befreiung?! Diese Erde war für
sie nur ein Gefängnis. Die Glückliche! Ich möchte an ihrer Stelle sein! Ist
sie... eines natürlichen Todes gestorben? Ich meine, nicht durch ein Unglück?»
«Sie ist aus Liebesfreude
gestorben. Sie wußte, daß ich im Begriff war, zum Tempel hinaufzusteigen. Komm
mit mir, Mama. Wir fürchten nicht, uns zu verunreinigen, wenn wir eine Mutter
trösten, die in ihren Armen die Tochter gehalten hat, die aus übernatürlicher
Freude gestorben ist... Unsere erste Jungfrau! Jene, die zu dir nach Nazareth
gekommen ist, um mich zu suchen und diese Freude von mir zu erbitten... Ferne,
frohe Tage.»
«Vorgestern hat sie noch wie eine
verliebte Mönchsgrasmücke gezwitschert, mich geküßt und gesagt: "Ich bin
glücklich!" Sie war begierig, alles über dich zu erfahren. Wie Gott dich
gebildet hat. Wie er mich erwählt hat, und welches meine ersten Gefühle als
geweihte Jungfrau waren... Nun verstehe ich... Ich bin bereit, Sohn.»
Maria hat sich beim Sprechen die
Zöpfe aufgesteckt, die ihr über die Schultern gehangen sind und ihr das
Aussehen eines so jungen Mädchens geben, und den Schleier und den Mantel
umgelegt.
Sie gehen hinaus, so leise als
möglich. Levi ist schon an der Tür. Er erklärt: «Ich habe es vorgezogen...
wegen meiner Frau... Die Frauen sind neugierig. Sie hätte mir hundert Fragen
gestellt. So weiß sie nichts...
Er öffnet und will schon wieder
schließen, als Jesus sagt: «Noch innerhalb dieser Nachtwache werde ich meine
Mutter zurückbringen.»
«Ich werde hier in der Nähe
warten. Hab keine Sorge.»
«Der Friede sei mit dir.»
Sie gehen durch stille,
verlassene Straßen, aus denen sich der Mondschein langsam zurückzieht, um auf
den hohen Häusern des Sion-Berges zu verweilen. Heller ist es im Vorort Ophel
wegen der bescheidenen, niedrigen Häuser.
Da ist nun das Haus Annalias.
Verschlossen, dunkel und schweigend. Verwelkte Blumen liegen noch auf den
Stufen des Hauses. Vielleicht sind es jene, die die Jungfrau vor ihrem Tod
gestreut hat, oder sie sind von der Totenbahre heruntergefallen...
Jesus klopft an die Tür. Er
klopft noch einmal...
Das Geräusch eines Fensterladens,
den man oben öffnet, und eine traurige Stimme: «Wer klopft?»
68
«Maria und Jesus von Nazareth»,
antwortet Maria.
«Oh! Ich komme... !»
Nach Kurzem wird der Riegel
zurückgeschoben. Die Tür öffnet sich und es erscheint das verstörte Gesicht
Elisas, die sich mit Mühe auf den Beinen hält und sich an den Türpfosten
stützt. Und als Maria beim Eintreten die Arme öffnet, wirft sie sich an ihre
Brust, mit dem schwachen Schluchzen eines Menschen, der schon viele Tränen
vergossen und keine Kraft mehr hat, laut zu weinen.
Jesus schließt die Tür und wartet
geduldig, bis seine Mutter diesen Schmerz beruhigt hat. Ein Raum ist neben der
Tür. Dort hinein gehen sie. Jesus trägt die Lampe, die Elisa am Eingang auf
den Boden gestellt hat, um die Tür zu öffnen.
Das Weinen der Frau scheint kein
Ende nehmen zu wollen. Unter heiserem Schluchzen spricht sie mit Maria. Die
Mutter spricht zur Mutter. Jesus steht an der Wand und schweigt... Elisa kann
diesen Tod, der so plötzlich eingetreten ist, nicht begreifen... In ihrem Gram
gibt sie dem ungetreuen Bräutigam Samuel die Schuld: «Er hat ihr das Herz
gebrochen, dieser Verfluchte! Sie hat es nicht gesagt, aber wer weiß, wie sehr
sie darunter gelitten hat! In ihrer Freude, in dem Aufschrei, hat ihr Herz
versagt. Er sei auf ewig verflucht.»
«Nein, meine Liebe. Nein.
Verfluche ihn nicht. Es ist nicht so. Gott hat sie so sehr geliebt, daß er sie
im Frieden wollte. Aber selbst wenn sie wegen Samuel gestorben wäre – sie ist
es nicht, wir wollen dies nur für einen Augenblick annehmen – so denke daran,
welch freudiger Tod der ihre war, und sage dir, daß diese böse Tat ihr einen
so glücklichen Tod brachte.»
«Ich habe sie nicht mehr! Sie ist
gestorben! Sie ist gestorben! Du weißt nicht, was es heißt, eine Tochter zu
verlieren! Ich habe zweimal diesen Schmerz verkostet, denn ich hatte sie schon
als Tote beweint, als dein Sohn sie mir geheilt hat. Aber nun, aber nun... Er
ist nicht wiedergekommen. Er hat kein Mitleid gehabt... Ich habe sie verloren!
Verloren! Mein Kind ist schon im Grab! Weißt du, was es heißt, ein Kind
sterben zu sehen? Zu wissen, daß es sterben muß? Es tot zu sehen, wenn man es
gesund und kräftig glaubte? Du weißt es nicht! Du kannst nicht reden... Sie
war schön wie eine Rose, die sich unter den ersten Strahlen der Sonne öffnet,
als sie sich heute morgen schmückte. Sie wollte sich mit dem Kleid schmücken,
das ich ihr für die Hochzeit gemacht hatte. Sie wollte sich wie eine Braut
bekränzen. Dann hat sie den schon fertigen Kranz wieder aufgelöst, um die
Blütenblätter deinem Sohn zuzuwerfen, und dabei hat sie gesungen! Sie hat
gesungen! Ihre Stimme hat das ganze Haus erfüllt. Sie war lieblich wie der
Frühling. Die Freude ließ ihre Augen wie Sterne leuchten, die geöffneten
Lippen über den schneeweißen Zähnen waren purpurrot wie das Fruchtfleisch
eines Granatapfels, und die Wangen waren frisch und rot wie junge
taugeschmückte Rosen. Dann wurde sie weiß
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wie eine eben erblühte Lilie und
fiel an meine Brust wie ein geknickter Blütenstiel... Kein Wort mehr! Kein
Seufzer mehr! Keine Farbe mehr! Kein Blick mehr! Friedlich, schön wie ein
Engel Gottes, aber ohne Leben. Du weißt nicht, was mein Schmerz ist, denn du
freust dich über den Triumph deines Sohnes, der gesund und kräftig ist. Warum
ist er nicht zurückgekommen? Worin hat sie ihm mißfallen, und ich mit ihr, daß
er kein Mitleid mit meiner Bitte gehabt hat?»
«Elisa, Elisa, sage so etwas
nicht... Der Schmerz macht dich blind und taub... Elisa, du kennst meine
Leiden nicht, und du kennst nicht das tiefe Meer, das mein Leiden sein wird.
Du hast sie ruhig, schön und in Frieden erkalten sehen, in deinen Armen.
Ich... ich betrachte seit mehr als drei Jahrzehnten mein Geschöpf, und über
das glatte, reine Fleisch hinaus, das ich betrachte und liebkose, sehe ich die
Wunden des Mannes der Schmerzen, der mein Sohn sein wird. Du, du sagst, daß
ich nicht verstehen kann, was es heißt, ein Kind zweimal sterben und dann im
Frieden zu sehen, weißt du, was es für eine Mutter bedeutet, dreißig Jahre
lang diese Vision zu haben? Mein Sohn! Er ist schon rot gekleidet, als ob er
aus einem blutigen Bad steigen würde. Und bald, sehr bald, bevor noch das
Antlitz deiner Tochter im Grab dunkel wird, werde ich ihn mit dem Purpur
seines unschuldigen Blutes bekleidet sehen. Mit dem Blut, das ich ihm gegeben
habe. Du konntest deine Tochter in deine Arme nehmen... Begreifst du, was für
ein Schmerz es für mich sein wird, meinen Sohn wie einen Missetäter am Holz
sterben zu sehen? Sieh ihn an, den Erlöser aller! Im Geist und im Fleisch.
Denn das Fleisch der von ihm Erlösten wird unverwest und selig in seinem Reich
leben. Sieh mich an. Sieh diese Mutter an, die Stunde um Stunde den Sohn zum
Opfer begleitet und führt -oh! denn ich würde ihn nie zurückhalten. Ich kann
dich verstehen, arme Mutter. Aber du sollst auch mein Herz verstehen! Hasse
meinen Sohn nicht. Annalia hätte den Todeskampf ihres Herrn nicht ertragen.
Und ihr Herr hat ihr die Seligkeit geschenkt in einer Stunde der Freude.»
Elisa hat bei dieser Offenbarung
zu weinen aufgehört. Sie betrachtet Maria, ihr bleiches, von lautlosen Tränen
überströmtes Märtyrergesicht, und dann Jesus, der sie mitleidsvoll anschaut...
Und sie gleitet zu Boden zu Füßen Christi und stöhnt: «Aber sie ist gestorben!
Sie ist gestorben, Herr! Wie eine Lilie, eine geknickte Lilie! Von dir sagen
die Dichter, daß es dir gefällt, unter Lilien zu weilen! Oh, wahrlich, du, der
aus der Lilie Maria Geborene, gehst oft hinunter zu den blühenden Beeten,
machst aus purpurnen Rosen weiße Lilien und pflückst sie, indem du sie aus der
Welt nimmst. Warum? Warum Herr?! Ist es nicht recht, daß eine Mutter sich der
von ihr geborenen Rose erfreut? Warum den Purpur im kalten Tod der weißen
Lilie auslöschen?»
«Die Lilien, sie werden das
Symbol jener sein, die mich lieben, wie meine Mutter Gott geliebt hat. Das
weiße Blumenbeet des göttlichen Königs.»
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«Aber wir Mütter werden weinen.
Wir Mütter haben ein Recht auf unsere Kinder. Warum sie aus dem Leben nehmen?»
«Ich meine es nicht so, Frau. Sie
werden eure Töchter bleiben, aber dem König geweiht sein, wie die Jungfrauen
in den Palästen Salomons. Denke an das Hohelied... Sie werden geliebte Bräute
sein, auf Erden wie im Himmel.»
«Aber mein Kind ist tot! Tot!»
Das herzzerbrechende Weinen beginnt erneut.
«Ich bin die Auferstehung und das
Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und wahrlich, ich
sage dir, er wird in Ewigkeit nicht sterben. Deine Tochter lebt. Sie wird ewig
leben, denn sie hat an das Leben geglaubt. Mein Tod wird ihr Leben vollenden.
Sie hat die Freude gekannt, in mir zu leben, bevor sie den Schmerz kannte,
mich dem Leben entrissen zu sehen. Dein Schmerz macht dich blind und taub.
Meine Mutter hat die Wahrheit gesagt. Aber bald wirst du die Worte
wiederholen, die ich dir heute morgen habe sagen lassen: "Wahrlich, ihr Tod
war eine Gnade Gottes." Glaube es, Frau. Das Furchtbare wartet schon in dieser
Stadt. Der Tag wird kommen, da die wie du getroffenen Mütter sagen werden:
"Gott sei gepriesen, weil er unseren Kindern diese Tage erspart hat." Die
nicht getroffenen Mütter werden zum Himmel schreien: "Warum, o Gott, hast du
unsere Kinder nicht vor dieser Stunde sterben lassen?" Glaube es, Frau. Glaube
meinen Worten. Errichte zwischen dir und Annalia nicht die tatsächlich
trennende Schranke: die des Unterschiedes im Glauben. Siehst du, ich hätte
auch wegbleiben können. Du weißt, wie sehr man mich haßt. Laß dich nicht durch
den Triumph einer Stunde täuschen! ... Jeder Winkel kann eine Gefahr für mich
bergen. Aber ich bin allein und in der Nacht gekommen, um dich zu trösten und
dir diese Worte zu sagen. Ich habe Mitleid mit dem Schmerz einer Mutter. Und
ich bin gekommen, um dir diese Worte um deines Seelenfriedens willen zu sagen.
Der Friede sei mit dir, der Friede.»
«Schenke du ihn mir, Herr! Ich
kann nicht! Ich kann in meinem Schmerz keinen Frieden finden. Aber du, der du
den Toten das Leben wiedergibst und den Sterbenden die Gesundheit, gib dem
Herzen einer gequälten Mutter den Frieden.»
«So sei es, Frau! Der Friede sei
mit dir.» Er legt ihr die Hände auf, segnet sie und betet schweigend über ihr.
Maria ist neben Elisa niedergekniet und hat einen Arm um sie gelegt.
«Leb wohl, Elisa. Ich gehe ...»
«Werden wir uns nicht
wiedersehen, Herr? Ich werde nun viele Tage das Haus nicht verlassen, und du
wirst nach dem Osterfest fortgehen. Du... bist noch ein wenig ein Teil meiner
Tochter... denn Annalia... denn Annalia lebte in dir und für dich.» Sie weint,
ruhiger, aber wie sehr weint sie.
71
Jesus schaut sie an... Er
streichelt das graue Haupt und sagt: «Du wirst mich wiedersehen.»
«Wann?»
«In acht Tagen.»
«Und du wirst mich noch einmal
trösten? Mich segnen, um mir Kraft zu geben?»
«Mein Herz wird dich segnen mit
der ganzen Fülle meiner Liebe für jene, die mich lieben. Komm, Mutter.»
«Mein Sohn, wenn du erlaubst,
möchte ich noch bei dieser Mutter bleiben. Der Schmerz ist eine Sturmflut, die
wiederkehrt, wenn der gegangen ist, der sie beruhigen kann... Ich werde um die
erste Stunde nach Hause zurückkehren. Ich fürchte mich nicht, allein zu gehen.
Du weißt es. Und du weißt auch, daß ich durch ein ganzes feindliches Heer
gehen würde, um einen Bruder in Gott zu trösten.»
«Es sei, wie du willst. Ich gehe.
Gott sei mit euch.»
Geräuschlos geht er hinaus,
schließt hinter sich die Tür des Zimmers und dann die des Hauses. Er begibt
sich zur Stadtmauer, zum Tor von Ephraim oder zum Stercoraria- oder Misttor.
Ich habe diese nahe beieinanderliegenden Tore oft mit diesen drei Namen nennen
gehört, vielleicht, weil eines auf die Straße nach Jericho, also auch nach
Ephraim hinausführt, und das andere in der Nähe des Hinnom-Tals liegt, wo man
die Abfälle der Stadt verbrennt. Die beiden Tore sind sich zum Verwechseln
ähnlich.
Der Himmel hellt sich am
östlichen Horizont schon auf, obgleich er noch voller Sterne ist. Die Straßen
sind in ein Halbdunkel gehüllt, in dem man noch weniger sieht als im vom
Mondlicht durchfluteten Dunkel der Nacht.
Doch der römische Soldat hat gute
Augen, und als er Jesus auf das Tor zukommen sieht, geht er ihm entgegen.
«Salve. Ich habe auf dich
gewartet...» Er hält zögernd inne.
«Sprich ohne Furcht. Was willst
du von mir?»
«Ich möchte etwas wissen. Du hast
gesagt: "Der Friede, den ich gebe, bleibt auch im Krieg, denn es ist der
Friede der Seele." Ich möchte wissen, was das für ein Friede ist und was die
Seele ist. Wie kann ein Mensch, der sich im Krieg befindet, im Frieden sein?
Wenn der Tempel des Janus geöffnet wird, schließt man den Tempel des Friedens.
Beides kann es nicht gleichzeitig geben auf der Welt.» Er spricht, an das
grünliche Mäuerchen eines Gartens gelehnt, in einem Gäßchen zwischen ärmlichen
Häusern, so schmal wie ein Fußpfad durch die Felder. Es ist hier feucht,
düster und dunkel. Abgesehen von einem schwachen Schimmer auf dem glänzenden
Helm ist von den beiden, die miteinander sprechen, nichts zu sehen. Gesichter
und Gestalten lösen sich auf in der Schwärze der Nacht.
Die Stimme Jesu klingt klar und
hell in der Freude, einen Samen des
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Lichtes in den Heiden säen zu
können. «Wahrlich, in der Welt können Friede und Krieg nicht nebeneinander
bestehen. Das eine schließt das andere aus. Aber im Krieger kann Friede sein,
auch wenn er dem Befehl folgt und Schlachten schlägt. Mein Friede kann in ihm
sein. Denn mein Friede kommt vom Himmel, und Kriegsgetöse und heftige Kämpfe
können ihm nichts anhaben. Er ist von Gott und erfüllt das Göttliche im
Menschen, das Seele genannt wird.»
«Das Göttliche? In mir? Der
Caesar ist göttlich. Ich bin nur ein Bauernsohn. Nun bin ich ein Legionär ohne
Rang. Und wenn ich tapfer bin, kann ich vielleicht Centurio werden. Aber
göttlich nie.»
«Es ist etwas Göttliches in dir.
Es ist die Seele, die von Gott kommt. Vom wahren Gott. Daher ist sie göttlich,
dieser lebendige Edelstein im Menschen, und von Göttlichem nährt sie sich und
lebt sie: dem Glauben, dem Frieden und der Wahrheit. Der Krieg kann sie nicht
beunruhigen, die Verfolgung sie nicht verletzen, der Tod sie nicht töten. Nur
das Böse, die böse Tat verletzt und tötet sie und raubt ihr auch den Frieden,
den ich gebe. Denn das Böse trennt den Menschen von Gott.»
«Und was ist das Böse?»
«Im Heidentum zu verharren und
die falschen Götter anzubeten, nachdem die Güte des wahren Gottes die Seele
erkennen läßt, daß es einen wahren Gott gibt; Vater und Mutter, die Brüder und
den Nächsten nicht lieben; stehlen, töten, Unzucht treiben und lügen, das ist
das Böse.»
«Ach, dann kann ich deinen
Frieden nicht haben! Ich bin Soldat und habe den Befehl zu töten. Für uns gibt
es also keine Rettung?!»
«Sei gerecht im Krieg wie im
Frieden. Erfülle deine Pflicht ohne Übertreibung und Grausamkeit. Während du
kämpfst und eroberst, denke daran, daß der Feind ein Mensch ist wie du, und
daß in jeder Stadt Mütter und Mädchen sind wie deine Mutter und deine
Schwestern. Sei daher tapfer, ohne ein Unmensch zu sein. So wirst du die Wege
der Gerechtigkeit und des Friedens nicht verlassen, und mein Friede wird in
dir bleiben.»
«Und dann?»
«Und dann? Was meinst du damit?»
«Nach dem Tod? Was wird aus dem
Guten, das ich getan habe, und was geschieht mit der Seele, die, wie du sagst,
nicht stirbt, wenn man nichts Böses tut?»
«Sie lebt. Sie lebt, geschmückt
mit ihren guten Werken, in einem jubelnden Frieden, der größer ist als jener,
den man auf der Erde genießt.»
«Dann hat also in Palästina nur
einer Gutes getan! Ich verstehe.»
«Wer?»
«Lazarus von Bethanien. Seine
Seele ist nicht gestorben!»
«Wahrlich, er ist ein Gerechter.
Doch viele sind wie er und sterben und stehen nicht wieder auf; aber ihre
Seele lebt weiter im wahren Gott. Denn
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die Seele hat eine andere Wohnung
im Reich Gottes. Und wer an mich glaubt, wird in dieses Reich eingehen.»
«Auch ich, ein Römer?»
«Auch du, wenn du an die Wahrheit
glaubst.»
«Was ist die Wahrheit?»
«Ich bin die Wahrheit und der
Weg, auf dem man zur Wahrheit gelangt, und ich bin das Leben und gebe das
Leben, denn wer die Wahrheit aufnimmt, nimmt das Leben auf.»
Der junge Soldat denkt nach...
schweigt... Dann schaut er auf. Ein noch reines Jünglingsantlitz mit einem
offenen, heiteren Lächeln. Er sagt. «Ich werde versuchen, mich an diese Worte
zu erinnern und noch mehr zu erfahren. Sie gefallen mir...»
«Wie heißt du?»
«Vitalis. Ich stamme aus der
Gegend um Beneventum, vom Land.»
«Ich werde mich deines Namens
erinnern. Auch deine Seele wird vital sein, wenn du sie mit der Wahrheit
nährst. Leb wohl. Das Tor wird geöffnet. Ich verlasse die Stadt.»
«Ave.»
Jesus geht rasch zum Tor und eilt
den Weg entlang, der zum Kedron, nach Gethsemane und von dort zum Lager der
Galiläer führt. Unter den Ölbäumen auf dem Berg holt er Judas von Kerioth ein,
der ebenfalls zum Lager hinaufeilt, das nun in Sicht kommt.
Judas erschrickt, als er sich
Jesus gegenübersieht. Jesus schaut ihn fest an, ohne ein Wort zu sagen.
«Ich habe den Aussätzigen
Lebensmittel gebracht. Aber... ich habe nur zwei in Hinnom und fünf bei Siloe
gefunden. Die anderen sind alle geheilt. Sie sind noch dort, aber sie sind
schon so sehr geheilt, daß sie mich gebeten haben, den Priester zu
benachrichtigen. Ich bin im ersten Tageslicht hinuntergegangen, um danach frei
zu sein. Die Sache wird viel Aufsehen erregen. Eine so große Anzahl von
Aussätzigen, die alle gleichzeitig gesund geworden sind, nachdem du sie vor
den Augen so vieler gesegnet hast!»
Jesus sagt nichts. Er läßt ihn
reden... Er sagt weder: «Das hast du gut gemacht», noch sonst etwas über die
Handlungsweise des Judas oder das Wunder, sondern bleibt plötzlich stehen,
schaut den Apostel fest an und fragt ihn: «Nun? Hat sich etwas geändert, seit
ich dir Freiheit und das Geld gelassen habe?»
«Was willst du damit sagen?»
«Dies: Ich frage dich, ob du dich
geheiligt hast, seit ich dir Freiheit und Geld gelassen habe. Du verstehst
mich schon... Ach! Judas! Denke daran! Denke immer daran: du bist der gewesen,
den ich mehr als alle anderen geliebt habe und der mir weniger Liebe als alle
anderen geschenkt hat. Sogar der Haß, den du gegen mich hegst, ist größer als
der Haß des
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gehässigsten Pharisäers, da er
gegen einen gerichtet ist, der dich als seinen Freund betrachtet. Und denke
auch daran: Nicht einmal jetzt hasse ich dich, sondern ich verzeihe dir,
soweit es in der Macht des Menschensohnes steht. Geh nun. Es gibt nichts mehr
zu sagen zwischen dir und mir. Alles ist schon getan...»
Judas möchte etwas sagen, doch
Jesus gibt ihm mit einer gebieterischen Geste zu verstehen, daß er weitergehen
soll... Judas neigt das Haupt wie ein Besiegter und geht weiter...
Am Rand des Lagers der Galiläer
warten schon die Apostel und die beiden Diener des Lazarus.
«Wo bist du gewesen, Meister? Und
du, Judas? Seid ihr beisammen gewesen?»
Jesus kommt der Antwort des Judas
zuvor: «Ich hatte einigen Herzen etwas zu sagen. Judas ist zu den Aussätzigen
gegangen... Aber alle bis auf sieben sind geheilt.»
«Oh, warum bist du gegangen? Ich
wollte doch mitkommen!» sagt der Zelote.
«Um frei zu sein, jetzt mit uns
zu gehen. Gehen wir. Wir werden die Stadt durch das Herdentor betreten.
Beeilen wir uns», sagt wiederum Jesus.
Er geht allen voran durch die
Ölgärten. Sie reichen vom Lager, das beinahe auf halbem Weg zwischen Bethanien
und Jerusalem liegt, bis zum anderen Brückchen über den Kedron beim Herdentor.
Bauernhäuser liegen an den Hängen
verstreut, und fast ganz unten am Fluß neigt sich ein zerzauster Feigenbaum
über das Wasser. Jesus begibt sich zu diesem und schaut, ob unter den breiten,
üppigen Blättern reife Feigen hängen. Doch der Baum hat nur viele unnütze
Blätter an den Ästen, und keine einzige Frucht. «Du bist wie viele Herzen in
Israel. Du hast keine Süßigkeit für den Menschensohn und kein Erbarmen. In
Ewigkeit wirst du keine Frucht mehr tragen, und niemand wird mehr von dir
essen», sagt Jesus.
Die Apostel sehen einander an.
Der Zorn Jesu über den unfruchtbaren, vielleicht wilden Baum, verwundert alle.
Aber sie sagen nichts. Erst etwas später, als sie den Kedron überschritten
haben, fragt Petrus: «Wo hast du gegessen?»
«Nirgendwo.»
«Oh, dann hast du Hunger! Sieh,
dort ist ein Hirte mit einigen weidenden Ziegen. Ich werde gehen und ihn um
Milch für dich bitten. Ich bin gleich wieder da.» Petrus eilt mit großen
Schritten davon und kehrt bald darauf vorsichtig mit einer Schüssel voll Milch
zurück.
Jesus trinkt und gibt dann dem
Hirtenjungen, der Petrus begleitet hat, die Schüssel mit einer Liebkosung
zurück...
Sie betreten die Stadt und gehen
zum Tempel hinauf. Nachdem Jesus
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den Herrn angebetet hat, geht er
in den Hof, in dem die Rabbis ihren Unterricht erteilen.
Die Leute umdrängen ihn, und eine
Mutter, die aus Citium gekommen ist, zeigt ihm ein Kind, das, wie ich glaube,
durch eine Krankheit erblindet sein muß. Seine Augen sind weiß wie bei einem
grauen Star oder etwas Ähnlichem.
Jesus heilt das Kind, indem er
ihm mit den Fingern über die Augen streicht. Dann beginnt er sofort zu reden:
«Ein Mann kaufte Land und legte
einen Weinberg an. Er baute ein Haus für die Weingärtner, einen Turm für die
Wächter, Keller und eine Kelter zum Pressen der Trauben und übergab alles den
Pächtern, denen er vertraute. Dann reiste er weit fort.
Als die Zeit kam, da die
Weingärten Frucht tragen sollten, da die Reben genügend gewachsen waren,
sandte der Herr des Weinberges seine Diener zu den Weingärtnern, um den Ertrag
der Ernte abzuholen. Aber die Winzer überfielen diese Diener, verprügelten die
einen und steinigten die anderen mit großen Steinen. Viele wurden verletzt und
einige sogar getötet. Jene, die lebend zu ihrem Herrn zurückkehren konnten,
erzählten ihm, was geschehen war. Der Herr ließ ihre Wunden behandeln und
tröstete sie. Dann schickte er noch einmal eine größere Anzahl. Und die Winzer
machten es mit diesen genauso wie mit den ersten.
Darauf sagte der Herr des
Weinberges: "Nun werde ich meinen Sohn zu ihnen senden. Vor meinem Erben
werden sie doch Achtung haben."
Aber als die Weingärtner ihn
kommen sahen und erfuhren, daß er der Erbe war, riefen sie einander zu und
sagten: "Kommt, wir wollen uns zusammentun, um viele zu sein. Schleppen wir
ihn hinaus an einen weit entfernten Ort und töten wir ihn. Dann gehört sein
Erbe uns." Sie empfingen ihn mit vorgetäuschten Ehren, umringten ihn, als ob
sie ihn feiern wollten, fesselten ihn, nachdem sie ihn geküßt hatten, schlugen
ihn und schleppten ihn spottend zur Richtstätte, wo sie ihn töteten.
Nun sagt mir: Was wird der Vater
und Herr tun, wenn er eines Tages bemerkt, daß sein Sohn, der Erbe seines
Besitzes, nicht zurückkehrt? Wenn er entdeckt, daß seine Winzer zu Mördern
seines Sohnes geworden sind? Die Winzer, denen er sein fruchtbares Land
überlassen hat, damit sie es in seinem Namen bestellen, in den Genuß seines
Ertrages gelangen und ihrem Herrn den gerechten Anteil davon abgeben.» Jesus
blitzt mit seinen wie Sonnen flammenden Saphiraugen die um ihn Versammelten
an, und besonders die Gruppen der einflußreicheren Juden, der Pharisäer und
der Schriftgelehrten in der Menge. Niemand spricht.
«Antwortet! Wenigstens ihr,
Lehrer Israels, sagt ein Wort der Gerechtigkeit, damit sich das Volk von der
Gerechtigkeit überzeugt. Ich würde eurer Meinung nach nicht das richtige Wort
sagen. So redet also ihr, damit das Volk nicht im Irrtum bleibt.»
76
Die Schriftgelehrten antworten
nun gezwungenermaßen so: «Er wird die Frevler schwer bestrafen, sie auf
grausame Art töten und den Weinberg anderen Winzern geben, die ihn
gewissenhaft verwalten und dem Eigentümer seinen Anteil abliefern.»
«Ihr habt gut gesprochen. So
steht es in der Schrift: "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum
Eckstein geworden. Durch den Herrn ist dies geschehen: ein Wunder vor unseren
Augen." Weil dies geschrieben steht und ihr es wißt und für gerecht haltet,
daß die Mörder des Sohnes und Erben streng bestraft werden und der Weinberg
anderen Winzern übergeben wird, die ihn gewissenhaft bebauen, sage ich euch:
"Das Reich Gottes wird euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine
Früchte bringt. Und jeder, der gegen diesen Stein fällt, wird zerschmettert
werden; auf wen er aber fällt, den wird er zermalmen."»
Die Oberen der Priester, die
Pharisäer und die Schriftgelehrten reagieren mit heroischer
Selbstbeherrschung. Soviel bringt der Wille, einen Zweck zu erreichen, fertig!
Um geringer Dinge willen haben sie ihn oft angefeindet, und heute, da ihnen
der Herr Jesus offen sagt, daß ihnen die Macht genommen werden wird, schmähen
sie ihn nicht, greifen ihn nicht an, bedrohen ihn nicht, sondern spielen die
geduldigen Lämmer und verbergen ihr unverbesserliches Wolfsherz scheinheilig
unter dem Pelz der Sanftmut.
Sie beschränken sich darauf,
immer in seiner Nähe zu bleiben, denn er geht nun wieder auf und ab und hört
diesen und jenen unter den vielen Pilgern an, die sich in dem großen Hof
versammelt haben. Viele bitten ihn um Rat in Dingen der Seele, in familiären
oder zwischenmenschlichen Angelegenheiten, und andere warten darauf, mit ihm
sprechen zu können. Sie hören ihm zu, wie er in einer schwierigen
Erbschaftsfrage urteilt, die Haß und Zwietracht unter den verschiedenen Erben
stiftet. Denn der Vater hatte mit einer Magd des Hauses einen später
adoptierten Sohn, aber die ehelichen Söhne wollen ihn weder bei sich haben
noch als Miterben bei der Teilung der Häuser und Grundstücke. Vielmehr wollen
sie mit dem Bastard nichts mehr zu tun haben und wissen nun nicht, wie das
Problem zu lösen ist. Der Vater hat sie nämlich vor seinem Tod schwören
lassen, daß sie, so wie er immer das Brot zwischen den ehelichen Söhnen und
dem unehelichen geteilt hat, das Erbe gleichmäßig mit ihm teilen werden.
Jesus sagt zu dem Mann, der ihn
im Namen der anderen Brüder fragt: «Verzichtet alle auf ein Stück Land und
verkauft es, so daß es den Geldwert eines Fünftels der ganzen Erbschaft
ergibt. Gebt es dem Unehelichen mit den Worten: "Hier ist dein Teil. Du bist
nicht um das deine gekommen, und wir haben den Willen unseres Vaters erfüllt.
Geh, und Gott sei mit dir." Seid großzügig im Geben, gebt eher mehr als den
genauen Wert seines Anteils. Und tut es vor gerechten Zeugen, dann wird
niemand auf
77
Erden und im Jenseits euch tadeln
und Ärgernis nehmen können; dann werdet ihr Frieden in euch und untereinander
haben, denn ihr werdet euch nicht vorwerfen müssen, dem Vater ungehorsam
gewesen zu sein, und ihr werdet den nicht mehr unter euch haben, der, obwohl
unschuldig, euch stärker beunruhigt als ein Dieb.»
Der Mann sagt: «Der Bastard hat
wahrlich unserer Familie den Frieden und unserer Mutter die Gesundheit
geraubt, so daß sie vor Leid gestorben ist. Er hat einen Platz eingenommen,
der ihm nicht zusteht.»
«Nicht er ist der Schuldige,
sondern der, der ihn gezeugt hat. Er hat nicht danach verlangt, geboren zu
werden und das Mal eines Bastards zu tragen. Die Gier eures Vaters hat ihn
gezeugt und ihm und euch Schmerz bereitet. Seid deshalb gerecht mit dem
Unschuldigen, der schon schwer genug für eine Schuld bezahlt, die nicht die
seine ist. Verflucht nicht die Seele eures Vaters. Gott hat ihn gerichtet. Die
Blitze eurer Verwünschungen sind nicht nötig. Ehrt den Vater immer, auch wenn
er schuldig ist. Nicht seinetwegen, sondern weil er auf Erden euren Gott
vertritt. Er hat euch gezeugt nach der Weisung Gottes, und er ist der Herr
eures Hauses. Die Eltern kommen gleich nach Gott. Denke an die Zehn Gebote.
Und sündige nicht. Geh in Frieden.»
Die Priester und die
Schriftgelehrten treten nun zu Jesus hin, um ihn zu befragen: «Wir haben dich
gehört. Du hast recht gesprochen. Einen weiseren Rat hätte nicht einmal
Salomon geben können. Aber nun sage uns, du, der du Wunder wirkst und Urteile
fällst, wie nur der weise König es hätte tun können, mit welcher Vollmacht
tust du dies? Woher kommt dir diese Macht?»
Jesus schaut sie fest an. Er ist
weder aggressiv noch verächtlich, doch sehr hoheitsvoll. Er sagt: «Auch ich
will euch eine Frage vorlegen, und wenn ihr sie mir beantwortet, werde ich
euch sagen, wer mir – dem Menschen ohne die Vollmacht eines Amtes und ohne
Reichtum, denn das wollt ihr doch andeuten – die Vollmacht gibt, solche Dinge
zu tun. Sagt mir: Woher kam die Taufe des Johannes? Vom Himmel oder vom
Menschen, der sie spendete? Antwortet mir. Mit welcher Vollmacht hat Johannes
sie gespendet als reinigenden Ritus, um euch auf das Kommen des Messias
vorzubereiten, da er doch noch ärmer und ungebildeter war als ich und kein
entsprechendes Amt innehatte, denn er hatte seit seiner Kindheit in der Wüste
gelebt?»
Die Schriftgelehrten und Priester
beraten sich. Das Volk drängt sich heran mit weit offenen Augen und Ohren, um
zu protestieren, sollten die Schriftgelehrten den Täufer herabsetzen und den
Meister beleidigen, oder um Beifall zu spenden, falls sie durch die göttliche
Weisheit in der Frage des Rabbi von Nazareth aus der Fassung gebracht würden.
Das absolute Schweigen dieser Menge in Erwartung der Antwort ist
beeindruckend. Es ist so tief, daß man den Atem und das Flüstern der Priester
und
78
Schriftgelehrten hört, die fast
stimmlos miteinander sprechen und dabei auf das Volk schielen, dessen
explosive Stimmung sie fühlen. Endlich entschließen sie sich zu einer Antwort.
Sie wenden sich Christus zu, der mit über der Brust gekreuzten Armen an einer
Säule lehnt und sie nicht aus den Augen läßt, und sagen: «Meister, wir wissen
nicht, mit welcher Vollmacht Johannes dies getan hat und woher seine Taufe
kam. Niemand hat daran gedacht, den Täufer zu fragen, solange er lebte, und er
selbst hat es auch nie gesagt.»
«Dann sage auch ich euch nicht,
mit welcher Vollmacht ich dies tue.»Er kehrt ihnen den Rücken, ruft die Zwölf
zu sich, teilt die Beifall spendende Menge und verläßt den Tempel.
Als sie schon draußen, jenseits
des Probatica-Teichs sind – denn auf dieser Seite sind sie hinausgegangen –
sagt Bartholomäus: «Deine Gegner sind sehr vorsichtig geworden. Vielleicht
sind sie im Begriff, sich zum Herrn zu bekehren, der dich gesandt hat, und
werden dich bald als den heiligen Messias anerkennen.»
«Es ist wahr. Sie haben weder
deine Frage noch deine Antwort angegriffen ...» sagt Matthäus.
«So ist es. Es ist schön, daß
Jerusalem sich zum Herrn, seinem Gott, bekehrt», sagt Bartholomäus noch.
«Macht euch keine Illusionen.
Dieser Teil Jerusalems wird sich niemals bekehren. Sie haben nur nicht anders
geantwortet, weil sie das Volk fürchten. Ich habe zwar ihre geflüsterten Worte
nicht verstanden, aber ich habe ihre Gedanken gelesen.»
«Und was haben sie gesagt?» fragt
Petrus.
«Dies haben sie gesagt. Ich
wünsche, daß ihr es wißt, damit ihr sie gründlich kennenlernt und den
künftigen Menschen eine genaue Beschreibung der Herzen der Menschen meiner
Zeit geben könnt. Sie haben nicht geantwortet, nicht weil sie sich zum Herrn
bekehren, sondern weil sie entschieden hatten: Wenn wir sagen: "Die Taufe des
Johannes kam vom Himmel", wird der Rabbi uns antworten: "Warum habt ihr dann
nicht an das geglaubt, was vom Himmel kam und die Vorbereitung auf die
messianische Zeit bedeutete?" Sagen wir aber: "Vom Menschen", wird das Volk
sich auflehnen und sagen: "Und warum glaubt ihr dann nicht, was Johannes,
unser Prophet, über Jesus von Nazareth gesagt hat?" Es ist deshalb besser zu
antworten: "Wir wissen es nicht." Das ist es, was sie sagten. Nicht, weil sie
sich zu Gott bekehrt haben, sondern aus niedriger Berechnung und um nicht
bekennen zu müssen, daß ich der Christus bin und tue, was ich tue, weil ich
das Lamm Gottes bin, von dem der Vorläufer gesprochen hat. Also wollte auch
ich nicht sagen, mit welcher Vollmacht ich tue, was ich tue. Schon oft habe
ich es in diesen Mauern und in ganz Palästina gesagt, und meine Wunder
sprechen noch mehr als meine Worte. Nun werde ich es nicht mehr mit Worten
sagen. Ich werde die
79
Propheten und meinen Vater
sprechen lassen und die Zeichen des Himmels. Denn die Zeit ist gekommen, in
der alle Zeichen gegeben werden. Jene, von denen die Propheten gesprochen
haben und die in den Symbolen unserer Geschichte ausgedrückt sind, und das
Zeichen, das ich genannt habe: das Zeichen des Jonas. Erinnert ihr euch des
Tages in Kedes? Es ist das Zeichen, auf das Gamaliel wartet. Du, Stephanus,
du, Hermas, und du, Barnabas, der du heute deine Gefährten verlassen hast, um
mir zu folgen, ihr habt den Rabbi gewiß oft über dieses Zeichen reden gehört.
Nun, dieses Zeichen wird bald gegeben werden.»
Jesus entfernt sich durch die
Ölgärten auf dem Berg, gefolgt von den Seinen, vielen Jüngern (aus den
zweiundsiebzig) und anderen, wie Joseph Barnabas, die ihn noch sprechen hören
wollen.
653. DER MONTAG VOR DEM
PASSAHFEST 11. DIE NACHT IN GETHSEMANE
Jesus ist am Abend noch im
Ölgarten. Er ist mit seinen Aposteln dort und spricht wieder.
«Wieder ist ein Tag vergangen.
Nun kommt die Nacht, dann der Morgen, und dann noch ein Morgen, und dann das
Passahmahl.»
«Wo werden wir es halten, mein
Herr? Dieses Jahr sind auch die Frauen bei uns», fragt Philippus.
«Und noch haben wir nichts
vorbereitet, und die Stadt ist überfüllt. Es scheint, als wäre dieses Jahr
ganz Israel, bis zum entferntesten Proselyten, zum Fest herbeigeeilt», sagt
Bartholomäus.
Jesus betrachtet ihn und sagt,
als ob er einen Psalm aufsagen würde: «Sammelt euch, beeilt euch, eilt herbei,
schart euch von allen Seiten um das Opfer, das ich euch bereiten will; um das
große, auf den Bergen Israels dargebrachte Opfer, um sein Fleisch zu essen und
sein Blut zu trinken.»
«Aber welches Opfer? Welches? Du
gleichst einem, den eine fixe Idee beherrscht. Du sprichst nur vom Tod... Und
du betrübst uns», sagt Bartholomäus heftig.
Jesus wendet seinen Blick von
Simon ab, der sich über Jakobus des Alphäus und über Petrus beugt und mit
ihnen redet, schaut ihn lange an und sagt dann: «Wie? Du fragst mich das? Du
gehörst doch nicht zu den Kleinen, die, um verstehen zu können, erst das
siebenfache Licht empfangen müssen. Du warst in der Schrift schon bewandert,
bevor ich dich durch Philippus an jenem linden Frühlingsmorgen rief. Am Morgen
meines Frühlings. Und du fragst noch, welches das Opfer ist, das auf dem Berg
dargebracht wird und zu dem alle kommen werden, um sich daran zu
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laben? Und du sagst, ich leide an
einer fixen Idee, weil ich vom Tod rede? Oh, Bartholomäus! Wie den Ruf der
Wächter habe ich in eure Finsternis, die sich nie dem Licht geöffnet hat,
einmal, zweimal, dreimal, die Ankündigung gerufen. Aber ihr wolltet nie
verstehen. Ihr habt einen Augenblick darunter gelitten, und dann... Wie Kinder
habt ihr schnell die Worte des Todes vergessen und seid fröhlich zu eurer
Arbeit zurückgekehrt, eurer selbst sicher und in der Hoffnung, daß meine und
eure Worte die Welt immer mehr überzeugen würden, ihrem Erlöser zu folgen und
ihn zu lieben.
Nein. Erst nachdem dieses Land
gegen mich gesündigt hat – und denkt daran, es sind die Worte des Herrn zu
seinen Propheten – erst dann, danach, wird das Volk, und nicht nur dieses Volk
allein, sondern das große Volk Adams, zu seufzen beginnen: "Laßt uns zum Herrn
gehen. Er, der uns geschlagen hat, wird uns auch heilen." Und die Welt der
Erlösten wird sagen: "Nach zwei Tagen, also nach zwei Zeiten der Ewigkeit, in
denen er uns der Gewalt des Feindes überläßt, der uns mit allen Waffen
schlagen und töten wird, mit denen wir den Heiligen geschlagen und getötet
haben – und wir schlagen und töten ihn noch, denn es wird immer Nachkommen
Kains geben, die den Sohn Gottes, den Erlöser, töten durch Gotteslästerung und
böse Werke; die tödliche Pfeile nicht auf ihn, den in Ewigkeit Verherrlichten,
sondern auf ihre eigenen, von ihm losgekauften Seelen schleudern und sie
töten, und mit ihrer Seele auch ihn – erst nach diesen zwei Zeiten wird der
dritte Tag kommen, und wir werden vor seinem Angesicht im Reich des Christus
auf Erden auferstehen und vor ihm leben im Triumph des Geistes. Wir werden ihn
kennen. Wir werden lernen, den Herrn zu erkennen, um durch die wahre
Erkenntnis Gottes bereit zu sein, die letzte Schlacht Luzifers zu bestehen,
die er den Menschen liefern wird vor dem Posaunenstoß des siebten Engels. Und
dieser wird den seligen Chor der Heiligen Gottes in ewig vollständiger Zahl
eröffnen – weder der kleinste Säugling noch der älteste Greis kann dieser Zahl
jemals noch hinzugefügt werden. Der Chor wird singen: "Zu Ende ist das arme
Reich der Erde. Die Welt mit all ihren Bewohnern ist vorübergezogen vor dem
prüfenden Auge des siegreichen Richters. Und die Erwählten sind nun in der
Hand unseres Herrn und seines Christus, und er ist unser König auf ewig. Lob
sei dem Herrn, dem allmächtigen Gott, der ist, der war und der sein wird, denn
er hat seine große Macht ergriffen und die Herrschaft angetreten."
Oh, wer von euch wird sich der
Worte dieser Prophezeiung erinnern, die schon verschleiert in den Worten
Daniels anklingt und nun ertönt durch die Stimme des Weisen vor einer
betroffenen Welt und vor euch, die ihr noch betroffener seid als die Welt?
"Die Ankunft des Königs – wird
die Welt seufzend fortfahren, über ihre Wunden klagend, eingeschlossen in
ihrem Grab, weder tot noch lebendig, gefangen in ihrem siebenfachen Laster und
ihren unendlichen
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Häresien, mit dem sterbenden
Geist der verfinsterten Welt und unter den letzten Anstrengungen ihres
aussätzigen, an allen seinen Irrtümern abgestorbenen Leibes – die Ankunft des
Königs ist sicher wie die Morgenröte, und er kommt zu uns wie der Frühlings-
und Herbstregen."
Die Nacht geht dem Sonnenaufgang
voraus und bereitet ihn vor. Dies ist die Nacht. Die jetzige Nacht. Was soll
ich dir tun, Ephraim, was soll ich dir tun, Juda? ... Simon, Bartholomäus,
Judas und ihr Vettern, die ihr die Schrift studiert habt, kennt ihr diese
Worte? Nicht von einem verwirrten Geist, sondern von einem, der die Weisheit
und die Wissenschaft kennt, stammen sie. Wie ein König, der seine Schatzkammer
öffnet und sicher weiß, wo das gesuchte Juwel ist, da er es eigenhändig dort
hineingelegt hat, zitiere ich die Propheten. Ich bin das Wort.
Jahrhundertelang habe ich durch menschliche Lippen gesprochen. Und
jahrhundertelang werde ich durch menschliche Lippen sprechen. Aber alles, was
an Übernatürlichem gesagt wird, ist mein Wort. Der Mensch, selbst der
heiligste und gelehrteste, könnte nicht von sich aus als ein Adler der Seele
über die Grenzen der blinden Welt aufsteigen, um die ewigen Geheimnisse zu
erfassen und sie auszusprechen.
Die Zukunft ist Gegenwart nur im
Geist Gottes. Töricht sind alle, die glauben, prophezeien und offenbaren zu
können, ohne durch unseren Willen erhoben zu sein. Und bald straft Gott sie
Lügen und bestraft sie, denn nur einer kann sagen: "Ich bin" und "Ich sehe"
und "Ich weiß". Aber wenn ein Wille, den man nicht ermessen und nicht
beurteilen kann, sondern mit gesenktem Haupt und den Worten: "Hier bin ich"
ohne Widerrede annehmen muß, sagt: "Komm, steige herauf, höre, sieh und
wiederhole", dann sieht und zittert die Seele, versenkt in die ewige Gegenwart
ihres Gottes. Sie sieht und weint, sieht und jubiliert, vom Herrn dazu
berufen, "Stimme" zu sein. Dann hört die vom Herrn berufene Seele, "Wort" zu
sein, und spricht in Ekstase oder von Todesschweiß bedeckt die furchtbaren
Worte des ewigen Gottes. Denn jedes Wort Gottes ist furchtbar, da es von dem
kommt, dessen Urteil unveränderlich und dessen Gerechtigkeit unwiderruflich
ist, und da es an die Menschen gerichtet ist, von denen allzu viele nicht
Liebe und Segen, sondern Blitz und Verurteilung verdienen. Und wird dieses
Wort, das gegeben und mißachtet wird, nicht zur Ursache einer schrecklichen
Schuld und Strafe für jene, die es gehört und abgelehnt haben? So wird es
sein.
Was hätte ich noch tun sollen,
was ich nicht schon getan habe, o Ephraim, o Juda, o Welt? Ich bin gekommen, o
mein Land, dich zu lieben, und mein Wort ist zum Schwert geworden, das dich
tötet, weil du es verachtet hast. O Welt, die du deinen Erlöser tötest in dem
Glauben, ein gerechtes Werk zu tun, du bist so satanisch besessen, daß du
nicht einmal mehr begreifst, welches Opfer Gott verlangt; das Opfer der
eigenen Sünde, und nicht das eines Tieres, das geopfert und verzehrt wird mit
unreiner
82
Seele. Was habe ich dir denn in
diesen drei Jahren gesagt? Was habe ich gepredigt? Ich habe gesagt; "Erkennt
Gott in seinen Geboten und in seiner Natur." Ich habe euch die lebenswichtige
Kenntnis des Gesetzes Gottes eingegossen und bin nun trocken wie ein poröses
tönernes Gefäß in der Sonne. Und du hast weiterhin Brandopfer dargebracht,
ohne jemals das einzig Notwendige darzubringen: Das Opfer deines bösen Willens
an den wahren Gott!
Nun sagt der ewige Gott zu dir,
sündige Stadt, treuloses Volk – und in der Stunde des Gerichtes wirst du
geschlagen werden, wie weder Rom noch Athen geschlagen werden, weil sie jetzt
töricht sind und das Wort und die Wissenschaft nicht kennen. Aber wenn sie,
die ewigen, von ihrer Amme schlecht gepflegten und in ihren Fähigkeiten
zurückgebliebenen Kinder, einmal in die Arme meiner heiligen Kirche gelangen,
meiner einzigen wunderbaren Braut, die Christus unzählige und seiner würdige
Kinder gebären wird, dann werden auch sie erwachsen und fähig werden und mir
Reiche und Heere schenken, Tempel und Heilige, die den Himmel gleich Sternen
bevölkern werden – nun sagt der ewige Gott zu dir: "Ich habe kein Wohlgefallen
mehr an euch und nehme keine Gaben mehr an aus eurer Hand. Sie sind für mich
wie Mist, und ich schleudere ihn euch ins Angesicht, und er wird an euch
hängenbleiben. Eure Feste, die nur Äußerlichkeit sind, widern mich an. Ich
löse den Bund mit dem Geschlecht Aarons und schließe ihn mit den Kindern
Levis; denn dieser ist mein Levi, und mit ihm habe ich einen ewigen Bund des
Lebens und des Friedens geschlossen, und er war mir treu von Ewigkeit zu
Ewigkeit, bis zum Opfer. Er kannte die heilige Furcht vor dem Vater und
zitterte vor seinem beleidigten Zorn, zitterte schon beim Klang meines
beleidigten Namens. Das Gesetz der Wahrheit war in seinem Mund, und auf seinen
Lippen war keine Ungerechtigkeit. Er wandelte mit mir in Frieden und Gleichmut
und entriß viele der Sünde. Die Zeit ist gekommen, da an jedem Ort, und nicht
mehr auf dem einzigen Altar in Sion, da ihr unwürdig seid sie zu opfern,
meinem Namen die reine, makellose und dem Herrn wohlgefällige Hostie
dargebracht werden wird."
Erkennt ihr die ewigen Worte?»
«Wir erkennen sie, o unser Herr.
Und glaube uns, wir sind zutiefst betrübt und völlig niedergeschmettert. Ist
es denn nicht möglich, dem Schicksal zu entgehen?»
«Du nennst es Schicksal,
Bartholomäus?»
«Ich wüßte keinen anderen
Namen...»
«Wiedergutmachung ist sein Name.
Man beleidigt den Herrn nicht, ohne daß die Beleidigung wiedergutgemacht
werden müßte. Und der Schöpfergott wurde vom ersten Geschöpf beleidigt.
Seither hat die Zahl der Beleidigungen beständig zugenommen. Weder die Wasser
der großen Flut noch das Feuer auf Sodom und Gomorrha halfen, den Menschen
83
heilig zu machen. Weder das
Wasser noch das Feuer. Die Erde ist ein grenzenloses Sodom, das Luzifer frei
und ungehindert durchstreift. Daher muß eine Dreiheit kommen, um sie zu
reinigen: Das Feuer der Liebe, das Wasser des Schmerzes und das Blut des
Opfers. Hier, o Erde, ist mein Geschenk. Ich bin gekommen, es dir zu geben.
Und nun sollte ich vor der Vollendung fliehen? Es ist Passah. Man kann nicht
fliehen.»
«Warum gehst du nicht zu Lazarus?
Das wäre keine Flucht. Aber bei ihm würde dir niemand etwas antun.»
«Simon hat recht. Ich bitte dich,
Herr, tue es!» ruft Judas Iskariot und wirft sich Jesus zu Füßen.
Johannes beginnt daraufhin heftig
zu weinen, und auch die Vettern und Jakobus und Andreas weinen, wenngleich
etwas verhaltener in ihrem Schmerz.
«Du glaubst an mich als den
"Herrn"? Schau mich an!» und Jesus prüft mit scharfen Augen das verängstigte
Gesicht des Iskariot. Er ist wirklich verängstigt und tut nicht nur so.
Vielleicht ist es der letzte Kampf seiner Seele mit Satan, und er weiß nicht,
wie er siegen soll. Jesus studiert ihn und verfolgt den Kampf, wie ein
Wissenschaftler die Krise eines Kranken studieren könnte. Dann steht er
plötzlich mit einem Ruck auf, so plötzlich, daß Judas, der sich an seine Knie
lehnt, zurückgestoßen wird und auf dem Boden sitzt. Jesus weicht sogar mit
betrübtem Gesicht einige Schritte zurück und sagt: «Damit auch Lazarus
gefangengenommen wird? Damit es doppelte Beute und damit eine doppelte Freude
gibt? Nein. Lazarus bewahrt sich für den zukünftigen Christus, den
triumphierenden Christus. Nur einer wird aus dem Leben scheiden und nicht
zurückkehren. Ich werde wiederkommen. Aber er wird nicht wiederkommen. Lazarus
bleibt. Du weißt so vieles, du weißt auch dies. Doch jene, die auf doppelten
Gewinn hoffen und den Adler zusammen mit dem Jungen mühelos im Nest fangen
wollen, können sicher sein, daß der Adler Augen für alles hat und sich aus
Liebe zu seinem Jungen vom Nest entfernen wird, um allein gefangen zu werden
und das Junge zu retten. Ich werde vom Haß getötet, und doch liebe ich
weiterhin. Geht. Ich bleibe, um zu beten. Niemals habe ich es so nötig gehabt
wie in dieser Stunde, meine Seele zum Himmel zu erheben.»
«Laß mich bei dir bleiben, Herr»,
bittet Johannes.
«Nein, ihr alle habt Ruhe nötig.
Geh.»
«Bleibst du allein? Und wenn sie
dir etwas Böses tun? Du scheinst auch krank zu sein... Ich bleibe», sagt
Petrus.
«Du gehst mit den anderen. Laßt
mich für eine Stunde die Menschen vergessen. Laßt mich mit den Engeln meines
Vaters zusammensein! Sie werden mir die Mutter ersetzen, die sich im Gebet und
unter Tränen quält und die ich nicht noch mehr belasten kann mit meinem
untröstlichen Leid. Geht.»
84
«Gibst du uns nicht den Frieden?»
fragt der Vetter Judas.
«Du hast recht. Der Friede des
Herrn komme über alle, die in seinen Augen kein Abscheu sind. Lebt wohl.»
Jesus geht einen Hang hinauf und zieht sich ins Dickicht der Ölbäume zurück.
«Und doch... was er sagt, steht
wirklich in der Schrift! Und wenn man es von ihm hört, dann versteht man auch,
warum und für wen es gesagt wurde», murmelt Bartholomäus.
«Ich habe es Petrus im Herbst des
ersten Jahres gesagt ...» sagt Simon.
«Das ist wahr... Aber... Nein!
Solange ich lebe, lasse ich es nicht zu, daß er gefangengenommen wird. Morgen
...» sagt Petrus.
«Was wirst du morgen tun?» fragt
Iskariot.
«Was ich tun werde? Ich rede nur
mit mir selbst. Es ist die Zeit des Verrats. Nicht einmal der Luft würde ich
meine Gedanken anvertrauen. Und du, du hast so oft gesagt, wie einflußreich du
bist, warum versuchst du nicht, Schutz für Jesus zu erlangen?»
«Ich werde es tun, Petrus. Ich
werde es tun. Wundert euch nicht, wenn ich manchmal abwesend sein werde. Ich
arbeite für ihn. Sagt es ihm aber nicht.»
«Sei beruhigt. Und sei gesegnet.
Manchmal habe ich dir nicht getraut, aber ich bitte dich dafür um
Entschuldigung. Ich sehe, daß du zur rechten Zeit besser bist als wir. Du tust
etwas... Ich hingegen kann nur reden», sagt Petrus demütig und aufrichtig.
Und Judas lacht, als ob er
erfreut wäre über das Lob. Sie verlassen Gethsemane und gehen auf die Straße,
die nach Jerusalem führt.
654. DER DIENSTAG VOR DEM
PASSAHFEST 1. DER TAG
Sie sind auf dem Weg in die
Stadt. Es ist wieder die kleine Nebenstraße, die sie auch am Morgen zuvor
genommen haben. Es scheint, als wolle Jesus nicht von wartenden Menschen
umgeben sein, bevor er im Tempel angekommen ist, den man bald erreicht, wenn
man die Stadt durch das Herdentor nahe dem Probatica-Teich betritt. Aber heute
warten schon viele der zweiundsiebzig Jünger auf der anderen Seite des Kedron,
vor der Brücke. Und kaum sehen sie ihn in seinem purpurroten Gewand zwischen
den grüngrauen Ölbäumen kommen, gehen sie ihm entgegen.
Sie vereinigen sich mit der
Gruppe der Apostel und gehen dann zusammen zur Stadt weiter. Petrus, der den
Hang vor ihnen hinunterschaut und achtgibt, da er ständig den Verdacht hat, es
könnte jemand in böser Absicht erscheinen, sieht zwischen dem frischen Grün
ganz unten einen Busch welker, schlaffer Blätter, der über dem Wasser des
Kedron hängt.
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Die eingerollten, sterbenden,
stellenweise wie rostfleckigen Blätter sehen aus, als wären sie von Feuer
versengt. Ab und zu löst der Wind ein Blatt und weht es ins Wasser des Baches.
«Aber das ist ja der Feigenbaum
von gestern! Der Feigenbaum, den du verflucht hast!» ruft Petrus, zeigt mit
der Hand auf den dürren Baum und wendet den Kopf, um mit dem Meister zu reden.
Alle eilen herbei, außer Jesus,
der in seinem üblichen Tempo weitergeht.
Die Apostel erzählen den Jüngern
die Vorgeschichte dessen, was sie sehen, und alle zusammen machen sie ihre
Bemerkungen und schauen Jesus verblüfft an. Sie haben Tausende von Wundern an
Menschen und Elementen gesehen. Aber dieses berührt sie mehr als alle anderen.
Jesus, der sie eingeholt hat,
lächelt, als er die erstaunten und furchtsamen Gesichter bemerkt und sagt:
«Nun? Wundert ihr euch so sehr darüber, daß auf mein Wort hin ein Feigenbaum
vertrocknet ist? Habt ihr mich nicht die Toten auferwecken, die Aussätzigen
heilen, die Blinden sehend machen, das Brot vermehren, den Sturm beruhigen und
das Feuer löschen sehen? Und ihr wundert euch, daß ein Feigenbaum
vertrocknet?»
«Es ist nicht wegen des
Feigenbaumes. Es ist nur, weil er gestern voller Leben war, als du ihn
verflucht hast, und nun ist er verdorrt. Schau, er ist brüchig wie trockenes
Stroh. Seine Zweige haben kein Mark mehr. Schau, sie werden zu Staub», und
Bartholomäus zerreibt die Zweige zwischen den Fingern, die er mit Leichtigkeit
abgebrochen hat.
«Sie haben kein Mark mehr. Du
hast es gesagt. Und wenn kein Mark mehr da ist, dann bedeutet das den Tod, sei
es nun bei einem Gewächs, einer Nation oder einer Religion; denn dann gibt es
nur noch harte Rinde und unnütze Blätter: Härte und scheinheilige
Äußerlichkeit. Das weiche innere Mark voller Lebenskraft gleicht der
Heiligkeit, der Geistigkeit; die harte Rinde und das nutzlose Blattwerk ist
die Menschheit ohne geistiges Leben und Gerechtigkeit. Wehe den Religionen,
die weltlich werden, weil der Geist ihrer Priester und ihrer Gläubigen nicht
mehr lebt. Wehe den Nationen, deren Häupter nur kalte, hochtönende Schwätzer
sind ohne fruchtbare Ideen! Wehe den Menschen, denen das geistige Leben
fehlt!»
«Wenn du dies den Großen von
Israel sagen würdest, wärest du nicht klug, obgleich deine Worte der Wahrheit
entsprechen. Laß dich nicht dadurch täuschen, daß sie dich bis jetzt haben
reden lassen. Du selbst sagst ja, daß dies nicht eine Bekehrung der Herzen,
sondern Berechnung ist. Also solltest auch du den Wert und die Folgen deiner
Worte bedenken, denn es gibt eine Weisheit der Welt neben der Weisheit des
Geistes. Und wir müssen sie zu unserem Vorteil gebrauchen, da wir noch auf der
Welt und nicht im Reich des Himmels sind», sagt Iskariot zwar ohne Schärfe,
aber in belehrendem Ton.
«Der wahrhaft Weise ist, wer die
Dinge sieht, ohne daß die Schatten der
86
eigenen Gefühle und der
Widerschein der Berechnung sie verändern. Ich werde immer die Wahrheit sagen
über das, was ich sehe.»
«Aber dieser Feigenbaum ist doch
tot, weil du ihn verflucht hast... Oder ist es ein... Fall von... ein
Zeichen... ich weiß es nicht?» fragt Philippus.
«Es ist all das, was du sagst.
Aber was ich getan habe, könnt auch ihr tun, wenn ihr zum vollkommenen Glauben
gelangt. Glaubt an den allerhöchsten Herrn. Wenn ihr diesen Glauben habt,
wahrlich, das sage ich euch, könnt ihr dies und noch mehr tun. Wahrlich, ich
sage euch, wenn einer vollkommen vertraut in die Kraft des Gebetes und in die
Güte des Herrn, kann er zu diesem Berg sagen: "Hebe dich weg und stürze dich
ins Meer" ' und wenn er, während er dies sagt, in seinem Herzen nicht
zweifelt, sondern glaubt, daß was er gebietet möglich ist, so wird es
geschehen.»
«Dann hält man uns für Zauberer,
und wir werden gesteinigt, wie es den Zauberern ergeht. Es wäre ein gar
törichtes Wunder und zu unserem Schaden!» sagt Iskariot und schüttelt den
Kopf.
«Du bist töricht, weil du das
Gleichnis nicht verstehst!» entgegnet ihm der andere Judas.
Jesus spricht nicht zu Judas,
sondern zu allen: «Ich sage euch, und es ist eine alte Lehre, die ich in
dieser Stunde wiederhole: Was immer ihr im Gebet erbittet, glaubt, daß ihr es
erhalten werdet, und ihr werdet es erhalten. Wenn ihr aber, bevor ihr betet,
etwas gegen jemanden habt, so verzeiht zuerst und schließt Frieden, damit ihr
den Vater zum Freund habt, der im Himmel ist und euch vieles, so vieles
verzeiht und euch von Morgen bis Abend, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
nur Gutes tut.»
Sie betreten den Tempel. Die
Soldaten der Antonia beobachten sie, wie sie vorübergehen.
Sie gehen und beten den Herrn an
und kehren dann in den Hof zurück, in dem die Rabbis lehren.
Noch bevor die Leute herbeieilen,
um sich um Jesus zu scharen, nähern sich ihm Sopherim, Lehrer Israels und
Herodianer und sagen, nachdem sie ihn begrüßt haben, mit verlogener
Ehrerbietung: «Meister, wir wissen, daß du weise und wahrhaftig bist, daß du
die Wege Gottes lehrst und nach nichts und niemandem fragst, außer nach
Wahrheit und Gerechtigkeit; daß dich das Urteil der anderen über dich wenig
kümmert und du nur darauf bedacht bist, die Menschen zum Guten zu führen. Sage
uns also: Ist es erlaubt, dem Caesar eine Steuer zu zahlen oder nicht? Was
meinst du?»
Jesus sieht sie mit einem seiner
Blicke von durchdringender, feierlicher Schärfe an und antwortet: «Was
versucht ihr mich, ihr Heuchler? Ihr wißt doch, daß man mich mit
scheinheiligen Ehren nicht täuschen kann! Doch zeigt mir ein Geldstück, eine
Steuermünze.»
Sie zeigen ihm eine Münze.
87
Er betrachtet sie von beiden
Seiten, legt sie auf die linke flache Hand, zeigt mit dem Zeigefinger der
Rechten darauf und sagt: «Wessen Bild ist das? Was sagt die Aufschrift?»
«Es ist das Bild des Caesar, und
die Aufschrift ist sein Name: Cajus Tiberius Caesar, der Name des derzeitigen
Kaisers von Rom.»
«Dann gebt also dem Kaiser, was
des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.» Und er wendet ihnen den Rücken zu,
nachdem er die Münze zurückgegeben hat.
Er hört einen um den anderen der
vielen Pilger an, die ihn um Rat bitten, tröstet, spricht los und heilt.
So vergehen mehrere Stunden.
Er verläßt den Tempel, um
vielleicht außerhalb des Tores die Mahlzeit einzunehmen, die ihm die Diener
des Lazarus in dessen Auftrag bringen.
Am Nachmittag kehrt er in den
Tempel zurück. Er ist unermüdlich. Gnaden entströmen seinen Händen, die er den
Kranken auflegt, und Weisheit fließt von seinen Lippen in den Ratschlägen, die
er den vielen erteilt, die sich ihm nähern. Es scheint, als wolle er alle
trösten und heilen, bevor ihm dies nicht mehr möglich ist.
Es ist schon beinahe Abend, und
die müden Apostel sitzen auf dem Boden unter dem Säulengang und sind
verwundert über dieses ununterbrochene Kommen und Gehen der Menge in den Höfen
des Tempels so kurz vor dem Osterfest, als sich dem Unermüdlichen reiche
Männer nähern. Den prunkvollen Gewändern nach zu schließen, müssen es wohl
Reiche sein.
Matthäus, der nur mit einem Auge
schlummert, steht auf und weckt die anderen. Er sagt: «Sadduzäer gehen zum
Meister. Wir wollen ihn nicht allein lassen, damit sie ihn nicht wieder
beleidigen oder versuchen, ihm zu schaden und ihn zu verhöhnen.»
Alle stehen sofort auf, gehen zum
Meister und umringen ihn. Ich glaube zu verstehen, daß es Schwierigkeiten
gegeben hat beim Verlassen des Tempels oder bei der Rückkehr um die sechste
Stunde.
Die Sadduzäer, die Jesus durch
übertriebene Verbeugungen ehren, sagen zu ihm: «Meister, du hast den
Herodianern so klug geantwortet, daß in uns das Verlangen nach einem Strahl
deines Lichtes geweckt wurde. Höre. Moses hat gesagt: "Wenn jemand kinderlos
stirbt, so soll sein Bruder die Witwe heiraten und dem Bruder Nachkommenschaft
sichern." Nun waren bei uns sieben Brüder. Der erste nahm eine Jungfrau zur
Frau und starb, ohne Kinder zu haben, und so hinterließ er seine Frau seinem
Bruder. Auch der zweite Bruder starb, ohne Kinder zu hinterlassen, und ebenso
der dritte, der die Witwe seiner beiden Vorgänger geheiratet hatte, und so
weiter bis zum siebten Bruder. Zuletzt, nachdem die Frau die sieben Brüder
hintereinander geheiratet hatte, starb auch sie selbst. Sage uns nun: Bei der
Auferstehung der Leiber – wenn es wirklich wahr ist, daß
88
die Menschen auferstehen, daß
unsere Seele uns überlebt und sich am Jüngsten Tag wieder mit dem Leib
vereinigt und so die Lebenden wiederherstellt – welchem von den sieben Brüdern
wird dann die Frau angehören, da sie ja auf Erden allen sieben angehört hat?»
«Ihr irrt. Ihr versteht weder die
Schrift noch die Macht Gottes. Ganz anders als in diesem wird es im anderen
Leben sein. Im ewigen Reich wird es keine Bedürfnisse des Fleisches geben, wie
in diesem Leben. Denn wahrlich, nach dem letzten Gericht wird das Fleisch
auferstehen, sich mit der unsterblichen Seele vereinigen und wieder ein Ganzes
bilden; es wird leben, und besser leben als ich und ihr heute, aber es wird
nicht mehr den Gesetzen, und vor allem nicht mehr den Reizen und Mißbräuchen
unterworfen sein, die jetzt noch gelten. Bei der Auferstehung werden Männer
und Frauen nicht mehr heiraten und nicht mehr geheiratet werden, sondern sie
werden sein wie die Engel im Himmel, die nicht heiraten und nicht geheiratet
werden und doch in vollkommener Liebe leben, der göttlichen und geistigen
Liebe. Und was die Auferstehung der Toten betrifft: Habt ihr nicht gelesen,
wie Gott zu Moses aus dem Dornbusch gesprochen hat? Was hat der Allerhöchste
damals gesagt? "Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs."
Er sagte nicht: "Ich war..." um damit zu verstehen zu geben, daß Abraham,
Isaak und Jakob gewesen waren, aber nicht mehr waren. Er sagte: "Ich bin."
Denn Abraham, Isaak und Jakob sind. Unsterblich. Wie der unsterbliche Teil
aller Menschen, solange die Jahrhunderte andauern, und dann auch mit dem für
die Ewigkeit auferstandenen Fleisch. Sie sind, ebenso wie Moses, wie die
Propheten und die Gerechten, wie leider auch Kain und die Menschen der
Sündflut, die Sodomiter und alle in der Todsünde Verstorbenen. Gott ist nicht
ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.»
«Auch du wirst sterben und dann
leben?» Sie versuchen Jesus. Sie sind es schon müde, sanft zu sein. Ihr Groll
ist so heftig, daß sie sich nicht beherrschen können.
«Ich bin der Lebendige, und mein
Fleisch wird die Verwesung nicht schauen. Die Bundeslade hat man uns genommen,
und selbst das Symbol der jetzigen wird uns genommen werden. Das heilige Zelt
wurde uns genommen und es wird zerstört werden. Doch der wahre Tempel Gottes
kann nicht weggenommen und nicht zerstört werden. Wenn seine Gegner glauben,
es geschafft zu haben, dann ist die Zeit gekommen, daß er im wahren Jerusalem
in seiner ganzen Herrlichkeit errichtet wird. Lebt wohl.»
Jesus beeilt sich, zum Vorhof der
Israeliten zu gelangen, denn die silbernen Trompeten rufen zum Abendopfer.
Jesus sagt mir:
«So wie ich dich angewiesen habe,
den Satz "von meinem Kelch" zu unterstreichen bei
der Vision, in der die Mutter des
Johannes und des Jakobus um einen Platz für ihre Söhne bat, ebenso sollst du
bei der Vision von gestern die Stelle unterstreichen: "Wer gegen diesen
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Stein fällt, wird zerschmettert
werden." In den Übersetzungen wird immer "auf" gebraucht. Ich habe gesagt
"gegen", und nicht "auf". Es ist eine Prophezeiung gegen die Feinde meiner
Kirche. Alle, die sie anfeinden und sich auf sie stürzen, werden
zerschmettert, denn sie ist der Eckstein. Die Geschichte der Welt bestätigt
seit zweitausend Jahren meine Aussagen. Die Verfolger der Kirche werden
zerschmettert, wenn sie sich auf den Eckstein stürzen.
Aber, und das sollen sich auch
jene vor Augen halten, die glauben, vor dem göttlichen Strafgericht sicher zu
sein, weil sie zur Kirche gehören: Der, auf den das Gewicht der Verurteilung
durch das Haupt und den Bräutigam dieser meiner Braut, dieses meines
mystischen Leibes fällt, wird zermalmt werden.
Um einem Einwand der immer
vorhandenen Schriftgelehrten und Sadduzäer zuvorzukommen, die meinen Dienern
schlecht gesinnt sind, sage ich: Wenn bei den letzten Visionen Sätze zu lesen
sind, die nicht im Evangelium stehen, wie die am Ende der heutigen Vision und
an der Stelle, wo ich vom verdorrten Feigenbaum gesprochen habe, und auch
anderswo, so sollen sie sich daran erinnern, daß die Evangelisten aus diesem
Volk stammten und in einer Zeit lebten, in der jeder zu große Schock starke
und schädliche Auswirkungen auf die Neubekehrten haben konnte.
Sie sollen die Apostelgeschichte
nachlesen und sie werden sehen, daß die Verschmelzung so vieler
unterschiedlicher Gedanken nicht auf friedliche Weise vor sich gehen konnte;
denn wenn sie sich auch gegenseitig bewunderten und einer des anderen
Verdienste anerkannte, so fehlte es zwischen ihnen doch nicht an
Meinungsverschiedenheiten; denn die Gedanken der Menschen sind verschieden und
immer unvollkommen. Und um tiefgehende Brüche zwischen den verschiedenen
Denkweisen zu vermeiden, unterließen es die vom Heiligen Geist erleuchteten
Apostel bewußt, in ihren Schriften gewisse Dinge zu erwähnen, die die
übermäßige Empfindlichkeit der Hebräer schockiert und den Heiden zum Ärgernis
gereicht hätten. Denn diese mußten die Hebräer, den Kern der Kirche, noch für
vollkommen halten, um sich nicht abzuwenden mit der Bemerkung: "Sie sind wie
wir."
Sie sollten von den Verfolgungen
Christi erfahren, ja, aber nicht von den geistigen Krankheiten des Volkes
Israel, das besonders in den oberen Schichten verdorben war. Das wäre nicht
gut gewesen, und so wurde so viel wie möglich davon verschleiert. Es ist zu
beachten, daß die Evangelisten immer deutlicher werden, bis zum klaren
Evangelium meines Johannes, je länger sie schreiben nach meiner Rückkehr zum
Vater. Nur Johannes berichtet zur Gänze auch die schmerzlichsten Fehler selbst
des Kerns der Apostel und nennt Judas offen einen Dieb. Nur er berichtet alles
über die Niedertracht der Juden (ihren vergeblichen Willen, mich zum König zu
machen, die Streitgespräche im Tempel, die Abwendung vieler von mir nach der
Rede über das Brot vom Himmel, den Unglauben des Thomas). Als letzter
Überlebender, der die Kirche schon erstarkt sah, lüftete er die Schleier, die
die anderen nicht zu lüften gewagt hatten.
Aber nun will der Geist Gottes,
daß auch diese Worte bekannt werden. Preisen wir den Herrn dafür, denn es sind
viele Lichter und Anleitungen für die gerechten Herzen.»
655. DER DIENSTAG VOR DEM
PASSAHFEST 11. DIE NACHT
«Ihr habt heute Heiden und Juden
reden gehört. Ihr habt gesehen, wie die ersten sich vor mir verneigt und die
zweiten mich fast verprügelt haben. Du, Petrus, hast beinahe die Hand erhoben,
als du gesehen hast, daß man absichtlich Lämmer, Böcke und Kälber in meine
Richtung gejagt hat, damit sie mich zu Boden in ihren Mist stoßen. Auch du,
der sonst so
90
kluge und vorsichtige Simon, hast
den Mund geöffnet und die niederträchtigen Mitglieder des Synedriums
beleidigt, die mich grob stießen und sagten: "Hebe dich hinweg, Dämon, die
Gesandten Gottes gehen vorüber." Du, mein Vetter Judas, und du, Johannes, mein
Lieblingsjünger, ihr habt geschrien, rasch eingegriffen und mich davor
bewahrt, niedergefahren zu werden. Der eine hat das Pferd an den Zügeln
gepackt, der andere hat sich vor mich gestellt, um den Stoß der auf mich
gerichteten Deichsel abzufangen, als Sadok hohnlachend seinen schweren Wagen
absichtlich und in voller Fahrt auf mich zulenkte. Ich danke euch für eure
Liebe, die euch den Mut gibt, gegen die Angreifer des Wehrlosen aufzustehen.
Aber ihr werdet noch ganz andere Beleidigungen und Grausamkeiten sehen. Wenn
dieser Mond nach dem heutigen Abend zum zweiten Mal am Himmel lacht, dann
werden die bisher nur mündlichen oder unbedeutenden tätlichen Angriffe massiv,
und sie werden zunehmen wie die Blüten an den Obstbäumen, die in ihrem Eifer
zu blühen immer noch dichter werden. Ihr habt einen verdorrten Feigenbaum und
einen ganzen Obstgarten ohne Blüten gesehen und wundert euch darüber. Der
Feigenbaum hat dem Menschensohn, wie Israel, Erquickung verweigert und ist in
seiner Sünde gestorben. Der Obstgarten erwartet, wie die Heiden, die Stunde,
von der ich heute gesprochen habe, um zu blühen und die letzte Erinnerung an
die menschliche Grausamkeit auszulöschen durch die Zartheit der über das Haupt
und unter die Füße des Siegers gestreuten Blüten.»
«Welche Stunde, Meister?» fragt
Matthäus. «Du hast heute so viel und über so viele Dinge geredet. Ich kann
mich nicht mehr richtig erinnern. Ich möchte mich aber an alles erinnern.
Vielleicht die Stunde der Rückkehr des Christus? Auch da hast du von Zweigen
gesprochen, die saftig werden und Blätter treiben.»
«Aber nein!» ruft Thomas aus.
«Der Meister spricht, als ob dieser Verrat, den er erwartet, nahe bevorstünde.
Wie kann dann alles, was seiner Rückkehr vorausgehen soll, in so kurzer Zeit
geschehen? Krieg, Zerstörungen, Sklaverei, Verfolgungen, in der ganzen Welt
gepredigtes Evangelium, der Greuel der Verwüstung im Haus Gottes, und dann
Erdbeben, Pest, falsche Propheten, Zeichen an Sonne und Sternen... Da braucht
es doch Jahrhunderte, damit das alles geschehen kann. Der Besitzer der
Apfelbäume müßte lange warten, um die Stunde der Blüte zu erleben.»
«Er würde seine Äpfel nicht mehr
essen können, denn ich sage dir, es wird dann das Ende der Welt sein», bemerkt
Bartholomäus.
«Um das Ende der Welt
herbeizuführen, würde ein Gedanke Gottes genügen, und alles würde ins Nichts
zurückkehren. Deshalb könnte dieser Obstgarten nicht lange warten müssen. Aber
wie ich gesagt habe, wird es geschehen. Und daher werden Jahrhunderte zwischen
dem einen und dem anderen vergehen, also bis zum endgültigen Sieg und der
Rückkehr des Christus», erklärt Jesus.
91
«Also, zu welcher Stunde?»
«Oh, ich kenne sie, die Stunde!»
weint Johannes. «Ich kenne sie. Es wird nach deinem Tod und nach deiner
Auferstehung sein! ...» Johannes umarmt Jesus fest.
«Warum weinst du denn, wenn er
doch wieder aufersteht?» spöttelt Judas Iskariot.
«Ich weine, weil er zuerst
sterben muß. Verspotte mich nicht, Dämon. Ich verstehe. Und ich darf nicht an
diese Stunde denken.»
«Meister, er hat mich Dämon
genannt. Er hat gegen seinen Gefährten gefehlt.»
«Judas, bist du sicher, diesen
Namen nicht zu verdienen? Wenn dem so ist, dann rechne es ihm nicht an. Auch
mich hat man Dämon genannt, und ich werde noch öfters so genannt werden.»
«Aber du hast doch gesagt, wer
den Bruder beleidigt, ist schul...»
«Ruhe. Im Angesicht des Todes
hören diese häßlichen Anschuldigungen, Streitereien und Lügen endlich auf.
Betrübt nicht den, der stirbt.»
«Verzeih mir, Jesus», flüstert
Johannes. «Bei seinem Gelächter hat sich in mir etwas empört... und ich habe
mich nicht beherrschen können.» Johannes hat Jesus eng umarmt, Brust an Brust,
und weint an seinem Herzen.
«Weine nicht. Ich verstehe dich.
Laß mich reden.»
Aber Johannes läßt Jesus nicht
los, selbst dann nicht, als dieser sich auf eine hervorstehende Wurzel setzt.
Einen Arm um seinen Rücken, den anderen um seine Brust gelegt, und den Kopf
auf seiner Schulter, weint er lautlos. Im Mondschein glänzen nur die Tränen,
die auf das purpurfarbene Gewand Jesu fallen und Rubinen, blassen, im Licht
schimmernden Blutstropfen gleichen.
«Ihr habt heute Juden und Heiden
sprechen gehört. Es darf euch also nicht wundern, wenn ich sage: "Aus meinem
Mund ist immer das Wort der Gerechtigkeit gekommen. Und es wird nicht
widerrufen werden"; ich sage mit Isaias, und spreche von den Heiden, die zu
mir kommen werden, nachdem ich von der Erde erhöht worden bin: "Vor mir wird
jedes Knie sich beugen, und jede Zunge wird bei mir schwören." Und wenn ihr
gesehen habt, wie es den Juden ergeht, werdet ihr nicht mehr bezweifeln, daß
man leicht und ohne Furcht vor einem Irrtum sagen kann, daß vor mir alle
beschämt erscheinen werden, die sich mir widersetzen.
Mein Vater hat mich nicht nur zu
seinem Diener gemacht, um die Stämme Jakobs zu neuem Leben zu führen, um zu
bekehren, was von Israel übrig ist: die Reste; sondern er hat mich den
Nationen als Licht geschenkt, auf daß ich der Erlöser der ganzen Welt sei.
Daher habe ich in diesen dreiunddreißig Jahren des Exils vom Himmel und vom
Schoß des Vaters beständig zugenommen an Gnade und Weisheit vor Gott und den
Menschen. Ich habe das vollkommene Alter erreicht; und nachdem ich in diesen
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letzten drei Jahren meine Seele
und meinen Geist im Feuer der Liebe zum Glühen gebracht und sie durch das Eis
der Buße gehärtet habe, habe ich "meinen Mund zu einem scharfen Schwert"
gemacht.
Mein und euer heiliger Vater hat
mich bis jetzt unter dem Schatten seiner Hand beschützt, denn noch war die
Zeit der Sühne nicht gekommen. Nun läßt er mich gehen. Der auserwählte Pfeil,
der Pfeil aus seinem göttlichen Köcher, der verwundet hat, um zu heilen, der
die Menschen verwundet hat, um eine Bresche zu schlagen für das Wort und das
Licht Gottes, findet nun rasch und sicher seinen Weg und verwundet die zweite
Person, den Sühnenden, den anstelle des ganzen ungehorsamen Geschlechtes Adams
Gehorsamen... Und wie ein getroffener Krieger werde ich fallen und für allzu
viele sagen: "Vergebens und grundlos habe ich mich bemüht und nichts erreicht.
Ich habe meine Kräfte für nichts verzehrt."
Aber nein! Nein, bei dem ewigen
Herrn, der niemals etwas ohne Zweck tut! Weiche, Satan, der du mich durch
Mutlosigkeit beugen und zum Ungehorsam verleiten willst! Am Alpha meiner
Mission bist du gekommen, und du kommst auch am Omega wieder. Nun, ich erhebe
mich zum Kampf. (Und er steht tatsächlich auf.) Ich messe mich mit dir, und
ich schwöre mir selbst: ich werde dich besiegen! Dies zu sagen ist nicht
Hochmut. Es ist Wahrheit. Der Menschensohn wird in seinem Fleisch besiegt
werden vom Menschen, dem armseligen Wurm, der aus seinem stinkenden Schmutz
beißt und vergiftet. Aber der Sohn Gottes, die zweite Person der
unaussprechlichen Dreiheit, wird nicht von Satan besiegt werden. Du bist der
Haß. Und dein Haß und deine Versuchungen sind mächtig. Aber mir wird eine
Kraft beistehen, die dich flieht, denn du kannst sie nicht erreichen und
kannst sie nicht festhalten. Die Liebe ist mit mir!
Ich weiß um die niemandem
bekannte Marter, die mich erwartet. Nicht die, von der ich morgen sprechen
werde, damit ihr wißt, daß nichts von dem, was meinetwegen oder in meiner
Umgebung getan und verhandelt wird, nichts, was in euren Herzen geschieht, mir
unbekannt ist; ich meine eine andere Marter... Nicht die Marter des
Menschensohnes durch Lanzen und Stöcke, durch Spott und Schläge, sondern die
Marter, die von Gott selbst kommt und nur von wenigen erkannt werden wird in
ihrer ganzen Grausamkeit, und die noch wenigere überhaupt für erträglich
halten werden. Aber in dieser Marter, deren hauptsächliche Urheber zwei sein
werden: Gott durch seine Abwesenheit, und du, Satan, durch deine Gegenwart,
wird dem Opfer die Liebe beistehen. Die lebendige Liebe im Opfer selbst, als
die größte Kraft seines Widerstandes in der Prüfung, und die Liebe im
geistigen Tröster, der schon seine goldenen Flügel regt, voll Sehnsucht,
herniederzusteigen und meinen Schweiß zu trocknen; der alle Tränen der Engel
im himmlischen Kelch sammelt und sie mit dem Honig der Namen der von mir
Erlösten und mich Liebenden versüßt, um mit
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diesem Getränk den großen Durst
des Gemarterten und seine grenzenlose Bitterkeit zu mildern.
Du wirst besiegt sein, Dämon.
Einmal, beim Verlassen eines Besessenen, hast du mir gesagt: "Ich warte nur
darauf, dich zu besiegen, wenn du ein Klumpen blutendes Fleisch geworden
bist." Aber ich antworte dir: "Du wirst mich nicht haben. Ich werde siegen.
Meine Mühe war heilig, meine Sache wird von meinem Vater vertreten. Er
verteidigt das Werk seines Sohnes und wird nicht erlauben, daß mein Geist von
seinem Vorhaben abläßt."
Vater, ich sage dir, schon jetzt
sage ich dir für diese schreckliche Stunde: "In deine Hände empfehle ich
meinen Geist."
Johannes, verlaß mich nicht...
Ihr könnt gehen. Der Friede des Herrn sei überall, wo Satan nicht Gast ist.
Lebt wohl.»
Alles ist zu Ende.
656. DER MITTWOCH VOR DEM
PASSAHFEST 1. DER TAG
Jesus geht in den Tempel, in dem
heute noch mehr Menschen als an den vorhergehenden Tagen sind. Er ist ganz in
weiß und trägt ein Leinengewand. Es ist ein schwüler Tag.
Er geht, um im Vorhof der
Israeliten anzubeten, und ein Schwarm Leute folgt ihm, während andere schon
die besten Plätze in den Säulengängen eingenommen haben; es sind hauptsächlich
Heiden, die nicht weiter als in den ersten Vorhof, den Vorhof der Heiden,
gehen dürfen und die die Gelegenheit wahrgenommen haben, sich die guten Plätze
auszusuchen, während die Hebräer Christus gefolgt sind.
Aber eine zahlreiche Gruppe von
Pharisäern treibt sie auseinander. Sie sind immer so arrogant und drängen sich
anmaßend vor, um zu Jesus zu gelangen, der sich über einen Kranken beugt. Sie
warten, bis dieser geheilt ist, und schicken dann einen Schriftgelehrten zu
Jesus, damit er ihn befrage.
Zuvor hat es unter ihnen einen
kurzen Streit gegeben, denn Joel, genannt Alameth, will gehen und den Meister
befragen. Aber ein Pharisäer widersetzt sich, und die anderen unterstützen ihn
mit den Worten: «Nein. Wir wissen, daß du für den Rabbi Partei ergreifst, auch
wenn du es nur heimlich tust. Laß Urias gehen...»
«Urias nicht», sagt ein anderer
junger Schriftgelehrter, den ich noch nicht kenne. «Die Redeweise des Urias
ist zu grob. Er würde die Leute verärgern. Ich gehe.»
Ohne auf die Proteste der anderen
zu hören, geht er selbst zum Meister,
94
gerade in dem Augenblick, als
Jesus den Kranken entläßt und zu ihm sagt: «Habe Vertrauen. Du bist geheilt.
Das Fieber und die Schmerzen werden nicht mehr wiederkehren.»
«Meister, welches ist das größte
Gebot im Gesetz?»
Jesus, der ihn im Rücken hat,
wendet sich um und schaut ihn an. Das sanfte Licht eines Lächelns erhellt sein
Antlitz. Dann erhebt er das Haupt, das er gesenkt hatte – denn der
Schriftgelehrte ist klein und hat sich zudem ehrerbietig verneigt – läßt den
Blick über die Menge schweifen, richtet ihn auf die Gruppe der Pharisäer und
Lehrer, entdeckt das blasse Gesicht Joels halb verborgen hinter einem dicken,
schwammigen Pharisäer und lächelt noch mehr. Das Lächeln ist ein Licht, das
den ehrlichen Schriftgelehrten liebkost. Dann senkt er das Haupt wieder, sieht
sein Gegenüber an, und antwortet ihm: «Das größte der Gebote ist: "Höre,
Israel: der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Du sollst den Herrn deinen
Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit allen
deinen Kräften!' Dies ist das erste und höchste Gebot. Das zweite aber ist
diesem gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Es gibt
keine größeren Gebote als diese. An ihnen hängt das ganze Gesetz und die
Propheten.»
«Meister, du hast weise und wahr
geantwortet. So ist es. Gott ist ein Einziger, und es gibt keinen anderen Gott
außer ihm. Ihn zu lieben aus ganzem Herzen, aus ganzem Verstand, aus ganzer
Seele und mit allen Kräften, und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, das
ist weit mehr als jedes Brandopfer und andere Opfer. Ich denke oft daran, wenn
ich die Worte Davids betrachte: "Brandopfer gefallen dir nicht; das Gott
wohlgefällige Opfer ist ein reuiger Sinn."»
«Du bist nicht fern vom Reich
Gottes, denn du hast begriffen, welches das Gott wohlgefällige Brandopfer
ist.»
«Aber welches ist das
vollkommenste Opfer?» fragt der Schriftgelehrte rasch und mit leiser Stimme,
als würde er ein Geheimnis aussprechen.
Jesus strahlt vor Liebe und läßt
diese Perle in das Herz dessen fallen, der für seine Lehre aufgeschlossen ist,
für die Lehre des Reiches Gottes; über ihn geneigt sagt er: «Das vollkommenste
Opfer ist: jene, die uns verfolgen, wie uns selbst zu lieben und nicht auf
Rache zu sinnen. Wer dies tut, wird den Frieden besitzen. Es steht
geschrieben: "Die Sanftmütigen werden die Erde besitzen, und sie genießen die
Fülle des Friedens!' Wahrlich, ich sage dir, wer seine Feinde liebt, erreicht
die Vollkommenheit und besitzt Gott.»
Der Schriftgelehrte grüßt ihn
ehrerbietig und kehrt dann zu seiner Gruppe zurück, die ihn flüsternd tadelt,
weil er den Meister gelobt hat. Und voll Zorn fragen sie: «Was hast du ihn im
geheimen gefragt? Bist vielleicht auch du von ihm verführt?»
«Ich habe den Geist Gottes durch
seinen Mund sprechen gehört.»
95
«Du bist ein Dummkopf. Glaubst du
etwa, daß er der Christus ist?»
«Ich glaube es.»
«Wahrlich, in Bälde werden keine
Schriftgelehrten mehr in unseren Schulen sein, sie laufen alle diesem Menschen
nach! Aber wieso siehst du in ihm den Christus?»
«Das weiß ich nicht. Ich weiß
nur, daß ich fühle, daß er es ist.»
«Verrückter!» Sie drehen ihm
beunruhigt den Rücken zu.
Jesus hat das Gespräch
beobachtet, und als die Pharisäer in einer geschlossenen Gruppe an ihm
vorbeigehen, um sich wütend zu entfernen, ruft er sie und sagt: «Hört mich an.
Ich möchte euch etwas fragen. Was haltet ihr von Christus? Wessen Sohn ist
er?»
«Er wird der Sohn Davids sein»,
antworten sie ihm und betonen das «wird», denn sie wollen ihm zu verstehen
geben, daß er für sie nicht der Christus ist.
«Und warum nennt ihn dann David
im Geist "Herr" ' wenn er sagt: "Der Herr sprach zu meinem Herrn: 'Setze dich
zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde als Schemel dir zu Füßen lege'? Wenn
also David den Christus "Herr" nennt, wie kann dann Christus sein Sohn sein?»
Da sie nicht wissen, was sie ihm
antworten sollen, entfernen sie sich und schlucken ihr Gift hinunter.
Jesus verläßt die Stelle, an der
er bisher gestanden ist und die nun ganz von Sonnenschein überflutet wird. Er
begibt sich weiter zu den Eingängen der Schatzkammer, neben dem Raum mit dem
Opferkasten. Diese noch schattige Seite des Hofes ist von den Rabbis besetzt,
die mit vielen und großen Gesten ihre hebräischen Zuhörer belehren, die im
Verlauf der Stunden immer mehr werden, wie auch immer mehr Leute in den Tempel
kommen.
Die Rabbis bemühen sich, in ihren
Reden die Lehren Jesu der vergangenen Tage oder von heute früh zu widerlegen.
Sie erheben die Stimme immer mehr, je größer die Zahl der Zuhörer wird. Der
riesige Platz wimmelt von Menschen, die aus allen Richtungen kommen und in
alle Richtungen gehen...
Jesus sagt zu mir: «Füge hier die
Vision des Scherfleins der Witwe ein. Dann setze die Vision fort.»
Zuerst sehe ich nur Säulengänge
und Vorhöfe, die ich als zum Tempel gehörig erkenne, und Jesus, der einem
Herrscher gleicht – so feierlich ist er in seinem leuchtend roten Gewand und
dem etwas dunkleren Mantel – und an einer riesigen viereckigen Säule lehnt,
die einen Bogen der Säulengänge stützt.
Er schaut mich fest an. Ich
verliere mich in seiner Betrachtung und beselige mich an seinem Anblick, da
ich ihn seit zwei Tagen nicht gesehen und gehört habe. Diese Vision dauert
lange. Und solange sie dauert, schreibe ich nicht, denn sie erfüllt mich mit
Freude. Aber nun, da die Szene sich belebt, verstehe ich, daß etwas geschieht,
und schreibe.
96
Der Platz füllt sich mit
Menschen, die aus allen Richtungen kommen. Es sind Priester und Gläubige,
Männer, Frauen und Kinder. Die einen gehen spazieren, andere bleiben stehen,
um den Lehrern zuzuhören, wieder andere ziehen Lämmer hinter sich her oder
tragen Tauben irgendwohin, vielleicht Opfertiere.
Jesus steht an seine Säule
gelehnt und schaut. Er sagt nichts. Zweimal schon hat er auf Fragen seiner
Apostel nur mit einem Kopfschütteln geantwortet, ohne ein Wort zu sagen. Er
beobachtet sehr aufmerksam. Aus seinem Ausdruck schließe ich, daß er ein
Urteil fällt über das, was er sieht. Seine Augen und sein Antlitz erinnern
mich an die Vision des Paradieses, als er beim besonderen Gericht die Seelen
richtete. Nun ist er natürlich Jesus, der Mensch; dort oben war er der
verherrlichte Jesus und deshalb noch beeindruckender. Aber der
Gesichtsausdruck ist ähnlich. Er ist ernst, prüfend, manchmal so streng, daß
auch der Frechste erzittern muß, und manchmal so sanft, von einer lächelnden
Traurigkeit, die mit Blicken zu liebkosen scheint.
Anscheinend hört er nichts. Aber
er muß wohl alles genau hören, denn als sich aus einer Gruppe, die einige
Meter entfernt um einen Lehrer versammelt ist, eine näselnde Stimme erhebt und
erklärt: «Wichtiger als jedes andere Gebot ist dieses: Was für den Tempel ist,
soll dem Tempel gegeben werden. Der Tempel steht über dem Vater und der
Mutter, und wenn jemand dem Herrn zu Ehren alles geben will, was er übrig hat,
so soll er es tun, und er wird gesegnet sein, denn kein Blut und keine Liebe
steht über dem Tempel», da wendet Jesus sein Haupt in diese Richtung und
schaut mit einem Blick... den ich nicht auf mich gerichtet sehen wollte.
Er scheint jetzt nur allgemein
umherzuschauen. Doch als ein zitternder Greis sich bemüht, die fünf Stufen zu
einer Art Terrasse hinaufzusteigen, die sich in der Nähe Jesu befindet und
wohl zu einem anderen, weiter innen liegenden Vorhof führt, und beim Aufsetzen
des Stockes, der sich in den Kleidern verfängt, beinahe fällt, streckt Jesus
seinen Arm aus und fängt ihn auf. Er stützt ihn und läßt ihn nicht los, bis er
wieder sicher auf den Beinen steht. Das alte Männchen erhebt sein graues
Haupt, sieht seinen hochgewachsenen Retter an und flüstert ein Wort des
Segens. Jesus lächelt ihm zu und liebkost seinen halb kahlen Kopf. Dann lehnt
er sich wieder an seine Säule, verläßt sie aber noch einmal, um ein Kind
aufzurichten, das sich von der Hand der Mutter losgemacht hat, gerade vor
seinen Füßen gegen die erste Stufe gefallen ist und weint. Er hebt es auf,
liebkost es, tröstet es. Die verwirrte Mutter dankt ihm, und Jesus lächelt
auch ihr zu und gibt ihr das Kind zurück.
Aber er lächelt nicht mehr, als
ein aufgeblasener Pharisäer vorübergeht, und auch nicht, als eine Gruppe von
Schriftgelehrten und anderen
97
Männern – ich weiß nicht, wer sie
sind – vorbeikommt. Diese Gruppe grüßt ihn mit großen Gesten und tiefen
Verbeugungen. Jesus schaut sie so fest an, als wolle er sie mit seinem Blick
durchbohren, und grüßt sie trocken. Er ist streng. Auch einen Priester, der
vorbeikommt und ein hohes Tier sein muß, da die Leute den Weg freigeben und
ihn grüßen, während er selbst wie ein Pfau vorbeistolziert, sieht Jesus lange
an. Mit einem Blick, der diesen trotz seines Hochmuts den Kopf senken läßt. Er
grüßt nicht. Aber er kann dem Blick Jesu nicht standhalten.
Jesus wendet die Augen von ihm ab
und beobachtet ein armes, dunkelbraun gekleidetes Frauchen, das verschämt die
Stufen hinaufsteigt zu einer Wand, an der sich etwas wie Löwen- oder ähnliche
Tierköpfe mit offenen Mäulern befinden. Viele gehen dorthin. Doch Jesus
scheint bisher nicht darauf geachtet zu haben. Nun blickt er aufmerksam diesem
Weiblein nach. Sein Auge drückt Mitleid aus und wird liebevoll, als er sieht,
wie die Frau eine Hand ausstreckt, um etwas in das steinerne Maul eines dieser
Löwen zu werfen. Als die Frau zurückkommt und nahe an ihm vorbeigeht, sagt er:
«Der Friede sei mit dir, Frau.»
Diese erhebt erstaunt den Kopf
und ist sprachlos.
«Der Friede sei mit dir»,
wiederholt Jesus. «Geh, der Allerhöchste segnet dich.» Die arme Frau kann es
gar nicht fassen. Dann flüstert sie einen Gruß und geht.
«Sie ist glücklich in ihrem
Unglück», sagt Jesus und bricht endlich sein Schweigen. «Nun ist sie
glücklich, denn der Segen Gottes begleitet sie. Hört, Freunde, und ihr, die
ihr mich umgebt. Seht ihr diese Frau? Sie hat nur zwei kleine Münzen gegeben,
nicht einmal genug, um dafür Futter für einen Sperling im Käfig zu kaufen, und
doch hat sie mehr gegeben als alle anderen, die ihren Beitrag in den
Tempelschatz geworfen haben, seit der Tempel bei Sonnenaufgang geöffnet wurde.
Hört. Ich habe eine große Anzahl
reicher Leute beobachtet, die in die Mäuler dort Geldmengen geworfen haben,
die ausreichen würden, diese Arme ein Jahr lang zu ernähren und ihre Armut zu
kleiden, die nur deshalb anständig aussieht, weil sie sauber ist. Ich habe
gesehen, wie Reiche mit sichtlicher Genugtuung Summen dort hineingelegt haben,
die ausgereicht hätten, die Armen der Heiligen Stadt einen oder mehrere Tage
satt zu machen und Gott preisen zu lassen. Aber wahrlich, ich sage euch,
niemand hat mehr gegeben als sie. Ihr Almosen ist Liebe, das der anderen
nicht. Ihres ist Großmut, das der anderen nicht. Ihres ist Opfer, das der
anderen nicht. Heute wird die Frau nichts essen, denn sie hat nichts mehr. Sie
muß erst wieder um Lohn arbeiten, um ihren Hunger mit Brot stillen zu können.
Sie hat keine Reichtümer und sie hat keine Verwandten, die für sie verdienen.
Sie ist allein. Gott hat ihr die Eltern, den Mann und die Kinder genommen, er
hat ihr das wenige genommen, was diese ihr hinterlassen hatten, und mehr als
Gott haben es ihr die Menschen genommen;
98
diese Menschen, die nun, ihr seht
es, weiterhin mit großmütiger Geste von ihrem Überfluß dort hineinwerfen, den
sie zu einem guten Teil durch Wucher den armen Händen der Schwachen und
Hungernden entrissen haben. Sie sagen, es gibt kein Blut und keine Liebe, die
höher stehen als der Tempel, und so lehren sie, den Nächsten nicht zu lieben.
Ich sage euch, über dem Tempel steht die Liebe. Das Gesetz Gottes ist die
Liebe, und wer kein Mitleid mit dem Nächsten hat, liebt nicht. Das
überflüssige Geld, das von Wucher, Habgier, Härte und Heuchelei beschmutzte
Geld singt nicht das Lob des Herrn und zieht auf seinen Spender den
himmlischen Segen nicht herab. Gott lehnt es ab. Es füllt diese Kasse. Aber es
taugt nicht für den Weihrauch. Es ist Schlamm, in dem ihr versinkt, ihr
Diener, die ihr nicht Gott, sondern den eigenen Interessen dient. Es ist ein
Strick, der euch erdrosselt, ihr Lehrer, die ihr eure eigene Lehre lehrt. Es
ist Gift, das euch den Rest der Seele verdirbt, ihr Pharisäer, der euch noch
geblieben ist. Gott will nicht, was übrig bleibt. Ihr seid nicht Kain. Gott
will nicht, was Frucht der Hartherzigkeit ist. Gott will nicht, was mit
tränenerstickter Stimme schreit: "Ich hätte einen Hungernden sättigen sollen,
aber man hat mich ihm verweigert, um hier zu prahlen. Ich hätte einem alten
Vater, einer hinfälligen Mutter helfen sollen, und man hat es nicht gestattet,
da diese Hilfe vor der Welt verborgen geblieben wäre. Ich muß meine Glocke
ertönen lassen, damit die Welt den Geber erkennt." Nein, Rabbi, der du lehrst,
daß der Überfluß Gott gegeben werden soll, und daß es erlaubt ist, dem Vater
oder der Mutter etwas vorzuenthalten, um es Gott zu geben. Das erste Gebot
ist: "Liebe Gott mit deinem ganzen Herzen, deiner ganzen Seele, deinem ganzen
Verstand und deinen ganzen Kräften." Daher muß man ihm nicht den Überfluß,
sondern das eigene Blut geben, und man soll es lieben, für ihn zu leiden.
Leiden. Nicht leiden machen. Und wenn es schwerfällt, viel zu geben, weil man
sich nicht gerne von seinem Reichtum trennt, weil die Schätze der Mittelpunkt
des von Natur aus lasterhaften Menschenherzens sind, dann muß man sich von
ihnen trennen, gerade weil es schwerfällt. Aus Gerechtigkeit: denn alles, was
man besitzt, besitzt man durch die Güte Gottes. Aus Liebe: denn es ist ein
Beweis der Liebe, das Opfer zu lieben, um dem Freude zu schenken, den man
liebt. Man soll leiden, um schenken zu können. Aber selbst leiden! Nicht
leiden machen, ich wiederhole es. Denn das zweite Gebot heißt: "Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst." Das Gesetz erklärt, daß nach Gott die Eltern die
Nächsten sind, denen man verpflichtet ist, Ehre und Hilfe zu erweisen. Daher
sage ich euch, diese arme Frau hat das Gesetz wahrhaft besser verstanden als
die Weisen und ist mehr als alle anderen gerechtfertigt und gesegnet; denn in
ihrer Armut hat sie Gott alles gegeben, während ihr gebt, was übrig bleibt,
und es nur gebt, um in der Achtung der Menschen zu steigen. Ich weiß, daß ihr
mich haßt, weil ich so spreche. Aber solange dieser Mund sprechen kann, wird
er solche Worte sprechen. Vereinigt
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euren Haß auf mich mit der
Verachtung für die Arme, die ich lobe. Aber glaubt nicht, daß ihr aus diesen
beiden Steinen ein doppeltes Postament für euren Hochmut errichten könnt. Sie
werden die Mühlsteine sein, die euch zermalmen.
Gehen wir. Lassen wir die Vipern
einander beißen, um ihr Gift zu vermehren. Wer rein, gut, demütig und
zerknirscht ist und das wahre Antlitz Gottes kennenlernen will, soll mir
folgen.»
Jesus sagt:
«Und du, die du nichts mehr hast,
weil du mir alles gegeben hast, gib mir diese beiden letzten Geldstückchen.
Gegenüber dem Vielen, das du gegeben hast, erscheinen sie Außenstehenden als
ein Nichts. Aber für dich, die du nichts mehr hast als sie, sind sie alles.
Lege sie in die Hand deines Herrn und weine nicht. Weine wenigstens nicht
allein. Weine mit mir, denn ich bin der einzige, der dich verstehen kann, und
der dich versteht ohne die Nebel des Menschlichen, die Interessen, die immer
das Wahre verschleiern.»
Apostel, Jünger und Volk folgen
ihm, als Jesus wieder zur ersten Umfassungsmauer zurückkehrt, die beinahe an
der Tempelmauer liegt, denn dort ist es etwas kühler an diesem drückend heißen
Tag. Dort ist der Boden aufgewühlt von den Hufen der Tiere und von Steinen
bedeckt, die die Händler und Geldwechsler benutzen, um ihre Umzäunungen und
Zelte zu befestigen. Aber die Rabbis von Israel sind dort nicht, denn sie
haben zwar erlaubt, daß im Tempel Handel getrieben wird, aber sie muten es den
Sohlen ihrer Sandalen nicht zu, dorthin zu gehen, wo noch die Spuren der
Vierfüßler zu sehen sind, die man erst vor einigen Tagen vertrieben hat...
Jesus empfindet keinen Ekel und
flüchtet sich an diesen Ort, umgeben von zahlreichen Zuhörern. Doch bevor er
zu reden beginnt, ruft er seine Apostel zu sich und sagt: «Kommt und hört gut
zu. Gestern wolltet ihr vieles wissen, was ich nun sagen werde, während ich es
gestern nur andeuten konnte, als wir uns im Garten des Joseph ausgeruht haben.
Seid also aufmerksam, denn es sind wichtige Lehren für alle, und besonders für
euch, meine Stellvertreter und Nachfolger.
Hört. Auf den Lehrstuhl des Moses
setzten sich zur rechten Zeit Schriftgelehrte und Pharisäer. Es waren traurige
Zeiten für das Vaterland. Nachdem das Exil in Babylon zu Ende und die Nation
dank der Großmut des Cyrus wieder aufgebaut war, erkannten die Führer des
Volkes die Notwendigkeit, auch den Kult und die Kenntnis des Gesetzes
wiederherzustellen. Denn wehe dem Volk, dem sie nicht zu seiner Verteidigung,
Leitung und Stütze zur Verfügung stehen gegen die mächtigsten Feinde einer
Nation, nämlich die Unmoral der Bürger, die Auflehnung gegen die Oberhäupter,
die Zwietracht zwischen den verschiedenen Klassen und Parteien, die Sünden
wider Gott und den Nächsten und die Religionslosigkeit, alles an sich schon
zersetzende Elemente, die auch noch die Strafe des Himmels herausfordern!
So machten sich die
Schriftgelehrten oder Gesetzeskundigen daran,
100
das Volk zu belehren, das sich
noch der chaldäischen Sprache aus der Zeit des harten Exils bediente und die
in reinem Hebräisch geschriebenen Schriften nicht mehr verstand. Die Priester
kamen ihnen zu Hilfe, obwohl auch ihre Zahl nicht groß genug war, um die
Aufgabe zu meistern, das Volk zu unterweisen. Somit war das zusätzliche
Vorhandensein gebildeter Laien gerechtfertigt, die sich der Ehre Gottes
widmeten, Kenntnis von ihm zu den Menschen und die Menschen zu ihm brachten
und hierdurch viel Gutes bewirkten. Denn, merkt es euch alle, selbst Dinge,
die durch die menschliche Schwäche später einen Niedergang erleben, wie es
hier im Laufe der Jahrhunderte geschah, haben immer auch etwas Gutes an sich
und zumindest anfänglich ihren Daseinsgrund. Und daher läßt der Allerhöchste
zu, daß sie entstehen und fortbestehen, und er zerstört sie nicht, bis das Maß
ihrer Verkommenheit voll ist.
Aus einer Umwandlung der Asidäer
ging dann die andere Sekte, die der Pharisäer, hervor. Sie sahen ihre Aufgabe
darin, durch strengste Moral und striktesten Gehorsam das Gesetz des Moses
hochzuhalten und den freiheitlichen Geist des Volkes zu stärken. Denn in der
Zeit des Antiochus Epiphanes hatte sich, unter Druck und durch Verführung, die
hellenistische Partei gebildet. Diese Verführung ging aber bald über in die
Verfolgung all derer, die dem Druck dieses Listigen nicht nachgaben, der mehr
auf den Verlust des Glaubens in den Herzen als auf seine Waffen vertraute, um
uns zu Knechten zu machen und unser Vaterland zu unterwerfen.
Vergeßt auch das nie: Fürchtet
mehr die leichtfertigen Bündnisse und die Schmeicheleien eines Fremden als
dessen Legionen. Denn wenn ihr den Gesetzen Gottes und des Vaterlandes treu
seid, werdet ihr siegen, auch wenn ihr von mächtigen Heeren eingeschlossen
seid. Wenn euch aber das Gift verdorben hat, das euch der Fremde wie
berauschenden Honig in geheimer Absicht einträufelt, wird Gott euch um eurer
Sünden willen verlassen, und ihr werdet besiegt und unterworfen werden, auch
ohne daß der falsche Kampfgenosse sich mit dem Blut eurer Heere befleckt. Wehe
dem, der nicht gleich einem aufmerksamen Wachposten auf der Hut ist und sich
gegen die raffinierte Bosheit eines verschlagenen und falschen Nachbarn oder
Bundesgenossen oder Herrschers zur Wehr setzt. Denn dessen Herrschaft beginnt
bei den Einzelnen; er betört ihre Herzen und verdirbt sie durch fremde,
unheilige Sitten und Gebräuche, so daß ihnen der Herr sein Wohlwollen
entzieht. Wehe! Denkt alle an die Folgen, die es für das Vaterland hatte, daß
einige seiner Söhne Sitten und Gebräuche des Fremden annahmen, um sich bei ihm
einzuschmeicheln und angenehm zu leben. Die Liebe zu allen ist etwas Gutes,
auch zu Völkern, die nicht unseres Glaubens sind, unsere Bräuche nicht haben
und uns jahrhundertelang geschadet haben. Aber die Liebe zu diesen Völkern,
die trotz allem unsere Nächsten sind, darf niemals dazu führen, daß wir das
Gesetz Gottes und das Vaterland verleugnen, um so einen Vorteil von
101
ihnen zu erlangen. Nein, die
Fremden verachten sogar jene, die sklavisch sind bis zur Verleugnung der
heiligsten Dinge des Vaterlandes. Nicht durch Verleugnung von Vater und
Mutter, von Gott und Vaterland, erlangt man Achtung und Freiheit.
Es war also gut, daß zur rechten
Zeit die Pharisäer mit ihrem Werk begannen, einen Deich aufzurichten gegen die
schmutzige Flut fremder Sitten und Bräuche. Ich wiederhole: Jede Sache, die
entsteht und fortdauert, hat ihren Daseinsgrund. Sie muß geachtet werden um
dessentwillen, was sie getan hat, wenn schon nicht um dessentwillen, was sie
tut. Denn wenn sie nun auch schuldig ist, so steht es den Menschen doch nicht
zu, sie zu beleidigen, und noch weniger, sie zu strafen. Das darf nur einer:
Gott und der, den er gesandt hat und der das Recht und die Pflicht hat, seinen
Mund zu öffnen und eure Augen zu öffnen, damit ihr die Gedanken des
Allerhöchsten erkennt und danach handelt. Ich und kein anderer. Ich, denn ich
spreche im Auftrag Gottes. Ich, denn ich darf sprechen. Denn in mir sind nicht
die Sünden, an denen ihr bei Schriftgelehrten und Pharisäern Anstoß nehmt, die
ihr aber selbst begeht, wenn ihr Gelegenheit dazu habt.»
Jesus hat langsam zu sprechen
begonnen und seine Stimme nach und nach erhoben. Bei diesen letzten Worten ist
sie mächtig wie ein Trompetenstoß.
Hebräer und Heiden hören gespannt
und aufmerksam zu. Wenn die ersteren Beifall spenden, als Jesus vom Vaterland
spricht und offen die Fremden beim Namen nennt, von denen sie unterworfen
wurden und unter denen sie zu leiden hatten, so bewundern die anderen seine
Redekunst und beglückwünschen sich, bei diesem Vortrag anwesend zu sein, der
eines großen Redners würdig ist, wie sie sagen.
Jesus senkt nun wieder die Stimme
und fährt fort: «Dies habe ich euch gesagt, um euch daran zu erinnern, weshalb
es Schriftgelehrte und Pharisäer gibt, wie und weshalb sie sich auf den
Lehrstuhl des Moses gesetzt haben, und wie und warum sie reden und ihre Worte
nicht wertlos sind. Tut also, was sie euch sagen. Aber ahmt ihre Werke nicht
nach. Denn sie sagen, daß man sich auf eine bestimmte Art verhalten soll, tun
dann aber selbst nicht, was man tun muß. In der Tat, sie lehren die Gesetze
der Menschlichkeit des Pentateuch, aber dann bürden sie anderen schwere,
untragbare, unmenschliche Lasten auf, während sie selbst keinen Finger rühren,
um diese Lasten anzufassen, geschweige denn, sie zu tragen.
Ihre Lebensregel ist, so zu
handeln, daß sie gesehen und zur Kenntnis genommen werden und für ihre Werke
Beifall erhalten; und sie tun sie so, daß sie dabei bemerkt und gelobt werden.
Sie fehlen gegen das Gesetz der Liebe, denn sie ziehen es vor, sich
abzusondern und verachten jene, die nicht zu ihrer Sekte gehören; sie nehmen
den Titel eines Meisters für sich in Anspruch und verlangen eine Verehrung von
ihren Schülern, wie sie sie
102
nicht einmal Gott erweisen. Für
Götter halten sie sich in ihrer Weisheit und Macht, wollen in den Herzen ihrer
Schüler mehr gelten als Vater und Mutter, betrachten ihre Lehre als der Lehre
Gottes überlegen und verlangen deren buchstabengetreue Ausführung; und dies
auch, wenn es sich dabei um eine Verfälschung des wahren Gesetzes handelt, dem
das ihre um so vieles unterlegen ist wie dieser Berg hier dem Großen Hermon,
der ganz Palästina überragt. Und sie sind Häretiker, und wie die Heiden
glauben manche von ihnen an die Seelenwanderung und an die Vorherbestimmung,
während die anderen bestreiten, was die einen sagen; und so leugnen sie
eigentlich, wenn auch nicht ausdrücklich das, was Gott zu glauben verlangt;
der einzige Gott, dem Verehrung gebührt, und der Vater und Mutter an die
zweite Stelle nach ihm gesetzt hat, denen man somit mehr Gehorsam schuldet als
einem Meister, der nicht Gott ist. Wenn ich euch nun sage: "Wer Vater oder
Mutter mehr liebt als mich, der ist nicht würdig, in das Reich Gottes
einzugehen", so heißt dies nicht, daß ihr die Eltern nicht lieben sollt. Ihr
schuldet ihnen Achtung und Hilfe und dürft ihnen nicht die Unterstützung
verweigern, indem ihr sagt: "Das Geld gehört dem Tempel" ' oder die Wohnung,
indem ihr sagt: "Mein Amt verbietet mir dies", oder das Leben, indem ihr sagt:
"Ich töte dich, weil du den Meister liebst", sondern es heißt, daß ihr die
richtige Liebe zu den Eltern haben sollt, also eine geduldige und in der
Duldsamkeit starke Liebe, die zu wählen versteht zwischen meinem Gebot und dem
familiären Egoismus, der familiären Bindung; eine Liebe, die sich nicht in Haß
verwandelt, wenn die Eltern sündigen und Schmerz bereiten, da sie euch nicht
auf dem Weg des Lebens, meinem Weg, folgen. Liebt die Eltern und gehorcht
ihnen in allem, was heilig ist. Aber seid bereit zu sterben, nicht zu töten,
sondern zu sterben, wenn sie euch dazu bringen wollen, eure Berufung durch
Gott zu Bürgern des Reiches Gottes, das zu gründen ich gekommen bin, zu
verraten.
Ahmt nicht die Schriftgelehrten
und Pharisäer nach, die untereinander uneins sind und nur so tun, als seien
sie einig. Ihr, Jünger des Christus, sollt wirklich eins sein. Die
Vorgesetzten seien gut zu den Untergebenen und die Untergebenen gut zu ihren
Herren, eins in der Liebe und im Ziel eurer Einigkeit: mein Reich zu erwerben
und zu meiner Rechten zu stehen beim letzten Gericht. Denkt daran, daß ein
geteiltes Reich kein Reich mehr ist und nicht bestehen kann. Seid daher einig
untereinander in der Liebe zu mir und meiner Lehre. Merkmale des Christen –
denn das wird der Name meiner Untergebenen sein – seien Liebe und Einigkeit,
Gleichförmigkeit in der Kleidung, gemeinsamer Besitz und Brüderlichkeit in den
Herzen. Alle für einen, einer für alle.
Wer hat, soll demütig geben. Wer
nichts hat, soll demütig nehmen und demütig seine Bedürfnisse den Brüdern
mitteilen. Die Brüder sollen liebevoll die Bedürfnisse der Brüder anhören und
sich wirklich als Brüder
103
fühlen. Erinnert euch, daß euer
Meister oft Hunger, Kälte und tausend andere Nöte und Unannehmlichkeiten
erleiden mußte und sie demütig den Menschen genannt hat, er, das Wort Gottes.
Erinnert euch, daß der Barmherzige belohnt wird, sogar für einen Schluck
Wasser. Erinnert euch, geben ist seliger denn nehmen. In diesen drei
Erinnerungen soll der Arme die Kraft finden, zu bitten, ohne sich gedemütigt
zu fühlen, da er weiß, daß ich es vor ihm getan habe; und zu verzeihen, wenn
er abgewiesen wird, da er weiß, daß dem Menschensohn oft der Platz und die
Speise verweigert wurden, die man dem Wachthund der Herde gibt. Der Reiche
soll großmütig werden und seine Reichtümer verschenken, wenn er daran denkt,
daß das schnöde Geld, der verabscheuenswerte, ihm von Satan eingeflüsterte
Mammon, der die Ursache von neun Zehnteln allen Unglücks in der Welt ist, sich
in eine unsterbliche Perle des Paradieses wandelt, wenn er mit Liebe gegeben
wird.
Bekleidet euch mit euren
Tugenden. Sie sollen groß, aber nur Gott allein bekannt sein. Macht es nicht
wie die Pharisäer. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und ihre Mantelquasten
lang. Sie lieben die ersten Sitze in den Synagogen und die Begrüßungen auf den
Marktplätzen und daß sie von den Leuten Rabbi genannt werden. Einer nur ist
der Meister: Christus. Ihr, die ihr die neuen Lehrer der Zukunft sein
werdet... ich meine euch, meine Apostel und Jünger – denkt daran, daß ich
allein euer Meister bin. Ich werde es sein, auch wenn ich nicht mehr unter
euch bin, denn nur die Weisheit kann belehren. Laßt euch daher nicht Meister
nennen, denn ihr selbst werdet immer Schüler sein.
Verlangt nicht und gebt nicht den
Namen Vater irgend jemandem auf der Welt, denn nur einer ist der Vater aller:
euer Vater, der im Himmel ist. Diese Wahrheit soll euch weise machen, so daß
ihr euch wahrhaft als Brüder fühlt, sowohl jene, die führen, als auch jene,
die geführt werden, und euch als gute Brüder liebt. Auch soll sich keiner von
den Führenden Lehrer nennen lassen, denn ihr habt nur einen, der euch alle
lehrt: Christus. Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Es ist keine
Demütigung, Diener der Diener Gottes zu sein, sondern es bedeutet mich
nachzuahmen, der ich sanft und demütig war und immer bereit, meine Brüder im
Fleisch Adams zu lieben und ihnen mit meiner Macht als Gott zu helfen. Ich
habe das Göttliche nicht gedemütigt, weil ich den Menschen gedient habe. Denn
der wahre König ist, wer nicht so sehr die Menschen, sondern vielmehr die
Leidenschaften der Menschen beherrscht, vor allem den törichten Stolz. Denkt
daran: Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden, und wer sich selbst
erhöht, wird erniedrigt werden.
Die Frau, von der der Herr in der
Genesis spricht, die Jungfrau, von der Isaias spricht, die Jungfrau – die
Jungfrau-Mutter des Emmanuel – hat diese Wahrheit der neuen Zeit prophezeit
und gesungen: "Der Herr hat die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Niedrigen
erhöht." Die Weisheit
104
Gottes sprach durch den Mund
jener, die die Mutter der Gnade und der Sitz der Weisheit war. Und ich
wiederhole die inspirierten Worte, die mich mit dem Vater und dem Heiligen
Geist in unseren wunderbaren Werken priesen, als ich, der Mensch, mich im
Schoß der unversehrten Jungfrau bildete, ohne dabei aufzuhören, Gott zu sein.
Sie sollen Norm für alle sein, die Christus in ihren Herzen tragen und ins
Himmelreich gelangen wollen. Es wird keinen Jesus und Erlöser, keinen Christus
und Herrn und kein Reich des Himmels für jene geben, die stolz, unzüchtig und
Götzendiener sind und sich selbst und ihren Willen anbeten.
Daher wehe euch, ihr
Schriftgelehrten und heuchlerischen Pharisäer! Ihr glaubt, mit euren unmöglich
zu befolgenden Vorschriften – die tatsächlich ein unüberwindliches Hindernis
für die meisten Menschen wären, wenn sie von Gott bestätigt würden – ihr
glaubt, das Reich des Himmels vor den Menschen verschließen zu können, die
ihren Geist zu ihm erheben, um in ihren leidvollen irdischen Tagen Kraft zu
finden! Wehe euch, die ihr nicht hineinkommt, nicht hineinkommen wollt, da ihr
das Gesetz des himmlischen Reiches nicht annehmt und die anderen nicht
hineinlaßt, die vor der Türe stehen, die ihr unnachsichtig mit Schlössern
verschließt, die Gott nicht angebracht hat.
Wehe euch, ihr Schriftgelehrten
und heuchlerischen Pharisäer! Ihr zehrt die Habe der Witwen auf und verrichtet
zum Schein lange Gebete. Dafür erwartet euch ein strenges Gericht!
Wehe euch, ihr Schriftgelehrten
und heuchlerischen Pharisäer! Denn ihr reist über Meer und Land und verbraucht
fremden Besitz, um einen einzigen Proselyten zu machen, und wenn er es
geworden ist, dann macht ihr aus ihm einen Sohn der Hölle, doppelt wie ihr.
Wehe euch, blinde Führer, die ihr
sagt: "Wenn einer beim Tempel schwört, dann gilt sein Eid nicht, aber wenn er
auf das Gold des Tempels schwört, dann ist er durch seinen Schwur gebunden."
Ihr Toren und Blinden! Was ist denn größer? Das Gold oder der Tempel, der das
Gold heiligt? Was heißt: "Wenn einer beim Altar schwört, dann hat sein Eid
keinen Wert, aber wenn er auf die Gabe schwört, die auf dem Altar liegt, dann
ist sein Eid gültig und er ist seinem Eid verpflichtet." Ihr Blinden! Was ist
denn größer? Die Gabe oder der Altar, der die Gabe heiligt? Wer also beim
Altar schwört, der schwört bei ihm und allem, was darauf liegt, und wer beim
Tempel schwört, der schwört bei ihm und bei dem, der darin wohnt. Und wer beim
Himmel schwört, schwört beim Thron Gottes und bei dem, der darauf sitzt.
Wehe euch, ihr Schriftgelehrten
und heuchlerischen Pharisäer! Ihr gebt den Zehnten von Minze und Raute, von
Anis und Kümmel, aber die wichtigsten Vorschriften des Gesetzes schiebt ihr
beiseite: die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und die Treue. Das sind die
Tugenden, die man haben muß, ohne die anderen kleinen Dinge zu
vernachlässigen! Ihr blinden
105
Führer, ihr seiht die Getränke
aus Furcht euch anzustecken, wenn ihr eine kleine ertrunkene Mücke
verschluckt, und dann verschlingt ihr ein Kamel, ohne euch deswegen unrein zu
fühlen. Wehe euch, Schriftgelehrte und heuchlerische Pharisäer! Ihr reinigt
das Äußere von Becher und Schüssel, innen aber seid ihr voll Raub und
Unmäßigkeit. Blinder Pharisäer, reinige zuerst, was im Becher und in der
Schüssel ist, damit auch das Äußere rein werde.
Wehe euch, ihr Schriftgelehrten
und heuchlerischen Pharisäer! Wie Nachtvögel benutzt ihr die Finsternis für
eure sündigen Werke, und im Dunkeln paktiert ihr mit Heiden, Räubern und
Verrätern, um dann am Morgen, nachdem ihr die Spuren eurer verborgenen
Machenschaften getilgt habt, in schönen Gewändern zum Tempel hinaufzugehen.
Wehe euch, die ihr die Gebote der
Liebe und der Gerechtigkeit lehrt, die im Leviticus enthalten sind, und dann
gierig, räuberisch, verlogen, verleumderisch, ungerecht, rachsüchtig und
gehässig seid und sogar tötet, wenn euch jemand stört, selbst wenn es euer
eigenes Blut ist; ihr verstoßt die Jungfrau, die eure Frau geworden ist, und
die Kinder, die sie euch geschenkt hat, weil sie unglücklich sind. Ihr klagt
eure Frau des Ehebruchs oder einer unreinen Krankheit an, weil sie euch nicht
mehr gefällt und ihr euch ihrer entledigen wollt, ihr, deren unzüchtige Herzen
unrein sind, auch wenn es vor den Menschen, die eure Werke nicht kennen, nicht
so zu sein scheint. Ihr gleicht getünchten Gräbern, die außen schön, innen
aber voll sind von Totengebein und aller Unreinheit. So auch ihr. Ja. So!
Äußerlich scheint ihr gerecht, aber innerlich seid ihr übervoll von Heuchelei
und Ungerechtigkeit.
Wehe euch, ihr Schriftgelehrten
und heuchlerischen Pharisäer! Ihr baut den Propheten prachtvolle Gräber und
schmückt die Grabmäler der Gerechten und sagt: "Hätten wir in den Tagen
unserer Väter gelebt, wir hätten uns nicht schuldig gemacht am Blut der
Propheten." Und so stellt ihr euch selbst das Zeugnis aus, daß ihr Söhne der
Prophetenmörder seid. Und im übrigen macht ihr das Maß eurer Väter voll... Ihr
Schlangen, ihr Natterngezücht, wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entrinnen?
Daher sage ich, das Wort Gottes,
euch: Ich, Gott, werde euch neue Propheten, Weise und Schriftgelehrte
schicken. Einige von ihnen werdet ihr töten, einige kreuzigen, einige in euren
Gerichtshöfen und euren Synagogen und außerhalb eurer Mauern geißeln, und
einige werdet ihr von Stadt zu Stadt verfolgen, damit nicht über euch alle das
gerechte Blut komme, das auf die Erde ausgegossen wurde, vom Blut Abels, des
Gerechten, bis zum Blut des Zacharias, des Sohnes des Barachias, den ihr
getötet habt zwischen dem Vorhof und dem Altar, weil er euch aus Liebe zu euch
eure Sünden vorgehalten hat, damit ihr sie bereut und zum Herrn zurückkehrt.
So ist es. Ihr haßt jene, die
euer Bestes wollen und euch liebevoll auf die Wege Gottes zurückrufen.
106
Wahrlich, ich sage euch, alles
wird so kommen. Sowohl das Verbrechen als auch die Folgen. Wahrlich, ich sage
euch, dies alles wird über dieses Geschlecht kommen.
0 Jerusalem! Jerusalem!
Jerusalem, du steinigst, die zu dir gesandt sind, und tötest deine Propheten!
Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter
ihre Flügel sammelt; aber du hast nicht gewollt!
So höre, o Jerusalem! So hört,
ihr alle, die ihr mich haßt und alles haßt, was von Gott kommt. So hört, ihr,
die ihr mich liebt und auch mit von der Strafe betroffen sein werdet, die für
die Verfolger des Messias Gottes bestimmt ist. Hört auch ihr, die ihr nicht
aus diesem Volk seid, mir aber trotzdem zuhört, hört, damit ihr wißt, wer der
ist, der zu euch spricht und weissagt, ohne erst den Flug und den Gesang der
Vögel, die Zeichen des Himmels oder die Eingeweide geopferter Tiere, die
Flamme und den Rauch der Brandopfer befragen zu müssen; denn die Zukunft ist
für den, der zu euch spricht, Gegenwart. "Euer Haus wird euch verödet
überlassen werden. Ich sage euch, spricht der Herr, von nun an werdet ihr mich
nicht mehr sehen, bis auch ihr ruft: 'Gelobt sei, der da kommt im Namen des
Herrn."'»
Jesus ist sichtlich müde und
erhitzt. Sowohl von der Anstrengung der so langen und lauten Rede, als auch
von der durch kein Lüftchen gekühlten Schwüle des Tages. Die Menge drückt ihn
an die Mauer, Tausende von Augen durchbohren ihn, und er fühlt den ganzen Haß,
der ihm unter den Säulengängen des Vorhofs der Heiden zuhört, und die ganze
Liebe oder wenigstens Bewunderung, die ihn umgibt trotz der Sonne, die auf die
Rücken und die roten, verschwitzten Gesichter brennt; er scheint wirklich
erschöpft und ruhebedürftig. Und er sucht Ruhe, denn er sagt zu seinen
Aposteln und den Zweiundsiebzig, die sich langsam durch die Menge gedrängt
haben, nun ganz vorne stehen und eine Schranke treuer Liebe um ihn bilden:
«Wir wollen den Tempel verlassen und ins Freie unter die Bäume gehen. Ich
brauche Schatten, Ruhe und Kühle. Wahrlich, dieser Ort scheint schon zu
brennen im Feuer des himmlischen Zorns.»
Sie bahnen ihm mit Mühe einen Weg
und gehen durch das nächstgelegene Tor hinaus. Dort versucht Jesus vergeblich,
viele zu entlassen. Sie wollen ihm um jeden Preis folgen.
Die Jünger betrachten unterdessen
den in der Mittagssonne strahlenden Würfel des Tempels, und Johannes von
Ephesus macht den Meister auf den mächtigen Bau aufmerksam: «Sieh, was für
Steine und was für Bauten!»
«Und doch wird kein Stein davon
auf dem anderen bleiben», antwortet Jesus.
«Nein? Wann? Wie?» fragen viele,
aber Jesus antwortet nicht.
Er geht den Moriah hinunter und
durch Ophel, verläßt rasch die Stadt
107
durch das Tor von Ephraim oder
des Mists und flüchtet sich in die üppigen Gärten der früheren Könige, bis
alle, die darauf bestanden haben, ihm zu folgen und die weder Apostel noch
Jünger sind, langsam fortgehen, als Manaen, der die schweren Tore hat öffnen
lassen, sich gebieterisch vor sie stellt und zu allen sagt: «Geht. Hier kommen
nur die herein, die ich will.»
Schatten und Stille, Düfte von
Blumen, Kampfer, Nelken, Zimt, Speik und tausend anderen wohlriechenden
Pflanzen, Blattlauben mit plätschernden Bächlein, die gewiß von den nahen
Brunnen und Zisternen gespeist werden, und Vogelgezwitscher machen aus dem
Garten einen Ort paradiesischer Ruhe. Die Stadt scheint meilenweit entfernt zu
sein mit ihren engen, von Gewölben überspannten oder aber in der grellen,
blendenden Sonne brütenden Gassen, mit ihren Gerüchen und dem Kloakengestank
der nicht immer sauberen Straßen und besonders Nebenstraßen, durch die zu
viele Tiere gehen, als daß sie immer sauber sein könnten.
Der Hüter des Gartens muß Jesus
sehr gut kennen, denn er begrüßt ihn respektvoll und zugleich ungezwungen.
Jesus fragt ihn nach seinen Söhnen und der Frau.
Der Mann möchte Jesus sein Haus
als Aufenthalt anbieten, doch der Meister zieht den kühlen, geruhsamen Frieden
des großen Königsgartens, eine wahre Erquickung, vor. Bevor die beiden
unermüdlichen und getreuen Diener des Lazarus gehen, um den Korb mit den
Speisen zu holen, sagt Jesus zu ihnen: «Sagt euren Herrinnen, daß sie kommen
sollen. Wir werden uns hier einige Stunden mit der Mutter und den getreuen
Jüngerinnen aufhalten. Und es wird so schön sein...»
«Du bist sehr müde, Meister! Man
sieht es an deinem Gesicht», bemerkt Manaen.
«Ja, so sehr, daß ich keine Kraft
mehr hatte, weiterzugehen.»
«Aber ich habe dir diese Gärten
schon oft in diesen Tagen angeboten. Du weißt, daß ich glücklich bin, dir
Frieden und Erholung schenken zu können!»
«Ich weiß es, Manaen.»
«Und gestern wolltest du an den
traurigen Ort dort gehen! Mit seiner trostlosen Umgebung und seiner dieses
Jahr so eigenartig nackten Vegetation! Und so nahe bei diesem traurigen Tor.»
«Ich wollte meine Apostel
zufriedenstellen. Sie sind im Grund wie Kinder. Wie große Kinder. Sich sie dir
an, wie sie sich dort glücklich erholen! ... Sie vergessen sofort, was man
jenseits dieser Mauern gegen mich unternimmt ...»
«Und sie vergessen auch gleich,
daß du so traurig bist... Aber ich glaube, es gibt keinen Grund, sich große
Sorgen zu machen. Der Ort schien mir andere Male schon gefährlicher.»
108
Jesus schaut ihn an und schweigt.
Wie oft sehe ich Jesus in diesen letzten Tagen so schauen und schweigen.
Dann betrachtet Jesus die Apostel
und die Jünger, die ihre Kopfbedeckungen, Mäntel und Sandalen abgelegt haben
und sich Gesicht, Hände und Füße in den kühlen Bächlein erfrischen, und denen
es viele der zweiundsiebzig Jünger nachmachen. Eigentlich sind es viel mehr,
glaube ich, die sich nun, alle brüderlich verbunden durch die gleichen Ideale,
da und dort zur Ruhe legen, ein wenig abseits, um Jesus nicht zu stören.
Auch Manaen zieht sich zurück und
läßt Jesus in Frieden. Alle achten die Ruhe des Meisters, der sich erschöpft
in eine dichte blühende Jasmin-Pergola zurückzieht, die einer Hütte gleicht
und von Wasser umgeben ist, das murmelnd durch einen kleinen Kanal fließt,
über den sich Kräuter und Blumen neigen. Ein richtiger Zufluchtsort des
Friedens, zu dem man über ein zwei Spannen breites und vier Spannen langes
Brückchen gelangt, dessen Geländer mit Girlanden von Jasminblüten geschmückt
ist.
Die Diener kehren zusammen mit
anderen zurück, denn Martha will für alle Jünger des Herrn sorgen, und sie
richten aus, daß die Frauen bald kommen werden.
Jesus läßt Petrus rufen und sagt
zu ihm: «Du wirst zusammen mit Jakobus, meinem Bruder, das Mahl segnen,
aufopfern und verteilen, so wie ich es immer mache.»
«Verteilen, ja, aber nicht
segnen, Herr! Es steht nur dir zu, zu opfern und zu segnen.»
«Als du als Oberhaupt mit den
Gefährten fern von mir warst, hast du es da nicht auch getan?»
«Ja, aber damals... mußte ich es
tun. Nun aber bist du bei uns, und du mußt segnen. Es schmeckt mir alles
besser, wenn du es für uns aufopferst und verteilst ...» Und der treue Simon
umarmt seinen Jesus, der müde im Schatten sitzt, legt seinen Kopf auf die
Schulter des Meisters und ist selig, ihn so umarmen und küssen zu können...
Jesus erhebt sich und stellt ihn
zufrieden. Er geht zu den Jüngern, opfert, segnet und verteilt die Nahrung,
schaut ihnen zu, wie sie glücklich essen, und sagt: «Danach schlaft und ruht
euch aus, solange noch Zeit ist, damit ihr wachen und beten könnt, wenn es
nötig sein wird, und Mühen und Müdigkeit euch nicht Augen und Geist mit Schlaf
beschweren, wenn ihr bereit und wach sein müßt.»
«Bleibst du denn nicht bei uns?
Willst du nicht essen?»
«Laßt mich ausruhen. Ich brauche
nur dies. Eßt nur, eßt!» Jesus liebkost im Vorbeigehen einige Jünger und kehrt
an seinen Platz zurück...
Die Mutter kommt nun sanft und
liebevoll zu ihrem Sohn. Maria nähert sich zielbewußt, denn Manaen, der nicht
so müde ist wie die übrigen, hat am Tor Wache gehalten und ihr gezeigt, wo
Jesus sich befindet.
Die anderen – alle hebräischen
Jüngerinnen und Valeria als einzige
109
Römerin – warten einige Zeit
schweigend, um die Jünger nicht zu stören, die im Schatten der dichten Bäume
schlafen und Schafen gleichen, die um die sechste Stunde im Gras liegen.
Maria geht in die Jasmin-Pergola
und achtet darauf, daß die kleine Holzbrücke nicht knarrt und der Kies unter
ihren Füßen nicht knirscht. Noch vorsichtiger nähert sie sich dem Sohn, der
von Müdigkeit überwältigt eingeschlafen ist und den Kopf auf die Steinplatte
des Tisches gelegt hat. Sein linker Arm dient ihm als Kissen, und die Haare
sind über sein Gesicht gefallen. Maria setzt sich geduldig zu ihrem müden
Sohn. Sie betrachtet ihn... lange, mit einem schmerzlichen, liebevollen
Lächeln um die Lippen, während lautlose Tränen in ihren Schoß fallen. Aber
wenn auch die Lippen verschlossen und stumm bleiben, so betet doch ihr Herz
mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften. Die Kraft und Intensität dieses
Gebetes verrät sich in der Haltung ihrer Hände, die sie im Schoß
zusammenkrampft, damit sie nicht zittern, die aber trotzdem leicht zucken.
Hände, die sich nur voneinander lösen, um eine eigensinnige Fliege zu
verscheuchen, die sich auf dem Schlafenden niederlassen will und ihn wecken
könnte.
Es ist die Mutter, die über ihren
Sohn wacht; über den letzten Schlaf des Sohnes, den sie bewachen kann. Und
wenn auch das Antlitz der Mutter an diesem Mittwoch vor Ostern anders ist als
das der Mutter bei der Geburt des Herrn, da der Schmerz es bleich und
eingefallen erscheinen läßt, so ist doch die liebevolle Reinheit des Blickes
und die bange Sorge die gleiche, mit der sie sich auch über die Krippe von
Bethlehem neigte, als ihre Liebe den ersten sorglosen Schlaf ihres Kindes
behütete.
Jesus bewegt sich, und Maria
trocknet sich rasch die Augen, um ihre Tränen vor dem Sohn zu verbergen. Aber
Jesus ist nicht aufgewacht. Er hat nur den Kopf und das Gesicht auf die andere
Seite gelegt. Maria sitzt wieder reglos da und wacht.
Aber plötzlich durchbohrt es ihr
das Herz. Sie hört, daß ihr Jesus im Schlaf weint, und aus seinem unklaren
Flüstern – denn er schläft mit dem Arm und den Ärmel vor dem Mund – hört sie
den Namen des Judas heraus.
Maria steht auf, nähert sich dem
Sohn, beugt sich über ihn und horcht auf dieses undeutliche Flüstern, die
Hände auf das Herz gepreßt; denn wenn man auch nicht alles versteht, so doch
genügend, um den Worten Jesu entnehmen zu können, daß er von der Gegenwart und
von der Vergangenheit träumt und dann auch von der Zukunft, bis er mit einem
Ruck erwacht, wie um etwas Furchtbarem zu entfliehen. Aber er findet die Brust
seiner Mutter, die Arme seiner Mutter, das Lächeln seiner Mutter, die süße
Stimme seiner Mutter, ihren Kuß, ihre Liebkosungen und die leichte Berührung
ihres Schleiers, mit dem sie Tränen und Schweiß von seinem Antlitz wischt,
während sie sagt: «Du sitzt unbequem und hast
110
geträumt... Du bist
schweißgebadet und sehr müde, mein Sohn.» Sie bringt sein Haar wieder in
Ordnung, trocknet sein Gesicht und küßt es, umschlingt ihn mit einem Arm und
drückt ihn an ihr Herz; denn sie kann ihn ja nicht mehr auf den Schoß nehmen
wie damals, als er noch klein war.
Jesus lächelt ihr zu und sagt:
«Du bist immer die Mama, die tröstet. Die Mama, die alles wieder gutmacht.
Meine Mama!» Er fordert sie auf, sich neben ihn zu setzen und legt die Hand an
ihren Schoß. Und Maria nimmt die schlanke, vornehme und doch so kräftige Hand
des Handwerkers in ihre kleinen Hände, streichelt die Finger und den
Handrücken und glättet die Adern, die durch das Herunterhängen im Schlaf
angeschwollen sind. Sie versucht, Jesus zu zerstreuen...
«Wir sind gekommen. Wir sind alle
da. Auch Valeria. Die anderen sind in der Antonia. Claudia hat es so gewollt,
"denn sie ist sehr betrübt", hat die Freigelassene gesagt. Sie sagt, sie habe,
ich weiß nicht warum, eine Vorahnung vieler Tränen. Alles Aberglauben! Nur
Gott kennt die Dinge ...»
«Wo sind die Jüngerinnen?»
«Dort am Beginn der Gärten.
Martha wollte Speisen und erfrischende, erquickende Getränke vorbereiten für
dein Erwachen. Aber ich, schau: das hast du immer gern gehabt, und ich habe es
dir gebracht. Das ist mein Beitrag, und er ist besser, denn er ist von deiner
Mama.» Sie zeigt ihm ein Honigtöpfchen und einen kleinen Brotfladen, auf den
sie den Honig streicht und den sie dann ihrem Sohn gibt mit den Worten: «Wie
in Nazareth, wenn du dich in der heißesten Stunde ausgeruht hast, erhitzt
erwacht bist, und ich dann von der kühlen Grotte mit dieser Stärkung kam...»
Sie unterbricht sich, denn ihre Stimme zittert.
Ihr Sohn schaut sie an und sagt
dann: «Als Joseph noch lebte, brachtest du die Stärkung für zwei und das kühle
Wasser in dem tönernen Krug, den du unter das fließende Wasser gestellt
hattest, damit es noch frischer würde und in das du wilde Minze gegeben
hattest. Wieviel Minze gab es doch dort unter den Ölbäumen 1 Und wie viele
Bienen auf den Blüten der Minze! Unser Honig schmeckte immer ein wenig
danach...» Er denkt zurück... erinnert sich...
«Weißt du, daß wir Alphäus
gesehen haben? Joseph hat sich verspätet, da eines der Kinder ein wenig krank
war. Aber morgen wird er gewiß hier sein, zusammen mit Simon. Salome des Simon
gibt auf unser Haus acht und auf das Marias.»
«Mama, wenn du einmal allein
bist, bei wem wirst du dann bleiben?»
«Bei dem, den du mir nennst, mein
Sohn. Ich habe dir gehorcht, bevor du zur Welt gekommen bist. Ich werde dir
weiterhin gehorchen, nachdem du mich verlassen hast.» Ihre Stimme zittert,
aber auf den Lippen ist ein heroisches Lächeln.
«Du verstehst zu gehorchen. Welch
ein Frieden, bei dir zu sein! Denn siehst du, Mama, die Welt kann es nicht
verstehen, aber ich finde Ruhe bei den Gehorsamen... Ja, Gott ruht sich bei
den Gehorsamen aus. Gott hätte nicht leiden, sich nicht mühen müssen, wenn der
Ungehorsam nicht in die Welt gekommen wäre. Alles passiert, weil man nicht
gehorchen will. Daher der Schmerz auf der Welt... Daher unser Schmerz!»
«Aber auch unser Friede, Jesus,
denn wir wissen, daß unser Gehorsam den Ewigen tröstet. Oh, besonders für mich
ist das ein außerordentlicher Gedanke! Es ist mir, dem Geschöpf, vergönnt, den
Schöpfer zu trösten!»
«Oh, Freude Gottes! Du weißt
nicht, o unsere Freude, was dein Wort für uns bedeutet! Mehr als die Harmonie
der himmlischen Chöre... Gesegnet seist du! Gesegnet, die du mich den letzten
Gehorsam lehrst und ihn mir so wünschenswert machst bei diesem Gedanken!»
«Du hast es nicht nötig, daß ich
dich belehre, mein Jesus. Ich habe alles von dir gelernt.»
«Alles hat Jesus der Maria von
Nazareth, der Mensch, von dir gelernt.»
«Es war dein Licht, das aus mir
strömte. Das Licht, das du bist, das ewige Licht, das sich in einem
menschlichen Leib erniedrigt hat... Die Brüder der Johanna haben mir von
deiner Rede erzählt. Sie waren hingerissen vor Bewunderung. Du bist streng mit
den Pharisäern gewesen...»
«Es ist die Stunde der höchsten
Wahrheiten, Mama. Für sie bleiben sie tote Wahrheiten. Aber für die anderen
werden sie lebendige Wahrheiten sein. Mit Liebe und Strenge muß ich die letzte
Schlacht wagen, um sie dem Bösen zu entreißen.»
«Das ist wahr. Man hat mir
berichtet, daß Gamaliel, der mit anderen in einem der Säle der Vorhöfe war, am
Ende der Rede sagte, als viele sehr unruhig geworden waren: "Wenn man die Rüge
nicht will, handelt man als Gerechter..." Nach dieser Bemerkung ist er
weggegangen.»
«Ich freue mich, daß der Rabbi
mich gehört hat. Wer hat es dir gesagt?»
«Lazarus. Und ihm hat es Eleazar
gesagt, der mit den anderen im Saal war. Lazarus ist um die sechste Stunde
gekommen. Er hat gegrüßt und ist wieder gegangen, ohne auf die Schwestern zu
hören, die ihn bis Sonnenuntergang zurückhalten wollten. Er hat gebeten,
Johannes oder jemand anderen zu schicken, um die Früchte und Blumen abzuholen,
die nun gerade reif oder aufgeblüht sind.»
«Morgen werde ich Johannes
schicken.»
«Lazarus kommt jeden Tag. Aber
Maria ist beunruhigt, denn sie sagt, daß er einer Erscheinung gleicht. Er
steigt zum Tempel hinauf, kommt, gibt Anweisungen und geht wieder.»
«Auch Lazarus weiß zu gehorchen.
ich habe es ihm so befohlen, denn auch er ist in Gefahr. Aber sage den
Schwestern nichts. Es wird ihm nichts geschehen... Und nun gehen wir zu den
Jüngerinnen.»
112
«Bemühe dich nicht. Ich rufe sie.
Die Jünger schlafen alle ...»
«Und wir wollen sie schlafen
lassen. Sie schlafen nachts sehr wenig, denn ich unterweise sie in der Stille
des Gethsemane.»
Maria geht und kommt mit den
Frauen zurück, die schwerelos zu sein scheinen, so leicht sind ihre Schritte.
Sie grüßen ihn mit einer tiefen
Verneigung, nur Maria des Kleophas etwas vertraulicher. Martha zieht aus einer
geräumigen Tasche eine kleine feuchte Amphore, während Maria aus einem
tönernen Gefäß frische Früchte aus Bethanien hervorholt und sie auf den Tisch
legt neben die von ihrer Schwester schon hergerichtete, über dem Feuer
gebratene Taube, die sehr knusprig und appetitlich aussieht. Sie bittet Jesus,
sich zu bedienen und sagt: «Iß, das Fleisch wird dich stärken. Ich habe es
selbst zubereitet.»
Johanna hat roten Essig gebracht.
Sie erklärt: «Er ist sehr erfrischend bei dieser Hitze. Auch mein Mann benützt
ihn, wenn er müde ist von einem langen Ritt.»
«Wir haben nichts», entschuldigen
sich Maria Salome, Maria des Kleophas, Susanna und Elisa. Und Nike und Valeria
ihrerseits sagen: «Auch wir haben nichts. Wir wußten nicht, daß wir kommen
sollten.»
«Ihr habt mir euer ganzes Herz
gegeben. Das genügt mir. Und ihr werdet mir noch mehr geben...»
Er ißt. Aber mehr noch trinkt er
das kühle Honigwasser, das Martha aus der Amphore mischt, und genießt das
frische Obst, das eine Erquickung für den Müden ist.
Die Jüngerinnen reden nicht viel.
Sie sehen ihm zu, wie er sich erfrischt. Ihre Augen drücken Liebe und Sorge
aus. Plötzlich fängt Elisa an zu weinen und entschuldigt sich: «Ich weiß
nicht, mein Herz ist schwer und traurig...»
«Unser aller Herz ist schwer.
Selbst Claudia leidet in ihrem Palast ...»sagt Valeria.
«Ich wollte, es wäre schon
Pfingsten ...» flüstert Salome.
«Ich hingegen wollte, die Zeit
bliebe jetzt stehen», sagt Maria von Magdala.
«Dann wärst du egoistisch,
Maria», antwortet Jesus.
«Warum, Rabbuni?»
«Weil du die Freude deiner
Erlösung für dich allein haben wolltest. Tausende, Millionen von Menschen
erwarten diese Stunde, werden durch diese Stunde erlöst.»
«Das ist wahr. Daran habe ich
nicht gedacht...» Sie neigt das Haupt und beißt sich auf die Lippen, um nicht
die Tränen in ihren Augen und das Zittern ihrer Lippen zu zeigen. Aber sie ist
immer die starke Kämpferin und sagt: «Wenn du morgen kommst, kannst du das
Gewand wieder anziehen, das du geschickt hast. Es ist nun frisch und rein und
des Ostermahles würdig.»
113
«Ich werde kommen... Habt ihr mir
nichts zu sagen? Ihr seid stumm und betrübt. Bin ich denn nicht mehr euer
Jesus?» und er lächelt den Frauen einladend zu.
«Oh, du bist es. Aber du bist so
groß in diesen Tagen, daß ich in dir nicht mehr das Kindlein sehen kann, das
ich auf meinen Armen getragen habe!» ruft Maria des Alphäus aus.
«Und ich den einfachen Rabbi, der
in meine Küche gekommen ist und Johannes und Jakobus gesucht hat», sagt
Salome.
«Ich habe dich immer so gekannt:
Als den König meiner Seele!» erklärt Maria von Magdala.
Und Johanna sanft und gütig: «Ich
auch: göttlich, wie im Traum, in dem du der Sterbenden erschienen bist, um
mich ins Leben zurückzurufen.»
«Du hast uns alles gegeben, o
Herr. Alles!» seufzt Elisa, die sich beruhigt hat.
«Und auch ihr habt mir alles
gegeben.»
«Viel zu wenig», sagen alle.
«Das Geben hört nicht auf nach
dieser Stunde. Es wird erst enden, wenn ihr mit mir in meinem Reich seid.
Meine treuen Jüngerinnen. Ihr werdet nicht an meiner Seite sitzen, auf den
zwölf Thronen, um die zwölf Stämme Israels zu richten, aber ihr werdet
zusammen mit den Engeln das Hosanna singen und den Ehrenchor meiner Mutter
bilden, und dann wird das Herz Christi so wie heute seine Freude daran finden,
euch zu betrachten.»
«Ich bin jung. Und es wird noch
lange dauern, bis ich zu deinem Reich aufsteigen kann. Glückliche Annalia!»
sagt Susanna.
«Ich bin alt, und ich bin
glücklich, es zu sein. Ich hoffe, daß der Tod nahe ist», sagt Elisa.
«Ich habe die Söhne... Ich möchte
ihnen dienen, diesen Dienern Gottes», seufzt Maria des Kleophas.
«Vergiß uns nicht, Herr!» sagt
Maria Magdalena mit verhaltener Angst, ich würde sagen, mit einem Aufschrei
der Seele; denn in ihrer Stimme, die zwar leise ist, um die Schlafenden nicht
zu wecken, schwingt mehr Intensität als in einem Schrei.
«Ich werde euch nie vergessen.
Ich werde kommen. Du, Johanna, weißt, daß ich kommen kann, auch wenn ich weit
weg bin... Die anderen müssen es glauben. Und ich werde euch etwas... ein
Geheimnis hinterlassen, das mich in euch und euch in mir erhalten wird, bis
wir, ich und ihr, im Reich Gottes vereint sind. Geht nun. Ihr werdet sagen, es
wäre nicht nötig gewesen, euch kommen zu lassen für das wenige, das ich euch
gesagt habe. Aber ich habe danach verlangt, von Herzen umgeben zu sein, die
mich ohne Berechnung lieben. Die mich um meiner selbst willen lieben, weil ich
Jesus bin, und nicht, weil sie immer den zukünftigen erträumten König von
Israel in mir sehen. Geht nun. Und seid noch einmal gesegnet.
114
Auch die anderen, die nicht hier
sind, die aber mit Liebe an mich denken: Anna, Myrtha, Anastasica, Noemi und
die ferne Syntyche, Photinai, Aglaia und Sara, Marcella, die Töchter des
Philippus, Miriam des Jairus, die Jungfrauen, die Erlösten, die Gattinnen, die
Mütter, die zu mir gekommen sind, die mir Schwestern und Mütter gewesen sind,
besser, o viel besser als selbst die besten Männer! ... Alle, alle! Ich segne
sie alle. Die Gnade beginnt schon herabzusteigen, die Gnade und die
Verzeihung, auf die Frau, durch diesen meinen Segen. Geht ...» Er entläßt sie
und hält die Mutter zurück: «Vor dem Abend werde ich im Palast des Lazarus
sein. Ich muß dich noch einmal sehen. Johannes wird mit mir kommen. Aber ich
will nur dich, Mutter, und die anderen Marien, Martha und Susanna. Ich bin so
müde ...»
«Wir werden allein sein. Leb
wohl, Sohn ...»
Sie küssen sich und trennen
sich... Maria entfernt sich langsam. Bevor sie hinausgeht, dreht sie sich noch
einmal um. Sie dreht sich um, als sie auf der kleinen Brücke steht, sie dreht
sich immer wieder um, solange sie Jesus sehen kann... Es scheint, als könne
sie Jesus nicht verlassen...
Jesus ist wieder allein. Er steht
auf und geht hinaus. Er ruft Johannes, der wie ein Kind auf dem Bauch in den
Blumen liegt und schläft, und gibt ihm die kleine Amphore mit dem roten Essig,
die Johanna gebracht hat. Dabei sagt er: «Heute abend gehen wir zu meiner
Mutter. Aber nur wir beide allein.»
«Ich habe verstanden. Sind sie
gekommen?»
«Ja. Ich wollte euch nicht wecken
...»
«Das war richtig. Deine Freude
wird größer gewesen sein. Sie verstehen es besser als wir, dich zu lieben...»
sagt Johannes untröstlich.
«Komm mit mir.»
Johannes folgt ihm.
«Was hast du?» fragt ihn Jesus,
als sie wieder im grünen Halbdunkel der Pergola sind, wo noch die Reste der
Mahlzeit liegen.
«Meister, wir sind sehr schlecht.
Alle. Wir haben keinen Gehorsam... und kein Verlangen, bei dir zu sein. Auch
Petrus und Simon sind fortgegangen. Ich weiß nicht wohin. Und Judas hat diese
Gelegenheit benützt, um einen Streit zu beginnen.»
«Ist denn auch Judas
fortgegangen?»
«Nein, Herr. Er ist nicht
fortgegangen. Er sagt, es sei nicht nötig, er hätte keine Komplizen für unsere
Machenschaften, durch die wir Schutz für dich suchen. Aber wenn ich zu Annas
gegangen bin, und wenn andere zu den hier wohnenden Galiläern gegangen sind,
so war es gewiß nicht, um Böses zu tun! ... Und ich kann nicht glauben, daß
Simon des Jonas und Simon der Zelote Männer sind, die zu heimtückischen Ränken
fähig wären...»
«Achte nicht darauf. Judas hat in
der Tat keinen Grund fortzugehen, während ihr euch ausruht. Er weiß, wann und
wo er hingehen muß, um alles das zu besorgen, was er zu tun hat.»
115
«Und warum spricht er denn so?
Das ist doch nicht schön, so vor den Jüngern!»
«Es ist nicht schön. Aber es ist
so. Beruhige dich, mein Lamm.»
«Ich, dein Lamm? Das Lamm bist
nur du allein!»
«Ja, du. Ich das Lamm Gottes und
du das Lamm des Lammes Gottes.»
«Oh! Schon einmal, in den ersten
Tagen, als ich bei dir war, hast du diese Worte zu mir gesagt. Wir beide waren
ganz allein, wie jetzt, im Grünen, wie jetzt, und es war die schöne
Jahreszeit.» Johannes ist ganz glücklich bei dieser wiederkehrenden
Erinnerung. Er flüstert: «Ich bin immer noch das Lamm des Lammes Gottes ...»
Jesus liebkost ihn. Und er reicht
ihm ein Stück des gebratenen Täubchens, das auf dem Pergament, in das es
gewickelt war, auf dem Tisch liegt. Dann öffnet er saftige Feigen, gibt sie
ihm und freut sich, ihn essen zu sehen. Jesus hat sich schräg an das Ende des
Tischchens gesetzt und betrachtet Johannes so eingehend, daß dieser fragt:
«Warum schaust du mich so an? Weil ich so gierig esse?»
«Nein, weil du wie ein Kind
bist... O mein Geliebter! Wie sehr liebe ich dich um deines Herzens willen!»
Und Jesus neigt sich, um den Apostel auf das blonde Haar zu küssen und sagt zu
ihm: «Bleibe so, immer so, mit deinem Herzen ohne Stolz und Groll. Bleibe so
auch in den Stunden entfesselter Gewalt. Ahme nicht jene nach, die sündigen,
Kind.»
Johannes hat seinen Kummer
überwunden und sagt: «Aber ich kann nicht glauben, daß Simon und Petrus...»
«Du würdest dich wahrlich irren,
wenn du glaubtest, daß sie Sünder sind. Trink. Dieses Getränk ist gut und
frisch. Martha hat es zubereitet... Nun bist du gestärkt. Ich bin sicher, daß
du deine Mahlzeit nicht beendet hattest...»
«Das ist wahr. Ich konnte die
Tränen nicht mehr zurückhalten. Denn wenn die Welt uns haßt, ist das
verständlich. Aber daß einer von uns dabei mitmachen könnte...»
«Denke nicht mehr daran. Ich und
du, wir wissen, daß Simon und der Zelote zwei ehrbare Männer sind. Das genügt.
Und du weißt auch, leider, daß Judas ein Sünder ist. Doch schweige. Wenn
viele, viele Jahre vergangen sind und es Zeit ist, die ganze Größe meines
Schmerzes zu beschreiben, dann wirst du auch das sagen, was ich wegen der
Taten dieses Menschen, außer denen des Apostels, gelitten habe. Gehen wir. Es
ist Zeit, diesen Ort zu verlassen und zum Lager der Galiläer zu gehen ...»
«Werden wir auch diese Nacht dort
verbringen? Und gehen wir zuvor nach Gethsemane? Judas wollte es wissen. Er
sagt, er sei es leid, die Nächte unter dem Tau des Himmels zu verbringen und
sich nur wenig und unbequem auszuruhen.»
«Es wird bald ein Ende haben.
Aber ich werde Judas meine Absichten nicht mitteilen...»
116
«Das brauchst du auch nicht. Du
bist es, der uns führen muß, und nicht wir dich.» Johannes ist so weit
entfernt von jeglichem Verrat, daß er nicht einmal versteht, warum Jesus seit
einigen Tagen vorsichtshalber nicht mehr sagt, was er zu tun gedenkt.
Nun stehen sie mitten unter den
Schlafenden und rufen sie. Sie erwachen. Auch Manaen, der seine Pflicht
erfüllt hat und sich nun beim Meister entschuldigt, daß er nicht bleiben kann
und auch morgen nicht bei ihm im Tempel sein wird, da er im Palast bleiben
muß. Während er dies sagt, sieht er Petrus und Simon fest an, die in der
Zwischenzeit zurückgekommen sind. Petrus macht ein rasches Zeichen mit dem
Kopf, wie um zu sagen: «Ich habe verstanden.»
Sie verlassen die Gärten. Es ist
immer noch heiß, denn die Sonne scheint noch. Doch der Abendwind kühlt die
Luft langsam ab und treibt einige Wölkchen am klaren Himmel dahin.
Sie gehen hinauf nach Siloe,
vermeiden aber den Ort mit den Aussätzigen, zu denen sich Simon der Zelote
begibt, um die Reste ihrer Mahlzeit den wenigen Übriggebliebenen zu bringen,
die nicht an Jesus glauben konnten.
Matthias, der frühere Hirte,
nähert sich Jesus und fragt: «Mein Herr und mein Meister. Ich habe mit den
Gefährten viel über deine Worte nachgedacht, bis die Müdigkeit uns übermannt
hat und wir eingeschlafen sind, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein in der
Frage, die wir uns gestellt hatten. Nun begreifen wir weniger als zuvor. Wenn
wir deine Reden dieser Tage richtig verstanden haben, hast du vorhergesagt,
daß viele Dinge sich ändern werden, das Gesetz aber unverändert bleiben wird.
Daß man einen neuen Tempel erbauen muß, mit neuen Propheten, Weisen und
Schriftgelehrten, und daß dieser Tempel bekämpft, aber nie vernichtet werden
wird, während diesem hier, wenn wir recht verstanden haben, das Ende bestimmt
ist.»
«Das Ende ist ihm bestimmt. Denke
an die Prophezeiung des Daniel...»
«Aber wir, wir sind arm und nur
wenige, wie können wir ihn neu erbauen, wenn die Könige schon Mühe hatten,
diesen zu errichten? Wo werden wir ihn erbauen? Nicht hier, denn du sagst, daß
dieser Ort verlassen bleiben wird, solange sie dich nicht als den Gesandten
Gottes segnen.»
«So ist es.»
«In deinem Reich auch nicht. Denn
wir sind überzeugt, daß dein Reich ein geistiges Reich ist. Wie und wo werden
wir ihn also errichten? Du hast gestern gesagt, daß der wahre Tempel – und ist
dies nicht der wahre Tempel? – daß der wahre Tempel, gerade wenn sie glauben,
ihn zerstört zu haben, triumphierend zum wahren Jerusalem emporsteigen wird.
Wo ist dies? Wir sind ganz verwirrt.»
«So ist es. Die Feinde werden
auch den wahren Tempel zerstören. In drei Tagen werde ich ihn wieder aufbauen
und dann wird er nicht mehr
117
angegriffen werden, da er dort
hinaufsteigen wird, wo der Mensch ihm nicht mehr schaden kann.
Was das Reich Gottes betrifft, so
ist es in euch und überall dort, wo Menschen sind, die an mich glauben. Noch
ist es zerstreut, doch wird es sich im Laufe der Jahrhunderte über die Welt
ausbreiten und dann im Himmel ewig, vereint und vollkommen sein. Dort, im
Reich Gottes, wird der neue Tempel erbaut werden, also dort, wo es Seelen
gibt, die meine Lehre annehmen, die Lehre des Reiches Gottes, und die ihre
Vorschriften halten. Wie er errichtet werden wird, da ihr arm und nur wenige
seid? Oh, wahrlich, Geld und Macht braucht ihr nicht, um den Bau der neuen
Wohnung Gottes zu errichten, weder den gemeinsamen noch den des Einzelnen. Das
Reich Gottes ist in euch. Und die Vereinigung all jener, die das Reich Gottes
in sich tragen, die Gott in sich haben – Gott: die Gnade, Gott: das Leben,
Gott: das Licht, Gott: die Liebe – wird das große Reich Gottes auf Erden
bilden. Das neue Jerusalem, das sich bis an die Grenzen der Erde erstrecken
und vollständig und vollkommen, ohne Makel und Schatten, im Himmel ewig währen
wird.
Wie werdet ihr den Tempel und die
Stadt erbauen? Oh, nicht ihr, sondern Gott wird diese neuen Orte erbauen. Ihr
müßt ihm nur euren guten Willen schenken. Guter Wille heißt, in mir zu
bleiben. Meine Lehre zu leben, ist guter Wille. Einig zu sein, ist guter
Wille. Eins mit mir zu sein, um einen einzigen Leib zu bilden, dessen einzelne
Teile und Teilchen eine einzige Kraft nährt. Ein einziges Bauwerk, das auf
einem einzigen Fundament ruht und das eine mystische Bindekraft zusammenhält.
Ohne die Hilfe des Vaters aber, zu dem ich euch zu beten gelehrt habe und zu
dem ich vor meinem Tod für euch beten werde, könnt ihr nicht in der Liebe, in
der Wahrheit und im Leben bleiben, also auch nicht in mir, und mit mir in Gott
dem Vater, dem Gott der Liebe – denn wir sind eine einzige Gottheit. Daher
sage ich euch, daß ihr Gott in euch haben müßt, um der Tempel sein zu können,
der niemals ein Ende haben wird. Allein könnt ihr es nicht schaffen. Wenn Gott
nicht baut, und er kann nicht bauen, wo er nicht wohnen kann, bemühen sich die
Menschen vergebens zu bauen oder wieder aufzubauen. Der neue Tempel, meine
Kirche, wird nur erstehen, wenn euer Herz Gott beherbergt und er mit euch, den
lebendigen Steinen, seine Kirche erbaut.»
«Aber hast du nicht gesagt, daß
Simon des Jonas das Haupt ist, der Stein, auf dem du deine Kirche bauen wirst?
Und hast du nicht auch gesagt, daß du der Eckstein bist? Wer ist also das
Haupt? Gibt es diese Kirche oder gibt es sie nicht?» unterbricht ihn Iskariot.
«Ich bin das mystische Haupt und
Petrus ist das sichtbare Haupt. Denn ich kehre zum Vater zurück und lasse euch
das Leben, das Licht und die Gnade durch mein Wort, durch meine Leiden und
durch den Paraklet, den Freund aller, die mir treu gewesen sind. Ich bin eins
mit meiner Kirche,
118
meinem geistigen Leib, dessen
Haupt ich bin. Das Haupt enthält das Gehirn, den Verstand. Der Verstand ist
der Sitz des Wissens. Das Gehirn steuert die Bewegung der Glieder durch seine
unsichtbaren Befehle, die mehr vermögen, um die Glieder zu bewegen, als jeder
andere Reiz. Betrachtet einen Toten, dessen Gehirn abgestorben ist. Bewegen
sich seine Glieder etwa noch? Betrachtet einen vollständigen Idioten. Ist er
nicht so träge, daß er nicht einmal mehr die grundlegendsten, instinktiven
Bewegungen macht, die selbst das niedrigste Tier noch macht, der Wurm, den wir
im Vorübergehen zertreten? Betrachtet einen Menschen, bei dem eine Lähmung die
Verbindung des Gehirns mit einem oder mehreren Gliedern unterbrochen hat. Ist
der Körperteil, dessen lebenswichtige Verbindung mit dem Kopf fehlt, etwa noch
beweglich? Ist es aber der Verstand, der durch seine unsichtbaren Befehle
steuert, so sind es die anderen Organe – Augen, Ohren, Nase, Zunge, Haut – die
dem Verstand ihre Empfindungen mitteilen, und es sind die übrigen Teile des
Körpers, die ausführen oder ausführen lassen, was der von den Organen – den im
Gegensatz zum unsichtbaren Verstand sichtbaren und greifbaren Organen –
benachrichtigte Verstand befiehlt. Könnte ich, ohne euch zu sagen: setzt euch,
erreichen, daß ihr euch an diesen Berghang setzt? Wenn ich nur denke, daß ihr
euch setzen sollt, dann könnt ihr es nicht wissen, bevor ich nicht meinen
Gedanken in Worte fasse und diese ausspreche, indem ich Zunge und Lippen
bewege. Könnte ich selbst mich setzen, wenn ich es nur denken würde, weil ich
die Müdigkeit meiner Beine fühle, diese sich aber weigern würden, sich zu
beugen, damit ich mich setzen kann?
Das Gehirn braucht die Organe und
die Glieder, um auszuführen und ausführen zu lassen, was der Gedanke denkt. So
ist es auch beim geistigen Leib, der meine Kirche ist. Ich werde der Verstand,
also der Kopf, der Sitz des Verstandes sein. Petrus und seine Mitarbeiter
hingegen werden es sein, die die Reaktionen beobachten und die Empfindungen
wahrnehmen, und sie dem Verstand mitteilen, damit er sie erleuchte und
gebiete, was zum Wohl des ganzen Leibes zu tun ist. Von meinem Befehl
erleuchtet und geführt, werden sie zu den anderen Teilen des Leibes sprechen
und sie anleiten. Die Hand, die den Gegenstand beiseiteschafft, der den Körper
verletzen könnte, oder entfernt, was verdorben ist und daher auch anderes
verderben könnte; der Fuß, der das Hindernis übersteigt, ohne anzustoßen, zu
fallen oder sich zu verletzen, sie haben einen Befehl von dem Teil, der
gebietet, erhalten. Das Kind, oder auch der Mann, der vor einer Gefahr bewahrt
wird oder einen Gewinn irgendeiner Art erzielt – Wissen, gute Geschäfte, eine
Ehe, eine durch einen guten Rat oder ein Wort zustandegekommene Verbindung –
er ist aufgrund dieses Rates oder dieses Wortes nicht zu Schaden gekommen oder
hat einen Nutzen gehabt. So wird es in meiner Kirche sein. Das Haupt und die
Vorsteher, vom Gedanken Gottes geleitet, erleuchtet vom göttlichen Licht und
belehrt durch das
119
ewige Wort, werden Rat geben und
Befehle erteilen, und die Glieder werden sie ausführen und geistige Gesundheit
und geistigen Gewinn erzielen.
Meine Kirche besteht schon, denn
sie hat ihr übernatürliches und göttliches Haupt, und sie hat ihre Glieder,
die Jünger. Noch ist sie klein: ein Keim, vollkommen einzig und allein im
Haupt, das sie leitet, unvollkommen in allen anderen Teilen, die noch Zeit
brauchen, um zu wachsen, und an die Gott noch Hand anlegen muß zu ihrer
Vervollkommnung. In Wahrheit sage ich euch: die Kirche besteht schon, und sie
ist heilig durch den, der das Haupt ist, und durch den guten Willen der
Gerechten, aus denen sie besteht. Sie ist heilig und unbesiegbar. Einmal und
tausendmal wird die Hölle sie durch ihre Dämonen und Menschen-Dämonen in
tausend verschiedenen Schlachten bekämpfen, sie aber nicht besiegen. Der Bau
kann nicht einstürzen.
Das Bauwerk besteht aber nicht
aus einem einzigen Stein. Schaut den Tempel dort an, so groß und schön im
Schein der sinkenden Sonne. Besteht er etwa aus einem einzigen Stein? Es sind
viele Steine, die ein einziges harmonisches Ganzes ergeben. Man nennt es den
Tempel. Das heißt, eine Einheit. Aber diese Einheit besteht aus vielen
Steinen, aus denen sie sich zusammensetzt und die ihr Form geben. Es wäre
nutzlos gewesen, Fundamente zu legen, wenn sie dann nicht die Mauern und das
Dach tragen müßten, wenn man auf ihnen keine Mauern errichten würde. Und es
wäre unmöglich gewesen, Mauern zu errichten, die das Dach tragen, wenn nicht
zuvor solide und dieser großen Belastung angemessene Fundamente gelegt worden
wären.
Durch diese Abhängigkeit der
Teile voneinander wird der neue Tempel entstehen. Im Laufe der Jahrhunderte
werdet ihr ihn errichten auf den von mir gelegten und für seine Größe
vollkommenen Fundamenten. Unter der Führung Gottes werdet ihr ihn errichten,
und aus dem verwendeten guten Material: Seelen, in denen Gott wohnt. Gott in
euren Herzen, um sie in glatte, unbeschädigte Steine für den neuen Tempel zu
verwandeln. Sein durch seine Gesetze in euren Seelen errichtetes Reich. Denn
sonst wäret ihr schlecht gebrannte Ziegel, wurmstichiges Holz, gesplitterte,
brüchige Steine, die nicht tragen und die der Baumeister verwirft, wenn er sie
bemerkt, oder die zerbröckeln und nachgeben und einen Teil des Baues zum
Einsturz bringen, wenn der oder die vom Vater bestimmten Baumeister in ihrer
Selbstgefälligkeit Götzen dienen, nämlich sich selbst, anstatt sich zu bemühen
und auf den Bau und auf das verwendete Material zu achten. Götzendiener die
Baumeister, Götzendiener die Verwalter, Götzendiener die Aufseher,
Götzendiener und Diebe! Diebe des Vertrauens Gottes, Diebe der Achtung der
Menschen, Diebe und Hochmütige, die sich über die Gelegenheit freuen, Gewinn
zu erzielen und Material aufzuhäufen, und nicht achtgeben, ob es gut ist oder
minderwertig und Ursache des Verfalls!
120
Ihr, meine neuen Priester und
Schriftgelehrten des neuen Tempels, hört gut zu. Wehe euch und denen nach
euch, die ihr eigener Götze sind und nicht wachen, die nicht sich selbst und
die anderen, die Gläubigen, überwachen, die die Güte der Steine und des Holzes
nicht prüfen und dem Schein vertrauen, die es zulassen, daß schlechtes oder
sogar schädliches Material zum Bau des Tempels verwendet wird, so daß es zu
Ärgernis und Verfall kommt. Wehe euch, wenn ihr Risse und unsicheres,
schiefes, einsturzgefährdetes Mauerwerk entstehen laßt, das dem soliden und
vollkommenen Fundament nicht entspricht. Nicht von Gott, dem Gründer der
Kirche, sondern von euch käme dann das Unheil und ihr wäret vor dem Herrn und
vor den Menschen verantwortlich. Fleiß, Wachsamkeit, Unterscheidungsvermögen
und Klugheit sind erforderlich. Der Stein, der Ziegel oder der schwache
Balken, der in einer Hauptmauer eine Gefahr darstellen würde, kann für weniger
wichtige Teile noch dienen, und gut dienen. So müßt ihr zu wählen verstehen.
Mit Liebe, um die schwachen Teile nicht zu kränken, mit Festigkeit, um Gott
nicht zu kränken und seinen Bau nicht zu gefährden. Wenn ihr bemerkt, daß ein
Stein, der schon gesetzt ist, um eine besonders wichtige Ecke zu tragen, nicht
gut und im Gleichgewicht ist, dann seid mutig, kühn, und entfernt ihn von
dieser Stelle, demütigt ihn und bearbeitet ihn mit dem Meißel eines heiligen
Eifers. Es macht nichts, wenn er vor Schmerz schreit. Er wird euch in der
Ewigkeit dafür segnen, denn ihr werdet ihn gerettet haben. Versetzt ihn und
gebt ihm ein anderes Amt. Habt auch keine Furcht, ihn ganz zu entfernen, wenn
ihr seht, daß er Gegenstand des Ärgernisses und der Zerstörung ist und sich
eurer Arbeit widersetzt. Besser nur wenige Steine als viel Ballast. Habt keine
Eile. Gott hat niemals Eile, denn was er schafft ist ewig, da wohlüberlegt vor
der Ausführung. Wenn nicht ewig, so doch für alle Jahrhunderte. Betrachtet das
Universum. Seit Jahrhunderten, seit Tausenden von Jahrhunderten ist es, wie
Gott es nach und nach gemacht hat. Ahmt den Herrn nach. Seid vollkommen wie
euer Vater. Tragt sein Gesetz, sein Reich in euch. Dann könnt ihr nicht
scheitern.
Wenn ihr aber nicht so seid, dann
stürzt der Bau ein, und vergebens habt ihr euch bemüht, ihn zu errichten. Er
stürzt ein, und der Eckstein und das Fundament allein bleiben... So wie es bei
diesem Bau sein wird! ... Wahrlich, ich sage euch, so wird es geschehen.
Ebenso wird es dem euren ergehen, wenn ihr ihn aus dem errichtet, was in
diesem ist: die kranken Teile des Stolzes, der Gier, der Sünde und der
Unzucht. So wie ein Windhauch dieses schöne Wolkengebilde aufgelöst hat, das
sich auf dem Gipfel des Berges dort niederlassen zu wollen schien, ebenso
würden im Sturm einer übernatürlichen und menschlichen Strafe die Gebäude
einstürzen, die nur dem Namen nach heilig sind...»
Jesus schweigt nachdenklich. Dann
sagt er: «Setzen wir uns, um uns ein wenig auszuruhen.»
121
Sie setzen sich an einen Abhang
des Ölberges gegenüber dem Tempel, den die sinkende Sonne küßt. Jesus schaut
ihn lange und traurig an. Die anderen betrachten voll Stolz seine Schönheit,
doch ihr Stolz wird überschattet von der Sorge, die die Worte des Meisters
hinterlassen haben. Sollte diese Pracht wirklich dem Untergang geweiht sein!
...
Petrus und Johannes reden
miteinander. Dann flüstern sie Jakobus des Alphäus und Andreas, die in ihrer
Nähe sind, etwas zu, und diese nicken. Petrus wendet sich nun an den Meister
und sagt: «Komm mit uns beiseite und erkläre uns, wann deine Prophezeiungen
über die Zerstörung des Tempels sich erfüllen werden. Daniel spricht davon.
Aber wenn es so gehen würde, wie er sagt und wie auch du sagst, dann würde der
Tempel nur noch wenige Stunden bestehen. Wir sehen aber keine Heere oder
Kriegsvorbereitungen. Wann wird es also geschehen? Welches wird das Zeichen
dafür sein? Du bist gekommen. Du, sagst du, bist im Begriff, uns zu verlassen.
Doch weiß man, daß es erst geschehen wird, wenn du unter den Menschen weilst.
Wirst du also zurückkommen? Wann findet diese Rückkehr statt? Erkläre es uns,
damit wir wissen...»
«Es ist nicht nötig
beiseitezugehen. Du siehst, die getreuesten Jünger sind geblieben, jene, die
euch zwölfen eine große Hilfe sein werden. Sie dürfen die Worte hören, die ich
euch sage. Kommt alle her!» ruft Jesus zum Schluß, um sie um sich zu
versammeln.
Die am Hang verstreuten Jünger
kommen näher, bilden eine geschlossene Gruppe um Jesus und seine Apostel und
hören zu.
«Seht zu, daß euch niemand
irreführt in der Zukunft. Ich bin Christus, und es wird keinen anderen
Christus geben. Wenn deshalb viele kommen und sagen: "Ich bin Christus" und
viele verführen, so glaubt diesen Worten nicht, auch wenn sie von Wundern
begleitet sind. Satan, der Vater der Lüge und der Beschützer der Lügner, hilft
seinen Dienern und Anhängern mit falschen Wundern, die man jedoch als solche
erkennen kann, da sie immer mit Angst, Unruhe und Lügen verbunden sind. Die
Wunder Gottes kennt ihr: Sie schenken heiligen Frieden, Freude, Heil und
Vertrauen und führen zu heiligen Wünschen und Werken. Die anderen nicht.
Achtet daher auf die Art und die Folgen der Wunder, die ihr in Zukunft sehen
werdet als Werk der falschen Christusse und all derer, die sich in das Gewand
eines Erlösers der Völker hüllen und stattdessen Raubtiere sind, die die
Völker verderben.
Ihr werdet von Kriegen und
Kriegsgerüchten hören, ihr werdet Kriege auch sehen, und man wird euch sagen:
"Das sind die Zeichen des Endes." Erschreckt nicht. Es ist noch nicht das
Ende. Dies alles muß vor dem Ende kommen, aber es ist noch nicht das Ende.
Volk wird sich gegen Volk erheben und Reich gegen Reich, Nation gegen Nation,
Kontinent gegen Kontinent, und Seuchen, Hungersnöte und Erdbeben werden kommen
da und dort. Aber dies alles ist erst der Anfang der Wehen. Dann werden sie
122
euch der Drangsal überliefern,
euch töten und euch die Schuld an ihren Leiden geben in der Hoffnung, von
diesen befreit zu werden, wenn sie meine Diener verfolgen und vernichten. Die
Menschen beschuldigen immer die Unschuldigen, die Ursache der Übel zu sein,
die sie, die Sünder, heraufbeschworen haben. Selbst Gott, die vollkommene
Unschuld und höchste Güte, klagen sie an, die Ursache ihrer Leiden zu sein.
Ebenso werden sie es mit euch machen, und ihr werdet um meines Namens willen
gehaßt werden. Es ist Satan, der sie aufstachelt. Und dann werden viele zu
Fall kommen und einander überliefern und einander hassen. Und es ist wieder
Satan, der sie aufstachelt. Und falsche Propheten werden aufstehen und viele
irreführen. Und wieder wird Satan der wahre Urheber von so viel Übel sein. Und
weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten.
Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden. Zuerst muß die Frohe
Botschaft vom Reich Gottes in der ganzen Welt verkündet werden zum Zeugnis für
alle Völker. Und dann wird das Ende kommen. Die Rückkehr Israels zum Messias,
das ihn annehmen wird, und die Verkündigung meiner Liebe auf der ganzen Welt.
Dann ein anderes Zeichen. Ein
Zeichen für das Ende des Tempels und für das Ende der Welt. Wenn ihr nun den
Greuel der Verwüstung seht, von dem der Prophet Daniel spricht – wer mich
hört, verstehe mich recht, und wer den Propheten liest, lese zwischen den
Zeilen – dann fliehe in die Berge, wer in Judäa ist. Wer auf dem Dache ist,
steige nicht herab um zu holen, was im Haus ist, und wer auf dem Feld ist,
kehre nicht zurück, um seinen Mantel zu holen. Sondern er fliehe, ohne sich
umzuwenden, denn er könnte sonst vielleicht nicht mehr fliehen; und er schaue
auch nicht zurück auf der Flucht, damit er in seinem Herzen nicht die
Erinnerung an das schreckliche Schauspiel bewahrt und dadurch wahnsinnig wird.
Wehe aber den hoffenden und stillenden Müttern in jenen Tagen! Und wehe, wenn
die Flucht auf einen Sabbat fällt! Die Flucht würde nicht genügen, um sich zu
retten, ohne zu sündigen. Betet also, damit es nicht in den Winter oder auf
einen Sabbat falle, denn es wird eine Drangsal sein, wie noch keine gewesen
ist vom Anbeginn der Welt bis heute und auch keine mehr sein wird, denn es
wird das Ende sein. Würden jene Tage nicht um der Auserwählten willen
abgekürzt, so würde kein Mensch gerettet werden; denn die Menschen-Satane
werden sich mit der Hölle verbünden, um die Menschen zu quälen.
Und dann werden, um die dem Herrn
treu Gebliebenen zu versuchen und vom rechten Weg abzubringen, Leute
auftreten, die sagen: "Christus ist hier, Christus ist dort. Seht, dort ist
er." Glaubt ihnen nicht. Niemand soll ihnen glauben, denn es werden falsche
Christusse und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun,
um womöglich auch die Auserwählten irrezuführen. Sie werden scheinbar
tröstliche und gute Lehren verbreiten, die auch die Besten verführen könnten,
wenn der
123
Geist des Herrn nicht mit ihnen
wäre, der sie über die Wahrheit und den satanischen Ursprung dieser Wunder und
Lehren erleuchten wird. Ich sage es euch. Ich sage es euch, damit ihr euch
darauf vorbereiten könnt. Aber fürchtet nicht zu fallen. Wenn ihr im Herrn
bleibt, werdet ihr nicht in Versuchung und ins Verderben geführt werden. Denkt
an das, was ich euch gesagt habe: "Ich habe euch die Macht gegeben, über
Schlangen und Skorpione zu gehen, und alle Macht des Feindes wird euch nicht
schaden, denn alles wird euch untertan sein." Vergeßt aber nicht, daß ihr Gott
in euch haben müßt, um dies zu erlangen, und freut euch, nicht weil ihr die
Macht des Bösen und die schädlichen Dinge beherrscht, sondern weil euer Name
im Himmel geschrieben steht.
Bleibt im Herrn und in seiner
Wahrheit. Ich bin die Wahrheit, und ich lehre die Wahrheit. Daher wiederhole
ich euch noch einmal: Was sie auch über mich sagen mögen, glaubt es nicht. Ich
allein habe die Wahrheit gesagt. Ich allein sage euch, daß Christus kommen
wird, aber erst am Ende. Wenn sie euch daher sagen: "Er ist in der Wüste", so
geht nicht hinaus. Wenn sie euch sagen: "Er ist in diesem Haus", so glaubt
ihnen nicht. Denn bei seiner zweiten Ankunft wird der Menschensohn gleich dem
Blitz, der von Osten ausfährt und bis zum Westen leuchtet, in weniger als
einem Augenblick, über den großen, mit einemmal zur Leiche gewordenen Leib der
Erde dahineilen, gefolgt von seinen strahlenden Engeln; und er wird richten.
Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler.
Sogleich aber nach der Drangsal
jener letzten Tage, von der ihr gehört habt – ich spreche jetzt vom Ende der
Zeiten und der Welt und der Auferstehung der Gebeine, von der auch die
Propheten sprechen – wird die Sonne sich verfinstern, der Mond wird seinen
Schein nicht mehr geben und die Sterne des Himmels werden herabfallen, wie ein
Windstoß die Beeren einer überreifen Traube abschüttelt, und die Kräfte des
Himmels werden erschüttert werden. Dann wird am verdunkelten Firmament das
strahlende Zeichen des Menschensohnes erscheinen, und alle Völker der Erde
werden wehklagen. Und die Menschen werden den Menschensohn auf den Wolken des
Himmels kommen sehen mit großer Macht und Herrlichkeit. Er wird seinen Engeln
gebieten, zu ernten und Weinlese zu halten, den Weizen von der Spreu zu
trennen und die Trauben in die Kufe zu werfen, denn dann wird die Zeit der
großen Ernte des Samens Adams gekommen sein. Und es wird nicht mehr nötig
sein, Vorräte oder Saat aufzubewahren, da das Menschengeschlecht auf der toten
Erde nicht fortbestehen wird. Er wird seine Engel aussenden mit lautem
Posaunenschall, und sie werden seine Auserwählten sammeln aus den vier Winden,
von einem Ende des Himmels bis zum anderen, und sie werden an der Seite des
göttlichen Richters sitzen und mit ihm die letzten Lebenden und die
Auferstandenen richten.
Vom Feigenbaum aber lernt das
Gleichnis: Wenn ihr seht, daß seine
124
Zweige schon saftig werden und
Blätter hervortreiben, dann wißt ihr, daß der Sommer nahe ist. So sollt auch
ihr, wenn ihr dies alles seht, erkennen: Christus steht nahe vor der Tür.
Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht, das mich nicht gewollt hat, wird
nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Mein Wort wird nicht ungültig. Was
ich euch gesagt habe, wird geschehen. Das Herz und die Gedanken der Menschen
können sich ändern, aber mein Wort ändert sich nicht. Himmel und Erde werden
vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.
Jenen Tag aber oder die Stunde
kennt niemand, auch nicht die Engel des Herrn, sondern nur der Vater. Wie in
den Tagen Noahs, so wird es auch bei der Ankunft des Menschensohnes sein. In
den Tagen vor der Sündflut aßen die Menschen, sie tranken, freiten und ließen
sich freien, ohne auf das Zeichen zu achten bis zu dem Tag, da Noah in die
Arche ging, die Schleusen des Himmels sich öffneten und alles Lebende und alle
Dinge in den Fluten versanken. So wird es auch bei der Ankunft des
Menschensohnes sein. Dann werden zwei Männer auf dem Feld sein: Der eine wird
aufgenommen, der andere zurückgelassen. Zwei Frauen werden an der Mühle
mahlen. Die eine wird aufgenommen, die andere zurückgelassen; von den Feinden
im Vaterland und mehr noch von den Engeln, die den guten Samen von der Spreu
trennen; und sie werden keine Zeit haben, sich auf das Gericht Christi
vorzubereiten.
Wacht also, denn ihr wißt nicht,
zu welcher Stunde euer Herr kommt. Denkt über diese Worte nach: Wenn der
Hausvater wüßte, zu welcher Stunde der Dieb kommt, dann würde er wachen und
nicht in sein Haus einbrechen lassen. Daher wacht und betet. Seid immer für
mein Kommen bereit. Laßt eure Herzen nicht abstumpfen durch Mißbräuche und
Unmäßigkeit aller Art, laßt euren Geist nicht ablenken oder unempfänglich
machen für die Dinge des Himmels durch übermäßige Sorge um die irdischen
Dinge, damit ihr nicht überraschend und unvorbereitet dem Tod anheimfallt.
Denn denkt daran, alle müßt ihr sterben. Alle Menschen, die geboren wurden,
müssen sterben, und dieser Tod ist die Ankunft Christi für den Einzelnen und
das damit verbundene Gericht, das sich dann für die ganze Welt wiederholt bei
der feierlichen Ankunft des Menschensohnes.
Was wird mit dem treuen und
klugen Knecht geschehen, den der Hausherr über sein Gesinde gesetzt hat, um
ihnen in seiner Abwesenheit Speise zu geben? Selig wird er sein, wenn der Herr
unvorhergesehen zurückkommt und ihn antrifft, während er eifrig, gerecht und
liebevoll seine Pflicht tut. Wahrlich, ich sage euch, er wird zu ihm sagen:
"Komm, du guter und getreuer Knecht. Du hast die Belohnung verdient. Nimm sie
und verwalte alle meine Güter." Wenn er aber nur gut und treu zu sein scheint
und es nicht ist, wenn sein Inneres so böse ist wie sein Äußeres heuchlerisch,
wenn er in seinem Herzen spricht, nachdem der Herr abgereist ist: "Der
125
Herr kommt noch lange nicht.
Machen wir uns ein angenehmes Leben", wenn er anfängt, seine Mitknechte zu
schlagen und zu mißhandeln und ihnen Nahrung und anderes vorenthält, um mehr
Geld mit den Schlemmern und Trinkern vergeuden zu können, was wird dann
geschehen? Der Herr wird überraschend zurückkehren, wenn der Knecht am
wenigstens daran denkt, wird den Übeltäter ertappen, ihm Amt und Geld
wegnehmen und ihn verbannen, wohin die Gerechtigkeit es verlangt. Und dort
wird er bleiben.
Ebenso wird es dem unbußfertigen
Sünder ergehen, der nicht daran denkt, wie nahe der Tod und das Gericht sein
können, der schwelgt und Mißbrauch treibt und dabei sagt: "Später werde ich
bereuen." Wahrlich, ich sage euch, er wird keine Zeit mehr dazu haben und wird
verdammt werden, auf ewig an dem furchtbaren Ort zu weilen, wo es nur
Gotteslästerung, Tränen und Qual gibt. Und er wird ihn nur verlassen beim
Jüngsten Gericht, wenn er sich wieder mit seinem auferstandenen Fleisch
bekleidet, um in seiner Ganzheit vor dem Endgericht zu erscheinen, so wie er
in seiner Ganzheit zur Zeit seines Erdenlebens gesündigt hat; und mit Leib und
Seele wird er vor seinen Richter Jesus treten, den er nicht als seinen Erlöser
wollte.
Alle werden vor dem Menschensohn
versammelt sein. Eine unendliche Zahl von Leibern, die Erde und Meer wieder
herausgeben und die auferstehen, nachdem sie so lange Staub waren. Und die
Seelen in den Leibern. Zu jedem wieder von seinem Fleisch umhüllten Gebein
kehrt die Seele zurück, die es einmal belebt hat. Sie werden vor dem
Menschensohn stehen, der in der Glorie seiner göttlichen Majestät auf dem von
Engeln getragenen Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird.
Er wird die Menschen von den
Menschen scheiden und auf die eine Seite die Guten und auf die andere die
Bösen stellen, so wie ein Hirte die Schafe von den Böcken trennt. Und er wird
die Schafe zu seiner Rechten, die Böcke aber zu seiner Linken stellen. Und mit
sanfter Stimme und gütigem Ausdruck wird er denen sagen, die ihn friedvoll, in
der wunderbaren Schönheit und im Glanz ihrer heiligen Leiber mit der ganzen
Liebe ihrer Herzen ansehen: "Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, und nehmt
das Reich in Besitz, das für euch bereitet ist seit Anbeginn der Welt. Denn
ich war hungrig und ihr habt mich gespeist. Ich war durstig, und ihr habt mich
getränkt. Ich war ein Pilger und ihr habt mich beherbergt. Ich war nackt, und
ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich besucht. Ich war
gefangen, und ihr habt mich getröstet." Und die Gerechten werden fragen:
"Wann, Herr, haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, durstig,
und dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Pilger gesehen und dich
aufgenommen? Wann haben wir dich nackt gesehen und dich bekleidet? Wann haben
wir dich krank und gefangen gesehen und sind gekommen, um dich zu besuchen?"
Und der König der
126
Könige wird zu ihnen sagen:
"Wahrlich, ich sage euch: Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das
habt ihr mir getan."
Dann wird er sich jenen zuwenden,
die zu seiner Linken stehen. Sein Antlitz wird streng sein, seine Augen werden
Blitze schleudern, die die Schuldigen vernichten, und aus seiner donnernden
Stimme wird der Zorn Gottes sprechen: "Weichet von hier! Weichet von mir, ihr
Verfluchten! In das ewige Feuer, das der Zorn Gottes dem Teufel und den Engeln
der Finsternis bereitet hat und denen, die den Stimmen ihres dreifachen,
schamlosen Lasters gefolgt sind. Denn ich war hungrig, und ihr habt mich nicht
gespeist. Ich war durstig, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich war nackt,
und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich kam als Pilger, und ihr habt mich nicht
beherbergt. Ich war krank und gefangen, und ihr habt mich nicht besucht. Denn
ihr hattet nur ein Gesetz: Euer eigenes Vergnügen." Sie werden fragen: "Wann
haben wir dich hungrig, durstig, nackt, als Pilger, krank und gefangen
gesehen? Wahrlich, wir haben dich nicht gekannt. Wir haben nicht gelebt, als
du auf Erden weiltest." Und er wird ihnen antworten: "Das ist wahr. Ihr habt
mich nicht gekannt, denn ihr habt noch nicht gelebt, als ich auf der Erde
weilte. Aber ihr habt mein Wort gekannt und Arme, Hungrige, Durstige, Nackte,
Kranke und Gefangene unter euch gehabt. Warum habt ihr diesen nicht getan, was
ihr vielleicht mir getan hättet? Denn es ist nicht gesagt, daß jene, bei denen
ich geweilt habe, barmherzig mit dem Menschensohn gewesen sind. Wißt ihr denn
nicht, daß ich in meinen Brüdern bin und dort, wo einer von ihnen leidet, und
daß ihr das, was ihr dem geringsten meiner Brüder nicht getan habt, mir, dem
Erstgeborenen der Menschen, verweigert habt? Geht und brennt in eurem
Egoismus. Geht, Finsternis und Kälte sollen euch umfangen, denn Finsternis und
Kälte seid ihr gewesen, obwohl ihr wußtet, wo das Feuer und das Licht der
Liebe waren." Diese werden der ewigen Strafe anheimfallen, die Gerechten aber
in das ewige Leben eingehen.
Das sind die zukünftigen Dinge...
Nun geht. Und bleibt beisammen. Ich gehe mit Johannes und werde um die Mitte
der ersten Nachtwache bei euch sein, zur Abendmahlzeit und um euch weiter zu
unterweisen.»
«Auch heute abend? Werden wir es
nun jeden Abend so machen? Ich bin ganz krank von der Feuchtigkeit. Wäre es
nicht besser, nun endlich in einem gastlichen Haus einzukehren? Immer in den
Zelten! Und immer wachen in diesen Nächten, die kühl und feucht sind ...»
beklagt sich Judas.
«Es ist die letzte Nacht.
Morgen... wird es anders sein.»
«Ah! Ich habe schon geglaubt, du
wolltest jede Nacht nach Gethsemane gehen. Aber wenn es die letzte ist...»
«Das habe ich nicht gesagt,
Judas. Ich habe gesagt, daß es die letzte Nacht ist, die wir alle zusammen im
Lager der Galiläer verbringen. Morgen werden wir das Passah vorbereiten und
das Lamm essen und dann
127
werde ich allein in den Ölgarten
gehen, um zu beten. Und ihr könnt tun, was ihr wollt.»
«Aber wir werden mit dir kommen,
Herr! Wie könnten wir dich je verlassen wollen?» sagt Petrus.
«Du sei nur still, du bist nicht
unschuldig. Du und der Zelote, ihr schwirrt ständig da und dort herum, sobald
der Meister euch nicht sieht... Ich behalte euch im Auge. Im Tempel ...
während des Tages ... und dort oben bei den Zelten...» sagt Iskariot und freut
sich, sie anklagen zu können.
«Genug! Wenn sie dies tun, so ist
es recht. Doch ihr dürft mich nicht alleinlassen... Ich bitte euch darum...»
«Herr, wir tun nichts Böses.
Glaube uns. Gott kennt unsere Werke, und sein Auge wendet sich nicht mit
Abscheu von ihnen ab», sagt der Zelote.
«Ich weiß es. Aber es ist
nutzlos. Und was nutzlos ist, kann immer schädlich sein. Bleibt soviel als
möglich beisammen.» Dann wendet er sich an Matthäus: «Du, mein guter Chronist,
wirst ihnen das Gleichnis von den zehn klugen und den zehn törichten
Jungfrauen wiederholen und das von dem Herrn, der seinen drei Dienern Talente
gibt, damit sie diese nutzbringend anlegen, und zwei das Doppelte
dazuverdienen, während der Faule es vergräbt. Erinnerst du dich?»
«Ja, mein Herr, ganz genau.»
«Dann wiederhole sie den Jüngern
hier. Nicht alle kennen sie. Auch die, die sie kennen, werden sie gerne noch
einmal hören. So vertreibt ihr euch die Zeit bis zu meiner Rückkehr mit
lehrreichen Reden. Seid wachsam! Seid wachsam! Haltet euren Geist wach! Diese
Gleichnisse passen auch zu dem, was ich euch gesagt habe. Lebt wohl. Der
Friede sei mit euch.»
Jesus nimmt Johannes bei der Hand
und entfernt sich mit ihm in Richtung Stadt. Die anderen begeben sich zum
Lager der Galiläer.
657. DER MITTWOCH VOR DEM
PASSAHFEST 11. DIE NACHT
«Ich habe euch gesagt: "Wacht und
betet, damit ihr nicht schläfrig angetroffen werdet." Aber ich sehe, daß eure
müden Augen versuchen, sich zu schließen, und eure Körper, ohne es zu wollen,
eine Ruhestellung suchen. Ihr habt recht, meine armen Freunde! Euer Meister
hat in diesen Tagen viel von euch verlangt, und ihr seid sehr müde. Aber in
wenigen Stunden, nunmehr wenigen Stunden, werdet ihr froh sein, auch nicht
einen Augenblick meiner Gegenwart versäumt zu haben. Ihr werdet froh sein, daß
ihr eurem Jesus nichts verweigert habt. Es ist übrigens das letzte
128
Mal, daß ich euch von diesen
traurigen Dingen spreche. Morgen werde ich zu euch von der Liebe sprechen und
ein Wunder wirken, das ganz Liebe ist. Bereitet euch durch eine große
Reinigung vor, es zu empfangen. Oh, wieviel mehr entspricht es meinem Wesen,
von Liebe zu sprechen als von Strafe! Wie süß ist es für mich zu sagen: "Ich
liebe euch. Kommt, mein ganzes Leben habe ich von dieser Stunde geträumt!"
Aber es ist auch Liebe, vom Tod zu reden. Es ist Liebe insofern, als der Tod
für jene, die uns lieben, die schwerste Prüfung der Liebe ist. Es ist Liebe,
die treuen Freunde auf das Unglück vorzubereiten, vorausschauende Liebe, die
sie in jener Stunde bereit und nicht bestürzt will. Es ist Liebe, denn wenn
man jemandem ein Geheimnis anvertraut, beweist man damit, daß man den schätzt,
dem man es mitteilt. Ich weiß, daß ihr Johannes mit Fragen bestürmt habt, um
zu erfahren, worüber ich mit ihm gesprochen habe, als wir allein waren. Ihr
habt ihm nicht geglaubt, daß wir uns nichts gesagt haben. Aber so ist es. Es
genügte mir, einen Menschen in meiner Nähe zu haben ...»
«Warum ihn und nicht einen
anderen?» fragt Iskariot mit entrüstetem Hochmut.
Auch Petrus, Thomas und Philippus
fragen: «Ja, warum ihn und nicht die anderen?»
Jesus antwortet Iskariot:
«Hättest du es sein wollen? Konntest du so etwas verlangen? ...
Es war ein kühler und heiterer
Morgen im Adar... Ich war ein unbekannter Wanderer auf dem Weg am Fluß...
Müde, verstaubt, blaß vom Fasten, mit ungepflegtem Bart und zerrissenen
Sandalen, glich ich einem Bettler auf den Straßen der Welt... Er sah mich...
und erkannte mich als den, auf den die Taube des ewigen Feuers herabgekommen
war. Bei dieser meiner ersten Verklärung muß sich ihm ein Fünkchen meines
göttlichen Glanzes geoffenbart haben. Die durch die Buße geöffneten Augen des
Täufers und die von engelgleicher Reinheit bewahrten Augen sahen, was die
anderen nicht sahen. Und die reinen Augen trugen diese Vision in den
Tabernakel des Herzens und verschlossen sie dort, wie eine Perle im Schrein...
Als sie sich fast zwei Monate später zu dem müden Wanderer erhoben, erkannte
mich seine Seele... Ich war seine Liebe. Seine erste und einzige Liebe. Die
erste und einzige Liebe vergißt man nicht. Die Seele fühlt sie kommen, auch
wenn sie weit entfernt ist, und wird von Freude erfüllt. Sie weckt den
Verstand und dieser das Fleisch, damit alle am Mahl der Freude, sich
wiederzusehen und sich zu lieben, teilnehmen. Und die bebenden Lippen sagten
zu mir: "Ich grüße dich, Lamm Gottes." Oh, Glaube der Reinen, wie groß bist
du! Wie überwindest du alle Hindernisse! Er kannte meinen Namen nicht. Wer war
ich? Woher kam ich? Was tat ich? War ich reich? Oder war ich arm? War ich
weise? War ich töricht? Was braucht der Glaube dies alles zu wissen? Wird er
größer oder kleiner,
129
wenn er weiß? Er glaubte an das,
was der Vorläufer ihm gesagt hatte. Wie der Stern, der der Schöpfungsordnung
gemäß von einem Teil des Himmels in einen anderen wandert, so verließ er
seinen Himmel, seine Konstellation – den Täufer – und kam zu seinem neuen
Himmel: dem Christus, in die Konstellation des Lammes. Er ist zwar nicht der
größte, doch der reinste und schönste Stern der Konstellation der Liebe.
Drei Jahre sind seither
vergangen. Sterne und Sternlein haben sich zu meiner Konstellation gesellt und
haben sie wieder verlassen. Einige sind gefallen und erloschen. Andere sind
geschwärzt von schweren Dämpfen. Er hingegen ist mit seinem reinen Licht immer
bei seinem Polarstern geblieben. Laßt mich sein Licht betrachten. Zwei Lichter
wird es in der Finsternis des Christus geben: Maria und Johannes. Aber ich
werde sie vor Schmerz kaum sehen können. Laßt mich meinen Augen diese vier
Pupillen einprägen, dieses Stück Himmel zwischen blonden Wimpern, damit ich
dorthin, wohin niemand mir folgen kann, das Andenken ihrer Reinheit mitnehme.
Die ganze Sündenlast! Alles auf den Schultern des Menschen! Oh! Oh, dieser
Tropfen Reinheit! ... Meine Mutter! Johannes! Und ich! ... Die drei
Schiffbrüchigen, die beim Schiffbruch einer ganzen Menschheit im Meer der
Sünde nicht untergehen!
Es wird die Stunde sein, in der
ich, das Reis aus dem Geschlecht Davids, wie ehedem David seufzen werde: "Mein
Gott, wende dich mir zu. Warum hast du mich verlassen? Der Schrei der
Verbrechen, die ich für alle auf mich genommen habe, entfernt mich von dir...
Ich bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott und des Volkes Verachtung."
Und hört Isaias: "Meinen Rücken bot ich denen dar, die mich schlugen, und
meine Wangen denen, die mir den Bart rauften; mein Angesicht verbarg ich nicht
vor denen, die mich beleidigten und bespien." Hört noch einmal David: "Mich
umgeben viele Stiere, viele Büffel schließen mich ein. Ihr Rachen tut sich auf
wider mich, um mich zu zerreißen wie reißende, brüllende Löwen. Hingegossen
bin ich wie Wasser." Und Isaias vervollständigt: "Selbst habe ich mir meine
Kleider gefärbt." Oh, meine Kleider werde ich selbst färben, nicht mit meinem
Zorn, sondern mit meinem Schmerz und mit meiner Liebe zu euch. Wie die beiden
Steine der Kelter zermalmen sie mich und pressen mein Blut heraus. Ich
unterscheide mich nicht von der gekelterten Traube, die schön in die Kelter
geworfen wird und deren ausgepreßte Reste ohne Saft und Schönheit sind.
Und mein Herz, sage ich mit
David, "wird wie Wachs und zerfließt in meiner Brust". Oh, vollkommenes Herz
des Menschensohnes, was wirst du nun werden? Jenem gleich, das ein langes,
ausschweifendes Leben lahm und kraftlos macht. Meine ganze Kraft vertrocknet.
Meine Zunge klebt mir im Fieber des Todeskampfes am Gaumen. Der Tod nähert
sich mit seinem Staub, der erstickt und blendet.
Und noch gibt es kein Mitleid!
"Denn mich umlauert die Meute der
130
Hunde und beißt mich. In die
Wunden beißen sie, auf die Wunden fallen die Schläge. Kein Fleck an mir ist
frei von Schmerzen. Meine ausgerenkten Gebeine knirschen unter der
schändlichen Tortur. Ich weiß nicht mehr, wo ich meinen Leib anlehnen kann.
Die furchtbare Krone ist ein Feuerring, der mein Haupt durchdringt. Ich hänge
an den durchbohrten Händen und Füßen. Hoch erhoben zeige ich der Welt meinen
Leib, und alle können meine Gebeine zählen..."»
«Oh, schweige! Schweige!»
schluchzt Johannes.
«Sprich nicht weiter! Wir
ertragen es nicht», flehen ihn die Vettern an.
Andreas sagt nichts, aber den
Kopf zwischen den Knien weint er lautlos. Simon ist totenblaß. Petrus und
Jakobus des Zebedäus gleichen Gefolterten. Philippus, Thomas und Bartholomäus
scheinen drei steinerne Statuen, Darstellungen der Qual.
Judas Iskariot ist eine makabere,
satanische Maske. Er gleicht einem Verdammten, der endlich begreift, was er
getan hat. Mit offenem Mund, einem Schrei in seinem Inneren, der ihm in der
Kehle erstickt, den weit aufgerissenen, angstvollen Augen eines Irren, den
unter dem schwärzlichen Schatten seines rasierten Bartes erdfahlen Wangen, den
wirren Haaren, in denen er immer wieder mit den Händen wühlt, und in kalten
Schweiß gebadet, scheint er einer Ohnmacht nahe.
Matthäus, der seinen Blick vom
Boden erhebt, um sich in seiner Qual nach Hilfe umzusehen, sieht ihn und sagt:
«Judas, fühlst du dich nicht wohl? ... Meister, Judas leidet!»
«Ich auch», sagt Christus. «Aber
ich leide in Frieden. Werdet Geist, um die Stunde ertragen zu können. Einer
der "Fleisch" ist, kann sie nicht ertragen, ohne wahnsinnig zu werden...
Und wiederum sagt David, der die
Qual seines Christus sieht: "Immer noch sind sie nicht zufrieden. Sie starren
zu mir empor, brechen in Jubel aus, teilen meine Kleider unter sich und werfen
über mein Gewand das Los. Ich bin der Missetäter. Sie haben ein Recht darauf."
Oh, Erde, sieh deinen Christus!
Erkenne ihn wieder, obwohl so verunstaltet. Höre, gedenke der Worte des Isaias
und verstehe das große Warum, warum er so geworden ist und der Mensch ihn in
diesen Zustand versetzen und ihn töten konnte, ihn, das Wort des Vaters. "Er
besaß weder Schönheit noch Glanz. Wir schauten, und es war kein Anblick, daß
wir sein begehrten. Verachtet war er und von den Menschen gemieden, ein Mann
der Schmerzen, leiderfahren; wie einer, vor dem man sein Angesicht verhüllt,
verabscheut, von niemand beachtet." Es war seine Schönheit als Erlöser, diese
Maske des Gepeinigten. Aber du, törichte Erde, hast sein heiteres Antlitz
vorgezogen. "Wahrlich, unsere Krankheiten hat er auf sich genommen, und unsere
Schmerzen hat er getragen. Wir hielten ihn für einen Geschlagenen, den Gott
verflucht und geächtet hat. Doch er ward durchbohrt um unserer Sünden willen.
Auf ihm lag die uns zugedachte Strafe,
131
die Strafe, die uns den Frieden
mit Gott wiederschenkt. Durch seine Schmerzen sind wir geheilt. Wir alle
irrten umher wie die Schafe, jeder ging seine eigenen Wege. Aber der Herr ließ
ihn treffen die Schuld von uns allen." Wer glaubt, sich selbst und Israel
einen Dienst erwiesen zu haben, erwache aus seinem Irrtum; ebenso wer glaubt,
stärker als Gott gewesen zu sein, und wer glaubt, keine Rechenschaft über
diese Sünde ablegen zu müssen, nur weil ich mich gutwillig töten lasse. Ich
tue meine heilige Pflicht im vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Vater. Das
entschuldigt aber nicht ihren Gehorsam gegenüber Satan und ihre ruchlose Tat.
Ja. Er ist geopfert worden, weil er es gewollt hat, o Erde, dein Erlöser. "Er
öffnet nicht seinen Mund und bittet nicht um Schonung, er verflucht nicht
seine Mörder. Wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt; wie ein Schaf vor
dem Scherer verstummt."
"Nach der Gefangennahme und der
Verurteilung wurde er erhöht. Er wird keine Nachkommen haben. Wie ein Baum
wurde er aus der Erde der Lebendigen gerissen. Gott hat ihn für die Sünden
seines Volkes geschlagen. Wird nicht einer von seinem Geschlecht, seinem Land,
Mitleid mit ihm haben? Wird der aus der Erde Gerissene keine Kinder haben?"
Oh, ich antworte dir, Prophet
deines Christus. Wenn mein Volk kein Mitleid hat mit dem schuldlos Getöteten,
dann werden die Engel des himmlischen Volkes ihn beweinen. Wenn seine
Männlichkeit keine irdischen Söhne hat, weil seine Natur keine Verbindung mit
sterblichem Fleisch eingehen konnte, so wird er doch Kinder haben; nicht aus
der Materie, aus Fleisch und Blut gezeugte Kinder, sondern von der Liebe, vom
göttlichen Blut, vom Geist gezeugte Kinder, und diese Nachkommenschaft wird
ewig sein.
Und weiter erkläre ich dir, o
Welt, die du den Propheten nicht verstehst, wer die Gottlosen an seinem Grab
und der Reiche bei seinem Tod sind. Sieh, o Welt, ob ein einziger seiner
Mörder Frieden und langes Leben hatte! Er, der Lebende, wird bald den Tod
überwinden. Aber wie die Blätter, die der Herbstwind eines nach dem anderen in
die Furche weht, nachdem er sie durch wiederholte Böen von den Ästen gerissen
hat, ebenso werden sie bald in das schimpfliche Grab sinken, das ihm bestimmt
war. Und einer, der nur für das Gold gelebt hat, könnte – wenn es zulässig
wäre, den Unreinen hinzulegen, wo der Heilige gelegen ist – an dem Ort
begraben werden, der noch feucht ist von den unzähligen Wunden des auf dem
Berg Geopferten.
Angeklagt ohne Schuld, wird Gott
ihn rächen, denn niemals war Lüge in seinem Mund und Unrecht in seinem Herzen.
Er wird von seinen Leiden verzehrt werden. Doch nachdem alles vollbracht und
sein Leben als Sühnopfer dargebracht ist, wird seine Herrlichkeit bei den
Zukünftigen beginnen.
Alle Wünsche und die heiligen
Ratschlüsse Gottes werden durch ihn in
132
Erfüllung gehen. Um der Leiden
seiner Seele willen wird er die Blüte des wahren Volkes Gottes sehen und sich
an ihm erfreuen. Seine himmlische Lehre, die er mit seinem Blut besiegelt,
wird die Rechtfertigung vieler der Besten sein, und von den Sündern wird er
die Ungerechtigkeit nehmen. Daher, o Erde, wird dieser verkannte König, den
die Bösen verspottet haben und die Besten nicht verstehen konnten, eine große
Gefolgschaft haben. Und mit den Seinen wird er die Güter der Besiegten teilen.
Er wird die Beute der Starken verteilen, als einziger Richter der drei
Provinzen und des Königreiches.
Er hat alles verdient, denn er
hat alles gegeben. Alles wird ihm übergeben werden, denn er hat sein Leben dem
Tod übergeben und wurde zu den Missetätern gezählt, er, der ohne Sünde war.
Ohne andere Schuld als seine vollkommene Liebe, seine unendliche Güte. Eine
Schuld, die die Welt nicht verzeiht. Eine Liebe und eine Güte, die ihn dazu
getrieben haben, die Sünden vieler, der ganzen Welt, auf sich zu nehmen und
für die Sünder zu beten. Für alle Sünder. Auch für die, die ihn getötet haben.
Ich bin fertig. Ich habe nichts
weiter zu sagen. Alles ist gesagt, was ich euch über die messianischen
Prophezeiungen sagen wollte. Von der Geburt bis zum Tod habe ich sie euch alle
erklärt, damit ihr mich erkennt und keine Zweifel und auch keine
Entschuldigung für eure Sünde habt.
Nun wollen wir zusammen beten. Es
ist der letzte Abend, an dem wir zusammen beten können, vereint wie die Beeren
einer Traube. Kommt. Beten wir: "Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt
werde dein Name. Zu uns komme dein Reich. Dein Wille geschehe, wie im Himmel,
also auch auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere
Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Führe uns nicht in
Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen."
"Geheiligt werde dein Name."
Vater, ich habe ihn geheiligt. Erbarme dich deines Sohnes.
"Zu uns komme dein Reich." Um es
zu gründen, sterbe ich. Erbarme dich meiner.
"Dein Wille geschehe." Komm
meiner Schwachheit zu Hilfe, der du das Fleisch des Menschen geschaffen und
mit ihm dein Wort bekleidet hast, damit ich dir hier unten gehorche, wie ich
dir immer im Himmel gehorcht habe. Erbarme dich des Menschensohnes.
"Gib uns unser Brot..." Ein Brot
für die Seele. Ein Brot, das nicht von dieser Erde ist. Ich bitte nicht für
mich. Ich brauche nur deinen geistigen Trost. Aber für sie bitte ich, strecke
ich bittend die Hand nach dir aus. Bald wird sie durchbohrt und angenagelt
sein und diese Geste der Liebe nicht mehr machen können. Aber jetzt kann sie
es noch. Vater, gewähre mir, ihnen das Brot zu geben, das täglich die
Schwachheit der armen Kinder Adams stärken wird. Sie sind schwach, o Vater,
sie sind gering, weil sie
133
das Brot nicht haben, das stärkt;
das Brot der Engel, das den Menschen vergeistigt und ihn dazu führt, in uns
vergöttlicht zu werden.
"Vergib uns unsere Schuld..."»
Jesus, der stehend und mit
ausgebreiteten Armen gebetet hat, kniet nun nieder und erhebt Arme und Antlitz
zum Himmel. Ein durch die Eindringlichkeit des Flehens und den Kuß des Mondes
bleiches, von lautlosen Tränen überflossenes Gesicht.
«Verzeih deinem Sohn, o Vater,
wenn er in irgendeiner Weise gefehlt hat. Deiner Vollkommenheit kann ich noch
unvollkommen erscheinen, ich, dein Christus, den das Fleisch beschwert. Den
Menschen... nicht. Mein Bewußtsein versichert mir, daß ich alles für sie getan
habe. Aber du, verzeih deinem Jesus... Auch ich verzeihe. Weil du mir
verzeihst, verzeihe ich. Wieviel habe ich zu verzeihen! Wieviel! ... Und doch
verzeihe ich. Den Anwesenden, den abwesenden Jüngern, denen tauben Herzens,
den Feinden, den Spöttern, den Verrätern, den Mördern, den Gottesmördern...
Sieh, nun habe ich der ganzen Menschheit verziehen. Soweit es an mir ist, o
Vater, betrachte ich jegliche Schuld des Menschen gegenüber dem Menschensohn
als gelöscht. Um allen dein Reich zu schenken, sterbe ich, und ich will nicht,
daß ihre Sünde gegen die fleischgewordene Liebe ihnen zu ihrer Verurteilung
gereiche. Nein? Du sagst nein? Das tut mir weh. Dieses "Nein" ist der erste
Schluck des bitteren Kelches in meinem Herzen. Aber, Vater, dem ich immer
gehorcht habe, ich sage dir: "Dein Wille geschehe."
"Führe uns nicht in Versuchung."
Oh, wenn du willst, kannst du Satan von uns fernhalten. Er ist die Versuchung,
die das Fleisch, den Geist, das Herz aufstachelt. Er ist der Verführer.
Entferne ihn, Vater! Sende uns deinen Erzengel zu Hilfe. Damit er ihn in die
Flucht schlägt, der uns von der Geburt bis zum Tod nachstellt! ... O heiliger
Vater, Erbarmen mit deinen Kindern!
"Erlöse uns, erlöse uns von dem
Übel!" Du kannst es. Wir weinen hier... Der Himmel ist so schön und wir
fürchten, ihn zu verlieren. Du sagst: "Mein Heiliger kann ihn nicht
verlieren." Aber ich will, daß du in mir den Menschen, den Erstgeborenen der
Menschen siehst. Ich bin ihr Bruder. Ich bete für sie und mit ihnen. Vater,
erbarme dich! Oh, Erbarmen... !»
Jesus neigt sich bis zur Erde.
Dann erhebt er sich: «Gehen wir. Wir wollen uns heute abend verabschieden.
Morgen abend werden wir keine Gelegenheit mehr dazu haben. Wir werden zu
unruhig sein. Und wo Unruhe ist, kann keine Liebe mehr sein. Geben wir uns den
Friedenskuß. Morgen... morgen wird jeder für sich allein sein... Heute abend
können wir noch einer für alle und alle für einen sein.»
Jesus küßt sie, einen nach dem
anderen, bei Petrus beginnend, dann Matthäus, Simon, Thomas, Philippus,
Bartholomäus, Iskariot, die beiden Vettern, Jakobus des Zebedäus, Andreas und
zuletzt Johannes, auf den er sich stützt, als sie Gethsemane verlassen.
134
658. DER DONNERSTAG VOR DEM
PASSAHFEST: DER TAG
Ein neuer Morgen. So friedlich
und so festlich. Nicht einmal die vereinzelten Wolken, die gestern im Kobalt
des Himmels schwammen, sind mehr da. Auch die gestern so drückende Schwüle hat
aufgehört. Eine sanfte Brise fächelt um die Gesichter. Sie duftet nach Blumen,
nach Heu, nach Frische, und sachte bewegt sie das Laub der Ölbäume – eine
Aufforderung, das schimmernde Silber der lanzettförmigen Blättchen zu
bewundern. Sie scheint kleine, weiße, duftende Blüten auf den Weg und das
blonde Haupt Jesu streuen zu wollen, damit sie ihn küssen und erfrischen, denn
jeder winzige Kelch hat seinen eigenen Tautropfen. Damit sie ihn küssen und
erfrischen, und dann sterben und den bevorstehenden Schrecken nicht sehen
müssen. Und die Kräuter der Hänge verneigen sich und schütteln ihre Glöckchen,
ihre Rispen und ihre tausend Blüten. Sterne mit goldenen Herzen, die großen
Margariten, richten sich auf ihren Stielen auf, um die Hand zu küssen, die
durchbohrt werden wird, und die Gänseblümchen und Kamillen küssen die
selbstlosen Füße, die erst aufhören werden, zum Wohl der Menschen zu gehen,
wenn sie sich annageln lassen, um ein noch größeres Heil zu schenken. Die
Heckenrosen duften, und der schon verblühte Weißdorn bewegt seine gezahnten
Blätter und scheint zu sagen: «Nein, nein», zu denen, die ihn gebrauchen
werden, um den Erlöser zu quälen. Und «Nein» sagt auch das Schilfrohr am
Kedron, das nicht schlagen will, das als kleines Geschöpf auch seinen Willen
hat und dem Herrn nicht wehtun will. Und vielleicht sind sogar die Steine an
den Hängen froh, außerhalb der Stadt auf dem Ölberg zu liegen, denn so werden
sie den Märtyrer nicht verletzen. Und es weinen die zarten, rosafarbenen
Winden, die Jesus so sehr liebt, und die Dolden der Akazien – Trauben weißer
Schmetterlinge an einem Stiel – und denken wohl: «Wir werden ihn nicht
wiedersehen.» Und die so zarten und reinen Vergißmeinnicht lassen ihre Blüten
fallen, wenn sie das Purpurgewand berühren, das Jesus wieder trägt. Es muß
schön sein, zu sterben und dabei etwas von Jesus zu berühren. Alle Blumen,
auch ein vereinzeltes Maiglöckchen, das vielleicht zufällig hier zu Boden
gefallen und zwischen den vorspringenden Wurzeln eines Ölbaumes angewachsen
ist, sind glücklich, zu vergehen, von Thomas gepflückt und dem Herrn gereicht
zu werden... Glücklich sind auch die tausend Vögel in den Bäumen, Jesus mit
freudigem Singen zu grüßen. Oh, sie lästern ihn nicht, die Vöglein, die er
immer geliebt hat! Sogar ein Häufchen Schafe scheint ihn grüßen zu wollen,
trotz ihrer Trauer um die Jungen, die man ihnen genommen und als Passahopfer
verkauft hat. Und blökend klagen die Muttertiere, rufen ihre Lämmchen, die
nicht mehr zurückkehren werden, reiben ihren Kopf an Jesus und schauen ihn mit
ihren sanften Augen an.
Der Anblick der Tiere erinnert
die Apostel an das Fest, und sie fragen
135
Jesus, als sie beinahe in
Gethsemane sind: «Wo werden wir das Passahmahl halten? Welchen Ort wählst du?
Sage es uns, und wir werden hingehen und alles vorbereiten», sagen sie.
Und Judas von Kerioth: «Gib mir
Anweisungen, und ich werde gehen.»
«Petrus, Johannes, hört mir zu.»
Die beiden, die etwas
vorausgegangen sind, kommen zu Jesus.
«Geht uns voraus und durch das
Misttor in die Stadt. Sobald ihr sie betretet, werdet ihr einem Mann begegnen,
der von En Rogel zurückkommt mit einem Krug dieses guten Wassers. Folgt ihm,
bis er in ein Haus geht. Sagt zu dem, der darin wohnt: "Der Meister läßt
sagen: 'Wo ist das Gemach, in dem ich mit meinen Jüngern das Passahmahl halten
kann? Er wird euch einen großen Speisesaal zeigen. Darin bereitet alles vor.
Geht rasch und kommt dann zu uns in den Tempel.»
Die beiden eilen fort. Jesus
dagegen geht langsam weiter. Es ist ja noch so früh am Morgen, auf den Straßen
zeigen sich kaum die ersten Pilger. Sie gehen über die kleine Kedronbrücke bei
Gethsemane und betreten dann die Stadt. Die Tore sind jetzt nicht mehr von
Legionären bewacht, vielleicht ein neuer Befehl des Pilatus, der nun beruhigt
ist, da die Streitigkeiten um Jesus aufgehört haben. Wirklich herrscht auch
überall größte Ruhe.
Oh, man soll ja nicht sagen, daß
die Juden sich nicht beherrschen können. Niemand hat den Meister oder seine
Jünger belästigt. Höflich, wenn auch nicht liebevoll, haben sie Jesus gegrüßt,
selbst die Schlimmsten des Synedriums. Auch bei der gestrigen Anklagerede
haben sie eine nicht zu übertreffende Selbstbeherrschung gezeigt.
Und gerade jetzt – das Landhaus
des Kaiphas liegt nahe bei diesem Tor – gerade jetzt kommt von dort eine große
Gruppe Pharisäer und Schriftgelehrte, unter ihnen der Sohn des Annas, und
Elchias mit Doras und Sadok. Sie beugen die Rücken unter den weiten Mänteln
und grüßen ehrfürchtig, umwallt von Kleidern, Fransen und umfangreichen
Kopfbedeckungen. Jesus grüßt und geht vorüber wie ein König in seinem roten
Wollgewand und dem etwas dunkleren Mantel von derselben Farbe, in der Hand die
Kopfbedeckung Syntyches. Sein kupferrotes Haar leuchtet in der Sonne wie eine
goldene Krone, und wie ein schimmernder Schleier fällt es auf seine Schultern.
Die Rücken richten sich wieder auf, nachdem er vorbeigegangen ist, und die
Gesichter kommen zum Vorschein: Tollwütige Hyänen.
Judas von Kerioth, der ständig
herumgeschielt hat mit seinem Verrätergesicht, geht nun an den Straßenrand
unter dem Vorwand, eine Sandale neu schnüren zu müssen und, ich sehe es gut,
er gibt den auf ihn Wartenden ein Zeichen... Er macht sich an der Schnalle
seiner Sandale zu schaffen, um sich einen Anschein zu geben, und läßt die
Gruppe Jesu und der Jünger vorausgehen. Dann nähert er sich rasch den
Wartenden und flüstert: «Bei
136
der Schönen. Um die sechste
Stunde. Einer von Euch.» Schon ist er wieder bei seinen Gefährten. Frech,
schamlos frech! ...
Sie gehen zum Tempel hinauf. Es
sind erst wenige Hebräer da, aber viele Heiden. Jesus geht, den Herrn
anzubeten. Dann kommt er zurück und gebietet Simon und Bartholomäus, das Lamm
zu kaufen und sich von Judas von Kerioth das Geld dafür geben zu lassen.
«Aber das hätte ich doch tun
können!» sagt dieser.
«Du wirst anderes zu tun haben.
Du weißt es. Da ist die Witwe, der du das Almosen der Maria des Lazarus
bringen und sagen mußt, daß sie nach dem Fest nach Bethanien zu Lazarus gehen
soll. Weißt du, wo sie wohnt? Hast du verstanden?»
«Ich weiß, ich weiß! Zacharias,
der sie gut kennt, hat es mir gezeigt.»Er fügt hinzu: «Ich freue mich, dort
hingehen zu können. Das mache ich noch lieber, als das Lamm kaufen. Wann soll
ich gehen?»
«Später. Ich werde mich hier
nicht lange aufhalten. Heute ruhe ich mich aus, damit ich am Abend und bei
meinem nächtlichen Gebet stark bin.»
«Gut.»
Ich frage mich: Warum sagt Jesus,
der in den letzten Tagen immer über seine Absichten geschwiegen hat, um Judas
keine Einzelheiten wissen zu lassen, nun wiederholt das, was er in der Nacht
tun wird? Hat die Passion schon begonnen mit der Unfähigkeit, das Kommende
vorherzusehen, oder hat diese Fähigkeit im Gegenteil so zugenommen, daß er in
den Büchern des Himmels liest, daß dies «die Nacht» ist, und daß er es deshalb
den wissen lassen muß, der darauf wartet, ihn den Feinden auszuliefern? Oder
hat er schon immer gewußt, daß in dieser Nacht sein Opfer beginnen muß? Ich
weiß die Antwort nicht. Jesus gibt mir keine Antwort. Und ich bleibe bei
meinem Warum, während ich Jesus betrachte, der die letzten Kranken heilt. Die
letzten... Morgen, in einigen Stunden, wird er es nicht mehr tun können... Der
mächtige Arzt des Leibes wird der Erde genommen sein. Das Opfer wird jedoch
auf seiner Richtstätte die nun zwanzig Jahrhunderte dauernden Heilungen des
Geistes beginnen.
Heute betrachte ich mehr, als daß
ich beschreibe. Der Herr läßt mein geistiges Auge von dem, was ich am letzten
Tag der Freiheit Christi geschehen sehe, über die Jahrhunderte schweifen.
Heute betrachte ich mehr die Gefühle, die Gedanken des Meisters, als die
Ereignisse um ihn herum. Ich habe schon eine schmerzliche Ahnung seiner Qualen
in Gethsemane...
Jesus ist wie gewöhnlich von der
nun schon größer gewordenen Menge umgeben. Sie besteht inzwischen in der
Mehrzahl aus Hebräern, die ganz vergessen, zur Opferstätte der Lämmer zu eilen
und stattdessen zu Jesus kommen, dem Lamm Gottes, das bald geopfert werden
wird. Immer noch stellen sie Fragen und verlangen Erklärungen. Viele sind aus
der Diaspora gekommene Hebräer, die von Christus, dem galiläischen Propheten,
dem Rabbi aus Nazareth gehört haben und nun neugierig sind, ihn reden zu
hören, oder darauf brennen, jeden möglichen Zweifel zu beseitigen. Diese
drängen sich vor und bitten die Leute aus Palästina: «Ihr habt ihn immer. Ihr
wißt, wer er ist. Ihr könnt ihn hören, wann ihr wollt. Wir sind von
137
weither gekommen und reisen
gleich wieder ab, wenn wir die Vorschriften erfüllt haben. Laßt uns zu ihm!»
Die Menge geht mit Mühe
auseinander, um den Platz an sie abzutreten. Sie nähern sich Jesus, beobachten
ihn neugierig, reden in Gruppen miteinander, und auch Jesus beobachtet sie,
obwohl er gleichzeitig Leute aus Peräa anhört. Dann, nachdem er diese
entlassen hat, die ihm wie viele andere Almosen für die Armen geben, und
nachdem er, wie immer, das Geld Judas übergeben hat, beginnt er zu reden.
«Einig in der Religion, doch
verschiedener Herkunft, fragen sich viele der Anwesenden: "Wer ist der, den
man den Nazarener nennt?" Sie schwanken zwischen Hoffnung und Zweifel.
Hört. Es steht von mir
geschrieben: "Ein Reis sproßt aus der Wurzel Jesse, eine Blüte kommt aus
dieser Wurzel. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn. Nicht richtet er nach
dem Augenschein, noch fällt er sein Urteil nach dem Hörensagen. Sondern er
richtet die Armen in Gerechtigkeit und entscheidet nach Billigkeit über die
Demütigen. Das Reis aus der Wurzel Jesse, zum Feldzeichen den Völkern gesetzt,
suchen die Heiden auf, und seine Ruhestätte wird herrlich sein. Er pflanzt ein
Panier für die Völker auf, sammelt die Vertriebenen Israels und bringt die
Zerstreuten Judas von den vier Enden der Erde zusammen." Es steht auch
geschrieben: "Seht, der Herr kommt mit Macht und sein Arm unterwirft ihm
alles. Mit ihm kommt sein Siegeslohn, und seine Siegeszeichen gehen vor ihm
her. Wie ein Hirte weidet er seine Herde." Es steht von mir geschrieben: "Seht
meinen Knecht, den ich stütze, an dem ich mein Wohlgefallen habe. Auf ihn
sende ich meinen Geist. Er wird den Völkern das Recht bringen. Er wird nicht
schreien; das geknickte Rohr zerbricht er nicht, den glimmenden Docht löscht
er nicht aus. In Treuen trägt er das Recht hinaus. Er läßt nicht nach und
verzagt nicht, bis er das Recht auf Erden begründet, denn die Inseln harren
auf seine Lehre." Es steht von mir geschrieben: "Ich, der Herr, habe dich in
Gerechtigkeit berufen, ich habe deine Hand erfaßt und dich behütet. Ich habe
dich zum Bunde für das Volk gemacht und zum Lichte für die Heiden, daß du die
Augen der Blinden öffnest, die Gefangenen aus dem Gefängnis befreist und aus
dem Kerker, die im Finstern sitzen." Es steht von mir geschrieben: "Der Geist
des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt,
den Armen die Frohe Botschaft zu bringen und zu heilen, die gebrochenen
Herzens sind, den Gefangenen Befreiung und den Gefesselten Erlösung
anzukündigen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen." Es steht von mir
geschrieben: "Er ist der Starke. Er wird die Herde weiden in der Kraft des
Herrn, in der Hoheit des Namens seines Gottes. Sie werden sich zu ihm
bekehren, denn von nun an wird er gepriesen werden bis an die Grenzen der
Erde." Es steht von mir geschrieben: "Ich selbst will meine Schafe suchen. Das
Verlorene will ich suchen, das Versprengte zurückführen, das Gebrochene
138
verbinden, das Kranke stärken,
das Fette aber und das Kräftige will ich schützen und weiden, wie es recht
ist." Es steht geschrieben: "Er ist der Friedensfürst und wird der Friede
sein." Es steht geschrieben: "Siehe, dein König, der Gerechte, der Retter,
kommt zu dir. Er ist arm und reitet auf dem Füllen einer Eselin. Er gebietet
Frieden den Völkern und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer, bis an die
Grenzen der Erde." Es steht geschrieben: "Siebzig Wochen sind für dein Volk
und deine heilige Stadt bestimmt, bis dem Frevel ein Ende gemacht, die Sünde
versiegelt und die Schuld gesühnt wird; bis ewige Gerechtigkeit herbeigeführt,
Gesicht und Prophetie erfüllt und das Allerheiligste gesalbt wird. Nach sieben
und zweiundsiebzig Wochen wird der Gesalbte kommen. Nach zweiundsechzig Wochen
wird er getötet. Nach einer Woche schließt er einen Bund, und in der Mitte der
Woche macht er den Schlacht- und Speiseopfern ein Ende; und der Greuel der
Verwüstung wird über den Tempel kommen und bis zum Ende der Zeiten dauern."
Werden also die Schlachtopfer in
diesen Tagen fehlen? Wird der Altar kein Opfer haben? Er wird das große Opfer
haben. Seht, der Prophet schaut es: "Wer ist dieser, der in roten Kleidern
kommt? Er prangt in seinem Gewand und schreitet in der Größe seiner Macht
einher."
Warum ist sein Kleid rot, da er
arm ist? Der Prophet sagt es: "Meinen Rücken bot ich denen, die mich schlugen,
und meine Wangen denen, die mir den Bart rauften, mein Angesicht verbarg ich
nicht vor denen, die mich bespien. Keine Gestalt besaß ich, noch Schönheit,
und die Menschen liebten mich nicht mehr. Verachtet werde ich von den Menschen
und den Letzten gleichgestellt! Ein Mann der Schmerzen bin ich, das Haupt
verhüllt und verhöhnt, und sie betrachten mich wie einen Aussätzigen, während
ich für alle verwundet werde und sterbe. Hier ist das Opfer. Fürchte nicht, o
Israel, fürchte nicht! Das Osterlamm wird nicht fehlen. Fürchte nicht, o Welt!
Hier ist der Retter. Wie ein Schaf wird er zur Schlachtbank geführt, denn er
hat es gewollt, und er wird den Mund nicht auftun, um jene zu verfluchen, die
ihn töten. Nach der Verurteilung wird er erhöht und von Qualen verzehrt
werden, die Glieder ausgerenkt, die Gebeine entblößt und Hände und Füße
durchbohrt. Aber nach der Mühsal, durch die er viele rechtfertigen wird, wird
er die Völker besitzen; denn nachdem er sein Leben in den Tod dahingegeben hat
für das Heil der Welt, wird er auferstehen und die Welt regieren und die
Völker nähren mit den Wassern, die Ezechiel gesehen hat, die aus dem wahren
Tempel strömen, der, obgleich niedergerissen, aus eigener Kraft wiederersteht;
mit dem Wein, der auch das weiße Gewand des makellosen Lammes rot gefärbt hat,
und mit dem vom Himmel herabgekommenen Brot."
Wohlan, ihr Dürstenden, kommt zum
Wasser. Ihr Hungernden, sättigt euch. Ihr Entkräfteten und ihr Kranken, trinkt
meinen Wein! Kommt ihr, die ihr kein Geld habt, ihr, die ihr nicht gesund
seid, kommt! Und ihr:
139
die ihr in der Finsternis seid!
Und ihr, die ihr tot seid, kommt! Ich bin der Reichtum und das Heil. Ich bin
das Licht und das Leben. Kommt, ihr, die ihr den Weg sucht! Kommt, ihr, die
ihr die Wahrheit sucht! Ich bin der Weg und die Wahrheit. Fürchtet nicht, das
Osterlamm nicht essen zu können, weil in diesem geschändeten Tempel die
wahrhaft heiligen Schlachtopfer fehlen. Ihr werdet alle essen von dem Lamm
Gottes, das gekommen ist, die Sünden der Welt hinwegzunehmen, wie der letzte
der Propheten meines Volkes von mir gesagt hat.
Desselben Volkes, das ich frage:
"Mein Volk, was hab ich dir getan? Womit habe ich dich betrübt? Was hätte ich
dir noch mehr tun sollen und habe es nicht getan? Ich habe dich gelehrt, deine
Kranken geheilt, deinen Armen Wohltaten erwiesen, deine Volksscharen gespeist
und dich in deinen Kindern geliebt; ich habe dir verziehen und für dich
gebetet. Und wie dankst du es deinem Herrn? Eine Stunde, die letzte, ist dir
gegeben, o mein Volk, o meine heilige und königliche Stadt. Bekehre dich in
dieser Stunde zum Herrn, deinem Gott."»
«Er hat wahre Worte gesprochen.»
«So steht es geschrieben. Und er
tut wahrhaft, was geschrieben steht.»
«Wie ein Hirte hat er für alle
gesorgt.»
«So als wären wir die zerstreuten
Schafe, krank und in der Finsternis, ist er gekommen, um uns auf den rechten
Weg zu führen, uns an Seele und Leib zu heilen und uns zu erleuchten.»
«Wahrlich, alle Völker kommen zu
ihm. Seht die Heiden dort, wie sie ihn bewundern.»
«Er hat Frieden gepredigt.»
«Er hat Liebe geschenkt.»
«Ich verstehe nicht, was er vom
Opfer sagt. Er spricht, als ob man ihn töten wollte.»
«So ist es, wenn er der Mensch
ist, den die Propheten gesehen haben, der Erlöser.»
«Er redet, als ob das ganze Volk
ihn schlagen wollte. Das wird niemals geschehen. Das Volk, und wir sind das
Volk, liebt ihn.»
«Er ist unser Freund. Wir werden
ihn verteidigen.»
«Er ist Galiläer, und wir aus
Galiläa würden unser Leben für ihn geben.»
«Er ist aus dem Geschlecht
Davids, und wir werden nur die Hand erheben, um ihn zu verteidigen, wir aus
Judäa.»
«Und wir, die er uns ebenso liebt
wie er euch liebt, wir aus der Auranitis, aus Peräa und der Dekapolis, können
wir ihn vergessen? Alle, alle werden wir ihn verteidigen.»
Das sind Stimmen aus dem nun sehr
zahlreichen Volk. O Unbeständigkeit der menschlichen Absichten! Nach dem Stand
der Sonne zu schließen, ist es ungefähr neun Uhr vormittags unserer Zeit.
Vierundzwanzig
140
Stunden später wird dieses Volk
schon seit vielen Stunden den Märtyrer umgeben, um ihn mit Haß und Schlägen zu
quälen und schreiend seinen Tod zu fordern. Wenige, sehr wenige, zu wenige
unter den Tausenden Menschen, die aus allen Gegenden Palästinas und von noch
weiter her zusammengeströmt sind und die Licht, Gesundheit, Wissen und
Vergebung von Christus erhalten haben, werden nicht nur nicht versuchen, ihn
seinen Feinden zu entreißen, da ihre kleine Zahl im Gegensatz zu den
Übelwollenden dies nicht zuläßt, sondern sie werden ihn nicht einmal trösten,
indem sie ihm, als Beweis ihrer Liebe, als mitfühlende Freunde folgen.
Die Lobreden, die Zustimmung und
die bewundernden Bemerkungen breiten sich in dem weiten Vorhof aus wie Wellen,
die von der hohen See kommen und am Ufer verebben.
Schriftgelehrte, Juden und
Pharisäer versuchen die Begeisterung des Volkes einzudämmen, und auch den
gärenden Zorn des Volkes gegen die Feinde des Christus, indem sie sagen: «Er
phantasiert. Er ist sehr müde und fängt an, irre zu reden. Er sieht
Verfolgungen, wo nur Ehren sind. Seine Reden enthalten wie immer viel
Weisheit, lassen aber auch seinen Wahn erkennen. Niemand will ihm etwas Böses
zufügen. Wir haben verstanden, wer er ist ...»
Aber die Leute trauen einem
solchen Stimmungswechsel nicht. Einer sagt aufbegehrend: «Er hat meinen
schwachsinnigen Sohn geheilt. Ich weiß daher, was Wahnsinn ist. So spricht
keiner, der den Verstand verloren hat.»
Und ein anderer: «Laßt sie reden.
Es sind Vipern, die fürchten, daß die Prügel des Volkes sie zu Brei schlagen
könnten. Sie singen das süße Lied der Nachtigall, um uns zu täuschen. Aber
wenn du gut zuhörst, wirst du auch das Zischen der Schlange vernehmen.»
Und wieder ein anderer: «Ihr
Angehörigen des Volkes Christi, gebt acht! Wenn der Feind schmeichelt, dann
hat er das Messer im Ärmel verborgen und streckt die Hand aus, um zuzustechen.
Haltet die Augen offen und das Herz bereit! Die Schakale können nicht zahme
Lämmer werden.»
«Du sagst es gut: Die Eule lockt
und verführt die harmlosen Vöglein durch ihre Reglosigkeit und die lügenhafte
Fröhlichkeit ihres Grußes. Sie lacht und lockt mit ihrem Ruf, ist aber schon
bereit, die ahnungslose Beute zu verschlingen.»
Und so weiter, von Gruppe zu
Gruppe.
Aber da sind auch die Heiden.
Diese Heiden, die dem Meister in immer größerer Zahl zuhören an diesen
Feiertagen. Immer am Rand der Volksmenge, denn die hebräisch-palästinensische
Exklusivität ist groß, schiebt sie beiseite und beansprucht die vordersten
Plätze um den Rabbi, obwohl sie gerne näherkommen und mit ihm sprechen würden.
Eine große Gruppe dieser Heiden entdeckt Philippus, den die Volksmenge in
einen Winkel
141
gedrängt hat. Sie gehen zu ihm
und sagen: «Herr, wir möchten deinen Meister Jesus aus der Nähe sehen und
wenigstens einmal mit ihm reden.»
Philippus stellt sich auf die
Fußspitzen, um zu sehen, ob er irgendeinen Apostel in der Nähe des Herrn
entdeckt. Er sieht Andreas und schreit, nachdem er ihn mit Namen gerufen hat:
«Hier sind Heiden, die den Meister grüßen möchten. Frage ihn, ob er für sie
Zeit hat.»
Andreas, der sich einige Meter
von Jesus in der Menge befindet, drängt sich energisch, unter großzügigem
Einsatz der Ellbogen, durch und schreit: «Macht Platz! Macht Platz, sage ich
euch. Ich muß zum Meister.»
Schließlich schafft er es und
teilt ihm den Wunsch der Heiden mit.
«Führe sie in die Ecke dort. Ich
komme zu ihnen.»
Und als Jesus versucht, sich
durch die Leute zu drängen, helfen ihm Johannes, der mit Petrus zurückgekommen
ist, Petrus selbst, Judas Thaddäus, Jakobus des Zebedäus und Thomas, der seine
Verwandten in der Menge gefunden hat und sie nun verläßt.
Nun ist Jesus bei den Heiden, die
ihm huldigen.
«Der Friede sei mit euch. Was
wollt ihr von mir?»
«Wir wollen dich sehen, dich
sprechen. Deine Worte haben uns beunruhigt. Wir wollten schon lange mit dir
sprechen, um dir zu sagen, daß deine Worte uns sehr beeindrucken. Aber wir
wollten einen geeigneten Moment abwarten. Heute... Du sprichst von Tod... Wir
fürchten, dich nicht mehr sprechen zu können, wenn wir es nicht sofort tun.
Aber ist es denn möglich, daß die Hebräer ihren besten Sohn töten? Wir sind
Heiden, und deine Hand hat uns nicht Gutes getan. Dein Wort war uns unbekannt.
Wir hatten nur Unbestimmtes über dich gehört. Wir haben dich nie gesehen,
waren nie in deiner Nähe. Und doch, du siehst es! Wir verehren dich. Die ganze
Welt ehrt dich mit uns.»
«Ja, die Stunde ist gekommen, da
der Menschensohn verherrlicht werden muß, von den Menschen und den Seelen.»
Nun drängen sich die Leute wieder
um Jesus. Aber mit dem Unterschied, daß in der ersten Reihe die Heiden sind
und dahinter die anderen.
«Aber wenn dies die Stunde deiner
Verherrlichung ist, dann wirst du nicht sterben, wie du sagst, oder wie wir es
verstanden haben. Denn auf diese Art zu sterben, ist keine Verherrlichung. Wie
kannst du die Welt unter deinem Szepter vereinigen, wenn du vorher stirbst?
Wenn dein Arm im Tod erstarrt, wie kann er dann triumphieren und die Völker
versammeln?»
«Indem ich sterbe, gebe ich
Leben. Indem ich sterbe, baue ich auf. Indem ich sterbe, schaffe ich das neue
Volk. Im Opfer erringt man den Sieg. Wahrlich, ich sage euch, wenn das
Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es unfruchtbar. Wenn es
aber stirbt, bringt es viele Frucht. Wer sein Leben liebt, wird es verlieren.
Wer sein Leben in dieser Welt haßt, wird es für das ewige Leben bewahren.
Daher muß ich sterben, um allen, die mir nachfolgen und der Wahrheit dienen,
dieses ewige
142
Leben zu schenken. Wer mir dienen
will, komme: Die Plätze in meinem Reich sind nicht diesem oder jenem Volk
vorbehalten. Jeder, der mir dienen will, komme und folge mir. Und wo ich bin,
wird auch mein Diener sein. Und wer mir dient, wird meinen Vater ehren, den
einen, wahren Gott, den Herrn des Himmels und der Erde, den Schöpfer alles
dessen, was ist; er ist Geist, Wort, Liebe, Leben, Weg, Wahrheit, Vater, Sohn
und Heiliger Geist, der Eine und doch Dreieine, der Dreieine und doch Eine,
der einzige, wahre Gott. Doch nun ist meine Seele erschüttert. Soll ich
vielleicht sagen: "Vater, errette mich vor dieser Stunde" ? Nein. Denn dazu
bin ich gekommen: diese Stunde zu erleben. Und daher sage ich: "Vater,
verherrliche deinen Namen."»
Jesus breitet die Arme in
Kreuzform aus, ein purpurrotes Kreuz vor dem weißen Marmor des Portikus,
erhebt das Antlitz, opfert sich betend auf und erhebt seine Seele zum Vater.
Und eine Stimme, mächtiger als
der Donner, eine unwirkliche Stimme insofern, daß sie keiner menschlichen
Stimme gleicht und doch von allen gut verstanden wird, erfüllt den ganzen
heiteren Himmel dieses herrlichen Apriltages, tönt gewaltiger als die Akkorde
einer riesigen, wunderbar klingenden Orgel und verkündet: «Ich habe ihn
verherrlicht, und ich werde ihn wieder verherrlichen.»
Die Leute haben Angst bekommen.
Diese so mächtige Stimme, die die Erde und alles auf ihr erzittern läßt, diese
geheimnisvolle Stimme unbekannten Ursprungs, die so verschieden ist von allen
anderen, diese Stimme, die alles erfüllt, von Norden bis Süden, von Osten bis
Westen, erschreckt die Hebräer und versetzt die Heiden in Staunen. Erstere
werfen sich, so weit sie können, zu Boden und flüstern zitternd: «Nun werden
wir sterben. Wir haben die Stimme des Himmels vernommen. Ein Engel hat zu ihm
gesprochen.» Und sie schlagen sich an die Brust in Erwartung des Todes. Die
anderen rufen: «Ein Donnern! Ein Tosen! Fliehen wir! Die Erde grollt! Sie hat
gebebt!» Aber die Flucht ist unmöglich bei dem Andrang derer, die außerhalb
der Tempelmauer gewesen sind und nun herein wollen und schreien: «Erbarmen!
Schnell. Dies ist ein heiliger Ort. Der Berg, auf dem der Altar Gottes steht,
wird nicht bersten.» Jeder bleibt deshalb, wo er ist, wo ihn die Menge und der
Schrecken festhält.
Priester, Schriftgelehrte,
Pharisäer, Leviten und die Tempelwachen, die irgendwo im Labyrinth des Tempels
waren, eilen auf die Terrassen. Sie sind erregt und verstört, aber keiner von
ihnen geht zu den Leuten in die Vorhöfe, außer Gamaliel und sein Sohn. Jesus
sieht ihn vorübergehen in seinem ganz weißen, in der Sonne leuchtenden
Leinengewand.
Jesus sieht Gamaliel an und sagt
mit lauter Stimme, so als spreche er zu allen: «Nicht meinetwegen, sondern
euretwegen ist diese Stimme vom Himmel gekommen.»
Gamaliel bleibt stehen, wendet
sich um, und der Blick seiner tiefen
143
kohlschwarzen Augen – die die
Gewohnheit, ein verehrter Meister, ein Halbgott zu sein, unwillkürlich hart
wie Raubtieraugen hat werden lassen – begegnet dem klaren, saphirblauen,
sanften und doch majestätischen Blick Jesu...
Und Jesus fährt fort: «Nun ist
das Gericht über diese Welt. Nun wird der Fürst der Finsternis hinausgeworfen
werden. Und ich werde, wenn ich von der Erde erhöht bin, alle an mich ziehen,
denn so wird der Menschensohn erlösen.»
«Wir haben aus den
Gesetzesbüchern gelernt, daß der Christus in Ewigkeit leben wird. Du nennst
dich Christus und sagst, daß du sterben mußt. Weiter sagst du, daß du der
Menschensohn bist und erlösen wirst, wenn du erhöht bist. Wer bist du also?
Der Menschensohn oder der Christus? Wer ist der Menschensohn?» sagt die
Volksmenge, die sich nun wieder sicherer fühlt.
«Ich bin beides in einer Person.
Öffnet eure Augen dem Licht. Noch eine kleine Weile ist das Licht bei euch.
Geht der Wahrheit entgegen, solange ihr das Licht noch unter euch habt, damit
die Finsternis euch nicht überrasche. Die im Dunkeln wandeln, wissen nicht,
wohin sie gehen. Glaubt an das Licht, solange ihr es unter euch habt, damit
ihr Kinder des Lichtes werdet.» Er schweigt.
Die Leute sind unentschlossen und
verschiedener Ansicht. Die einen schütteln den Kopf und gehen fort. Die
anderen beobachten das Verhalten der Würdenträger, der Pharisäer, der obersten
Priester, der Schriftgelehrten... und besonders des Gamaliel und richten sich
danach. Wieder andere stimmen mit einem Kopfnicken zu, verneigen sich vor
Jesus, und bringen dadurch deutlich zum Ausdruck: «Wir glauben! Wir verehren
dich als den, der du bist.» Aber sie wagen es nicht, sich offen zu ihm zu
bekennen. Sie fürchten die aufmerksamen Augen der Feinde Christi, die
Mächtigen, die von den Terrassen über den herrlichen Säulenhallen, die die
Höfe des Tempels umgeben, alles beobachten und überwachen.
Auch Gamaliel, der einige Minuten
nachdenklich stehengeblieben ist und den Marmor des Bodens zu befragen
scheint, um von ihm eine Antwort auf seine inneren Fragen zu erhalten, begibt
sich nun zum Ausgang, nachdem er anscheinend enttäuscht oder verächtlich den
Kopf geschüttelt und die Achseln gezuckt hat... Er geht gerade an Jesus vorbei
und sieht ihn nicht mehr an.
Jesus dagegen betrachtet ihn
mitleidig... und erhebt noch einmal laut seine Stimme – sie klingt wie eine
bronzene Glocke – um allen Lärm zu übertönen und von dem großen
Schriftgelehrten gehört zu werden. Es scheint, daß er für alle spricht, aber
es ist offensichtlich, daß er nur für ihn allein spricht. Er sagt mit sehr
lauter Stimme: «Wer an mich glaubt, glaubt in Wahrheit nicht an mich, sondern
an den, der mich gesandt hat, und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt
hat. Und dieser ist der
144
Gott Israels! Denn es gibt keinen
Gott außer ihm. Deshalb sage ich: Wenn ihr nicht an mich glauben könnt als an
den, der genannt wird Sohn des Joseph des David und Sohn der Maria aus dem
Geschlecht Davids, der von dem Propheten geschauten Jungfrau; der geboren ist
zu Bethlehem, wie es bei dem Propheten geschrieben steht, dessen Vorläufer der
Täufer war, wie es ebenfalls seit Jahrhunderten geschrieben steht, dann glaubt
wenigstens der Stimme eures Gottes, der vom Himmel zu euch gesprochen hat.
Glaubt an mich als den Sohn dieses Gottes Israels. Wenn ihr dem nicht glaubt,
der vom Himmel zu euch gesprochen hat, dann beleidigt ihr nicht mich, sondern
euren Gott, dessen Sohn ich bin.
Bleibt nicht in der Finsternis.
Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht
in der Finsternis bleibe. Schafft euch nicht Gewissensbisse, die ihr nicht
wiedergutmachen könnt, wenn ich dorthin zurückgekehrt sein werde, von wo ich
gekommen bin. Es wäre eine harte Strafe Gottes für euren Starrsinn. Ich bin
bereit zu verzeihen, solange ich bei euch bin. Solange das Urteil noch nicht
gefällt ist und soweit es an mir liegt, habe ich den Wunsch zu verzeihen. Aber
die Gedanken meines Vaters sind anders. Denn ich bin die Barmherzigkeit, er
aber ist die Gerechtigkeit.
Wahrlich, ich sage euch, wer
meine Worte nicht hört und sie nicht bewahrt, den richte ich nicht. Denn ich
bin nicht gekommen, die Welt zu richten, sondern die Welt zu retten. Aber wenn
ich auch nicht richte, so sage ich euch in Wahrheit, daß es einen gibt, der
euch für eure Werke richtet. Mein Vater, der mich gesandt hat, richtet alle,
die sein Wort abweisen. Ja, wer mich verachtet und das Wort Gottes nicht
anerkennt und die Worte des Wortes nicht aufnimmt, der hat schon einen, der
ihn richtet: dasselbe Wort, das ich verkündet habe, wird euch am Jüngsten Tag
richten.
Gott läßt seiner nicht spotten.
Und der verspottete Gott wird furchtbar sein für alle, die ihn einen Irren und
Lügner genannt haben.
Denkt alle daran, daß die Worte,
die ihr von mir gehört habt, von Gott kommen. Denn ich habe nicht aus mir
selbst gesprochen, sondern der Vater, der mich gesandt hat, er selbst hat mir
aufgetragen, was ich sagen und was ich sprechen muß. Und ich gehorche seinem
Befehl, denn ich weiß, daß sein Befehl gerecht ist. Jedes Gebot Gottes
bedeutet ewiges Leben. Und ich, euer Meister, gebe euch ein Beispiel des
Gehorsams allen Geboten Gottes gegenüber. Seid daher gewiß, daß ich die Dinge,
die ich euch gesagt habe und euch sage, so gesagt habe und so sage, wie mein
Vater mir aufgetragen hat, sie euch zu sagen. Und mein Vater ist der Gott
Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott des Moses, der Patriarchen und der
Propheten, der Gott Israels, euer Gott.»
Worte des Lichtes, die in das
Dunkel fallen, das sich schon in den Herzen ausbreitet!
Gamaliel, der noch einmal
gesenkten Hauptes stehengeblieben ist, geht
145
wieder weiter... Andere folgen
ihm kopfschüttelnd oder hämisch lächelnd.
Auch Jesus geht... Zuerst aber
sagt er zu Judas von Kerioth: «Geh, wohin du gehen mußt» und zu den anderen:
«Jeder ist frei zu gehen, wohin er gehen muß oder gehen will. Die Hirtenjünger
sollen bei mir bleiben.»
«Oh, nimm auch mich mit dir,
Herr!» sagt Stephanus.
«Komm ...»
Sie trennen sich. Ich weiß nicht,
wohin Jesus geht. Aber ich weiß, wohin Judas von Kerioth geht. Er geht zu der
Schönen Pforte, steigt die vielen Stufen vom Vorhof der Heiden zu dem der
Frauen hinauf, durchquert diesen und schaut, nachdem er auf der anderen Seite
weitere Stufen hinaufgestiegen ist, in den Vorhof der Hebräer. Nun stampft er
zornig mit dem Fuß auf den Boden, weil er den, den er sucht, nicht findet. Er
kehrt zurück und sieht eine von den Tempelwachen. Er ruft sie zu sich und
befiehlt mit seiner üblichen Arroganz: «Geh zu Eleazar ben Annas. Er soll
sofort zum Schönen Tor kommen. Judas des Simon erwartet ihn dort aus
schwerwiegenden Gründen.»
Er lehnt sich an eine Säule und
wartet. Nicht lange, denn Eleazar, der Sohn des Annas, Elchias, Simon, Doras,
Cornelius, Sadok, Nahum und andere eilen bald mit wehenden Gewändern herbei.
Judas spricht leise aber erregt:
«Heute abend! Nach der Abendmahlzeit. In Gethsemane. Kommt und ergreift ihn.
Gebt mir das Geld.»
«Nein. Wir werden es dir heute
abend geben, wenn du uns holen kommst. Wir trauen dir nicht! Wir wollen, daß
du auf unserer Seite bist. Man kann nie wissen!» grinst Elchias. Die anderen
stimmen im Chor zu.
Judas glüht vor Zorn über diese
Unterstellung. Er schwört: «Ich schwöre bei Jahwe, daß ich die Wahrheit sage.»
Sadok antwortet ihm: «Gut. Aber
es ist besser so. Wenn es Zeit ist, kommst du, nimmst die für die
Gefangennahme vorgesehenen Häscher und gehst mit ihnen, damit die törichten
Wachen nicht etwa Lazarus festnehmen und wir Unannehmlichkeiten bekommen. Du
wirst ihnen durch ein Zeichen den Mann zu erkennen geben ... Du mußt
verstehen: Es ist Nacht... es wird wenig Licht geben ... die Wachen werden
müde sein, schläfrig... Aber wenn du sie führst! ... Was meint ihr?» Der
heimtückische Sadok wendet sich an die Gefährten und sagt: «Ich würde als
Zeichen einen Kuß vorschlagen. Einen Kuß! Das beste Zeichen, um den verratenen
Freund zu bezeichnen. Ha, ha, ha!»
Alle lachen. Ein Chor
hohnlachender Dämonen.
Judas ist wütend. Aber er kann
nicht mehr zurück. Er kann nicht mehr. Er leidet unter ihrem Spott, nicht
dessentwegen, was er zu tun im Begriff ist. Er sagt: «Aber vergeßt nicht, daß
ich die abgezählten Münzen in der Börse will, bevor ich mit den Wachen hier
hinausgehe.»
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«Du wirst sie bekommen. Du wirst
sie bekommen! Auch die Börse werden wir dir geben, damit du die Münzen wie
Reliquien deiner Liebe aufbewahren kannst. Ha, ha, ha! Leb wohl, Schlange!»
Judas ist grün vor Zorn. Er ist
schon grün im Gesicht. Und er wird diese Farbe und diesen Ausdruck
verzweifelten Schreckens nun nicht mehr verlieren. Dieser Ausdruck wird
vielmehr von Stunde zu Stunde immer ausgeprägter werden, bis er nicht mehr
anzusehen sein wird, wenn er am Baum hängt... Er flieht davon...
Jesus hat sich in den Garten
eines befreundeten Hauses geflüchtet. Ein ruhiger Garten bei den ersten
Häusern von Sion. Hohe alte Mauern umgeben ihn. Es ist still und frisch. Die
Zweige der alten Bäume bewegen sich leicht. Eine Frauenstimme in der Nähe
singt ein sanftes Wiegenlied.
Es müssen Stunden vergangen sein,
denn die Diener des Lazarus, die, ich weiß nicht woher, zurückkehren, sagen:
«Deine Jünger sind schon in dem Haus, in dem das Abendmahl bereitet wird.
Johannes, der mit uns den Kindern der Johanna des Chuza das Obst gebracht hat,
ist gegangen, um die Frauen abzuholen. Er begleitet sie zu Joseph des Alphäus,
der erst heute gekommen ist, als seine Mutter schon nicht mehr damit rechnete,
ihn zu sehen, und dann von dort zum Haus des Abendmahls, denn es ist schon
Abend.»
«Auch wir werden gehen. Die
Stunde des Abendmahls ist gekommen ...» Jesus erhebt sich und legt seinen
Mantel um.
«Meister, draußen sind Leute.
Leute vom Census. Sie möchten dich sprechen, ohne von den Pharisäern gesehen
zu werden», sagt ein Diener.
«Laß sie hereinkommen. Esther
wird nichts dagegen haben. Nicht wahr, Frau?» fragt Jesus und wendet sich an
eine reife Frau, die gerade herbeieilt, um ihn zu begrüßen.
«Nein, Meister. Mein Haus ist
dein Haus, du weißt es. Du hast viel zu wenig Gebrauch davon gemacht.»
«Genug, um mir sagen zu können:
es war das Haus von Freunden.» Er gebietet dem Diener: «Führe die Wartenden
herein.»
Ungefähr dreißig Personen
vornehmen Aussehens kommen herein. Sie grüßen und einer spricht für alle:
«Meister, deine Worte haben uns erschüttert. Wir haben in dir die Stimme
Gottes erkannt. Aber sie nennen uns Verrückte, weil wir an dich glauben. Was
sollen wir also tun?»
«Wer an mich glaubt, glaubt nicht
an mich, sondern an den, der mich gesandt hat und dessen allerheiligste Stimme
ihr heute gehört habt. Wer mich sieht, sieht nicht mich, sondern den, der mich
gesandt hat, denn ich bin eins mit meinem Vater. Daher sage ich euch, daß ihr
glauben müßt, um Gott nicht zu beleidigen, der mein und euer Vater ist und
euch so sehr liebt, daß er sogar seinen Eingeborenen für euch opfert. Wenn es
auch in den Herzen Zweifel darüber gibt, ob ich Christus bin, so gibt es doch
keinen Zweifel, daß Gott im Himmel ist. Und die Stimme Gottes, den ich
147
heute im Tempel Vater genannt
habe und den ich gebeten habe, seinen Namen zu verherrlichen, hat dem
geantwortet, der ihn Vater nannte, und hat mich nicht als Lügner oder
Gotteslästerer bezeichnet, wie es viele tun. Gott hat bestätigt, wer ich bin.
Sein Licht. Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit alle, die
an mich glauben, nicht im Finstern bleiben. Wer meine Worte hört und sie nicht
bewahrt, den richte ich nicht. Ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten,
sondern sie zu retten. Wer mich verachtet und meine Worte nicht aufnimmt, hat
einen, der ihn richtet. Das von mir verkündete Wort wird euch am Jüngsten Tag
richten. Denn es war weise, vollkommen, sanft und einfach, so wie Gott ist.
Denn dieses Wort ist Gott. Nicht ich habe gesprochen, Jesus von Nazareth,
genannt der Sohn des Zimmermanns Joseph aus dem Geschlecht Davids und Sohn der
Maria, der dem Joseph angetrauten Jungfrau aus dem Geschlecht Davids. Nein,
ich habe nicht aus mir selbst gesprochen. Sondern mein Vater, der im Himmel
ist und Jahwe genannt wird, er ist es, der heute gesprochen hat und der mir
aufgetragen hat, was ich sagen soll und wovon ich sprechen muß. Ich weiß, daß
sein Gebot ewiges Leben bedeutet. Die Worte, die ich sage, sage ich so, wie
der Vater sie mir gesagt hat, und in ihnen ist das Leben. Daher sage ich euch:
Hört sie an und befolgt sie, dann werdet ihr das Leben haben. Denn mein Wort
ist Leben. Wer es annimmt, nimmt mit mir zusammen den Vater im Himmel an, der
mich gesandt hat, um euch das Leben zu schenken. Wer Gott in sich hat, hat das
Leben in sich. Geht. Der Friede komme über euch und bleibe bei euch.»
Er segnet und entläßt sie. Er
segnet auch die Jünger und hält nur Isaak und Stephanus zurück. Die anderen
küßt und entläßt er. Als sie gegangen sind, macht er sich als letzter zusammen
mit den beiden auf den Weg und geht durch die einsamsten und schon finsteren
Gäßchen zum Haus des Abendmahls. Dort angekommen, umarmt und segnet er Isaak
und Stephanus besonders liebevoll, küßt sie, segnet sie noch einmal und schaut
ihnen nach, wie sie fortgehen. Dann klopft er an und betritt das Haus...
659. BESCHREIBUNG DES
ABENDMAHLSAALES; ABSCHIED VON DER MUTTER VOR DEM LETZTEN ABENDMAHL
Ich sehe den Abendmahlsaal, in
dem das Passahmahl gehalten werden soll. Ich sehe ihn sehr genau. Ich könnte
alle Risse in den Wänden und die Sprünge im Boden zählen. Es ist ein nicht
ganz quadratischer, aber auch nicht ganz rechteckiger Saal. Es besteht ein
Unterschied von höchstens etwa einem Meter oder etwas mehr zwischen der Längs-
und der Querseite.
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Die Decke ist niedrig. Vielleicht
sieht es auch wegen seiner Größe so aus, der die Höhe nicht entspricht. Die
Decke ist leicht gewölbt, so daß die beiden kürzeren Seiten nicht im rechten
Winkel zur Decke enden, sondern in einer Rundung.
An diesen beiden kürzeren Seiten
sind zwei breite, niedrige, einander gegenüberliegende Fenster. Ich kann nicht
sehen, ob sie auf einen Hof oder auf eine Straße schauen, denn zu dieser
Stunde sind die Läden geschlossen. Ich habe gesagt: Läden. Ich weiß nicht, ob
diese Bezeichnung richtig ist. Es sind Bretter, die durch eine darübergelegte
Eisenstange befestigt sind. Der Fußboden besteht aus großen viereckigen
Terrakotta-Ziegeln, die im Lauf der Zeit matt geworden sind. Von der Mitte der
Decke hängt eine mehrarmige Öllampe. Eine der beiden längeren Wände ist ohne
Öffnung. In der anderen ist eine kleine Tür, ganz in der Ecke, zu der man
sechs Stufen ohne Geländer hinaufsteigt. Sie enden in einer kleinen Plattform
von einem Quadratmeter Größe, auf der sich an der Wand eine weitere Stufe in
gleicher Höhe mit der Tür befindet. Ich weiß nicht, ob ich das richtig erklärt
habe.
Die Wände sind einfach weiß
gestrichen, ohne Verzierungen oder Muster. In der Mitte des Saales, parallel
zu den längeren Wänden, steht ein großer, rechteckiger, im Verhältnis zu
seiner Breite sehr langer Tisch aus einfachstem Holz. An den längeren Wänden
stehen die Sitze, an den kürzeren Wänden befindet sich auf einer Seite unter
einem Fenster eine Art Truhe, und darauf Schüsseln und Krüge, und unter dem
anderen Fenster eine niedrige, lange Anrichte, auf der noch nichts steht.
Das ist die Beschreibung des
Saales, in dem das Ostermahl gehalten werden wird.
Den ganzen Tag sehe ich schon
alles so genau, daß ich sogar die Stufen gezählt und alle
Einzelheiten betrachtet habe.
Nun, da die Nacht hereinbricht, läßt mich mein Jesus auch alles übrige sehen.
Ich sehe, daß man von dem Saal
über die sechs Stufen in einen dunklen Gang gelangt, der links durch eine
breite, niedrige und sehr massive, mit Eisenbeschlägen versehene Tür auf die
Straße führt. Gegenüber dem Türchen, das vom Abendmahlsaal in den Gang führt,
ist eine weitere Tür, die in einen anderen, nicht so großen Raum führt. Ich
würde sagen, daß der Abendmahlsaal teilweise ausgeschachtet wurde aus einem
Höhenunterschied zwischen dem Erdboden und dem Rest des Hauses und der Straße.
Er liegt zur Hälfte unter dem Niveau des Bodens, wie ein besserer,
hergerichteter Keller, immerhin gut einen Meter niedriger als das Gelände,
vielleicht um ihn höher und proportionierter erscheinen zu lassen im Vergleich
zu seiner Größe.
In dem Raum, den ich nun sehe,
ist Maria mit anderen Frauen. Ich erkenne Magdalena und Maria, die Mutter des
Jakobus, Judas und Simon.
149
Es scheint, als seien sie soeben
in Begleitung von Johannes angekommen, denn sie ziehen die Mäntel aus und
legen sie gefaltet auf die da und dort im Saal stehenden Hocker, während sie
den Apostel, der wieder geht, grüßen, und auch einen Mann und eine Frau, die
bei ihrer Ankunft herbeigeeilt sind und von denen ich glaube, daß sie die
Besitzer des Hauses und Jünger oder zumindest dem Nazarener wohlgesinnt sind.
Denn sie bemühen sich respektvoll und doch vertraulich um Maria.
Diese ist in Dunkelblau
gekleidet, ein sehr dunkles Indigo. Auf dem Kopf hat sie einen weißen
Schleier, den man erst sieht, als sie den Mantel ablegt, der auch ihr Haupt
bedeckt. Ihr Gesicht ist sehr mager geworden. Sie scheint gealtert und sehr
traurig, obgleich sie sanft lächelt. Sie ist sehr bleich. Auch die Bewegungen
sind müde und unsicher, wie die eines in Gedanken versunkenen Menschen.
Durch die halbgeöffnete Tür sehe
ich den Besitzer des Hauses, der hin- und hergeht im Gang und im
Abendmahlsaal, diesen hell erleuchtet und alle Arme des Leuchters anzündet.
Dann geht er an die Tür zur Straße und öffnet sie. Jesus und die Apostel
kommen herein. Ich sehe, daß es Abend ist, denn die Schatten der Nacht sinken
schon hernieder in der engen Gasse zwischen den hohen Häusern. Alle Apostel
sind bei ihm.
Jesus grüßt den Eigentümer mit
seinem üblichen Gruß: «Der Friede sei mit diesem Haus», und während die
Apostel in den Abendmahlsaal hinuntergehen, betritt er den Raum, in dem sich
Maria befindet.
Die frommen Frauen grüßen mit
tiefer Ehrerbietung, gehen hinaus und schließen die Tür, um Mutter und Sohn
allein zu lassen.
Jesus umarmt seine Mutter und
küßt sie auf die Stirn. Maria küßt zuerst die Hand ihres Sohnes und dann seine
rechte Wange. Jesus fordert Maria auf, sich zu setzen und setzt sich dann
neben sie auf einen Hocker. Er fordert sie auf, sich zu setzen und hält dabei
ihre Hand; und er läßt sie auch nicht los, als Maria sich gesetzt hat.
Auch Jesus ist gedankenverloren,
traurig und nachdenklich, obwohl er sich bemüht zu lächeln. Maria beobachtet
ihn angstvoll. Arme Mama, die durch die Gnade Gottes und durch die Liebe die
Bedeutung dieser Stunde erfaßt. Ihr Gesicht verkrampft sich vor Schmerz, und
ihre Augen weiten sich in einer inneren angstvollen Schau. Aber sie macht
keine Szene. Sie ist majestätisch wie ihr Sohn. Er spricht zu ihr. Er grüßt
sie und empfiehlt sich ihrem Gebet.
«Mama, ich bin gekommen, um Kraft
und Trost bei dir zu holen. Ich bin wie ein kleines Kind, Mama, das das Herz
der Mutter für seinen Schmerz braucht und den Schoß der Mutter, um Kraft zu
schöpfen. Ich bin in dieser Stunde wieder dein kleiner Jesus von einst. Ich
bin nicht der Meister, Mama. Ich bin nur dein Sohn, wie in Nazareth, als ich
noch klein war, wie in Nazareth vor dem Ende des verborgenen Lebens. Ich habe
nur dich. Die Menschen sind in diesem Augenblick keine Freunde deines Jesus
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und nicht treu. Sie haben nicht
einmal den Mut zum Guten. Nur die Bösen sind ausdauernd und stark in ihren
bösen Werken. Aber du bist mir treu und bist in dieser Stunde meine Stärke,
Mama. Hilf mir mit deiner Liebe und deinem Gebet. Von all denen, die mich mehr
oder weniger lieben, weißt nur du in dieser Stunde zu beten. Zu beten und zu
verstehen. Die anderen feiern und sind ganz von festlichen Gedanken oder
verbrecherischen Plänen erfüllt, während ich aus so vielen Gründen leide.
Viele Dinge werden nach dieser Stunde sterben. Unter anderem der schwache
Mensch in ihnen. Dann werden sie meiner würdig sein, alle, bis auf den, der
verloren ist und den keine Macht wenigstens zur Reue zurückzuführen vermag.
Aber jetzt sind sie noch schwerfällige Menschen, die nicht fühlen, daß ich
sterbe, während sie jubeln und glauben, daß mein Triumph näher denn je
bevorsteht. Die Hosanna von vor wenigen Tagen haben sie trunken gemacht. Mama,
für diese Stunde bin ich gekommen, und aus der Sicht des Übernatürlichen gehe
ich ihr freudig entgegen. Aber mein Inneres fürchtet sie auch, denn dieser
Kelch heißt: Verrat, Verleugnung, Gewalt, Lästerung und Verlassenheit. Steh
mir bei, Mama. Wie damals, als dein Gebet den Heiligen Geist auf dich
herabgerufen hat und du dadurch der Welt den von den Völkern Erwarteten
geschenkt hast. Ziehe nun auf deinen Sohn die Kraft herab, die mir hilft, das
Werk zu vollbringen, um dessentwillen ich gekommen bin. Mama, leb wohl. Segne
mich, Mama; auch anstelle des Vaters. Und verzeihe allen. Wir wollen
miteinander verzeihen. Schon jetzt wollen wir unseren Peinigern verzeihen.»
Jesus ist, während er gesprochen
hat, zu Füßen seiner Mutter auf die Knie gesunken, schaut sie an und umarmt
sie.
Maria weint lautlos, das Antlitz
leicht erhoben in einem stillen Gebet zu Gott. Die Tränen rinnen über die
bleichen Wangen und fallen in ihren Schoß und auf das Haupt Jesu, das an ihrem
Herzen ruht. Maria legt ihre Hand auf das Haupt Jesu, wie um es zu segnen, und
beugt sich dann hinab, um sein Haar zu küssen. Sie streichelt sein Haar, seine
Schultern und seine Arme, nimmt dann sein Antlitz in die Hände, wendet es zu
sich und drückt es an ihr Herz. Sie küßt ihn nochmals unter Tränen auf die
Stirn, die Wangen und die schmerzerfüllten Augen und wiegt das arme, müde
Haupt, als ob er ein Kind wäre, so wie ich sie in der Höhle das göttliche Kind
habe in den Schlaf wiegen sehen. Aber diesmal singt sie nicht. Sie sagt nur
mit herzzerreißender Stimme: «Sohn! Sohn! Jesus! Mein Jesus!»
Schließlich erhebt sich Jesus
wieder. Er bringt seinen Mantel in Ordnung, bleibt vor Maria stehen, die immer
noch weint, und segnet sie seinerseits. Dann geht er zur Tür. Vor dem
Hinausgehen sagt er: «Mama, ich werde noch einmal kommen, bevor ich mein
Passah feiere. Warte auf mich und bete.» Und er geht hinaus.
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660. DAS PASSAHMAHL
Es beginnt das Leiden des
Gründonnerstag.
Die Apostel, zehn von ihnen, sind
eifrig mit der Vorbereitung des Abendmahlsaales beschäftigt. Judas ist auf den
Tisch geklettert und sieht nach, ob alle Behälter des großen Leuchters mit Öl
gefüllt sind. Der Leuchter gleicht einer doppelten Fuchsienblüte, denn fünf
Lämpchen in Form von Blütenblättern sitzen rings um einen Stiel. Darunter ist
eine zweite Reihe, ein Krönchen aus kleinen Flammen, und ganz unten
schließlich hängen an Ketten drei noch kleinere Lämpchen, die die Staubgefäße
der leuchtenden Blume bilden. Dann springt Judas mit einem Satz herunter und
hilft Andreas, das Geschirr künstlerisch auf dem Tisch zu verteilen, nachdem
sie zuvor eine kostbare Tischdecke ausgebreitet haben. Ich höre Andreas sagen:
«Was für eine herrliche Leinwand.»
Und Iskariot: «Eine der besten
des Lazarus. Martha wollte sie unbedingt bringen.»
«Und diese Kelche, und diese
Amphoren!» bemerkt Thomas, der den Wein in die kostbaren Krüge geschüttet hat
und sie nun betrachtet, sich in den schlanken Rundungen spiegelt und die
ziselierten Griffe mit Kennerblick liebkost.
«Wer weiß, wieviel sie wert
sind», bemerkt Judas Iskariot.
«Sie sind gehämmert. Mein Vater
wäre begeistert. Silber und Gold in Folien lassen sich leicht biegen, wenn sie
heiß sind. Aber wenn man sie so verarbeitet... In einem Augenblick kann man
alles zerstören. Ein ungeschickter Schlag genügt. Da braucht es Kraft und
Gewandtheit zugleich. Siehst du die Griffe? Herausgearbeitet. Nicht angelötet.
Etwas für Reiche... Von der groben Vorarbeit und dem Feilen ist keine Spur
mehr zu sehen. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst.»
«Und ob ich dich verstehe! Es ist
wie bei einem Bildhauer.»
«Genau so.»
Alle bewundern die Amphore. Dann
kehren sie zu ihrer Arbeit zurück. Die einen stellen die Stühle auf, die
anderen bereiten die Anrichten vor.
Petrus und Simon kommen
gleichzeitig herein.
«Oh, da seid ihr endlich! Wo wart
ihr denn schon wieder? Nachdem wir mit dem Meister hier angekommen sind, seid
ihr noch einmal verschwunden», sagt Iskariot.
«Noch eine Obliegenheit vor dem
Mahl», antwortet Simon kurz.
«Hast du Kummer?»
«Ich glaube, daß wir bei dem, was
wir in diesen Tagen gehört haben, und aus dem Mund, der nie lügt, allen Grund
dazu haben.»
«Und bei dem Gestank von...
Petrus, reiß dich zusammen», murmelt Petrus zwischen den Zähnen.
«Auch du... ! Du scheinst mir
seit einigen Tagen von Sinnen zu sein. Du
152
hast das Gesicht eines Feldhasen,
der hinter sich den Schakal spürt», antwortet Judas Iskariot.
«Und du siehst aus wie ein
scheuer Fuchs. Auch du bist seit einigen Tagen nicht besonders schön. Du
schaust so eigenartig drein. Du schielst direkt... Wen erwartest du oder wen
hoffst du zu sehen? Du scheinst selbstsicher, willst selbstsicher erscheinen,
aber du gleichst einem, der Angst hat», entgegnet Petrus.
«Oh, was die Angst betrifft: Auch
du bist gewiß kein Held!»
«Keiner von uns ist es, Judas. Du
trägst den Namen des Makkabäers, aber du bist kein Held. Mein Name bedeutet:
"Gott erweist Gnade" ' aber ich schwöre dir, innerlich zittere ich wie einer,
der das Unglück mit sich herumträgt und der vor allem bei Gott in Ungnade
gefallen ist. Simon des Jonas, der den Namen "der Fels" erhalten hat, ist nun
weich geworden wie Wachs über dem Feuer. Und sein Wille reicht nicht aus, daß
er sich wieder faßt. Und wer hat ihn je ängstlich gesehen beim schlimmsten
Sturm? Matthäus, Bartholomäus und Philippus gleichen Schlafwandlern. Mein
Bruder und Andreas seufzen nur noch. Schau dir die beiden Vettern an, sie
leiden nicht nur aus Liebe zum Meister, sondern auch als Verwandte. Sie
gleichen schon alten Männern. Thomas hat seinen ganzen Frohsinn verloren.
Simon scheint wieder der Aussätzige von vor drei Jahren zu sein, so sehr hat
ihn der Schmerz angegriffen, ich würde sagen, ausgehöhlt, entmutigt»,
antwortet ihm Johannes.
«Ja, er hat uns alle angesteckt
mit seiner Melancholie», bemerkt Iskariot.
«Mein Vetter Jesus, mein und euer
Meister und Herr, ist und ist auch wieder nicht melancholisch. Wenn du damit
meinst, daß er traurig ist über den allzu großen Schmerz, den ihm ganz Israel
zufügt und den wir sehen, und über den anderen verborgenen Schmerz, den nur er
kennt, dann sage ich dir: "Du hast recht." Aber wenn du mit diesem Wort sagen
willst, daß er verrückt ist, dann verbiete ich dir das», sagt Jakobus des
Alphäus.
«Ist eine melancholische fixe
Idee nicht Verrücktheit? Ich habe auch die weltlichen Wissenschaften studiert
und kenne mich aus. Er hat zu viel gegeben. Nun ist sein Geist müde.»
«Das heißt wohl, daß er
schwachsinnig geworden ist, nicht wahr?» fragt der andere Vetter Judas
anscheinend ganz ruhig.
«Genau das! Dein Vater, der
Gerechte seligen Angedenkens, dem du so sehr gleichst in deiner Gerechtigkeit
und Weisheit, hat es richtig gesehen. Jesus – und das ist das traurige
Schicksal vornehmer, aber zu alter und auch geistig altersschwacher Familien –
hat immer zu dieser Krankheit geneigt. Zuerst hat sie sich nur wenig bemerkbar
gemacht, dann immer stärker. Du hast ja gesehen, wie er Pharisäer und
Schriftgelehrte, Sadduzäer und Herodianer angegriffen hat. Er macht sich
selbst das Leben
153
schwer und wirft sich Prügel in
den Weg. Er selbst tut es. Wir... wir haben ihn so sehr geliebt, daß uns die
Liebe blind gemacht hat. Aber die, die ihn nicht so abgöttisch liebten: dein
Vater, dein Bruder Joseph und vor allen anderen Simon, haben richtig
gesehen... Die Augen hätten uns aufgehen sollen bei ihren Worten. Dagegen
haben wir uns vom sanften Zauber eines Kranken verführen lassen. Und nun...
Au!»
Judas Thaddäus, der so groß ist
wie Iskariot, ihm genau gegenübersteht und ihm anscheinend ruhig zuhört, fährt
plötzlich auf und schleudert Judas mit einer gewaltigen Ohrfeige rücklings auf
einen der Sitze. Dann beugt er sich über den Feigling, der sich nicht wehrt,
da er vielleicht fürchtet, Thaddäus könnte sein Verbrechen kennen, und zischt
ihm ins Gesicht: «Das ist für den Schwachsinn, du Schlange! Nur weil Passah
ist und er nebenan, schlage ich dich nicht in Stücke! Aber merke es dir, merke
es dir gut! Wenn ihm etwas zustößt und er nicht mehr da ist, um mich in Schach
zu halten, dann kann dir niemand mehr helfen. Es ist, als hätte man dir schon
die Schlinge um den Hals gelegt, und meine ehrlichen und starken
Handwerkerhände eines Galiläers und Abkömmlings des Siegers über Goliath
werden sie zuziehen! Steh auf, du schamloser Feigling! Und richte dich
danach!»
Judas steht auf, ganz grün im
Gesicht, aber ohne die geringste Reaktion. Und was mich am meisten verwundert,
keiner protestiert gegen das ungewohnte Benehmen des Thaddäus. Im Gegenteil...
Es ist offensichtlich, daß alle damit einverstanden sind.
Kaum ist die Ruhe
wiederhergestellt, kommt Jesus herein. Er erscheint auf der Schwelle der
kleinen Tür, die für ihn fast nicht hoch genug ist, betritt die kleine
Plattform, breitet die Arme aus und sagt mit seinem sanften, traurigen
Lächeln: «Der Friede sei mit euch!» Seine Stimme ist müde, wie die eines
Menschen, der seelisch und körperlich leidet.
Er steigt die sechs Stufen
hinunter und streichelt das blonde Haupt des Johannes, der ihm entgegengeeilt
ist. Er lächelt, als ob er von nichts wüßte, seinem Vetter Judas zu und sagt
zu dem anderen Vetter: «Deine Mutter läßt dich bitten, sanftmütig mit Joseph
zu sein. Er hat die Frauen nach mir und nach dir gefragt. Es tut mir leid, daß
ich ihn nicht begrüßen konnte.»
«Das kannst du morgen noch tun.»
«Morgen? ... Aber es wird noch
Zeit sein, ihn zu sehen... Oh, Petrus! Endlich können wir etwas beisammen
sein. Seit gestern kommst du mir wie ein Irrlicht vor. Ich sehe dich, dann
sehe ich dich wieder nicht. Heute kann ich fast sagen, dich verloren zu haben.
Auch dich, Simon.»
«Unsere mehr weißen als schwarzen
Haare können dir die Sicherheit geben, daß wir uns nicht aus fleischlichem
Hunger entfernt haben», sagt Simon ernst.
«Was das betrifft... kann man
diesen Hunger in jedem Alter haben...
154
Die Alten sind oft schlimmer als
die Jungen ...» sagt Iskariot in beleidigendem Ton.
Simon schaut ihn an und will
etwas entgegnen. Aber auch Jesus schaut ihn an und sagt: «Hast du
Zahnschmerzen? Deine rechte Wange ist rot und geschwollen.»
«Ja, ich habe Schmerzen. Aber es
ist nicht der Rede wert.»
Die anderen sagen nichts, und die
Sache ist beendet.
«Habt ihr alles erledigt, was zu
tun war? Du, Matthäus? Und du, Andreas? Und du, Judas, hast du an das Opfer
für den Tempel gedacht?»
Sowohl die beiden ersteren als
auch Iskariot antworten: «Wir haben alles getan, was du uns für heute
aufgetragen hast. Sei beruhigt.»
«Ich habe die ersten Früchte des
Lazarus zu Johanna des Chuza gebracht. Für die Kinder. Sie haben mir gesagt:
"Aber die Äpfel damals waren besser." Sicher, sie hatten den Geschmack des
Hungers. Und es waren deine Äpfel!» sagt Johannes lächelnd und verträumt.
Auch Jesus lächelt bei der
Erinnerung...
«Ich habe Nikodemus und Joseph
gesehen», sagt Thomas.
«Du hast sie gesehen? Du hast mit
ihnen gesprochen?» fragt Iskariot mit übertriebenem Interesse.
«Ja. Was ist daran sonderbar?
Joseph ist ein guter Kunde meines Vaters.»
«Du hast das vorher nicht
gesagt... Deshalb war ich erstaunt... !» Judas versucht die merkliche Angst zu
vertuschen, die ihm die Begegnung von Joseph und Nikodemus mit Thomas
eingejagt hat.
«Es wundert mich, daß sie nicht
hergekommen sind, um dir zu huldigen. Sie nicht, Chuza nicht, Manaen nicht...
Keiner von...»
Doch Iskariot unterbricht
Bartholomäus mit einem falschen Lachen und sagt: «Das Krokodil zieht sich
rechtzeitig in seinen Schlupfwinkel zurück.»
«Was willst du damit sagen?
Worauf spielst du an?» fragt Simon so aggressiv wie nie zuvor.
«Friede! Friede! Was habt ihr
denn? Es ist der Abend des Passahfestes. Noch nie haben wir das Lamm in einem
so würdigen Rahmen verzehrt. Nehmen wir also das Abendmahl im Geist des
Friedens ein. Ich sehe, daß ich euch mit meinen Unterweisungen der letzten
Abende sehr beunruhigt habe. Aber wie ihr seht, habe ich sie beendet. Nun
werde ich euch nicht mehr beunruhigen. Es ist zwar noch nicht alles gesagt,
was sich auf mich bezieht. Nur das Wesentliche. Das übrige werdet ihr später
verstehen. Es wird euch gesagt werden... Ja, es wird einer kommen, der es euch
sagt. Johannes, geh mit Judas und einigen anderen und hole die Becken für die
Reinigung. Dann wollen wir uns zu Tisch setzen.» Jesus ist von einer
ergreifenden Sanftmut.
Johannes, Andreas, Judas Thaddäus
und Jakobus bringen das große
155
Becken, gießen Wasser hinein und
reichen Jesus und den Gefährten die Handtücher. Danach machen sie es umgekehrt
und stellen dann das metallene Becken in eine Ecke.
«Und nun jeder an seinen Platz.
Ich hier, Johannes zu meiner Rechten, auf der anderen Seite mein getreuer
Jakobus – die beiden ersten Jünger. Nach Johannes mein starker Fels, und nach
Jakobus jener, der der Luft gleicht. Man bemerkt ihn nicht, aber er ist immer
da und spendet Trost: Andreas. Neben ihm mein Vetter Jakobus. Du bist nicht
betrübt, mein lieber Bruder, wenn ich die ersten Plätze den ersten Jüngern
gebe? Du bist der Neffe des Gerechten, dessen Geist über mir schwebt und der
mir in dieser Stunde näher ist denn je. Sei im Frieden, du Vater des schwachen
Kindes, du Eiche, in deren Schatten Mutter und Sohn Erquickung fanden! Sei im
Frieden... ! Nach Petrus, Simon... Simon, komm einen Augenblick hierher. Ich
will dein treues Gesicht betrachten. Später werde ich dich nur schlecht sehen
können, denn andere werden mir dein ehrliches Gesicht verdecken. Danke, Simon,
für alles», und Jesus küßt ihn.
Als er ihn losläßt, geht Simon an
seinen Platz und schlägt einen Augenblick, von Trauer überwältigt, die Hände
vors Gesicht.
«Simon gegenüber, mein
Bartholomäus. Zwei Rechtschaffene und zwei Weise, die sich ineinander
spiegeln. Sie passen gut zusammen. Daneben du, mein Bruder Judas. So kann ich
dich sehen... und glaube, in Nazareth zu sein... als die Feste uns alle an
einem Tisch vereinten... Auch zu Kana... Erinnerst du dich? Wir waren
beisammen. Ein Fest... ein Hochzeitsfest... das erste Wunder... das in Wein
verwandelte Wasser... Auch heute ein Fest... Und auch heute wird es ein Wunder
geben... Der Wein wird sich verwandeln... und wird zu...»
Jesus versinkt in Gedanken. Mit
seinem gebeugten Haupt scheint er allein zu sein in seiner verborgenen Welt.
Die anderen sehen ihn an und sagen nichts.
Dann erhebt er das Haupt wieder
und sieht Judas Iskariot fest an und sagt: «Du wirst mir gegenüber sitzen.»
«So sehr liebst du mich? Mehr als
Simon, da du mich immer vor Augen haben willst?»
«So sehr, du hast es gesagt.»
«Warum, Meister?»
«Weil du derjenige bist, der mehr
als alle anderen zu dieser Stunde beigetragen hat.»
Judas schaut den Meister und die
Gefährten mit Blicken sehr verschiedener Art an. Den Meister mit etwas
ironischem Mitleid, die anderen mit sieghafter Miene.
«Und neben dir auf der einen
Seite Matthäus und auf der anderen Thomas.»
156
«Also dann Matthäus zu meiner
Linken und Thomas zu meiner Rechten.»
«Wie du willst, wie du willst»,
sagt Matthäus. «Es genügt mir, wenn ich meinen Erlöser vor mir habe.»
«Zuletzt Philippus. So, seht ihr?
Wer nicht die Ehre hat, an meiner Seite zu sitzen, der hat die Ehre, mir
gegenüber zu sitzen.»
Jesus, der sehr gerade an seinem
Platz sitzt, gießt Wein in den großen Kelch, der vor ihm steht. Alle haben
hohe Kelche vor sich, aber der Kelch Jesu ist sehr viel größer als die
übrigen: es muß wohl der rituelle Kelch sein. Er erhebt den Kelch, opfert ihn
und stellt ihn wieder auf den Tisch.
Alle fragen nun miteinander in
psalmodierendem Ton: «Warum diese Zeremonie?» Eine formelle Frage, die zum
Ritus gehört, versteht sich.
Worauf Jesus als
Familienoberhaupt antwortet: «Dieser Tag erinnert uns an die Befreiung aus
Ägypten. Jahwe sei gepriesen, der die Früchte des Weinstocks geschaffen hat.»
Er trinkt einen Schluck von diesem aufgeopferten Wein und reicht den Kelch den
anderen. Dann opfert er das Brot, bricht es und verteilt es, ebenso die
Kräuter, die er in eine rötliche Sauce taucht, die sich in vier Schüsselchen
befindet.
Nach Beendigung dieses Teils des
Mahles singen alle im Chor Psalmen. Dann bringt man von der Anrichte die große
Platte mit dem gebratenen Lamm und stellt sie vor Jesus.
Petrus, der... sozusagen die
Hauptrolle im Chor spielt, fragt nun: «Warum dieses Lamm?»
«Zum Andenken daran, daß Israel
durch das geschlachtete Lamm gerettet wurde. Kein Erstgeborener wurde getötet,
wo das Blut an Türpfosten und Türsturz glänzte. Und danach, als ganz Ägypten,
vom Palast bis in die elendste Hütte, die tote Erstgeburt beweinte, zogen die
Hebräer, geführt von Moses, zum Land der Freiheit und der Verheißung. Die
Lenden gegürtet, Schuhe an den Füßen und den Wanderstab in den Händen, machte
sich das Volk Abrahams unter Hymnen der Freude auf den Weg.»
Alle erheben sich nun und stimmen
an: «Als Israel zog aus Ägypten, Jakobs Stamm aus dem fremden Volk: Zum
Heiligtum ward Juda» usw. usw.
Nun zerlegt Jesus das Lamm, füllt
nochmals den Kelch und reicht ihn, nachdem er getrunken hat, weiter. Sie
singen jetzt: «Ihr Diener des Herrn, lobsinget dem Namen des Herrn! Der Name
des Herrn sei gepriesen, jetzt und in Ewigkeit. Vom Aufgang der Sonne bis zum
Niedergang: der Name des Herrn sei gepriesen» usw.
Jesus teilt aus und achtet
darauf, daß jeder seinen Teil erhält; wie ein Familienvater unter seinen
Kindern, die er alle liebt. Er ist feierlich, ein wenig traurig, während er
sagt: «Sehnlichst habe ich danach verlangt, dieses Ostermahl mit euch zu
essen. Es war mein größter Wunsch seit aller Ewigkeit, da ich "der Erlöser"
war. Ich wußte, daß diese Stunde der anderen
157
vorausgehen würde, und die
Freude, mich hinzugeben, bedeutete schon im voraus Linderung meiner Leiden...
Sehnlichst habe ich danach verlangt, mit euch dieses Ostermahl zu essen, denn
nie mehr werde ich von der Frucht des Rebstocks kosten, bis das Reich Gottes
gekommen ist. Dann werde ich mich erneut mit den Auserwählten zum Mahl des
Lammes setzen, bei der Hochzeit der Lebenden mit dem Lebenden. Aber daran
werden nur teilnehmen, die demütig und reinen Herzens gewesen sind, wie ich es
bin.»
«Meister, vor kurzem hast du
gesagt, wer nicht die Ehre hat, an deiner Seite zu sitzen, der hat die Ehre,
dir gegenüber zu sitzen. Wie können wir also wissen, wer der erste unter uns
ist?» fragt Bartholomäus.
«Alle und keiner. Einmal... kamen
wir müde zurück... und waren angewidert vom Haß der Pharisäer. Aber ihr wart
nicht zu müde, um darüber zu streiten, wer der größte unter euch sei... Ein
Kind kam zu mir... ein kleiner Freund... und seine Unschuld besänftigte meinen
Widerwillen gegen so vieles. Nicht zuletzt gegen eure menschliche
Starrköpfigkeit. Wo bist du nun, kleiner Benjamin, mit deiner weisen Antwort,
die dir vom Himmel eingegeben wurde, weil du ein Engel warst und der Geist zu
dir sprach 9 Ich habe euch damals gesagt: "Wer der erste sein will, soll der
letzte Diener aller sein." Und ich habe euch das weise Kind als Beispiel vor
Augen gestellt. Nun sage ich euch: "Die Könige der Völker herrschen über sie.
Und die unterdrückten Völker jubeln ihnen zu, obwohl sie sie hassen. Und die
Könige lassen sich 'Wohltäter' und 'Vater des Vaterlandes' nennen, aber der
Haß schwelt unter der falschen Ehrerbietung." Bei euch aber soll es nicht so
sein, sondern der Größte unter euch werde wie der Geringste, und der Führer
wie der Diener. Denn wer ist größer? Der zu Tische sitzt oder der bedient? Der
zu Tische sitzt. Und doch diene ich euch. Und bald werde ich euch noch mehr
dienen. Ihr seid die, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Prüfungen. Und
ich bestimme euch einen Platz in meinem Reich, so wie ich darin König sein
werde, wie es mir mein Vater bestimmt hat. Ihr sollt essen und trinken an
meinem ewigen Tisch und auf Thronen sitzen, zu richten die zwölf Stämme
Israels. Ihr habt mit mir ausgeharrt in meinen Prüfungen... Nur dies macht
euch groß in den Augen des Vaters.»
«Und die noch kommen werden?
Werden sie keinen Platz im Reich erhalten? Nur wir allein?»
«Oh, wie viele Fürsten wird es in
meinem Haus geben! Alle, die in den Prüfungen des Lebens Christus treu
geblieben sind, werden Fürsten in meinem Reich sein. Denn alle, die bis zum
Ende im Martyrium des irdischen Lebens ausgeharrt haben, werden euch gleich
sein, die ihr mit mir in meinen Prüfungen ausgeharrt habt. Ich identifiziere
mich mit meinen Gläubigen. Der Schmerz, den ich für euch und für alle Menschen
auf mich nehme, ist eine Lehre für die besonders Erwählten. Wer mir im Leid
treu ist, wird wie ihr, meine Erwählten, selig werden und euch gleich.»
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«Wir haben bis zum Ende
ausgeharrt.»
«Glaubst du, Petrus? Ich sage
dir, die Stunde der Prüfung steht noch bevor. Simon, Simon des Jonas, siehe,
Satan hat verlangt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich
gebetet, auf daß dein Glaube nicht wanke. Du aber, stärke deine Brüder nach
deiner Umkehr.»
«Ich weiß, daß ich ein Sünder
bin. Aber ich werde dir bis zum Tod treu bleiben. Diese Sünde habe ich nicht
begangen. Nie werde ich sie begehen.»
«Sei nicht überheblich, mein
Petrus. Diese Stunde wird viele Dinge ändern, die zuvor so waren und nun
anders sein werden. Wie viele! ... Sie bringen neue Notwendigkeiten und ziehen
sie nach sich. Ihr wißt es. Ich habe euch immer gesagt, auch wenn wir durch
einsame Gegenden gingen, wo es Räuber gab: "Fürchtet euch nicht. Es wird euch
nichts Böses geschehen, denn die Engel des Herrn sind bei uns. Bekümmert euch
um nichts." Erinnert ihr euch noch daran, als ich zu euch sagte: "Sorgt euch
nicht, was ihr essen oder womit ihr euch bekleiden sollt. Der Vater kennt
unsere Bedürfnisse?" Ich habe euch auch gesagt: "Der Mensch ist viel mehr als
ein Sperling oder eine Blume, die heute Gras und morgen Heu ist. Und doch
sorgt der Vater auch für die Blume und den Vogel. Könnt ihr also daran
zweifeln, daß er für euch sorgt?" Ich habe gesagt: "Gebt allen, die euch um
etwas bitten, und dem, der euch schlägt, haltet auch die andere Wange hin."
Ich habe gesagt: "Nehmt weder Tasche noch Stab." Denn ich habe euch Liebe und
Vertrauen gelehrt. Aber nun... Nun ist eine andere Zeit. Nun frage ich euch:
"Hat euch bis jetzt jemals etwas gefehlt? Seid ihr je beleidigt worden?"»
«Nichts, Meister. Und nur du bist
beleidigt worden.»
«Seht ihr also, daß mein Wort
Wahrheit ist? Aber nun hat der Herr alle seine Engel zurückgerufen. Nun ist
die Stunde der Dämonen... Die Engel des Herrn bedecken ihre Augen mit ihren
goldenen Flügeln. Sie verhüllen sich und bedauern, daß ihre Flügel nicht die
Farbe der Trauer haben, denn dies ist die Stunde der Trauer, der grausamen
Trauer, des Sakrilegs... Heute abend sind keine Engel auf der Erde. Sie sind
am Thron Gottes, um mit ihren Gesängen die Flüche der gottesmörderischen Welt
und die Klagen der Unschuldigen zu übertönen. Wir sind allein... Ich und ihr:
allein. Und die Dämonen sind die Herren der Stunde. Daher werden wir das
Äußere und die Maßstäbe der armen Menschen, die nicht lieben und mißtrauen,
annehmen. Wer nun eine Tasche hat, der nehme noch einen Sack, und wer kein
Schwert hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe eines. Denn auch dies steht in
der Schrift über mich geschrieben und muß sich erfüllen: "Unter die Übeltäter
ward er gezählt." Wahrlich, ich sage euch, alles was mir bestimmt ist, kommt
jetzt zu Ende.»
Simon, der sich erhoben hat und
zu der Truhe gegangen ist, auf der er seinen prächtigen Mantel abgelegt hat –
denn heute abend tragen sie alle ihre besten Kleider und auch Dolche,
verzierte, sehr kurze Dolche, eher
159
Messer als Dolche, an den schönen
Gürteln – nimmt zwei Schwerter, zwei wirkliche, lange, leicht gekrümmte
Schwerter, und bringt sie Jesus: «Ich und Petrus, wir haben uns heute abend
bewaffnet. Wir haben dies hier. Aber die anderen haben nur ihre kurzen
Dolche.»
Jesus nimmt die Schwerter und
betrachtet sie, zieht eines aus der Scheide und prüft die Klinge mit dem
Fingernagel. Es ist ein sonderbarer Anblick und ein noch sonderbarerer
Eindruck, diese grausame Waffe in den Händen Jesu zu sehen.
«Wer hat sie euch gegeben?» fragt
Iskariot, während Jesus ihn betrachtet und schweigt. Judas scheint auf
glühenden Kohlen zu sitzen...
«Wer? Erinnere dich, daß mein
Vater vornehm und mächtig war.»
«Aber Petrus ...»
«Nun und? Seit wann muß ich
Rechenschaft ablegen über die Geschenke, die ich meinen Freunden machen will?»
Jesus hebt das Haupt, nachdem er
die Waffe wieder in die Scheide gesteckt hat. Er gibt sie dem Zeloten zurück.
«Es ist gut. Sie genügen. Du hast
gut daran getan, sie mitzubringen. Aber nun, bevor wir den dritten Kelch
trinken, wartet einen Augenblick. Ich habe euch gesagt, daß der Größte dem
Geringsten gleich ist, und daß ich an diesem Tisch das Gewand des Dieners
trage und euch noch mehr dienen werde. Bisher habe ich euch Speise gegeben und
damit dem Leib gedient. Nun will ich euch eine Nahrung für die Seele geben. Es
ist kein Gericht des alten Ritus. Es gehört zum neuen Ritus. Ich wollte mich
taufen lassen, bevor ich der "Meister" wurde. Um das Wort zu verkünden,
genügte diese Taufe. Nun wird das Blut vergossen werden. Und auch für euch ist
noch eine Waschung nötig, obwohl ihr euch schon seinerzeit beim Täufer und
auch heute im Tempel gereinigt habt. Aber das genügt nicht. Unterbrecht das
Mahl. Es gibt etwas Höheres und Notwendigeres als die Speise, die nur den
Bauch füllt, auch wenn es eine heilige Speise ist wie das Ostermahl. Und es
ist ein reiner Geist, der bereit ist, die Gabe des Himmels zu empfangen, die
schon herniedersteigt, um ihren Thron in euch zu errichten und euch das Leben
zu geben; um den Reinen das Leben zu geben.»
Jesus steht auf, heißt auch
Johannes aufstehen, um besser seinen Platz verlassen zu können, geht zu einer
Truhe, zieht das rote Gewand aus und legt es auf den schon zusammengefalteten
Mantel, bindet sich ein großes Handtuch um die Lenden und geht dann zu einem
leeren und noch unbenutzten Becken. Er gießt Wasser hinein, trägt es in die
Mitte des Saales und stellt es auf einen Schemel. Die Apostel schauen
verwundert zu.
«Ihr fragt mich nicht, was ich
tue?»
«Wir wissen es nicht. Aber ich
sage dir, wir sind schon gereinigt», antwortet Petrus.
«Und ich wiederhole dir, das
spielt keine Rolle. Meine Reinigung wird jene, die schon rein sind, noch
reiner machen.»
160
Er kniet nieder, löst Iskariot
die Sandalen und wäscht ihm die Füße, einen nach dem anderen. Das ist nicht
schwierig, denn die Liegen stehen so, daß die Füße nach außen zeigen. Judas
ist erstaunt, sagt aber nichts. Nur als Jesus, bevor er die linke Sandale
wieder anlegt und aufsteht, den rechten, schon bekleideten Fuß küssen will,
zieht Judas ihn so heftig zurück, daß er mit der Sohle den göttlichen Mund
trifft. Er tut es, ohne es zu wollen, und es ist kein starker Stoß. Aber er
schmerzt mich sehr. Jesus lächelt und zu dem Apostel, der ihn fragt: «Habe ich
dir wehgetan? Das habe ich nicht gewollt... Verzeih!», sagt er: «Nein, Freund,
du hast es ohne böse Absicht getan, und das tut nicht weh.» Judas sieht ihn
an. Es ist ein unruhiger, ausweichender Blick...
Jesus geht nun zu Thomas, dann zu
Philippus... Nun geht er um die Schmalseite des Tisches herum und kommt zu
seinem Vetter Jakobus. Er wäscht ihn und küßt ihn dann beim Aufstehen auf die
Stirn. Er kommt zu Andreas, der rot vor Scham ist und gegen die Tränen
ankämpft. Er wäscht und liebkost ihn wie ein Kind. Dann ist Jakobus des
Zebedäus an der Reihe, der nur ständig murmelt: «Oh, Meister! Meister!
Meister! So demütigt sich mein höchster Meister!» Johannes hat schon seine
Sandalen gelöst, und während Jesus sich bückt, um seine Füße abzutrocknen,
küßt Johannes ihn auf den Scheitel. Aber Petrus! ... Es ist nicht leicht, ihn
von der Notwendigkeit dieses Ritus zu überzeugen.
«Du mir die Füße waschen? Gar
nicht daran zu denken! Solange ich lebe, werde ich dies nie erlauben! Ich bin
ein Wurm, und du bist Gott. Jeder an seinem Platz.»
«Was ich jetzt tue, kannst du
noch nicht verstehen. Aber später wirst du es verstehen. Laß mich nur
gewähren.»
«Alles, was du willst. Meister.
Willst du mir den Hals abschneiden, dann tue es. Aber die Füße wäschst du mir
nicht.»
«Oh, mein Simon, weißt du nicht,
daß du keinen Anteil an meinem Reich haben wirst, wenn ich dich nicht wasche?!
Simon, Simon! Du hast dieses Wasser nötig für deine Seele und den weiten Weg,
den du gehen mußt. Willst du nicht mit mir kommen? Wenn ich dich nicht wasche,
kommst du nicht in mein Reich.»
«Oh, mein gepriesener Herr! Dann
wasche mich nur ganz! Füße, Hände und Haupt!»
«Wer, wie ihr, ein Bad genommen
hat, braucht nur noch die Füße zu waschen. Dann ist er vollkommen rein. Die
Füße... Der Mensch geht mit den Füßen durch den Schmutz. Aber das wäre noch
wenig, denn ich habe euch bereits gesagt: nicht das, was mit der Nahrung
hinein- und herauskommt, verunreinigt, und nicht der Staub der Straße an den
Füßen befleckt den Menschen, sondern was in seinem Herzen gärt und reift und
dort herauskommt verunreinigt seine Werke und seine Glieder. Die Füße des
Menschen mit unreinem Herzen gehen zur Prasserei, zur Unzucht, zu
161
unerlaubten Geschäften, zum
Verbrechen... Daher sind es von allen Gliedern des Leibes die Füße, die am
meisten der Reinigung bedürfen... zusammen mit den Augen, dem Mund... Oh,
Mensch! Mensch! Einst ein vollkommenes Geschöpf! Am ersten Tag. Und dann durch
den Verführer so verdorben! Keine Bosheit war in dir, o Mensch, und keine
Sünde! ... Und nun? Du bist ganz Bosheit und Sünde, und es ist kein Teil an
dir, der nicht sündigt!»
Jesus hat Petrus die Füße
gewaschen und geküßt, und der Apostel weint und ergreift mit seinen großen
Händen die beiden Hände Jesu, legt sie auf seine Augen und küßt sie dann.
Auch Simon hat seine Sandalen
ausgezogen und läßt sich wortlos die Füße waschen. Aber dann, als Jesus zu
Bartholomäus gehen will, kniet Simon nieder und küßt seine Füße mit den
Worten: «Reinige mich vom Aussatz der Sünde, wie du mich vom Aussatz des
Leibes gereinigt hast, damit ich in der Stunde des Gerichtes nicht beschämt
werde, mein Erlöser!»
«Fürchte nicht, Simon. Du wirst
in die himmlische Stadt eingehen, so rein und weiß wie der Schnee der Berge.»
«Und ich, Herr? Was sagst du
deinem alten Bartholomäus? Du hast mich im Schatten des Feigenbaumes gesehen
und in meinem Herzen gelesen. Und nun, was siehst du, und wo siehst du mich?
Beruhige einen armen Greis, der fürchtet, keine Kraft und Zeit mehr zu haben,
um so zu werden, wie du uns haben willst!» Bartholomäus ist zutiefst
erschüttert.
«Auch du, fürchte nicht. Ich habe
damals gesagt: "Siehe, ein wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist." Nun sage
ich: "Siehe, ein wahrer Christ, der Christi würdig ist." Wo ich dich sehe? Auf
einem ewigen Thron, mit Purpur bekleidet. Ich werde immer mit dir sein.»
Nun ist Judas Thaddäus an der
Reihe. Als er Jesus zu seinen Füßen sieht, kann er sich nicht mehr
beherrschen. Er neigt das Haupt auf seinen auf den Tisch gestützten Arm und
weint.
«Weine nicht, mein lieber Bruder.
Nun gleichst du einem, der die Abtrennung eines Gliedes erleiden muß und
glaubt, es nicht ertragen zu können. Aber es wird nur ein kurzer Schmerz sein.
Dann... oh, dann wirst du glücklich sein, denn du liebst mich. Du heißt Judas
und du bist wie unser großer Judas: ein Riese. Du bist der, der beschützt.
Deine Taten sind die eines brüllenden Löwen und Löwenjungen. Du wirst die
Gottlosen beschämen, die vor dir zurückweichen werden, und die Ungerechten
werden vor dir zuschanden werden. Ich weiß es. Sei stark! Eine ewige
Vereinigung wird unsere Verwandtschaft im Himmel noch enger und vollkommener
werden lassen.» Jesus küßt ihn, wie den anderen Vetter, auf die Stirn.
«Ich bin ein Sünder, Meister. Mir
nicht...»
«Du warst ein Sünder, Matthäus.
Nun bist du der Apostel. Du bist eine meiner "Stimmen". Ich segne dich. Diese
Füße, welch weiten Weg sind sie gegangen, vorwärts, zu Gott... Die Seele hat
sie geführt, und sie haben
162
jeglichen Weg verlassen, der
nicht mein Weg war. Gehe weiter. Weißt du, wo der Weg endet? Am Herzen meines
und deines Vaters.»
Jesus ist fertig. Er nimmt das
Handtuch ab, wäscht sich in sauberem Wasser die Hände, legt das Oberkleid
wieder an, kehrt an seinen Platz zurück, setzt sich und sagt:
«Nun seid ihr rein. Aber nicht
alle. Nur die, die den Willen haben, es zu sein.»
Jesus schaut Judas Iskariot fest
an, der vorgibt, nichts zu hören, und gerade Matthäus erklärt, wie sein Vater
beschloß, ihn nach Jerusalem zu schicken. Ein unnützes Gespräch, mit dem Judas
nur bezweckt, sich Haltung zu geben, denn er muß sich sehr unwohl fühlen,
trotz aller Frechheit.
Jesus füllt zum dritten Mal den
gemeinsamen Kelch. Er trinkt daraus und gibt ihn weiter. Dann stimmt er den
Psalm an und die anderen fallen ein: «Ich liebe den Herrn, denn er hörte die
Stimme meines Flehens. Er neigte sein Ohr mir zu. Alle Tage meines Lebens rufe
ich ihn an. Mich umwanden die Stricke des Todes», usw. Ein Augenblick Pause.
Dann fängt Jesus wieder zu singen an: «Ich war voll Vertrauen, auch wenn ich
sagte: Gar tief bin ich niedergebeugt. Ich sprach in meiner Bestürzung: Die
Menschen alle, sie trügen!» Er schaut Judas fest an. Die heute abend müde
Stimme meines Jesus wird kräftiger, als er nun ausruft: «Gar kostbar in den
Augen des Herrn ist der Tod seiner Heiligen. Du hast gelöst meine Fessel. Dir
will ich weihen das Opfer des Lobes, und anrufen will ich den Namen des Herrn»
usw. usw. Nach einer weiteren kurzen Pause fährt er fort: «Lobet den Herrn,
ihr Nationen, ihr Völker alle, lobpreiset ihn! Denn mächtig waltet über uns
seine Gnade, und seine Wahrheit währet ewiglich.» Noch eine kurze Pause, dann
ein langer Lobgesang: «Danket dem Herrn, denn er ist gut und ewig währet sein
Erbarmen ...»
Judas Iskariot singt so falsch,
daß Thomas ihm zweimal mit seinem mächtigen Bariton den Ton angibt und ihn
dabei fest anschaut. Auch die anderen schauen ihn an, denn im allgemeinen
singt er immer richtig, und ich habe bemerkt, daß er sich ebenso etwas auf
seine Stimme zugute tut wie auf vieles andere. Aber heute abend! Manche Sätze
bringen ihn so aus der Fassung, daß er völlig falsch singt, und ebenso einige
Blicke Jesu, die diese Sätze noch unterstreichen. Einer davon ist: «Besser,
seine Zuflucht nehmen zum Herrn, als zu bauen auf Menschen.» Ein anderer ist:
«Gestoßen ward ich, ich sollte fallen; der Herr aber stand mir bei.» Noch ein
anderer ist: «Ich werde nicht sterben, ich lebe, und künden will ich die Taten
des Herrn.» Und endlich die beiden, bei denen dem Verräter die Stimme gänzlich
im Hals steckenbleibt: «Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist
zum Eckstein geworden» und «Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.»
Als der Psalm zu Ende ist und
Jesus noch einmal Stücke von dem Lamm
163
abschneidet und verteilt, fragt
Matthäus Judas Iskariot: «Geht es dir nicht gut?»
«Nein. Laß mich in Ruhe. Kümmere
dich nicht um mich.»
Matthäus zuckt die Achseln.
Johannes, der zugehört hat, sagt:
«Auch dem Meister geht es nicht gut. Was hast du, mein Jesus? Deine Stimme ist
schwach. Wie die eines Kranken oder eines Menschen, der viel geweint hat», und
er umarmt ihn und legt sein Haupt an Jesu Brust.
«Er hat nur viel geredet, und ich
bin viel gelaufen und habe mich erkältet», sagt Judas nervös.
Ohne darauf einzugehen, sagt
Jesus zu Johannes: «Du kennst mich nun... und du weißt, was mich müde
macht...»
Das Lamm ist beinahe aufgegessen.
Jesus, der nur sehr wenig gegessen und von jedem Kelch nur einen Schluck Wein
genommen hat, stattdessen aber viel Wasser trinkt, als ob er Fieber hätte,
beginnt nun wieder zu reden: «Ich will, daß ihr meine Geste von zuvor
versteht. Ich habe euch gesagt, daß der Erste wie der Letzte ist, und daß ich
euch eine Speise geben werde, die nicht für den Leib ist. Eine Speise der
Demut habe ich euch gegeben. Für eure Seele. Ihr nennt mich: Meister und Herr.
Ihr habt recht, denn ich bin es. Wenn ich euch nun die Füße gewaschen habe, so
müßt auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben,
damit auch ihr tut wie ich. Wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht mehr
als sein Herr und der Apostel nicht mehr als der, der ihn zum Apostel gemacht
hat. Versucht, diese Dinge zu verstehen. Wenn ihr sie versteht und danach
handelt, werdet ihr selig sein. Aber nicht alle werdet ihr selig sein. Ich
kenne euch. Ich weiß, wen ich erwählt habe. Nicht von euch allen spreche ich.
Aber ich sage die Wahrheit. Andererseits muß sich erfüllen, was über mich
geschrieben steht: "Der mein Brot ißt, hat seine Ferse wider mich erhoben."
Alles sage ich euch, ehe es eintritt, damit ihr nicht an mir zweifelt. Wenn
alles erfüllt ist, wird euer Glaube, daß ich bin, der ich bin, noch stärker
sein. Wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat: den heiligen
Vater, der im Himmel ist. Wer einen aufnimmt, den ich sende, der nimmt mich
auf. Denn ich bin im Vater, und ihr seid in mir... Aber nun wollen wir den
Ritus beenden.»
Er gießt wieder Wein in den
großen Kelch. Bevor er aber trinkt und den anderen den Kelch reicht, steht er
auf – alle folgen seinem Beispiel -und singt noch einmal einen der Psalmen von
zuvor: «Ich war voll Vertrauen, auch wenn ich sagte ...» und dann einen, der
endlos zu sein scheint. Er ist schön, aber endlos! Ich glaube ihn als den
Psalm 118 zu erkennen, wegen seiner Anfangsworte und seiner Länge. Einen Teil
singen sie alle zusammen. Dann singt einer ein Distichon und die anderen ein
Stück im Wechsel, und so bis zum Ende. Ich wundere mich nicht, daß sie am Ende
Durst haben!
164
Jesus setzt sich. Er streckt sich
nicht aus, sondern setzt sich so wie wir und sagt: «Nun, da der alte Ritus
beendet ist, feiere ich den neuen Ritus. Ich habe euch ein Wunder der Liebe
versprochen. Nun ist die Stunde, es zu wirken. Deshalb habe ich dieses
Passahfest herbeigesehnt. Von nun an ist dies die Opfergabe, die in einem
ewigen Ritus der Liebe dargebracht werden wird. Ich habe euch mein ganzes
irdisches Leben lang geliebt, meine Freunde. Ich habe euch seit aller Ewigkeit
geliebt, meine Kinder. Ich will euch lieben bis ans Ende. Es gibt nichts
Größeres als dies. Denkt daran. Ich gehe von euch. Doch durch das Wunder, das
ich nun wirke, werden wir für immer vereint bleiben.»
Jesus nimmt ein noch ganzes Brot
und legt es auf den vollen Kelch. Er segnet und opfert beides, bricht dann das
Brot in dreizehn Stücke, gibt jedem Apostel eines und sagt: «Nehmet und esset.
Das ist mein Leib. Tut dies zu meinem Gedächtnis, denn ich verlasse euch.»
Dann reicht er ihnen den Kelch
und sagt: «Nehmet und trinket. Das ist mein Blut. Das ist der Kelch des neuen
Bundes in meinem Blut und durch mein Blut, das für euch zur Vergebung eurer
Sünden vergossen wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis.»
Jesus ist todtraurig. Jegliche
Spur eines Lächelns, aller Glanz und alle Farbe sind aus seinem Gesicht
gewichen. Es ist schon von Todesangst gezeichnet. Die Apostel betrachten ihn
bange.
Jesus erhebt sich und sagt:
«Bleibt sitzen. Ich komme sofort zurück.» Er nimmt das dreizehnte
Brotstückchen und den Kelch und verläßt den Saal.
«Er geht zur Mutter», flüstert
Johannes.
Judas Thaddäus seufzt: «Arme
Frau!»
Petrus fragt leise: «Glaubst du,
sie weiß es?»
«Sie weiß alles. Sie hat immer
alles gewußt.»
Alle sprechen sie so leise, als
ob ein Toter im Raum wäre.
«Aber glaubt ihr, daß er
wirklich...» fragt Thomas, der es immer noch nicht fassen kann.
«Du zweifelst noch daran? Es ist
seine Stunde», antwortet ihm Jakobus des Zebedäus.
«Gott möge uns die Kraft geben,
ihm treu zu bleiben», sagt der Zelote.
«Oh, ich ...» will Petrus eben
sagen. Aber Johannes, der achtgibt, sagt: «Pst! Er kommt.»
Jesus kommt wieder herein. Er hat
den leeren Kelch in der Hand. Auf seinem Grund ist noch eine Spur Wein
zurückgeblieben und im Schein der Lampe sieht er wirklich wie Blut aus.
Judas Iskariot, der den Kelch vor
sich hat, schaut ihn wie gebannt an und wendet dann den Blick ab. Jesus
bemerkt es, und ein Schauer läuft über seinen Körper, den Johannes, der sich
wieder an seine Brust gelehnt hat, spürt. «Aber, du zitterst ja ...» ruft er
aus.
165
«Nein, ich zittere nicht im
Fieber. – . Ich habe euch alles gesagt und alles gegeben. Mehr konnte ich euch
nicht geben. Mich selbst habe ich euch gegeben.»
Er macht die sanfte Bewegung
seiner Hände, bei der er sie zuerst faltet, dann öffnet und etwas ausstreckt,
während er das Haupt senkt, als wollte er sagen: «Verzeiht, wenn ich nicht
mehr kann. So ist es.»
«Alles habe ich euch gesagt, und
alles habe ich euch gegeben. Ich wiederhole euch, der neue Ritus ist erfüllt.
Tut dies zu meinem Gedächtnis. Ich habe euch die Füße gewaschen, um euch zu
lehren, rein und demütig zu sein wie euer Meister. Denn wahrlich, ich sage
euch, wie der Meister ist, so sollen auch die Jünger sein. Denkt daran, denkt
daran. Auch wenn ihr oben sein werdet, denkt daran. Kein Jünger ist mehr als
der Meister. Wie ich euch gewaschen habe, so tut es auch gegenseitig. Das
heißt, liebt einander wie Brüder, helft einander, achtet euch gegenseitig und
gebt einander ein gutes Beispiel. Seid rein. Um würdig das lebendige Brot, das
vom Himmel gekommen ist, zu essen, damit ihr durch dieses Brot die Kraft
erhaltet, meine Jünger zu sein in einer feindlichen Welt, die euch um meines
Namens willen hassen wird. Aber einer von euch ist nicht rein. Einer von euch
wird mich verraten. Daher ist meine Seele erschüttert... Die Hand meines
Verräters ist mit mir auf dem Tisch, und weder meine Liebe, noch mein Fleisch
und Blut, noch mein Wort können ihn ändern und zur Reue bewegen. Ich würde ihm
verzeihen und auch für ihn in den Tod gehen.»
Die Jünger sehen sich entsetzt
an. Sie prüfen sich gegenseitig mißtrauisch. Petrus durchbohrt Judas mit
Blicken und erinnert sich an alle seine Zweifel. Judas Thaddäus springt auf
die Füße und schaut Iskariot über Matthäus hinweg an.
Aber Judas gibt sich so sicher.
Er sieht nun seinerseits Matthäus an, so als würde er ihn verdächtigen. Dann
schaut er Jesus lächelnd an und fragt: «Bin ich es etwa?» Es scheint, daß er
seiner eigenen Redlichkeit am allersichersten ist und dies nur sagt, damit die
Unterhaltung nicht ins Stocken gerät.
Jesus wiederholt seine Geste von
zuvor und sagt: «Du sagst es, Judas des Simon. Nicht ich. Du sagst es. Ich
habe dich nicht genannt. Warum klagst du dich an? Frage deinen inneren Warner,
dein Gewissen als Mensch, das Gott der Vater dir gegeben hat, damit du dich
wie ein Mensch benimmst, und höre, ob es dich anklagt. Du wirst es vor allen
anderen wissen. Aber wenn es dich beruhigt, warum sagst du dann ein Wort und
denkst an eine Tatsache, die auszusprechen oder zu denken selbst im Scherz
schon Gotteslästerung ist?»
Jesus spricht ganz ruhig. Er
scheint die aufgestellte These auszuführen, wie es etwa ein Gelehrter vor
seinen Schülern tut. Die Aufregung ist groß. Doch durch die Ruhe Jesu legt sie
sich.
166
Aber Petrus, der Judas am meisten
mißtraut – vielleicht Thaddäus ebenso, obwohl es weniger den Anschein hat,
denn die Frechheit des Iskariot hat ihn entwaffnet – zieht Johannes, der sich
an Jesus geschmiegt hat, als von Verrat die Rede war, am Ärmel. Und als
Johannes sich umdreht, flüstert er ihm zu: «Frage ihn, wer es ist.»
Johannes nimmt seine vorige
Stellung wieder ein, hebt nur leicht das Haupt, als wolle er Jesus küssen, und
flüstert ihm dabei ins Ohr: «Meister, wer ist es?»
Jesus antwortet ganz leise und
küßt Johannes auf den Scheitel: «Der ist es, dem ich den Bissen Brot
eintauchen und reichen werde.»
Er nimmt ein noch ganzes Brot,
nicht den Rest des für die Eucharistie Verwendeten, und bricht einen großen
Bissen ab, taucht ihn in den Saft des Lammes in der Schüssel, streckt seinen
Arm über den Tisch und sagt: «Nimm, Judas. Du magst dies gern.»
«Danke, Meister. Ja, ich mag das
gern.» In Unkenntnis darüber, was dieser Bissen bedeutet, ißt er ihn. Johannes
schließt entsetzt die Augen, um das gräßliche Lachen des Iskariot nicht sehen
zu müssen, während dieser mit seinen kräftigen Zähnen in das anklagende Brot
beißt.
«Gut. Nun, da du zufrieden bist,
geh», sagt Jesus zu Judas. «Alles ist hier (er betont dieses Wort ganz
besonders) vollbracht. Was anderswo noch zu tun ist, das tue bald, Judas des
Simon.»
«Ich gehorche dir sofort,
Meister. Später treffe ich dich in Gethsemane. Du gehst doch dorthin, nicht
wahr? Wie immer?»
«Ich gehe dorthin... wie immer...
ja.»
«Was hast du zu tun?» fragt
Petrus. «Gehst du allein?»
«Ich bin doch kein Kind»,
spöttelt Judas, der bereits seinen Mantel anlegt.
«Laß ihn gehen. Er und ich
wissen, was zu tun ist», sagt Jesus.
«Ja, Meister.» Petrus schweigt.
Vielleicht glaubt er, daß er mit seinem Verdacht gegen den Gefährten gesündigt
hat. Er legt die Hand an die Stirn und denkt nach.
Jesus drückt Johannes ans Herz
und flüstert ihm nochmals ins Haar: «Sage Petrus noch nichts. Es wäre ein
unnötiges Ärgernis.»
«Leb wohl, Meister. Lebt wohl,
Freunde.» Judas verabschiedet sich.
«Leb wohl», sagt Jesus.
Und Petrus: «Leb wohl, Junge.»
Johannes, das Haupt beinahe im
Schoß Jesu, murmelt: «Satan!» Jesus allein hört es und seufzt.
Hier hört alles auf. Jesus sagt:
«Ich unterbreche aus Mitleid mit dir die Vision. Zu gegebener Zeit lasse ich
dich das Ende des Abendmahles schauen.»
Einige Minuten herrscht absolutes
Schweigen. Jesus hält das Haupt gesenkt und streichelt mechanisch das blonde
Haar des Johannes.
167
Dann gibt er sich einen Ruck,
hebt das Haupt, läßt den Blick über die Apostel schweifen und tröstet sie
durch ein Lächeln. Er sagt: «Wir wollen den Tisch verlassen und uns nahe
zusammensetzen, wie Kinder um ihren Vater.»
Sie nehmen die Liegen, die hinter
dem Tisch stehen (die von Jesus, Johannes, Jakobus, Petrus, Simon, Andreas und
dem Vetter Jakobus), und tragen sie auf die andere Seite.
Jesus setzt sich auf die seine,
wiederum zwischen Johannes und Jakobus. Als er aber sieht, daß Andreas sich
auf den von Iskariot verlassenen Platz setzen will, ruft er aus: «Nein, nicht
dorthin!» Ein impulsiver Ausruf, den selbst seine große Klugheit nicht
verhindern kann. Dann verbessert er: «Wir brauchen nicht so viel Platz. Wenn
wir uns setzen, genügen diese Liegen. Ich möchte euch ganz nahe bei mir
haben.»
Nun sitzen sie alle auf den in
U-Form aufgestellten Liegen und Jesus ihnen gegenüber in der Mitte am Tisch,
auf dem nun keine Speisen mehr stehen.
Jakobus des Zebedäus ruft Petrus:
«Setze dich hierher. Ich setze mich auf diesen Schemel zu Füßen Jesu.»
«Gott segne dich, Jakobus! Das
habe ich mir so sehr gewünscht!» sagt Petrus und setzt sich dicht neben seinen
Meister, der sich nun zwischen Johannes und Petrus eingezwängt befindet, mit
Jakobus zu seinen Füßen.
Jesus lächelt: «Ich sehe, daß
meine vor kurzem gesprochenen Worte schon zu wirken beginnen. Die guten Brüder
lieben sich. Auch ich sage dir, Jakobus: "Gott segne dich." Und der Ewige wird
diese deine Tat nicht vergessen, und du wirst dort oben den Lohn dafür
empfangen.
Ich vermag alles, worum ich
bitte. Ihr habt es gesehen. Mein Wunsch hat genügt, und der Vater hat dem Sohn
erlaubt, sich den Menschen als Speise zu geben. Durch das, was jetzt geschehen
ist, ist der Menschensohn verherrlicht; denn das Wunder, das nur den Freunden
Gottes möglich ist, beweist seine Macht. Je größer das Wunder, desto gewisser
und tiefer ist diese Freundschaft Gottes. Es ist dies ein Wunder, das in
seiner Art, Dauer und Natur, und durch seine Bedeutung und seine Tragweite
nicht größer sein könnte. Ich sage euch: Es ist so gewaltig, so übernatürlich
und so unfaßbar für den Hochmut des Menschen, daß nur sehr wenige es verstehen
werden, wie es verstanden werden muß, und viele werden es leugnen. Was werde
ich dann sagen? Fluch über sie? Nein. Ich werde sagen: Erbarmen!
Aber je größer das Wunder ist,
desto größer ist die Ehre dessen, der es wirkt. Es ist Gott selbst, der sagt:
"Seht, dieser mein Auserwählter hat es gewollt und hat es erhalten. Ich habe
es ihm gewährt, denn er findet große Gnade vor meinen Augen." Und hier sagt
er: "Er findet unendliche Gnade, so wie das von ihm gewirkte Wunder unendlich
ist." Und ebenso, wie die Herrlichkeit von Gott auf den Urheber des Wunders
herabkommt,
168
steigt die Herrlichkeit von ihm
zum Vater auf. Denn alle übernatürliche Herrlichkeit kehrt, da sie von Gott
kommt, zu ihrer Quelle zurück. Und die Herrlichkeit Gottes, obwohl sie
unendlich ist, wird noch vermehrt und noch strahlender durch die Herrlichkeit
seiner Heiligen. Daher sage ich: Wie der Menschensohn durch Gott verherrlicht
ist, so ist Gott durch den Menschensohn verherrlicht. Ich habe Gott in mir
verherrlicht. Gott wird seinerseits seinen Sohn in sich verherrlichen. Sehr
bald wird er ihn verherrlichen.
Frohlocke, o geistiger Wesenskern
der zweiten Person, der du nun zu deinem Thron zurückkehrst! Frohlocke, o
Fleisch, das du aufsteigst nach so langem Exil im Staub. Nicht mehr das
Paradies des Adam, sondern das erhabene Paradies des Vaters wird dir zur
Wohnstatt gegeben werden! Wenn geschrieben steht, daß die Sonne stillstand aus
Verwunderung über einen Befehl Gottes, der durch den Mund eines Menschen
erging, was wird dann erst mit den Sternen geschehen, wenn sie das Wunder am
Fleisch des Menschen sehen, das auffährt und sich in der Vollkommenheit der
verherrlichten Materie zur Rechten des Vaters setzt? Meine Kinder, nur noch
eine kleine Weile bin ich bei euch. Dann werdet ihr mich suchen, wie Waisen
ihren toten Vater suchen. Weinend werdet ihr umherirren und von ihm sprechen,
und vergeblich werdet ihr an das stumme Grab pochen und dann an die blauen
Pforten des Himmels und bittend eure Seelen erheben auf der Suche nach Liebe
und sagen: "Wo ist unser Jesus? Wir wollen ihn bei uns haben. Ohne ihn ist
kein Licht mehr in der Welt, keine Freude, keine Liebe! Oh, gebt ihn uns
wieder oder laßt uns hinein. Wir wollen sein, wo er ist." Aber vorerst könnt
ihr nicht kommen, wohin ich gehe. Ich habe es auch zu den Juden gesagt: "Dann
werdet ihr mich suchen, aber wo ich hingehe, dorthin könnt ihr mir nicht
folgen." Ich sage es auch zu euch.
Denkt an die Mutter... Selbst sie
kann nicht kommen, wohin ich gehe. Und doch habe ich den Vater verlassen, um
zu ihr zu kommen und in ihrem unbefleckten Schoß Jesus zu werden. Und doch bin
ich aus der Unversehrten gekommen, in der strahlenden Ekstase meiner Geburt.
Von ihrer zu Milch gewordenen Liebe habe ich mich genährt. Ich bin aus
Reinheit und Liebe hervorgegangen, denn Maria hat mich genährt mit ihrer von
der vollkommenen Liebe, die im Himmel lebt, befruchteten Jungfräulichkeit.
Durch sie bin ich herangewachsen und habe sie Mühen und Tränen gekostet... Und
doch verlange ich einen bisher nie erreichten Heroismus von ihr, im Vergleich
zu dem Judith und Jael nur die Heldentaten armer Frauen, die einer Rivalin am
Dorfbrunnen gegenübertreten, vollbracht haben. Und doch liebt mich niemand wie
sie. Und trotzdem verlasse ich sie und gehe dorthin, wohin sie erst nach
langer Zeit kommen kann. Das Gebot, das ich euch gebe, gilt nicht für sie:
"Heiligt euch Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag, Stunde um Stunde,
damit ihr zu
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mir kommen könnt, wenn eure
Stunde schlägt." In ihr ist alle Gnade und Heiligkeit. Sie ist das Geschöpf,
das alles erhalten und alles gegeben hat. Nichts ist hinzuzufügen oder
wegzunehmen. Sie ist der heiligste Beweis dessen, was Gott kann.
Aber um sicher zu sein, daß ihr
fähig sein werdet, zu mir zu kommen und den Schmerz und die Trauer der
Trennung von eurem Jesus zu überwinden, gebe ich euch ein neues Gebot. Es ist
das Gebot, daß ihr einander lieben sollt. Liebt einander, wie ich euch geliebt
habe. Daran wird man erkennen, daß ihr meine Jünger seid. Wenn ein Vater viele
Söhne hat, woran erkennt man diese? Nicht so sehr am Aussehen – denn es gibt
Menschen, die anderen gleichen und doch nicht zur gleichen Familie und nicht
einmal zum gleichen Volk gehören – als vielmehr an der gemeinsamen Liebe zur
Familie, zu ihrem Vater und zueinander. Und auch nach dem Tod des Vaters löst
sich die gute Familie nicht auf; denn alle sind eines Blutes und in allen
fließt das Blut des Vaters und schafft Bindungen, die nicht einmal der Tod
löst; denn die Liebe ist stärker als der Tod. Wenn ihr einander nun liebt,
auch nachdem ich euch verlassen habe, werden alle erkennen, daß ihr meine
Kinder seid, daß ihr meine Jünger seid, und untereinander Brüder, da ihr nur
einen Vater habt.»
«Herr, Jesus, aber wohin gehst du
denn?» fragt Petrus.
«Ich gehe, wohin du jetzt noch
nicht folgen kannst. Doch später wirst du mir folgen.»
«Und warum nicht jetzt? Ich bin
dir immer gefolgt, seit du mir gesagt hast: "Folge mir." Alles habe ich ohne
Bedauern verlassen... Wenn du jetzt fortgehst ohne deinen armen Simon und mich
ohne dich, mein Alles, zurückläßt, nachdem ich für dich mein voriges geringes
Gut verlassen habe, so ist das nicht gerecht und nicht schön von dir. Du gehst
in den Tod? Nun gut. Auch ich gehe mit. Wir gehen zusammen in die andere Welt.
Aber erst, nachdem ich dich verteidigt habe. Ich bin bereit, mein Leben für
dich hinzugeben.»
«Dein Leben willst du für mich
hingeben? Jetzt? Jetzt nicht. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, noch ehe der
Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Nun ist noch die erste
Nachtwache, dann kommt die zweite... und dann die dritte. Vor dem Hahnenschrei
wirst du deinen Herrn dreimal verleugnet haben.»
«Unmöglich, Meister! Ich glaube
alles, was du sagst. Aber dies glaube ich nicht. Ich bin meiner sicher.»
«Jetzt, in diesem Augenblick,
bist du deiner sicher, denn jetzt hast du mich noch. Du hast Gott bei dir.
Bald wird der menschgewordene Gott gefangengenommen werden, und ihr werdet ihn
nicht mehr haben. Nachdem Satan euch gelähmt hat – gerade deine
Selbstsicherheit ist eine List Satans, Ballast, um dich zu beschweren – wird
er euch Furcht einflößen. Er wird euch einreden: "Gott ist nicht. Ich bin."
Und da ihr, obgleich
170
starr vor Schrecken, noch
vernünftig denken könnt, werdet ihr verstehen: Wenn Satan Herr der Stunde ist,
stirbt das Gute und herrscht das Böse, unterliegt der Geist und gewinnt das
Menschliche die Oberhand. Dann werdet ihr führerlosen, vom Feind verfolgten
Kriegern gleichen, und mit der Kopflosigkeit von Besiegten werdet ihr euren
Rücken vor dem Sieger beugen und den gefallenen Helden verleugnen, damit man
euch nicht tötet. Aber ich bitte euch, euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an
Gott und glaubt an mich. Gegen allen Anschein, glaubt an mich. Glaubt an meine
Barmherzigkeit und an die des Vaters, sowohl der, der bleibt, als auch der,
der flieht. Sowohl der, der schweigt, als auch der, der den Mund öffnet und
sagt: "Ich kenne ihn nicht." Und glaubt ebenso an meine Verzeihung. Glaubt,
was immer ihr in Zukunft tut, an das Gute und an meine Lehre, an meine Kirche
also. So werdet ihr einen Platz im Himmel haben. Im Haus meines Vaters sind
viele Wohnungen. Wäre es nicht so, hätte ich es euch gesagt. Ich gehe voraus,
um euch einen Platz zu bereiten. Machen es die guten Väter nicht so, wenn sie
mit ihren Kindern die Wohnung wechseln? Sie gehen voraus, richten das Haus
her, stellen die Möbel auf und sorgen für Vorräte. Dann kehren sie zurück und
holen ihre lieben Kinder. Sie tun es aus Liebe. Damit es den Kleinen an nichts
fehlt und sie sich in der neuen Umgebung wohlfühlen. Ich mache es ebenso. Und
aus demselben Grund. Nun gehe ich. Wenn ich für jeden den Platz im himmlischen
Jerusalem bereitet habe, komme ich wieder und nehme euch mit mir, damit ihr
seid, wo ich bin und wo es keinen Tod und keine Trauer, noch Tränen, Jammer,
Hunger, Schmerz, Finsternis oder Betrübnis gibt, sondern nur Licht, Frieden,
Seligkeit und Gesänge. Oh, Himmelsklänge, wenn die zwölf Auserwählten mit den
zwölf Patriarchen der Stämme Israels auf den Thronen sitzen und im Feuerbrand
der geistigen Liebe und im Meer der Seligkeiten das ewige Lied singen werden,
begleitet von den Harfenklängen des ewigen Halleluja der Heerscharen der
Engel... Ich will, daß auch ihr seid, wo ich sein werde. Und ihr wißt, wohin
ich gehe, und kennt den Weg.»
«Aber Herr! Wir wissen nichts. Du
sagst uns nicht, wohin du gehst. Wie können wir wissen, welchen Weg wir nehmen
müssen, um zu dir zu kommen und die Wartezeit zu verkürzen?» fragt Thomas.
«Ich bin der Weg, die Wahrheit
und das Leben. Ihr habt es mich oft sagen und erklären gehört, und wahrlich,
einige, die nicht einmal wußten, daß es einen Gott gibt, haben sich auf meinen
Weg gemacht und sind euch schon vorausgegangen. Oh, wo bist du, verlorenes
Schaf Gottes, das ich in den Schafstall zurückgeführt habe? Und wo bist du,
auferstandene Seele?»
«Wer? Von wem sprichst du? Von
Maria des Lazarus? Sie ist drüben, bei deiner Mutter. Willst du, daß wir sie
rufen? Oder Johanna? Sie ist sicher in ihrem Palast. Aber wenn du willst,
holen wir sie...»
171
«Nein, nicht diese... Ich denke
an jene, die erst im Himmel entschleiert wird... und an Photinai... Sie haben
mich gefunden. Sie haben meinen Weg nicht mehr verlassen. Der einen habe ich
den Vater als wahren Gott gezeigt und den Geist als Leviten zu ihrer
besonderen Verehrung. Der anderen, die nicht einmal wußte, daß sie eine Seele
hat, habe ich gesagt: "Mein Name ist 'Erlöser. Ich rette, die den guten Willen
haben, gerettet zu werden. Ich bin der, der die Verlorenen sucht, der das
Leben, die Wahrheit und die Reinheit gibt. Wer mich sucht, findet mich." Und
beide haben Gott gefunden... Ich segne euch, schwache Evas, die ihr stärker
als Judith geworden seid... Ich komme dorthin, wo ihr seid, ich komme... Ihr
tröstet mich... Seid gesegnet...»
«Zeige uns den Vater, Herr, und
wir werden diesen gleich sein», sagt Philippus.
«Schon so lange bin ich bei euch,
und du, Philippus, kennst mich noch nicht? Wer mich sieht, sieht meinen Vater.
Wie kannst du also sagen: "Zeige uns den Vater"? Kannst du glauben, daß ich im
Vater bin und der Vater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch rede, sage ich
nicht aus mir selbst. Der Vater, der in mir lebt, tut alle meine Werke. Ihr
glaubt nicht, daß ich im Vater bin und er in mir ist? Was muß ich sagen, damit
ihr glaubt? Wenn ihr den Worten nicht glaubt, dann glaubt wenigstens den
Werken. Ich sage euch, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, wird die
Werke tun, die ich tue, und er wird noch größere tun, denn ich gehe zum Vater.
Und alles, um was ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, werde ich tun,
damit der Vater in seinem Sohn verherrlicht werde. Und um was ihr mich in
meinem Namen bitten werdet, das werde ich tun. Mein wirklicher Name ist nur
mir allein, dem Vater, der mich gezeugt hat, und dem Heiligen Geist, der aus
unserer Liebe hervorgeht, bekannt. Und in diesem Namen ist alles möglich. Wer
mit Liebe an meinen Namen denkt, liebt mich und wird erhalten, um was er
bittet. Aber es genügt nicht, mich zu lieben. Es ist nötig, meine Gebote zu
halten, um die wahre Liebe zu haben. Es sind die Werke, die die Gefühle
bezeugen. Um dieser Liebe willen werde ich den Vater bitten, und er wird euch
einen anderen Tröster senden, der immer bei euch bleibt. Einen, dem Satan und
die Welt nichts anhaben können, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht
empfangen und gegen den sie nichts ausrichten kann, weil sie ihn nicht sieht
und nicht kennt. Sie wird ihn verlachen. Aber er ist so erhaben, daß der Spott
ihn nicht trifft, während er, der über alle Maßen barmherzig ist, immer mit
denen sein wird, die ihn lieben, selbst wenn sie arm und schwach sind. Ihr
werdet ihn kennenlernen, denn er ist schon bei euch, und bald wird er in euch
sein. Ich lasse euch nicht als Waisen zurück. Ich habe euch schon gesagt: "Ich
werde zu euch zurückkehren." Aber schon vor der Stunde, da ich euch holen und
in mein Reich führen werde, komme ich. Zu euch komme ich. Noch eine kleine
Weile, und die Welt sieht mich nicht
172
mehr. Aber ihr seht mich und
werdet mich sehen. Denn ich lebe, und auch ihr lebt. Denn ich werde leben, und
auch ihr werdet leben. An jenem Tag werdet ihr erkennen, daß ich in meinem
Vater bin und ihr in mir und ich in euch. Denn wer meine Gebote hat und sie
hält, der ist es, der mich liebt. Wer aber mich liebt, den wird mein Vater
lieben, und er wird Gott besitzen. Und ich werde ihn lieben, da ich Gott in
ihm sehe, und ich werde mich ihm offenbaren in den Geheimnissen meiner Liebe,
meiner Weisheit und meiner fleischgewordenen Gottheit. Das wird meine Rückkehr
zu den Menschenkindern sein, die ich liebe, obwohl sie schwach sind und sogar
meine Feinde. Aber diese werden nur schwach sein; und ich werde sie stärken
und zu ihnen sagen: "Steh auf!", ich werde sagen: "Komm heraus!", ich werde
sagen: "Folge mir!", ich werde sagen: "Höre!", ich werde sagen: "Schreibe!".
Und ihr werdet unter ihnen sein.»
«Warum, Herr, offenbarst du dich
uns und nicht der Welt?» fragt Judas Thaddäus.
«Weil ihr mich liebt und meine
Worte bewahrt. Wer dies tut, den wird der Vater lieben, und wir werden zu ihm
kommen und Wohnung bei ihm, in ihm, nehmen. Wer mich aber nicht liebt, bewahrt
meine Worte nicht und gehorcht dem Fleisch und der Welt. Wißt, was ich euch
sage, sind nicht die Worte Jesu, des Nazareners, sondern die Worte des Vaters;
denn ich bin das Wort des Vaters, der mich gesandt hat. Ich habe euch diese
Dinge gesagt, während ich unter euch weile, weil ich euch auf den vollkommenen
Besitz der Wahrheit und der Weisheit vorbereiten will. Aber jetzt könnt ihr
sie weder verstehen noch sie in eurem Gedächtnis bewahren. Doch wenn der
Tröster kommt, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird,
dann werdet ihr verstehen. Er wird euch alles lehren und euch an alles
erinnern, was ich euch gesagt habe.
Meinen Frieden hinterlasse ich
euch. Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn
euch. Und auch nicht, wie ich ihn bisher gegeben habe: den gesegneten Gruß des
Gesegneten für die Gesegneten. Tiefer ist der Friede, den ich euch jetzt gebe.
Bei diesem Lebewohl teile ich euch mich selbst, meinen Geist des Friedens,
mit, so wie ich euch mein Fleisch und Blut gegeben habe, um euch für die
bevorstehende Schlacht zu stärken. Satan und die Welt entfesseln einen Krieg
gegen euren Jesus. Es ist ihre Stunde. Habt in euch Frieden, meinen Geist, der
ein Geist des Friedens ist, da ich selbst der König des Friedens bin. Habt
diesen Frieden in euch, damit ihr euch nicht zu verlassen fühlt. Wer im
Frieden Gottes leidet, leidet, aber er lästert und verzweifelt nicht.
Weint nicht. Ihr habt doch
gehört, daß ich gesagt habe: "Ich gehe zum Vater und komme wieder." Wenn ihr
mich über das Fleisch hinaus liebtet, würdet ihr euch freuen, daß ich nach
einem so langen Exil zum Vater gehe... Ich gehe zu dem, der größer ist als ich
und der mich liebt. Nun habe ich es euch gesagt, ehe es eintritt, so wie ich
euch alle Leiden des
173
Erlösers gesagt habe, bevor er
sie auf sich nimmt, damit ihr immer mehr an mich glaubt, wenn es eintritt.
Seid nicht so bange! Verzagt nicht! Euer Herz hat Gleichmut nötig... Ich werde
nicht mehr lange zu euch sprechen... und ich hätte euch noch so vieles zu
sagen! Nun bin ich am Ende meiner Verkündigung angekommen, und es scheint mir,
als hätte ich noch nichts gesagt und als bliebe noch viel, viel, so viel zu
tun. Euer Zustand verstärkt diesen meinen Eindruck. Was soll ich also sagen?
Daß ich meine Pflicht vernachlässigt habe? Oder, daß eure Herzen so verhärtet
sind, daß alles umsonst war? Soll ich zweifeln? Nein. Ich vertraue mich Gott
an, und ihm vertraue ich auch euch, meine Auserwählten, an. Er wird das Werk
seines Wortes vollenden. Ich bin nicht wie ein Vater, der stirbt und kein
anderes Licht hat als das irdische. Ich hoffe auf Gott. Und obwohl ich euch
noch so viele Ratschläge geben müßte, die ihr offensichtlich nötig habt, und
obwohl ich die Zeit fliehen fühle, gehe ich ruhig meinem Schicksal entgegen.
Ich weiß, daß auf die in euch gesäten Samen der Tau herniederfällt, der alle
zum Keimen bringt. Dann wird die Sonne des Paraklet erscheinen, und sie werden
zu mächtigen Bäumen heranwachsen. Der Fürst dieser Welt ist im Kommen, er, mit
dem ich nichts zu tun habe. Und wenn es nicht der Erlösung diente, würde er
nichts über mich vermögen. Doch dies geschieht, damit die Welt erkenne, daß
ich den Vater liebe, daß ich ihn im Gehorsam bis zum Tod liebe und daher tue,
was er mir befohlen hat.
Es ist Zeit zu gehen. Steht auf.
Hört die letzten Worte. Ich bin der wahre Weinstock. Der Vater ist der
Weingärtner. Jede Rebe, die keine Frucht bringt, entfernt er, und jede, die
Frucht bringt, reinigt er, damit sie noch mehr Frucht bringe. Ihr seid schon
rein durch mein Wort. Bleibt in mir und ich in euch, damit ihr rein bleibt.
Die vom Weinstock getrennte Rebe kann keine Frucht bringen. So auch ihr nicht,
wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben.
Wer in mir bleibt, wird viele Frucht bringen. Wer sich jedoch von mir trennt,
verdorrt wie der Rebzweig und wird ins Feuer geworfen und verbrennt. Denn ohne
die Vereinigung mit mir, könnt ihr nichts tun. Bleibt also in mir und bewahrt
meine Worte in euch; dann bittet um was ihr wollt, und es wird euch gegeben
werden. Mein Vater wird immer mehr verherrlicht, je mehr ihr Frucht bringt und
meine Jünger seid.
Wie mich der Vater geliebt hat,
so liebe ich euch. Bleibt in meiner erlösenden Liebe. Wenn ihr mich liebt,
werdet ihr mir gehorchen, und der Gehorsam wird die gegenseitige Liebe
vermehren. Sagt nicht, daß ich mich wiederhole. Ich kenne eure Schwäche. Und
ich will, daß ihr gerettet werdet. Das habe ich zu euch geredet, damit die
Freude, die ich euch geben wollte, in euch sei, und eure Freude vollkommen
werde. Liebt einander! Liebt einander! Das ist mein neues Gebot. Liebt euch
gegenseitig mehr, als jeder sich selbst liebt. Es gibt keine größere Liebe als
die Liebe
174
dessen, der sein Leben hingibt
für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, und ich gebe mein Leben für euch
hin. Tut also, was ich euch lehre und gebiete. Ich nenne euch nicht mehr
Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; ihr aber wißt, was ich
tue. Ihr wißt alles von mir. Ich habe euch nicht nur mich selbst zu erkennen
gegeben, sondern auch den Vater und den Paraklet und alles, was ich von Gott
gehört habe. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und
euch dazu bestimmt, daß ihr zu den Völkern geht und Frucht in euch und in den
Herzen der Bekehrten bringt, und daß eure Frucht bleibe und der Vater euch
gebe, was immer ihr von ihm in meinem Namen erbittet.
Sagt nicht: "Wenn du uns erwählt
hast, warum hast du dann auch einen Verräter erwählt? Wenn du alles weißt,
warum hast du das getan?" Fragt euch auch nicht, wer er ist. Er ist kein
Mensch. Er ist Satan. Ich habe es dem treuen Freund gesagt, und ich habe es
den Lieblingssohn aussprechen lassen. Er ist Satan. Wenn Satan – der ewige
Affe Gottes – nicht Fleisch angenommen hätte in einer sterblichen Hülle, wäre
dieser Besessene der Macht Jesu nicht entkommen. Ich habe gesagt: "Besessene".
Nein, er ist viel mehr: er ist ein in Satan Ausgelöschter.»
«Aber du hast doch Dämonen
ausgetrieben. Warum hast du dann ihn nicht befreit?» fragt Jakobus des
Alphäus.
«Fragst du das aus Selbstliebe,
weil du fürchtest, jener zu sein? Hab keine Angst.»
«Ich vielleicht?»
«Ich?»
«Oder ich?»
«Schweigt. Ich werde den Namen
nicht nennen. Ich übe Barmherzigkeit, und ihr sollt ebenso tun.»
«Aber warum hast du ihn nicht
besiegt? Konntest du es nicht?»
«Ich hätte es gekonnt. Aber um zu
verhindern, daß Satan Fleisch annimmt, um mich zu töten, hätte ich das ganze
Menschengeschlecht vor der Erlösung ausrotten müssen. Was hätte ich dann noch
erlöst?»
«Sage es mir, Herr! Sage es mir!»
Petrus ist auf die Knie gesunken und schüttelt Jesus heftig, als ob er von
Fieber befallen wäre. «Bin ich es? Bin ich es? Ich prüfe mich. Ich glaube es
nicht. Aber du... Du hast gesagt, daß ich dich verleugnen werde... Und ich
zittere. Oh, wie entsetzlich, wenn ich es wäre... !»
«Nein, Simon des Jonas, du
nicht.»
«Warum nennst du mich nicht mehr
"Fels"? Bin ich nun wieder Simon? Siehst du! Du sagst es! ... Ich bin es! Aber
wie konnte ich das? Sagt es mir... Sagt ihr es mir... Wann und wie konnte ich
zum Verräter werden? ... Simon? ... Johannes? ... So redet doch! ...»
«Petrus, Petrus, Petrus! Ich
nenne dich Simon, weil ich an unsere erste Begegnung denke, als du noch Simon
warst. Ich denke auch daran, wie du
175
von Anfang an immer treu gewesen
bist. Du bist es nicht. Ich, die Wahrheit, sage es dir.»
«Wer dann?»
«Es ist doch Judas von Kerioth!
Hast du das noch nicht begriffen?»schreit Thaddäus, der sich nicht mehr
beherrschen kann.
«Warum hast du mir das nicht
gleich gesagt? Warum?» schreit nun auch Petrus.
«Ruhe. Er ist Satan. Er hat
keinen anderen Namen. Wo gehst du hin, Petrus?»
«Ihn suchen.»
«Lege sofort den Mantel und die
Waffe ab. Oder muß ich dich fortjagen und verfluchen?»
«Nein, nein! Oh, mein Herr! Aber
ich... aber ich... bin ich vielleicht fieberkrank?» Petrus weint am Boden zu
Füßen Jesu.
«Ich gebe euch das Gebot, zu
lieben und zu verzeihen. Habt ihr verstanden? Wenn in der Welt auch Haß ist,
in euch soll nur Liebe sein. Zu allen. Wie viele Verräter werdet ihr auf eurem
Weg finden! Aber ihr dürft sie nicht hassen und ihnen Böses mit Bösem
vergelten. Sonst wird der Vater euch hassen. Vor euch haben sie mich gehaßt
und verraten. Und doch, ihr seht es, ich hasse nicht. Die Welt kann nicht
lieben, was anders ist als sie. Daher wird sie euch nicht lieben. Wenn ihr von
der Welt wäret, würde sie euch lieben; aber ihr seid nicht von der Welt, da
ich euch von der Welt auserwählt habe. Deshalb werdet ihr gehaßt.
Ich habe euch gesagt: Der Knecht
ist nicht mehr als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch
verfolgen. Haben sie mein Wort gehalten, so werden sie auch das eure halten.
Aber all das werden sie euch antun um meines Namens willen, weil sie den nicht
kennen, nicht kennen wollen, der mich gesandt hat. Wäre ich nicht gekommen und
hätte ich nicht zu ihnen geredet, so wären sie ohne Sünde. Nun aber haben sie
keine Entschuldigung für ihre Sünde. Sie haben meine Werke gesehen, meine
Worte gehört, und doch haben sie mich gehaßt, und mit mir den Vater; denn ich
und der Vater bilden eine Einheit mit der Liebe. Es steht geschrieben: "Sie
hassen mich grundlos." Wenn aber der Tröster, der Geist der Wahrheit, der vom
Vater ausgeht, kommt, wird er Zeugnis von mir geben. Auch ihr werdet von mir
Zeugnis geben, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen. Dies sage ich
euch, damit ihr, wenn die Stunde gekommen ist, nicht irre werdet und Anstoß
nehmt. Die Zeit wird kommen, da man euch aus den Synagogen ausstößt und jeder,
der euch tötet, Gott damit einen Dienst zu erweisen glaubt. Sie haben weder
mich noch den Vater kennengelernt. Das ist ihre Entschuldigung. Früher habe
ich euch diese Dinge nicht so ausführlich gesagt, denn ihr wart wie
neugeborene Kinder. Aber nun verläßt euch die Mutter. Ich gehe. Ihr müßt euch
an andere Nahrung gewöhnen. Ich will, daß ihr es wißt.
176
Keiner fragt mich mehr: "Wohin
gehst du?" Die Traurigkeit macht euch stumm. Und doch ist es auch für euch
gut, daß ich gehe. Denn sonst würde der Tröster nicht kommen. Ich werde ihn
euch senden. Wenn er gekommen ist, wird er durch die Weisheit und das Wort,
die Werke und den Heroismus, die er euch einflößt, die Welt von ihrer Sünde
des Gottesmordes überzeugen und meiner Heiligkeit Gerechtigkeit widerfahren
lassen. Die Menschheit wird sich spalten in Verworfene, die Feinde Gottes, und
in Gläubige. Letztere werden mehr oder weniger heilig sein, je nach ihrem
Willen. Aber das Gericht über den Fürsten der Welt und seine Diener wird
stattfinden. Mehr kann ich euch nicht sagen, denn ihr könnt es noch nicht
verstehen. Aber er, der göttliche Paraklet, wird euch die ganze Wahrheit
lehren, denn er wird nicht aus sich selbst reden, sondern alles sagen, was er
von den Gedanken Gottes hört, und er wird euch die Zukunft verkünden. Er wird
von dem Meinigen nehmen, das heißt, von dem, was der Vater hat, und wird es
euch sagen.
Noch eine kleine Weile sehen wir
uns. Dann seht ihr mich nicht mehr. Und wiederum eine kleine Weile, und ihr
seht mich wieder.
Ihr murrt untereinander und in
euren Herzen. Hört ein Gleichnis. Das letzte eures Meisters. Wenn eine Frau
empfangen hat und die Stunde der Geburt naht, hat sie Trauer, denn sie leidet
und stöhnt. Hat sie aber das Kind geboren und drückt es an ihr Herz, hört
aller Schmerz auf, und die Trauer wandelt sich in Freude, denn ein Mensch ist
zur Welt gekommen.
So wird es auch euch ergehen. Ihr
werdet weinen, und die Welt wird euch verspotten. Aber dann wird eure Trauer
sich in Freude wandeln. Eine Freude, die die Welt nicht kennt. Jetzt seid ihr
traurig. Aber wenn ihr mich wiederseht, wird euer Herz voll einer Freude sein,
die euch niemand mehr nehmen kann. Eine so große Freude wird es sein, daß sie
jedes Bedürfnis des Geistes, des Herzens und des Fleisches in den Schatten
stellt. Ihr werdet euch ganz der Freude, mich wiederzusehen, hingeben und
alles andere vergessen. Aber gerade von da an könnt ihr alles in meinem Namen
erbitten, und es wird euch vom Vater gegeben werden, damit eure Freude noch
zunehme. Bittet, bittet und ihr werdet empfangen.
Es kommt die Stunde, da ich offen
zu euch vom Vater sprechen werde; denn ihr werdet treu gewesen sein in der
Prüfung, und alles wird überstanden sein. Daher wird eure Liebe vollkommen
sein, denn sie hat euch Kraft in der Prüfung verliehen. Und was euch fehlt,
das werde ich ergänzen. Ich werde es von meinen unendlichen Schätzen nehmen
und sagen: "Vater, sieh. Sie haben mich geliebt und haben geglaubt, daß ich
von dir komme." Ich bin in die Welt herabgekommen und verlasse euch nun. Ich
gehe zum Vater und bitte für euch.»
«Oh, nun sprichst du klar! Nun
verstehen wir, was du sagen willst, und daß du alles weißt und antwortest,
bevor man dich fragt. Wahrlich, du kommst von Gott!»
177
«Nun glaubt ihr? In der letzten
Stunde? Seit drei Jahren spreche ich zu euch! Aber in euch wirkt schon das
Brot, das Gott ist, und der Wein, der Blut ist und nicht vom Menschen stammt.
Sie verleihen euch den ersten Schauer der Vergöttlichung. Wenn ihr ausdauernd
in meiner Liebe seid und mich immer besitzt, werdet ihr zu Göttern. Nicht wie
Satan es Adam und Eva versprach, sondern wie ich es euch sage. Es ist dies die
wahre Frucht vom Baum des Guten und des Lebens. Das Böse ist besiegt in dem,
der sich davon nährt, und der Tod ist überwunden. Wer davon ißt, wird ewig
leben und "Gott" im Reich Gottes werden. Ihr werdet Götter sein, wenn ihr in
mir bleibt. Und doch... obwohl ihr dieses Brot und dieses Blut in euch habt –
denn die Stunde naht, da ihr zerstreut werdet – werdet ihr eures Weges gehen
und mich alleinlassen... Aber ich bin nicht allein. Ich habe den Vater bei
mir. Vater! Vater! Verlaß mich nicht! Ich habe euch alles gesagt... Um euch
den Frieden zu geben. Meinen Frieden. Noch werdet ihr betrübt sein. Doch
glaubt mir. Ich habe die Welt überwunden.»
Jesus erhebt sich, öffnet weit
die Arme und spricht mit leuchtendem Antlitz das erhabene, an den Vater
gerichtete Gebet. Johannes gibt es uns wortwörtlich wieder.
Die Apostel weinen mehr oder
weniger laut und offen. Zuletzt singen sie ein Loblied.
Jesus segnet sie. Dann gebietet
er: «Wir wollen jetzt die Mäntel anlegen und gehen. Andreas, sage dem
Hausherrn, daß er alles so lassen soll. Das ist mein Wille. Morgen... werdet
ihr euch freuen, diesen Ort wiederzusehen.» Jesus betrachtet ihn. Er scheint
die Wände, die Möbel, alles zu segnen. Dann hüllt er sich in seinen Mantel und
geht, gefolgt von den Aposteln und Johannes an seiner Seite, auf den er sich
stützt.
«Grüßt du deine Mutter nicht?»
fragt ihn der Sohn des Zebedäus.
«Nein. Es ist schon alles
geschehen. Macht keinen Lärm.»
Simon, der eine Fackel an der
Lampe entzündet hat, leuchtet voran im weiten Korridor, der zur Tür führt.
Petrus öffnet vorsichtig das Haustor. Sie gehen auf die Straße hinaus und
riegeln durch eine Vorrichtung von außen zu. Dann machen sie sich auf den Weg.
661. BETRACHTUNGEN ÜBER DAS
LETZTE ABENDMAHL
Jesus sagt:
«Aus der Episode des Abendmahls
sind, außer der Betrachtung der Liebe eines Gottes, der sich den Menschen zur
Speise gibt, vier hauptsächliche Lehren zu entnehmen:
1. Die Pflicht aller Kinder
Gottes, dem Gesetz zu gehorchen.
Das Gesetz gebot, am Passahfest
das Osterlamm zu verzehren mit dem
178
Ritual, das der Allerhöchste dem
Moses vorgeschrieben hatte; und ich, der wahre Sohn des wahren Gottes, fühlte
mich durch meine Gottheit nicht über dieses Gesetz erhaben. Ich war auf der
Erde: Mensch unter Menschen und Meister der Menschen. Ich mußte daher meine
Pflicht als Mensch gegen Gott wie die anderen und besser als sie erfüllen. Die
Gnaden Gottes entbinden nicht vom Gehorsam und von der Bemühung, eine immer
vollkommenere Heiligkeit zu erreichen. Wenn ihr die höchste Heiligkeit mit der
göttlichen Vollkommenheit vergleicht, werdet ihr sie noch immer voller Mängel
finden, und sie ist deshalb gezwungen sich zu bemühen, diese Mängel
auszumerzen und einen Grad der Vollkommenheit zu erreichen, der sich so weit
als möglich der Vollkommenheit Gottes annähert.
2. Die Macht des Gebetes Marias.
Ich war fleischgewordener Gott.
Ein Fleisch, das, weil ohne Makel, die geistige Kraft besaß, das Fleisch zu
beherrschen. Dennoch habe ich die Hilfe der Gnadenvollen nicht verschmäht,
sondern vielmehr darum gebeten; denn wenn sie auch in dieser Stunde der Sühne
den Himmel über sich verschlossen fand, so doch nicht so vollständig, daß es
ihr, der Königin der Engel, nicht gelungen wäre, dem Himmel einen Engel
abzuringen als Trost für ihren Sohn. Oh, nicht für sich selbst, die arme Mama!
Auch sie hat die Bitterkeit verkostet, vom Vater verlassen zu sein; aber
dieser für die Erlösung aufgeopferte Schmerz hat mir die Kraft erlangt, die
Todesangst im Ölgarten zu überwinden und die Passion durchzustehen in der
Vielfalt ihrer Schmerzen, von denen jeder dazu diente, eine bestimmte Art und
Weise der Sünde zu tilgen.
3. Sich selbst zu beherrschen und
Beleidigungen zu erdulden – was der höchste Grad der Liebe ist – gelingt nur
denen, die das Gebot der Liebe zum Leitsatz ihres Lebens machen. Das Gebot der
Liebe, das ich nicht nur gelehrt, sondern auch in die Tat umgesetzt habe.
Ihr könnt euch nicht vorstellen,
was es für mich bedeutet hat, den Verräter an meinem Tisch zu haben, mich ihm
geben zu müssen, mich vor ihm demütigen zu müssen, mit ihm aus dem Kelch des
Rituals trinken zu müssen, meine Lippen an die Stelle zu legen, von der er
getrunken hatte, und auch meine Mutter dort trinken zu lassen. Eure Ärzte
haben oft über meinen so rasch eingetretenen Tod diskutiert und tun es immer
noch. Sie nehmen als Ursache eine Verletzung des Herzens bei der Geißelung an.
Ja, auch dadurch wurde mein Herz krank. Aber es war schon beim Abendmahl
krank. Gebrochen, gebrochen von der Anstrengung, den Verräter an meiner Seite
ertragen zu müssen. Es war schon der Anfang meines körperlichen Sterbens.
Alles übrige war nur eine Steigerung dieses Todeskampfes. Was ich tun konnte,
habe ich getan, denn ich war die Liebe. Auch in der Stunde, da der Gott der
Liebe sich von mir zurückzog, war ich noch Liebe, denn ich hatte alle meine
dreiunddreißig Jahre von
179
Liebe gelebt. Man kann nicht die
Vollkommenheit erreichen, die nötig ist, um den, der uns beleidigt, zu
ertragen und ihm zu verzeihen, wenn die Liebe nicht zur Gewohnheit geworden
ist. Ich hatte diese Gewohnheit und konnte verzeihen und diesen Meister der
Beleidigung, der Judas war, ertragen.
4. Das Sakrament ist um so
wirksamer, je würdiger man ist, es zu empfangen. Man wird seiner würdig durch
einen ausdauernden Willen, der das Fleisch vernichtet und den Geist zum
Herrscher erhebt, der die Leidenschaften besiegt, das ganze Sein den Tugenden
unterwirft und es auf die Vervollkommnung dieser Tugenden und vor allem der
Liebe ausrichtet.
Denn wer liebt, versucht, den
Geliebten zu erfreuen. Bei Johannes, der mich liebte wie kein anderer und der
rein war, bewirkte das Sakrament die größte Transformation. Von diesem
Augenblick an begann er der Adler zu sein, der sich in den Himmelshöhen Gottes
zu Hause fühlt, dem es leichtfällt, aufzusteigen und die ewige Sonne zu
schauen. Aber wehe dem, der das Sakrament durchaus unwürdig empfängt, der
sogar seine immer gegebene menschliche Unwürdigkeit noch durch Todsünden
vergrößert. Dann wird es nicht zum Mittel der Bewahrung, des Schutzes und des
Lebens, sondern es führt zum Verderben und zum Tod. Zum Tod des Geistes und
zur Fäulnis des Fleisches, das bersten wird, wie Petrus vom Fleisch des Judas
sagt. Ein solcher vergießt nicht den lebendigen, schönen Purpur seines Blutes,
sondern die von allen Begierden schwarz gewordenen Eingeweide; die Fäulnis
quillt aus seinem verdorbenen Fleisch, wie aus dem Aas eines unreinen, bei den
Vorübergehenden Abscheu erregenden Tieres. Wer das Sakrament entweiht, stirbt
immer den Tod der Verzweiflung. Er kennt nicht den sanften Übergang eines
Menschen im Stand der Gnade, noch den heroischen Übergang des Opfers, das
unter schweren Leiden, aber mit zum Himmel gerichtetem Blick stirbt und dessen
Seele des Friedens gewiß ist. Der Tod des Verzweifelten ist furchtbar und
voller Schrecken. Er ist ein entsetzlicher Krampf der Seele, die sich schon in
den Klauen Satans windet, der sie würgt, um sie aus dem Leib zu reißen, und
sie mit seinem Pesthauch erstickt. Das ist der Unterschied zwischen einem
Menschen, der ins andere Leben hinübergeht, nachdem er sich in diesem von
Liebe, Glauben, Hoffnung und jeder anderen Tugend, von der himmlischen Lehre
und dem Brot der Engel genährt hat, dessen Früchte, oder besser noch, dessen
wirkliche Gegenwart ihn auch auf der letzten Reise begleitet, und dem
Menschen, der nach einem lasterhaften Leben den Tod des Verworfenen stirbt,
den die Gnade und das Sakrament nicht trösten. Ersteres ist das sanfte Ende
des Heiligen, dem der Tod das ewige Reich öffnet. Das andere ist der
furchtbare Fall des Verdammten, der sich in den ewigen Tod stürzen sieht und
in einem Augenblick erkennt, was er aus eigenem Willen verloren hat, und daß
er nun nichts mehr wiedergutmachen
180
kann. Für den einen ein Gewinn,
für den anderen ein Verlust. Für den einen Freude, für den anderen Schrecken.
Das ist es, was ihr euch selbst
erwerbt, je nachdem, ob ihr meine Gabe liebt und an sie glaubt oder über sie
lacht und nicht an sie glaubt. Das ist die Lehre, die ihr aus dieser
Betrachtung ziehen sollt.
662. DIE TODESANGST UND DIE
GEFANGENNAHME IN GETHSEMANE
Die Straße ist ruhig und
verlassen. Nur das Plätschern eines Brunnens, dessen Wasser sich in ein
steinernes Becken ergießt, erfüllt die tiefe Stille. Entlang den Hausmauern
auf der Ostseite ist es noch dunkel, während der Mond schon die Dächer auf der
anderen Seite aufleuchten läßt; und dort, wo die Straße in einen kleinen Platz
mündet, steigt der milchige Silberschein hinunter und verschönt auch die
Steine und den Staub der Straße. Aber unter den zahlreichen Gewölben, die ein
Haus mit dem anderen verbinden, gleich Zugbrücken oder Streben zwischen diesen
alten Häusern mit ihren wenigen Öffnungen zur Straße, die nun alle
verschlossen und finster sind, so als wären die Häuser verlassen, ist es
vollkommen dunkel. Dort leuchtet die rötliche Fackel Simons besonders lebhaft
und ist wohl auch besonders nützlich. In ihrem roten, flackernden Licht
zeichnen sich die Gesichter scharf ab, und jedes verrät einen anderen
Seelenzustand.
Das feierlichste und ruhigste ist
das Gesicht Jesu. Die Müdigkeit macht es älter und gräbt sonst nicht
vorhandene Linien darauf ein, die schon das zukünftige Bild seines Antlitzes
im Tod erkennen lassen.
Johannes an seiner Seite
betrachtet alles mit erstauntem, leidendem Blick. Er gleicht einem durch eine
Erzählung oder eine furchterregende Ankündigung verschreckten Kind, das
hilfesuchend nach jemandem Umschau hält, der mehr weiß als er. Aber wer kann
ihm schon helfen?
Simon, der auf der anderen Seite
Jesu geht, macht ein verschlossenes, düsteres Gesicht und scheint über
schrecklichen Gedanken zu brüten. Dabei ist er noch der einzige nach Jesus,
der ein würdiges Aussehen hat.
Die anderen, die zwei sich
fortwährend verändernde Gruppen bilden, sind ganz Unruhe. Ab und zu erhebt
sich die rauhe Stimme des Petrus oder der Bariton des Thomas und erzeugt einen
eigenartigen Widerhall. Dann werden sie wieder leise, so als hätten sie Angst
vor dem, was sie sagen. Sie diskutieren darüber, was zu tun ist, und schlagen
dies und das vor. Doch alle Vorschläge werden verworfen, denn nun beginnt
wahrlich die Stunde der Finsternis, und das menschliche Urteil ist verdunkelt
und verworren.
«Man hätte es mir vorher sagen
sollen», murrt Petrus.
181
«Aber nicht einer hat etwas
gesagt. Weder der Meister...»
«Doch! Gerade er hat es dir
gesagt. Aber Bruder! Mir scheint, du kennst ihn immer noch nicht...»
«Ich habe etwas Schlimmes
vermutet und gesagt: "Wir wollen mit ihm sterben." Erinnert ihr euch? Aber bei
unserem allerhöchsten Gott, hätte ich gewußt, daß es Judas des Simon ist... !»
donnert Thomas drohend.
«Und was hättest du getan?» fragt
Bartholomäus.
«Ich? Ich würde es auch jetzt
noch tun, wenn ihr mir helfen würdet!»
«Was? Würdest du gehen und ihn
umbringen? Und wohin?»
«Nein. Ich würde den Meister
wegbringen. Das wäre leichter.»
«Er würde nicht mitgehen.»
«Ich würde ihn nicht erst fragen,
ob er mitkommen will. Ich würde ihn entführen, wie man eine Frau entführt.»
«Das wäre keine schlechte Idee!»
sagt Petrus, macht sofort kehrt und geht zur Gruppe der beiden Söhne des
Alphäus, die leise wie Verschwörer mit Matthäus und Jakobus tuscheln.
«Hört. Thomas meint, wir sollten
Jesus wegbringen. Alle zusammen. Wir könnten... von Gethsemane über Bethphage
nach Bethanien, und von dort... irgendwohin. Sollen wir es tun? Wenn er in
Sicherheit gebracht ist, kommen wir zurück und rechnen mit Judas ab.»
«Es wäre sinnlos. Israel ist eine
einzige Falle», sagt Jakobus des Alphäus.
«Und sie ist dabei,
zuzuschnappen. Es war vorauszusehen. Zu viel Haß!»
«Aber Matthäus, du machst mich
wütend! Du hattest mehr Mut, als du noch ein Sünder warst! Was meinst du,
Philippus?»
Philippus, der ganz allein geht
und ein Selbstgespräch zu führen scheint, hebt den Kopf und bleibt stehen.
Petrus kommt zu ihm, und sie flüstern miteinander. Dann kehren sie zur ersten
Gruppe zurück. «Ich meine, der beste Ort ist immer noch der Tempel», sagt
Philippus.
«Bist du von Sinnen?» rufen die
Vettern, Matthäus und Jakobus. «Aber die dort wollen ihn doch töten!»
«Ssss... Schreit nicht so. Ich
weiß, was ich sage. Sie werden ihn überall suchen. Aber nicht dort. Du und
Johannes, ihr habt gute Freunde unter den Dienern des Annas. Wir geben ihnen
einen Batzen Geld... und alles ist erledigt. Glaubt mir, der beste Platz, um
einen Gesuchten zu verstecken, ist das Haus der Gefangenenwärter.»
«Ich tue es nicht», sagt Jakobus
des Zebedäus. «Aber frage auch die anderen. Zuerst Johannes. Und wenn sie ihn
dann gefangennehmen? Ich will nicht, daß man sagt, ich sei ein Verräter...»
«Daran habe ich nicht gedacht.
Was dann?» Petrus ist am Boden zerstört.
«Ich will euch sagen, was wir aus
Barmherzigkeit tun sollten. Das einzige, was wir tun können. Die Mutter
wegbringen ...» sagt Judas der Alphäus.
182
«Schon... Aber wer geht zu ihr?
Und was sollen wir ihr sagen? Geh du, du bist ein Verwandter.»
«Ich bleibe bei Jesus. Das ist
mein Recht. Geh du.»
«Ich? Ich habe mich mit einem
Schwert bewaffnet, um wie Eleazar Auaran zu sterben. Ich werde mich durch
Legionen hindurchkämpfen, um meinen Jesus zu verteidigen, und rücksichtslos
zuschlagen. Wenn dann die Übermacht mich überwältigt, so macht das nichts. Ich
werde ihn wenigstens verteidigt haben», erklärt Petrus.
«Bist du wirklich sicher, daß es
Iskariot ist?» fragt Philippus Thaddäus.
«Ich bin ganz sicher. Keiner von
uns hat das Herz einer Schlange. Nur er... Matthäus, geh du zu Maria und sage
ihr...»
«Ich? Sie belügen? Sie an meiner
Seite ahnungslos sehen und dann? ... O nein! Ich bin bereit zu sterben, aber
nicht, diese Taube zu verraten...»
Die Stimmen verlieren sich in
einem Flüstern.
«Hörst du, Meister. Wir lieben
dich», sagt Simon.
«Ich weiß es. Aber es braucht
nicht solche Worte, damit ich es weiß. Wenn sie auch dem Herzen Christi
Frieden schenken, so verletzen sie doch seine Seele.»
«Warum mein Herr? Es sind Worte
der Liebe.»
«Ganz menschlicher Liebe.
Wahrlich, in diesen drei Jahren habe ich nichts erreicht, denn ihr seid noch
mehr Mensch, als ihr es in der ersten Stunde gewesen seid. Heute abend gärt in
euch alle schmutzige Hefe. Aber es ist nicht eure Schuld.»
«Rette dich, Jesus!» fleht
Johannes.
«Ich rette mich.»
«Ja? Oh! Mein Gott, ich danke
dir!» Johannes gleicht einer von der Hitze der Sonne versengten Blume, die
sich wieder auf ihrem Stengel aufrichtet. «Ich werde es den anderen sagen.
Wohin gehen wir?»
«Ich in den Tod. Ihr zum
Glauben.»
«Aber hast du nicht gerade
gesagt, daß du dich retten wirst?» Der Lieblingsjünger ist erneut
niedergeschlagen.
«Ich werde mich retten. Ja, ich
rette mich. Wenn ich dem Vater nicht gehorchen würde, wäre ich verloren. Aber
ich gehorche, und daher rette ich mich. Aber weine doch nicht so! Du bist
weniger tapfer als die Schüler dieses griechischen Philosophen, von dem ich
dir einmal erzählt habe. Sie sind bei ihrem Meister geblieben, der am
Schierling gestorben ist, und haben ihn durch ihren mannhaften Schmerz
getröstet. Du... du gleichst einem Kind, das seinen Vater verloren hat.»
«Ist es etwa nicht so? Mehr als
den Vater werde ich verlieren! Ich verliere dich ...»
«Du verlierst mich nicht. Denn du
wirst mich weiterhin lieben. Nur der ist verloren, der von uns getrennt ist
durch das Vergessen auf Erden und
183
durch das Gericht Gottes im
Jenseits. Aber wir werden nicht getrennt sein. Niemals! Weder durch das eine
noch durch das andere.»
Aber Johannes will keine Vernunft
annehmen.
Simon kommt noch näher zu Jesus
und vertraut ihm heimlich an: «Meister... ich... ich und Simon Petrus, wir
hofften, etwas Gutes zu tun... Aber... du, der du alles weißt, sage mir: In
wie vielen Stunden, glaubst du, wird man dich gefangennehmen?»
«Wenn der Mond seinen höchsten
Stand erreicht hat.»
Mit einer Geste von Traurigkeit
und Ungeduld, um nicht zu sagen Ärger, antwortet Simon: «Dann ist alles
umsonst gewesen... Meister, laß mich dir erklären. Du hast Simon Petrus und
mich beinahe gescholten, weil wir dich so allein gelassen haben die letzten
Tage... Aber wir sind deinetwegen weggewesen... Aus Liebe zu dir. Petrus ist
in der Nacht des Montag sehr betrübt über deine Worte zu mir gekommen, hat
mich geweckt und gesagt: "Ich und du – denn dir vertraue ich – wir müssen
etwas für Jesus tun. Auch Judas hat gesagt, daß er sich darum kümmern wird."
Ach, warum haben wir es nicht sofort begriffen? Warum hast du uns nichts
gesagt? Aber sage mir: Hast du es niemandem gesagt? Wirklich niemandem?
Vielleicht weißt du es selbst erst seit einigen Stunden?»
«Ich habe es immer gewußt. Schon
bevor er zu den Jüngern gehörte. Und damit sein Verbrechen nicht vollkommen
werde, sowohl in göttlicher als auch in menschlicher Hinsicht, habe ich mit
allen Mitteln versucht, ihn von mir zu entfernen. Jene, die meinen Tod wollen,
sind die Henker Gottes. Dieser mein Jünger und Freund ist auch der Verräter,
der Henker des Menschen. Mein erster Henker, denn die Mühe, ihn an meiner
Seite, an meinem Tisch ertragen zu müssen, ihn vor euch in Schutz nehmen zu
müssen, hat mich schon umgebracht.»
«Und niemand weiß es?»
«Nur Johannes. Ich habe es ihm am
Ende des Abendmahls gesagt. Aber was habt ihr getan?»
«Und Lazarus? Weiß Lazarus
wirklich nichts? Heute sind wir bei ihm gewesen, denn er ist am frühen Morgen
gekommen, hat sein Opfer dargebracht und ist dann, ohne sich auch nur in
seinem Palast aufzuhalten oder im Prätorium vorbeizuschauen, wieder
fortgegangen. Sonst geht er immer dorthin. Diese Gewohnheit hat er von seinem
Vater übernommen... Und Pilatus ist doch in diesen Tagen in der Stadt, das
weißt du...»
«Ja, alle sind da. Rom ist da,
das neue Sion, in der Person des Pilatus. Israel ist da, mit Kaiphas und
Herodes. Ganz Israel ist da, denn das Passahfest hat die Kinder dieses Volkes
am Fuß des Altares Gottes versammelt... Hast du Gamaliel gesehen?»
«Ja. Warum diese Frage? Ich werde
ihn auch morgen wieder sehen...»
«Gamaliel ist heute abend in
Bethphage. Ich weiß es. Wenn wir Gethsemane erreicht haben, wirst du zu
Gamaliel gehen und ihm sagen: "Bald
184
wirst du das Zeichen erhalten,
auf das du seit einundzwanzig Jahren wartest." Sonst nichts. Dann kommst du zu
den Gefährten zurück.»
«Aber woher weißt du das? Oh,
mein Meister, mein armer Meister, du hast nicht einmal den Trost, nicht um die
Werke der anderen zu wissen.»
«Du hast recht. Den Trost, nicht
zu wissen! Armer Meister! Denn es gibt mehr böse Taten als gute Werke. Aber
ich sehe auch die guten Werke und freue mich darüber.»
«Dann weißt du auch, daß...»
«Simon, es ist die Stunde meiner
Passion. Um sie vollkommener zu machen, nimmt der Vater das Licht von mir, je
näher sie rückt. Bald wird nur noch Finsternis um mich sein und die
Betrachtung dessen, was Finsternis ist: alle Sünden der Menschen. Du kannst,
ihr könnt dies nicht verstehen. Keiner, mit Ausnahme dessen, der von Gott als
besondere Aufgabe dazu berufen wird, wird diese Passion in der großen Passion
begreifen; und da der Mensch stofflich ist, auch im Lieben und Betrachten,
wird es viele geben, die weinen und leiden wegen der Schläge und Qualen des
Erlösers, die aber die geistigen Qualen niemals ermessen können. Und diese,
glaubt es mir, ihr, die ihr mich hört, werden die furchtbarsten sein... Sprich
nun, Simon. Führe mich die Wege, die deine Freundschaft für mich gegangen ist,
denn ich bin arm und geblendet und sehe Gespenster, aber nicht wirkliche
Dinge...»
Johannes drückt Jesus an sich und
fragt: «Wie? Siehst du deinen Johannes nicht mehr?»
«Ich sehe dich. Aber die
Gespenster tauchen aus dem Nebel Satans auf. Visionen des Schreckens und der
Schmerzen. Alle sind wir heute abend von diesen Dünsten der Hölle umgeben. In
mir versuchen sie, Feigheit, Ungehorsam und Schmerz zu erzeugen. In euch
werden sie Enttäuschung und Angst erzeugen. Andere, die weder ängstlich noch
verbrecherisch sind, werden sie zu Feiglingen und Verbrechern machen. In
anderen, die schon Satan angehören, werden sie übernatürliche Verderbtheit
auslösen. Ich sage so, da ihre Vollkommenheit im Bösen alle menschlichen
Möglichkeiten übersteigen wird; und eine Vollkommenheit zu erreichen, ist
immer etwas Überirdisches. Sprich, Simon.»
«Ja. Seit Dienstag tun wir nichts
anderes als herumlaufen, um etwas zu erfahren, vorzubeugen und Hilfe zu
suchen.»
«Und was habt ihr erreicht?»
«Nichts. Oder doch nur recht
wenig.»
«Und das Wenige wird sich in
Nichts auflösen, wenn die Angst die Herzen lähmt.»
«Ich habe mich auch mit Lazarus
gestritten... Es ist das erste Mal, daß mir dies passiert... Gestritten, weil
es mir schien, daß er teilnahmslos zusieht... Er könnte etwas tun. Er ist ein
Freund des Statthalters. Er ist immerhin der Sohn des Theophilus! Aber Lazarus
hat alle meine Vorschläge
185
abgelehnt. Ich habe ihn
stehengelassen und geschrien: "Ich glaube, der Freund, von dem der Meister
spricht, bist du. Ich verabscheue dich!" Und ich wollte nicht mehr zu ihm
zurückkehren... Doch heute morgen hat er mich gerufen und gesagt: "Bist du
immer noch der Meinung, daß ich der Verräter bin?" Ich hatte schon Gamaliel,
Joseph und Chuza, Nikodemus und Manaen und endlich deinen Bruder Joseph
gesehen... und konnte so etwas nicht mehr glauben. Also sagte ich zu ihm:
"Verzeih, Lazarus. Mein Geist ist so verwirrt, mehr als damals, als ich selbst
verurteilt war." Und so ist es, Meister... Ich bin nicht mehr ich selbst...
Aber warum lächelst du?»
«Weil du bestätigst, was ich dir
zuvor gesagt habe. Der Nebel Satans umgibt und verwirrt dich. Was hat Lazarus
geantwortet?»
«Er hat gesagt: "Ich verstehe
dich. Komm heute mit Nikodemus. Ich muß dich sehen." Also bin ich zu ihm
gegangen, während Simon Petrus zu den Galiläern gegangen ist. Denn dein Bruder
– obwohl er von weither gekommen ist – weiß mehr als wir. Er sagt, er habe es
zufällig im Gespräch mit einem alten Galiläer erfahren, einem Freund des
Alphäus und des Joseph, der in der Nähe des Marktes wohnt.»
«Ah! ... ja... Ein guter Freund
des Hauses...»
«Er ist dort, mit Simon und den
Frauen. Auch die Familie von Kana ist dort.»
«Ich habe Simon gesehen.»
«Nun, Joseph hat von diesem
Freund, der auch mit jemandem im Tempel befreundet ist, der durch Heirat mit
ihm verwandt ist, erfahren, daß deine Gefangennahme beschlossen wurde, und er
hat dem Petrus gesagt: "Ich war nie mit ihm einverstanden. Aber aus Liebe zu
ihm und solange er noch stark war. Nun, da er wie ein Kind die Beute seiner
Feinde ist, bin ich, sein Verwandter, der ihn immer geliebt hat, mit ihm. Es
ist eine Pflicht des Blutes und des Herzens."»
Jesus lächelt und sein Antlitz
leuchtet einen Augenblick, wie in den Stunden der Freude.
«Und Joseph hat zu Petrus gesagt:
"Die Pharisäer von Galiläa sind Vipern, wie alle Pharisäer. Aber in Galiläa
gibt es nicht nur Pharisäer. Und hier sind viele Galiläer, die ihn lieben. Wir
gehen zu ihnen und fordern sie auf, sich zusammenzuschließen und ihn zu
verteidigen. Wir haben nichts als Messer. Aber auch Prügel sind Waffen, wenn
man sie zu gebrauchen versteht. Und wenn das römische Militär nicht eingreift,
werden wir leicht mit diesem feigen Gesindel, den Häschern des Tempels,
fertig." Petrus ist mit ihm gegangen. Ich bin indessen mit Nikodemus zu
Lazarus gegangen. Wir hatten beschlossen, Lazarus zu überreden, mit uns zu
kommen und sein Haus zu öffnen, um in deiner Nähe zu sein. Er aber hat gesagt:
"Ich muß Jesus gehorchen und hierbleiben. Und doppelt leiden..." Ist das
wahr?»
186
«Es ist wahr. Ich habe ihm diesen
Befehl gegeben.»
«Aber er hat mir die Schwerter
gegeben. Sie gehören ihm. Eines für mich und das andere für Petrus. Auch Chuza
wollte mir Schwerter geben. Aber... was sind schon zwei Stück Eisen gegen eine
ganze Welt? Chuza kann nicht glauben, daß deine Worte wahr sind. Er schwört,
daß er von nichts weiß und daß man am Hof nur daran denkt, das Fest zu
genießen... Eine Prasserei, wie üblich. Deshalb hat er Johanna geraten, sich
in eines ihrer Häuser in Judäa zurückzuziehen. Aber Johanna will hierbleiben.
Eingeschlossen in ihren Palast, so als ob sie nicht hier wäre. Und sie geht
nicht fort. Bei ihr sind Plautina, Anna, Nike und zwei römische Damen aus dem
Haus der Claudia. Sie weinen, sie beten und lassen die unschuldigen Kinder
beten. Aber jetzt ist es nicht Zeit zu beten. Es ist Zeit, Blut zu vergießen.
Ich fühle den "Zeloten" in mir zum Leben erwachen und brenne darauf, zu töten,
um zu rächen... !»
«Simon! Wenn du verflucht sterben
solltest, hätte ich dich nicht aus der Trostlosigkeit befreit!» Jesus ist
äußerst streng.
«Oh, verzeih, Meister... Verzeih!
Ich bin wie betrunken, wie im Delirium.»
«Und Manaen, was sagt er?»
«Manaen sagt, es könne nicht wahr
sein, und wenn, dann würde er dir nachfolgen, auch in den Tod.»
«Wie seid ihr eurer selbst alle
so sicher! ... Wieviel Stolz ist im Menschen! Und Nikodemus und Joseph? Was
wissen sie?»
«Nicht mehr als ich. Vor einiger
Zeit hat sich Joseph bei einer Versammlung mit dem Synedrium angelegt, denn er
hat sie Mörder genannt, die einen Unschuldigen töten wollen, und hat gesagt:
"Hier drinnen ist alles gesetzwidrig." Er hat recht: Der Greuel ist im Haus
des Herrn. Dieser Altar muß zerstört werden, denn man hat ihn geschändet. Sie
haben ihn nicht gesteinigt, weil er Joseph ist. Aber von da an haben sie ihn
über alles im dunkeln gelassen. Nur Gamaliel und Nikodemus sind seine Freunde
geblieben. Aber ersterer spricht nicht. Und der andere... Weder er noch Joseph
sind mehr zu den Versammlungen des Synedriums gerufen worden, in denen es um
Entscheidungen ging. Das Synedrium versammelt sich entgegen der Vorschrift da
und dort, zu verschiedenen Stunden, aus Angst vor ihnen und vor Rom. Ach! ...
Beinahe hätte ich es vergessen... Die Hirten. Auch sie sind bei den Galiläern.
Aber wir sind nur wenige! Wenn Lazarus auf uns gehört hätte und zum Prätor
gegangen wäre! Aber er wollte nicht auf uns hören... Dies haben wir getan...
Viel... und nichts... Und ich bin so niedergeschlagen, daß ich in die Felder
laufen und wie ein Schakal heulen möchte, daß ich mich in einer Orgie betäuben
und wie ein Räuber töten möchte, nur um von dem Gedanken loszukommen, daß
alles "nutzlos" ist, wie Lazarus gesagt hat, wie auch Joseph und Chuza und
Manaen und Gamaliel gesagt haben ...» Der Zelote scheint nicht mehr er selbst
zu sein.
187
«Was hat der Rabbi gesagt?»
«Er hat gesagt: "Ich kenne die
Absichten des Kaiphas nicht genau. Aber ich sage euch, nur für den Christus
ist prophezeit, was ihr sagt. Und da ich diesen Propheten nicht für den
Christus halte, finde ich, daß kein Grund zur Aufregung besteht. Ein Mensch
wird getötet werden. Ein guter Mensch. Ein Freund Gottes. Aber von wie vielen
seinesgleichen hat Sion nicht schon das Blut getrunken?!" Und da wir auf
deiner göttlichen Natur bestanden, hat er hartnäckig wiederholt: "Wenn ich das
Zeichen sehe, werde ich glauben." Er hat versprochen, daß er an der Abstimmung
über dein Todesurteil nicht teilnehmen wird und vielmehr, wenn möglich,
versuchen wird, die anderen zu überzeugen, dich nicht zu verurteilen. Das ist
alles. Er glaubt nicht! Er glaubt nicht! Wenn wir nur bis morgen Zeit
hätten... Aber du sagst nein. Oh, was werden wir tun?»
«Du wirst zu Lazarus gehen und
versuchen, so viele als möglich mitzunehmen. Nicht nur die Apostel. Auch die
auf den Feldwegen herumirrenden Jünger. Versuche, die Hirten zu treffen, und
bringe ihnen diese Anordnung. Das Haus von Bethanien ist mehr denn je das Haus
von Bethanien: das Haus der guten Gastlichkeit. Wer nicht den Mut hat, dem Haß
eines ganzen Volkes zu begegnen, soll sich dorthin zurückziehen. Und
warten...»
«Aber wir werden dich nicht
verlassen.»
«Trennt euch nicht... Getrennt
würdet ihr ein Nichts sein. Vereint seid ihr immer noch eine Kraft. Simon,
versprich mir dies. Du bist ruhig und verläßlich, und auch Petrus hört auf
dein Wort. Du schuldest mir sehr viel. Ich erinnere dich zum ersten Mal daran,
um dich zum Gehorsam zu verpflichten. Schau, wir sind am Kedron. Von dort bist
du als Aussätziger zu mir gekommen, und rein hast du diesen Ort verlassen. Um
dessentwillen, was ich für dich getan habe, gib mir. Gib dem Menschen, was ich
dem Menschen gegeben habe. Nun bin ich der Aussätzige...»
«Nein! Sage so etwas nicht!»
stöhnen die beiden Jünger gleichzeitig.
«So ist es! Petrus, meine Brüder
werden sich am schlimmsten fühlen. Wie ein Verbrecher wird sich mein ehrlicher
Petrus fühlen und keinen Frieden finden. Und die Brüder... sie werden nicht
das Herz haben, zu ihrer und meiner Mutter aufzuschauen... Ich empfehle sie
dir...»
«Und ich, Herr? Wer wird sich
meiner annehmen? An mich denkst du nicht?»
«0 mein Junge! Du bist deiner
Liebe anvertraut. Sie ist stark und wird dich wie eine Mutter leiten. Ich gebe
dir weder Befehl noch Führer. Ich lasse dich auf den Wassern der Liebe, dem
starken und tiefen Strom in dir, der keine Zweifel an deinem Morgen gestattet.
Simon, hast du gehört? Versprich mir, versprich mir!» Es ist schmerzlich,
Jesus so angstvoll zu sehen... Er fährt fort: «Bevor die anderen kommen! Oh!
Danke! Sei gesegnet.»
188
Die ganze Gruppe ist nun
beisammen.
«Wir wollen uns nun trennen. Ich
gehe hinauf und bete. Petrus, Johannes und Jakobus nehme ich mit. Ihr bleibt
hier. Wenn man euch Gewalt antut, ruft. Habt keine Angst. Es wird euch kein
Haar gekrümmt werden. Betet für mich. Legt Haß und Angst ab. Es wird nur ein
Augenblick sein... und dann wird die Freude vollkommen sein. Lächelt, damit
ich euer Lächeln im Herzen habe. Und noch einmal Dank für alles, Freunde. Lebt
wohl. Der Herr möge euch nicht verlassen...»
Jesus trennt sich von den
Aposteln und geht voraus, während Petrus sich von Simon die Fackel geben läßt,
nachdem dieser harzige Reiser an ihr entzündet hat, die nun prasselnd am Rand
des Olivenhaines brennen und den Duft von Wacholder verbreiten.
Thaddäus tut mir leid. Er schaut
Jesus mit so eindringlichen, schmerzerfüllten Blicken nach, daß dieser sich
umdreht um zu sehen, wer ihn anschaut. Doch Thaddäus verbirgt sich hinter
Bartholomäus und beißt sich auf die Lippen, um sich zu beherrschen.
Jesus macht eine Handbewegung
zwischen Segen und Gruß und geht dann weiter. Das Licht des nun schon hoch am
Himmel stehenden Mondes fließt um seine hohe Gestalt und läßt sie noch größer,
vergeistigter erscheinen; das Rot des Kleides ist heller und das Gold der
Haare bleicher. Hinter Jesus beschleunigen Petrus mit der Fackel und die
beiden Söhne des Zebedäus ihre Schritte.
Sie gehen bis an den ersten
steilen Hang des Amphitheaters, das der Ölgarten bildet. Man betritt es über
einen kleinen, unregelmäßigen Platz, von dem aus die Hänge in Stufen voller
Ölbäume bis zum höchsten Punkt des Berges aufsteigen. Jesus sagt: «Bleibt hier
und wartet auf mich, während ich bete. Aber schlaft nicht. Ich könnte euch
brauchen. Und ich bitte euch von ganzem Herzen: betet! Euer Meister ist sehr
betrübt.»
Er ist wahrhaft von tiefster
Mattigkeit gezeichnet. Eine schwere Last scheint ihn zu Boden zu drücken. Wo
ist der männliche Jesus, der zu den Massen sprach, der schöne, starke Jesus
mit dem Blick eines Herrschers, dem friedvollen Lächeln und der
wohlklingenden, schönen Stimme? Er scheint keuchend zu atmen wie einer, der
rasch gelaufen ist oder geweint hat. Seine Stimme ist müde und bekümmert. Er
ist traurig, traurig, so traurig...
Petrus antwortet für alle: «Sei
beruhigt, Meister. Wir werden wachen und beten. Du brauchst uns nur zu rufen,
und wir kommen.»
Jesus verläßt sie, während die
drei sich bücken, um Laub und Reiser zu sammeln und damit ein Feuerchen zu
machen, das sie wachhalten und auch vor der Feuchtigkeit schützen soll, denn
der Tau fällt schon reichlich.
Er läßt sie zurück und geht in
östlicher Richtung weiter. Der Mond scheint ihm ins Gesicht. Ich sehe, daß
sich seine Augen durch den großen Schmerz noch geweitet haben; vielleicht sind
es auch von der Müdigkeit
189
herrührende dunkle Ringe, die sie
vergrößern, oder der Schatten der Brauen. Ich weiß es nicht. Ich sehe nur, daß
seine Augen weiter offen sind und tiefer liegen. Er steigt hinauf mit
geneigtem Haupt, nur hie und da erhebt er es mit einem Seufzer, als hätte er
Mühe und müßte um Atem ringen. Dann schweift sein so trauriger Blick über den
friedlichen Olivenhain. Er steigt noch einige Meter höher und geht dann um
eine Stufe herum, die somit zwischen ihm und den drei weiter unten liegt.
Die zuerst nur wenige Zentimeter
hohe Stufe steigt an und ist schon bald über zwei Meter hoch, so daß Jesus
völlig vor allen mehr oder weniger diskreten und freundschaftlichen Blicken
verborgen ist. Jesus geht bis zu einem großen Steinblock, der an einer Stelle
den Pfad versperrt. Vielleicht hat man ihn dort als Stütze für den Hang
angebracht, der nach unten baumlos und noch steiler abfällt zu einer öden
Stelle vor den Mauern Jerusalems, und nach oben in Stufen mit Ölbäumen weiter
aufsteigt. Genau oberhalb dieses Blocks wächst ein knorriger, krummer Ölbaum –
er gleicht einem bizarren Fragezeichen, das die Natur hierhergesetzt hat in
der Frage nach irgendeinem Warum. Die dichten Zweige des Wipfels geben der
Frage seines Stammes eine Antwort, sagen «ja», wenn sie sich zur Erde neigen,
und «nein», wenn sie sich nach rechts und links bewegen im leichten Wind, der
immer wieder durch die Blätter weht und einmal nur nach Erde riecht, ein
anderes Mal den etwas bitteren Geruch der Ölbäume und dann wieder den Duft von
Rosen und Maiglöckchen bringt, von dem ich nicht weiß, woher er kommen könnte.
Jenseits des Pfades, weiter unten, stehen noch mehr Ölbäume. Und einer, genau
unterhalb des Felsblocks – ein Blitz muß ihn gespalten haben, und doch hat er
überlebt, oder er ist aus sonst einem Grund auseinandergebrochen – wächst nun
statt mit seinem ursprünglichen Stamm mit zwei Stämmen weiter, wie die zwei
Hälften eines V in Blockschrift. Und die beiden Wipfel erheben sich nun zu
beiden Seiten des Felsens, so als ob sie zusehen und gleichzeitig wachen
wollten, oder als ob sie diesem Fels als friedfertige, silbergraue Unterlagen
dienen wollten.
Dort bleibt Jesus stehen. Er
sieht die Stadt nicht an, die im Mondlicht unten leuchtet. Er kehrt ihr
vielmehr den Rücken und betet mit zum Kreuz geöffneten Armen und zum Himmel
erhobenem Antlitz. Ich sehe sein Gesicht nicht, denn es ist im Schatten. Und
wenn auch der Mond gerade über ihm steht, so dringt doch nur wenig Licht durch
das dichte Laub eines Ölbaumes zwischen ihm und dem Mond, und die durch die
Blätter gefilterten Strahlen zeichnen sich ständig verändernde Punkte und
Striche. Ein langes, inbrünstiges Gebet. Ab und zu höre ich einen Seufzer oder
ein deutlicheres Wort. Es ist kein Psalm und auch kein Vaterunser. Es ist ein
Gebet, das seiner Liebe und seiner Not entspringt. Eine wahre Ansprache an
seinen Vater.
Ich erkenne dies aus den wenigen
Worten, die ich verstehe: «Du weißt
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es... Ich bin dein Sohn... Alles,
doch hilf mir... Die Stunde ist gekommen ... Ich gehöre nicht mehr der Welt.
Dein Wort braucht keine Hilfe mehr ... Gib, daß der Mensch dich als Erlöser
zufriedenstellt, so wie das Wort dir gehorsam gewesen ist... Dein Wille
geschehe... Für sie bitte ich um Erbarmen... Werde ich sie retten? Darum bitte
ich dich. Ich möchte, daß sie vor der Welt, dem Fleisch und Satan gerettet
werden... Darf ich noch bitten? Es ist eine gerechte Bitte, mein Vater. Nicht
für mich. Für den Menschen, der dein Geschöpf ist und der sogar auch seine
Seele in Schmutz verwandeln wollte. Ich nehme diesen Schmutz in mein Leiden
und in mein Blut, damit das unverderbliche Wesen des Geistes wieder zu deinem
Wohlgefallen erstrahle... Er ist überall. Er ist heute abend König. Im Palast
und in den Häusern. Bei den Soldaten und im Tempel... Die Stadt ist in seiner
Gewalt und wird morgen eine Hölle sein ...»
Jesus wendet sich um, lehnt sich
mit dem Rücken an den Stein und kreuzt die Arme. Er betrachtet Jerusalem. Das
Antlitz Jesu wird immer trauriger. Er flüstert: «Es gleicht dem Schnee... und
ist ganz Sünde. Wie viele habe ich auch dort geheilt! Wieviel habe ich
gesprochen! ... Wo sind sie nun, die mir treu zu sein schienen ... ?»
Jesus neigt das Haupt und starrt
auf den mit kurzem, tauglänzendem Gras bewachsenen Boden. Obwohl er sein Haupt
gesenkt hält, verstehe ich, daß er weint, denn leuchtende Tropfen fallen von
seinem Gesicht zur Erde. Dann erhebt er das Haupt, löst die Arme, faltet die
Hände über dem Haupt und ringt sie so.
Schließlich kehrt er zu den drei
Aposteln zurück, die um ihr Reisigfeuerchen sitzen. Und findet sie halb
schlafend. Petrus lehnt an einem Baumstamm mit über der Brust verschränkten
Armen und läßt vom Schlaf überwältigt immer wieder den Kopf sinken. Jakobus
und sein Bruder sitzen auf einer vorstehenden Wurzel. Um die Knoten nicht zu
sehr zu spüren, haben sie ihre Mäntel daraufgelegt und sind – obgleich sie es
noch weniger bequem als Petrus haben – schon fast eingeschlummert. Jakobus hat
seinen Kopf auf die Schulter des Johannes gelegt und dieser lehnt den Kopf an
die Schulter des Jakobus. Es sieht aus, als seien sie im Halbschlaf in dieser
Haltung erstarrt.
«Schlaft ihr? Konntet ihr nicht
einmal eine Stunde mit mir wachen? Ich habe euren Trost und eure Gebete so
nötig.»
Die drei springen verwirrt auf.
Sie reiben sich die Augen, murmeln eine Entschuldigung und führen ihre
Schläfrigkeit hauptsächlich auf die Mahlzeit zurück: «Es ist der Wein... das
Essen... Aber nun ist es vorbei. Es war nur ein Augenblick. Wir hatten keine
Lust zu reden, und so sind wir eingeschlafen. Doch nun werden wir laut beten,
damit das nicht mehr passiert.»
«Ja, betet und wacht. Auch für
euch selbst habt ihr es nötig.»
«Ja, Meister, wir werden dir
gehorchen.»
191
Jesus entfernt sich wieder. Der
Mond scheint ihm ins Gesicht, und sein silbernes Licht ist so hell, daß das
rote Gewand immer blasser wirkt, so als wäre es von weißem, leuchtendem Staub
bedeckt. Der Mond läßt mich sein trauriges, schmerzerfülltes, gealtertes
Antlitz erkennen. Die Augen sind immer noch weit offen, aber sie scheinen
jetzt getrübt. Um den Mund legt sich eine müde Falte.
Er kehrt zu seinem Stein zurück,
langsamer und gebeugter. Er kniet nieder und stützt seine Arme auf den Fels,
der nicht ganz glatt ist, sondern auf halber Höhe eine Art Sims hat, fast als
hätte man ihn absichtlich so geformt. Und auf diesem kleinen Sims ist ein
Pflänzchen gewachsen. Es scheinen mir die kleinen, Lilien ähnlichen Blümchen
zu sein, die ich auch in Italien schon gesehen habe, mit winzigen runden, am
Rand gezackten fleischigen Blättchen und ebenso winzigen Blüten an den
hauchfeinen Stielen. Sie gleichen über das Grau des Felsens und das Dunkelgrün
der Blättchen gestreuten Schneeflöckchen. Jesus stützt seine Hände neben ihnen
auf, und die Blümchen liebkosen seine Wange, denn er legt den Kopf auf die zum
Gebet gefalteten Hände. Nach einer Weile fühlt er die Kühle der kleinen Blüten
und hebt das Haupt. Er sieht sie an, streichelt sie, spricht zu ihnen: «Ihr
seid rein! ... Ihr tröstet mich! Auch in der Grotte meiner Mutter gab es
solche Blümchen... und meine Mutter liebte sie, denn sie sagte: "Als ich klein
war, sagte mein Vater: 'Du bist so eine kleine Lilie und voll vom Tau des
Himmels .... ..» Die Mama! Oh, meine Mama!» Jesus bricht in Tränen aus. Den
Kopf auf den gefalteten Händen und auf die Fersen zurückgesunken, höre und
sehe ich ihn weinen und die Hände ringen. Ein Finger quält den anderen. Ich
höre, wie er sagt: «Auch in Bethlehem... und ich habe sie dir gebracht, Mama.
Aber diese hier, wer wird sie dir bringen ... ?»
Dann betet und betrachtet er
wieder. Seine Betrachtung muß sehr traurig sein, mehr angsterfüllt als
traurig, denn um ihr zu entfliehen, steht er auf, geht vorwärts und rückwärts
und murmelt Worte, die ich nicht verstehe, erhebt das Antlitz, senkt es
wieder, macht verschiedene Gesten und fährt sich mit mechanischen, aufgeregten
Bewegungen mit den Händen über Augen, Wangen und Haar, wie einer, der in
großer Angst ist. Dies zu sagen ist nichts. Es ist unmöglich, es zu
beschreiben. Es sehen heißt, seine Angst mitfühlen.
Er macht eine Geste in Richtung
Jerusalem. Dann erhebt er wieder die Arme zum Himmel, wie um von dort Hilfe zu
erbitten. Er legt den Mantel ab, als ob er ihm zu warm wäre, und schaut ihn
an... Aber was sieht er? Seine Augen sehen nichts als seine Qual, und alles
wird ihm zur Qual und vermehrt sie noch. Auch der von der Mutter gewebte
Mantel. Er küßt ihn und sagt: «Verzeihung, Mama, Verzeihung!» Es scheint, als
bitte er das von der Mutterliebe gesponnene und gewebte Tuch um Verzeihung...
Er legt den Mantel wieder an. Der Schmerz zerreißt ihm das Herz. Er will
192
beten, um ihn zu überwinden. Aber
mit dem Gebet kehren die Erinnerungen, die Ängste, die Zweifel, das Bedauern
wieder... Eine Lawine von Namen... Städten... Personen... Ereignissen... Ich
kann nicht folgen, denn es geht zu rasch und sprunghaft. Es ist sein ganzes
evangelisches Leben, das an ihm vorüberzieht... und ihm Judas, den Verräter,
zeigt. Sein Schmerz ist so groß, daß er, um ihn zu beherrschen, die Namen
Petrus und Johannes hinausschreit. Und er sagt – «Nun werden sie kommen. Sie
sind treu!»Aber «sie» kommen nicht. Er ruft noch einmal und scheint so
entsetzt, als ob er Gott weiß was sähe. Dann flieht er zu der Stelle, an der
er Petrus und die beiden Brüder gelassen hat. Er findet sie in bequemerer
Stellung und in tiefem Schlaf an der schwachen Glut, die am Erlöschen ist und
nur noch da und dort unter der grauen Asche glimmt.
«Petrus! Schon dreimal habe ich
euch gerufen! Was tut ihr? Ihr schlaft wieder? Fühlt ihr denn nicht, wie sehr
ich leide? Betet, damit das Fleisch nicht siegt, euch nicht besiegt. Keinen
von euch. Der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist schwach. Helft mir
...»
Die drei wachen nur langsam auf.
Doch endlich kommen sie zu sich und entschuldigen sich mit noch ganz
verschlafenen Augen. Sie richten sich auf und setzen sich zuerst. Dann stehen
sie auf.
«Also nein!», murmelt Petrus,
«das ist uns noch nie passiert! Es muß der Wein gewesen sein. Er war stark.
Und dann diese Kühle. Wir haben uns zugedeckt, um nicht zu frieren (sie hatten
sich tatsächlich die Mäntel über die Köpfe gezogen); und so haben wir das
Feuer nicht mehr gesehen und die Kälte nicht mehr gefühlt, und der Schlaf hat
uns übermannt. Du sagst, daß du uns gerufen hast? Und doch habe ich nicht
geglaubt, so tief zu schlafen... Auf, Johannes, gehen wir Zweige suchen,
bewegen wir uns, damit der Schlaf vergeht. Sei versichert, Meister, von jetzt
an! ... Wir bleiben auf den Füßen ...» und er wirft eine Handvoll trockene
Blätter auf die Asche und bläst, bis die Flammen wieder aufflackern. Dann legt
er Brombeergestrüpp darauf, das Johannes herbeibringt, während Jakobus einen
großen Wacholderzweig oder etwas Ähnliches aus dem nahen Gebüsch schlägt und
zum übrigen wirft.
Die Flammen flackern hoch und
fröhlich auf und beleuchten das arme Antlitz Jesu. Ein so unendlich trauriges
Antlitz, daß man es nicht ansehen kann, ohne zu weinen. Jeglicher Glanz ist
aus diesem Antlitz gewichen in der tödlichen Ermattung. Jesus sagt: «Ich leide
Qualen, die mich umbringen. O ja! Meine Seele ist betrübt bis in den Tod.
Freunde! ... Freunde! Freunde!» Aber selbst wenn er dies nicht sagen würde,
könnte man an seinem Aussehen erkennen, daß er wirklich einem Sterbenden,
einem in furchtbarer und trostloser Verlassenheit Sterbenden ähnlich ist.
Jedes Wort scheint ein Aufschluchzen zu sein...
Aber die drei sind zu müde. Fast
wie Betrunkene wanken sie mit halbgeschlossenen Augen umher... Jesus schaut
sie an... Er demütigt sie nicht
193
durch Tadel. Er schüttelt nur das
Haupt, seufzt und kehrt an die vorige Stelle zurück.
Er betet wieder stehend, mit zum
Kreuz ausgebreiteten Armen. Dann kniet er nieder wie zuvor, neigt das Gesicht
über die kleinen Blümchen, denkt... schweigt. Dann beginnt er laut zu seufzen
und zu schluchzen. Fast liegt er am Boden, so weit neigt er sich zurück, und
ruft den Vater. Immer flehender, immer angstvoller...
«Oh!» sagt er. «Zu bitter ist
dieser Kelch! Ich kann nicht! Ich kann nicht! Es geht über meine Kräfte. Alles
konnte ich! Aber dies nicht ... Nimm ihn von mir, Vater, von deinem Sohn!
Erbarme dich meiner! ... Was habe ich getan? Womit habe ich dies verdient?»
Dann beruhigt er sich und sagt: «Mein Vater, höre nicht auf meine Worte, wenn
sie erbitten, was gegen deinen Willen ist. Denke nicht daran, daß ich dein
Sohn bin, sondern nur daran, daß ich dein Diener bin. Nicht mein, sondern dein
Wille geschehe.»
Einige Zeit bleibt er so. Dann
stößt er einen gedämpften Schrei aus und erhebt sein von Schmerz zerwühltes
Gesicht. Nur einen Augenblick, dann fällt er zu Boden, das Gesicht zur Erde,
und bleibt so liegen. Ein Bild des Elends, der Mensch, auf dem die Sünden der
ganzen Welt lasten, den die ganze Gerechtigkeit des Vaters trifft, auf den
sich die Finsternis herabsenkt, die Trostlosigkeit, die Bitterkeit, und das
Furchtbare, Furchtbare, Allerfurchtbarste, das Verlassensein von Gott, während
Satan quält... Es ist das Ersticken der Seele, das lebendig Begrabensein in
diesem Kerker, der die Welt ist, wenn man die Verbindung zwischen Gott und uns
nicht mehr fühlt. Man fühlt sich in Ketten, geknebelt, gesteinigt sogar von
den eigenen Gebeten, die scharf und sengend auf uns zurückfallen. Man stößt an
den verschlossenen Himmel, den weder die Stimme noch die Blicke unserer Angst
durchdringen, man fühlt sich als «Waise» Gottes. Es ist Wahnsinn, Todesangst,
der Zweifel, sich bisher getäuscht zu haben, es ist die Überzeugung, von Gott
verworfen zu sein, verdammt zu sein. Es ist die Hölle! ...
Oh, ich weiß! Ich kann die Ängste
und Schmerzen meines Christus nicht mitansehen, ich kann es nicht, da ich doch
weiß, daß sie millionenfach schrecklicher sind als jene, die ich letztes Jahr
empfunden habe. Die Erinnerung daran erschüttert mich jedesmal.
Jesus stöhnt unter Röcheln und
Todesseufzern: «Nichts! ... Nichts! ... Fort! ... Der Wille des Vaters!
Dieser! Nur dieser allein! ... Dein Wille, Vater, dein Wille, nicht meiner...
Es ist nutzlos! Ich habe nur einen Herrn: den allerheiligsten Gott. Nur ein
Gesetz: den Gehorsam. Nur eine Liebe: die Erlösung... Nein. Ich habe keine
Mutter mehr. Ich habe kein Leben mehr. Ich habe keine Göttlichkeit mehr. Ich
habe keine Aufgabe mehr. Vergeblich versuchst du mich, Dämon, mit der Mutter,
mit dem Leben, mit meiner Göttlichkeit und meiner Mission. Meine Mutter ist
die Menschheit,
194
und ich liebe sie so sehr, daß
ich für sie sterben werde. Das Leben gebe ich dem zurück, der es mir gegeben
hat und es nun von mir verlangt, dem höchsten Herrn alles Lebenden. Die
Göttlichkeit bestätige ich, da ich zu dieser Sühne fähig bin. Die Mission
vollende ich durch meinen Tod. Nichts habe ich mehr. Ich kann nur noch den
Willen des Herrn, meines Gottes, tun. Weiche Satan! Ich habe es das erste und
das zweite Mal gesagt. Ich sage es zum dritten Mal: "Vater, wenn es möglich
ist, laß diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht mein Wille, sondern dein
Wille geschehe." Weiche, Satan! Ich gehöre Gott!»
Dann sagt er nur noch keuchend:
«Gott! Gott! Gott!» Bei jedem Schlag seines Herzens ruft er ihn, und es
scheint, als quelle bei jedem dieser Schläge Blut hervor. Der über den
Schultern gespannte Stoff seines Gewandes wird naß und ist nun wieder dunkel,
trotz des Mondes, der alles in sein helles Licht taucht.
Da erscheint eine noch größere
Helligkeit über seinem Haupt, etwa einen Meter über ihm, eine so lebhafte
Helligkeit, daß auch der Darniederliegende sie durch die Wellen seines schon
blutgetränkten Haares und durch den Schleier des Blutes vor seinen Augen
bemerkt. Er hebt den Kopf... Der Mond beleuchtet sein armes Antlitz, und
stärker noch leuchtet das dem bläulichen Diamanten, der Venus ähnliche Licht
des Engels. Und nun erkennt man die ganze furchtbare Todesangst an dem Blut,
das aus allen Poren dringt. Brauen, Haar, Bart sind voll Blut, getränkt von
Blut. Blut fließt von den Schläfen, Blut dringt aus den Adern am Hals, Blut
tropft von den Händen, und als er die Hände dem Engelslicht entgegenstreckt
und die weiten Ärmel bis zum Ellenbogen zurückgleiten, sind auch die Unterarme
Christi voll Blut. In seinem Gesicht hinterlassen die Tränen zwei helle Bahnen
auf der roten Maske.
Jesus legt den Mantel ab und
trocknet Hände, Antlitz, Hals und Arme. Aber er fährt fort, Blut zu schwitzen.
Immer wieder drückt er das Tuch auf sein Antlitz, hält es eine Weile darauf,
und jedesmal, wenn er eine andere Stelle nimmt, sieht man deutlich die Spuren
auf dem dunkelroten Stoff, denn da sie naß sind, erscheinen sie schwarz. Das
Gras am Boden ist von Blut gerötet.
Jesus ist einer Ohnmacht nahe. Er
öffnet das Gewand am Hals, als wäre er am Ersticken. Er führt die Hand zum
Herzen und dann zum Haupt und bewegt sie vor seinem Antlitz, als wolle er sich
Luft zufächeln; sein Mund ist leicht geöffnet. Er kriecht zu dem Fels, mehr
dem Rand des Hanges zu, und lehnt sich mit dem Rücken an den Stein. Seine Arme
hängen herunter, und das Haupt hängt auf die Brust, fast als wäre er schon
tot. Er rührt sich nicht mehr.
Das Licht des Engels nimmt ganz
langsam ab. Dann scheint es sich im Mondschein aufzulösen. Jesus öffnet die
Augen wieder. Mit Mühe hebt er das Haupt und blickt um sich. Er ist allein.
Aber er leidet jetzt weniger.
195
Er streckt eine Hand aus, zieht
den Mantel an sich, der im Gras liegengeblieben ist, und trocknet sich wieder
das Antlitz, die Hände, den Hals, den Bart und die Haare. Er nimmt ein großes,
ganz taunasses Blatt, das gerade dort am Rand des Hanges wächst, säubert sich
damit, wäscht sich Gesicht und Hände und trocknet sie. Das wiederholt er
mehrmals mit anderen Blättern, bis alle Spuren seines furchtbaren Schweißes
getilgt sind. Nur das Gewand ist noch befleckt, besonders an den Schultern, in
den Beugen der Ellbogen, am Hals, am Gürtel und an den Knien. Er betrachtet es
und schüttelt den Kopf. Dann schaut er auch den Mantel an und da er sieht, daß
er zu sehr befleckt ist, faltet er ihn und legt ihn auf den Stein, dort auf
den Sims, neben die Blümchen.
In seiner Schwäche dreht er sich
mit Mühe um, kniet nieder und betet, das Haupt auf den Mantel gelegt, auf dem
bereits die Hände ruhen. Dann stützt er sich auf den Stein und steht auf.
Leicht wankend begibt er sich zu den Jüngern. Sein Antlitz ist totenbleich,
aber nicht mehr verstört. Es ist ein Antlitz voll göttlicher Schönheit, obwohl
blutleer und trauriger denn je.
Die drei schlafen tief. Ganz in
ihre Mäntel gehüllt, haben sie sich an dem erloschenen Feuer ausgestreckt, und
man hört sie tief atmen und beinahe schon laut schnarchen. Jesus ruft sie.
Vergebens. Er muß sich bücken und Petrus kräftig schütteln.
«Was gibt es? Wer will mich
gefangennehmen?» sagt dieser und schlägt verwirrt und erschrocken seinen
dunkelgrünen Mantel zurück.
«Niemand. Ich bin es, der dich
ruft.»
«Ist es schon Tag?»
«Nein, die zweite Nachtwache ist
fast zu Ende.»
Petrus ist ganz benommen, Jesus
schüttelt Johannes, der einen Schreckensschrei ausstößt, da er über sich das
Antlitz eines Gespenstes zu sehen glaubt, so marmorweiß ist Jesus. «Oh! Du
siehst wie ein Toter aus.»
Er schüttelt Jakobus und dieser,
der glaubt, sein Bruder würde ihn rufen, sagt: «Haben sie den Meister
gefangengenommen?»
«Noch nicht, Jakobus», antwortet
Jesus. «Aber steht nun auf, und gehen wir. Mein Verräter naht.»
Die drei, noch ganz verwirrt,
erheben sich. Sie schauen um sich... Ölbäume, Mond, Nachtigallen, ein leichter
Wind, Friede... sonst nichts. Doch sie folgen Jesus, ohne ein Wort zu sagen.
Auch die anderen acht sind um das erloschene Feuer herum mehr oder weniger
eingeschlafen.
«Steht auf!» ruft Jesus laut.
«Während Satan kommt, zeigt dem Schlaflosen und seinen Söhnen, daß die Kinder
Gottes nicht schlafen.»
«Ja, Meister.»
«Wo ist er, Meister?»
«Jesus, ich ...»
196
«Aber was ist denn los?»
Zwischen sich überstürzenden
Fragen und Antworten legen sie ihre Mäntel an...
Gerade noch rechtzeitig, um
ordentlich vor der bewaffneten Bande zu erscheinen, die von Judas angeführt
den friedlichen Platz überschwemmt und ihn mit vielen brennenden Fackeln grell
erleuchtet. Eine Horde als Soldaten verkleideter Banditen, in teuflischem
Grinsen verzerrte Galgengesichter. Auch der eine oder andere Kämpe vom Tempel
ist dabei.
Die Apostel springen alle in
einen Winkel. Petrus vorne, die anderen in einer Gruppe hinter ihm. Jesus
bleibt, wo er ist.
Judas nähert sich ihm und hält
seinem Blick stand, der nun wieder strahlend ist wie in den besten Tagen. Doch
Judas senkt den Kopf nicht. Er geht vielmehr mit dem Grinsen einer Hyäne auf
Jesus zu und küßt ihn auf die rechte Wange.
«Freund, wozu bist du gekommen?
Mit einem Kuß verrätst du mich?»
Judas senkt einen Moment den
Kopf, dann hebt er ihn wieder... Er ist nun taub gegenüber jedem Vorwurf und
jeder Aufforderung zur Reue.
Nach den ersten Worten, die er
noch mit der Würde des Meisters gesprochen hat, erkennt man am traurigen Ton
der Stimme Jesu, daß er sich in sein Schicksal ergeben hat.
Die Häscherbande nähert sich
schreiend mit Stricken und Stöcken und versucht, sich Jesu und auch der
Apostel zu bemächtigen; natürlich mit Ausnahme des Judas Iskariot.
«Wen sucht ihr?» fragt Jesus
ruhig und feierlich.
«Jesus von Nazareth.»
«Ich bin es.» Die Stimme gleicht
dem Donner. Vor der mörderischen und vor der unschuldigen Welt, vor der Natur
und vor den Sternen legt Jesus von sich selbst Zeugnis ab, offen, ehrlich und
sicher; ich würde sagen, er freut sich sogar, es tun zu können.
Wäre ein Blitz von ihm
ausgegangen, er hätte nicht mehr bewirkt. Wie eine Garbe gemähter Halme fallen
alle zu Boden. Stehen bleiben nur Judas, Jesus und die Apostel, die angesichts
der niedergeworfenen Soldaten wieder Mut fassen. So sehr, daß sie sich Jesus
nähern und Drohungen ausstoßen, die so deutlich Judas gelten, daß dieser einen
Sprung zur Seite macht, gerade noch rechtzeitig, um dem gekonnten
Schwertstreich des Simon auszuweichen. Die übrigen Apostel, die keine
Schwerter haben, werfen ihm Steine und Prügel nach, aber vergeblich. Und Judas
flieht über den Kedron und verschwindet auf einem Feldweg in der Dunkelheit.
«Steht auf. Wen sucht ihr? Ich
frage euch noch einmal.»
«Jesus von Nazareth.»
«Ich habe euch gesagt, daß ich es
bin», sagt Jesus sanft. «Laßt diese also gehen. Ich komme mit euch. Legt die
Schwerter und die Prügel weg. Ich bin kein Räuber. Ich bin immer unter euch
gewesen. Warum habt ihr
197
mich damals nicht festgenommen?
Aber dies ist eure Stunde und die Stunde Satans ...»
Doch während Jesus spricht,
nähert sich Petrus dem Mann, der schon die Stricke vorbereitet, um den Meister
zu fesseln, und schlägt ungeschickt mit dem Schwert auf ihn ein. Hätte er mit
der Spitze zugestoßen, hätte er ihn wie einen Hammel abgestochen. So aber
schlägt er ihm nur das Ohr fast ganz ab, das nun stark blutend herunterhängt.
Der Mann schreit, als wäre er tödlich verletzt. Ein großer Tumult entsteht,
denn die einen wollen vorwärtsstürzen und die anderen bekommen Angst, als sie
Schwerter und Dolche blitzen sehen.
«Steckt die Waffen in die
Scheide. Ich befehle es. Wenn ich wollte, würden die Engel des Vaters mich
verteidigen. Und du, sei heil. Zuerst an der Seele, wenn du kannst.» Und bevor
Jesus seine Hände fesseln läßt, berührt er das Ohr und heilt es.
Die Apostel schreien unerhörte
Dinge... Ja, ich bedauere, es sagen zu müssen, aber es ist so. Der eine
schreit dies, der andere das. Einer ruft: «Du hast uns verraten!» Einer: «Aber
er ist verrückt!» und einer schreit: «Wer kann dir noch glauben?» Wer nicht
schreit, flieht...
Und Jesus bleibt allein... Er und
die Schergen... Und der Weg beginnt...
663. DIE VERSCHIEDENEN PROZESSE
Es beginnt der schmerzvolle Weg
auf dem steinigen Sträßchen, das vom Platz der Gefangennahme Jesu zum Kedron
führt und von dort auf einem weiteren Sträßchen zur Stadt. Und gleichzeitig
beginnen Spott und Mißhandlungen.
Jesus ist an den Händen
gefesselt, und man hat ihm sogar einen Strick um den Leib gebunden, als wäre
er ein gefährlicher Geisteskranker. Die Strickenden halten zwei haßerfüllte
Rohlinge, die ihn hin- und herzerren, wie ein Rudel wütender Hunde einen alten
Lappen. Aber wenn es Hunde wären, die sich so benehmen, könnte man sie noch
entschuldigen. Diese hingegen nennen sich Menschen, obwohl sie von Menschen
nur das Aussehen haben. Um ihm noch mehr wehzutun, haben sie sich eine
Fesselung mit zwei entgegengesetzten Stricken ausgedacht. Mit einem sind nur
die Handgelenke zusammengebunden, aber der sehr straffe, rauhe Strick kratzt
und schneidet tief ins Fleisch ein. Der andere, um die Taille gebundene, preßt
die Ellenbogen an den Körper und drückt auf die Magengegend, die Leber und das
Kreuz, wo sich ein riesiger Knoten befindet. Von Zeit zu Zeit schlagen die
Männer, die die Strickenden halten, damit auf ihn ein und schreien: «Hü! Hott!
Lauf, Esel!» und geben dem Gequälten Fußtritte in die Kniekehlen, so daß er
wankt und nur deshalb
198
nicht fällt, weil die Stricke ihn
auf den Füßen halten. Das hindert aber nicht, daß Jesus an Mäuerchen und
Baumstämme stößt und dann durch einen noch kräftigeren Ruck hart gegen das
Geländer der Brücke fällt, als er über den Kedron geht; denn der eine reißt
ihn an dem Strick um die Handgelenke nach rechts, der andere an dem Strick um
die Taille nach links. Sein verletzter Mund blutet. Jesus hebt die gefesselten
Hände, um das Blut, das in seinen Bart tropft, abzuwischen und sagt kein Wort.
Er ist wahrhaft das Lamm, das sich nicht gegen seine Peiniger auflehnt.
Inzwischen sind Leute zum Kedron
hinuntergelaufen, um Kies und Steine im Bachbett zu holen, und nun hagelt es
von unten Steine auf das leicht zutreffende Ziel. Denn auf dem schmalen,
unsicheren Brückchen, auf dem sich die Leute stauen und sich gegenseitig
behindern, geht es nur langsam voran, und die Steine treffen Jesus am Kopf, an
den Schultern und am Rücken; und nicht nur Jesus. Seine Schergen reagieren
darauf, indem sie nun selbst Stöcke und die gleichen Steine werfen. Alles
dient nur dazu, daß Jesus noch häufiger an Kopf und Hals getroffen wird. Aber
schließlich sind sie am Ende der Brücke, und nun wirft ein enges Gäßchen seine
Schatten auf das Gewühl, denn der Mond beginnt unterzugehen und scheint nicht
mehr in diesen krummen Durchgang. Auch sind viele Fackeln im allgemeinen
Durcheinander erloschen.
Aber der Haß dient als Leuchte
und läßt sie den armen Märtyrer erkennen, für den selbst seine hohe Gestalt
zur Qual wird. Er ist der größte von allen. So ist es leicht, ihn zu schlagen,
ihn an den Haaren zu packen und sein Haupt gewaltsam nach hinten zu reißen, um
ihm eine Handvoll Kot ins Gesicht zu werfen, der ihn in Mund und Augen trifft
und ihm gewiß Schmerz und Ekel bereitet.
Nun durchqueren sie den Vorort
Ophel, den Vorort, in dem Jesus so viel Gutes getan und so viele Liebkosungen
ausgeteilt hat. Der lärmende Haufe ruft Schläfer auf die Schwellen der Häuser,
und wenngleich die Frauen schmerzerfüllt aufschreien und entsetzt fliehen, als
sie sehen, was geschieht, so senken doch die Männer – die Männer, denen er ja
auch Heilungen, Hilfe und Freundesworte geschenkt hat – gleichgültig die
Köpfe, scheinen zumindest teilnahmslos, oder ihre Neugierde verwandelt sich in
Haß, in Hohnlachen, in eine Drohung. Und viele schließen sich dem Zug an, um
die Qualen noch zu vermehren. Satan ist schon am Werk...
Ein Mann, ein Ehemann, der ihm
folgen will, um ihn zu beleidigen, wird von seiner schreienden Frau
zurückgehalten, die ihm zuruft: «Du Feigling! Wenn du noch lebst, so hast du
es nur ihm zu verdanken, du schmutziger, schlechter Kerl. Denk daran!» Doch
der Mann überwältigt die Frau, schlägt wild auf sie ein, wirft sie zu Boden
und läuft davon, um den Märtyrer einzuholen und ihm einen Stein an den Kopf zu
werfen.
Eine andere alte Frau versucht,
sich ihrem Sohn in den Weg zu stellen, der mit dem Gesicht einer Hyäne und
einem Stock herbeieilt, um Jesus zu
199
schlagen. Sie ruft ihm zu:
«Solange ich lebe, wirst du nicht der Mörder deines Erlösers sein!» Doch ein
brutaler Fußtritt des Sohnes trifft die Arme am Unterleib, und sie bricht
schreiend zusammen: «Gottesmörder und Mörder deiner Mutter! Um des Leibes
willen, den du zum zweitenmal zerreißt, und um des Messias willen, den du
schlägst, sollst du verflucht sein!»
Die Szenen werden immer
grausamer, je näher sie zur Stadt kommen.
Bevor sie die Stadtmauern
erreichen – die Tore sind schon geöffnet, und die römischen Soldaten halten
ihre Waffen bereit und beobachten den Verlauf des Tumults, und wohin er sich
wendet, um sofort eingreifen zu können, falls das Ansehen Roms verletzt würde
– erscheinen Johannes und Petrus. Ich nehme an, daß sie auf einer Abkürzung
oberhalb der Brücke über den Kedron gelangt und der Menge vorausgeeilt sind,
die nur sehr langsam vorankommt, da sie sich gegenseitig behindert. Sie
befinden sich im Halbschatten eines Hausflures, an einem kleinen Platz vor der
Mauer. Sie haben die Mäntel über den Kopf gezogen, um ihre Gesichter zu
verbergen. Doch als Jesus dort ankommt, läßt Johannes seinen Mantel fallen und
zeigt offen sein blasses, verstörtes Gesicht im Licht des Mondes, der hier
noch scheint, bevor er jenseits der Mauer hinter dem Hügel, den ich die
Schergen Tophet nennen höre, verschwindet. Petrus wagt es nicht, sein Gesicht
zu zeigen, kommt aber etwas näher, um gesehen zu werden... Jesus schaut sie
an... und lächelt ihnen unendlich gütig zu. Petrus dreht sich um, kehrt in
seinen finsteren Winkel zurück und bedeckt die Augen mit den Händen – ein
gebeugter, gealterter, gebrochener Mensch... Johannes bleibt mutig an seinem
Platz, und erst, als die schreiende Menge vorbeigezogen ist, geht er zu
Petrus, nimmt ihn am Ellbogen und führt ihn, wie ein Junge seinen blinden
Vater, hinter dem lärmenden Volk in die Stadt.
Ich höre die erstaunten,
spöttischen und bedauernden Ausrufe der römischen Soldaten. Einer von ihnen
flucht, weil man ihn aus dem Bett geworfen hat wegen dieses «dummen Hammels».
Ein anderer verspottet die Juden, die imstande sind, «ein halbes Weib
gefangenzunehmen». Wieder ein anderer bemitleidet das Opfer, das ihm «immer
gut» erschienen war. Und einer sagt sogar: «Ich wäre lieber gestorben, als ihn
in diesen Händen zu sehen. Er ist ein Großer. Meine Verehrung gilt zwei Dingen
in der Welt: Ihm und Rom.»
«Beim Jupiter», ruft der
Ranghöchste aus. «Ich will keine Unannehmlichkeiten. Ich gehe jetzt zum
Offizier. Er soll benachrichtigen, wen es angeht. Ich will nicht abkommandiert
werden und gegen die Germanen kämpfen. Diese Hebräer stinken zwar und sind
Schlangen, die Scherereien machen. Aber man ist hier seines Lebens sicher.
Meine Zeit geht bald zu Ende, und bei Pompeji wartet ein Mädchen auf mich ...»
Den Rest höre ich nicht, da ich
Jesus folge, der weitergeht auf der
200
Straße, die in einem Bogen zum
Tempel hinaufführt. Aber ich sehe und verstehe, daß das Haus des Annas, in das
sie ihn bringen wollen, zu dem Labyrinth des Tempels gehört, der den ganzen
Berg Sion einnimmt, und doch auch wieder nicht. Denn es liegt an seinem
äußersten Rand, in der Nähe einiger Mauern, die an dieser Stelle anscheinend
die Stadtgrenze bilden und sich dann von dort mit Gewölben und Höfen den Berg
hinauf bis zum eigentlichen Tempelbezirk hinziehen, in den sich die Israeliten
zu ihren verschiedenen Kulthandlungen begeben. Ein hohes, eisenbeschlagenes
Tor befindet sich in der Mauer. Dorthin eilen die eifrigen Hyänen und klopfen
kräftig an. Kaum hat sich das Tor einen Spalt geöffnet, stürmen sie hinein,
und beinahe werfen sie die alte Dienerin um und zertrampeln sie, die ihnen
geöffnet hat. Sie reißen das Tor weit auf, damit die lärmende Menge mit dem
Gefangenen in ihrer Mitte hereinkommen kann. Kaum sind sie drinnen, schließen
und verriegeln sie das Tor wieder, vielleicht aus Furcht vor den Römern oder
den Anhängern des Nazareners.
Vor seinen Anhängern? Wo sind sie
denn? ...
Nun gehen sie durch die Vorhalle,
dann über einen weiten Innenhof und durch einen Gang, eine weitere Säulenhalle
und noch einen Hof. Danach schleppen sie Jesus drei Stufen hinauf und fast im
Laufschritt durch eine etwas höher als der Hof gelegene Säulenhalle, um
möglichst schnell zu einem prächtigen Saal zu gelangen, in dem schon ein alter
Mann in Priestergewändern wartet.
«Gott tröste dich, Annas», sagt
einer, der anscheinend der Offizier ist, wenn man den Halunken, der diese
Räuberbande kommandiert, Offizier nennen kann. «Hier hast du den Schuldigen.
Deiner Heiligkeit vertraue ich ihn an, damit Israel von der Sünde gereinigt
wird.»
«Gott möge dich für deine
Klugheit und deinen Glauben segnen.»
Schöne Klugheit! Die Stimme Jesu
genügte, um ihn in Gethsemane zu Boden zu werfen.
«Wer bist du?»
«Jesus von Nazareth, der Rabbi,
der Christus. Du kennst mich. Ich habe nicht in der Finsternis gewirkt.»
«In der Finsternis nicht. Aber du
hast das Volk mit Lehren der Finsternis verwirrt. Und der Tempel hat das Recht
und die Pflicht, für das Wohl der Seelen der Kinder Abrahams zu sorgen.»
«Die Seelen! Priester Israels,
kannst du behaupten, daß du je für die Seele des Geringsten oder des Größten
dieses Volkes gelitten hast?»
«Und du? Was hast du getan, was
man Leiden nennen könnte?»
«Was ich getan habe? Warum fragst
du mich? Ganz Israel spricht davon. Von der heiligen Stadt bis zum ärmsten
Dorf reden auch die Steine von dem, was ich getan habe. Ich habe die Blinden
sehend gemacht: sehend mit den Augen und mit dem Herzen. Ich habe die Ohren
der Tauben geöffnet: für die Stimmen der Erde und die Worte des Himmels. Ich
habe
201
die Lahmen und die Krüppel gehen
gemacht, damit sie den Weg zu Gott beginnen, zuerst mit dem Leib und dann mit
der Seele. Ich habe die Aussätzigen rein gemacht: von dem Aussatz, von dem das
Gesetz des Moses spricht, und von dem, der in den Augen Gottes unrein macht,
den Sünden. Ich habe die Toten erweckt. Ich nenne es nicht groß, das Fleisch
zum Leben wiederzuerwecken, sondern es ist groß, einen Sünder zu erlösen; und
ich habe es getan. Ich habe den Armen geholfen und die geizigen und reichen
Hebräer das heilige Gebot der Liebe zum Nächsten gelehrt. Ich bin arm
geblieben trotz des Goldstromes, der durch meine Hände geflossen ist, und habe
allein mehr Tränen getrocknet, als ihr alle zusammen, die ihr Reichtümer
besitzt. Schließlich habe ich einen Reichtum geschenkt, der keinen Namen hat:
die Kenntnis des Gesetzes, die Kenntnis Gottes, die Gewißheit, daß wir alle
gleich sind, und daß in den heiligen Augen des Vaters auch die Tränen oder die
Verbrechen gleich sind, ob nun die des Tetrarchen oder des Hohenpriesters,
oder die des Bettlers oder des Aussätzigen, der am Weg stirbt. Das habe ich
getan. Sonst nichts.»
«Weißt du, daß du dich selbst
beschuldigst? Du sagst: der Aussatz, der in den Augen Gottes unrein macht, und
dieser wurde nicht von Moses genannt. Du beleidigst Moses und unterstellst,
daß in seinem Gesetz Lücken sind...»
«Nicht sein, vielmehr Gottes
Gesetz. Das ist es. Ich sage, schlimmer als der Aussatz, das Verhängnis des
Fleisches, das einmal endet, ist die Sünde, das Verhängnis der Seele, das
niemals endet.»
«Du wagst zu sagen, daß du Sünden
vergeben kannst. Wie machst du das?»
«Wenn es erlaubt und glaubhaft
ist, daß man durch ein wenig reinigendes Wasser und das Opfer eines Widders
von seinen Sünden rein wird und sie tilgt und sühnt, wie sollten es dann meine
Tränen, mein Blut und mein Wille nicht vermögen?»
«Aber du bist nicht tot. Wo ist
also das Blut?»
«Noch bin ich nicht tot. Aber ich
werde es sein, denn so steht es geschrieben. Im Himmel stand es schon
geschrieben, als Sion noch nicht war, als Moses noch nicht war, noch Jakob und
Abraham, seit der Biß des Fürsten des Bösen das Herz des Menschen und seiner
Nachkommen vergiftet hat. Auf Erden steht es geschrieben in dem Buch, das die
Stimmen der Propheten enthält. Es steht geschrieben in den Herzen. In deinem,
in dem des Kaiphas und der Synedristen, die mir nicht verzeihen, nein, diese
Herzen verzeihen mir nicht, daß ich gut bin. Ich habe schon losgesprochen,
bevor Blut geflossen ist. Nun vollende ich die Lossprechung durch die Waschung
im Blut.»
«Du nennst uns habgierig und des
Gebotes der Liebe unkundig ...»
«Ist dem etwa nicht so? Warum
tötet ihr mich? Weil ihr fürchtet, ich könnte euch entthronen. Oh, fürchtet
nicht. Mein Reich ist nicht von
202
dieser Welt. Ich lasse euch die
Herrschaft und alle Gewalt. Der Ewige weiß, wann er das "genug" sagen und euch
mit seinem Blitz zerschmettern wird...»
«Wie Doras, nicht wahr?»
«Er starb an seinem Zorn. Nicht
durch den Blitz des Himmels. Gott hat ihn im Jenseits erwartet, um ihn zu
zerschmettern.»
«Und das sagst du mir, seinem
Verwandten? Du wagst es?»
«Ich bin die Wahrheit. Die
Wahrheit ist niemals feige.»
«Du Hochmütiger und Irrsinniger!»
«Nein: Aufrichtiger. Du
beschuldigst mich, euch zu beleidigen. Aber haßt ihr denn nicht alle? Einer
haßt den anderen. Nun vereint euch der Haß gegen mich. Aber morgen, wenn ihr
mich getötet habt, wird der Haß noch unbarmherziger zu euch zurückkehren, und
ihr werdet verfolgt von dieser Hyäne und mit dieser Schlange im Herzen leben.
Ich habe die Liebe gelehrt, aus Mitleid mit der Welt. Ich habe gelehrt, nicht
habgierig zu sein und Barmherzigkeit zu üben. Wessen beschuldigst du mich?»
«Daß du eine neue Lehre
eingeführt hast.»
«0 Priester! In Israel wimmelt es
von neuen Lehren. Die Essener haben die ihre, die Zadokiter die ihre, die
Pharisäer die ihre, alle haben sie ihre geheime Lehre; für den einen ist es
die Lust, für den anderen das Gold, für den dritten die Macht, und jeder hat
seinen Götzen. Ich nicht. Ich habe das mit Füßen getretene Gesetz meines
Vaters, des ewigen Gottes, erneut aufgegriffen und habe einfach wieder die
Zehn Gebote des Dekalogs gepredigt. Ich habe mir keine Ruhe gegönnt, um sie in
den Herzen zu verankern, die sie nicht mehr kannten.»
«Furchtbar! Gotteslästerung! Mir,
dem Priester, sagst du das? Hat denn Israel keinen Tempel? Sind wir die von
Babylon Heimgesuchten? Antworte.»
«Das seid ihr. Und noch
schlimmer. Es gibt einen Tempel, ja. Ein Gebäude. Aber Gott ist nicht mehr
darin. Er ist geflohen vor dem Greuel in seinem Haus. Aber warum fragst du
mich so vieles, da doch mein Tod beschlossen ist?»
«Wir sind keine Mörder. Wir töten
nur, wenn wir aufgrund erwiesener Schuld ein Recht dazu haben. Aber ich will
dich retten. Antworte mir, und ich werde dich retten. Wo sind deine Jünger?
Wenn du sie mir auslieferst, lasse ich dich frei. Ich will die Namen aller,
und mehr noch die der geheimen als die der bekannten. Sage, gehört Nikodemus
zu dir? Gehört Joseph von Arimathäa zu dir? Und Gamaliel? Und Eleazar? Und...
Nun, von diesem weiß ich es... Es ist nicht nötig. Also sprich, sprich. Du
weißt es, ich kann töten oder retten. Ich bin mächtig.»
«Du bist Schlamm. Ich lasse dem
Schlamm das Handwerk des Spions. Ich bin das Licht.»
Ein Henkersknecht versetzt ihm
einen Faustschlag.
203
«Ich bin das Licht. Das Licht und
die Wahrheit. Ich habe offen zur Welt gesprochen. Ich habe in den Synagogen
und im Tempel gelehrt, wo sich die Juden versammeln, und ich habe nichts im
Verborgenen gesagt. Ich wiederhole es. Warum fragst du mich? Frage die, die
gehört haben, was ich geredet habe. Sie wissen es.»
Ein anderer Scherge gibt ihm
einen Backenstreich und schreit: «Antwortest du so dem Hohenpriester?»
«Ich rede mit Annas. Der
Hohepriester ist Kaiphas. Ich spreche mit dem gebührenden Respekt zu dem
Greis. Wenn du glaubst, daß ich ungehörig gesprochen habe, beweise es mir.
Wenn nicht, warum schlägst du mich?»
«Laß ihn in Ruhe. Ich gehe zu
Kaiphas. Ihr behaltet ihn hier, bis ich weiteres befehle. Und sorgt dafür, daß
er mit niemandem spricht.» Annas geht hinaus.
Nein, Jesus spricht nicht. Nicht
einmal mit Johannes, der sich trotz des Häschergesindels bis zur Tür gewagt
hat. Aber Jesus muß Johannes ohne Worte einen Befehl gegeben haben, denn
dieser geht nach einem letzten traurigen Blick fort, und ich verliere ihn aus
den Augen.
Jesus bleibt mit seinen Peinigern
allein, die ihn mit Stricken schlagen, ihn anspeien, ihn verhöhnen, ihm
Fußtritte geben und ihn an den Haaren ziehen. Das ist, was ihm bleibt, bis ein
Diener mit dem Befehl kommt, den Gefangenen in das Haus des Kaiphas zu
bringen.
Jesus wird, immer noch gebunden,
unter Mißhandlungen wieder in die Säulenhalle gezerrt. Er durchquert sie und
gelangt in einen Gang und dann durch einen Hof, in dem sich viele Leute an
einem Feuer wärmen, denn die Nacht ist windig und kalt geworden in diesen
ersten Stunden des Freitags. Auch Johannes und Petrus befinden sich in der
feindseligen Menge. Sie müssen schon recht mutig sein, um dort zu bleiben...
Jesus schaut sie an, und die Spur eines Lächelns zeigt sich um seinen von den
erhaltenen Schlägen schon geschwollenen Mund.
Es folgt ein langer Weg durch
Hallen, Höfe und Gänge. Was für Häuser hatten diese Leute vom Tempel!
Zum Bereich des Hohenpriesters
hat das Volk keinen Zutritt. Es wird in das Atrium des Annas zurückgedrängt.
Jesus geht allein weiter zwischen Henkersknechten und Priestern. Er betritt
einen großen Saal, der seine rechteckige Form zu verlieren scheint durch die
vielen Bänke auf Eisenböcken, die an drei Seiten aufgestellt sind und in der
Mitte einen freien Raum lassen. Gegenüber stehen zwei oder drei erhöhte Sitze
auf Podien.
Als Jesus gerade den Saal
betreten will, erscheint der Rabbi Gamaliel neben ihm, und die Wachen geben
dem Gefangenen einen Stoß, damit er dem Rabbi von Israel den Vortritt läßt.
Doch dieser, steif wie eine Statue und hieratisch, verlangsamt seinen Schritt
und fragt, wobei er kaum die Lippen bewegt und niemanden anschaut: «Wer bist
du? Sage es mir.»
204
Jesus antwortet sanft: «Lies die
Propheten, und du wirst die Antwort finden. Das erste Zeichen ist in ihren
Schriften enthalten. Das andere wird folgen.»
Gamaliel rafft seinen Mantel und
geht hinein. Hinter ihm betritt Jesus den Saal. Während Gamaliel zu einer Bank
geht, wird Jesus in die Mitte des Saales geschleppt vor den Hohenpriester: ein
wahres, wirkliches Verbrechergesicht. Man wartet noch, bis alle Mitglieder des
Synedriums versammelt sind. Dann wird die Sitzung eröffnet. Doch Kaiphas sieht
zwei oder drei leere Plätze und fragt: «Wo ist Eleazar? Wo ist Johannes?»
Ein junger Schriftgelehrter –
glaube ich – steht auf, verneigt sich und sagt: «Sie weigern sich zu kommen.
Hier ist das Schreiben.»
«Man bewahre das Schreiben auf.
Sie werden Rechenschaft darüber ablegen müssen. Was haben die heiligen
Mitglieder dieses Rates über diesen hier zu sagen?»
«Ich spreche. Er hat in meinem
Haus den Sabbat geschändet. Gott ist mein Zeuge, ob ich lüge. Ismael ben Fabi
lügt niemals.»
«Ist es wahr, Angeklagter?»
Jesus schweigt.
«Ich habe ihn mit bekannten
Dirnen zusammenleben gesehen. Er gab sich als Prophet aus und hat aus seinem
Schlupfwinkel ein Bordell gemacht, und dazu noch mit heidnischen Frauen. Mit
mir zusammen waren Sadok, Callascebona und Nahum, der Vertrauensmann des
Annas. Sage ich die Wahrheit, Sadok und Callascebona? Widersprecht mir, wenn
ich es verdiene.»
«Es ist wahr! Es ist wahr!»
«Was sagst du dazu?»
Jesus schweigt.
«Er hat keine Gelegenheit
ausgelassen, uns zu verspotten und uns zum Gespött des Volkes zu machen. Das
Volk liebt uns seinetwegen nicht mehr.»
«Hörst du? Du hast die heiligen
Mitglieder des Synedriums entehrt.»
Jesus schweigt.
«Dieser Mensch ist besessen. Aus
Ägypten zurückgekehrt, betreibt er schwarze Magie.»
«Wie kannst du das beweisen?»
«Ich schwöre es auf meinen
Glauben und die Gesetzestafeln.»
«Eine schwerwiegende
Anschuldigung. Verteidige dich.»
Jesus schweigt.
«Gesetzwidrig ist das Amt, das du
dir angemaßt hast, du weißt es. Darauf steht der Tod. Sprich!»
«Gesetzwidrig ist diese unsere
Sitzung. Steh auf, Simeon, wir gehen», sagt Gamaliel.
«Aber Rabbi, hast du den Verstand
verloren?»
205
«Ich halte mich an die Regeln. Es
ist nicht erlaubt, so vorzugehen, wie wir es tun. Ich werde öffentliche
Anklage erheben.» Und der Rabbi Gamaliel geht steif wie eine Statue hinaus,
gefolgt von einem etwa fünfunddreißigjährigen Mann, der ihm sehr ähnlich
sieht.
Es entsteht ein kleiner Tumult,
den Nikodemus und Joseph benutzen, um zugunsten des Märtyrers zu sprechen.
«Gamaliel hat recht. Gesetzwidrig
ist die Stunde und der Ort, und die Anklagen sind nicht stichhaltig. Kann ihn
jemand einer allgemein bekannten Mißachtung des Gesetzes bezichtigen? Ich bin
sein Freund, und ich schwöre, daß ich ihn immer das Gesetz achten gesehen
habe», sagt Nikodemus.
«Und auch ich. Um nicht an einem
Verbrechen teilzunehmen, bedecke ich mein Haupt, nicht seinetwegen, sondern
unseretwegen, und gehe.» Joseph schickt sich an, von seinem Sitz
herabzusteigen und hinauszugehen.
Aber Kaiphas keift: «Ach, so
meint ihr! Laßt die geschworenen Zeugen herein. Hört sie euch an, dann könnt
ihr gehen.»
Zwei Sträflingsgesichter kommen
herein. Ausweichende Blicke, grausames Grinsen, arglistiges Gebaren...
«Redet.»
«Es ist nicht erlaubt, sie
zusammen zu verhören», ruft Joseph.
«Ich bin der Hohepriester. Ich
gebiete hier. Ruhe!»
Joseph schlägt mit der Faust auf
einen Tisch und sagt: «Das Feuer des Himmels falle herab auf dich! Wisse, daß
der Ratsherr Joseph von nun an ein Feind des Synedriums und ein Freund des
Christus ist. Und daher gehe ich jetzt zum Prätor und melde ihm, daß hier ohne
Rücksicht auf die römischen Gesetze getötet wird.» Er geht zornig hinaus und
versetzt dabei einem mageren, jungen Schriftgelehrten, der ihn zurückhalten
will, einen Stoß.
Der ruhigere Nikodemus verläßt
schweigend den Saal. Im Hinausgehen kommt er an Jesus vorüber und sieht ihn
an...
Ein neuer Tumult. Man fürchtet
Rom. Jesus ist wiederum der Sündenbock.
«Deinetwegen, du siehst es,
geschieht all dies. Du Verderber der besten Juden! Du hast sie verführt.»
Jesus schweigt.
«Die Zeugen sollen reden»,
schreit Kaiphas.
«Ja, er hat das... das...
benützt. Wir wußten es... Wie heißt es doch gleich?»
«Vielleicht das Tetragrammaton ?»
«Das ist es! Er hat die Toten
beschworen. Er hat gelehrt, daß man sich gegen das Sabbatgebot auflehnen und
die Altäre schänden soll. Wir schwören es. Er hat gesagt, daß er den Tempel
niederreißen und mit Hilfe der Dämonen in drei Tagen wieder aufbauen wird.»
206
«Nein. Er hat gesagt: "Es wird
nicht Menschenwerk sein."»
Kaiphas steigt von seinem Sitz
herab und kommt zu Jesus. Er ist klein, dick und häßlich und gleicht einer
riesigen Kröte neben einer Blume. Denn Jesus, obgleich verletzt, zerschlagen,
schmutzig und mit wirrem Haar, ist immer noch so schön und majestätisch.
«Du antwortest nicht? Hörst du,
welche Anklagen sie gegen dich erheben? Furchtbare Anklagen! Sprich, um dich
von dieser Schmach zu reinigen!»
Aber Jesus schweigt. Er sieht ihn
an und schweigt.
«Antworte wenigstens mir. Ich bin
dein Hoherpriester. Im Namen des lebendigen Gottes beschwöre ich dich. Sage
mir: Bist du der Messias, der Sohn Gottes?»
«Du sagst es. Ich bin es. Ihr
werdet den Menschensohn zur Rechten der Kraft des Vaters sitzen und auf den
Wolken des Himmels kommen sehen. Aber weshalb fragst du mich? Drei Jahre habe
ich öffentlich gesprochen. Ich habe nichts im verborgenen gesagt. Frage die,
die mich gehört haben. Sie werden dir sagen, was ich gesagt und getan habe.»
Einer der Soldaten, die Jesus
halten, schlägt ihn auf den Mund, so daß dieser wieder zu bluten beginnt, und
schreit: «So antwortest du, o Satan, dem Hohenpriester?»
Und Jesus entgegnet diesem wie
dem vorigen sanft: «Wenn ich recht geredet habe, warum schlägst du mich? Wenn
ich unrecht geredet habe, warum sagst du mir nicht, worin ich gefehlt habe?
Ich wiederhole: Ich bin der Christus, der Sohn Gottes. Ich kann nicht lügen.
Der Hohepriester, der Ewige Priester, bin ich. Ich allein trage das wahre
Brustschild, auf dem geschrieben steht: Lehre und Wahrheit. Diesen bin ich
treu. Bis zum Tod, dem schändlichen Tod in den Augen der Welt, dem heiligen
Tod in den Augen Gottes, bis zur seligen Auferstehung. Ich bin der Gesalbte.
Der Hohepriester und König bin ich. Ich bin im Begriff, mein Szepter zu
ergreifen und damit, wie mit einer Wurfschaufel, die Tenne zu reinigen. Dieser
Tempel wird zerstört werden und neu und heilig wiedererstehen. Denn dieser
hier ist verdorben, und Gott überläßt ihn seinem Schicksal.»
«Du Gotteslästerer!» schreien
alle im Chor.
«In drei Tagen willst du ihn
wieder aufbauen, du Verrückter, Besessener?»
«Nicht dieser, sondern meiner
wird errichtet werden, der Tempel des wahren Gottes, des lebendigen und
dreimal heiligen Gottes.»
«Anathema!» schreien sie wieder
im Chor.
Kaiphas erhebt seine heisere
Stimme, zerreißt seine linnenen Gewänder in einer einstudierten Geste des
Entsetzens und sagt: «Was brauchen wir noch Zeugen? Die Gotteslästerung ist
ausgesprochen. Was tun wir nun?»
Und alle im Chor: «Er ist des
Todes schuldig!»
Mit Gesten des Abscheus und der
Entrüstung verlassen sie den Saal
207
und überlassen Jesus der Gnade
seiner Schergen und dem Spott der falschen Zeugen, dieses Pöbels, der ihm
Backenstreiche gibt, ihn mit Fäusten schlägt, ihn anspeit, ihm mit einem
Lappen die Augen verbindet und ihn heftig an den Haaren reißt. Sie stoßen ihn
mit seinen gefesselten Händen hierhin und dorthin, so daß er an Tische, Kästen
und Wände stößt, und dabei fragen sie ihn: «Wer hat dich geschlagen? Rate?»
Mehrere Male stellen sie ihm ein Bein, so daß er der Länge nach zu Boden aufs
Gesicht fällt, und dann lachen sie unmäßig, wenn sie sehen, wie er sich mit
gebundenen Händen bemüht, wieder aufzustehen.
So vergehen die Stunden, und die
ermüdeten Henkersknechte beschließen endlich, sich etwas auszuruhen. Sie
bringen Jesus in einen kleinen Nebenraum, wozu sie ihn viele Höfe durchqueren
lassen und ihn dem Spott der im Bereich der priesterlichen Häuser schon
zahlreichen Menge aussetzen. Jesus kommt nun in den Hof, in dem Petrus an
einem Feuer steht. Er sieht ihn an, aber Petrus weicht seinem Blick aus.
Johannes ist nicht mehr da. Ich sehe ihn jedenfalls nicht. Vielleicht ist er
mit Nikodemus fortgegangen...
Eine grünliche Morgendämmerung
bricht langsam an. Ein Befehl wird gegeben: Der Gefangene soll in den Saal des
Rates zurückgeführt werden und einen ordnungsgemäßen Prozeß erhalten. Gerade
da leugnet Petrus zum dritten Mal, Christus zu kennen, als dieser, schon von
der Qual gezeichnet, vorüberkommt. In dem fahlen Licht der Dämmerung
erscheinen die blauen Flecken auf dem totenblassen Antlitz noch viel
furchtbarer, die Augen noch tiefliegender und glasiger. Ein von allem Schmerz
der Welt gezeichneter Jesus... Das spöttische, sarkastische, höhnische Krähen
eines Hahnes ertönt durch die kaum bewegte Luft des Morgens. Und in dem
Augenblick großer Stille, die dem Erscheinen Jesu folgt, hört man nur die
rauhe Stimme des Petrus sagen: «Ich schwöre es, Frau. Ich kenne ihn nicht.»
Eine sichere, entschiedene Behauptung, auf die wie ein nachäffendes Gelächter
sofort das unverschämte Kikeriki des Hahnes antwortet.
Petrus schrickt zusammen. Er
dreht sich um, um zu fliehen, und findet sich Jesus gegenüber, der ihn mit
unendlichem Erbarmen ansieht, mit einem so traurigen und tiefen Schmerz, daß
es mir das Herz zerreißt; so als ob mir mein Jesus nach diesem Vorfall für
immer entschwinden würde. Petrus weint laut auf und geht schwankend wie ein
Betrunkener fort. Hinter zwei Dienern, die auf die Straße hinausgehen, flieht
er und verschwindet auf der noch halbdunklen Straße.
Jesus wird in den Saal
zurückgebracht. Sie wiederholen ihm noch einmal im Chor die verfängliche
Frage: «Im Namen des wahren Gottes, sage uns: Bist du der Messias?» Nachdem
sie dieselbe Antwort wie zuvor erhalten haben, verurteilen sie ihn zum Tod und
geben den Befehl, ihn zu Pilatus zu bringen.
208
Jesus geht hinaus in Begleitung
aller seiner Feinde, mit Ausnahme des Annas und des Kaiphas, und durchquert
noch einmal alle die Höfe des Tempels, in denen er so oft geredet, Wohltaten
gespendet und geheilt hat. Er läßt die zinnengekrönte Außenmauer hinter sich
und steigt, mehr geschleppt als geführt, durch die Straßen in die Stadt
hinunter, die die sich ankündigende Morgenröte mit einem rosaroten Schimmer
übergießt.
Ich glaube, daß sie Jesus, nur um
ihn länger zu quälen, einen langen, mühsamen Weg durch Jerusalem machen lassen
und absichtlich an den Märkten, Stallungen und Herbergen vorbeigehen, die
wegen des Passahfestes überfüllt sind. Sowohl das weggeworfene Gemüse auf den
Märkten, als auch der Kot der Tiere in den Stallungen wird zu Wurfgeschossen,
so daß das Antlitz des Unschuldigen immer mehr blaue Flecken und kleine
blutende Verletzungen aufweist und von all dem Schmutz bedeckt ist, den man
auf ihn wirft. Sein Haar hängt schwer und glatter als sonst, naß von Schweiß
und Blut, wirr und voll Stroh und Schmutz, über seine Augen, denn sie
zerzausen es, um sein Gesicht zu bedecken.
Die Leute auf den Märkten,
Händler wie Käufer, lassen alles im Stich, um dem Unglücklichen zu folgen,
allerdings nicht aus Liebe. Die Stallburschen und Herbergsdiener kommen in
Scharen herbeigelaufen und sind taub für alle Rufe und Befehle ihrer
Herrinnen. Denn diese, um die Wahrheit zu sagen, sind, wie fast alle anderen
Frauen, entweder mit den Beleidigungen nicht einverstanden oder zumindest
gleichgültig dem Tumult gegenüber und ziehen sich murrend zurück, da sie sich
nun allein um so viele Gäste kümmern müssen.
Der schreiende Schwarm wächst von
Minute zu Minute, und es scheint, daß eine plötzlich aufgetretene Seuche die
Herzen und die Gesichter verwandelt. Die ersteren werden zu Verbrecherherzen,
die zweiten zu Masken rasender Wut auf den Gesichtern, die grün vor Haß und
rot vor Zorn sind. Die Hände werden zu Krallen, die Münder zu heulenden
Wolfsmäulern, die blutunterlaufenen, schielenden Augen bekommen den irren
Blick von Verrückten. Nur Jesus ist immer der gleiche, obwohl er nun von oben
bis unten voll Schmutz und voll blauer Flecken und Schwellungen ist.
Bei einem Gewölbe, das die Straße
wie ein Ring verengt, staut und verlangsamt sich alles und ein Schrei
durchdringt die Luft: «Jesus!» Es ist Elias, der Hirte, der, einen schweren
Stock schwingend, versucht, sich einen Weg zu bahnen. Dem kräftigen, starken
und drohenden Alten gelingt es, fast bis zum Meister durchzukommen. Aber das
von dem unerwarteten Angriff überraschte Volk drängt sich nun wieder zusammen
und trennt sie, schiebt ihn fort, und er geht als einzelner in der Masse
unter.
«Meister!» schreit er, während
der Strudel der Menge ihn fortreißt und schiebt.
«Geh! ... Die Mutter... Ich segne
dich...»
Der Zug hat nun die schmale
Stelle hinter sich. Und wie das Wasser sich
209
nach einer Talenge wieder in sein
breites Bett ergießt, so strömt er nun im Tumult in eine große, etwas erhöht
liegende Straße über einer Niederung zwischen zwei Hügeln, an deren Ende sich
die herrlichen Paläste großer Herren befinden.
Ich sehe wieder den Tempel auf
der Höhe seines Hügels und verstehe, daß der nutzlose Umweg, den der
Verurteilte machen mußte, um ihn vor der ganzen Stadt an den Pranger zu
stellen und es allen zu ermöglichen, ihn zu beleidigen – wobei die Beleidiger
bei jedem Schritt mehr wurden – nun bald zu Ende geht und wieder zum
Ausgangspunkt zurückführt.
Aus einem der Paläste kommt im
Galopp ein Reiter. Die Purpurschabracke seines edlen arabischen Pferdes, sein
beeindruckendes Äußere und das gezückte Schwert, dessen Schneide und
Breitseite er auf blutende Rücken und Köpfe sausen läßt, lassen ihn wie einen
Erzengel erscheinen. Als das Pferd tänzelt, steigt und sich aufbäumt, seine
Hufe zur Verteidigung seiner selbst und seines Herrn gebraucht – das beste
Mittel, um die Menge auseinanderzutreiben und sich einen Weg zu bahnen – fällt
der golddurchwirkte und von einem Goldreif gehaltene Purpurschleier des
Reiters, und ich erkenne Manaen.
«Zurück!» schreit er. «Was
erlaubt ihr euch, die Ruhe des Tetrarchen zu stören?» Aber das ist nur ein
Vorwand, um sein Eingreifen zu rechtfertigen und zu Jesus durchzukommen.
«Dieser Mensch... Laßt mich ihn sehen... Halt, oder ich rufe die Wachen ...»
Das Volk teilt sich in Anbetracht
der Schwertstreiche, Hufschläge und Drohungen des Reiters, und Manaen erreicht
Jesus und die Tempelwächter, die ihn festhalten.
«Fort mit euch! Der Tetrarch ist
mehr als ihr, ihr feigen Knechte. Zurück! Ich will mit ihm sprechen.» Und er
hat Erfolg, nachdem er mit seinem Schwert den verbissensten der Schergen
angegriffen hat.
«Meister... !»
«Danke. Doch geh! Gott tröste
dich!» Jesus segnet ihn so gut er kann mit den gebundenen Händen.
Die Menge pfeift von weitem, und
kaum sieht sie, daß Manaen sich zurückzieht, rächt sie sich durch einen Hagel
von Steinen und Schmutz auf den Verurteilten dafür, daß man sie verjagt hat...
Auf der ansteigenden, schon von
der Sonne erwärmten Straße geht es nun zum Turm der Antonia hinauf, dessen
gewaltige Mauern man bereits in der Ferne sieht.
Der schrille Schrei einer Frau:
«Oh, mein Erlöser! Mein Leben für sein Leben, o Ewiger!» durchdringt die Luft.
Jesus wendet das Haupt und sieht
auf der blumengeschmückten Loggia eines sehr schönen Hauses Johanna des Chuza
mit Knechten und Mägden und den Kindern Maria und Matthias an ihrer Seite, die
die Arme zum Himmel erhebt.
210
Aber der Himmel erhört heute
keine Gebete! Jesus hebt die Hände in einer Geste des Segens und des Grußes.
«Tod! Tod dem Gotteslästerer, dem
Verderber, dem Dämon. Tod seinen Freunden!» Pfiffe ertönen, und Steine fliegen
auf die hohe Terrasse. Ich weiß nicht, ob jemand verletzt ist. Ich höre nur
einen durchdringenden Schrei und sehe dann, wie sich die Gruppe auflöst und
verschwindet.
Weiter, immer weiter hinauf...
Jerusalem zeigt seine leeren, in der Sonne liegenden Häuser. Geleert von einem
Haß, der eine ganze Stadt mit ihren Bewohnern und den zum Passahfest
gekommenen Fremden gegen einen Wehrlosen hetzt.
Römische Soldaten, ein ganzer
Manipel, kommen im Laufschritt mit eingelegten Lanzen aus der Antonia, und der
Pöbel zerstreut sich schreiend. Auf der Straße bleiben nur Jesus und die
Wächter und die Oberhäupter der Priester, Schriftgelehrten und Ältesten des
Volkes.
«Dieser Mann? Dieser Aufruhr?
Dafür werdet ihr euch vor Rom verantworten», sagt ein Centurio hochmütig.
«Nach unserem Gesetz ist er des
Todes schuldig.»
«Und seit wann ist euch das jus
gladii et sanguinis 1) wiedergegeben?» fragt der älteste der Centurionen – ein
strenges, echt römisches Gesicht mit einer tiefen Narbe auf der Wange. Und er
spricht mit so viel Abscheu und Verachtung, wie er etwa zu verlausten
Galeerensträflingen sprechen würde.
«Wir wissen, daß wir dieses Recht
nicht haben. Wir sind getreue Untertanen Roms ...»
«Ha, ha, ha! Hörst du sie,
Longinus? Getreu! Untertanen! Aas seid ihr. Die Pfeile meiner Bogenschützen
möchte ich euch zur Belohnung geben.»
«Viel zu vornehm, ein solcher
Tod! Die Rücken der Maulesel brauchen nur die Peitsche!» entgegnet mit
ironischer Lässigkeit Longinus.
Die Oberhäupter der Priester,
Schriftgelehrten und Ältesten schäumen vor Zorn. Aber sie wollen ihr Ziel
erreichen und schweigen, schlucken die Beleidigung hinunter, lassen sich nicht
anmerken, daß sie sie verstanden haben, verneigen sich vor den beiden
Centurionen und bitten, Jesus vor Pontius Pilatus zu bringen, damit er ihn
«richte und verurteile mit der wohlbekannten und angemessenen Gerechtigkeit
Roms».
«Ha, ha, ha! Höre sie dir nur an.
Wir sind weiser als Minerva geworden... Hier! Gebt ihn her und geht voraus.
Man kann nie wissen. Ihr seid stinkende Schakale. Euch im Rücken zu haben ist
gefährlich. Vorwärts.»
«Wir können nicht.»
«Und warum? Wenn einer anklagt,
muß er zusammen mit dem Angeklagten vor dem Richter erscheinen. Das ist die
römische Vorschrift.»
________________
1) Das Recht des Schwertes und
des Blutes.
211
«Das Haus eines Heiden ist unrein
in unseren Augen, und wir haben uns schon für das Passahfest gereinigt.»
«Oh, die Ärmsten! Sie
verunreinigen sich, wenn sie hereinkommen... Und die Tötung des einzigen
Hebräers, der ein Mensch ist und kein Schakal und Reptil wie ihr, die
beschmutzt euch nicht? Nun gut. Dann bleibt also, wo ihr seid. Keinen Schritt
weiter, sonst werdet ihr auf die Lanzen gespießt. Eine Decurie um den
Angeklagten. Die anderen gegen dieses stinkende Pack mit seinen ungewaschenen
Mäulern.»
Jesus betritt inmitten der zehn
Bewaffneten das Prätorium. Die Soldaten bilden mit ihren Hellebarden ein
Quadrat um ihn. Die beiden Centurionen gehen weiter. Während Jesus in einem
weiten Atrium wartet, durch das man in einen Hof gelangt, der hinter einem im
Wind wehenden Vorhang zu sehen ist, verschwinden sie durch eine Tür. Sie
kommen wieder mit dem Statthalter, der in eine schneeweiße Toga und einen
Purpurmantel gekleidet ist. Vielleicht war das die Amtstracht, wenn man Rom
offiziell vertreten mußte.
Er kommt nachlässig herein, mit
einem skeptischen Lächeln auf dem bartlosen Gesicht, zerreibt etwas
Zitronenkraut zwischen den Fingern und riecht genüßlich daran. Dann geht er zu
einer Sonnenuhr, dreht sich um, nachdem er die Zeit gesehen hat, und wirft
Weihrauchkörner in das Kohlebecken zu Füßen einer Gottheit. Er läßt sich
Zitronenwasser bringen, gurgelt damit, betrachtet noch einmal seine schön
gewellte Frisur in einem glänzenden Metallspiegel. Es scheint, als habe er den
Verurteilten vergessen, der seine Zustimmung erwartet, um getötet zu werden.
Selbst der Allergleichgültigste könnte zornig werden.
Das Atrium ist an der Vorderseite
ganz offen und liegt noch um drei große Stufen höher als die Vorhalle, von der
wiederum drei Stufen zur Straße hinunterführen. Daher können die Hebräer alles
beobachten und toben innerlich. Aber sie wagen nicht aufzubegehren aus Furcht
vor den Speeren.
Endlich, nachdem er in dem weiten
Atrium wieder und wieder hierhin und dorthin gegangen ist, kommt Pilatus auf
Jesus zu, sieht ihn an und fragt die beiden Centurionen: «Dieser?»
«Ja, dieser.»
«Seine Ankläger sollen
vortreten», und er geht und setzt sich auf den Stuhl, den man auf ein Podest
gestellt hat. Über seinem Haupt befinden sich die Insignien Roms mit ihren
goldenen Adlern und der Inschrift seiner Macht. 1)
«Sie können nicht kommen. Sie
verunreinigen sich.»
«Ach so?! Um so besser. Dann
ersparen wir uns Ströme von Essenzen, um ihren Bocksgestank von hier wieder zu
vertreiben. Sie sollen wenigstens
_____________
1) SPQR – S(enatus) P(opulus)
Q(ue) R(omanus) = Senat und Volk von Rom.
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näherkommen. Bis hier unten. Und
sorgt dafür, daß sie nicht hereinkommen, nachdem sie es schon nicht wollen.
Dieser Mann hier könnte ein Vorwand für einen Aufstand sein.»
Ein Soldat geht, um den Befehl
des römischen Prokurators zu überbringen. Die anderen stellen sich in
regelmäßigen Abständen vor das Atrium. Sie sind schön wie neun Heroenstatuen
anzusehen.
Die Obersten der Priester,
Schriftgelehrten und Ältesten treten näher, grüßen mit kriecherischen
Verbeugungen und bleiben auf dem Platz vor dem Prätorium unterhalb der drei
Stufen der Vorhalle stehen.
«Redet und faßt euch kurz. Ihr
seid schon schuldig, weil ihr die Nachtruhe gestört und mit Gewalt die Öffnung
der Tore erzwungen habt. Ich werde die Sache überprüfen lassen, und sowohl die
Auftraggeber als auch die Ausführenden werden sich wegen ihres Ungehorsams
gegen die Vorschrift verantworten müssen.»
«Wir kommen, um Rom, dessen
göttlichen Kaiser du hier vertrittst, unser Urteil über diesen hier zu
unterbreiten.»
«Welche Anklage bringt ihr gegen
ihn vor? Er scheint mir harmlos zu sein.»
«Wenn er kein Übeltäter wäre,
hätten wir ihn dir nicht gebracht.» In ihrer Begierde anzuklagen, treten sie
näher.
«Jagt dieses Gesindel zurück!
Sechs Schritte hinter die drei Stufen zum Platz. Die beiden Centurien an die
Waffen!»
Die Soldaten gehorchen sofort.
Hundert stellen sich auf die oberste der drei äußeren Stufen mit dem Rücken
zur Vorhalle und weitere hundert auf den kleinen Platz vor dem Eingangstor zum
Palast des Pilatus. Ich habe gesagt: Eingangstor, doch ich müßte eigentlich
sagen: Portal oder Triumphbogen, denn es ist eine riesige Öffnung mit einem
nun weit offenen Gitter, von dem aus man durch die mindestens sechs Meter
breite Vorhalle in das Atrium gelangt. Man sieht also sehr gut, was in dem
höher liegenden Atrium geschieht. Von der anderen Seite der großen Vorhalle
schauen die grausamen Gesichter der Juden teuflisch drohend herein. Sie
schauen durch den bewaffneten Wall der wie bei einer Parade dicht
nebeneinanderstehenden Soldaten, die zweihundert Speerspitzen auf die
mörderischen und zugleich feigen Hasen richten.
«Welche Anklage bringt ihr gegen
diesen hier vor, frage ich nochmals.»
«Er hat ein Verbrechen gegen das
Gesetz unserer Väter begangen.»
«Und deshalb kommt ihr und
belästigt mich? Nehmt ihn und verurteilt ihn nach euren Gesetzen.»
«Wir dürfen niemanden zum Tod
verurteilen. Wir sind nicht gelehrt. Das hebräische Recht ist ein
zurückgebliebenes Kind im Vergleich zum vollkommenen römischen Recht. Als
Unwissende und Untertanen der Meisterin Rom brauchen wir ...»
«Seit wann seid ihr Honig und
Butter? ... Aber ihr habt eine Wahrheit
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gesagt, ihr Meister der
Verstellung! Ihr braucht Rom! Ja. Um den loszuwerden, der euch lästig ist. Ich
habe verstanden.» Pilatus lacht und betrachtet den heiteren Himmel, eine
rechteckige Platte aus dunklem Türkis, die die weißen Marmorwände des Atriums
umrahmen.
«Sagt, worin hat er gegen eure
Gesetze verstoßen?»
«Wir haben festgestellt, daß
dieser hier Unordnung in unserem Volk hervorruft und es hindert, den Tribut an
den Caesar zu entrichten, indem er sich als Messias und König der Juden
ausgibt.»
Pilatus geht wieder zu Jesus, den
die Soldaten zwar gefesselt, aber sonst unbewacht in der Mitte des Atriums
gelassen haben, denn seine Sanftmut ist offensichtlich. Er fragt: «Bist du der
König der Juden?»
«Fragst du dies aus dir selbst,
oder haben es dir andere gesagt?»
«Meinst du, mich würde dein Reich
interessieren? Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und seine Häupter haben dich
mir überliefert, damit ich dich richte. Was hast du getan? Ich kenne dich als
rechtschaffenen Menschen. Sprich. Ist es wahr, daß du die Herrschaft
anstrebst?»
«Mein Reich ist nicht von dieser
Welt. Wäre es von dieser Welt, so hätten meine Diener und Soldaten gekämpft,
und die Juden hätten mich nicht gefangengenommen. Aber mein Reich ist nicht
von dieser Welt. Und du weißt, daß ich nicht nach Macht strebe.»
«Das ist wahr. Ich weiß es. Es
ist mir gesagt worden. Doch du leugnest nicht, daß du ein König bist?»
«Du sagst es. Ich bin ein König.
Dazu bin ich in die Welt gekommen: daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.
Wer die Wahrheit liebt, hört auf meine Stimme.»
«Was ist Wahrheit? Bist du ein
Philosoph? Das hilft nicht angesichts des Todes. Sokrates ist trotzdem
gestorben.»
«Aber es hat ihm geholfen im
Leben. Es hat ihm geholfen, gut zu leben. Und auch gut zu sterben und in das
zweite Leben einzugehen ohne den Namen: Verräter der bürgerlichen Tugenden.»
«Beim Jupiter!» Pilatus schaut
ihn einige Augenblicke bewundernd an. Dann ergreift sein sarkastischer
Skeptizismus wieder von ihm Besitz. Er macht eine gelangweilte Geste, kehrt
ihm den Rücken und wendet sich wieder den Juden zu.
«Ich finde keine Schuld an ihm.»
Die Menge tobt, da sie
befürchtet, ihre Beute zu verlieren und auf das Schauspiel der Hinrichtung
verzichten zu müssen. Sie schreit: «Er ist ein Rebell!» «Ein Gotteslästerer!»
«Er fördert die Unzucht!» «Er ruft zum Aufstand auf!» «Er verweigert dem
Caesar die gebührende Achtung!» «Er gibt sich als Prophet aus, ohne es zu
sein!» «Er treibt Zauberei!» «Er ist ein Satan!» «Er wiegelt das Volk auf
durch seine Lehren und lehrt nicht nur in Galiläa, von wo er gekommen ist,
sondern auch in Judäa!»«Tod für ihn! Tod!»
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«Ein Galiläer ist er? Bist du ein
Galiläer?» Pilatus wendet sich Jesus zu. «Hörst du, wessen sie dich anklagen?
Verteidige dich!»
Aber Jesus schweigt. Pilatus
denkt nach... Er beschließt: «Eine Centurie. Und dann bringt diesen Mann zu
Herodes. Er soll ihn richten. Er ist sein Untertan. Ich anerkenne das Recht
des Tetrarchen, und sein Urteil unterschreibe ich im voraus. Sagt ihm das. Und
nun geht.»
Von hundert Soldaten umgeben,
wird Jesus wieder wie ein Verbrecher durch die Stadt geschleppt und begegnet
noch einmal Judas Iskariot, den er schon einmal in der Nähe eines Marktes
gesehen hat. Ich habe vergessen, es zu sagen, da ich mich zu sehr über die
Gemeinheiten des Volkes aufgeregt habe. Jesus wirft wieder einen
erbarmungsvollen Blick auf den Verräter...
Nun ist es schwieriger, ihn mit
Fußtritten und Stockschlägen zu treffen, aber die Steine und der Unrat fehlen
nicht... Die Steine prallen zwar krachend an den Helmen und Harnischen der
Römer ab, ohne diese zu verletzen, hinterlassen jedoch bei Jesus, der nur mit
dem Gewand bekleidet ist, da er seinen Mantel in Gethsemane gelassen hat,
deutliche Spuren.
Als er den prunkvollen Palast des
Herodes betritt, sieht er Chuza... der ihn nicht anzuschauen wagt, sich den
Mantel über den Kopf zieht und flieht, um ihn nicht sehen zu müssen in diesem
Zustand.
Nun ist er im Saal und vor
Herodes. Und hinter ihm kommen die Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich
hier als falsche Ankläger wohlfühlen. Nur der Centurio und vier Soldaten
führen ihn vor den Tetrarchen.
Dieser verläßt seinen Sitz und
geht um Jesus herum, während er die Anklage seiner Feinde anhört. Er lächelt
und spottet. Dann heuchelt er Mitleid und Achtung, was jedoch den Märtyrer
ebenso wenig berührt wie zuvor der Spott.
«Du bist groß. Ich weiß es. Ich
habe dich beobachtet und habe mich darüber gefreut, daß Chuza dein Freund und
Manaen dein Jünger geworden ist. Ich... die Staatsangelegenheiten... Aber wie
groß war mein Wunsch dir zu sagen, daß du groß bist. Dich um Verzeihung zu
bitten... Die Augen des Johannes... und seine Stimme klagen mich an und
verfolgen mich. Du bist der Heilige, der die Sünden der Welt vergibt. Sprich
mich los, o Christus!»
Jesus schweigt.
«Ich habe gehört, daß du
angeklagt bist, dich gegen Rom aufgelehnt zu haben. Aber bist du nicht die
verheißene Rute, die Assur schlagen wird?»
Jesus schweigt.
«Man hat mir gesagt, daß du das
Ende des Tempels und Jerusalems prophezeist. Aber ist denn der geistige Tempel
nicht ewig, da ihn der Ewige will?»
Jesus schweigt.
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«Bist du verrückt? Hast du deine
Macht verloren? Hat Satan dir das Wort genommen? Hat er dich im Stich
gelassen?»
Herodes lacht jetzt. Doch dann
gibt er einen Befehl. Und einige Diener eilen herbei und bringen einen
kläglich heulenden Windhund mit gebrochenem Bein und einen schwachsinnigen,
sabbernden Stallknecht mit einem Wasserkopf, eine Mißgeburt, mit der sich die
Diener die Zeit vertreiben.
Die Schriftgelehrten und die
Priester weichen zurück und schreien: «Sakrileg!» als sie die Bahre mit dem
Hund erblicken.
Herodes erklärt falsch und
spöttisch: «Es ist der Lieblingshund der Herodias. Ein Geschenk von Rom. Er
hat sich gestern ein Bein gebrochen, und sie weint. Befiehl, daß er geheilt
wird. Wirke ein Wunder an ihm.»
Jesus sieht ihn streng an und
schweigt.
«Habe ich dich beleidigt? Dann
diesen hier. Er ist ein Mensch, wenn er auch nur wenig mehr als ein wildes
Tier ist. Gib ihm den Verstand, du, Geist des Vaters... Sagst du nicht so?» Er
lacht beleidigend.
Ein noch strengerer Blick Jesu,
und Schweigen.
«Dieser Mensch ist zu enthaltsam,
und nun ist er betäubt von all den Schmähungen. Bringt Wein und Weiber! Und
bindet ihn los.»
Sie binden ihn los. Und während
ein Heer von Dienern Krüge und Becher bringt, kommen Tänzerinnen herein...
praktisch hüllenlos. Die einzige Bekleidung ist eine bunte, um Taille und
Hüfte ihrer schlanken Körper geschlungene Leinenschärpe. Sonst nichts. Es sind
bronzehäutige Afrikanerinnen. Gewandt wie junge Gazellen beginnen sie einen
lautlosen und unzüchtigen Tanz.
Jesus weist die Becher zurück und
schließt schweigend die Augen. Die Höflinge des Herodes lachen über seinen
Abscheu.
«Nimm die, die du willst. Lebe!
Lerne zu leben! ...» fordert Herodes ihn auf.
Jesus gleicht einer Statue. Mit
verschränkten Armen und geschlossenen Augen steht er da und rührt sich auch
nicht, als die schamlosen Tänzerinnen ihn mit ihren nackten Körpern streifen.
«Genug. Ich habe dich als Gott
behandelt, und du hast nicht als Gott gehandelt. Ich habe dich als Mensch
behandelt, und du hast nicht als Mensch gehandelt. Du bist verrückt. Legt ihm
ein weißes Gewand an, damit Pontius Pilatus weiß, daß der Tetrarch seinen
Untergebenen für verrückt hält. Centurio, melde dem Prokonsul, daß Herodes ihm
seine Hochachtung bezeigt und Rom seine Verehrung. 1)»
1) Der Prätor oder Prokonsul war
der Gouverneur einer Provinz des römischen Reiches mit militärischer, ziviler
und richterlicher Gewalt. Er war demnach der Oberkommandierende des Heeres,
das aus fünf Kohorten (etwa 3000 Soldaten) bestand, von denen eine in
Jerusalem stationiert war. Er erhob die Steuern durch die Zöllner, er übte die
richterliche
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Jesus wird erneut gefesselt und
hinausgeführt, mit einer bis an die Knie reichenden Leinen-Tunika über dem
roten Wollgewand.
Sie kehren zu Pilatus zurück.
Als nun die Soldaten die Menge
mit Mühe zurückgedrängt haben, die es nicht müde geworden ist, vor dem Palast
des Prokonsuls zu warten – es ist befremdend, so viele Menschen an diesem Ort
und in dieser Umgebung zu sehen, während der Rest der Stadt wie ausgestorben
scheint – sieht Jesus die Hirten, alle beisammen in einer Gruppe: Isaak,
Jonathan, Levi, Joseph, Elias, Matthias, Johannes, Simeon, Benjamin und
Daniel; und neben ihnen ein Häufchen Galiläer, von denen ich Alphäus und
Joseph des Alphäus wiedererkenne. Auch zwei andere, die ich nicht kenne, sind
dabei, die ich aber nach ihrem Äußeren zu schließen für Judäer halte. Etwas
weiter drüben, schon in der Vorhalle und halb hinter einer Säule verborgen,
sieht er Johannes zusammen mit einem Römer, der wohl ein Diener ist. Er
lächelt ihm und den anderen zu... seinen Freunden... Aber was sind diese
wenigen und Johanna, Manaen und Chuza in einem Meer brodelnden Hasses? ...
Der Centurio grüßt Pontius
Pilatus und erstattet Bericht.
«Wieder hier?! Puh! Diese
verfluchte Rasse! Laßt den Pöbel näher kommen und bringt den Angeklagten
hierher. Ach je, wie lästig!»
Er geht der Menge entgegen,
bleibt aber in der Mitte der Vorhalle stehen.
«Hebräer, hört! Ihr habt diesen
Menschen zu mir gebracht und behauptet, er wiegle das Volk auf. Vor euren
Augen habe ich ihn geprüft und habe ihn keines der Vergehen schuldig befunden,
deren ihr ihn anklagt. Auch Herodes hat nicht mehr als ich gefunden und ihn zu
mir zurückgesandt. Er verdient den Tod nicht. Rom hat gesprochen. Um euch
jedoch nicht ungefällig zu sein und euch nicht um euer Schauspiel zu bringen,
gebe ich euch an seiner Statt Barabbas. Diesen hier werde ich mit vierzig
Peitschenhieben bestrafen lassen. Das ist genug.»
«Nein, nein! Nicht Barabbas!
Nicht Barabbas! Jesus muß sterben! Eines schrecklichen Todes. Gib Barabbas
frei und verurteile den Nazarener!»
«Aber hört! Ich habe die
Auspeitschung angeordnet. Genügt das nicht? Dann lasse ich ihn geißeln! Das
ist furchtbar, ihr wißt es. Man kann daran sterben. Was hat er Böses getan?
Ich finde keine Schuld an ihm und werde ihn freilassen.»
Gewalt aus und besaß das dem
Synedrium verwehrte Recht, zum Tod zu verurteilen (jus gladii). Die Residenz
eines solchen Gouverneurs, die auch der Sitz des Gerichtes war, wurde
Prätorium genannt. Pilatus war Prokurator von Judäa, Idumäa und Samaria von 26
bis 36 nach Christus. Der Tetrarch hingegen, in den Evangelien auch
volkstümlich König genannt, war das Oberhaupt einer der (ursprünglich vier)
Regionen, in die eine Provinz des römischen Imperiums eingeteilt wurde.
Herodes Antipas, der Sohn des Herodes des Großen, war Tetrarch von Galiläa und
Peräa von 4 vor Christus bis 39 nach Christus.
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«Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Er
muß sterben! Du schützst die Verbrecher! Heide! Auch du bist ein Teufel!»
Die Menge kommt näher, und die
erste Reihe der Soldaten wankt unter dem Aufprall und kann die Lanzen nicht
gebrauchen. Doch die zweite Reihe kommt eine Stufe herunter, legt die Speere
ein und befreit die Gefährten.
«Er soll gegeißelt werden»,
befiehlt Pilatus einem der Centurionen.
«Wann?»
«Wann du willst... damit es ein
Ende hat. Ich bin sehr verärgert. Geh!»
Jesus wird von vier Soldaten in
den Hof hinter dem Atrium geführt, der einen Boden aus buntem Marmor hat und
in dessen Mitte eine hohe Säule steht, ähnlich denen des Portikus. Daran
befindet sich etwa drei Meter über dem Boden eine eiserne Querstange, die in
einem Ring endet. An diesen wird Jesus mit über den Kopf erhobenen Händen
gebunden, nachdem er sich entkleidet hat. Er hat jetzt nur noch eine kurze
Leinenhose und Sandalen an. Die an den Gelenken zusammengebundenen Hände
werden hinaufgezogen bis zu dem Ring, so daß er trotz seiner Größe den Boden
nur noch mit den Fußspitzen berührt... Schon diese Stellung muß eine Tortur
sein.
Ich habe irgendwo gelesen, daß
die Säule niedrig gewesen sei und Jesus gebückt stehen mußte. Mag sein. Ich
sehe es so und sage es so.
Hinter Jesus stellt sich einer
mit einem Henkergesicht reinsten hebräischen Profils. Vor Jesus ein anderer
mit demselben Aussehen. Sie haben eine Geißel aus sieben Lederriemen, die an
einem Griff befestigt sind und in einem Hämmerchen aus Blei enden. Rhythmisch,
als wäre es eine Übung, fangen sie an zu schlagen. Der eine von vorne, der
andere von hinten, so daß der Körper Jesu ringsum von Schlägen getroffen wird.
Die vier Soldaten, denen man ihn übergeben hat, machen gleichgültig mit drei
anderen Soldaten, die noch dazugekommen sind, ein Würfelspiel.
Die Stimmen der Spieler
vermischen sich mit dem Geräusch der Geißeln, die wie Schlangen zischen und
sich dann anhören wie Steine, die auf das straff gespannte Leder einer Trommel
fallen, wenn sie den armen schlanken Körper von der Farbe alten Elfenbeins
treffen. Zuerst hinterlassen sie rosarote Streifen, die immer dunkler und
schließlich violett werden, dann bilden sich dunkelblaue, blutgefüllte
Schwellungen, die aufreißen und am ganzen Körper Blut fließen lassen. Sie
schlagen hauptsächlich auf den Oberkörper und den Unterleib, aber auch Beine,
Arme und sogar den Kopf lassen sie nicht aus, damit kein schmerzfreies
Fleckchen Haut übrigbleibt.
Und keine Klage... Wenn der
Strick ihn nicht halten würde, würde er zu Boden fallen. Aber er fällt nicht
und er stöhnt nicht. Nur der Kopf sinkt ihm auf die Brust nach so vielen
Schlägen, so als wenn er ohnmächtig geworden wäre.
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«Halt! Hört auf! Er muß noch
lebendig hingerichtet werden!» höhnt ein Soldat.
Die beiden Henker halten ein und
trocknen sich den Schweiß ab.
«Wir sind völlig erledigt», sagen
sie. «Gebt uns den Lohn, damit wir trinken und uns erholen können.»
«Hängen sollte man euch! Doch
nehmt ...» und ein Decurio wirft jedem der beiden eine große Münze zu.
«Ihr habt eure Pflicht getan. Er
gleicht einem Mosaik. Titus, sag, war dieser Mensch wirklich die Liebe des
Alexander? Dann wollen wir ihn benachrichtigen, damit er Trauer tragen kann.
Binden wir ihn jetzt los.»
Sie binden Jesus los, und dieser
sinkt wie tot zu Boden. Sie lassen ihn liegen und stoßen ihn nur ab und zu mit
den Stiefeln an, um zu sehen, ob er klagt.
Aber er schweigt.
«Ob er tot ist? Wäre es möglich?
Er ist jung und ein Handwerker, hat man mir gesagt... aber er gleicht einer
zarten Dame ...»
«Laß mich nur machen», sagt ein
Soldat. Er setzt ihn auf und lehnt ihn mit dem Rücken an die Säule. Wo er
gelegen ist, sind Blutlachen... Dann geht der Soldat zu einem Brunnen, der
unter dem Tor plätschert, füllt einen Eimer mit Wasser und schüttet es über
den Kopf und den Körper Jesu. «So, den Blumen tut das Wasser gut.»
Jesus seufzt tief und will
aufstehen, aber noch bleibt er mit geschlossenen Augen sitzen.
«Oh! Gut! Auf, Schöner! Eine Dame
wartet auf dich! ...»
Aber vergebens stemmt Jesus die
Hände auf den Boden, um aufzustehen.
«Los, rasch! Bist du schwach?
Hier ist eine Erfrischung», grinst ein anderer Soldat. Mit dem Schaft seiner
Hellebarde versetzt er Jesus einen Schlag ins Gesicht und trifft ihn zwischen
dem rechten Jochbogen und der Nase, die zu bluten beginnt.
Jesus öffnet die Augen und blickt
um sich. Ein verschleierter Blick. Er schaut den Soldaten an, der ihn
geschlagen hat, wischt sich mit der Hand das Blut ab und stellt sich dann mit
großer Mühe auf die Füße.
«Zieh dich an. Es ist nicht
anständig, so herumzustehen, Schamloser!»Alle umringen Jesus und lachen.
Jesus gehorcht wortlos. Aber
während er sich bückt – und nur er weiß, was er dabei leidet, zerschlagen wie
er ist und mit Wunden, die sich durch die Anspannung der Haut noch weiter
öffnen, und blutgefüllten Schwellungen, die aufbrechen – gibt ein Soldat den
Kleidern einen Tritt und zerstreut sie. Und jedesmal, wenn Jesus sich nach
ihnen bücken will, nachdem er sie wankend erreicht hat, stößt oder wirft ein
Soldat sie in eine andere Richtung. Jesus, der furchtbar leidet, sagt nichts
und versucht sie zu holen, während die Soldaten obszöne Späße über ihn machen.
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Endlich kann er sich wieder
anziehen. Er legt auch das weiße Gewand wieder an, das in einer Ecke gelegen
und sauber geblieben ist. Es sieht aus, als wolle er sein armes rotes Gewand
verbergen, das gestern noch so schön war und heute von Unrat beschmutzt und
von dem in Gethsemane geschwitzten Blut befleckt ist. Bevor er die kurze
Tunika anzieht, wischt er sich damit sogar das nasse Antlitz ab und reinigt es
von Staub und Speichel. Und das arme, heilige Antlitz erscheint rein und nur
von kleinen bläulichen Wunden gezeichnet. Jesus streicht seine zerzausten
Haare und seinen Bart glatt, in einem angeborenen Bedürfnis, ordentlich
auszusehen.
Dann kauert er sich in der Sonne
zusammen, denn er zittert, mein Jesus... Das Fieber beginnt, und damit auch
der Schüttelfrost. Auch die Schwäche nach dem Blutverlust, dem Fasten und dem
vielen Gehen macht sich bemerkbar.
Sie binden ihm erneut die Hände.
Der Strick schneidet dort ein, wo schon ein roter Streifen abgeschürfter Haut
ist.
«Und nun? Was tun wir mit ihm?
Mir ist langweilig.»
«Warte. Die Juden wollen einen
König. Nun, wir geben ihnen einen. Diesen da...» sagt ein Soldat.
Er eilt hinaus, gewiß in einen
weiter hinten liegenden Hof, von wo er mit einem Bündel Weißdorn zurückkommt.
Jetzt, im Frühling, sind die Zweige noch relativ weich und biegsam, die
langen, spitzen Dornen aber sehr hart. Mit ihren Dolchen entfernen sie Blätter
und Blüten, biegen die Zweige zu einem Kranz und drücken ihn auf das arme
Haupt. Aber die barbarische Krone fällt auf den Hals.
«Sie paßt nicht. Wir müssen sie
kleiner machen. Nimm sie wieder weg.»
Sie nehmen die Krone herunter,
zerkratzen ihm dabei die Wangen, stechen ihm beinahe die Augen aus und reißen
ihm auch Haare aus. Sie machen sie kleiner. Aber nun ist sie zu klein, und
soviel sie auch drücken und dadurch die Dornen in Jesu Kopf treiben, droht sie
doch herunterzufallen. Wieder nehmen sie sie herunter und reißen noch mehr
Haare aus. Sie verändern sie noch einmal, und nun paßt sie. Vorne ist ein
dreifacher Dornenreif. Hinten, wo die Enden der drei Zweige
ineinandergeschlungen sind, ist ein richtiger Knoten aus Dornen, die Jesus in
den Nacken dringen.
«Siehst du, wie gut sie dir
steht? Naturbronze und echte Rubine. Spiegle dich in meinem Harnisch, o
König!» spottet der Erfinder dieser Qual.
«Eine Krone allein genügt nicht,
um einen König zu machen. Er braucht auch Purpur und ein Szepter. Im Stall ist
ein Rohr, und auf dem Abfall liegt ein roter Mantel. Hole sie, Cornelius.»
Bald darauf legen sie Jesus den
schmutzigen roten Fetzen um die Schultern, und bevor sie ihm das Rohr in die
Hände geben, schlagen sie ihn damit auf das Haupt, verneigen sich und grüßen:
«Ave, König der Juden!»Dabei schütteln sie sich vor Lachen.
220
Jesus läßt sie gewähren. Er läßt
sich auf einen «Thron» setzen, eine umgestülpte Wanne, die sonst wohl als
Pferdetränke dient; er läßt sich schlagen und verspotten, ohne jemals etwas zu
sagen. Er schaut sie nur an... und sein Blick ist so voll Güte, aber auch so
voll des furchtbarsten Schmerzes, daß ich ihn nicht ertragen kann, ohne mein
Herz dadurch verwundet zu fühlen.
Die Soldaten hören erst auf zu
spotten, als ihnen die rauhe Stimme eines Vorgesetzten gebietet, den
Schuldigen wieder vor Pilatus zu bringen.
Schuldig? Wessen?
Jesus wird in das Atrium
zurückgeführt, das nun durch einen kostbaren Vorhang vor der Sonne geschützt
ist. Jesus hat noch die Krone, den Umhang und das Rohr.
«Komm nach vorne, damit ich dich
dem Volk zeigen kann.»
Obwohl er schon völlig gebrochen
ist, richtet sich Jesus doch würdevoll auf. Oh, er ist wirklich ein König!
«Hört, Hebräer! Hier ist der
Mensch. Ich habe ihn bestraft. Aber nun laßt ihn gehen.»
«Nein, nein! Wir wollen ihn
sehen! Heraus mit ihm! Wir wollen den Gotteslästerer sehen!»
«Führt ihn hinaus und gebt acht,
daß man sich nicht seiner bemächtigt!»
Während Jesus in die Vorhalle
hinausgeht und sich im Viereck der Soldaten dem Volk zeigt, weist Pontius
Pilatus mit der Hand auf ihn und sagt: «Seht, welch ein Mensch! Euer König!
Ist es noch nicht genug?»
Die Sonne eines schwülen Tages,
die nun fast im Zenit steht, denn es ist schon zwischen der dritten und der
sechsten Stunde, entzündet und akzentuiert noch die Blicke und die Gesichter.
Sind das noch Menschen? Nein. Es sind tollwütige Hyänen. Sie heulen, schütteln
die Fäuste und fordern den Tod...
Jesus steht aufrecht da, und ich
kann versichern: Niemals war er so erhaben wie jetzt. Nicht einmal, als er die
größten Wunder vollbrachte. Der Adel des Schmerzes! Aber so göttlich, daß er
schon allein deshalb als Gott anerkannt werden müßte. Doch um diesen Namen
sagen zu können, muß man wenigstens ein Mensch sein. In Jerusalem gibt es
heute aber keine Menschen, sondern nur Dämonen.
Jesus läßt seine Blicke über die
Menge schweifen, sucht und findet im Meer der haßerfüllten Gesichter die
Gesichter der Freunde. Wie viele? Weniger als zwanzig unter Tausenden von
Feinden... Er neigt das Haupt in Trauer über diese Verlassenheit. Eine Träne
fällt... noch eine... und noch eine... Der Anblick seiner Tränen erzeugt kein
Mitleid, sondern noch wilderen Haß.
Er wird in das Atrium
zurückgebracht.
«Nun? Laßt ihn gehen. Es ist
gerecht.»
«Nein. Zum Tod. Kreuzige ihn.»
221
«Ich gebe euch Barabbas.»
«Nein, den Messias!»
«So nehmt ihr ihn. Kreuzigt ihn
selbst, denn ich finde keine Schuld an ihm.»
«Er hat sich Sohn Gottes genannt.
Unser Gesetz sieht die Todesstrafe für den vor, der einer solchen
Gotteslästerung schuldig ist.»
Pilatus wird nachdenklich. Er
geht wieder hinein und setzt sich auf seinen Thron. Er führt eine Hand an die
Stirn, stützt den Ellbogen auf sein Knie und schaut Jesus prüfend an.
«Komm näher», sagt er.
Jesus begibt sich zu dem Podest.
«Ist das wahr? Antworte.»
Jesus schweigt.
«Woher kommst du? Wer ist Gott?»
«Er ist das Alles!»
«Ja und? Was heißt, das Alles?
Was ist das Alles für den, der stirbt? Du bist verrückt... Gott ist nicht. Ich
bin.»
Jesus schweigt. Er hat ein großes
Wort gesprochen und hüllt sich nun in Schweigen.
«Pontius, die Freigelassene der
Claudia Procula bittet, eintreten zu dürfen. Sie hat ein Schreiben für dich.»
«Domine! Auch noch die Frauen
jetzt! Sie soll kommen.»
Eine Römerin kommt herein, kniet
nieder und reicht ihm ein Wachstäfelchen. Es muß das Täfelchen sein, auf dem
Procula den Gatten bittet, Jesus nicht zu verurteilen. Die Frau zieht sich
rückwärts gehend zurück, während Pilatus liest.
«Man rät mir, deinen Tod zu
vermeiden. Ist es wahr, daß du mehr als ein Haruspex bist? Du machst mir
Angst.»
Jesus schweigt.
«Weißt du denn nicht, daß ich
Macht habe, dich freizugeben oder dich zu kreuzigen?»
«Du hättest keine Macht, wenn sie
dir nicht von oben gegeben wäre. Deshalb hat der, der mich dir überliefert
hat, eine größere Schuld als du.»
«Wer ist es? Dein Gott? Ich habe
Angst ...»
Jesus schweigt.
Pilatus sitzt auf Kohlen. Er
möchte und möchte nicht. Er fürchtet die Strafe Gottes, fürchtet Rom, fürchtet
die Rache der Juden. Einen Augenblick siegt die Furcht vor Gott. Er geht nach
vorne im Atrium und ruft laut: «Er ist nicht schuldig!»
«Wenn du das sagst, bist du ein
Feind des Caesar. Wer sich zum König macht, ist sein Feind. Du willst den
Nazarener freigeben. Wir werden es den Caesar wissen lassen.»
Pilatus wird von Menschenfurcht
ergriffen.
222
«Ihr wollt also seinen Tod? Es
sei denn. Aber das Blut dieses Gerechten sei nicht an meinen Händen.» Pilatus
läßt sich ein Becken bringen und wäscht sich die Hände im Beisein des Volkes,
das in Raserei gerät und schreit: «Über uns, über uns komme sein Blut. Über
uns und unsere Kinder komme es. Wir fürchten ihn nicht. Ans Kreuz! Ans Kreuz!»
Pontius Pilatus geht zu seinem
Thron zurück und ruft den Centurio Longinus und einen Sklaven zu sich. Von dem
Sklaven läßt er sich einen Tisch und ein Schild bringen, auf das er schreiben
läßt: «Jesus von Nazareth, der König der Juden.» Dann zeigt er es dem Volk.
«Nein, nicht so. Nicht König der
Juden. Schreibe, daß er behauptet hat, der König der Juden zu sein.»
«Was ich geschrieben habe, habe
ich geschrieben!» sagt Pilatus hart. Er steht sehr gerade, streckt die Hand
aus mit nach vorne gekehrter und nach unten zeigender Handfläche und befiehlt:
«Dann soll er ans Kreuz! Soldat, geh. Bereite das Kreuz vor.» (Ibis ad crucem!
I, miles, expedi crucem.) Er steigt von seinem Podest herab und verläßt das
Atrium, ohne sich auch nur zu der lärmenden Menge oder dem bleichen
Verurteilten umzudrehen.
Jesus bleibt unter Aufsicht der
Soldaten in der Mitte des Atriums stehen, in Erwartung des Kreuzes.
Wem kann ich beschreiben, was ich
leide? Keinem auf dieser Erde, denn es ist kein Leiden der Erde und würde
nicht verstanden werden. Es ist ein Leiden, das Süßigkeit ist, und eine
Süßigkeit, die Leiden ist. Ich möchte zehnmal, hundertmal so viel leiden. Um
nichts auf der Welt möchte ich diese Leiden missen. Das ändert aber nichts
daran, daß ich leide, wie einer, dem der Hals zugeschnürt, der in einen
Schraubstock gepreßt, in einem Ofen verbrannt oder dem das Herz durchbohrt
wird.
Wäre es mir möglich, mich zu
rühren, mich von allen abzusondern und in der Bewegung und im Gesang meinen
Gefühlen freien Lauf zu lassen – denn es ist ein Schmerz des Gefühls – würde
mir dies Erleichterung verschaffen. Aber ich bin wie Jesus am Kreuz. Es ist
mir weder gewährt, mich zu bewegen noch mich zu isolieren, und ich muß die
Lippen zusammenpressen, um den Neugierigen meine süße Agonie nicht
preiszugeben. Es ist nicht nur Redensart: die Lippen zusammenpressen. Ich muß
mich sehr bemühen, den Impuls zu beherrschen, meinem Schrei der Freude und des
übernatürlichen Schmerzes Luft zu machen, denn er bewegt mein Innerstes und
steigt mit der Macht einer Flamme oder eines starken Wasserstrahls auf.
Die von Schmerz getrübten Augen
Jesu: Ecce Homo, ziehen mich an wie ein Magnet. Er steht vor mir und sieht
mich an, aufrecht steht er auf den Stufen des Prätoriums, mit gekröntem Haupt
und den gebundenen Händen über dem weißen Gewand eines Geistesgestörten, mit
dem sie ihn verspotten wollten, während sie ihn doch in das des Unschuldigen
würdige Weiß gekleidet haben. Er spricht nicht. Aber alles an ihm spricht,
ruft mich, bittet mich.
Was erbittet er? Daß ich ihn
liebe. Das weiß ich, und das gebe ich ihm, bis ich mich sterben fühle, so als
hätte ich ein Messer in der Brust. Er bittet mich aber noch um etwas, das ich
nicht verstehe. Ich würde es gern verstehen. Das quält mich. Ich möchte ihm
alles geben, was er will, selbst wenn ich daran sterben sollte. Und es gelingt
mir nicht.
Sein schmerzerfülltes Antlitz
zieht mich an und entzückt mich. Er ist schön, wenn er der Meister oder der
auferstandene Christus ist. Aber dieser Anblick macht mir nur Freude. Der
223
jetzige hingegen flößt mir eine
so tiefe Liebe ein, daß die Liebe einer Mutter zu ihrem kranken Kind nicht
größer sein kann.
Ja, ich verstehe. Die mitleidende
Liebe ist die Kreuzigung des Geschöpfes, das dem Meister bis zur letzten Qual
folgt. Es ist eine despotische Liebe, die jeglichen anderen Gedanken
ausschließt, der sich nicht auf seinen Schmerz bezieht. Man gehört sich selbst
nicht mehr. Man lebt, um ihn in seiner Qual zu trösten, und seine Qual ist
unser Schmerz, der uns tötet, nicht nur im übertragenen Sinn. Und doch ist
jede durch diesen Schmerz vergossene Träne für uns wertvoller als eine Perle,
und jeder Schmerz, der dem seinen ähnlich erscheint, ist uns erwünschter und
begehrenswerter als ein Schatz.
Pater, ich habe mich bemüht zu
sagen, was ich empfinde. Aber es ist zwecklos. Von allen Ekstasen, die Gott
mir schenken kann, wird die seines Leidens immer jene sein, die meine Seele in
den siebten Himmel trägt. Aus Liebe zu sterben in der Betrachtung meines
leidenden Jesus scheint mir der schönste Tod zu sein.
664. ANMERKUNGEN ÜBER DAS
VERHALTEN DES PILATUS
JESUS GEGENÜBER
Jesus sagt:
«Ich will dich über meine
Begegnungen mit Pilatus nachdenken lassen.
Johannes, der fast immer anwesend
oder doch in der Nähe war, ist der genaueste Zeuge und Berichterstatter. Er
erzählt, daß ich, nachdem ich das Haus des Kaiphas verlassen hatte, zum
Prätorium geführt wurde. Und er gibt an, daß dies am frühen Morgen geschah. Du
hast gesehen, daß der Tag gerade angebrochen war. Er berichtet auch: "Sie (die
Juden) gingen nicht hinein, um sich nicht zu verunreinigen und das Passahmahl
essen zu können." Heuchlerisch wie immer, sahen sie eine Gefahr sich zu
verunreinigen, wenn sie in den Staub des Hauses eines Heiden treten würden,
während sie die Ermordung eines Unschuldigen nicht als Sünde betrachteten und
in der Genugtuung über das vollendete Verbrechen das Passahfest noch besser
genießen konnten.
Sie haben auch heute noch
ihresgleichen. All jene, die insgeheim schlecht handeln und nach außen
vorgeben, die Religion zu achten und Gott zu lieben, sind wie sie. Floskeln,
Phrasen, aber keine wahre Religion! Sie stoßen mich ab, ich verachte sie.
Da die Juden nicht zu Pilatus
hineingingen, kam Pilatus zu ihnen heraus, um zu hören, was die schreiende
Menge wollte, und da er in der Verwaltung und Rechtspflege erfahren war,
verstand er auf den ersten Blick, daß der Schuldige nicht ich, sondern dieses
von Haß trunkene Volk war. Die Begegnung unserer Blicke war ein gegenseitiges
Erkennen unserer Herzen. Ich beurteilte den Mann als den, der er war. Er
beurteilte mich als den, der ich war. Ich bekam Mitleid mit ihm, denn er war
ein schwacher Mann. Er empfand Mitleid für mich, weil ich unschuldig war. Er
versuchte vom ersten Augenblick an, mich zu retten. Da allein Rom das Recht
hatte,
224
die Todesstrafe über einen
Übeltäter zu verhängen, versuchte er mich zu retten, indem er sagte: "Richtet
ihn nach eurem Gesetz."
Als Heuchler, nun zum zweiten
Mal, wollten die Juden die Verurteilung nicht aussprechen. Es ist wahr, daß
Rom die oberste Gerichtsbarkeit innehatte. Als aber beispielsweise Stephanus
gesteinigt wurde, herrschte Rom noch immer über Jerusalem. Und trotzdem
beschlossen und sprachen die Juden das Urteil aus und vollzogen die
Hinrichtung, ohne sich im geringsten um Rom zu kümmern. Mit mir, den sie nicht
liebten, sondern haßten und fürchteten – denn sie wollten nicht an mich als an
den Messias glauben, sie wollten mich aber auch nicht töten, falls ich es etwa
doch wäre – verfuhren sie auf andere Art. Sie klagten mich an als Aufwiegler
gegen die Macht Roms, ihr würdet sagen, als Rebell, um zu erreichen, daß Rom
mich verurteilt. In ihren schändlichen Versammlungen, und dies mehrmals in den
drei Jahren meines öffentlichen Wirkens, hatten sie mich als Gotteslästerer
und falschen Propheten angeklagt. Als solchen hätten sie mich steinigen oder
auf irgendeine Art töten müssen. Aber nun, um das Verbrechen nicht direkt zu
begehen, denn sie wissen instinktiv, daß es bestraft werden wird, lassen sie
es Rom ausführen, indem sie mich als Missetäter und Rebell anklagen. Wenn das
Volk verderbt ist und die Vorsteher besessen sind, ist nichts leichter, als
einen Unschuldigen anzuklagen, um die eigenen Zornesgelüste an ihm auszulassen
und jemanden aus der Welt zu schaffen, der ein Hindernis darstellt und als
Richter empfunden wird.
Wir befinden uns heute wieder in
einer ähnlichen Zeit wie damals. Immer wieder einmal erfolgt in der Welt,
nachdem sie perverse Ideen ausgebrütet hat, ein Ausbruch, eine Kundgebung von
Verderbtheit. Wie eine riesige Schwangere gebiert die Menge ein Ungeheuer, das
sie zuvor in ihrem Busen mit den Lehren einer reißenden Bestie genährt hat,
auf daß es verschlinge. Und es verschlingt, zuerst die Guten, dann sich
selbst.
Pilatus kommt in das Prätorium
zurück und ruft mich zu sich. Und er verhört mich. Er hatte schon von mir
gehört. Unter seinen Centurionen waren einige, die meinen Namen mit dankbarer
Liebe, mit Tränen in den Augen und einem Lächeln im Herzen wiederholten und
von mir als von einem Wohltäter sprachen. In ihren Berichten an den Prätor,
der sie über diesen Propheten befragte, der die Mengen um sich sammelte und
eine neue Lehre predigte, in der von einem merkwürdigen Reich die Rede war,
das für einen heidnischen Verstand unbegreiflich ist, hatten sie immer
bestätigt, daß ich gut und sanftmütig war und die Ehren dieser Welt nicht
suchte, sondern Achtung und Gehorsam gegenüber der Autorität lehrte und auch
übte. Aufrichtiger als die Israeliten, sahen und berichteten sie die Wahrheit.
Am Sonntag zuvor hatte Pilatus, vom Lärm und Beifall des Volkes angezogen, auf
die Straße hinausgeschaut und einen waffenlosen Mann auf einem Eselchen
vorbeireiten sehen, der segnete und von Frauen
225
und Kindern umgeben war. Es war
ihm klar, daß dieser Mann keine Gefahr für Rom bedeuten konnte. Also wollte er
wissen, ob ich ein König bin. In seinem ironischen, heidnischen Skeptizismus
wollte er ein wenig über diesen König lachen, der auf einem Esel geritten
kommt und dessen Hofstaat barfüßige Kinder, lächelnde Frauen und Männer aus
dem Volk sind; über diesen König, der seit drei Jahren predigt, daß er sich
weder von Reichtum noch von Macht angezogen fühlt und der von keiner anderen
Eroberung spricht als der des Geistes und der Seele. Was ist schon die Seele
für einen Heiden? Nicht einmal seine Götter haben eine Seele. Und da soll der
Mensch eine Seele haben? Und auch jetzt wiederholt dieser König ohne Krone,
ohne Reich, ohne Hofstaat und ohne Soldaten, daß sein Reich nicht von dieser
Welt ist. So mußte es sein, denn kein Beamter und kein Militär greift ein, um
seinen König zu verteidigen und ihn seinen Feinden zu entreißen. Pilatus setzt
sich und schaut mich fragend an, denn ich bin ihm ein Rätsel. Würde er seine
Seele befreien von irdischen Belangen, vom Hochmut seines Amtes, vom Irrtum
des Heidentums, dann würde er sofort verstehen, wer ich bin. Aber wie kann das
Licht dort eindringen, wo allzu viele Dinge ihm den Eintritt verwehren?
Es ist immer so, meine Kinder.
Auch heute noch. Wie können Gott und sein Licht hereinkommen, wo kein Platz
mehr für sie ist und Türen und Fenster verrammelt sind und Hochmut, allzu
Menschliches, Laster und Wucher sie verteidigen – viele, so viele Wächter im
Dienst Satans und gegen Gott?
Pilatus kann nicht begreifen, was
mein Reich ' ist. Und was besonders schmerzlich ist, er bittet nicht darum,
daß ich es ihm erkläre. Auf meine Einladung, die Wahrheit kennenzulernen,
antwortet der unverbesserliche Heide: "Was ist Wahrheit?" und läßt die Frage
mit einem Achselzucken fallen.
Oh, Kinder, meine Kinder! Oh,
meine Pilatusse von heute! Auch ihr schüttelt, wie Pontius Pilatus, mit einem
Achselzucken die lebenswichtigsten Fragen ab. Sie scheinen euch unnütze,
überholte Dinge. Was ist Wahrheit? Geld? Nein. Frauen? Nein. Macht? Nein. Ein
gesunder Körper? Nein. Menschliche Ehre? Nein. Also ist es besser, die Sache
zu vergessen. Es lohnt sich nicht, einer Schimäre nachzulaufen. Frauen, Geld,
Macht, Gesundheit, Bequemlichkeit und Ehren, das sind konkrete, nützliche
Dinge, begehrens- und erstrebenswert um jeden Preis. So argumentiert ihr.
Schlimmer als Esau verschleudert ihr die ewigen Güter für ein schlechtes
Gericht, das der Gesundheit des Leibes und der Seele schadet. Warum besteht
ihr nicht darauf, zu erfahren, was Wahrheit ist? Sie, die Wahrheit, wartet nur
darauf, sich zu erkennen zu geben und euch zu belehren. Sie steht vor euch wie
vor Pilatus und sieht euch mit liebevollen Augen bittend an: "Frage mich, ich
werde dich unterweisen." Siehst du, wie ich Pilatus anschaue? Genauso schaue
ich euch alle an. Und wenn ich
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mit Blicken freudvoller Liebe auf
alle schaue, die mich lieben und um mein Wort bitten, so schaue ich mit
Blicken trauriger Liebe auf die anderen, die mich nicht lieben, mich nicht
suchen und nicht auf mich hören. Liebe und immer nur Liebe habe ich für alle,
denn mein ganzes Wesen ist Liebe.
Pilatus läßt mich stehen, ohne
mich weiter zu fragen, und geht zu den Böswilligen, die eine lautere Stimme
haben und sich durch ihre Gewalttätigkeit durchsetzen. Auf sie hört er, dieser
Unglückliche, der mich nicht anhört und mit einem Achselzucken meine Einladung
zur Erkenntnis der Wahrheit ablehnt. Er hört auf die Lüge. Der Götzendiener,
welcher Art er auch sei, neigt immer dazu, jedwede Lüge zu verehren und zu
glauben. Und die Lüge, die ein Schwacher glaubt, führt den Schwachen zum
Verbrechen. Und doch versucht Pilatus, schon an der Schwelle zum Verbrechen,
mich noch ein- oder zweimal zu retten. Und daher schickt er mich zu Herodes.
Er weiß nur zu gut, daß dieser gerissene König, der zwischen Rom und seinem
Volk laviert, so handeln wird, daß er Rom nicht beleidigt und das hebräische
Volk nicht verstimmt. Wie alle Schwächlinge verschiebt er die Entscheidung,
die er nicht zu treffen wagt, um eine Stunde, in der Hoffnung, daß das
aufgeregte Volk sich beruhigt.
Ich habe gesagt: "Eure Rede sei:
ja, ja; nein, nein." Aber er hat es nicht gehört, und wenn jemand es ihm
wiederholt hat, dann hat er wie üblich die Achseln gezuckt. Um in der Welt zu
siegen, um Ehren und Gewinn zu erlangen, muß man es verstehen, aus einem "Ja"
ein "Nein" oder aus einem "Nein" ein "Ja" zu machen, je nachdem, wie der
Verstand (lies: der menschliche Verstand) es rät. Wie viele, wie viele
Pilatusse hat das zwanzigste Jahrhundert! Wo sind die Helden des Christentums,
die "Ja" sagen, immer "Ja" zur Wahrheit und um der Wahrheit willen, und
"Nein", immer "Nein" zur Lüge? Wo sind die Helden, die der Gefahr und den
Ereignissen mit vollendetem Starkmut und heiterer Bereitschaft begegnen und
nicht zögern, das Gute sofort zu tun und das Böse sofort zu fliehen, ohne
"wenn" und "aber"?
Bei meiner Rückkehr von Herodes
folgt nun das neue Unternehmen des Pilatus: die Geißelung. Was erhoffte er
sich davon? Wußte er nicht, daß das Volk die wilde Bestie ist, die noch wilder
wird, wenn sie Blut riecht? Aber ich mußte zerfleischt werden, um eure
Fleischessünden zu sühnen. Und immer noch werde ich zerfleischt. Es gibt an
meinem Körper keine Stelle mehr, die nicht zerschlagen ist. Ich bin der
Mensch, von dem Isaias spricht. Zu der befohlenen Marter kommt die nicht
befohlene, aber von der menschlichen Grausamkeit erdachte: die Dornenkrönung.
Ihr seht ihn, o Menschen, euren
Erlöser, euren König, mit Schmerzen gekrönt, um eure Köpfe von so vielen
Sünden zu befreien, die in euch gären. Denkt ihr denn nicht daran, welche
Schmerzen mein unschuldiges Haupt erduldet hat, um für euch, für eure immer
schlimmeren
227
Gedankensünden, die oft zur Tat
werden, zu bezahlen? Ihr, die ihr beleidigt seid, auch wenn ihr keinen Grund
dazu habt, betrachtet den beleidigten König, der Gott ist, mit seinem
Spottmantel aus zerrissenem Purpur, dem Rohr als Szepter und der Dornenkrone!
Er ist schon am Sterben, und immer noch schlagen sie ihn mit ihren Händen und
ihrem Spott. Aber ihr habt kein Mitleid. Wie die Juden schüttelt ihr
unaufhörlich die Fäuste und schreit: "Fort, fort, wir haben keinen Gott als
den Caesar." Oh, ihr Götzendiener, die ihr nicht Gott, sondern euch selbst
anbetet und den, der unter euch der Überheblichste ist. Ihr wollt den Sohn
Gottes nicht. Er hilft euch nicht bei euren Verbrechen. Satan ist
diensteifriger. Daher wollt ihr Satan. Vor dem Sohn Gottes habt ihr Angst. Wie
Pilatus. Und wenn ihr seine Macht in euch am Werk fühlt, die euch aufrütteln
will durch die Stimme des Gewissens, dann fragt ihr wie Pilatus: "Wer bist
du?"
Ihr wißt, wer ich bin. Auch die,
die mich leugnen, wissen, daß ich bin und wer ich bin. Lügt nicht. Zwanzig
Jahrhunderte sprechen für mich, zeigen euch, wer ich bin, und belehren euch
über meine Wunder. Pilatus ist eher zu verzeihen. Nicht euch, die ihr
zweitausend Jahre Christentum hinter euch habt, die euren Glauben stützen oder
euch zum Glauben führen müßten. Aber ihr wollt davon nichts wissen. Trotzdem
war ich mit Pilatus strenger als mit euch. Ich habe ihm nicht geantwortet. Mit
euch spreche ich. Und doch gelingt es mir nicht, euch zu überzeugen, daß ich
es bin, daß ihr mir Anbetung und Gehorsam schuldet. Auch jetzt beschuldigt ihr
mich, daß ich mich selbst zerstöre in euch, weil ich euch nicht erhöre. Ihr
sagt, daß ihr deshalb den Glauben verliert. Oh, ihr Lügner! Wo ist euer
Glaube? Wo ist eure Liebe? Wann betet ihr denn und lebt mit Liebe und Glauben?
Seid ihr angesehen? Vergeßt nicht, daß ihr es seid, weil ich es erlaube. Seid
ihr Namenlose in der Menge? Denkt daran, daß es keinen Gott gibt als mich.
Niemand ist größer als ich und niemand hat Vorrang vor mir. Gebt mir daher die
Liebe, die mir zusteht, und ich werde euch erhören, denn ihr werdet nicht mehr
Bastarde sein, sondern Kinder Gottes.
Pilatus unternimmt nun noch einen
letzten Versuch, mein Leben zu retten, sofern es nach der mitleidlosen und
langen Geißelung noch zu retten gewesen wäre. Er stellt mich dem Volk vor:
"Seht, welch ein Mensch!" Er hat menschliches Mitleid mit mir. Er hofft auf
das allgemeine Mitleid. Aber angesichts der Härte, die ihm widersteht, und der
zunehmenden Drohung bringt er es nicht fertig, mit übernatürlicher
Gerechtigkeit und daher gut zu handeln und zu sagen: "Ich lasse ihn frei, denn
er ist unschuldig. Ihr seid die Schuldigen, und wenn ihr euch nicht zerstreut,
werdet ihr die ganze Strenge Roms kennenlernen." Das hätte er sagen müssen,
wenn er ein Gerechter gewesen wäre, der nicht an die späteren Schwierigkeiten
denkt, die ihm daraus entstehen würden.
Pilatus ist nicht wirklich gut.
Gut ist Longinus, der, obwohl nicht so
228
mächtig wie der Prätor und
weniger geschützt, mitten auf dem Weg, von nur wenigen Soldaten, aber von
einer großen feindseligen Menge umgeben, es wagt, mich zu verteidigen. Er
hilft mir, gestattet mir eine Ruhepause, gönnt mir den Trost der frommen
Frauen, läßt mir durch den Cyrenäer helfen und erlaubt schließlich meiner
Mutter, am Fuß des Kreuzes bei mir zu stehen. Er war ein Held der
Gerechtigkeit und wurde deshalb ein Held des Christus.
Wißt, o Menschen, die ihr euch
einzig und allein um euer materielles Wohl sorgt, daß Gott euch auch hier zu
Hilfe kommt, wenn er sieht, daß ihr in der Gerechtigkeit verharrt, die ein
Ausfluß Gottes ist. Ich belohne immer den, der rechtschaffen handelt. Ich
verteidige den, der mich verteidigt. Ich liebe ihn und helfe ihm. Ich bin
immer noch der, der gesagt hat: "Wer einen Becher Wasser in meinem Namen
reicht, wird seinen Lohn erhalten." Wer mir Liebe schenkt, Wasser, das meinen
Durst als göttlicher Märtyrer stillt, dem gebe ich mich selbst, also Schutz
und Segen.»
665. JUDAS VON KERIOTH NACH
SEINEM VERRAT
31.3.44, Karfreitag, 2 Uhr früh.
Hier ist die schmerzliche Vision
dieser ersten Stunden des Karfreitags, die ich gehabt habe, als ich die Stunde
der Schmerzensmutter hielt. Ich hatte mir gedacht, die beste Vorbereitung auf
die Ablegung des Gelübdes bestehe darin, die Nacht in Gesellschaft der
Jungfrau der Sieben Schmerzen zu verbringen.
Ich sehe Judas. Er ist allein. Er
trägt ein hellgelbes Gewand mit einer roten Kordel als Gürtel. Meine innere
Stimme sagt mir, daß Jesus kurz zuvor gefangengenommen wurde und daß Judas,
der gleich nach der Gefangennahme geflohen ist, sich nun in einem inneren
Zwiespalt befindet. Tatsächlich gleicht Judas einem rasenden, von einer Meute
Bluthunde verfolgten wilden Tier. Jedes Seufzen des Windes in den Zweigen,
jedes geringste Geräusch auf den Wegen und selbst das Plätschern eines
Brünnleins läßt ihn aufhorchen und sich mißtrauisch und erschrocken umwenden,
so als wäre ihm der Scharfrichter schon auf den Fersen. Er dreht den gesenkten
Kopf auf dem eingezogenen Hals nach allen Seiten, schaut in alle Richtungen
wie einer, der sehen will und sich doch fürchtet zu sehen, und wenn das Spiel
des Mondlichts einen menschenähnlichen Schatten erzeugt, bedeckt er die Augen,
macht einen Sprung zurück, wird noch bleicher als er schon ist, bleibt einen
Augenblick stehen und flieht dann überstürzt zurück und schlägt einen anderen
Weg ein, bis ein neues Geräusch, ein neues Lichtspiel ihn schreckt und ihn
wieder in eine andere Richtung fliehen läßt.
Bei diesem irren Hin und Her
gelangt er ins Stadtinnere. Aber das
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Lärmen einer Volksmenge läßt ihn
erkennen, daß er nahe beim Haus des Kaiphas ist. Da faßt er sich mit den
Händen an den Kopf, duckt sich, als ob diese Schreie ebenso viele Steine
wären, die ihn treffen, und flieht, flieht. Auf der Flucht gerät er in ein
Gäßchen, das geradewegs zu dem Haus führt, in dem sie das Abendmahl gehalten
haben. Er bemerkt es, als er davorsteht, denn ein Brünnlein plätschert an
dieser Stelle der Straße. Das Weinen des tropfenden Wassers, das in das kleine
Steinbecken fällt, und das leise Pfeifen des Windes, der durch die enge Gasse
weht, hören sich an wie eine gedämpfte Klage, müssen ihm vorkommen wie das
Weinen des Verratenen und die Klagen des Gemarterten. Judas hält sich die
Ohren zu, um nichts zu hören, und hetzt mit geschlossenen Augen weiter, um die
Tür nicht zu sehen, durch die er erst vor einigen Stunden mit dem Meister
gegangen ist und durch die er sich auch entfernt hat, um die Bewaffneten für
seine Gefangennahme zu holen.
Als er so blindlings weiterläuft,
stößt er mit einem streunenden Hund zusammen – der erste Hund, den ich sehe,
seit ich die Visionen habe. Es ist ein großer, grauer, struppiger Hund, der
knurrend ausweicht und dann überlegt, ob er sich auf den Ruhestörer stürzen
soll. Judas öffnet die Augen und sieht sich diesen phosphoreszierenden Augen
gegenüber, die ihn anschauen. Er sieht das Weiß der Zähne, die ihn teuflisch
anzugrinsen scheinen. Er stößt einen Schrei aus. Der Hund, der das vielleicht
für eine Drohung hält, greift ihn an, und die beiden wälzen sich im Staub:
Judas, den die Angst lähmt, unten, der Hund oben. Als das Tier seine Beute
losläßt, die ihm wohl eines Kampfes unwürdig erscheint, blutet Judas aus
einigen Wunden und in seinem Mantel sind große Risse.
Ein Biß hat seine Wange verletzt,
genau an der Stelle, wo er Jesus geküßt hat. Die Wange blutet, und das Blut
befleckt das gelbliche Gewand des Judas am Hals. Es bildet sozusagen ein
blutiges Halsband, da es die rote Kordel tränkt, die das Gewand am Hals
zusammenhält, und sie noch röter macht. Judas legt eine Hand auf die Wange,
schaut dem Hund nach, der davongetrottet, aber unter einem Torbogen
stehengeblieben ist und ihn beobachtet, und murmelt: «Beelzebub!» Dann flieht
er mit einem erneuten Schrei, und der Hund folgt ihm noch eine Weile. Er folgt
ihm bis zum Brückchen beim Gethsemane. Hier, vielleicht weil er müde ist,
vielleicht weil er wasserscheu ist und das Wasser ihn verscheucht, gibt der
Hund die Verfolgung auf und macht knurrend kehrt. Judas, der in den Bach
gesprungen ist, um Steine zu holen und den Hund damit zu vertreiben, sieht,
daß der Hund sich entfernt, blickt um sich und findet sich bis zu halber
Wadenhöhe im Wasser. Ohne sich um das Gewand zu kümmern, das sich immer mehr
vollsaugt, beugt er sich zum Wasser hinunter und trinkt gierig wie im Fieber
und wäscht sich die blutende Wange, die ihn schmerzen muß. Beim ersten
Morgengrauen steigt er aus dem Bachbett,
230
auf der entgegengesetzten Seite,
so als hätte er Angst vor dem Hund und getraue sich nicht in die Stadt zurück.
Er geht einige Meter und befindet
sich am Eingang des Ölgartens. «Nein, nein!» schreit er, als er den Platz
wiedererkennt. Aber dann, und ich weiß nicht, welche unwiderstehliche Kraft
oder welcher teuflische Sadismus ihn zieht, geht er weiter. Er sucht den Ort
der Gefangennahme. Die von vielen Füßen aufgewühlte Erde des Pfades, das
zertretene Gras an einer bestimmten Stelle und die Blutspuren auf dem Boden,
vielleicht von Malchus, zeigen ihm an, daß er hier den Unschuldigen seinen
Schergen übergeben hat.
Er schaut und schaut ... dann
stößt er einen heiseren Schrei aus und springt zurück. Er schreit: «Dieses
Blut, dieses Blut... !» und zeigt es... -wem? – mit ausgestrecktem Arm und
Zeigefinger. Im zunehmenden Licht erscheint sein Gesicht fahl und
gespenstisch. Er gleicht einem Verrückten. Seine Augen sind aufgerissen und
glänzend, wie im Delirium. Die vom Laufen und vom Schrecken zerzausten Haare
scheinen sich ihm zu sträuben, und die Wange, die langsam anschwillt, verzieht
seinen Mund zu einem Grinsen. In seinem zerrissenen, blutbesudelten, nassen
und schmutzigen Gewand – denn der Staub hat sich durch die Nässe in Schlamm
verwandelt – gleicht er einem Bettler. Der ebenfalls schmutzige und zerrissene
Mantel hängt ihm in Fetzen von den Schultern, und er stolpert darüber, während
er immer noch schreit: «Dieses Blut, dieses Blut!» Er weicht zurück, als würde
das Blut zum Meer, dessen Flut steigt und in dem er ertrinkt. Judas fällt
rückwärts und verletzt sich den Kopf, den Hinterkopf, an einem Stein. Er
stöhnt vor Schmerz und Angst. «Wer ist da?» schreit er. Er muß glauben, jemand
habe ihn umgestoßen, um ihn zu verletzen. Er dreht sich voll Entsetzen um.
Niemand. Er steht auf. Nun tropft das Blut auch auf den Nacken. Der rote Kreis
breitet sich auf dem Gewand aus. Das Blut fällt nicht zur Erde, denn es ist
wenig und wird von seinem Gewand aufgesaugt. Nun scheint sich die rote
Schlinge schon um seinen Hals zu legen.
Er geht weiter und findet die
Reste des kleinen Feuers, das Petrus am Fuß eines Ölbaums entzündet hat. Aber
er weiß nicht, daß es Petrus war und glaubt, Jesus sei hier gewesen. Er
schreit: «Fort, fort!» und streckt beide Arme aus, als wolle er ein Gespenst,
das ihn quält, abwehren. Er läuft davon und kommt genau an den Fels der
Todesangst.
Nun ist der Tag bereits
angebrochen, und man kann alles sofort und genau erkennen. Judas sieht den
Mantel Jesu zusammengefaltet auf dem Felsen liegen. Er erkennt ihn. Er will
ihn anfassen, hat aber Angst. Er streckt die Hand aus und zieht sie wieder
zurück. Er will, will nicht. Dieser Mantel fasziniert ihn. Er stöhnt: «Nein,
nein.» Dann sagt er: «Ja, zum Teufel! Ja, ich will ihn berühren. Ich habe
keine Angst. Ich habe keine Angst!» Er sagt, er hat keine Angst, aber seine
Zähne klappern vor
231
Schrecken, und als über seinem
Kopf ein Ast eines Ölbaumes im Wind gegen einen Stamm schlägt, schreit er
wieder auf. Dennoch zwingt er sich und ergreift den Mantel. Und lacht. Er
lacht wie ein Irrer, ein Dämon. Ein hysterisches, stoßweises finsteres Lachen,
das kein Ende nimmt, denn er hat seine Angst überwunden. Und er sagt es: «Du
machst mir keine Angst mehr, Christus, nicht mehr. Ich hatte so große Angst
vor dir, da ich an dich als einen Gott, einen starken Gott, glaubte. Nun
machst du mir keine Angst mehr, denn du bist kein Gott. Du bist ein armer
Irrer, ein Schwächling. Du konntest dich nicht verteidigen. Du hast mich nicht
zerschmettert, wie du auch den Verrat in meinem Herzen nicht gelesen hast.
Meine Ängste! ... Ich Dummkopf! Noch gestern abend, als du sprachst, glaubte
ich, du wüßtest alles. Nichts hast du gewußt. Es war meine Angst, die deinen
gewöhnlichen Worten das Gewicht von Prophezeiungen verlieh. Du bist ein
Nichts. Du hast dich verkaufen, anzeigen und wie eine Maus in ihrem Loch
fangen lassen. Deine Macht! Deine Herkunft! Ha, ha, ha, du Narr! Satan ist der
Mächtige! Stärker als du! Er hat dich besiegt! Ha, ha, ha! Der Prophet! Der
Messias! Der König Israels! Und drei Jahre hast du mich unterjocht! Immer mit
der Angst im Herzen! Ich mußte lügen, um dich geschickt zu täuschen, wo ich
doch das Leben genießen wollte! Aber selbst wenn ich ohne all die angewendete
List gestohlen und Unzucht getrieben hätte, du hättest mir nichts tun können.
Du Schwächling! Du Narr! Du Feigling! So! So! So! Ich hätte mit dir tun
sollen, was ich nun mit deinem Mantel tue, um mich für die Zeit zu rächen, die
du mich als einen Sklaven der Angst gehalten hast. Angst vor einem Hasen! ...
So! So! So!»
Bei jedem «So!» beißt Judas in
den Mantel Jesu und versucht, ihn zu zerreißen. Er zerdrückt ihn in den
Händen. Aber dabei faltet er ihn etwas auseinander und die nassen Flecken
kommen zur Vorschein. Judas hält in seinem Wüten inne. Er starrt auf die
Flecken, berührt sie, riecht an ihnen. Es ist Blut... Er faltet den Mantel
ganz auseinander. Der Abdruck der beiden blutigen Hände, mit denen Jesus den
Stoff auf sein Gesicht gedrückt hat, ist deutlich zu sehen.
«Ach... Blut! Blut! Sein Blut!
... Nein!» Judas läßt den Mantel fallen und schaut sich um. Auch auf dem
Felsen, an den Jesus sich mit dem Rücken gelehnt hatte, als der Engel ihn
tröstete, ist ein dunkler Fleck trockenen Blutes. «Dort! ... Dort! ... Blut!
Blut! ...» Er senkt den Blick, um nichts zu sehen, und sieht das ganz von Blut
gerötete Gras. Dieses Blut, das durch den Tau noch naß ist, scheint eben erst
heruntergetropft zu sein. Es ist rot und glänzt im ersten Sonnenschein. «Nein!
Nein! Nein! Ich will es nicht sehen! Ich kann dieses Blut nicht sehen! Hilfe!»
Er fährt sich mit den Händen an den Hals und keucht, als ob er in einem Meer
von Blut ersticken würde. «Zurück! Zurück! Laß mich! Laß mich, Verfluchter!
Aber dieses Blut ist ein Meer! Es bedeckt die ganze Erde! Die ganze Erde! Die
ganze Erde! Auf der Welt ist kein Platz mehr für mich, denn ich
232
kann dieses Blut nicht sehen, das
sie bedeckt! Ich bin der Kain des Unschuldigen!» Ich glaube, daß der Gedanke
an Selbstmord ihm in diesem Augenblick gekommen ist.
Das Gesicht des Judas ist
furchterregend. Er springt den Hang hinunter, flieht wie ein von wilden
Bestien Verfolgter aus dem Ölgarten, auf einem anderen Weg als dem, auf dem er
gekommen ist, und kehrt in die Stadt zurück. So gut es geht wickelt er sich in
seinen Mantel, versucht, die Verletzung und sein Gesicht einigermaßen zu
bedecken, und läuft zum Tempel hinauf. Aber als er sich dem Gewölbe nähert,
stößt er auf den Pöbel, der Jesus zu Pilatus schleppt. Ausweichen kann er
nicht mehr, denn eine andere Menschenmenge, die hinter ihm herbeiläuft, um
etwas zu sehen, keilt ihn ein. Und da er groß ist, größer als die meisten,
kann er nicht umhin zu sehen. Und begegnet dem Blick Christi...
Einen Augenblick schauen sie sich
an. Dann geht Jesus weiter, gefesselt und geschlagen. Judas fällt wie
ohnmächtig auf den Rücken. Die Leute treten ihn erbarmungslos, und er wehrt
sich nicht. Er scheint es vorzuziehen, von allen getreten zu werden, als
diesen Blick ertragen zu müssen.
Nachdem die gottesmörderische
Meute mit dem Märtyrer vorübergezogen und die Straße wieder leer ist, steht er
auf und eilt zum Tempel. Am Tor des Tempelbezirks stößt er mit einem Wächter
zusammen und wirft ihn beinahe um. Andere Wachen eilen herbei, um dem Rasenden
den Eintritt zu verwehren. Aber wie ein wütender Stier schlägt er sie alle in
die Flucht. Einen, der ihn umklammert und ihn hindern will, den Saal des
Synedriums zu betreten, in dem noch alle versammelt sind und diskutieren,
packt er am Hals, würgt ihn und schleudert ihn, wenn nicht tot, so doch sicher
sterbend, drei Stufen hinunter.
«Euer Geld, ihr Verfluchten, will
ich nicht!» schreit Judas und steht dabei mitten im Saal, genau an der Stelle,
wo noch vor kurzem Jesus gestanden ist. Er gleicht einem Dämon der Hölle.
Blutig, rasend, mit wirrem Haar, Schaum vor dem Mund und Händen wie Klauen
schreit er, bellt fast, so rauh, heiser und heulend ist seine Stimme. «Euer
Geld, ihr Verfluchten, will ich nicht. Ihr seid mein Verderben. Ihr habt mich
die größte Sünde begehen lassen. Wie ihr, wie ihr bin ich nun verflucht. Ich
habe unschuldiges Blut verraten. Dieses Blut und mein Tod mögen über euch
kommen. Über euch... Nein! Ach! ...» Judas sieht den blutbefleckten Boden.
«Auch hier, auch hier Blut! Überall Blut! Überall sein Blut! Ach, wieviel Blut
hat das Lamm Gottes, daß es ohne zu sterben die Erde damit bedecken kann. Und
ich habe es vergossen! Ihr habt mich dazu angestiftet! Ihr Verfluchten! Ihr
Verfluchten! Ihr auf ewig Verfluchten! Verflucht seien diese Mauern! Verflucht
dieser geschändete Tempel! Verflucht der gottesmörderische Hohepriester!
Verflucht seien die unwürdigen Priester, die falschen Gelehrten, die
heuchlerischen Pharisäer, die grausamen Juden, die arglistigen
Schriftgelehrten! Fluch auch über mich! Über mich
233
Fluch! Über mich! Nehmt euer
Geld, und möge es euch die Seele im Leib erwürgen wie mich der Strick!» Judas
wirft Kaiphas den Beutel ins Gesicht und läuft heulend fort, während die
Münzen klingend über den Boden springen, nachdem sie den Mund des
Hohenpriesters blutig geschlagen haben.
Niemand wagt es, ihn aufzuhalten.
Er läuft hinaus, irrt durch die Straßen. Und das Schicksal will es, daß er
Jesus noch zweimal begegnet, der von Herodes kommt und zu Herodes geführt
wird. Schließlich verläßt er die Stadtmitte und verliert sich in ärmlichen
Gassen, bis er plötzlich wieder vor dem Haus des Abendmahles steht, das ganz
verschlossen ist und völlig verlassen erscheint.
Judas bleibt stehen und schaut es
an. «Die Mutter!» flüstert er. «Die Mutter... !» und bleibt unschlüssig
stehen... «Auch ich habe eine Mutter! Und ich habe den Sohn einer Mutter
getötet! ... Und doch... Ich will hineingehen... den Raum noch einmal sehen.
Dort ist kein Blut...» Er klopft an die Tür. Noch einmal... und noch einmal...
Die Hausfrau kommt und öffnet die Tür ein Stückchen. Einen Spalt... Doch als
sie den verstörten, unkenntlichen Mann sieht, schreit sie auf und versucht die
Tür wieder zu schließen. Aber Judas stößt die Tür mit der Schulter auf,
schiebt die bestürzte Frau beiseite und betritt das Haus.
Er eilt zu dem Pförtchen, das in
den Abendmahlsaal führt, öffnet es und geht hinein. Eine herrliche Sonne
dringt durch die offenen Fenster. Judas atmet erleichtert auf und geht etwas
weiter. Hier ist alles ruhig und schweigsam. Das Geschirr steht noch auf dem
Tisch, wie sie es stehengelassen haben. Man sieht, daß sich bis jetzt niemand
darum gekümmert hat. Man könnte meinen, daß man im Begriff ist, sich zu Tisch
zu setzen.
Judas geht zum Tisch. Er sieht
nach, ob noch Wein in den Krügen ist. Es ist noch ein wenig darin. Er trinkt
gierig gleich aus dem Krug, den er mit beiden Händen hochhebt. Dann läßt er
sich auf einen Sitz sinken und legt den Kopf auf die auf dem Tisch gekreuzten
Arme. Er bemerkt nicht, daß er an dem Platz Jesu sitzt und daß vor ihm der für
die Eucharistie benützte Kelch steht. Einige Zeit bleibt er so sitzen, bis
sich sein vom Laufen keuchender Atem beruhigt. Dann hebt er den Kopf und sieht
den Kelch. Und merkt, wohin er sich gesetzt hat.
Wie besessen springt er auf. Doch
der Kelch fasziniert ihn. Ein wenig Rotwein ist noch auf dem Grund, und die
Sonnenstrahlen, die das silberglänzende Metall treffen, entzünden diese
Flüssigkeit. «Blut! Blut! Auch hier Blut! Sein Blut! Sein Blut!... "Tut dies
zu meinem Gedächtnis! ... Nehmt und trinkt... Dies ist mein Blut... Das Blut
des neuen Bundes, das für euch vergossen wird..." Ach, ich Verfluchter! Für
mich kann es nicht mehr vergossen werden zur Vergebung meiner Sünde. Ich bitte
nicht um Vergebung, denn er kann mir nicht verzeihen. Fort! Fort! Es gibt
keinen Ort mehr, wo der Kain Gottes Ruhe finden könnte. Der Tod! Nur der
Tod...»
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Judas geht hinaus und sieht sich
Maria gegenüber, die aufrecht an der Tür des Raumes steht, in dem Jesus sich
von ihr verabschiedet hat. Sie hat ein Geräusch gehört und herausgeschaut,
vielleicht in der Hoffnung, Johannes zu sehen, der seit so vielen Stunden
abwesend ist. Sie ist so blaß, als wäre sie völlig ausgeblutet. Der Schmerz
verleiht ihren Augen noch mehr Ähnlichkeit mit denen ihres Sohnes. Judas
begegnet dem Blick dieser Augen, die ihn anschauen mit derselben wissenden und
betrübten Kenntnis, mit der Jesus ihn auf dem Weg angeschaut hat. Mit einem
ängstlichen «Oh!» weicht er an die Mauer zurück.
«Judas» sagt Maria, «Judas, wozu
bist du gekommen?» Dieselben Worte, die Jesus gesagt, und mit schmerzerfüllter
Liebe gesagt hat. Judas erinnert sich daran und schreit auf.
«Judas», fährt Maria fort, «was
hast du getan? Auf so viel Liebe hast du mit Verrat geantwortet.» Die Stimme
Marias ist eine zitternde Liebkosung.
Judas will fliehen. Maria ruft
ihn mit einer Stimme, die einen Dämon bekehren würde. «Judas! Judas! Bleib!
Warte! Höre! Ich sage dir in seinem Namen: Bereue, Judas! Er verzeiht ...»
Judas ist fortgelaufen. Die Stimme Marias und ihr Anblick sind der Anruf der
Gnade, die ihm zur Ungnade wird, da er ihr widersteht.
Er stürzt davon und begegnet
Johannes, der gerade zum Haus eilt, um Maria abzuholen. Das Urteil ist
gesprochen. Jesus ist im Begriff, den Kalvarienberg hinaufzusteigen. Es ist
Zeit, daß die Mutter zu ihrem Sohn geführt wird. Johannes erkennt Judas,
obgleich von dem schönen Judas von früher wenig übriggeblieben ist. «Du hier?»
fragt Johannes mit offensichtlichem Abscheu. «Du hier? Fluch über dich, du
Mörder des Sohnes Gottes! Der Meister ist verurteilt worden. Freue dich, wenn
du kannst. Aber gib den Weg frei. Ich gehe und hole die Mutter, und sie, dein
zweites Opfer, soll dir, du Schlange, nicht begegnen.»
Judas flieht. Er hat seinen Kopf
in die Fetzen seines Mantels gehüllt und nur für die Augen einen Spalt
freigelassen. Die Leute, die wenigen Leute, die nicht beim Prätorium sind,
weichen ihm wie einem Irren aus. Und er gleicht auch einem Irren.
Er irrt über die Felder. Ab und
zu trägt ihm der Wind ein Echo der lärmenden Menge zu, die Jesus unter
Verwünschungen folgt. Jedesmal, wenn Judas ein solches Echo hört, heult er auf
wie ein Schakal.
Ich nehme an, daß er wirklich den
Verstand verloren hat, denn er schlägt den Kopf rhythmisch gegen die
Steinmauern. Oder er ist tollwütig geworden; denn jedesmal, wenn er eine
Flüssigkeit sieht, sei es nun Wasser oder Milch, die ein Kind in einem Gefäß
trägt, oder Öl, das aus einem Schlauch tropft, dann schreit er, schreit und
brüllt. «Blut! Blut! Sein Blut!»
Er will an den Bächlein und
Brunnen trinken. Aber er kann nicht, denn
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das Wasser scheint ihm Blut zu
sein, und er sagt es auch: «Es ist Blut! Es ist Blut! Es ertränkt mich! Es
verbrennt mich! Ich habe Feuer in mir! Sein Blut, das er mir gestern gegeben
hat, ist in mir zu Feuer geworden! Fluch über mich und über dich!»
Er geht die Hügel hinauf und
hinunter, die Jerusalem umgeben. Sein Blick wird unwiderstehlich von Golgotha
angezogen. Zweimal sieht er von weitem den Zug, der sich den Hang
hinaufbewegt. Er schaut und schreit.
Nun ist er auf dem Gipfel
angekommen. Auch Judas ist oben auf einem kleinen Hügel voller Ölbäume. Er hat
ein rustikales Pförtchen geöffnet, um dorthin zu gelangen, so als ob er der
Besitzer des Gartens wäre oder sich zumindest gut auskennen würde. Ich hatte
schon früher den Eindruck, daß Judas fremdes Eigentum sehr wenig achtet. Steif
steht er unter einem Ölbaum am Rand eines Steilhanges und schaut nach Golgotha
hinüber. Er sieht, wie die Kreuze aufgerichtet werden und begreift, daß Jesus
nun gekreuzigt ist. Er kann es nicht sehen und nicht hören. Aber das Delirium
oder ein Zauber Satans lassen ihn alles sehen und hören, als wäre er auf dem
Gipfel des Kalvarienbergs.
Er schaut, schaut als hätte er
eine Halluzination. Er schlägt um sich: «Nein! Nein! Sieh mich nicht an!
Sprich nicht zu mir! Ich ertrage es nicht! Stirb, stirb, du Verfluchter! Möge
der Tod dir die Augen verschließen, die mir Furcht einflößen, und diesen Mund,
der mich verflucht! Aber auch ich verfluche dich. Weil du mich nicht gerettet
hast.»
Sein Gesicht ist so verwüstet,
daß man es nicht mehr ansehen kann. Speichel rinnt ihm aus dem schreienden
Mund. Die verletzte Wange ist blau und geschwollen und verzerrt das Gesicht.
Das verklebte Haar und der sehr dunkle, in diesen Stunden gewachsene Bart
umschatten düster Wangen und Kinn. Und die Augen! ... Sie rollen, verdrehen
sich und sprühen – ein wahrer Dämon! Er reißt die dreimal herumgewickelte
Kordel aus dicker roter Wolle von seiner Taille und prüft ihre Festigkeit,
indem er sie um einen Ölbaum schlingt und mit aller Kraft daran zieht. Sie
hält stand, ist stark. Er wählt einen für sein Vorhaben geeigneten Ölbaum.
Dieser hier, dessen zerzauste Krone über den Hang hinaushängt, ist der
richtige. Er steigt auf den Baum und befestigt ein Ende des Strickes am
stärksten, ins Leere ragenden Ast. Die Schlinge hat er schon gemacht. Ein
letztes Mal schaut er nach Golgotha, dann steckt er den Kopf in die Schlinge.
Nun scheint er zwei rote Halsbänder an der Halswurzel zu haben. Er setzt sich
auf den Vorsprung. Und plötzlich läßt er sich ins Leere fallen.
Die Schlinge zieht sich zusammen
und würgt ihn. Eine Weile schlägt er um sich, dann verdreht er die Augen, wird
schwarz im Gesicht, erstickt, öffnet den Mund. Die Adern am Hals schwellen an
und werden schwarz. In seinen letzten Zuckungen tritt er noch vier- fünfmal in
die Luft. Dann öffnet sich der Mund, die dunkle, schleimige Zunge hängt heraus
und die
236
offenen, blutunterlaufenen Augen
quellen hervor. Die Iris verschwindet nach oben. Er ist tot. Der starke Wind,
der sich vor dem Sturm erhoben hat, schaukelt das makabere Pendel und läßt es
kreisen, wie eine scheußliche Spinne am Faden ihres Netzes.
Die Vision endet so. Und ich
hoffe, daß ich all dies bald vergessen werde, denn ich versichere Ihnen, es
war eine schreckliche Vision.
666. «WENN JUDAS SICH DER MUTTER
ZU FÜSSEN GEWORFEN UND UM ERBARMEN GEFLEHT HÄTTE, DANN HÄTTE DIE BARMHERZIGE
IHN WIE EINEN VERWUNDETEN AUFGEHOBEN»
Jesus sagt:
«Schrecklich, aber nicht unnütz.
Zu viele glauben, Judas habe nichts besonders Schlimmes getan. Einige gehen
sogar so weit zu sagen, er habe sich Verdienste erworben, denn ohne ihn sei
die Erlösung nicht möglich gewesen und daher sei er vor Gott gerechtfertigt.
In Wahrheit sage ich euch, hätte
es die Hölle noch nicht gegeben, wäre sie nicht vollendet gewesen mit allen
ihren Qualen, so wäre sie für Judas noch furchtbarer und ewig geschaffen
worden; denn von allen Sündern und Verdammten ist er der größte Sünder und der
am tiefsten Verdammte, und für ihn wird es in Ewigkeit keine Milderung der
Strafe geben.'
Die Gewissensbisse hätten ihn
sogar retten können, wenn aus den Gewissensbissen Reue geworden wäre. Aber er
wollte nicht bereuen, und zum ersten Verbrechen, dem Verrat – den ich in
meiner Barmherzigkeit, die meine liebevolle Schwäche ist, noch verziehen hätte
– kamen Gotteslästerung und Widerstand gegen die Stimme der Gnade, die zu ihm
sprechen wollte durch die Erinnerungen, die Schrecken, durch mein Blut und
meinen Mantel, durch die Überreste der Einsetzung der Eucharistie, durch die
Worte meiner Mutter. Er hat allem widerstanden. Er wollte widerstehen. Wie er
auch verraten wollte. Wie er verfluchen wollte. Wie
' «Und für ihn wird es in
Ewigkeit keine Milderung der Strafe geben» bezieht sich direkt und
ausdrücklich nur auf Judas, den Verräter des göttlichen Meisters. Das Werk
spricht sich nicht klar hinsichtlich aller anderen Verdammten in der Hölle
aus. Aber selbst wenn es zu verstehen geben wollte, daß die ewigen Leiden der
übrigen Verdammten oder mancher Verdammter aus irgendwelchen Gründen oder
unter irgendwelchen Umständen durch die Barmherzigkeit Gottes gemildert
werden, könnte man es nicht der Häresie beschuldigen. Wenn auch bis heute
viele bedeutende Theologen der Auffassung von einer Milderung der Leiden der
Verdammten ablehnend gegenüberstehen, fehlt es doch auch nicht an anderen, die
sie befürworten,
237
er Selbstmord begehen wollte. Und
es ist der Wille, der bei allem zählt, im Guten wie im Bösen.
Wenn einer fällt, ohne den Willen
zu fallen, verzeihe ich ihm. Petrus ist ein Beispiel. Er hat mich verleugnet.
Warum? Er wußte es selbst nicht genau. War Petrus feige? Nein, mein Petrus war
kein Feigling. In Gegenwart der Kohorte und der Tempelwachen hat er es gewagt,
Malchus zu verletzen, um mich zu verteidigen, und sich so der Gefahr
ausgesetzt, dafür umgebracht zu werden. Er ist dann geflohen, ohne es zu
wollen. Danach hat er mich verleugnet, ohne es zu wollen. Später aber hat er
es sehr wohl fertiggebracht, auf dem blutigen Weg des Kreuzes, meinem Weg, zu
bleiben und fortzuschreiten, bis zu seinem Kreuzestod. Und sehr gut hat er es
verstanden, Zeugnis von mir abzulegen, bis man ihn wegen seines
unerschrockenen Glaubensbekenntnisses tötete. Ich verteidige meinen Petrus.
Die Verleugnung seines Herrn ist die letzte Verwirrung seiner Menschlichkeit
gewesen. Doch der Wille des Geistes war in diesem Augenblick nicht gegeben.
Abgestumpft durch die Last des Menschlichen schlief er. Als er wieder
erwachte, wollte er nicht länger in der Sünde verharren, sondern vollkommen
werden. Ich habe ihm sofort verziehen.
Judas wollte nicht. Du sagst, daß
er wahnsinnig und tollwütig zu sein schien. Er war es in seiner satanischen
Wut. Sein Schrecken beim Anblick des Hundes, ein sehr seltenes Tier, besonders
in Jerusalem, rührte daher, daß man seit undenklichen Zeiten glaubte, der
Teufel würde den Menschen in dieser Gestalt erscheinen. In den Büchern über
Zauberei heißt es noch heute, daß Satan den Menschen vorzugsweise in Gestalt
eines geheimnisvollen Hundes, einer Katze oder eines Bockes erscheint. Judas,
den schon das Entsetzen über sein Verbrechen gepackt hatte und der glaubte,
wegen dieses Verbrechens dem Satan anzugehören, sah in dem streunenden Hund
Satan.
Wer schuldig ist, sieht überall
furchterregende Schatten. Satan benützt diese Schatten, die das Herz noch zur
Reue führen könnten, und verwandelt sie in Schreckgespenster, die zur
Verzweiflung treiben. Und die Verzweiflung führt zum letzten Verbrechen: zum
Selbstmord. Warum den Preis des Verrats wegwerfen, wenn diese Entäußerung nur
eine Frucht des Zornes und nicht mit einem redlichen Willen zur Reue verbunden
ist? Nur dann ist es verdienstvoll, sich der Früchte des Bösen zu entäußern.
So wie er es gemacht hat nicht, so war es ein unnützes Opfer.
Meine Mutter – und sie war die
Gnade, die sprach, und meine Schatzmeisterin, die in meinem Namen Vergebung
schenkte – sagte es ihm: "Bereue, Judas. Er verzeiht..." Oh, und ob ich ihm
verziehen hätte! Wenn er sich der Mutter zu Füßen geworfen und gefleht hätte:
"Erbarmen" ' hätte sie, die Barmherzige, ihn wie einen Verwundeten aufgehoben
und seine satanischen Wunden, durch die der Feind ihm das Verbrechen
eingeimpft hatte, mit ihren rettenden Tränen gewaschen; sie hätte ihn zu mir
238
an den Fuß des Kreuzes gebracht,
sie hätte ihn an der Hand gehalten, damit Satan ihn nicht packen und die
Jünger ihn nicht erschlagen könnten, sie hätte ihn gebracht, und mein Blut
wäre zuerst auf ihn, auf den größten aller Sünder gefallen. Und sie wäre die
wunderbare Priesterin an ihrem Altar zwischen der Reinheit und der Schuld
gewesen; denn sie ist die Mutter der Jungfräulichen und der Heiligen, aber
auch die Mutter der Sünder.
Aber er wollte nicht. Denkt nach
über die Macht eures Willens, dessen unumschränkter Herr ihr seid. Durch ihn
könnt ihr in den Himmel oder in die Hölle kommen. Denkt darüber nach, was es
heißt, in der Sünde zu verharren.
Der Gekreuzigte, der mit
ausgebreiteten Armen angenagelt ist, um euch zu sagen, daß er euch liebt, und
der euch nicht schlagen will, nicht schlagen kann, weil er euch liebt; der es
sich lieber versagt, euch zu umarmen – der einzige Schmerz der Annagelung –
als daß er die Freiheit behält, euch zu strafen; der Gekreuzigte, der
Gegenstand göttlicher Hoffnung für alle, die bereuen, die sich von der Sünde
lossagen wollen, wird für die Unbußfertigen zum Gegenstand so großen
Schreckens, daß sie Gott lästern und sich selbst Gewalt antun. Sie töten ihren
Geist und ihren Leib, weil sie in der Schuld verharren. Und der Sanftmütige,
der sich, in der Hoffnung sie zu retten, geopfert hat, erscheint ihnen wie ein
Schreckgespenst.
Maria, du hast dich über diese
Vision beklagt. Aber es ist Karfreitag, Tochter. Du mußt leiden. Zu den Leiden
wegen meiner und Marias Leiden mußt du deine Bitterkeit, deinen Schmerz über
den Anblick der Sünder, die Sünder bleiben wollen, hinzufügen. Dies war unser
Schmerz. Es muß auch der deine sein. Deshalb hat Maria gelitten und leidet sie
noch immer, ebenso wie wegen meiner Qualen. Und deshalb mußt auch du das
ertragen. Nun ruhe dich aus. In drei Stunden wirst du ganz mir und Maria
angehören. Ich segne dich, Veilchen meiner Passion und Passionsblume Marias.»
667. «MARIA MUSS EVA ANNULLIEREN»
Jesus sagt:
«Das Paar Jesus-Maria ist das
Gegenstück zu dem Paar Adam-Eva und dazu bestimmt, das von Adam und Eva
Angerichtete zu annullieren und die Menschheit zu dem Zustand zurückzuführen,
in dem sie sich bei der Erschaffung befand. Die Menschheit hat eine totale
Erneuerung erfahren durch das Werk des Paares Jesus-Maria, die so die neuen
Stammeltern der Menschheit wurden. Die gesamte vorhergehende Zeit ist nun
gegenstandslos. Die Zeit und die Geschichte des Menschen zählt man von dem
Augenblick an, in dem die neue Eva durch eine Ausnahme in der
Schöpfungsordnung, einen direkten Eingriff Gottes des Herrn, aus ihrem
unversehrten Schoß den neuen Adam gebiert.
239
Aber um die Werke der ersten
Menschen zu tilgen, die Ursache tödlicher Krankheit, immerwährender
Verstümmelung, Verarmung, mehr noch, geistigen Elends waren – denn nach der
Sünde waren Adam und Eva bar alles dessen, was ihnen der heiligste Vater
gegeben hatte, all der unendlichen Reichtümer – mußten diese beiden Zweiten in
allem und durch alles das Gegenteil von dem tun, was die beiden Ersten getan
hatten. Sie mußten also den Gehorsam üben bis zur Vollkommenheit, die sich
selbst vernichtet und Fleisch, Gefühle, Gedanken und Willen opfert, um alles
anzunehmen, was Gott will. Deshalb mußte ihre Reinheit eine absolute
Keuschheit sein, für die das Fleisch... Was war das Fleisch für uns zwei
Reine? Ein Wasserschleier über dem siegreichen Geist; Liebkosungen des Windes
für den Geist, den König; ein Kristall, der den Geist und Herrn einschließt,
aber ihn nicht verdirbt, ein Impuls, der emporträgt und nicht durch sein
Gewicht zu Boden drückt. Das war das Fleisch für uns. Leichter und weniger
spürbar als ein Linnengewand! Die leichte Substanz zwischen der Welt und dem
Glanz des übermenschlichen Selbst, das Mittel, um tun zu können, was Gott
wollte. Nichts anderes.
Haben wir die Liebe besessen? Ja,
die vollkommene Liebe. Ihr Menschen, der Hunger der Sinne, der euch treibt,
euch gierig an einem Fleisch zu sättigen, ist nicht Liebe. Es ist Wollust.
Nicht mehr. Das ist sehr wahr, denn obwohl ihr euch so liebt – ihr glaubt, es
sei Liebe – könnt ihr nicht miteinander fühlen, einander nicht helfen und
nicht verzeihen. Was ist also eure Liebe? Sie ist Haß. Einzig und allein ein
irrer Wahn, der euch treibt, den Geschmack verdorbener Speisen der gesunden,
kraftspendenden Nahrung der erhabenen Gefühle vorzuziehen. Wir hatten die
"vollkommene Liebe". Wir, die vollkommen Keuschen. Diese Liebe umfaßte Gott im
Himmel, und vereint mit ihm, wie die Zweige mit dem Stamm, der sie nährt,
breitete sie sich aus und stieg, Ruhe, Schutz, Nahrung und Trost schenkend,
auf die Erde und ihre Bewohner herab. Niemand war von dieser Liebe
ausgeschlossen. Nicht unseresgleichen, nicht die niedrigen Geschöpfe, nicht
die pflanzliche Natur, nicht die Wasser und die Sterne. Nicht einmal die Bösen
waren von unserer Liebe ausgeschlossen; denn auch sie, obgleich tote Glieder,
waren dennoch Glieder des großen Leibes der Schöpfung, und deshalb sahen wir
in ihnen, wenn auch entstellt und von Bosheit verunstaltet, das heilige Abbild
des Herrn, der sie nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hatte.
Wir haben uns mit den Guten
gefreut, und wir haben geweint über die nicht Guten; wir haben gebetet (tätige
Liebe, die sich äußert im Erbitten und Erlangen von Schutz für jene, die man
liebt), wir haben gebetet für die Guten, damit sie immer besser werden und
sich immer mehr der Vollkommenheit des Guten annähern, der Vollkommenheit des
Vaters, der uns vom Himmel aus liebt; wir haben gebetet für die zwischen Gut
und Böse Schwankenden, um sie zu stärken, damit die Güte zu ihrem Geist
240
spreche, sie vielleicht sogar
durch den Blitz ihrer Macht niederwerfe und sie zum Herrn, ihrem Gott,
bekehre. Wir haben geliebt, wie kein anderer je geliebt hat! Wir haben den
Gipfel der Vollkommenheit in der Liebe erreicht, um mit unserem Ozean der
Liebe den Abgrund zu füllen, den der Mangel an Liebe der Ersten geöffnet
hatte, die sich selbst mehr liebten als Gott und die mehr haben wollten als
erlaubt, um mehr zu sein als Gott. Deshalb mußten wir Reinheit, Gehorsam und
Loslösung von allen Reichtümern der Erde – Fleisch, Macht und Geld, die
Dreiheit Satans, die der Dreiheit Gottes, Glaube, Hoffnung und Liebe
gegenübersteht; und Haß, Wollust, Zorn und Hochmut, die vier verderbten
Gegensätze zu den vier heiligen Tugenden: Stärke, Mäßigkeit, Gerechtigkeit und
Klugheit – mit der fortwährenden Übung alles dessen verbinden, was das
Gegenteil der Handlungsweise Adams und Evas darstellte.
Und wenn uns dank unseres
grenzenlosen guten Willens auch vieles leichtfiel, so weiß der Ewige doch,
welch heroische Anstrengung uns diese Übung in gewissen Momenten und gewissen
Fällen kostete. Ich möchte hier nur von einem Fall sprechen. Und von meiner
Mutter, nicht von mir. Von der neuen Eva, die schon von frühester Jugend an
die Blendwerke zurückgewiesen hatte, die Satan gebrauchte, um sie dazu zu
verführen, in die Frucht zu beißen und den Geschmack zu verspüren, der die
Gefährtin des Adam den Kopf verlieren ließ; von der neuen Eva, die sich nicht
darauf beschränkte, Satan abzuweisen, sondern ihn auch zertrat durch ihren
Willen zum Gehorsam, zur Liebe und zu einer umfassenden Keuschheit, so daß er,
der Verfluchte, besiegt und gebändigt wurde. Nein, unter der Ferse meiner
Jungfrau-Mutter kann Satan sich nicht erheben. Er geifert und schäumt, brüllt
und lästert. Aber sein Geifer fließt hinunter, und sein Geschrei berührt nicht
die Atmosphäre, die meine Heilige umgibt. Sie bemerkt nicht den Gestank, hört
nicht das unmäßige Lachen, sieht nicht, sieht nicht einmal den ekelerregenden
Geifer der ewigen Schlange, denn die himmlischen Harmonien und die himmlischen
Düfte tanzen ihren verliebten Reigen um die Schöne, die Heilige. Und ihr Auge,
reiner als die Lilie und verliebter als die gurrende Turteltaube, schaut nur
ihren ewigen Herrn, dessen Tochter, Mutter und Braut sie ist.
Als Kain den Abel getötet hatte,
sprach der Mund der Mutter die Flüche, die ihr von Gott getrennter Geist ihr
eingegeben hatte, gegen den ihr am nächsten Stehenden aus: den Sohn ihres von
Satan geschändeten und durch ungeordnete Wünsche entstellten Leibes. Und diese
Flüche wurden zum Makel im Reich der menschlichen Moral, wie das Verbrechen
des Kain zum Makel im Reich des animalischen Menschen wurde. Blut auf der
Erde, von der Hand des Bruders je vergossen. Das erste Blut, das wie ein
mächtiger Magnet alles Blut anzog, das Menschenhand je vergossen hat, das aus
den Adern von Menschen fließt. Fluch über der Erde aus Menschenmund. Als wäre
die Erde noch nicht genügend verflucht durch
241
die Rebellion des Menschen gegen
seinen Gott, als kennte sie nicht schon die Plagen, die Dornen und die Härte
der Scholle, die Dürre, den Hagel, den Frost, die sengende Hitze – sie, die
vollkommen und mit vollkommenen Elementen erschaffen worden war, um eine
angenehme und schöne Wohnstatt für den Menschen, ihren König, zu sein.
Maria muß Eva auslöschen. Maria
sieht den zweiten Kain: Judas. Maria weiß, daß er der Kain ihres Jesus ist:
des zweiten Abel. Sie weiß, daß das Blut des zweiten Abel von diesem Kain
verkauft wurde und vergossen wird. Aber sie verflucht nicht. Sie liebt und
verzeiht. Sie liebt und ruft zur Umkehr auf.
Oh, Mutterschaft der Märtyrerin
Maria! Oh, Mutterschaft, so erhaben, wie deine Jungfräulichkeit göttlich ist!
Diese Jungfräulichkeit wurde dir von Gott geschenkt. Aber erstere hast du,
heilige Mutter, Miterlöserin, dir selbst geschenkt; denn du, du allein
konntest in jener Stunde solche Worte zu Judas sprechen, obwohl die
Geißelhiebe, die mein Fleisch zerrissen, auch dein Herz verwundeten. Du, du
allein konntest lieben und verzeihen, als du das Kreuz schon dein Herz
zerreißen fühltest.
Maria: die neue Eva. Sie lehrt
euch die neue Religion, die die Liebe dazu treibt, auch dem zu verzeihen, der
einen Sohn tötet. Seid nicht wie Judas, der sein Herz dieser Meisterin der
Gnade verschließt, verzweifelt und sagt: "Er kann mir nicht verzeihen"; der an
den Worten der Mutter der Wahrheit zweifelt und damit an den Worten, die ich
immer wiederholt habe: daß ich gekommen bin, um zu retten, und nicht um zu
richten. Um allen zu verzeihen, die reuig zu mir kommen.
Auch Maria, die neue Eva, hat von
Gott einen neuen Sohn erhalten "anstelle des Abel, der von Kain getötet worden
war". Aber sie hat ihn nicht in einer Stunde brutalen Genusses empfangen, der
den Schmerz in den Nebeln der Sinnenlust und in der Müdigkeit der Befriedigung
verbirgt. Sie empfing ihn in einer Stunde des absoluten Schmerzes, am Fuß des
Kreuzes, unter dem Röcheln des Sterbenden, der ihr Sohn war, unter den
Schmähungen eines gottesmörderischen Volkes, und einer unverdienten und
vollkommenen Trostlosigkeit, da auch Gott ihr seinen Trost versagte.
Das neue Leben beginnt für die
Menschheit und die einzelnen Menschen mit Maria. Ihre Tugenden und ihre
Lebensweise sind eure Schule. Und in ihrem Schmerz, der alle Gesichter hatte,
auch das der Vergebung für den Mörder ihres Sohnes, liegt euer Heil.»
Jesus sagt:
«Eines Tages werde ich auf Kain
und die Stammeltern zurückkommen. Es gibt viel über sie zu sagen, und man
sollte oft über sie nachdenken.»
Jesus sagt:
«In der Genesis steht
geschrieben: "Dann gab Adam seinem Weib den Namen Eva, denn sie wurde die
Mutter aller Lebendigen."
242
O ja! Die Frau war aus der
"Virago" hervorgegangen, die Gott aus einer Rippe des Adam gebildet und ihm
zur Gefährtin gegeben hatte. Sie war mit ihrem schmerzhaften Los geboren
worden, weil sie geboren werden wollte. Sie wollte kennenlernen, was Gott ihr
verborgen hatte, da er sich die Freude vorbehalten wollte, ihr die Freude
einer Nachkommenschaft zu schenken ohne Erniedrigung durch die Sinne. Die
Gefährtin des Adam wollte das Gute kennenlernen, das sich im Bösen verbirgt,
und vor allem das Böse, das sich im Guten, im scheinbar Guten verbirgt. Da sie
von Luzifer verführt worden war, verlangte sie nach Erkenntnissen, die nur
Gott gefahrlos besitzen konnte, und wurde zur Schöpferin. Aber da sie diese
Kraft des Guten unwürdig gebrauchte, wurde sie durch einen Akt des Bösen
erniedrigt, denn Ungehorsam gegen Gott ist Bosheit und Gier des Fleisches.
Nun war sie die "Mutter".
Unendliche Klage der Dinge, die die Unschuld der entwürdigten Königin umgaben!
Untröstlicher Jammer der Königin über ihre Entwürdigung, deren ganzes Ausmaß
und die Unmöglichkeit, sie rückgängig zu machen, sie erkannte! Wenn Finsternis
und Naturkatastrophen den Tod des Unschuldigen begleiteten, so begleiteten
Finsternis und Sturm ebenso den Tod der Unschuld und der Gnade in den Herzen
der Stammeltern. So kam der Schmerz in die Welt. Und die Vorsehung Gottes, die
ihn nicht ewig währen lassen wollte, schenkt euch die Möglichkeit, nach Jahren
der Tränen und des Schmerzes in die Freude einzugehen, wenn ihr es versteht,
rechtschaffen zu leben. Wehe dem Menschen, wenn er nur mit menschlichen
Mitteln Herr des Lebens hätte werden müssen; wenn er mit der Erinnerung an
seine Verbrechen hätte leben müssen, die ständig zahlreicher werden; denn ohne
Sünde zu leben, ist euch unmöglicher als zu leben ohne zu atmen, ihr
Geschöpfe, die ihr erschaffen wurdet, um das Licht kennenzulernen, die aber
die Finsternis vergiftet und zu ihren Opfern gemacht hat.
Die Finsternis! Sie umgibt euch
immerdar. Sie umhüllt euch und läßt in euch wiederaufleben, was das Sakrament
gelöscht hat. Und da ihr sie nicht bekämpft mit dem Willen, Gott zu gehören,
gelingt es ihr, euch erneut zu verderben mit dem Gift, das die Taufe
unschädlich gemacht hatte.
Gott Vater verjagte den Menschen,
dessen Ungehorsam offenkundig war, von dem Ort der paradiesischen Freuden,
damit er nicht noch einmal und schlimmer sündige und die diebische Hand nach
dem Baum des Lebens ausstrecke. Der Vater konnte seinen Kindern kein Vertrauen
mehr schenken und sich in seinem irdischen Paradies nicht sicher fühlen. Satan
war einmal eingedrungen, um den geliebten Geschöpfen nachzustellen, und da es
ihm gelungen war, sie zur Sünde zu verleiten, als sie noch unschuldig waren,
hätte er es nun noch viel leichter gehabt, da sie nicht mehr unschuldig waren.
Der Mensch wollte alles besitzen
und Gott nicht den Schatz lassen, der
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Zeugende zu sein. So mußte er mit
seinem gewaltsam erworbenen Reichtum das Paradies verlassen und ihn mit in
sein Exil auf der Erde nehmen, damit er den gedemütigten und seiner Gaben
beraubten König immer an seine Sünde erinnere. Das paradiesische Geschöpf war
zu einem irdischen Geschöpf geworden. Jahrhunderte der Leiden mußten vergehen,
bis der einzige, der die Hand nach der Frucht des Lebens ausstrecken durfte,
kommen und für die ganze Menschheit diese Frucht pflücken konnte. Er pflückte
sie mit seinen durchbohrten Händen und gab sie den Menschen, damit sie wieder
zu Miterben des Himmels und Besitzern des Lebens würden, das in Ewigkeit nicht
stirbt.
Weiter sagt die Genesis: "Adam
erkannte sein Weib Eva."
Sie wollten die Geheimnisse des
Guten und des Bösen kennen. Daher war es gerecht, daß sie auch den Schmerz
kennenlernten, sich selbst im Fleisch fortzupflanzen. Und die einzige direkte
Hilfe Gottes bestand darin, daß er hinzufügte, was der Mensch nicht schaffen
kann: die Seele; den Funken, der von Gott ausgeht, den Hauch, der von Gott
eingegeben wird, das Siegel, das dem Fleisch das Zeichen des ewigen Schöpfers
aufdrückt. Und Eva gebar Kain. Eva war schuldbeladen.
Ich möchte hier eure
Aufmerksamkeit auf eine Tatsache lenken, die den meisten entgeht. Eva war
schuldbeladen. Sie hatte noch nicht genügend Schmerzen erlitten, um dadurch
ihre Schuld zu vermindern. Als vergiftetes Geschöpf hatte sie dem Sohn
übertragen, was in ihr brodelte. Und Kain, der erste Sohn Evas, war hart,
eifersüchtig, zornig, wollüstig und verderbt, nur wenig anders als die
Raubtiere hinsichtlich seiner Instinkte und viel schlimmer als sie
hinsichtlich des Übernatürlichen. Denn sein wildes Wesen verweigerte Gott die
Ehrfurcht, betrachtete ihn als seinen Feind und hielt sich für berechtigt, ihm
keine aufrichtige Verehrung zu erweisen. Satan stachelte ihn an, Gott zu
verhöhnen. Und wer Gott verhöhnt, achtet niemanden auf der Welt. Daher kennen
alle, die mit den Spöttern des Ewigen in Verbindung stehen, die Bitterkeit der
Tränen, denn sie haben keine Hoffnung auf die ehrerbietige Liebe ihrer Kinder.
Sie sind sich der treuen Liebe ihres Gatten nicht sicher, noch der
aufrichtigen Freundschaft ihrer Freunde.
Tränen über Tränen furchten das
Antlitz und das Herz Evas wegen der Härte des Sohnes und legten in ihr Herz
den Keim der Reue. Tränen über Tränen erlangten ihr eine Verminderung der
Schuld, denn Gott verzeiht dem, der bereut. Und die Seele des Zweitgeborenen
war gewaschen von den Tränen der Mutter. Er war sanft und ehrerbietig gegen
die Eltern und seinem Gott ergeben, dessen Allmacht er vom Himmel
herabstrahlen sah. Er war die Freude der Gefallenen.
Doch der Leidensweg Evas mußte
lang und schmerzhaft sein, entsprechend dem Weg ihrer sündigen Erfahrungen.
Hier ein Freudenrausch. Dort ein Schauer des Schmerzes. Hier Küsse. Dort Blut.
Hier ein Sohn.
244
Dort der Tod eines Sohnes, des
wegen seiner Güte bevorzugten Sohnes. Abel wurde zum Instrument der Reinigung
für die Schuldige. Aber welch schmerzhafte Reinigung! Sie erfüllte mit ihrem
Wehklagen die über den Brudermord bestürzte Erde und vermischte die Tränen
einer Mutter mit dem Blut eines Sohnes, während der, der es in seinem Zorn auf
Gott und den von Gott geliebten Bruder vergossen hatte, von seiner Reue
verfolgt, floh.
Der Herr sprach zu Kain: "Warum
bist du zornig?" Warum bist du zornig, weil ich dich nicht gütig ansehe, da du
doch gegen mich fehlst?
Wie viele Kaine gibt es auf der
Erde! Sie erweisen mir eine lächerliche, heuchlerische Verehrung oder
überhaupt keine und wollen, daß ich sie mit Liebe ansehe und sie mit Glück
überhäufe. Gott ist euer König, nicht euer Diener. Gott ist euer Vater. Aber
ein Vater ist niemals ein Diener, wenn man es gerecht betrachtet. Gott ist
gerecht. Ihr seid es nicht. Aber er ist es. Und da er euch mit Gaben
überhäuft, wenn ihr ihn nur ein wenig liebt, muß er euch auch strafen, wenn
ihr ihn so sehr verhöhnt. Die Gerechtigkeit kennt nicht zwei Wege. Einer nur
ist ihr Weg. Was ihr tut, wird euch zuteil werden. Seid ihr gut, erhaltet ihr
Gutes. Seid ihr schlecht, erhaltet ihr Schlechtes. Und, glaubt mir, ihr
erhaltet immer noch sehr viel mehr Gutes im Vergleich zu dem Schlechten, das
ihr erhalten solltet wegen eurer Lebensweise und Auflehnung gegen das Gesetz
Gottes.
Gott hat gesagt: "Ist es nicht
wahr, daß du Gutes erhältst, wenn du recht handelst, und ist nicht die Sünde
sofort an deiner Tür, wenn du nicht recht handelst?" Tatsächlich führt das
Gute zu einer beständigen geistigen Erhebung und vergrößert die Fähigkeit,
immer mehr Gutes zu tun und bis zur Vollkommenheit und Heiligkeit zu gelangen,
während es genügt, Böses zu tun, um sich zu entwürdigen und sich von der
Vollkommenheit zu entfernen, um die Herrschaft der Sünde kennenzulernen, die
ins Herz einkehrt und es nach und nach in immer größere Schuld verstrickt.
"Aber", sagt wiederum Gott, "sie
wird nach dir verlangen, und du wirst über sie herrschen." Ja, Gott hat euch
nicht zu Sklaven der Sünde gemacht. Die Leidenschaften sind unter euch, nicht
über euch. Gott hat euch Verstand und Kraft gegeben, damit ihr euch
beherrscht. Auch den ersten Menschen, die die Strenge Gottes zu spüren
bekamen, hat er Intelligenz und moralische Kraft gelassen. Nun, seit der
Erlöser sein Opfer für euch vollbracht hat, kommen der Intelligenz und
moralischen Kraft die Ströme der Gnade zu Hilfe, und ihr könnt, ihr müßt die
Neigung zum Bösen beherrschen. Durch euren durch die Gnade gestärkten Willen
müßt ihr dies tun. Deshalb sangen die Engel bei meiner Geburt auf Erden:
"Friede den Menschen, die guten Willens sind." Ich bin gekommen, um euch die
Gnade wiederzubringen, und durch die Verbindung von ihr und eurem guten Willen
würde für die Menschen der Frieden kommen. Der Frieden: die Herrlichkeit des
Himmels Gottes.
245
Kain sagte zu seinem Bruder:
"Gehen wir hinaus." Lüge, die hinter einem Lächeln den todbringenden Verrat
verbirgt. Der Verbrecher ist immer ein Lügner. Er lügt seine Opfer und die
Welt an, die er zu täuschen versucht, und er möchte auch Gott betrügen. Aber
Gott liest in den Herzen. "Gehen wir hinaus."
Viele Jahrhunderte später sagte
einer: "Salve, Meister", und küßte ihn. Die beiden Kaine verbargen das
Verbrechen hinter einem harmlosen Anschein und tobten ihre Eifersucht, ihren
Zorn, ihre Überheblichkeit und alle bösen Eigenschaften an dem Opfer aus, denn
sie konnten sich nicht beherrschen und hatten ihren Geist zum Sklaven ihres
verdorbenen Ichs gemacht.
Eva steigt auf durch die Sühne.
Kain steigt hinab zur Hölle; die Verzweiflung packt ihn und läßt ihn immer
tiefer sinken. Und mit der Verzweiflung, dem letzten tödlichen Schlag gegen
den schon wegen seines Verbrechens dahinsiechenden Geist, kommt die feige
Angst vor der irdischen, körperlichen Strafe. Ein Mensch mit einer toten Seele
kann sich nicht mehr an den Himmel erinnern. Er ist wie ein Tier, das um sein
animalisches Leben zittert. Der Tod, bei dessen Anblick die Gerechten lächeln,
da sie durch ihn in die Freude des Besitzes Gottes eingehen, ist der Schrecken
derer, die wissen, daß das Sterben der Übergang von der Hölle des Herzens in
die ewige Hölle Satans bedeutet. Und wie ein an Halluzinationen Leidender
sehen sie überall Rache, die bereit ist, sie zu treffen.
Aber ihr sollt wissen – ich
spreche zu den Gerechten – wenn die Gewissensbisse und die Finsternis eines
schuldbeladenen Herzens auch zu Wahnvorstellungen des Sünders führen und sie
fördern, so ist es doch niemandem erlaubt, sich zum Richter des Bruders zu
erheben, und noch viel weniger, das Urteil zu vollstrecken. Einer allein ist
Richter: Gott. Und wenn die menschliche Gerechtigkeit ihre Gerichte geschaffen
hat, so sind diese verpflichtet, ihre Aufgabe wahrzunehmen und Recht zu
sprechen. Und wehe denen, die diesen Namen mißbrauchen und das Urteil als
Deckmantel für die eigenen Leidenschaften gebrauchen oder dem Druck von seiten
anderer nachgeben. Verflucht sei, wer sich selbst zum Richter von
Seinesgleichen macht! Aber noch mehr verflucht soll sein, wer nicht aus
impulsiver Empörung, sondern aus kalter menschlicher Berechnung ungerecht zum
Tod oder zur Unehre des Kerkers verurteilt. Wenn den, der den Mörder tötet,
eine siebenfache Strafe erwartet – wie es nach den Worten des Herrn dem Mörder
Kains geschehen wäre – so wird den Menschen, der dem Satan hörig ist und der
im Gewand menschlicher Überlegenheit zu Unrecht verurteilt, die Strafe Gottes
siebenundsiebzigfach treffen. Das sollte man sich immer vor Augen halten,
besonders in dieser Zeit, o ihr Menschen, die ihr euch gegenseitig tötet, um
aus den Gefallenen den Grundstein eures eigenen Erfolges zu erbauen, und nicht
wißt, daß ihr unter euren Füßen die Grube grabt, in die ihr von Gott und den
Menschen
246
Verfluchten selbst stürzen
werdet. Denn ich habe gesagt: "Du sollst nicht töten."
Eva steigt empor auf ihrem Weg
der Sühne. Die Reue wächst in ihr angesichts der Folgen ihrer Sünde. Sie
wollte das Gute und das Böse kennenlernen. Die Erinnerung an das verlorene
Gute ist für sie wie die Erinnerung an die Sonne für einen plötzlich
Erblindeten; und das Böse ist gegenwärtig vor ihr im Leichnam des getöteten
Sohnes und rings um sie durch die Leere, die ihr flüchtiger Sohn, der Mörder,
hinterlassen hat.
Dann wurde Seth geboren, und von
ihm stammt Enos ab, der erste Priester. Ihr stopft eure Köpfe voll mit
Unmengen eurer Wissenschaft und redet von Evolution als Beweis eurer
Zufallsentstehung. Der Tier-Mensch wird sich zum Übermenschen entwickeln. So
sagt ihr. Ja, so ist es. Aber auf meine Art. Und auf meinem Gebiet. Nicht auf
eurem. Nicht durch die Entwicklung vom Vierfüßler zum Menschen, sondern durch
die Entwicklung vom Menschen zum vergeistigten Menschen. Je geistiger ihr
werdet, desto weiter entwickelt ihr euch.
Ihr redet von Drüsen und nehmt
den Mund voll, indem ihr von Hypophyse und Zirbeldrüse redet und den Sitz des
Lebens in sie verlegt, nicht nur für die Zeit, da ihr lebt, sondern für die
Zeiten, die eurem derzeitigen Leben vorangegangen sind und ihm folgen werden.
Wißt, eure wahre Drüse, die euch zu Besitzern des ewigen Lebens macht, ist
eure Seele. Je stärker sie entwickelt ist, um so mehr werdet ihr das göttliche
Licht erkennen und euch aus Menschen zu Göttern entwickeln, zu unsterblichen
Göttern. Und so werdet ihr, ohne dem Wunsch Gottes und seinem Befehl im
Hinblick auf den Baum des Lebens zuwiderzuhandeln, dieses Leben erlangen und
es so besitzen, wie Gott es will. Denn er hat es ewig und strahlend für euch
geschaffen, die selige Umarmung mit seiner Ewigkeit, die euch in sich aufnimmt
und euch an ihrem Eigentum teilhaben läßt.
Je mehr der Geist sich entwickeln
wird, desto mehr werdet ihr Gott erkennen. Gott erkennen heißt, ihn lieben,
ihm dienen, fähig sein, ihn anzurufen für sich selbst und für die anderen, und
so zu Priestern zu werden, die auf Erden für ihre Brüder beten. Denn der
Geweihte ist Priester; aber auch der überzeugte, liebende, treue Gläubige ist
es; vor allem die Sühneseele, die sich aus Liebe selbst opfert. Gott schaut
nicht auf das Kleid, sondern auf die Seele. In Wahrheit sage ich euch, vor
meinen Augen erscheinen viele Tonsurträger, die vom Priester nur die Tonsur
haben, und viele Laien, bei denen die Liebe, die sie besitzen und die sie
verzehrt, das Salböl ist, das sie zu meinen Priestern macht; der Welt
unbekannten, aber mir, der ich sie segne, bekannten Priestern.»
247
668. JOHANNES GEHT UND HOLT DIE
MUTTER
10.30 Uhr am Karfreitag 1944, die
Stunde, in der, wie meine innere Stimme mir sagt, Johannes zu Maria geht.
Ich sehe den Lieblingsjünger noch
bleicher, als er zuvor im Hof des Kaiphas, zusammen mit Petrus, schon war.
Vielleicht hat der warme Schein des Feuers dort seinen Wangen etwas Farbe
verliehen. Nun sind sie eingefallen wie bei einer schweren Krankheit und
blutleer, und sein Gesicht über der violetten Tunika gleicht dem eines
Ertrunkenen, so groß ist die fahle Blässe. Auch die Augen sind umschattet, die
Haare glanzlos und zerzaust. Der Bart, der in diesen Stunden gewachsen ist,
legt einen hellen Schimmer über Wangen und Kinn und läßt sie, da er hellblond
ist, noch blasser erscheinen. Der Lieblingsjünger hat nichts mehr von dem
sanften, heiteren Johannes und auch nichts mehr von dem erregten Johannes, der
sich noch vor kurzem mit Zornesröte im Gesicht nur mit Mühe zurückhalten
konnte, Judas anzugreifen.
Johannes klopft an die Tür des
Hauses und sagt sofort: «Ich bin es, Johannes», so als ob jemand im Innern des
Hauses aus Furcht, Judas vor sich zu haben, fragen würde, wer geklopft hat.
Die Tür öffnet sich, und Johannes tritt ein.
Auch er geht sofort in den
Abendmahlsaal, ohne der Hausfrau zu antworten, die ihn fragt: «Aber was ist
denn in der Stadt los?»
Er schließt sich ein, fällt auf
die Knie vor dem Ruhebett, auf dem Jesus gelegen ist, weint und ruft ihn
schmerzerfüllt. Er küßt das Tischtuch an der Stelle, die Jesu gefaltete Hände
berührt haben, liebkost den Kelch, den er in seinen Händen gehalten hat...
Dann sagt er: «Oh! Allmächtiger Gott, hilf mir! Hilf mir, es der Mutter zu
sagen! Ich habe nicht den Mut dazu! ... Und doch muß ich es ihr sagen. Ich muß
es sagen, denn nur ich bin geblieben!»
Er steht auf und denkt nach. Dann
berührt er noch einmal den Kelch, gleichsam um Kraft zu schöpfen aus diesem
Gegenstand, den der Meister berührt hat, und schaut umher... Er sieht, noch in
der Ecke, in die Jesus es gelegt hat, das Handtuch, mit dem der Meister sich
die Hände getrocknet hat nach der Fußwaschung, und das andere, das er um die
Lenden geschlungen hatte. Er nimmt sie, faltet sie, liebkost und küßt sie. Nun
bleibt er unentschlossen in der Mitte des leeren Saales stehen. Er sagt: «Ich
muß gehen!» Aber er begibt sich nicht zur Tür, sondern kehrt zum Tisch zurück
und ergreift den Kelch und das an einem Ende angebrochene Brot, von dem Jesus
Judas den eingetauchten Bissen gegeben hat. Er küßt das Brot und den Kelch und
drückt sie mit den beiden Tüchern an sein Herz wie eine Reliquie. Schließlich
wiederholt er: «Ich muß gehen!» und seufzt. Er begibt sich mit gebeugtem
Rücken und
248
zögernden, schleppenden Schritten
zu den Stufen, steigt hinauf, öffnet die Tür und geht hinaus.
«Johannes, bist du gekommen?»
Maria erscheint wieder an der Tür ihres Zimmers und hält sich am Rahmen fest,
als hätte sie nicht die Kraft, ohne diese Stütze aufrecht zu stehen.
Johannes hebt das Haupt und
schaut sie an. Er will reden und öffnet den Mund. Aber er bringt kein Wort
heraus. Zwei dicke Tränen fließen über seine Wangen. Er senkt, beschämt über
seine Schwäche, den Kopf.
«Komm her, Johannes. Weine nicht.
Du darfst nicht weinen. Du hast ihn immer geliebt und glücklich gemacht. Das
möge dir zum Trost dienen.»
Diese Worte öffnen den Tränen des
Johannes alle Schleusen, und sein Weinen wird nun so heftig und laut, daß die
Hauswirtin, Maria Magdalena, die Frau des Zebedäus und andere Frauen ihre
Köpfe aus ihrem Zimmer strecken.
«Komm zu mir, Johannes.» Maria
löst sich vom Türrahmen, nimmt den Jünger bei der Hand, zieht ihn ins Zimmer
wie ein Kind, und schließt leise die Tür, um mit ihm allein zu sein.
Johannes reagiert nicht. Doch als
er die zitternde Hand Marias auf seinem Haupt fühlt, sinkt er in die Knie,
legt die Gegenstände, die er ans Herz gedrückt hatte, auf den Boden, preßt den
Saum des Gewandes Marias auf sein schmerzverzerrtes Gesicht und schluchzt:
«Verzeihung! Verzeihung! Mutter, verzeih!»
Maria, die aufrecht und bekümmert
dasteht, eine Hand auf dem Herzen, während die andere an ihrer Seite
herabhängt, sagt mit herzzerreißender Stimme: «Was soll ich dir verzeihen,
armer Sohn? Was? Gerade dir!»
Johannes hebt das Antlitz, zeigt
es so, wie es ist, ohne jegliche Spur männlichen Stolzes: das Gesicht eines
armen, weinenden Kindes, und ruft: «Daß ich ihn verlassen habe! Daß ich
geflohen bin! Daß ich ihn nicht verteidigt habe! Oh, mein Meister! O Meister,
verzeih mir! Ich hätte eher sterben sollen, als dich verlassen! Mutter,
Mutter, wer wird mich von diesen Gewissensbissen befreien?»
«Friede, Johannes! Er verzeiht
dir, er hat dir schon verziehen. Er hat dir deine Verwirrung nicht
angerechnet. Er liebt dich.» Maria spricht mit kurzen Unterbrechungen zwischen
den kurzen Sätzen, wie von Atemnot befallen, eine Hand auf dem Haupt des
Johannes und die andere auf dem armen, angstvoll klopfenden Herzen.
«Aber ich habe ihn nicht einmal
gestern abend verstanden... und bin eingeschlafen, obwohl er uns um den Trost
gebeten hatte, mit ihm zu wachen. Ich habe ihn allein gelassen, meinen Jesus!
Und dann bin ich weggelaufen, als der Verfluchte mit den Henkersknechten
gekommen ist...»
«Johannes, du sollst nicht
verfluchen. Und nicht hassen, Johannes. Überlasse dem Vater das Gericht.
Höre... wo ist er jetzt?»
249
Johannes neigt sein Haupt wieder
bis zum Boden und weint noch heftiger.
«Antworte, Johannes. Wo ist mein
Sohn?»
«Mutter... ich ... Mutter... er
ist... Mutter...»
«Er ist verurteilt worden, ich
weiß es. Ich frage dich, wo ist er in diesem Augenblick?»
«Ich habe alles irgend mögliche
getan, um von ihm gesehen zu werden... Ich habe versucht, Erbarmen zu
erbetteln bei den Mächtigen, damit er... damit er weniger leiden muß. Sie
haben ihn nicht sehr gequält...»
«Du sollst nicht lügen, Johannes.
Nicht einmal aus Mitleid mit einer Mutter. Es würde außerdem nichts nützen.
Ich weiß. Seit gestern abend folge ich ihm in seinem Leiden. Du kannst es
nicht sehen, aber dieselben Geißelhiebe haben mein Fleisch zerschlagen, die
Dornen durchbohren meine Stirn, ich habe die Schläge gefühlt... alles. Aber
nun... sehe ich ihn nicht mehr. Nun weiß ich nicht, wo sich mein zum Kreuz
verurteilter Sohn befindet... Zum Kreuz! Zum Kreuz! ... O Gott, gib mir Kraft!
Er muß mich sehen. Ich darf nicht auf meinen Schmerz achten, solange er seinen
Schmerz ertragen muß. Wenn alles zu Ende ist, dann, o Gott, laß mich sterben,
wenn du willst. Jetzt nicht. Seinetwegen nicht. Damit er mich sieht. Gehen
wir, Johannes. Wo ist Jesus ?»
«Er verläßt gerade das Haus des
Pilatus. Diesen Lärm macht das Volk, das um ihn herum tobt, während er
gefesselt auf den Stufen des Prätoriums steht, in Erwartung des Kreuzes...
Vielleicht ist er auch schon auf dem Weg nach Golgotha.»
«Gib deiner Mutter Bescheid,
Johannes, und den anderen Frauen. Und gehen wir. Nimm den Kelch, das Brot und
das Linnen... Lege sie hierher. Sie werden uns später ein Trost sein... Und
nun gehen wir.»
Johannes hebt die auf dem Boden
liegenden Gegenstände auf und geht dann hinaus, um die Frauen zu rufen.
Während sie auf ihn wartet, fährt sie sich mit dem Linnen über das Gesicht,
wie um in ihm die liebkosende Hand des Sohnes wiederzufinden. Sie küßt den
Kelch und das Brot und legt alles auf ein Regal. Dann hüllt sie sich fest in
ihren Mantel, zieht ihn herab bis zu den Augen, über den Schleier, der ihr
Haupt bedeckt und den sie um den Hals gebunden hat. Sie weint nicht, aber sie
zittert. Es scheint, als ringe sie nach Atem, so sehr keucht sie mit offenem
Mund. Johannes kommt mit den weinenden Frauen zurück.
«Töchter, schweigt! Helft mir,
daß ich nicht weinen muß! Gehen wir.»Und sie stützt sich auf Johannes, der sie
wie eine Blinde führt und hält.
Die Vision endet so. Nun ist es
12.30 Uhr, also 11.30 Uhr nach der Sonnenzeit.
Danach, von 13 bis 16 Uhr
(Sonnenzeit), bin ich sehr niedergeschlagen gewesen. Ich habe nicht
geschlafen, aber ich war derart erschöpft, daß ich weder reden noch mich
rühren oder die Augen öffnen konnte. Ich konnte nur leiden. Und ohne etwas zu
sehen, betrachtete ich unaufhörlich die Agonie Jesu. Gegen 16 Uhr, als ich an
die durchbohrten Hände dachte, sah
250
ich plötzlich Jesus in dem
Augenblick, in dem er stirbt. Nur das. Eine letzte Muskelkontraktion, durch
die sich der Kopf nach links drehte. Ein letzter tiefer Atemzug und dann der
Versuch, noch etwas zu sagen, die Unmöglichkeit, es auszusprechen, eine laute
Klage, die in einem Seufzer endete, dann Stille, der Tod. So blieb er. Mit
geschlossenen Augen, halb offenem Mund, einen Augenblick noch mit erhobenem
Haupt – wohl durch einen heftigen Krampf im Hals – dann fiel es auf die Brust,
nach rechts.
Danach habe ich mich etwas
erholt, doch nur recht wenig, bis gegen 19 Uhr (Sonnenzeit), und war bis nach
Mitternacht wieder in einer schrecklichen Verfassung. Ich habe nicht den Trost
einer Vision. Ich bin allein, wie Maria nach dem Begräbnis. Ich sehe nichts
und kann nicht reden und leide sehr darunter. Um ein wenig Trost zu finden,
beschreibe ich Ihnen, wie gut ich Jesus gestern abend gesehen habe, als ich
noch einmal den Abschied von Maria vor dem Abendmahl sehen durfte.
Jesus kniete schon zu Füßen der
Mutter, hielt sie umfangen und legte abwechslungsweise das Haupt auf ihre Knie
und erhob es wieder, um sie anzublicken. Das Licht eines dreiflammigen
Öllämpchens, das an der Ecke des Tisches neben Maria stand, erhellte das
Gesicht meines Jesus, während das der Mutter mehr im Schatten blieb, da sie
das Licht im Rücken hatte. Aber Jesus war ganz im Licht.
Und ich verlor mich darin, das
Antlitz zu betrachten, bis in die kleinsten Einzelheiten. Ich wiederhole sie
noch einmal. Die in der Mitte gescheitelten Haare fallen in langen Locken auf
die Schultern. Eine gute Handbreit sind sie gewellt und enden dann in
richtigen Locken. Glänzend, fein, wohlgeordnet, von einem leuchtenden Blond,
das besonders am Ende bei den Locken in einen deutlichen Kupferton übergeht.
Eine leichte Vertiefung an den Schläfen, auf die die bläulichen, durch die
weiße Haut schimmernden Adern schwache, indigoblaue Schatten zeichnen. Die
Haut hat das besondere Weiß mancher rotblonder Menschen, milchweiß mit einem
Hauch von Elfenbein und einer kaum merklichen bläulichen Nuance. Eine zarte
Haut, die dem Blütenblatt einer weißen Kamelie gleicht und so zart ist, daß
das feinste Äderchen durchschimmert und jede Gemütsbewegung sich in einer
tiefen Blässe oder lebhaften Röte äußert.
Aber ich habe Jesus immer bleich
gesehen in den drei Jahren seiner Pilgerschaft durch Palästina, höchstens ein
wenig gebräunt von der Sonne. Maria ist noch blasser, denn sie lebt mehr
zurückgezogen, im Haus; ihre Haut ist von einem rosigen Weiß. Jesu Haut ist
elfenbeinweiß mit eben diesem bläulichen Schimmer. Seine Nase ist lang und
gerade, höchstens ganz oben eine Spur gewölbt. Eine schmale, wohlgeformte
Nase. Wunderschön die tiefen Augen von der Farbe, die ich schon so oft
beschrieben habe: einem sehr dunklen Saphirblau. Wimpern und Brauen sind
dicht, aber nicht zu dicht, lang, schön, glänzend und dunkelbraun mit einem
mikroskopischen Funken Gold an der Spitze jedes Härchens. Die Wimpern und
Brauen Marias sind hellbraun, feiner und spärlicher. Vielleicht sieht es nur
so aus, weil sie so viel heller sind, beinahe blond. Der regelmäßige, eher
kleine und schön geformte Mund Jesu gleicht sehr dem Mund seiner Mutter, mit
Lippen, die gerade die richtige Breite haben; nicht so schmal, daß sie nur
einen Strich bilden, aber auch nicht zu voll. In der Mitte sind sie schön
gewölbt und geschwungen, an den Seiten werden sie sehr schmal und lassen den
schönen Mund kleiner erscheinen. Er ist von einem gesunden Rot und öffnet sich
über einem regelmäßigen, kräftigen Gebiß mit länglichen, schneeweißen Zähnen.
Die Zähne der Mutter sind ebenso regelmäßig, aber kleiner.
Die Wangen sind schmal, aber
nicht hager, und bilden zusammen mit den weder zu breiten noch zu schmalen
Backenknochen ein langes, sehr schönes Oval. Der Bart, der am Kinn dicht und
in zwei krause Spitzen geteilt ist, umrahmt den Mund bis zur Unterlippe,
bedeckt sie aber nicht und wird dann den Wangen zu immer kürzer. Auf der Höhe
der Mundwinkel ist er so kurz, daß er nur noch einem Hauch Kupferstaub auf den
blassen Wangen gleicht. An den dichten Stellen hat er die Farbe dunkler
Bronze: ein dunkles Rotblond. Auch der nicht sehr dichte Oberlippenbart ist
kurz gehalten, so daß er kaum den Zwischenraum zwischen Nase und Oberlippe
bedeckt und nur um die Mundwinkel etwas
251
länger ist. Die kleinen,
wohlgeformten Ohren liegen dicht am Kopf an. Sie stehen fast überhaupt nicht
ab.
Wenn ich daran denke, wie schön
Jesus gestern abend war und wie entstellt das Antlitz war, das ich während der
Passion und auch danach viele Male gesehen habe, so wird meine mitleidvolle
Liebe für den Leidenden noch größer. Als ich sah, wie er sich neigte und
seinen Kopf an die Brust der Mutter legte, wie ein liebebedürftiges Kind, habe
ich mich einmal mehr gefragt, wie es die Menschen fertigbringen konnten, so
mit ihm umzugehen, mit ihm, der doch so sanft und gut in all seinem Tun
gewesen war und allein schon durch sein Aussehen die Herzen gewinnen mußte.
Ich sah die schönen, langen, blassen Hände die Seiten Marias, die Taille
Marias, die Arme Marias umarmen, und ich sagte mir: «Bald werden sie von
Nägeln durchbohrt sein!» und litt. Auch weniger Aufmerksame müssen das bemerkt
haben.
Heute habe ich sehr nach Ihnen
verlangt, Pater, denn ich hatte das Gefühl, daß mein Herz zerspringen müsse
oder zu schlagen aufhören würde. Es scheint mir eine Ewigkeit vergangen zu
sein, seit ich Jesus das letzte Mal empfangen habe. Zum Glück ist es schon
zwei Uhr morgens und Samstag: Die Stunde der heiligen Kommunion naht. Aber ich
bin allein. Jesus schweigt, Maria schweigt. Auch Johannes schweigt. Ich hatte
wenigstens ihn erwartet. Nichts. Absolutes Schweigen und absolute Dunkelheit.
Es ist wahrhaft zum Verzweifeln...
669. VOM PRÄTORIUM ZUM
KALVARIENBERG
Es vergeht einige Zeit, nicht
mehr als eine halbe Stunde, vielleicht auch weniger. Dann gibt Longinus, der
mit der Aufsicht über die Hinrichtung beauftragt ist, seine Befehle.
Doch bevor Jesus auf die Straße
hinausgeführt wird, um das Kreuz auf sich zu nehmen und sich auf den Weg zu
begeben, hat Longinus ihn zwei- oder dreimal neugierig und dann mitleidig
angesehen mit dem geübten Auge eines Menschen, der kein Neuling mehr ist in
gewissen Dingen. Er kommt nun mit einem Soldaten zu Jesus und bietet ihm eine
Erfrischung an. Wein, nehme ich an, denn er gießt aus einer richtigen
Feldflasche eine hellrote Flüssigkeit in einen Becher. «Das wird dir guttun.
Du mußt Durst haben. Draußen scheint die Sonne, und der Weg ist lang.»
Doch Jesus antwortet: «Gott möge
dir dein Mitleid vergelten. Aber behalte es für dich.»
«Ich bin gesund und kräftig...
Du... Ich entbehre nichts ... und außerdem ... tue ich es gern, wenn ich dir
damit ein wenig helfen kann ... Nimm wenigstens einen Schluck ... um mir zu
zeigen, daß du die Heiden nicht verachtest.»
Jesus weigert sich nicht länger
und trinkt einen Schluck von dem Getränk. Seine Hände sind nicht mehr
gefesselt, und er hat auch kein Rohr mehr in der Hand und keinen Mantel, so
daß er es selbst tun kann. Mehr will er nicht, obwohl das gute kühle Getränk
eine große Erfrischung wäre bei dem Fieber, das sich schon durch rote Streifen
auf den bleichen Wangen und den trockenen, rissigen Lippen bemerkbar macht.
252
«Nimm, nimm. Es ist Honigwasser.
Es stärkt und löscht den Durst... Du tust mir leid... ja ... leid ... Von
allen Hebräern bist nicht du es, der getötet werden sollte ... Aber ... Ich
hasse dich nicht ... und ich will alles tun, damit du nicht mehr als nötig
leiden mußt.»
Doch Jesus trinkt nicht mehr...
Er hat großen Durst... Den schrecklichen Durst des Ausgebluteten und
Fiebernden... Er weiß, daß es kein betäubendes Getränk ist und würde gerne
trinken. Aber er will nicht weniger leiden. Ich verstehe, eine innere
Erleuchtung sagt mir, daß das Mitleid des Römers eine größere Labung für ihn
ist als das Honigwasser.
«Gott vergelte dir diesen Trost
mit seinem Segen», sagt er und lächelt dabei ... Ein herzzerreißendes Lächeln
mit geschwollenen, verwundeten Lippen, die er nur mühsam bewegen kann, denn
zwischen der Nase und dem rechten Jochbogen schwillt die nach der Geißelung
durch einen Stockhieb verursachte Quetschung nun stark an.
Es kommen jetzt auch die zwei
Räuber hinzu, jeder von einer Decurie Bewaffneter bewacht. Es ist an der Zeit
aufzubrechen, und Longinus erteilt die letzten Befehle.
Eine Centurie stellt sich in zwei
Reihen in etwa drei Meter Abstand voneinander auf und geht auf den Platz
hinaus, auf dem bereits eine andere Centurie ein Viereck gebildet hat, um das
Volk zurückzudrängen und für den Zug Platz zu schaffen. Auch Berittene sind
auf dem Platz: eine Decurie Kavallerie mit den Feldzeichen und befehligt von
einem jungen Offizier. Ein Fußsoldat hält den Rappen des Centurio am Zügel.
Longinus steigt in den Sattel und begibt sich an seinen Platz, etwa zwei Meter
vor den elf Berittenen.
Nun werden die Kreuze gebracht.
Die der beiden Räuber sind kürzer, das Kreuz Jesu viel länger. Der Längsbalken
ist mindestens vier Meter lang, würde ich sagen. Ich sehe, daß man das Kreuz
schon fertig bringt.
Ich habe darüber gelesen, als ich
noch lesen konnte... also schon vor Jahren, daß man das Kreuz erst auf der
Höhe des Golgotha zusammengefügt hätte, und daß die Verurteilten nur die
beiden Balken zusammengebunden auf den Schultern getragen hätten. Das ist
schon möglich, aber ich sehe ein richtiges Kreuz, massiv und an der
Verbindungsstelle der beiden Balken mit Nägeln und Bolzen verstärkt. Und
wirklich, wenn man bedenkt, daß das Kreuz dazu bestimmt war, ein beachtliches
Gewicht wie den Körper eines Erwachsenen zu tragen und den Krämpfen der
Sterbenden standzuhalten, dann wird man verstehen, daß es nicht erst auf dem
engen und unbequemen Gipfel des Kalvarienberges zusammengefügt werden konnte.
Bevor sie Jesus das Kreuz geben,
hängen sie ihm die Tafel mit der Inschrift: «Jesus von Nazareth, der König der
Juden» um den Hals, und die Schnur, an der die Tafel hängt, verfängt sich in
der Krone, die sich verschiebt und kratzt, wo noch keine Kratzer sind, wieder
an anderen Stellen in den Kopf eindringt und neue Blutungen und neuen Schmerz
bereitet. Die Leute lachen in sadistischer Freude, höhnen und fluchen.
253
Nun sind sie bereit. Longinus
gibt den Befehl zum Abmarsch. «Zuerst der Nazarener, und hinter ihm die beiden
Räuber; eine Decurie rings um jeden, die anderen sieben Decurien an den Seiten
zur Verstärkung. Der Soldat, der es zuläßt, daß einer der Verurteilten tödlich
verletzt wird, wird sich dafür verantworten müssen.»
Jesus geht die drei Stufen von
der Vorhalle zum Platz hinunter. Auf einmal ist deutlich zu sehen, daß er sehr
geschwächt ist. Er wankt, als er die Stufen hinuntersteigt, denn das Kreuz,
das auf der wunden Schulter liegt, behindert ihn beim Gehen, ebenso die Tafel
mit der Inschrift, die hin- und herpendelt und am Hals scheuert, und die
Erschütterungen, die das Aufschlagen des Längsbalkens auf den Stufen und den
Unebenheiten des Bodens verursacht.
Die Juden lachen, als sie
bemerken, daß Jesus wie ein Betrunkener wankt, und rufen den Soldaten zu:
«Stoßt ihn an, bringt ihn zu Fall. In den Staub mit dem Gotteslästerer!»
Aber die Soldaten tun nur, was
ihre Pflicht ist, das heißt, sie befehlen dem Verurteilten, sich in die Mitte
der Straße zu begeben und zu gehen. Longinus gibt dem Pferd die Sporen, und
der Zug setzt sich langsam in Bewegung.
Longinus würde sich gerne beeilen
und den kürzesten Weg nach Golgotha einschlagen, da er an der körperlichen
Widerstandskraft des Verurteilten zweifelt. Aber der entfesselte Pöbel – und
Pöbel ist noch gelinde gesagt – will es nicht so. Einige der Schlaueren sind
bereits vorausgeeilt zur Weggabelung, wo die Straße auf der einen Seite zur
Mauer und auf der anderen in die Stadt führt. Sie schreien und lärmen, als sie
sehen, daß Longinus an der Mauer entlang gehen will. «Das darfst du nicht! Das
darfst du nicht! Das Gesetz schreibt vor, daß die Verurteilten von der Stadt
gesehen werden müssen, in der sie gesündigt haben.» Die Juden am Ende des
Zuges verstehen, daß man dort vorne versucht, sie um ihr Recht zu betrügen,
und vereinigen ihr Geschrei mit dem der Genossen.
Um des lieben Friedens willen
biegt Longinus in die Straße ein, die in die Stadt führt, und reitet ein Stück
auf ihr weiter. Gleichzeitig aber gibt er einem Decurio ein Zeichen, zu ihm zu
kommen (ich sage Decurio, denn es ist der Offizier; aber vielleicht ist er,
was wir einen Ordonnanzoffizier nennen würden) und sagt leise etwas zu ihm.
Dieser reitet im Trab nach hinten und übermittelt dem Anführer jeder Decurie
den Befehl. Dann teilt er Longinus mit, daß es ausgeführt ist, und begibt sich
wieder an seinen vorigen Platz in der Reihe hinter Longinus.
Jesus geht keuchend weiter. Jedes
Loch in der Straße ist eine Falle für seinen unsicheren Fuß und eine Tortur
für seine verwundete Schulter und sein dornengekröntes Haupt, auf das eine
ungewöhnlich heiße Sonne senkrecht herunterbrennt, die sich zwar ab und zu
hinter einer bleiernen Wolkenwand verbirgt, aber auch dann nicht weniger
brennt. Jesus glüht
254
vor Anstrengung, Fieber und
Hitze. Ich glaube, daß auch das grelle Licht und der Lärm ihm Qualen bereiten.
Da er sich nicht die Ohren verstopfen kann, um dieses durchdringende Geschrei
nicht zu hören, schließt er die Augen halb, um die in der Sonne blendende
Straße nicht zu sehen... Aber er muß sie immer wieder öffnen, da er über
Steine und Löcher stolpert; und jedes Stolpern ist ein neuer Schmerz, denn
durch den Ruck stößt das Kreuz an die Krone, verschiebt sich auf der wunden
Schulter, vergrößert die Wunde und vermehrt den Schmerz.
Die Juden können Jesus nicht mehr
direkt schlagen. Trotzdem treffen ihn immer noch Steine und Stockschläge.
Steine besonders auf den kleinen, von Menschen wimmelnden Plätzen. Stockhiebe
an den Biegungen der engen, wegen der ständigen Höhenunterschiede der Stadt
einmal eine, dann wieder drei oder mehr Stufen hinauf- oder hinunterführenden
Gassen. An solchen Stellen kommt der Zug nur langsam voran, und es gibt immer
wieder einen Eifrigen, der den römischen Lanzen trotzt und das Meisterwerk der
Tortur, zu dem Jesus geworden ist, mit einem Stoß nachbessern will.
Die Soldaten verteidigen ihn, so
gut sie können. Aber weil sie ihn verteidigen, quälen sie ihn auch wieder;
denn mit den langen Schäften der auf so engem Raum geschwungenen Lanzen stoßen
sie ihn und machen ihn straucheln. An einer bestimmten Stelle jedoch führen
die Soldaten ein tadelloses Manöver durch, und trotz des Geschreis und der
Drohungen schwenkt der Zug in eine Straße ein, die abwärts und direkt zur
Mauer führt und den Weg zur Stätte der Hinrichtung stark abkürzt.
Jesus keucht immer mehr. Der
Schweiß furcht sein Antlitz zusammen mit dem Blut, das aus den Wunden der
Dornenkrone fließt. Der Staub bleibt an dem nassen Antlitz kleben und
sprenkelt es mit eigenartigen Flecken; denn nun ist es auch windig. Windstöße
in regelmäßigen, langen Abständen, in denen der zuvor aufgewirbelte Staub
wieder zu Boden sinkt, wehen ihm Schmutz in Augen und Mund.
Am Gerichtstor wartet bereits
eine große Menschenmenge. Einige besonders Vorsorgliche haben sich längst
Plätze gesichert, von denen aus sie alles überblicken können. Doch kurz bevor
Jesus das Tor erreicht, sieht es schon so aus, als ob er stürzen würde. Nur
das rasche Eingreifen eines Soldaten, auf den er beinahe gefallen wäre,
verhindert, daß Jesus zusammenbricht. Der Mob schreit und brüllt: «Laß ihn
doch! Er hat zu allen gesagt: "Erhebt euch." Nun soll er selbst aufstehen ...»
Jenseits der Tores ist ein Bach
mit einer kleinen Brücke. Eine neue Mühe für Jesus, über diese wackligen
Bretter zu gehen, an denen der lange Balken des Kreuzes immer wieder und noch
stärker aufschlägt. Und er wird wieder zur Zielscheibe für die Wurfgeschosse
der Juden. Die Steine aus dem Bach fliegen durch die Luft und treffen den
armen Märtyrer...
Nun beginnt der Aufstieg zum
Kalvarienberg. Eine öde Straße ohne eine Spur von Schatten und voll
herumliegender Steine führt direkt hinauf.
255
Hierüber habe ich gelesen, als
ich noch lesen konnte, daß der Kalvarienberg nur einige Meter hoch gewesen
sein soll. Mag sein. Gewiß, er ist kein Berg, aber immerhin ein Hügel, und
bestimmt nicht niedriger als der Kreuzberg in Florenz, auf dem die Kirche S.
Miniato steht, im Vergleich zu den Straßen am Arno. Mancher wird sagen: «Oh,
der ist ja nicht hoch.» Ja, für jemanden, der gesund und kräftig ist, ist es
eine Kleinigkeit, dort hinaufzusteigen. Aber man braucht nur ein schwaches
Herz zu haben, um zu spüren, ob es eine Kleinigkeit ist oder nicht... Ich
weiß, daß ich nach meiner noch relativ geringfügigen Herzerkrankung diesen Weg
nicht mehr ohne große Mühe und ohne immer wieder stehenzubleiben gehen konnte,
obwohl ich keine Last auf den Schultern zu tragen hatte. Ich bin überzeugt,
daß Jesus ein sehr schwaches Herz hatte nach der Geißelung und dem
Blutschweiß... abgesehen von allem anderen.
Jesus leidet daher beim Aufstieg
furchtbar unter der Last des Kreuzes, das so groß ist und so schwer sein
muß...
Er kommt zu einem herausragenden
Stein, und da er keine Kraft mehr hat, den Fuß hoch genug zu heben, stolpert
er und fällt auf das rechte Knie. Es gelingt ihm jedoch, sich mit der linken
Hand abzustützen. Die Menge schreit vor Freude... Jesus steht wieder auf und
geht weiter. Immer gebeugter, keuchender, glühender und fiebriger...
Die Tafel mit der Aufschrift
schaukelt vor ihm hin und her und hindert ihn am Sehen; das lange Kleid
schleift nun, da er so gebeugt geht, vor ihm auf dem Weg und hindert ihn am
Gehen. Er stolpert wieder, fällt auf beide Knie und verletzt sich noch einmal
da, wo er schon verletzt ist. Das Kreuz entgleitet seinen Händen und fällt,
nachdem es zuvor hart auf seinen Rücken aufgeschlagen ist, auf den Boden, so
daß er sich bücken, es wieder aufheben und mühsam auf seine Schulter laden
muß. Während er dies tut, sieht man deutlich die durch das Scheuern des
Kreuzes auf der rechten Schulter erzeugte Wunde. Es hat die vielen Wunden der
Geißelung erneut aufgerissen und eine einzige daraus gemacht, aus der nun
Sekret und Blut fließen, so daß auf der weißen Tunika an dieser Stelle ein
großer Fleck ist. Die Leute klatschen sogar und freuen sich, daß er so schlimm
gefallen ist...
Longinus treibt zur Eile an, und
die Soldaten zwingen den armen Jesus durch Schläge mit der Breitseite ihrer
Klingen zum Weitergehen. Der Zug kommt aber immer langsamer voran, trotz aller
Bemühungen.
Jesus sieht wirklich aus wie ein
Betrunkener, da er so sehr schwankt und einmal an die rechte, dann wieder an
die linke Reihe der Soldaten stößt, obwohl er die ganze Breite der Straße für
sich hat. Und die Leute sehen es und schreien: «Ihm ist seine Lehre zu Kopf
gestiegen. Seht nur, wie er schwankt!» Und andere, nicht gewöhnliches Volk,
sondern Priester und Schriftgelehrte höhnen: «Nein. Das sind die Folgen der
Feste im Haus des Lazarus. Waren sie schön? Nun wirst du unsere Speise zu dir
nehmen...» und ähnliches mehr.
Longinus, der sich ab und zu
umwendet, fühlt Mitleid und gebietet eine kurze Rast. Er wird so sehr vom
Pöbel beschimpft, daß er den Soldaten
256
befiehlt, anzugreifen. Die feige
Menge weicht schreiend vor den aufblitzenden drohenden Lanzen zurück und
zerstreut sich über den Berg.
Und nun sehe ich unter den
wenigen Zurückgebliebenen hinter einem Steinhaufen, vielleicht einer
eingefallenen Mauer, die Gruppe der Hirten erscheinen. Untröstlich und
verwirrt, staubig und mit zerrissenen Gewändern ziehen sie mit ihren Blicken
den Blick des Meisters an. Jesus wendet das Haupt und sieht sie... Er schaut
sie an, als wären es die Gesichter von Engeln, scheint ihre Tränen zu trinken
und Kraft aus ihnen zu schöpfen und lächelt... Der Befehl zum Weitergehen wird
gegeben, und Jesus kommt direkt an ihnen vorbei und hört ihr klagendes Weinen.
Mühevoll wendet er sein Haupt unter dem Joch des Kreuzes und lächelt noch
einmal...
Sein Trost... Zehn Gesichter,
eine Pause in der brennenden Sonne...
Und gleich darauf der Schmerz des
dritten und gänzlichen Falles. Dieses Mal stürzt Jesus nicht, weil er
gestolpert ist, sondern weil seine Kräfte ihn verlassen, weil er erschöpft
ist. Er fällt der Länge nach vornüber mit dem Gesicht auf die Steine und
bleibt im Staub liegen, unter dem Kreuz. Die Soldaten versuchen, ihn wieder
aufzurichten. Doch da er wie tot daliegt, gehen sie und erstatten dem Centurio
Bericht. Als sie zurückkehren, ist Jesus wieder zu sich gekommen. Mit Hilfe
zweier Soldaten, von denen der eine das Kreuz aufhebt und der andere den
Verurteilten beim Aufstehen stützt, nimmt er langsam wieder seinen Platz ein.
Aber er ist völlig am Ende.
«Sorgt dafür, daß er erst am
Kreuz stirbt!» schreit die Menge.
«Wenn ihr ihn vorher sterben
laßt, werdet ihr euch beim Prokonsul verantworten müssen. Denkt daran, der
Schuldige muß lebend die Richtstätte erreichen», sagen die Häupter der
Schriftgelehrten zu den Soldaten.
Diese werfen ihnen bitterböse
Blicke zu, sagen aber nichts, wie es die militärische Disziplin vorschreibt.
Longinus jedoch fürchtet ebenso
wie die Juden, daß Christus unterwegs sterben könnte, und er will keine
Unannehmlichkeiten. Ohne daß ihn jemand daran erinnern müßte, weiß er als
Verantwortlicher für die Hinrichtung, was er zu tun hat, und ergreift die
nötigen Maßnahmen. Er sorgt vor, sehr zur Verwirrung der Juden, die schon
vorausgeeilt und von allen Seiten des Berges zusammengelaufen sind und
schwitzend und zerkratzt von dem kümmerlichen Dorngestrüpp dieses kahlen,
sonnenverbrannten Berges über die vielen herumliegenden Steine fallen – es
sieht aus wie die Schutthalde Jerusalems. Aber ihre einzige Sorge ist es,
weder einen Seufzer, noch einen schmerzerfüllten Blick, noch eine vielleicht
unbewußte Geste des Leidens zu verpassen, und ihre einzige Angst ist es, daß
es ihnen nicht gelingen könnte, einen guten Platz zu bekommen. Longinus
befiehlt also, den längeren Weg einzuschlagen, der wie eine Spirale den Berg
hinaufführt und daher viel weniger steil ist.
257
Dieser Pfad ist durch die häufige
Benutzung zu einem anscheinend ziemlich bequemen Weg geworden. Die beiden Wege
kreuzen sich etwa auf halber Höhe des Berges zum ersten Mal. Aber ich sehe,
daß der direkte Weg sich weiter oben noch viermal mit dem anderen kreuzt, der
sehr viel weniger steil, aber dafür viel länger ist. Und auf diesem steigen
Leute hinauf, die sich nicht beteiligen an dem unwürdigen Spektakel der
Besessenen, die Jesus folgen, um sich an seinem Schmerz zu weiden. Es sind
hauptsächlich verschleierte weinende Frauen und ein wirklich sehr spärliches
Grüppchen Männer, die aber den Frauen weit vorausgehen und dann den Blicken
entschwinden, als der Weg in einer Biegung um den Berg führt. An dieser Stelle
hat der sonderbar geformte Kalvarienberg -dessen eine Seite sich etwas nach
außen wölbt, während die andere steil abfällt – eine Art Spitze. Die Männer
verschwinden hinter dieser Felsspitze, und ich verliere sie aus den Augen.
Die Leute, die Jesus gefolgt
sind, erheben ein zorniges Geschrei. Für sie war es viel schöner, ihn fallen
zu sehen. Unter obszönen Beschimpfungen des Verurteilten und seiner Begleiter
folgt ein Teil von ihnen weiterhin dem Zug, die übrigen gehen, laufen fast den
Rest des steilen Weges hinauf, um die erlittene Enttäuschung durch einen
besonders guten Platz auf dem Gipfel wettzumachen.
Die Frauen, die weinend
weitergegangen sind, drehen sich um, als sie das Geschrei hören, und sehen,
daß der Zug auf sie zukommt. Sie bleiben auf der Bergseite stehen aus Furcht,
von den wütenden Juden den Abhang hinuntergestoßen zu werden, und ziehen ihre
Schleier noch tiefer über das Gesicht. Eine ist dabei, die das Gesicht wie
eine Muselmanin verhüllt hat und nur die rabenschwarzen Augen sehen läßt. Sie
sind sehr reich gekleidet und haben zu ihrem Schutz einen robusten alten Mann
bei sich, den ich nicht erkennen kann, da auch er ganz in seinen Mantel
gehüllt ist. Ich sehe nur den langen, mehr weißen als schwarzen Bart auf dem
dunklen Mantel.
Als Jesus bei ihnen ankommt,
weinen sie lauter und verneigen sich tief zum Gruß. Dann gehen sie mutig auf
ihn zu. Die Soldaten wollen sie mit ihren Speeren zurückdrängen. Aber die wie
eine Muselmanin Verhüllte lüftet einen Augenblick den Schleier vor dem
Offizier, der sofort herbeigeritten ist um zu sehen, was es denn nun schon
wieder für ein Hindernis gibt, und dieser erteilt den Befehl, sie
durchzulassen. Ich kann weder das Gesicht noch das Kleid erkennen, denn das
Aufheben des Schleiers ist blitzartig erfolgt, und das Kleid ist verborgen
unter einem schweren, bodenlangen, von oben bis unten mit mehreren Spangen
geschlossenen Mantel. Die Hand, die hervorkommt, um den Schleier zu lüften,
ist weiß und schön. Sie und die tiefschwarzen Augen sind das einzige, was man
von dieser hochgewachsenen Dame sieht, die gewiß einflußreich ist, da ihr der
Adjutant des Longinus so prompt gehorcht.
258
Weinend nähern sie sich Jesus und
knien zu seinen Füßen nieder, während er keuchend stehenbleibt... und trotzdem
lächelt er den barmherzigen Frauen und dem alten Mann zu, der nun sein Gesicht
zeigt, so daß ich Jonathan erkenne. Ihn lassen die Wachen jedoch nicht
passieren, nur die Frauen. Eine von ihnen ist Johanna des Chuza. Es geht ihr
viel schlechter als damals, da sie dem Sterben nahe war. Rot sind nur die
Spuren der Tränen, sonst ist ihr Antlitz schneeweiß, und die sanften schwarzen
Augen sind so getrübt, daß sie manchen sehr dunkelvioletten Blumen gleichen.
In den Händen hält sie eine silberne Amphore und bietet sie Jesus an. Aber er
lehnt ab. Zudem keucht er so sehr, daß er nicht einmal trinken könnte. Mit der
linken Hand wischt er sich den Schweiß und das Blut von den Augen, das ihm aus
den von den mühsamen Schlägen seines Herzens angeschwollenen Adern über die
bläulichen Wangen und den Hals rinnt und das Kleid an der Brust durchtränkt.
Eine andere Frau hat eine junge
Dienerin dabei, die ein Kästchen trägt. Sie öffnet es, nimmt ein feines
viereckiges Leinentuch heraus und reicht es dem Erlöser. Das nimmt er an. Da
er es mit nur einer Hand nicht auf sein Gesicht drücken kann, hilft ihm die
Mitleidige und achtet darauf, die Dornenkrone nicht zu berühren. Jesus drückt
das frische Linnen eine ganze Weile auf sein armes Antlitz, als ob es eine
große Wohltat für ihn wäre. Dann gibt er das Tuch zurück und sagt: «Danke,
Johanna, danke Nike, Sara ... Marcella... Elisa... Lydia... Anna ...
Valeria... und du... Aber weint nicht ... über mich... Töchter Jerusalems ...
sondern über eure Sünden... und die Sünden eurer Stadt... Sei glücklich...
Johanna... daß du keine... Kinder mehr haben wirst... Siehst du ... es ist
Barmherzigkeit Gottes... keine Kinder zu haben ... damit sie nicht ... unter
diesem hier... leiden müssen... Auch du... Elisa ... Besser so... als unter
den Gottesmördern... Und ihr, Mütter ... weint über... eure Kinder... denn
diese Stunde... wird nicht unbestraft ... vorübergehen... Und was für eine
Strafe... da der Unschuldige... solches hat erleiden müssen... Dann werdet ihr
weinen ... daß ihr empfangen habt... Wahrlich, ich sage euch... glücklich jene
... die dann... als erste... unter den Trümmern... fallen... Ich segne euch...
Geht nach Hause... Betet... für mich. Leb wohl, Jonathan... führe sie weg ...»
Begleitet von dem lauten Klagen
der weinenden Frauen und den Verwünschungen der Juden, geht Jesus weiter.
Jesus ist wieder schweißgebadet.
Auch die Soldaten und die beiden anderen Verurteilten schwitzen, denn die
Sonne dieses gewitterschwülen Tages brennt wie Feuer, und das glühend heiße
Gestein des Berges verstärkt noch die Sonnenhitze. Was diese Sonne auf dem
Wollkleid Jesu über den Wunden der Geißelung sein muß, kann man sich
vorstellen. Es muß furchtbar sein... Aber er klagt nicht. Nur, obwohl der Weg
viel weniger steil ist und hier auch nicht, wie auf dem anderen, die für seine
nur noch schleifenden Füße so gefährlichen losen Steine herumliegen, schwankt
259
Jesus immer mehr, stößt wieder
gegen die Reihen der Soldaten auf beiden Seiten und geht immer tiefer gebeugt.
Sie versuchen ihm zu helfen,
binden ihm einen Strick um die Mitte und halten die beiden Enden wie einen
Zügel. Ja, das hält ihn auf den Füßen. Aber es erleichtert ihm nicht die Last.
Im Gegenteil, der Strick zieht das Kreuz auf der Schulter hin und her, und es
stößt an die Dornenkrone, die nun aus der Stirn Jesu eine blutende Tätowierung
gemacht hat. Außerdem scheuert der Strick am Gürtel, wo so viele Wunden sind,
die nun sicher wieder aufbrechen, denn die weiße Tunika färbt sich blaßrot.
Obwohl sie ihm helfen wollen, bereiten sie ihm nur noch größere Schmerzen.
Der Weg führt weiter, um den Berg
herum und beinahe wieder bis zu der steilen Straße vorn. Dort steht Maria mit
Johannes. Wahrscheinlich hat Johannes Maria an diese schattige Stelle hinter
dem Berghang geführt, um sie ein wenig zu Kräften kommen zu lassen. Es ist der
steilere Teil des Berges, und nur dieser Weg führt hier um ihn herum. Sonst
steigt der Hang steil an und fällt ebenso steil ab. Deshalb haben die
Grausamen ihn auch gemieden. Dort ist es schattig, denn es ist wohl die
Nordseite, und Maria, die sich an den Berg lehnt, ist vor der Sonne geschützt.
Sie steht zwar, stützt sich aber auf das Erdreich und ist völlig erschöpft.
Auch sie keucht und ist blaß wie der Tod in ihrem dunkelblauen, fast schwarzen
Gewand.
Johannes betrachtet sie mit
untröstlichem Mitleid. Auch er hat wie ein Kranker jede Spur von Farbe
verloren und ist erdfahl, mit zwei müden, verstörten Augen, ungekämmt und mit
eingefallenen Wangen. Die anderen Frauen, Maria und Martha des Lazarus, Maria
des Alphäus und Maria des Zebedäus, Susanna von Kana, die Hauswirtin und
andere, die ich nicht kenne, stehen alle mitten auf der Straße und halten nach
dem Erlöser Ausschau. Als sie Longinus kommen sehen, eilen sie zu Maria, um es
ihr mitzuteilen. Maria, von Johannes an einem Ellbogen gestützt, verläßt –
majestätisch in ihrem Schmerz – die Bergwand und begibt sich entschlossen in
die Mitte der Straße. Beim Herannahen des Longinus tritt sie ein wenig zur
Seite. Dieser blickt von seinem Rappen herab auf die bleiche Frau und ihren
blonden Begleiter, der dieselben sanften himmelblauen Augen hat wie sie, und
schüttelt den Kopf im Vorüberreiten, gefolgt von den elf Berittenen.
Maria versucht, zwischen den zu
Fuß gehenden Soldaten durchzukommen. Aber diese sind erhitzt und haben es
eilig und versuchen, sie mit den Speerschäften abzuhalten, um so mehr, als
Steine heranschwirren als Protest gegen so viel Mitleid. Es sind die Juden,
die noch über den durch die frommen Frauen verursachten Aufenthalt verärgert
sind und sagen: «Schnell! Morgen ist Passah. Alles muß vor dem Abend zu Ende
sein! Ihr Komplizen! Ihr Verächter unseres Gesetzes! Ihr Unterdrücker! Tod den
Invasoren und ihrem Christus! Sie lieben ihn! Und wie sie ihn lieben!
260
Aber nehmt ihn euch nur! Bringt
ihn in eure verfluchte Stadt! Wir lassen ihn euch! Wir wollen ihn nicht! Das
Aas dem Aas! Der Aussatz den Aussätzigen!»
Longinus hat genug von dieser
schimpfenden Meute und gibt dem Pferd die Sporen, gefolgt von den zehn
Lanzenreitern, so daß die Leute zum zweiten Mal fliehen. Während er dies tut,
bemerkt er einen Karren, der wohl von den Gärten am Fuß des Berges
heraufgekommen ist und mit seiner Ladung Salat wartet, bis die Menge vorüber
und der Weg zur Stadt frei ist. Mir scheint, daß auch etwas Neugier den
Cyrenäer und seine beiden Söhne dort hinaufgeführt hat, denn eigentlich hätten
sie diesen Weg nicht zu nehmen brauchen. Die beiden Söhne, die sich auf das
Grünzeug gelegt haben, schauen den fliehenden Juden lachend nach. Der Mann,
ein sehr kräftiger, etwa fünfundvierzigjähriger Mann, steht neben seinem
erschrockenen Eselchen, das zurückzuweichen versucht, und betrachtet
aufmerksam den Zug.
Longinus mustert ihn, denkt, daß
er ihm gerade recht kommt und befiehlt: «Mann, komm her!» Der Cyrenäer tut,
als habe er nichts gehört. Aber mit Longinus ist nicht zu spassen. Er
wiederholt den Befehl in einem Ton, daß der Mann einem seiner Söhne die Zügel
zuwirft und dem Centurio entgegengeht.
«Siehst du den Mann dort?» fragt
er. Und während er es sagt, dreht er sich um, zeigt auf Jesus und sieht, wie
Maria die Soldaten anfleht, sie durchzulassen. Er hat Mitleid mit ihr und
ruft: «Laßt die Frau passieren!» Dann sagt er wieder zu dem Cyrenäer: «Er kann
so beladen nicht weitergehen. Du bist kräftig. Nimm das Kreuz und trage es ihm
bis zum Gipfel.»
«Ich kann nicht... Ich habe den
Esel... Er ist bockig... Die Jungen können ihn nicht halten ...»
Aber Longinus entgegnet: «Geh,
wenn du nicht den Esel verlieren und zwanzig Stockschläge Strafe bekommen
willst.»
Der Cyrenäer wagt es nicht, sich
weiterhin zu weigern. Er ruft den Jungen zu: «Geht rasch nach Hause und sagt,
daß ich bald nachkomme», und geht zu Jesus.
Er erreicht ihn, als Jesus sich
gerade der Mutter zuwendet, die er erst jetzt auf sich zukommen sieht, da er
tief gebeugt und mit fast geschlossenen Augen geht und daher kaum etwas sieht,
und ruft: «Mama!»
Es ist das erste Wort seit Beginn
seiner Tortur, das sein unendliches Leiden zum Ausdruck bringt. Denn dieser
Aufschrei enthält seinen ganzen furchtbaren geistigen, seelischen und
körperlichen Schmerz. Es ist der gequälte, herzzerreißende Schrei eines
Kindes, das allein sterben muß, unter Leiden und schlimmsten Martern... und
das sich schließlich sogar vor seinen eigenen Atemzügen fürchtet. Es ist die
Klage eines fiebernden, von bösen Alpträumen gequälten Kindes... Und es
verlangt nach der
261
Mutter, der Mama, denn nur ihre
kühlenden Küsse lindern die Hitze des Fiebers, nur ihre Stimme verjagt die
Gespenster, und nur ihre Umarmung läßt den Tod weniger furchtbar erscheinen...
Maria greift mit der Hand ans
Herz, als ob es von einem Dolch durchbohrt worden wäre, und wankt leicht. Doch
dann erholt sie sich, beschleunigt ihren Schritt und ruft, während sie mit
ausgestreckten Armen zu ihrem gequälten Jesus eilt: «Sohn!» Sie sagt es so,
daß es jedem das Herz zerreißt, der nicht das Herz einer Hyäne hat.
Ich sehe, daß sich auch unter den
Römern Mitleid regt... und dabei sind es doch Soldaten, denen das Töten nicht
fremd ist und die von Narben bedeckt sind... Aber die Worte: «Mama!», und:
«Sohn!», sind immer dieselben und werden von allen, die nicht schlimmer als
Hyänen sind, gesprochen und verstanden. Und sie erwecken daher überall
Mitleid.
Auch der Cyrenäer empfindet
dieses Mitleid... und als er sieht, daß Maria ihren Sohn nicht umarmen kann,
da das Kreuz sie daran hindert, und daß sie die ausgestreckten Arme in
Anbetracht dieser Unmöglichkeit wieder sinken läßt – sie sieht ihn nur an und
will ihm zulächeln mit ihrem Märtyrerlächeln, um ihm Mut zu machen, während
ihre bebenden Lippen ihre Tränen trinken; und er wendet ihr das Haupt unter
dem Joch des Kreuzes zu und versucht ebenfalls, sie anzulächeln und ihr einen
Kuß seiner armen, wunden, zerschlagenen und durch das Fieber aufgesprungenen
Lippen zu schicken – da beeilt sich der Cyrenäer, ihm das Kreuz abzunehmen,
und er tut es mit der Umsicht eines Vaters, um nicht an die Dornenkrone zu
stoßen oder die Wunden zu berühren.
Aber Maria kann ihren Sohn nicht
küssen... Schon die geringste Berührung wäre eine Tortur für den gemarterten
Körper, und sie verzichtet darauf. Und zudem... die heiligsten Gefühle haben
eine tiefe Scham. Sie verlangen Ehrfurcht oder zumindest Mitleid. Hier sind
sie von Neugier und Verachtung umgeben. So küssen sich nur die beiden
angstvollen Seelen.
Der Zug setzt sich wieder in
Bewegung unter dem Druck des wütenden Volkes, das von hinten drängt und die
Mutter von ihrem Sohn trennt. Sie wird an den Berg gedrückt und ist dem Spott
eines ganzes Volkes ausgesetzt... Nun geht hinter Jesus der Cyrenäer mit dem
Kreuz. Jesus fällt das Gehen jetzt, da er von dieser Last befreit ist,
leichter. Er keucht zwar stark und legt oft die Hand aufs Herz, als hätte er
einen großen Schmerz, eine Wunde dort in der Herzgegend, aber er kann nun, da
seine Hände nicht mehr gebunden sind, die ins Gesicht hängenden, von Schweiß
und Blut verklebten Haare hinter die Ohren zurückstreichen, um die Luft in
seinem blutleeren Gesicht zu spüren, und die Kordel am Hals lösen, um leichter
zu atmen. Er kann besser gehen.
Maria hat sich mit den Frauen
zurückgezogen. Sie schließt sich dem Zug an, als dieser vorüber ist, erreicht
über eine Abkürzung den Gipfel des Berges und trotzt allen Schmähungen des
kannibalischen Pöbels.
262
Nun, da Jesus frei ist, geht es
rascher mit der letzten Wegstrecke um den Berg, und der Gipfel voll lärmender
Leute ist schon nahe.
Longinus hält sein Pferd an und
befiehlt, daß alle, ohne Ausnahme, weiter nach unten zurückgedrängt werden
sollen, damit der Gipfel, der Ort der Hinrichtung, frei wird. Eine halbe
Centurie führt den Befehl aus, eilt auf den Platz und verjagt mitleidlos alle,
die sich dort befinden, unter Zuhilfenahme der Schwerter und Lanzen. Unter dem
Hagel der Hiebe und Schläge fliehen die Juden vom Gipfel und würden nun gerne
auf dem ebenen Platz weiter unten stehenbleiben. Aber die, die dort zuerst
waren, lassen das nicht zu. So entstehen wilde Raufereien unter dem Volk, das
sich wie irrsinnig gebärdet.
Wie schon einmal gesagt, hat der
Gipfel des Kalvarienberges die Form eines ungleichen Trapezes, das auf der
einen Seite etwas höher ist und von wo der Berg über die Hälfte seiner Höhe
steil abfällt. Auf diesem kleinen Platz sind schon die drei tiefen Löcher
vorbereitet und mit Ziegeln oder Schiefer ausgekleidet, eben eigens zu diesem
Zweck hergerichtet. Daneben liegen Steine und Erde, um damit den Kreuzen Halt
zu geben. Andere Löcher hat man voller Steine gelassen. Man versteht, daß
diese von Fall zu Fall ausgeräumt werden, je nach der notwendigen Anzahl.
Unter dem trapezförmigen Gipfel
befindet sich auf der Seite, wo der Berg nicht so steil ist, eine leicht
abfallende Terrasse, die einen zweiten kleinen Platz bildet. Von diesem führen
zwei breite Wege um den Gipfel, so daß dieser isoliert und auf allen Seiten
ungefähr zwei Meter höher liegt.
Die Soldaten, die die
Menschenmenge vom Gipfel vertrieben haben, legen die Streitigkeiten durch die
Überzeugungskraft ihrer Lanzenschäfte bei und schaffen Platz, damit der Zug
das letzte Stück Weg ohne Hindernisse zurücklegen kann; und sie bilden einen
Schutzwall, während die drei Verurteilten, umgeben von den Reitern und gefolgt
von der anderen halben Centurie an die Stelle gelangen, wo alle stehenbleiben
müssen: am Fuß der natürlichen erhöhten Bühne, die der Gipfel des Golgotha
ist.
Während dies geschieht, bemerke
ich die Marien und etwas hinter ihnen Johanna des Chuza mit vier der Frauen
von zuvor. Die übrigen haben sich zurückgezogen. Sie müssen es allein getan
haben, denn Jonathan steht hinter seiner Herrin. Die, die wir Veronika nennen
und die Jesus Nike genannt hat, ist nicht mehr da, und auch ihre Dienerin
nicht. Auch die ganz Verschleierte, der die Soldaten gehorcht haben, ist nicht
mehr da. Ich sehe Johanna, die alte Elisa, Anna und zwei, die ich nicht genau
erkennen kann. Hinter diesen Frauen und den Marien sehe ich Joseph und Simon
des Alphäus und Alphäus der Sara mit der Gruppe der Hirten. Sie haben sich
gegen alle verteidigt, die sie unter Beschimpfungen vertreiben wollten, und
die durch die Liebe und den Schmerz vervielfachten Kräfte dieser Männer und
die angewendete Gewalt haben gesiegt. So bilden sie nun einen Halbkreis, und
die feigen Juden beschränken sich darauf, ihnen schreiend zu drohen
263
und die Fäuste zu schütteln. Mehr
nicht, denn die Stöcke der Hirten sind knotig und schwer, und an Kraft und
Zielgenauigkeit fehlt es diesen mutigen Männern auch nicht. Und was ich sage,
ist nicht übertrieben. Es braucht schon wirklichen Mut, damit so wenige, die
noch dazu als Galiläer oder Anhänger des Galiläers bekannt sind, sich gegen
eine ganze feindselige Volksmenge behaupten. Die einzige Stelle auf dem ganzen
Kalvarienberg, wo man Christus nicht lästert!
Der Berg gleicht auf den drei
Seiten, die nicht so steil abfallen, einem Ameisenhaufen. Den gelben, nackten
Boden kann man nicht mehr sehen. In der Sonne, die einmal scheint und dann
wieder verschwindet, sieht es aus wie eine Wiese voll bunter Blumen, so dicht
drängen sich die farbigen Kopfbedeckungen und Mäntel dieser Sadisten. Auf der
anderen Seite des Baches, auf der Straße noch eine Volksmenge; hinter der
Mauer und auf den Terrassen in der Nähe ebenfalls überall Menschen. Die übrige
Stadt leer... verlassen... schweigend. Alles ist hier. Die ganze Liebe und der
ganze Haß, das ganze Schweigen, das liebt und verzeiht, und der ganze Lärm,
der haßt und beschimpft.
Während die mit der Hinrichtung
beauftragten Männer ihr Werkzeug vorbereiten und die Löcher vollends
entleeren, während die Verurteilten in der Mitte ihres Vierecks warten,
beschimpfen die Juden, die sich auf die entgegengesetzte Seite geflüchtet
haben, die Marien. Auch die Mutter beleidigen sie: «Tod den Galiläern! Tod!
Galiläer! Galiläer! Verfluchte! Tod dem galiläischen Gotteslästerer! Schlagt
auch den Leib, der ihn getragen hat, ans Kreuz! Weg mit den Schlangen, die
Dämonen gebären! Zum Tod! Reinigt Israel von den Frauen, die sich mit dem Bock
vereinigt haben... !»
Longinus, der vom Pferd gestiegen
ist, wendet sich um und sieht die Mutter. Er befiehlt, diese Pöbeleien zu
beenden... Die halbe Centurie hinter den Verurteilten geht auf das Gesindel
los und macht auch den zweiten Platz frei, während die Juden über den Berg
fliehen und sich dabei gegenseitig stoßen und treten. Auch die anderen
Soldaten steigen vom Pferd, und einer nimmt die elf Pferde und das des
Centurio und führt sie in den Schatten.
Der Centurio begibt sich zum
Gipfel. Johanna des Chuza tritt vor und hält ihn an. Sie gibt ihm die Amphore
und eine Börse. Dann zieht sie sich weinend zurück und geht mit den anderen an
den äußersten Rand des Berges.
Oben ist alles bereit. Die
Verurteilten werden hinaufgeführt. Jesus kommt noch einmal an der Mutter
vorbei, die aufstöhnt, es jedoch zu verbergen versucht und sich den Mantel vor
den Mund hält. Die Juden sehen es und lachen und spotten darüber.
Johannes, der sanfte Johannes,
der einen Arm um Maria gelegt hat, um sie zu stützen, dreht sich mit
zornblitzenden Blicken um. Seine Augen
264
sprühen Feuer, und ich glaube,
wenn er nicht die Frauen zu beschützen hätte, würde er einen der Feiglinge an
der Kehle packen.
Kaum sind die Verurteilten auf
dem Platz der Hinrichtung angelangt, umgeben die Soldaten den Ort von drei
Seiten. Nur die Seite, wo der Fels steil abfällt, bleibt frei.
Der Centurio befiehlt dem
Cyrenäer, sich zu entfernen. Dieser geht nun schweren Herzens, ich würde
sagen, nicht aus Sadismus, sondern aus Liebe. Deshalb bleibt er bei den
Galiläern stehen und teilt mit ihnen die Schmähungen, mit denen das Volk die
wenigen Getreuen des Christus überschüttet.
Die beiden Räuber werfen fluchend
ihre Kreuze zu Boden. Jesus schweigt.
Die via dolorosa ist zu Ende.
670. DIE KREUZIGUNG
Vier muskulöse Männer, dem
Aussehen nach Juden, und des Kreuzes würdigere Juden als die Verurteilten,
gewiß von der gleichen Sorte wie die Geißler, springen von einem Pfad zur
Hinrichtungsstätte hinauf. Sie tragen kurze ärmellose Tuniken und haben Nägel,
Hämmer und Stricke in den Händen, die sie den drei Verurteilten grinsend
zeigen. Durch die Menge geht eine Bewegung grausamer Begeisterung.
Der Centurio bietet Jesus den
Krug an, damit er den schmerzlindernden Myrrhenwein zu sich nimmt. Doch Jesus
lehnt ab. Die beiden Räuber hingegen trinken viel davon. Dann stellt man die
weithalsige Amphore neben einen großen Stein, fast an den äußersten Rand des
Gipfels.
Den Verurteilten wird nun
befohlen, sich zu entkleiden. Die beiden Räuber tun dies ohne die geringste
Scham. Sie vergnügen sich sogar damit, obszöne Gesten in Richtung der Menge
und besonders der Priester in ihren weißen Leinengewändern zu machen, die ganz
langsam auf den unteren kleinen Platz zurückgekehrt sind und ihr Ansehen
ausgenützt haben, um sich dorthin vorzudrängen. Zu den Priestern sind zwei
oder drei Pharisäer gekommen und andere anmaßende Gestalten, die der Haß zu
Freunden macht. Ich sehe bekannte Personen, wie die Pharisäer Jochanan und
Ismael, den Schriftgelehrten Sadok, Eli von Kapharnaum...
Die Henker reichen den
Verurteilten drei Lappen, damit sie sie um ihre Lenden binden. Die Räuber
nehmen sie unter schrecklichen Flüchen. Jesus, der sich langsam entkleidet
wegen der schmerzenden Wunden, lehnt ab. Vielleicht will er die kurzen
Beinkleider anbehalten, die er auch bei der Geißelung getragen hat. Als ihm
aber gesagt wird, daß er auch diese ablegen muß, streckt er die Hand aus, um
vom Henker den Lappen
265
zu erbitten und damit seine Blöße
zu bedecken. Er ist nun wirklich der Erniedrigte, der selbst von Verbrechern
einen Fetzen Stoff erbitten muß.
Doch Maria hat die Szene
beobachtet und den langen weißen Schleier abgenommen, der ihr Haupt unter dem
dunklen Mantel bedeckt und in den sie schon so viele Tränen geweint hat. Sie
nimmt den Schleier ab, ohne daß der Mantel fällt, und gibt ihn Johannes, damit
dieser ihn Longinus für den Sohn reiche. Der Centurio nimmt den Schleier
widerspruchslos, und als er sieht, daß Jesus sich vollends entkleidet, wobei
er sich vom Volk abwendet, so daß man seinen Rücken voll blauer Flecken und
Blasen, offener blutender Wunden oder dunkler Blutkrusten sieht, übergibt er
ihm das Tuch der Mutter. Jesus erkennt es. Er wickelt es mehrmals um die
Hüften und befestigt es gut, damit es nicht rutscht... Und auf das bisher nur
von Tränen benetzte Leinen fallen die ersten Blutstropfen, denn die vielen,
kaum von Schorf bedeckten Wunden öffnen sich wieder, als er sich bückt, um
Kleider und Sandalen abzulegen, und das Blut beginnt erneut zu fließen.
Nun wendet sich Jesus dem Volk
zu. Und man sieht, daß auch die Brust, die Arme und die Beine voller
Geißelhiebe sind. In der Lebergegend ist ein großer, blutunterlaufener Fleck,
und unter dem linken Rippenbogen sind sieben geschwollene Striemen, die in
einem violetten Kreis kleiner blutender Wunden enden... ein grausamer
Geißelhieb in die so empfindliche Zwerchfellgegend. Die Knie sind durch die
zahlreichen Stürze gleich nach der Gefangennahme und bis hinauf zum
Kalvarienberg von schwarzen Blutergüssen bedeckt und an den Kniescheiben
aufgeschlagen. Vor allem das rechte ist eine einzige blutige Wunde.
Das Volk verhöhnt ihn im Chor:
«Oh, Schöner! Der Schönste unter den Menschenkindern! Die Töchter Jerusalems
beten dich an...» und sie stimmen im Ton der Psalmen an: «Mein Geliebter ist
weiß und rot, und er ragt hervor aus Zehntausenden. Sein Haupt ist feines
Gold; wie Dattelrispen sind seine Locken, seidig wie das Gefieder der Raben.
Seine Augen sind zwei Tauben am Wasser eines Baches, die sich baden in Milch,
in der Milch seiner Augäpfel. Seine Wangen sind wie balsamische Beete. Wie
Lilien sind seine Purpurlippen, sie träufeln flüssige Myrrhe. Es sind wie von
Gold gedreht seine Hände, mit rosenroten Hyazinthen besetzt. Sein Leib ist wie
Elfenbein, geschmückt mit Saphir. Seine Beine sind Marmorsäulen auf Sockeln
von Feingold. Dem Libanon gleicht seine Majestät, den hohen Zedern sein Wuchs.
Sein Mund ist voll Süße, alles ist Liebreiz an ihm.» Und sie lachen und
schreien weiter: «Der Aussätzige, der Aussätzige! Hast du vielleicht mit einem
Götzen Unzucht getrieben, daß Gott dich so sehr straft? Hast du dich gegen die
Heiligen Israels aufgelehnt, wie Maria des Moses, daß du so gezüchtigt wirst?
Oh! Oh, der Vollkommene! Du bist der Sohn Gottes? Aber nein! Die Mißgeburt
Satans bist du! Aber er, Mammon, ist wenigstens mächtig und stark. Du... bist
nur ein ohnmächtiges, schmutziges Nichts.»
266
Die Räuber werden an die Kreuze
gebunden und an ihre Plätze getragen, einer rechts und der andere links von
dem für Jesus bestimmten Platz. Sie schreien, verwünschen und fluchen,
besonders als man die Kreuze zu den Löchern trägt und die Stricke durch die
Erschütterung in die Gelenke einschneiden. Ihre Flüche gegen Gott, gegen das
Gesetz, gegen die Römer und gegen die Juden sind höllisch.
Nun ist Jesus an der Reihe. Er
legt sich ohne Widerstand zu leisten auf das Holz. Die beiden Räuber waren so
rebellisch, daß die vier Henker allein mit ihnen nicht fertig wurden und
Soldaten zu Hilfe rufen mußten, um sie festzuhalten, damit sie nicht beim
Anbinden der Handgelenke Fußtritte bekämen. Bei Jesus braucht es keine Hilfe.
Er legt sich nieder, legt das Haupt an die bezeichnete Stelle. Er öffnet die
Arme, wie sie ihm zu tun gebieten, und streckt die Beine aus, wie es befohlen
wird. Er sorgt nur dafür, daß das Tuch richtig sitzt.
Nun hebt sich sein schlanker,
weißer Körper von dem dunklen Holz und dem gelben Erdboden ab. Zwei Henker
setzen sich auf seinen Oberkörper, um ihn festzuhalten. Ich denke darüber
nach, welche Beklemmung und welchen Schmerz ihm dieses Gewicht verursachen
muß. Ein dritter nimmt den rechten Arm und hält mit einer Hand den Unterarm
und mit der anderen die Finger fest. Der vierte, der schon den langen, spitzen
viereckigen Nagel mit dem großen, flachen, runden Kopf in der Hand hat, prüft,
ob das bereits in das Holz gebohrte Loch sich an der dem Handgelenk
entsprechenden Stelle, wo Elle und Speiche zusammen treffen, befindet. Es
paßt. Der Henker setzt den Nagel an den Puls, hebt den Hammer und führt den
ersten Schlag.
Jesus, der die Augen geschlossen
hatte, schreit bei diesem Schmerz auf, zuckt zusammen und öffnet weit die in
Tränen schwimmenden Augen. Es muß ein schrecklicher Schmerz sein, den er
fühlt... Der Nagel dringt ein, zerreißt Muskeln, Adern und Nerven und
zerbricht die Knochen...
Maria antwortet auf den Schrei
ihres gequälten Sohnes mit einem Stöhnen, das dem Klagen eines geschlachteten
Lammes gleicht. Sie krümmt sich vor Schmerz und faßt sich mit den Händen an
den Kopf. Jesus gibt nun keinen Laut mehr von sich, um sie nicht zu quälen.
Aber die Schläge sind regelmäßig und hart, Eisen auf Eisen... und darunter ist
ein lebendiges Glied, das sie empfängt.
Die rechte Hand ist angenagelt.
Nun kommt die linke. Das Loch entspricht nicht dem Gelenk. Also nehmen sie
einen Strick, binden ihn an das linke Gelenk und ziehen daran, bis die Knochen
ausgerenkt und die Sehnen und Muskeln und die schon von den Stricken der
Gefangennahme wunde Haut zerrissen sind. Auch die andere Hand leidet natürlich
darunter, denn durch das Zerren vergrößert sich die Nagelwunde. Nun liegt das
Loch gerade zwischen Handfläche und Handgelenk. Sie finden sich damit ab und
schlagen den Nagel ein, wo sie können, zwischen dem Daumen und
267
den anderen Fingern, genau in der
Mitte der Handfläche. Hier dringt er leichter ein, ist jedoch schmerzhafter,
denn er durchtrennt wohl wichtige Nerven, so daß die Finger nun unbeweglich
sind, während die Finger der rechten Hand zittern und zucken als Beweis ihrer
Beweglichkeit. Doch Jesus schreit nicht mehr. Er stöhnt nur noch heiser mit
aufeinandergepreßten Lippen, und Tränen des Schmerzes rinnen zur Erde, nachdem
sie zuerst auf das Holz getropft sind.
Nun sind die Füße an der Reihe.
Ungefähr zwei Meter oder mehr vom Ende des Kreuzes entfernt ist ein kleiner
Keil, kaum ausreichend für einen Fuß. Auf dieses Holz legen sie die Füße, um
zu sehen, ob das Maß stimmt. Da es etwas zu weit unten ist und die Füße nicht
ganz bis zu dem Keil reichen, ziehen sie den armen Märtyrer an den Knöcheln.
Das rauhe Holz des Kreuzes scheuert an den Wunden, verrückt die Dornenkrone,
die noch mehr Haare ausreißt und herunterzufallen droht... Ein Henker drückt
sie ihm durch einen Schlag mit der Hand wieder auf das Haupt.
Nun rücken die Männer, die auf
der Brust Jesu gesessen sind, auf die Knie hinunter, denn Jesus zieht
unwillkürlich die Beine an, als er in der Sonne den langen Nagel glänzen
sieht, der doppelt so lang und doppelt so dick wie die Nägel für die Hände
ist. Sie setzen sich auf seine zerschundenen Knie und drücken auf die armen
zerschlagenen Schienbeine, während die beiden anderen das viel schwierigere
Unternehmen, einen Fuß über dem anderen anzunageln, beginnen. Dabei sollen
auch die Gelenke an der Fußwurzel aufeinanderliegen.
Aber so sehr sie auch achtgeben
und die Füße am Knöchel und an den Zehen gegen den Keil drücken, verschiebt
sich doch der untere Fuß wegen der Erschütterung durch den Nagel, und sie
müssen diesen wieder fast ganz herausziehen. Denn nachdem er durch die
weicheren Teile gedrungen ist, muss er nun etwas weiter in der Mitte
eingeschlagen werden. Und er ist beim Durchbohren des rechten Fußes schon
stumpf geworden. Sie hämmern und hämmern und hämmern... Man hört nichts als
den schrecklichen Klang des Hammers auf dem Kopf des Nagels, denn alle auf dem
Kalvarienberg sind ganz Auge und Ohr und verfolgen gespannt jede Bewegung und
jeden Laut, um sich daran zu ergötzen...
Die leise Klage einer Taube
begleitet das harte Klingen des Eisens: das heisere Stöhnen Marias, die sich
bei jedem Hammerschlag mehr zusammenkrümmt, als ob der Hammer auf sie, die
Mutter-Märtyrerin, niedersausen würde. Und sie ist zu recht von dieser Tortur
zutiefst erschüttert. Die Kreuzigung ist furchtbar. Wenn auch die großen
Schmerzen denen der Geißelung gleichen, so ist sie doch schrecklicher
anzusehen, denn man sieht den Nagel in das lebendige Fleisch eindringen. Aber
dafür dauert sie nur kurz, während die Geißelung durch ihre Länge erschöpft
hat.
268
Für mich sind die Todesangst am
Ölberg, die Geißelung und die Kreuzigung die furchtbarsten Augenblicke. Sie
enthüllen mir die ganze Qual des Christus. Der Tod ist für mich eine
Erleichterung, denn ich sage mir: «Es ist vollbracht.» Doch diese Qualen sind
nicht das Ende, sondern der Beginn neuer Leiden.
Nun schleifen sie das Kreuz zu
dem Loch; es hüpft auf dem unebenen Boden und schüttelt den armen
Gekreuzigten. Beim Aufrichten entgleitet es zweimal ihren Händen und fällt
einmal auf die Rückseite, das andere Mal auf die rechte Seite, was Jesus neue
schreckliche Schmerzen bereitet, denn die plötzlichen Erschütterungen zerren
an den verletzten Gliedern. Als sie aber dann das Kreuz in sein Loch fallen
lassen, schwankt es, bevor sie es mit Steinen und Erde befestigen, samt dem an
drei Nägeln daran hängenden armen Körper in alle Richtungen, und das Leiden
muß unaussprechlich sein.
Das ganze Gewicht des Körpers
hängt nach vorn und nach unten, und die Löcher der Wunden erweitern sich,
besonders das der linken Hand. Auch die Wunden der Füße werden größer und das
Blut fließt stärker. Während das Blut der Füße von den Zehen zu Boden tropft
und am Balken des Kreuzes entlangrinnt, rinnt das Blut von den Händen, die
sich in größerer Höhe befinden als die Schultern, über den Unterarm zu den
Achseln und an den Rippen hinunter bis zum Gürtel. Die Dornenkrone verschiebt
sich, als das Kreuz schwankt, bevor man es befestigt; denn das Haupt fällt
nach hinten, und der Nacken schlägt mit dem dicken dornigen Knoten am Ende der
stacheligen Krone auf das Holz. Dann rutscht sie wieder auf die Stirn zurück
und kratzt und kratzt erbarmungslos.
Endlich ist das Kreuz befestigt,
und es bleibt nur noch der Schmerz, angenagelt zu sein. Man richtet auch die
Räuber auf, die, kaum daß sie sich in der Vertikalen befinden, brüllen, als ob
sie lebendig gekocht würden, denn die Stricke, die in die Gelenke
einschneiden, die Adern dick anschwellen und die Hände schwarz werden lassen,
bereiten große Schmerzen. Jesus schweigt. Das Volk aber schweigt nicht mehr,
sondern schreit noch teuflischer.
Nun hat der Gipfel des Golgotha
sein Siegeszeichen und seine Ehrenwache. An der höchsten Erhebung das Kreuz
Jesu. Zu beiden Seiten die Schächer. Die halbe Centurie der Soldaten mit ihren
Waffen unten rings um den Gipfel, und in diesem Kreis von Bewaffneten die zehn
Fußsoldaten, die mit Würfeln um die Kleider der Verurteilten spielen. Zwischen
dem Kreuz Jesu und dem rechten Schächer steht Longinus. Es scheint, als würde
er dem Märtyrer-König die Ehrenwache halten. Die andere halbe Centurie ist in
Ruhestellung und wartet auf dem Feldweg links und auf dem unteren Platz auf
einen Befehl des Adjutanten des Longinus, falls sie zu etwas gebraucht würden.
Die Soldaten zeigen fast völlige Teilnahmslosigkeit. Nur ab und zu schaut
einer zu den Gekreuzigten empor.
Longinus hingegen betrachtet
alles neugierig und interessiert, vergleicht
269
und zieht seine Schlüsse. Er
betrachtet die Gekreuzigten, besonders Christus, und die Zuschauer. Seinem
forschenden Auge entgeht nicht die geringste Einzelheit. Um besser sehen zu
können, beschattet er die Augen mit der Hand, da ihn die Sonne sicher stört.
Es ist wirklich eine eigenartige
Sonne, rot und gelb wie das Feuer eines Brandes. Dann scheint es, als ob das
Feuer plötzlich erlöschen würde, denn eine pechschwarze Wolke steigt hinter
den Bergen Judäas auf, zieht mit großer Geschwindigkeit über den Himmel und
verschwindet hinter einem anderen Gebirge. Als die Sonne nun wieder erscheint,
ist sie so grell, daß das Auge sie kaum erträgt.
Als er um sich schaut, sieht er
direkt unterhalb des höchsten Punktes Maria, die ihr schmerzgequältes Gesicht
zu ihrem Sohn erhebt. Er ruft einen der würfelnden Soldaten und sagt: «Wenn
die Mutter und ihr Sohn, der sie begleitet, heraufkommen wollen, sollen sie es
tun. Begleite sie und hilf ihr.»
Maria steigt mit Johannes, dem
vermeintlichen Sohn, die in den Tuffstein gehauenen Stufen empor, geht durch
die Absperrung der Soldaten und an den Fuß des Kreuzes. Aber sie bleibt in
geringer Entfernung davon stehen, damit sie von Jesus gesehen wird und ihn
auch selbst sieht. Das Volk überhäuft sie sofort mit den schmutzigsten
Schmähungen und schließt sie in die Lästerungen gegen ihren Sohn mit ein. Aber
sie, mit bebenden und blutleeren Lippen, versucht nur, ihn zu trösten durch
ein schmerzliches Lächeln, das Tränen überströmen, die kein noch so starker
Wille in den Augen zurückhalten kann.
Das Volk, angefangen von den
Priestern, den Schriftgelehrten, den Pharisäern, den Sadduzäern, den
Herodianern und ähnlichen, hat seinen Spaß daran, wie bei einem Karussell den
steilen Weg hinaufzusteigen, entlang der höchsten Erhebung zu gehen und dann
auf der anderen Seite wieder hinunter, oder umgekehrt. Jedesmal, wenn sie am
Fuß des Gipfels vorüberkommen, versäumen sie es nicht, dem Sterbenden zu Ehren
lästerliche Worte hinaufzuschreien. Die ganze Schändlichkeit und Grausamkeit,
der ganze Haß und Wahnsinn, deren die Zunge des Menschen fähig ist, wird hier
ausgiebig von diesen höllischen Mäulern demonstriert. Die Erbarmungslosesten
sind die Angehörigen des Tempels, unterstützt von den Pharisäern.
«Nun? Du Erlöser des
Menschengeschlechtes, warum rettest du dich nicht? Hat dein König Beelzebub
dich verlassen? Hat er dich verleugnet?» schreien drei Priester.
Und ein Schwarm Juden: «Du, der
du vor kaum fünf Tagen mit Hilfe Satans den Vater hast sagen lassen... ha, ha,
ha, daß er dich verherrlichen würde, warum erinnerst du ihn nicht daran, daß
er sein Versprechen hält?»
Drei Pharisäer: «Gotteslästerer!
Er sagt, er habe die anderen mit Gottes
270
Hilfe gerettet. Und sich selbst
kann er nicht retten! Du willst, daß man dir glaubt? So wirke doch ein Wunder!
Du kannst es wohl nicht mehr? Nun haben wir dir die Hände angenagelt und dich
entblößt.»
Einige Sadduzäer und Herodianer
zu den Soldaten: «Vorsicht mit dem Zauber, ihr, die ihr seine Kleider genommen
habt! Ein Zeichen der Hölle ist daran.»
Eine Volksmenge schreit: «Steige
vom Kreuz, und wir werden dir glauben. Du, du willst den Tempel zerstören...
Verrückter! ... Sieh ihn dir an, den herrlichen und heiligen Tempel Israels.
Er ist unzerstörbar, du Schänder! Und du stirbst.»
Andere Priester sagen:
«Gotteslästerer! Du willst der Sohn Gottes sein? Dann steige doch von dort
herab! Zerschmettere uns, wenn du Gott bist. Wir fürchten dich nicht und
spucken auf dich.»
Andere gehen vorüber und
schütteln die Köpfe: «Er kann nur weinen! Rette dich doch, wenn es wahr ist,
daß du der Erwählte bist!»
Die Soldaten: «So rette dich
doch. Laß Feuer auf diesen Abschaum des Abschaums fallen! Ja, der Abschaum des
Reiches seid ihr, jüdische Kanaillen! Tue es, und Rom wird dich auf das
Kapitol erheben und dich wie einen Gott verehren!»
Die Priester mit ihrem Gefolge:
«Die Arme der Frauen waren zarter als die des Kreuzes, nicht wahr? Aber schau,
sie sind schon zu deinem Empfang bereit, deine... (und sie sagen ein häßliches
Wort). Ganz Jerusalem steht dir zur Verfügung als Brautjungfer», und sie
pfeifen wie Fuhrleute.
Andere werfen Steine: «Verwandle
sie in Brot, du Brotvermehrer!»
Wieder andere äffen die
Hosannarufe des Palmsonntags nach, werfen Zweige und schreien: «Verflucht sei,
der da kommt im Namen des Teufels! Verflucht sei sein Reich! Ehre sei Sion,
das die Lebenden von ihm befreit!»
Ein Pharisäer stellt sich vor das
Kreuz, erhebt die Faust, macht ein Horn, um Unheil abzuwenden, und sagt: «"Ich
übergebe dich dem Gott des Sinai", hast du einst gesagt. Nun bereitet dir der
Gott des Sinai das höllische Feuer. Warum rufst du nicht Jonas, daß er dir den
guten Dienst vergilt ?»
Ein anderer: «Beschädige das
Kreuz nicht mit den Schlägen deines Kopfes. Wir brauchen es noch für deine
Jünger. Eine ganze Legion von ihnen wird noch an deinem Holz sterben, das
schwöre ich dir bei Jahwe! Als erster kommt Lazarus. Wir werden sehen, ob du
ihn jetzt noch vor dem Tod rettest!»
«Ja! Ja! Gehen wir zu Lazarus!
Nageln wir ihn an die andere Seite des Kreuzes!» Wie Papageien machen sie die
langsame Redeweise Jesu nach und sagen: «Lazarus, mein Freund, komm heraus!
Befreit ihn von den Binden und laßt ihn gehen.»
«Nein! Er hat zu Martha und
Maria, seinen Weibern, gesagt: "Ich bin
271
die Auferstehung und das Leben."
Ha, ha, ha! Die Auferstehung kann den Tod nicht verjagen, und das Leben
stirbt!»
«Dort sind Maria und Martha.
Fragen wir sie, wo Lazarus ist, und dann gehen wir und holen ihn.» Sie gehen
auf die Frauen zu und fragen sie frech: «Wo ist Lazarus? Im Palast?»
Maria Magdalena tritt auf sie zu,
während die anderen entsetzt hinter die Hirten flüchten. In ihrem Schmerz
kehrt die alte Dreistigkeit aus der Zeit ihrer Sünde wieder und sie ruft:
«Geht nur! Ihr werdet im Palast römische Soldaten und fünfhundert Bewaffnete
von meinen Feldern antreffen, die euch kastrieren werden wie alte Böcke, die
zur Mahlzeit für die Sklaven an den Mühlen bestimmt sind.»
«Unverschämte! So redest du mit
den Priestern?»
«Gotteslästerer! Schamlose!
Verfluchte! Dreht euch um! Hinter euch, ich sehe es, lodern schon die Flammen
des höllischen Feuers auf!»
Die Feiglinge wenden sich
tatsächlich erschrocken um, denn Maria sagt dies mit so großer Sicherheit. Und
wenn hinter ihnen auch keine Flammen sind, so doch die sehr spitzen Lanzen der
Römer. Denn Longinus hat einen Befehl erteilt, und die halbe Centurie, die
bisher inaktiv war, tut nun Dienst, indem sie die ersten, die ihr in den Weg
geraten, in die Hinterbacken sticht. Diese fliehen schreiend auseinander, und
die halbe Centurie bleibt, um die beiden Wege abzuriegeln und einen Wall um
den Platz zu bilden. Die Juden fluchen, aber Rom ist stärker.
Magdalena läßt ihren Schleier,
den sie zurückgeschlagen hatte, um den Beleidigern zu entgegnen, wieder
herunter und kehrt an ihren Platz zurück. Auch die anderen Frauen kommen zu
ihr zurück.
Doch der Räuber zur Linken setzt
von seinem Kreuz aus die Beleidigungen fort. Es scheint, als wären alle Flüche
der anderen in ihm angestaut, und er speit sie nun aus und fügt noch hinzu:
«Rette dich und rette uns, wenn du willst, daß man dir glaubt. Du willst der
Christus sein? Ein Irrer bist du! Die Welt gehört den Schlauen, und es gibt
keinen Gott. Ich bin da. Das ist sicher, und mir ist alles erlaubt! Gott? ...
Märchen! Das redet man uns ein, damit wir brav sind. Es lebe unser Ich! Unser
Ich allein ist König und Gott!»
Der andere Räuber zur Rechten
schaut Maria, die fast zu seinen Füßen steht, wohl noch mehr an als Jesus,
weint seit einer Weile und flüstert: «Die Mutter!» Dann sagt er: «Schweig!
Fürchtest du nicht einmal jetzt Gott, da du diese Strafe erleidest? Warum
beleidigst du ihn, der gut ist? Er leidet noch mehr als wir, und er hat nichts
Böses getan.»
Doch der Räuber fährt fort mit
seinen Flüchen.
Jesus schweigt. Erschöpft durch
seine Position, durch das Fieber und den Zustand seines Herzens und seiner
Atmung als Folge der so heftigen Geißelung und der großen Todesangst, die ihn
hat Blut schwitzen lassen, sucht er Erleichterung darin zu finden, daß er sich
stärker an die Hände
272
hängt, die Arme anspannt und so
etwas Gewicht von den Füßen nimmt. Vielleicht tut er dies auch, um einen
Krampf ein wenig abzuschwächen, der schon seine Füße befallen hat und sich in
einem Zittern der Muskeln äußert. Aber dasselbe Zittern hat auch die Muskeln
der Arme befallen, die in dieser Stellung übermäßig beansprucht sind. Die
Hände müssen eiskalt sein, da sie am weitesten oben und nicht mehr durchblutet
sind. Das Blut gelangt nur mit Mühe bis zu den Handgelenken, tropft dann aus
den Löchern der Nägel und zirkuliert nicht mehr in den Fingern. Besonders die
der linken Hand sind schon leichenblaß, reglos und nach innen gekrümmt. Auch
die Zehen der Füße lassen ihre Qual erkennen – besonders die großen, deren
Nerv vielleicht weniger verletzt ist – da sie sich heben und senken und sich
spreizen.
Das ganze Leiden des Rumpfes
zeigt sich in dem raschen, aber nicht tiefen Atem, der nur ermüdet und keine
Erleichterung schafft. Der an sich schon breite und gewölbte Brustkasten –
denn der Bau dieses Körpers ist vollkommen – ist nun über die Maßen ausgedehnt
durch die Stellung des Körpers und das Lungenödem, das sich gewiß schon
gebildet hat. Doch trägt dies nicht dazu bei, die mühevolle Atmung zu
erleichtern, und der ganze Unterleib unterstützt sie durch die Bewegungen des
Zwerchfells, die jedoch immer schwächer werden. Die Kongestion und die
Erstickung nehmen von Minute zu Minute zu, wie man an der zyanotischen Farbe
erkennt, die die Fieberröte der Lippen noch betont, und an den blauvioletten
Streifen am Hals, entlang den geschwollenen Adern, die sich bis über die
Wangen und in Richtung der Ohren und Schläfen ziehen. Die Nase ist spitz und
blutleer, die Augen sind eingesunken und umgeben von einem bläulichen Ring –
soweit das herabtropfende Blut der Dornenkrone ihn nicht bedeckt.
Unter dem linken Rippenbogen
sieht man das unregelmäßige, aber heftige Schlagen der Herzspitze, und hie und
da das durch einen inneren Krampf ausgelöste starke Zittern des Zwerchfells,
das sich in der äußersten Ausdehnung der Haut zeigt, soweit sie sich noch
ausdehnen kann an diesem armen verletzten, sterbenden Körper.
Das Antlitz hat schon den
Ausdruck, den wir von den Fotografien des Grabtuchs kennen, mit der
verunstalteten und auf einer Seite geschwollenen Nase. Auch das wegen der
Schwellung auf dieser Seite fast geschlossene rechte Auge vergrößert die
Ähnlichkeit noch. Der Mund hingegen ist geöffnet und die Verletzung an der
Oberlippe nun von einer Kruste bedeckt.
Der durch den Blutverlust, das
Fieber und die Sonne verursachte Durst muß sehr groß sein, denn Jesus trinkt
mit mechanischen Bewegungen die Tropfen seines Schweißes und seiner Tränen und
auch die Blutstropfen, die von der Stirn in den Schnurrbart rinnen, und
benetzt damit seine Zunge... Die Dornenkrone erlaubt ihm nicht, das Haupt an
das Kreuz anzulehnen,
273
um mit den Armen mehr Kraft
anzuwenden und die Füße zu entlasten. Die Nierengegend und das ganze Rückgrat
wölben sich nach außen und sind vom Becken an aufwärts losgelöst vom Stamm des
Kreuzes, entsprechend dem Trägheitsgesetz, das einen auf diese Weise
aufgehängten Körper nach vorne fallen läßt.
Die von dem kleinen Platz
vertriebenen Juden hören nicht auf zu beschimpfen, und der unbußfertige Räuber
macht mit. Der andere, der nun mit immer größerem Mitleid die Mutter
betrachtet und weint, rügt ihn hart, als er hört, daß auch Maria beschimpft
wird.
«Schweig! Erinnere dich, daß eine
Frau dich geboren hat. Und vergiß nicht, daß unsere Mütter um ihre Söhne
geweint haben. Es waren Tränen der Scham... weil wir Verbrecher sind. Unsere
Mütter sind tot... Ich wünschte, ich könnte die meine um Verzeihung bitten...
Aber könnte ich das? Sie war eine Heilige... Ich habe sie getötet durch den
Schmerz, den ich ihr zugefügt habe... Ich bin ein Sünder... Wer verzeiht mir?
Mutter, im Namen deines sterbenden Sohnes, bitte für mich!»
Die Mutter erhebt einen
Augenblick ihr schmerzgequältes Gesicht und sieht diesen Unglücklichen an, der
durch die Erinnerung an seine Mutter und die Betrachtung der Mutter Jesu zur
Reue gelangt; und es scheint, als liebkose sie ihn mit ihrem Taubenblick.
Dismas weint nun stärker. Dies
läßt den Hohn der Menge und des Gefährten noch zunehmen. Erstere schreit:
«Bravo! Nimm dir die zur Mutter. Dann hat sie zwei Verbrecher als Söhne!» Und
der andere ist noch schlimmer: «Sie liebt dich, weil du eine kleinere Ausgabe
ihres Vielgeliebten bist.»
Jesus spricht nun zum ersten Mal:
«Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!»
Dieses Gebet besiegt die letzte
Angst des Dismas. Er wagt es nun, Jesus anzusehen, und sagt: «Herr, gedenke
meiner, wenn du in dein Reich kommst. Es ist gerecht, daß ich leide. Aber
gewähre mir Barmherzigkeit und Frieden im anderen Leben. Einmal habe ich dich
reden gehört, und töricht wie ich war, habe ich dein Wort abgelehnt. Nun
bereue ich es. Ich bereue auch meine Sünden vor dir, Sohn des Allerhöchsten.
Ich glaube, daß du von Gott kommst. Ich glaube an deine Macht. Ich glaube an
deine Barmherzigkeit. Christus, verzeih mir im Namen deiner Mutter und deines
heiligsten Vaters!»
Jesus wendet sich um, schaut ihn
mit tiefem Mitleid an und hat ein immer noch wunderschönes Lächeln auf seinem
armen, gequälten Mund. Er antwortet ihm: «Ich sage dir, heute noch wirst du
mit mir im Paradiese sein.»
Der reuige Schächer beruhigt
sich, und da er die Gebete seiner Kinderzeit vergessen hat, wiederholt er wie
ein Stoßgebet: «Jesus von Nazareth, König der Juden, erbarme dich meiner.
Jesus von Nazareth, König der
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Juden, ich hoffe auf dich. Jesus
von Nazareth, König der Juden, ich glaube an deine Gottheit.»
Der andere flucht weiter.
Der Himmel wird immer dunkler.
Nun reißen die Wolken nur noch selten auf, um die Sonne scheinen zu lassen.
Sie häufen sich in immer dickeren, bleiernen, weißen und grünlichen Schichten,
schieben sich übereinander und verteilen sich dann wieder, je nach dem
Verhalten eines kalten Windes, der von Zeit zu Zeit über den Himmel fegt,
danach über die Erde, und sich dann wieder legt. Und die Atmosphäre ist fast
noch unheimlicher, drückender und lebloser wenn er schweigt, als wenn er stark
und schneidend weht und pfeift.
Das zuerst überaus grelle Licht
wird nun ganz fahl. Die Gesichter bekommen ein sonderbares Aussehen. In dem
grünlichen Licht unter dem aschgrauen Himmel erscheinen die Profile der
Soldaten in ihren zuvor glänzenden und nun matt gewordenen Helmen und Panzern
wie aus Stein gemeißelt. Die Juden, in der Mehrzahl braunhäutig mit braunem
Haar und Bart, gleichen Ertrinkenden, so fahl sind ihre Gesichter. Die Frauen
werden zu Statuen aus bläulich schimmerndem Schnee, denn das Licht verstärkt
noch ihre große Blässe.
Auch Jesus scheint auf seltsame
Weise bläulich zu werden, als würde die Auflösung schon beginnen, fast als
wäre er schon gestorben. Das Haupt beginnt auf die Brust herabzuhängen. Die
Kräfte lassen rasch nach. Er zittert trotz des Fiebers, das in ihm brennt. In
seiner Schwäche flüstert er den Namen, den er bisher nur in seinem Herzen
gesprochen hat: «Mama! Mama!» Er flüstert ihn so leise wie einen Seufzer, als
würde ein leichtes Delirium es ihm schon unmöglich machen, das zurückzuhalten,
was der Wille nicht preisgeben möchte. Maria streckt jedesmal spontan die Arme
aus, als wolle sie ihm zu Hilfe eilen.
Das grausame Volk lacht über
diese Qualen des Sterbenden und der leidenden Mutter. Die Priester und
Schriftgelehrten steigen wieder zu den Hirten hinauf, die sich auf dem unteren
Platz befinden. Und da die Soldaten sie zurückdrängen wollen, wehren sie sich
und sagen: «Diese Galiläer bleiben hier? Dann bleiben auch wir hier, denn wir
müssen uns vergewissern, daß bis zum Ende Gerechtigkeit geübt wird. Und aus
der Ferne können wir bei dem eigenartigen Licht nichts erkennen.»
Viele fangen nun tatsächlich an,
sich über das Licht zu wundern, das die Welt einhüllt, und einige haben Angst.
Auch die Soldaten zeigen zum Himmel und auf eine Art Kegel, der aus Schiefer
zu sein scheint und sich wie eine Pinie hinter einem Gipfel erhebt. Es scheint
eine Wasserhose zu sein. Sie steigt immer höher, und es sieht aus, als ob sie
immer schwärzere Wolken hervorbringen würde, fast wie ein Vulkan, der Rauch
und Lava speit.
In diesem beängstigenden
Dämmerlicht übergibt Jesus seine Mutter
275
Johannes und Johannes seiner
Mutter. Er neigt das Haupt, denn Maria ist direkt unter das Kreuz getreten, um
ihn besser zu sehen, und sagt: «Frau, siehe da deinen Sohn. Sohn, siehe da
deine Mutter.»
Marias Gesicht ist noch betrübter
nach diesen Worten, die das Testament ihres Jesus sind, ihres Jesus, der
seiner Mutter nichts geben kann als einen Menschen, er, der ihr aus Liebe zu
den Menschen den aus ihr geborenen Gottmenschen nimmt. Doch die arme Mutter
versucht, nur stumm zu weinen... denn sie bringt es nicht fertig, nicht zu
weinen. Die Tränen fließen trotz aller Bemühungen, sie zurückzuhalten, auch
wenn der Mund dabei unter Qualen lächelt, immer lächelt für ihn, um ihn zu
trösten...
Die Leiden werden immer größer,
während das Licht immer mehr abnimmt.
In diesem bläulichen Licht kommen
plötzlich hinter den Juden Nikodemus und Joseph hervor und sagen: «Macht
Platz!»
«Das geht nicht. Was wollt ihr?»
entgegnen die Soldaten.
«Wir wollen durch. Wir sind
Freunde des Christus.»
Die Köpfe der Priester fahren
herum. «Wer wagt es hier, sich als Freund des Rebellen zu bekennen?» fragen
sie entrüstet.
Joseph erwidert energisch: «Ich,
ein erlauchtes Mitglied des Hohen Rates, Joseph von Arimathäa, der Älteste,
und bei mir ist Nikodemus, Vorsteher der Juden.»
«Wer zu dem Rebellen hält, ist
selbst ein Rebell.»
«Und wer zu den Mördern hält, ist
selbst ein Mörder, Eleazar des Annas. Ich habe als Gerechter gelebt. Nun bin
ich alt und dem Tod nahe. Ich will nicht ungerecht werden, während schon der
Himmel auf mich herabkommt und mit ihm der ewige Richter.»
«Und du, Nikodemus! Ich wundere
mich!»
«Ich auch. Und nur über eines:
daß Israel so verdorben ist, daß es Gott nicht mehr erkennt.»
«Du ekelst mich an.»
«Dann tritt zur Seite und laß
mich durch. Ich verlange nur das.»
«Um dich noch mehr zu
verunreinigen?»
«Wenn ich dadurch nicht unrein
geworden bin, daß ich in eurer Nähe war, dann kann mich nichts mehr
verunreinigen. Soldat, hier ist der Passierschein und eine Börse für dich.»
Und er gibt dem am nächsten stehenden Decurio einen Beutel und eine
Wachstafel.
Der Decurio prüft sie und sagt zu
den Soldaten: «Laßt die beiden durch.»
Joseph und Nikodemus gehen zu den
Hirten. Ich weiß nicht, ob Jesus sie in dieser immer größeren Dunkelheit mit
den sich im Todeskampf trübenden Augen noch sehen kann. Aber sie sehen ihn und
weinen, ohne sich vor den Menschen zu schämen, obgleich sich nun die
Schmähungen der Priester über sie ergießen.
276
Die Leiden werden immer stärker.
Der Körper krümmt sich in den ersten Anzeichen des Wundstarrkrampfes, und
jedes neue Geschrei der Menge verschlimmert dies noch. Der Tod der Nerven und
der Muskeln in den gemarterten Gliedern greift nun über auf den Rumpf, und die
Atmung wird immer schwieriger, die Kontraktionen des Zwerchfells immer
schwächer und die Herztätigkeit immer unregelmäßiger. Das Antlitz Jesu
wechselt zwischen flammender Röte und der grünlichen Blässe eines an
Ausblutung Sterbenden. Der Mund bewegt sich immer mühsamer, denn die
überbeanspruchten Nerven und Muskeln des Halses und des Kopfes, die so viele
Male als Hebel für den ganzen Körper dienen und sich gegen den Querbalken des
Kreuzes stemmen mußten, übertragen nun den Krampf auf den Kiefer. Die von dem
angestauten Blut in den Schlagadern geschwollene Kehle muß schmerzen und ihr
Ödem auch auf die Zunge übertragen. Sie erscheint verdickt und bewegt sich nur
langsam. Die Wirbelsäule wölbt sich immer stärker nach vorne – auch dann, wenn
die Kontraktionen des Starrkrampfes sie nicht zu einem vollständigen Bogen vom
Hals bis zu den Hüften spannen, wobei dann nur noch diese beiden Extreme den
Stamm des Kreuzes berühren – denn die Glieder werden durch das Gewicht des
toten Fleisches immer schwerer.
Die Leute sehen all dies nur
schlecht oder undeutlich, denn der Himmel ist nun ein dunkles Aschgrau. Nur
wer am Fuß des Kreuzes steht, kann es erkennen.
Auf einmal fällt Jesus vor und
nach unten, so als sei er schon tot. Er keucht nicht mehr. Sein Kopf hängt
herunter und der Körper hat sich von den Hüften an aufwärts ganz vom Kreuz
gelöst und bildet einen Winkel zum Querbalken.
Maria schreit auf: «Er ist tot!»
Ein tragischer Schrei, der durch die Dunkelheit hallt. Jesus scheint wirklich
tot zu sein.
Der Schrei einer anderen Frau
antwortet, und ich sehe ein Durcheinander in der Gruppe der Frauen. Dann
entfernen sich etwa zehn Personen, die etwas tragen. Aber ich kann nicht
sehen, wer sich entfernt. Das trübe Licht ist zu schwach. Es scheint, als ob
alles in eine sehr dichte Wolke vulkanischer Asche gehüllt wäre.
«Das ist nicht möglich!» schreien
die Priester und die Juden. «Man versucht nur, uns zu täuschen, damit wir
fortgehen. Soldat, stich ihn mit der Lanze. Das ist eine gute Arznei, um ihm
die Stimme wiederzugeben.»Und da die Soldaten es nicht tun, fliegen Steine und
Erdschollen auf das Kreuz und treffen den Märtyrer und die Harnische der
Römer.
Die Arznei, wie die Juden es
ironisch nennen, wirkt das Wunder. Gewiß hat der eine oder andere Stein genau
getroffen, vielleicht die Wunde einer Hand oder sogar das Haupt Jesu, denn sie
haben nach oben gezielt. Jesus stöhnt mitleiderregend und kommt wieder zum
Bewußtsein. Der Oberkörper beginnt erneut mühsam zu atmen, und der Kopf wendet
sich
277
von links nach rechts auf der
Suche nach einer Position, die weniger schmerzt, doch er findet sie nicht und
vermehrt nur die Schmerzen.
Mit großer Mühe stützt Jesus sich
noch einmal auf die gequälten Füße – nur in seinem Willen findet er die Kraft
dazu, nur darin – richtet sich am Kreuz auf, als wäre er gesund und ganz bei
Kräften, erhebt das Antlitz und betrachtet mit weit offenen Augen die Welt zu
seinen Füßen, die ferne Stadt, ein kaum sichtbarer weißer Schimmer in der
Dunkelheit, und den schwarzen Himmel, von dem alles Blau und jede Spur von
Licht verschwunden ist. Durch die Kraft seines Willens und in der Not seiner
Seele überwindet Jesus das Hindernis des versteiften Kiefers, der verdickten
Zunge und der ödematösen Kehle und ruft mit lauter Stimme zu diesem
verschlossenen, undurchdringlichen, niedrigen Himmel, der einer riesigen
dunklen Schiefertafel gleicht, hinauf: «Eloi, Eloi, lama sabachtani!»
Jesus muß sich sterben und
absolut vom Himmel verlassen fühlen, wenn er mit einer solchen Stimme bekennt,
daß ihn der Vater verlassen hat.
Das Volk lacht und verspottet
ihn. Es schmäht: «Gott weiß mit dir nichts anzufangen. Die Dämonen sind von
Gott verflucht.»
Andere rufen: «Nun werden wir
sehen, ob Elias, den er ruft, ihn rettet.»
Und wieder andere: «Gebt ihm
etwas Essig, damit er gurgeln kann. Das ist gut für die Stimme! Elias oder
Gott – denn es ist nicht sicher, wen der Irre ruft – ist weit entfernt. Da
braucht es eine starke Stimme, damit man gehört wird», und sie lachen wie
Hyänen oder Dämonen.
Aber kein Soldat gibt Essig, und
niemand kommt vom Himmel, um zu trösten. Es ist die einsame, totale, grausame,
auch übernatürlich grausame Agonie des großen Opfers.
Die Flut trostlosesten Schmerzes,
die ihn schon in Gethsemane überwältigt hat, kehrt wieder, und mit ihr die
Wogen der Sünden der ganzen Welt, die den unschuldigen Schiffbrüchigen mit
ihrer Bitterkeit überfluten. Vor allem kehrt das Gefühl wieder – das ihn mehr
kreuzigt als das Kreuz selbst und mehr quält als jede andere Qual – daß Gott
ihn verlassen hat und das Gebet nicht zu ihm aufsteigt...
Es ist die letzte Qual. Die Qual,
die den Tod beschleunigt, da sie die letzten Tropfen Blut aus den Poren preßt
und die letzten Fasern des Herzens zerreißt und herbeiführt, was durch die
erste Erkenntnis dieser Verlassenheit begonnen hat: den Tod. Denn daran ist
mein Jesus vor allem gestorben, o Gott, der du ihn unseretwegen geschlagen
hast!
Was wird aus dem Menschen, wenn
du ihn verläßt, wenn du ihn verlassen hast? Er verliert den Verstand oder er
stirbt. Jesus konnte den Verstand nicht verlieren, denn seine Intelligenz war
göttlich; und da die Intelligenz geistig ist, siegte sie über das totale
Trauma des von Gott Getroffenen. Also starb er: der Tote, der heiligste Tote,
der unschuldigste Tote. Tot, er, der das Leben war. Getötet durch das
Verlassensein von dir und von unseren Sünden.
278
Die Dunkelheit wird immer
undurchdringlicher. Jerusalem verschwindet gänzlich. Selbst der Kalvarienberg
scheint sich aufzulösen. Nur der Gipfel ist zu sehen, als würde ihn die
Finsternis tragen, um das einzige und letzte verbleibende Licht zu sammeln und
es wie ein Opfer mit seiner göttlichen Siegesbeute auf einen See von flüssigem
Onyx zu legen, damit es von der Liebe und vom Haß gesehen werden kann.
Und aus dem Licht, das nicht mehr
Licht ist, erklingt die klagende Stimme Jesu: «Mich dürstet!»
Es weht auch wirklich ein Wind,
der selbst die Gesunden durstig werden läßt. Ein ständiger Wind, der jetzt
stürmisch, voller Staub, kalt und beängstigend ist. Ich denke daran, welchen
Schmerz dieser Wind mit seinem heftigen Wehen der Lunge, dem Herzen, dem
Rachen und den eiskalten, gequälten verwundeten Gliedern Jesu bereiten muß.
Alles hat sich verschworen, den Märtyrer zu quälen.
Ein Soldat geht zu einem Gefäß,
in das die Gehilfen des Henkers Essig und Galle getan haben, die mit ihrer
Bitterkeit den Speichelfluß der Hingerichteten vermehren sollen. Er nimmt den
in die Flüssigkeit getauchten Schwamm, steckt ihn auf ein dünnes, aber steifes
Rohr, das schon dafür bereitsteht, und reicht ihn dem Sterbenden. Jesus wendet
sich begierig dem Schwamm zu. Er gleicht einem hungernden Kind, das die Brust
der Mutter sucht.
Maria, die es sieht und gewiß
ebenso denkt, lehnt sich an Johannes und seufzt: «Oh, und ich kann ihm nicht
einmal eine Träne geben... Oh, meine Brust, warum hast du keine Milch? Oh,
mein Gott, warum, warum verläßt du uns so? Ein Wunder für mein Kind! Wer hebt
mich hinauf, damit ich ihn mit meinem Blut tränke, da ich keine Milch habe...
?»
Jesus, der gierig die scharfe,
bittere Flüssigkeit eingesaugt hat, wendet angewidert den Kopf ab. Die
Flüssigkeit muß vor allem eine ätzende Wirkung auf die wunden und rissigen
Lippen haben. Er zieht sich zurück, sinkt in sich zusammen, gibt auf.
Das ganze Gewicht des Körpers
fällt nun vor und auf die Füße. Und die durchbohrten Hände und Füße müssen den
furchtbaren Schmerz erleiden, daß unter dem Gewicht des aufgegebenen Körpers
ihre Wunden auseinanderklaffen und sich vergrößern. Keine Bewegung mehr, um
diesen Schmerz zu lindern. Der Leib ist vom Becken an aufwärts vom Kreuz
losgelöst und bleibt so.
Der Kopf hängt so schwer nach
vorn, daß der Hals an drei Stellen ausgehöhlt zu sein scheint, an der Kehle
und rechts und links des Kopfwender-Muskels. Das Atmen wird immer
beschwerlicher und stockt von Zeit zu Zeit. Es ist schon mehr ein
unterbrochenes Röcheln als ein Atmen. Ab und zu bringt ein schmerzlicher
Hustenanfall einen leicht rosafarbenen Schaum auf die Lippen. Der Abstand
zwischen dem Ein- und Ausatmen wird immer länger. Der Unterleib ist schon
reglos. Nur die Brust hebt sich
279
noch langsam und mühsam... Die
Lungenlähmung nimmt unaufhaltsam
ZU.
Immer schwächer, wie eine
kindliche Klage, erklingt der Ruf: «Mama!»Und die Arme flüstert: «Ja, mein
Kleinod, ich bin hier!» Als sich ihm die Augen trüben, sagt er: «Mama, wo bist
du? Ich kann dich nicht mehr sehen. Hast auch du mich verlassen?» Und es sind
keine Worte mehr, sondern nur noch ein kaum hörbares Flüstern für den, der
mehr mit dem Herzen als mit den Ohren jeden Seufzer des Sterbenden vernimmt.
Und Maria antwortet: «Nein, nein, Sohn! Ich verlasse dich nicht! Höre mich,
Lieber... Die Mama ist hier, hier ist sie... und ihr einziges Leid ist, daß
sie nicht dorthin kommen kann, wo du bist ...»
Es ist herzzerreißend... und
Johannes weint ganz offen. Jesus muß dieses Weinen hören, aber er sagt nichts.
Ich nehme an, daß der eintretende Tod ihn wie im Delirium reden läßt, so daß
er nicht mehr weiß, was er sagt, und nicht mehr den mütterlichen Trost und die
Liebe des Lieblingsjüngers empfinden kann.
Longinus hat unbemerkt seine
Ruhestellung mit den über der Brust verschränkten Armen und dem etwas
vorgestellten Bein – einmal das eine, einmal das andere, um das lange Warten
im Stehen etwas zu erleichtern – aufgegeben. Er steht nun stramm, die linke
Hand am Schwert, die rechte gerade an der Seite, als ob er an den Stufen des
kaiserlichen Thrones stehen würde, und will kein Mitleid zeigen. Aber sein
Gesicht verändert sich in dem Bemühen, seine Rührung zu unterdrücken, und in
seinen Augen glänzen Tränen, die nur seine eiserne Disziplin zurückhalten
kann.
Die anderen, die würfelspielenden
Soldaten, haben aufgehört, sind aufgestanden, haben ihre Helme, die ihnen als
Würfelbecher gedient haben, wieder aufgesetzt und stehen nun schweigend und in
Habachtstellung in einer Gruppe bei den aus dem Tuffstein gehauenen Stufen.
Die übrigen sind bereits im Dienst und können ihre Stellung nicht ändern. Sie
gleichen Statuen. Doch einer, der am nächsten steht und die Worte Marias hört,
murmelt etwas zwischen den Zähnen und schüttelt den Kopf.
Tiefes Schweigen. Dann ganz klar
und deutlich in der totalen Finsternis das Wort: «Es ist vollbracht.» Der
Sterbende röchelt immer stärker, und der Abstand zwischen einem Röcheln und
dem anderen wird immer länger.
Die Zeit verrinnt in diesem
angstvollen Rhythmus. Das Leben kehrt zurück, wenn das rauhe Atmen des
Sterbenden die Luft erfüllt... Das Leben schwindet, wenn man diesen
schmerzlichen Klang nicht mehr hört.
Man leidet, wenn man ihn hört...
Man leidet, wenn man ihn nicht hört... Man sagt: «Genug dieser Leiden!» und
man sagt: «0 Gott, es wird doch nicht der letzte Seufzer sein!»
Die Marien weinen alle, das Haupt
an die Erde des Hanges gelehnt.
280
Und man hört ihr Weinen deutlich,
denn das ganze Volk schweigt nun, um das Keuchen des Sterbenden zu vernehmen.
Wieder eine tiefe Stille. Dann,
mit unendlicher Sanftmut und wie ein flehentliches Gebet, die Bitte: «Vater,
in deine Hände empfehle ich meinen Geist!»
Und wieder Schweigen. Auch das
Röcheln wird leiser. Kaum ein Hauch vom Hals zu den Lippen.
Dann schließlich der letzte
Krampf Jesu. Ein furchtbarer Krampf, der den mit den drei Nägeln an das Holz
gehefteten Körper losreißen zu wollen scheint, läuft dreimal von den Füßen bis
zum Kopf und durch alle die armen, gequälten Nerven, hebt dreimal den
Unterleib auf unnatürliche Art und läßt ihn dann wieder sinken; nachdem er ihn
aufgebläht hat wie bei einer Verstimmung der Eingeweide, fällt er zurück und
sinkt ein, als wäre er leer. Den Oberkörper hebt er, bläht ihn auf und zieht
ihn dann wieder so heftig zusammen, daß die Haut zwischen den stark
hervortretenden Rippen verschwindet und die Geißelwunden sich erneut öffnen.
Das Haupt wird einmal, zweimal, dreimal heftig zurückgeworfen und schlägt hart
gegen das Holz. Alle Gesichtsmuskeln verkrampfen sich und ziehen sich
zusammen, was noch die Verzerrung des Mundes nach rechts betont. Die Augen
sind stark geweitet, und man sieht die Augäpfel kreisen und die Sklera
erscheinen. Der ganze Körper spannt sich an, und beim letzten der drei Krämpfe
ist er ein gespannter, zitternder, furchtbar anzusehender Bogen. Dann zerreißt
ein gewaltiger, für diesen erschöpften Körper unvorstellbarer Schrei die
Stille, der «große Schrei», von dem die Evangelien berichten und der die erste
Hälfte des Wortes «Mama» ist ... Und dann nichts mehr...
Das Haupt fällt wieder auf die
Brust, der Körper nach vorn. Das Zittern hört auf, der Atem ebenfalls. Jesus
ist verschieden.
Die Welt antwortet auf den Schrei
des Getöteten mit einem furchterregenden Getöse. Es scheint, als würden
Tausende von Riesenmäulern ein einziges Brüllen ausstoßen. Und über diesem
schrecklichen Akkord der ohrenbetäubende Lärm der einzelnen Blitze, die in
alle Richtungen über den Himmel und auf die Stadt, den Tempel und die Menge
herniederfahren... Es müssen Menschen vom Blitz erschlagen worden sein, denn
das Volk ist direkt betroffen. Die Blitze sind das einzige sporadische Licht,
das mir erlaubt zu sehen.
Und dann plötzlich, während die
Entladungen der Blitze noch andauern, wird die Erde von einem zyklonartigen
Wirbelsturm geschüttelt. Erdbeben und Sturm verbinden sich zu einer
apokalyptischen Strafe für die Gotteslästerer. Der Gipfel des Golgotha bebt
und wankt wie ein Teller in der Hand eines Irren bei den heftigen kurzen oder
auch wellenartigen Stößen, die die drei Kreuze derart schütteln, daß man
glaubt, sie müßten umfallen.
281
Longinus, Johannes und die
Soldaten halten sich fest, wo sie können und wie sie können, um nicht
umzufallen. Johannes umfängt mit einem Arm das Kreuz und hält mit dem anderen
Maria, die sich in ihrem Schmerz und wegen des Schwankens an seine Brust
fallen läßt. Die anderen Soldaten, besonders die auf der steil abfallenden
Seite, haben sich in die Mitte geflüchtet, um nicht über den Fels
hinabzustürzen. Die Räuber schreien vor Schreck, die Menge schreit noch lauter
und möchte fliehen, aber sie kann nicht. Einer fällt über den anderen, sie
treten sich, stürzen in die Risse des Erdbodens, verletzen sich und rollen den
Hang hinunter, wie von Sinnen.
Dreimal wiederholen sich Erdbeben
und Sturmwind; dann herrscht die vollkommene Reglosigkeit einer toten Welt.
Nur Blitze, auf die jedoch kein Donner folgt, fahren noch über den Himmel und
beleuchten die Szene der in alle Richtungen fliehenden Juden. Sie fliehen,
raufen sich die Haare, strecken die Hände vor sich aus oder zum Himmel, den
sie bis jetzt verachtet haben und nun fürchten. Ein Lichtschimmer durchdringt
die Finsternis und läßt mich zusammen mit den lautlosen magnetischen Blitzen
erkennen, daß viele am Boden liegen: tot oder bewußtlos, ich weiß es nicht.
Ein Haus brennt innerhalb der Mauern, und die Flammen steigen senkrecht auf in
der ruhigen Luft und bilden einen feurigroten Punkt in dem grüngrauen Dunst.
Maria hebt das Haupt von der
Brust des Johannes und schaut zu ihrem Jesus auf. Sie ruft ihn, denn sie kann
bei dem schwachen Licht mit ihren armen Augen voller Tränen nur schlecht
sehen. Dreimal ruft sie: «Jesus! Jesus! Jesus!» Es ist das erste Mal, daß sie
ihn beim Namen ruft, seit sie auf dem Kalvarienberg ist. Endlich sieht sie ihn
im Licht eines Blitzes, der eine Art Krone über dem Gipfel des Golgotha
bildet. Reglos, ganz nach vorn hängend, mit so tief und zur rechten Seite
geneigtem Haupt, daß es mit der Wange die Schulter und mit dem Kinn die Rippen
berührt, und sie versteht. Sie streckt die in der dunklen Luft zitternden Arme
aus und schreit: «Mein Sohn! Mein Sohn! Mein Sohn!» Dann horcht sie... Sie hat
den Mund geöffnet, als wollte sie auch mit diesem hören, wie sie auch die
Augen weit geöffnet hat, um zu sehen, zu sehen... Sie kann nicht glauben, daß
ihr Sohn nicht mehr ist...
Johannes, der ebenfalls geschaut
und gelauscht und verstanden hat, daß alles zu Ende ist, umarmt Maria und
versucht, sie wegzuführen mit den Worten: «Er leidet nicht mehr.»
Doch bevor der Apostel den Satz
beendet hat, befreit sich Maria, die nun auch verstanden hat, aus seinem Arm,
dreht sich um, krümmt sich fast bis zum Boden, schlägt die Hände vor die Augen
und schreit: «Ich habe keinen Sohn mehr!»
Dann wankt sie und würde fallen,
wenn Johannes sie nicht auffangen und an sein Herz drücken würde. Er setzt
sich auf den Boden, um sie
282
besser halten zu können, bis die
Marien, die nun nicht mehr von dem oberen Ring der Bewaffneten zurückgehalten
werden, den Apostel bei der Mutter ablösen. Denn seit die Juden geflohen sind,
stehen die Römer alle zusammen auf dem unteren Platz und machen ihre
Kommentare über das Vorgefallene.
Magdalena setzt sich an die
Stelle, an der Johannes gesessen ist, und nimmt Maria fast auf den Schoß, hält
sie in den Armen an ihrer Brust, küßt das blutleere, an die barmherzige
Schulter gelehnte Gesicht. Martha und Susanna befeuchten ihr mit einem in
Essig getauchten Schwamm und einem Tuch die Schläfen und die Nasenlöcher,
während die Schwägerin Maria die Hände küßt und sie verzweifelt beim Namen
ruft; und als Maria die Augen öffnet und benommen vor Schmerz um sich schaut,
sagt sie: «Kind, mein liebes Kind, hör zu... Sage mir, daß du mich siehst...
Ich bin deine Maria... Schau mich nicht so an... !» Und als das erste
Schluchzen aus der Kehle Marias dringt und die ersten Tränen fallen, sagt sie,
die gute Maria des Alphäus: «Ja, ja, weine nur... Hier bei mir, wie bei einer
Mutter, mein armes, heiliges Kind!» Als sie sagen hört: «Oh, Maria! Maria,
hast du gesehen?», da stöhnt sie: «Ja, ja... aber... aber Kind... Oh, Kind...
!» Sie weiß nichts anderes zu sagen und weint, die alte Maria. Ein trostloses
Weinen, in das alle anderen einstimmen, also Martha und Maria, die Mutter des
Johannes und Susanna.
Die anderen frommen Frauen sind
nicht mehr da. Ich nehme an, daß sie fortgegangen sind, und ebenso die Hirten,
als man den Schrei der Frau gehört hat...
Die Soldaten schwatzen
miteinander.
«Hast du die Juden gesehen? Nun
haben sie aber Angst bekommen.»
«Sie haben sich an die Brust
geschlagen.»
«Die Priester sind am meisten
erschrocken.»
«Welch ein Schreck! Ich habe
schon andere Erdbeben erlebt, aber so eines noch nie. Sieh nur, der Boden ist
voller Risse.»
«Dort ist ein Teil der langen
Straße abgerutscht.
«Dort unten liegen Leichen.»
«Laß sie nur. Einige Schlangen
weniger!»
«Oh, noch ein Brand! Auf dem Feld
...»
«Aber ist er wirklich tot?»
«Siehst du es denn nicht? Hast du
noch Zweifel?»
Joseph und Nikodemus kommen
hinter dem Felsen hervor. Sicher haben sie sich dorthin in den Schutz des
Berges geflüchtet, um sich vor den Blitzen zu retten. Sie gehen zu Longinus:
«Wir wollen den Leichnam haben.»
«Nur der Prokonsul kann das
erlauben. Geht und beeilt euch, denn ich habe gehört, daß die Juden zum
Prätorium gehen wollten, um das Zerbrechen der Knochen zu fordern. Ich möchte
nicht, daß dies geschieht.»
«Woher weißt du das?»
283
«Eine Meldung des Fähnrichs.
Geht. Ich warte.»
Die beiden eilen den steilen Weg
hinunter und verschwinden.
Nun begibt sich Longinus zu
Johannes und sagt leise etwas zu ihm, was ich nicht verstehe. Dann läßt er
sich von einem Soldaten eine Lanze reichen. Er schaut die Frauen an, die sich
um Maria bemühen, die langsam wieder zu Kräften kommt. Sie drehen alle dem
Kreuz den Rücken zu.
Longinus stellt sich vor das
Kreuz, zielt gut und stößt zu. Die breite Lanze dringt tief von unten nach
oben und von rechts nach links ein.
Johannes kämpft mit sich
zwischen, dem Wunsch zu sehen und der Angst zu sehen und wendet einen
Augenblick das Gesicht ab.
«Es ist geschehen, Freund», sagt
Longinus und fügt hinzu: «Besser so, wie bei einem Ritter. Und ohne die
Gebeine zu zerbrechen... Er war wirklich ein Gerechter!»
Aus der Wunde quillt viel Wasser
und kaum ein wenig Blut, das schon gerinnt. Quillt, habe ich gesagt. Es rinnt
nur langsam aus dem glatten reglosen Schnitt, der sich öffnen und schließen
würde, wenn der Atem den Brustkorb noch bewegen würde...
Während der tragische Anblick des
Kalvarienberges unverändert bleibt, hole ich Joseph und Nikodemus ein, die auf
einer Abkürzung hinuntersteigen, um rascher ans Ziel zu gelangen.
Sie sind beinahe am Fuß des
Berges angekommen, als sie Gamaliel begegnen. Einem ungekämmten Gamaliel, ohne
Kopfbedeckung, ohne Mantel, das herrliche Gewand mit Erde beschmutzt und von
Dornen zerrissen. Einem Gamaliel, der eilenden Schrittes und keuchend
hinaufläuft, die Hände in den schütteren, stark ergrauten Haaren, die ihn als
alten Mann kennzeichnen. Sie reden ohne stehenzubleiben.
«Gamaliel! Du?»
«Du, Joseph? Du verläßt ihn?»
«Nein. Aber weshalb bist du hier?
Und in diesem Zustand ... ?»
«Furchtbares ist geschehen! Ich
war im Tempel! Das Zeichen! Der Tempel ist aus den Fugen geraten! Der Vorhang
aus Purpur und Hyazinth ist zerrissen! Das Allerheiligste ist enthüllt! Der
Fluch ist über uns!»Während er gesprochen hat, ist er weitergelaufen, wie von
Sinnen über den Beweis.
Die beiden schauen ihm nach...
Sie schauen sich an und sagen dann gleichzeitig: «"Diese Steine werden bei
meinen letzten Worten erbeben." Er hatte es ihm versprochen... !»
Sie beschleunigen ihre Schritte
in Richtung zur Stadt.
Über die Felder zwischen dem Berg
und den Mauern und noch weiter weg irren in der noch dunstigen Luft Menschen
mit verstörten Gesichtern... Rufe, Klagen, Weinen... Die einen sagen: «Sein
Blut hat Feuer regnen lassen!» Andere: «Zwischen den Blitzen ist Jahwe
erschienen und hat den Tempel verflucht!» Wieder andere stöhnen: «Die Gräber!
Die Gräber!»
284
Joseph packt einen, der den Kopf
an die Mauer schlägt, ruft ihn beim Namen und zieht ihn mit sich, während er
in die Stadt hineingeht: «Simon, aber was sagst du da?»
«Laß mich! Auch du bist ein
Toter! Alle sind tot! Alle sind herausgekommen! Und alle verfluchen mich!»
«Er ist verrückt geworden», sagt
Nikodemus.
Sie lassen ihn laufen und gehen
weiter zum Prätorium.
Die Stadt ist eine Beute des
Schreckens. Herumirrende Menschen schlagen sich an die Brust. Andere springen
zurück oder wenden sich entsetzt um, wenn sie hinter sich eine Stimme oder
einen Schritt hören.
Unter einem der vielen finsteren
Bögen läßt die Gestalt des Nikodemus in seinem weißen Wollgewand – denn um
rascher gehen zu können, hat er auf dem Golgotha den dunklen Mantel abgelegt –
einen fliehenden Pharisäer einen Schreckschrei ausstoßen. Als er dann erkennt,
daß es Nikodemus ist, hängt er sich in einem sonderbaren Gefühlserguß an
seinen Hals und schreit: «Verfluche mich nicht! Meine Mutter ist mir
erschienen und hat mir gesagt: "Sei verflucht in alle Ewigkeit".» Dann wirft
er sich zu Boden und stöhnt: «Ich habe Angst! Ich habe Angst!»
«Sind sie denn alle verrückt
geworden?» sagen die beiden.
Das Prätorium ist erreicht. Erst
hier erfahren Joseph und Nikodemus den Grund so großen Schreckens, während sie
darauf warten, vom Prokonsul empfangen zu werden. Viele Gräber haben sich
während des Erdbebens geöffnet, und es gibt einige, die schwören, die Skelette
herauskommen gesehen zu haben; einen Augenblick lang haben sie wieder
menschliches Aussehen angenommen, die Schuldigen des Gottesmordes angeklagt
und sie verflucht.
Ich lasse sie im Atrium des
Prätoriums, in das die beiden Freunde Jesu, ohne törichten Widerwillen und
Furcht, sich zu verunreinigen, eintreten, kehre zum Kalvarienberg zurück und
hole Gamaliel ein, der nun völlig erschöpft die letzten Meter zum Gipfel
hinaufsteigt. Dabei schlägt er sich unablässig an die Brust, und als er den
unteren Platz erreicht, wirft er sich in seiner ganzen weißen Länge auf den
gelblichen Erdboden und klagt: «Das Zeichen! Das Zeichen! Sage mir, daß du mir
verzeihst! Ein Seufzer, nur ein Seufzer, um mir zu sagen, daß du mich hörst
und mir verzeihst.»
Ich verstehe, daß Gamaliel
glaubt, Jesus sei noch am Leben. Er glaubt es so lange, bis ein Soldat ihn mit
der Lanze berührt und sagt: «Steh auf und sei still. Es nützt nichts mehr. Du
hättest es dir früher überlegen sollen. Er ist tot. Und ich, ein Heide, sage
dir: Dieser, den ihr gekreuzigt habt, war wahrhaft Gottes Sohn!»
«Tot? Tot bist du? Oh!» Gamaliel
erhebt das zutiefst erschrockene Antlitz und versucht, im Dämmerlicht den
Gipfel zu erkennen. Er sieht wenig, aber genug um zu begreifen, daß Jesus tot
ist. Er sieht die fromme Gruppe, die Maria tröstet, den weinenden Johannes
links vom Kreuz und
285
rechts Longinus, der gerade und
feierlich in respektvoller Haltung dasteht.
Gamaliel richtet sich auf den
Knien auf, breitet die Arme aus und weint: «Du bist es gewesen! Du bist es
gewesen! Nun kann uns nicht mehr verziehen werden. Wir haben dein Blut über
uns herabgerufen. Und es schreit zum Himmel, und der Himmel verflucht uns...
Oh, aber du warst die Barmherzigkeit! ... Ich sage dir, ich, der vernichtete
Rabbi von Judäa: "Dein Blut komme über uns, aus Erbarmen." Besprenge uns
damit! Denn nur dies kann uns Vergebung erlangen ...» Er weint. Dann bekennt
er mit leiserer Stimme seine geheime Qual: «Ich habe das verlangte Zeichen...
Aber Jahrhunderte über Jahrhunderte geistiger Blindheit liegen auf meinen
inneren Augen, und gegen meinen jetzigen Willen erhebt sich wieder die Stimme
meines stolzen Denkens von gestern... Habe Erbarmen mit mir! Licht der Welt,
sende deinen Strahl in die Finsternis, die dich nicht begriffen hat. Ich bin
der alte Jude, der immer dem treu geblieben ist, was er für Gerechtigkeit
hielt und was in Wirklichkeit Irrtum war. Nun bin ich ein ödes Land, ohne
einen der alten Bäume des alten Glaubens, ohne Samen oder Halme des neuen
Glaubens. Ich bin eine dürre Wüste. Wirke du das Wunder, und laß eine Blume
sprießen, die deinen Namen trägt, in diesem armen Herzen des alten
hartnäckigen Israeliten. Durchdringe du, Befreier, diese meine armen Gedanken,
die Gefangene der Formeln sind. Isaias sagt es: "Er bezahlte für die Sünder
und nahm die Schuld der vielen auf sich." Oh, auch meine, Jesus von
Nazareth...»
Er erhebt sich, betrachtet das
Kreuz, das immer klarer erkennbar ist im zunehmenden Licht, und geht dann
gebeugt, gealtert, vernichtet weg.
Auf dem Kalvarienberg kehrt das
kaum vom Weinen Marias unterbrochene Schweigen wieder.
Die beiden Räuber, erschöpft vor
Angst, sprechen nicht mehr.
Joseph und Nikodemus kommen
eilenden Schrittes zurück und sagen, daß sie von Pilatus die Erlaubnis haben.
Aber Longinus, der ihnen nicht ganz traut, schickt einen Soldaten zu Pferd zum
Prokonsul, auch um zu erfahren, was er mit den beiden Räubern tun soll. Der
Soldat geht und kehrt bald darauf im Galopp zurück mit dem Befehl, Jesus zu
übergeben und den beiden anderen die Gebeine zu zerbrechen, gemäß dem Wunsch
der Juden.
Longinus ruft die vier
Henkersknechte, die sich feige hinter den Felsen verkrochen haben und immer
noch vor Angst über das Vorgefallene zittern, und befiehlt ihnen, die beiden
Räuber mit Keulenschlägen zu töten. Dies geschieht ohne Protest bei Dismas,
der, als ihn ein Keulenschlag auf das Herz trifft, nachdem man ihm schon die
Knie zerschlagen hat, gerade röchelnd den Namen Jesu ausspricht. Der andere
Räuber hingegen stößt schreckliche Flüche aus. Ihr Röcheln ist schaurig.
286
Die vier Henker wollen sich nun
auch mit Jesus befassen und ihn vom Kreuz abnehmen. Doch Joseph und Nikodemus
erlauben es nicht.
Auch Joseph legt seinen Mantel ab
und fordert Johannes auf, dasselbe zu tun und die Leiter zu halten, während
die beiden mit Hebeln und Zangen hinaufsteigen.
Maria erhebt sich zitternd,
gestützt von den Frauen, und nähert sich dem Kreuz.
Die Soldaten ziehen ab, da ihre
Aufgabe beendet ist. Longinus wendet sich, bevor er den unteren Platz verläßt,
noch einmal auf seinem Rappen um und betrachtet Maria und den Gekreuzigten.
Dann hört man das sich immer weiter entfernende Klappern der Hufe auf den
Steinen und das Klirren der Waffen, die gegen die Harnische schlagen.
Der linke Nagel ist
herausgezogen, und der Arm fällt am Körper herunter, der nun halb losgelöst
herabhängt. Die beiden bitten Johannes, ebenfalls heraufzusteigen und die
Leitern den Frauen zu überlassen.
Johannes steht nun auf der
Leiter, wo zuvor Nikodemus war, legt sich den Arm Jesu um den Hals und hält
ihn so auf seiner Schulter; mit einem Arm umfaßt er seine Mitte und hält mit
der anderen Hand die linke Hand Jesu an den Fingerspitzen, um die furchtbare
klaffende Wunde nicht zu berühren. Als der Nagel an den Füßen entfernt ist,
hat Johannes große Mühe, den Leichnam seines Meisters zwischen dem Kreuz und
seinem Körper zu halten.
Maria setzt sich schon mit dem
Rücken zum Kreuz an seinen Fuß und ist bereit, Jesus in ihrem Schoß zu
empfangen.
Doch die Loslösung des rechten
Armes ist sehr schwierig. So sehr sich Johannes auch bemüht, hängt der Körper
doch sehr weit vor und der Kopf des Nagels bohrt sich in die Hand hinein. Da
die beiden Barmherzigen diese nicht noch mehr verwunden wollen, müssen sie
sich viel Mühe geben. Endlich gelingt es ihnen, den Nagel mit der Zange zu
fassen und ihn ganz langsam herauszuziehen.
Johannes hält Jesus, dessen Kopf
über seine Schulter hängt, immer noch unter den Achseln, während Nikodemus die
Schenkel und Joseph die Knie umfaßt. So steigen sie vorsichtig die Leiter
hinunter.
Unten angelangt wollen sie den
Leichnam auf ein Leinentuch legen, das sie auf ihren Mänteln ausgebreitet
haben. Doch Maria will ihren Sohn haben. Sie hat ihren Mantel geöffnet und ihn
auf einer Seite ausgebreitet, und sie hat auch ihre Knie etwas geöffnet, so
daß sie für ihren Jesus eine Wiege bilden.
Während die Jünger sich umdrehen,
um ihr den Sohn zu geben, fällt das dornengekrönte Haupt nach hinten und die
Arme hängen zur Erde und würden mit den verwundeten Händen am Boden streifen,
wenn die mitleidigen frommen Frauen sie nicht halten würden.
Nun liegt er im Schoß der
Mutter... Er gleicht einem großen, müden
287
Kind, das ganz zusammengekauert
an der Brust der Mutter ruht. Maria hält ihn in ihrem rechten Arm, den sie um
die Schultern des Sohnes gelegt hat, und mit dem linken faßt sie über seinen
Leib und hält ihn an der Hüfte. Der Kopf liegt auf der mütterlichen Schulter.
Und sie ruft ihn... sie ruft ihn mit herzzerreißender Stimme. Dann löst sie
ihn von ihrer Schulter und liebkost ihn mit der Linken. Sie nimmt seine Hände,
biegt sie gerade, küßt sie und beweint die Wunden, bevor sie sie über dem
toten Schoß kreuzt. Dann liebkost sie die Wangen, besonders dort, wo der blaue
Fleck und die Schwellung ist. Sie küßt die eingesunkenen Augen und den auf der
rechten Seite etwas schief gebliebenen und leicht geöffneten Mund. Sie möchte
auch sein Haar ordnen, wie sie den blutverkrusteten Bart in Ordnung gebracht
hat. Aber dabei stößt sie auf die Dornen. Sie sticht sich, als sie die Krone
abnimmt, und will es doch selbst tun mit der einen freien Hand, weist alle ab
und sagt: «Nein, nein! Ich! Ich!» Es scheint, als habe sie das zarte Köpfchen
eines Neugeborenen vor sich, so sanft geht sie dabei vor. Und als es ihr
gelungen ist, diese quälende Krone abzunehmen, neigt sie sich, um alle Kratzer
der Dornen mit Küssen zu heilen. Mit zitternder Hand teilt sie das wirre Haar,
ordnet es und spricht leise, leise, leise und wischt mit den Fingern die
Tränen ab, die auf den armen, kalten, blutigen Körper fallen, und will ihn
dann mit ihren Tränen und ihrem Schleier reinigen, der noch die Lenden Jesu
bedeckt. Sie zieht ein Ende davon herauf und säubert und trocknet damit die
heiligen Glieder. Immer wieder liebkost sie das Antlitz, die Hände, dann die
zerschlagenen Knie und beginnt erneut, den Körper zu trocknen, auf den Tränen
über Tränen fallen.
Während sie das tut, berührt ihre
Hand die Seitenwunde. Die kleine, von dem leichten Linnen bedeckte Hand
verschwindet fast ganz in der weiten Öffnung der Wunde. Maria beugt sich vor,
um in dem inzwischen eingetretenen Zwielicht zu sehen, und sie sieht. Sie
sieht die geöffnete Brust und das Herz ihres Sohnes und schreit auf. Es ist,
als ob ein Schwert ihr Herz durchbohren würde. Sie schreit, fällt dann
vorwärts über ihren Sohn und scheint ebenfalls tot zu sein.
Die anderen eilen ihr zu Hilfe
und trösten sie. Sie wollen ihr den göttlichen Toten abnehmen, und da sie
klagt: «Wo, wo werde ich dich niederlegen, damit du in Sicherheit bist und an
einem Ort, der deiner würdig ist?», antwortet Joseph mit einer tiefen,
ehrfurchtsvollen Verbeugung, die Hand auf die Brust gelegt: «Tröste dich,
Frau. Mein Grab ist neu und eines Vornehmen würdig. Ich gebe es ihm. Dieser
hier, Nikodemus, der Freund, hat schon die Aromen als seinen Beitrag zum Grab
gebracht. Aber ich bitte dich, da es bereits Abend wird, laß uns handeln... Es
ist Rüsttag. Sei gut, o heilige Frau!»
Auch Johannes und die Frauen
bitten sie, und Maria läßt sich ihren Sohn vom Schoß nehmen. Sie erhebt sich
mühsam, während man Jesus in das Leinentuch hüllt, und bittet: «Oh, seid
vorsichtig!»
288
Sie heben nun, Nikodemus und
Johannes an den Schultern und Joseph an den Füßen, den nicht nur in das Linnen
gehüllten, sondern auch auf den Mänteln, die als Tragbahre dienen, ruhenden
Leichnam auf und begeben sich auf den Weg abwärts.
Von der Schwägerin und Magdalena
gestützt und von Martha, Maria des Zebedäus und Susanna, die die Nägel, die
Zangen, die Dornenkrone, den Schwamm und das Rohr aufgehoben haben, gefolgt,
geht Maria zum Grab hinunter.
Auf dem Kalvarienberg bleiben die
drei Kreuze zurück, von denen das mittlere leer ist, während die anderen
beiden ihre sterbende Trophäe aus Fleisch und Blut tragen.
«Und nun», sagt Jesus, «paß gut
auf. Ich erspare dir die Beschreibung der Grablegung, die schon letztes Jahr
am 19. Februar 1944 gegeben wurde. Ihr sollt daher diese nehmen, und P. M.
soll an deren Ende die Klage Marias setzen, die ich am 4. Oktober 1944 gegeben
habe. Dann kannst du anfügen, was du danach sehen wirst. Es sind neue Teile
der Passion, und sie müssen genau an ihrem Platz eingefügt werden, damit es
kein Durcheinander gibt und keine Lücken entstehen.»
671. DAS GRAB DES JOSEPH VON
ARIMATHÄA; DIE FURCHTBARE SEELENQUAL MARIAS UND DIE EINBALSAMIERUNG DES
ERLÖSERS
Zu sagen, was ich empfinde, ist
unnötig. Es wäre nur eine Beschreibung meines Leidens, das unbedeutend ist in
Anbetracht des Leidens, das ich sehe. Ich beschreibe also, ohne etwas über
mich selbst zu sagen.
Ich bin bei der Grablegung
unseres Herrn anwesend.
Nachdem der kleine Zug den
Kalvarienberg hinabgestiegen ist, befindet er sich an seinem Fuß vor dem in
den Kalkstein gehauenen Grab des Joseph von Arimathäa. Dort hinein gehen die
Barmherzigen mit dem Leichnam Jesu.
Ich sehe das Grab so: Es ist eine
in den Stein gehauene Stätte am Ende eines blühenden Gemüsegartens. Sie
gleicht einer Höhle, aber man erkennt, daß sie von Menschenhand geschaffen
wurde. Sie enthält die eigentliche Grabkammer mit ihren Grabnischen, die aber
anders sind als bei den Katakomben. Diese hier sind eine Art in den Stein
gehauene runde Löcher, ähnlich den Öffnungen eines Bienenstocks – damit man
eine ungefähre Vorstellung davon hat. Die leere Höhlung jeder Grabnische sieht
aus wie ein schwarzer Fleck auf dem gräulichen Stein. Vor dieser Grabkammer
befindet sich etwas wie ein Vorraum und in seiner Mitte der steinerne Tisch
für die Einbalsamierung. Auf diesen legt man Jesus in seinem Leinentuch.
289
Es kommen nun auch Johannes und
Maria herein. Sonst niemand, denn der Vorbereitungsraum ist klein, und wenn es
mehr Personen wären, könnten sie sich nicht mehr bewegen. Die anderen Frauen
stehen an der Tür, das heißt, an der Öffnung, denn es gibt keine eigentliche
Tür.
Die beiden Träger wickeln Jesus
aus.
Während sie in einer Ecke, auf
einer Art Regal, im Schein zweier Fackeln die Binden und die Salben
vorbereiten, neigt sich Maria über ihren Sohn und weint. Und wieder trocknet
sie ihn mit dem Ende des Schleiers, der noch um die Lenden Jesu gewickelt ist.
Diese mütterlichen Tränen sind die einzige Waschung für den Leichnam Jesu, und
obgleich sie reichlich fließen, gelingt es mit ihnen nur oberflächlich und
teilweise, Staub, Schweiß und Blut von diesem gequälten Körper abzuwaschen.
Maria wird nicht müde, die
eiskalten Glieder zu liebkosen. Mit einer noch größeren Zartheit als wenn sie
ein Neugeborenes berühren würde, nimmt sie die armen zerrissenen Hände in die
ihren, küßt die Finger, streckt sie und versucht, die offenen Wunden zu
schließen, wie um dadurch den Schmerz zu lindern. Sie drückt diese Hände, die
nicht mehr liebkosen können, an ihre Wangen und seufzt, stöhnt in ihrem
übergroßen Schmerz. Sie streckt und legt die armen Beine nebeneinander, um die
sich nun, da sie todmüde sind von ihrem weiten Weg für uns, niemand kümmert.
Aber die Füße sind am Kreuz zu sehr verrenkt worden, und besonders der linke
ist so flach, als hätte er keine Ferse mehr.
Dann wendet sie sich wieder dem
Rumpf zu und liebkost ihn, der so kalt und schon starr ist. Und als sie noch
einmal den Einstich der Lanze sieht, der nun, da der Erlöser auf der
Steinplatte ausgestreckt ist, wie ein offener Mund gähnt und noch besseren
Einblick in den Brustkorb gewährt (man sieht deutlich die Herzspitze zwischen
dem Brustbein und dem linken Rippenbogen, und etwa zwei Zentimeter weiter oben
ist der Einstich der Lanzenspitze im Pericardium und im Cardium, gut
eineinhalb Zentimeter lang, während der äußere an der rechten Seite mindestens
sieben lang ist), schreit Maria wieder auf wie auf dem Kalvarienberg. Es ist
als würde die Lanze sie durchbohren, so sehr windet sie sich in ihrem Schmerz.
Und sie preßt die Hände auf ihr Herz, das durchbohrt ist wie das Herz Jesu.
Wie viele Küsse auf diese Wunde, arme Mutter!
Dann wendet sie sich wieder dem
Haupt zu und legt es gerade, denn es ist leicht nach hinten und stark nach
rechts gedreht. Sie versucht, die Lider zu schließen, die sich immer wieder
halb öffnen, und den verkrampften offenen Mund, der auf der rechten Seite ein
wenig schief ist. Sie glättet die Haare, die gestern noch so schön und
ordentlich waren und nun ein blutgetränktes Gewirr sind. Sie entwirrt die
längeren Strähnen, streicht sie glatt über ihren Fingern und rollt sie auf, um
ihnen die Form der schönen Haare ihres Sohnes wiederzugeben, die so weich und
lockig waren. Sie seufzt und seufzt, denn sie erinnert sich an die Zeit, als
er noch ein
290
Kind war... Dies ist der
Hauptgrund ihres Schmerzes: die Erinnerung an die Kindheit Jesu, an ihre Liebe
zu ihm, an ihre Sorge, die schon ein etwas lebhafteres Lüftchen für das
göttliche Kind fürchtete, und der Vergleich mit dem, was ihm die Menschen nun
angetan haben.
Ihre Klage macht mich krank. Und
ihre Geste, als sie stöhnt: «Was haben sie, was haben sie dir getan, mein
Sohn?» und, da sie ihn nicht so sehen kann, nackt und steif auf einem Stein,
nimmt sie ihn in ihre Arme, indem sie einen Arm unter seine Schultern schiebt,
ihn mit der anderen Hand an ihre Brust drückt und ihn wiegt mit derselben
Bewegung wie in der Geburtsgrotte – all das treibt mir die Tränen in die
Augen, und ich leide, als ob eine Hand in meinem Herzen wühlen würde.
Die furchtbare Seelenqual Marias.
Die Mutter steht aufrecht am
Tisch der Einbalsamierung, liebkost und betrachtet, seufzt und weint. Das
zitternde Licht der Fackel beleuchtet ab und zu ihr Antlitz, und ich sehe
große Tränen über die bleichen Wangen und das gequälte Gesicht rinnen. Und ich
höre die Worte. Alle. Sehr deutlich, obgleich sie nur geflüstert sind; ein
wahres Zwiegespräch des mütterlichen Herzens mit der Seele des Sohnes. Ich
erhalte die Weisung, sie aufzuschreiben.
«Armer Sohn! Wie viele Wunden!
... Wie sehr hast du gelitten! Schau, was sie dir angetan haben! ... Wie bist
du kalt, mein Sohn! Deine Finger sind eisig. Und wie leblos sie sind! Sie
scheinen gebrochen zu sein. Niemals, weder im sorglosen Schlaf deiner Kindheit
noch im schweren Schlaf des müden Handwerkers habe ich sie je so reglos
gesehen... Und wie kalt sie sind! Arme Hände! Gib sie deiner Mutter, mein
Kleinod, heilige Liebe, du meine Liebe! Schau, wie verwundet sie sind! Sieh
doch, Johannes, welche Wunde! Oh, ihr Grausamen! Hier, hier, gib deiner Mutter
diese verwundete Hand, damit ich sie pflege. Oh, ich werde dir nicht wehtun...
Mit Küssen und Tränen werde ich sie heilen und sie mit meinem Atem und meiner
Liebe erwärmen. Schenke mir eine Liebkosung, mein Sohn. Du bist Eis, und ich
glühe im Fieber. Dein Eis wird mein Fieber lindern, und mein Fieber wird dein
Eis erwärmen. Eine Liebkosung, Sohn! Erst wenige Stunden sind es, daß du mich
nicht liebkost, und es scheinen mir Jahrhunderte zu sein. Es gab Monate, da
ich deine Liebkosungen vermißte, und sie kamen mir wie Stunden vor, denn ich
wartete immer auf dein Kommen; aus jedem Tag machte ich eine Stunde, und aus
jeder Stunde eine Minute, um mir zu sagen, daß du nicht seit einem oder
mehreren Monaten fern warst, sondern erst seit wenigen Tagen, seit wenigen
Stunden. Warum erscheint mir die Zeit jetzt so lang? Ach, unmenschliche Qual!
Warum bist du tot? Sie haben dich mir getötet! Nun bist du nicht mehr auf
Erden. Nicht mehr! Überall, wo ich meine Seele hinwende, um
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die deine zu suchen und sie zu
umarmen – denn dich zu finden, zu besitzen, zu fühlen, war ja das Leben meines
Fleisches und meines Geistes -wo immer ich dich suche mit der Woge meiner
Liebe, ich finde dich nicht mehr, nicht mehr! Von dir bleibt mir nur diese
kalte Hülle, diese seelenlose Hülle! O Seele meines Jesus, o Seele meines
Christus, o Seele meines Herrn, wo bist du? Warum habt ihr meinem Sohn die
Seele geraubt, ihr grausamen Hyänen, die ihr mit Satan im Bunde seid? Warum
habt ihr mich nicht mit ihm gekreuzigt? Habt ihr euch vor einem zweiten
Verbrechen gefürchtet? (Die Stimme wird immer lauter und herzzerreißender.)
Was hätte es schon bedeutet, eine arme Frau zu töten, für euch, die ihr euch
nicht gescheut habt, den fleischgewordenen Gott zu töten? Habt ihr kein
zweites Verbrechen begangen? Ist es denn nicht noch viel abscheulicher, die
arme Mutter eines hingeschlachteten Sohnes überleben zu lassen?»
Die Mutter, die mit der Stimme
auch das Haupt erhoben hat, neigt sich nun wieder über das erloschene Antlitz,
um leise und nur für ihn zu sprechen: «Wenigstens im Grab, wenigstens hier
wären wir zusammen gewesen, so wie wir bei der Agonie am Kreuz zusammen
gewesen wären. Und zusammen hätten wir uns auf die Reise ins andere Leben
begeben, wären wir dem anderen Leben entgegengegangen. Aber wenn ich dir auf
der Reise ins andere Leben nicht folgen kann, so kann ich wenigstens hier auf
dich warten.»
Sie richtet sich wieder auf und
sagt laut zu den Anwesenden: «Geht alle. Ich bleibe. Schließt mich hier mit
ihm ein. Ich warte auf ihn... Was sagt ihr? Das geht nicht? Warum nicht? Wenn
ich tot wäre, läge ich dann nicht auch hier an seiner Seite ausgestreckt, in
Erwartung der Einbalsamierung? Ich werde an seiner Seite sein, aber auf den
Knien. Ich war auf den Knien, als er zart und rosig in einer Dezembernacht zu
wimmern begann. Ich werde in dieser Nacht der Welt, die keinen Christus mehr
hat, hier auf den Knien sein. Oh! Wahre Nacht! Das Licht ist nicht mehr! ... O
eisige Nacht! Die Liebe ist tot! Was sagst du, Nikodemus? Daß ich mich
verunreinige? Sein Blut verunreinigt nicht. Ich habe mich auch nicht
verunreinigt, als ich ihn empfangen und geboren habe. Ach, wie tratest du
hervor, Blüte meines Schoßes, ohne eine Faser zu beschädigen; wie die Blüte
einer duftenden Narzisse, die aus dem Herzen der mütterlichen Zwiebel
entspringt und erblüht, ohne daß die Umarmung der Erde sie berührt.
Jungfräuliches Erblühen, das dem deinen gleicht, o Sohn, aus himmlischer
Umarmung entstanden und geboren unter dem strahlenden Glanz des Himmels.»
Nun neigt sich die betrübte
Mutter wieder über ihren Sohn, vergißt alles, was nicht er ist, und flüstert
leise: «Erinnerst du dich noch, Sohn, jenes herrlichen Glanzes, der alles
umgab, als dein Lächeln der Welt geboren wurde? Erinnerst du dich des
beseligenden Lichtes, das der Vater vom
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Himmel sandte, um das Geheimnis
deines Erblühens einzuhüllen und dir diese finstere Welt weniger abstoßend
erscheinen zu lassen, dir, der du das Licht warst und aus dem Licht des Vaters
und des Heiligen Geistes kamst? Und nun? ... Nun ist es finster und kalt...
Wie kalt! So kalt! Ich zittere. Mehr als in jener Dezembernacht. Damals
erwärmte mir die Freude, dich zu haben, das Herz. Und du hattest zwei, die
dich liebten... Nun... Nun bin ich allein, und auch ich sterbe. Aber ich werde
dich für zwei lieben; ich werde dich für jene lieben, die dich so wenig
geliebt haben, daß sie dich im Augenblick des Schmerzes verlassen haben; ich
werde dich lieben für alle, die dich gehaßt haben; für die ganze Welt werde
ich dich lieben, o Sohn. Du wirst das Eis der Welt nicht fühlen. Nein, du
wirst es nicht fühlen. Du hast meinen Schoß nicht geöffnet, um geboren zu
werden. Aber damit du die Kälte nicht fühlst, bin ich bereit, mich zu öffnen,
um dich in die Umarmung meines Schoßes zu verschließen. Erinnerst du dich
noch, wie dieser Schoß dich geliebt hat, kleiner lebender Keim? ... Es ist
immer noch derselbe Schoß. Oh, es ist mein Recht und meine Pflicht als Mutter.
Es ist mein Wunsch. Nur die Mutter kann sie haben, kann für den Sohn eine
Liebe haben, die so groß ist wie das Universum.»
Sie hat ihre Stimme nach und nach
wieder erhoben und sagt nun ganz laut: «Geht. Ich bleibe. Kommt in drei Tagen
wieder, dann werden wir zusammen hinausgehen. Oh, die Welt wiedersehen zu
können, auf deinen Arm gestützt, mein Sohn! Wie schön wird die Welt sein im
Licht deines auferstandenen Lächelns! Die bei dem Schritt ihres Herrn
erbebende Welt! Die Welt zitterte, als der Tod dir die Seele entriß und der
Geist aus deinem Herzen wich. Aber nun wird sie zittern... nicht mehr aus
Furcht und Schrecken, sondern in einem süßen Schauer, der mir zwar unbekannt
ist, den ich aber als Frau erahne: dem Schauer, der eine Jungfrau überläuft,
die nach langer Abwesenheit die Schritte des zur Hochzeit eintreffenden
Bräutigams vernimmt. Mehr noch: Die Welt wird von einem heiligen Schauer
erfaßt werden, wie ich erschüttert wurde bis in die tiefsten Tiefen, als ich
den einen und dreieinen Herrn in meinem Innern fühlte und der Wille des Vaters
mit dem Feuer der Liebe den Samen schuf, aus dem du hervorgingst, o mein
heiliges Kind, mein Geschöpf! Ganz mein! Ganz! Ganz der Mutter gehörend, der
Mutter!... Jedes Kind hat einen Vater und eine Mutter, sogar das uneheliche
hat einen Vater und eine Mutter. Du aber hast nur die Mutter gehabt, die für
dich das Fleisch aus Rosen und Lilien gebildet hat, diese Stickerei der Adern,
blau wie unsere Bäche von Galiläa; diese Lippen, rot wie Granatäpfel; diese
Haare, die feiner und blonder sind als das Haar unserer Bergziegen; und diese
Augen, zwei kleine Seen des Paradieses. Nein, vielmehr sind sie die Wasser,
aus denen der einzige und vierfache Strom des Ortes der Seligkeiten
hervorgeht, und er bringt mit sich in seinen vier Armen das Gold, den Onyx,
das Bdellium und das Elfenbein, und die Diamanten, die Palmen, die Rosen
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und unendliche Reichtümer, o
Pischon, o Gichon, o Tigris, o Euphrat: du Weg der in Gott jubelnden Engel, du
Weg der Könige, die dich anbeten, du Seinsgrund, der – bekannt oder unbekannt
– doch der Lebendige ist und gegenwärtig selbst in den verfinstertsten Herzen!
Nur deine Mutter hat dir dies alles gegeben durch ihr "Ja!'... Aus Harmonien
und Liebe habe ich dich gebildet. Aus Reinheit und Gehorsam habe ich dich
gebildet, o meine Freude! Was ist dein Herz? Die Flamme meines Herzens, die
sich geteilt hat, um als Krone den Kuß Gottes für seine Jungfrau zu umgeben.
Dies ist dein Herz. Ach! (Der Schrei ist so herzzerreißend, daß Magdalena und
Johannes zu Hilfe eilen. Die anderen wagen es nicht und schauen weinend und
verschleiert vom Eingang des Raumes aus zu.) Ach, sie haben dir das Herz
gebrochen. Deshalb bist du so kalt, und deshalb bin ich so kalt! Du hast in
dir nicht mehr die Flamme meines Herzens, und ich kann nicht mehr weiterleben
ohne den Widerschein jener Flamme, die mein war und die ich dir gegeben habe,
um dir ein Herz zu schaffen. Hierher, hierher, komm hierher an mein Herz!
Bevor der Tod mich dahinrafft, will ich dich wärmen, will ich dich wiegen. Ich
habe für dich gesungen: "Kein Haus, keine Nahrung, nichts als Schmerz." O
welch prophetische Worte! Schmerz, Schmerz und wieder Schmerz für dich und für
mich! Ich habe für dich gesungen: "Schlafe, schlafe an meinem Herzen." Auch
jetzt, hier, hier, hier ...»
Und sie setzt sich auf den Rand
des Steines und nimmt den Sohn auf ihren Schoß, legt einen seiner Arme um ihre
Schultern, lehnt sein Haupt an ihre Brust, neigt das ihre auf seines, drückt
ihn fest an sich und wiegt und küßt ihn, erschüttert und erschütternd!
Nikodemus und Joseph kommen näher
und legen auf eine Art Sitz auf der anderen Seite des Steines Gefäße und
Binden, das reine Grabtuch und, wie mir scheint, ein Becken mit Wasser und
etwas wie Wattebäusche.
Maria schaut auf und fragt laut:
«Was tut ihr da? Was wollt ihr? Ihn vorbereiten? Wozu? Laßt ihn im Schoß
seiner Mutter. Wenn es mir gelingt, ihn zu wärmen, wird er früher auferstehen.
Wenn es mir gelingt, den Vater zu trösten und ihn zu trösten über den
gottesmörderischen Haß, wird der Vater eher verzeihen und er eher
zurückkehren.»
Die Schmerzenreiche ist völlig
außer sich.
«Nein, ich gebe ihn euch nicht.
Ich habe ihn einmal gegeben, einmal habe ich ihn der Welt gegeben, und die
Welt hat ihn nicht gewollt. Sie hat ihn getötet, weil sie ihn nicht wollte.
Nun gebe ich ihn nicht mehr her. Was sagt ihr? Daß ihr ihn liebt? Schön. Aber
warum habt ihr ihn dann nicht verteidigt? Ihr habt gewartet, um zu sagen, daß
ihr ihn liebt, bis es soweit war, daß er euch nicht mehr hören konnte. Eine
arme Liebe ist die eure! Aber wenn ihr die Welt schon so sehr gefürchtet habt,
daß ihr nicht den Mut hattet, einen Unschuldigen zu verteidigen, hättet ihr
ihn wenigstens mir zurückgeben müssen, mir, der Mutter, damit sie ihr Kind
verteidigt.
294
Sie wußte, wer er war und was ihm
gebührte. Ihr! ... Ihr habt ihn als Meister gehabt, aber ihr habt nichts
gelernt. Ist dies vielleicht nicht wahr? Lüge ich etwa? Seid ihr euch nicht im
klaren, daß ihr nicht an seine Auferstehung glaubt? Oder glaubt ihr daran?
Nein. Warum steht ihr da und bereitet die Binden und die Salben vor? Weil ihr
ihn für einen armen Toten haltet, der heute kalt ist und morgen verwesen wird.
Und deshalb wollt ihr ihn einbalsamieren. Laßt eure Salben. Kommt und betet
den Erlöser an mit dem reinen Herzen der Hirten von Bethlehem. Seht her, es
ist nur der Schlaf des Müden, der sich ausruht. Wie sehr hat er sich in seinem
Leben gemüht! Immer mehr Mühen hat er auf sich genommen! Und in diesen letzten
Stunden erst! ... Nun ruht er sich aus. Für mich, für seine Mutter ist er
nichts als ein großes, müdes Kind, das schläft. Das Bett und der Raum sind
armselig! Aber auch sein erstes Bett war nicht schöner und seine erste Wohnung
nicht freundlicher. Die Hirten beteten den Erlöser an in seinem Schlaf als
kleines Kind. Ihr sollt den Erlöser anbeten in seinem Schlaf als Sieger über
Satan. Und dann geht hin, wie die Hirten, und verkündet der Welt: "Ehre sei
Gott! Die Sünde ist tot! Satan ist besiegt! Frieden auf Erden und im Himmel
zwischen Gott und dem Menschen!" Bereitet die Wege für seine Rückkehr. Ich
sende euch aus. Ich, die die Mutterschaft zur Priesterin des Ritus macht.
Geht. Ich habe gesagt, daß ich nicht will. Ich habe ihn mit meinen Tränen
gewaschen. Das genügt. Alles übrige ist nicht nötig. Und laßt euch nicht
einfallen, ihn einzuwickeln. Es wird einfacher für ihn sein, aufzuerstehen,
wenn ihn diese unnötigen Begräbnisbinden nicht behindern. Warum siehst du mich
so an, Joseph? Und du, Nikodemus? Haben die Schrecken dieses Tages euren
Verstand verdunkelt? Oder euch das Gedächtnis genommen? Erinnert ihr euch
nicht mehr "Diesem bösen, ehebrecherischen Geschlecht, das ein Zeichen
fordert, wird nur das Zeichen des Jonas gegeben werden... So wird der
Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein?" Erinnert ihr
euch nicht? "Der Menschensohn wird den Menschen überliefert und getötet
werden, aber am dritten Tage wird er auferstehen." Erinnert ihr euch nicht?
"Zerstört diesen Tempel des wahren Gottes, und in drei Tagen werde ich ihn
wieder aufrichten?' Der Tempel war sein Leib, o Menschen. Du schüttelst das
Haupt? Du bedauerst mich? Du glaubst, daß ich den Verstand verloren habe?
Aber... Er, der die Toten erweckt hat, soll sich selbst nicht erwecken können?
Johannes?»
«Mutter!»
«Ja, nenne mich Mutter! Ich kann
nicht leben bei dem Gedanken, daß niemand mehr mich so nennen wird! Johannes,
du bist dabeigewesen, als er die Tochter des Jairus und den Jüngling von Naim
erweckt hat. Sie waren beide tot, nicht wahr? Oder war es etwa nur ein tiefer
Schlaf? Antworte!»
295
«Sie waren tot. Das Mädchen seit
zwei Stunden, und der Jüngling seit eineinhalb Tagen.»
«Und sie sind auf seinen Befehl
hin auferstanden?»
«Ja, sie sind auf seinen Befehl
hin auferstanden.»
«Habt ihr gehört? Ihr beiden,
habt ihr gehört? Warum schüttelt ihr den Kopf? Wollt ihr vielleicht sagen, daß
das Leben in einen jungen, unschuldigen Menschen leichter zurückkehrt? Aber
mein Kind ist der Unschuldige und ewig Junge. Er ist Gott, mein Sohn... !»
Die Mutter schaut mit
schmerzerfüllten und fiebrigen Augen die beiden Männer an, die betrübt, aber
unbeirrbar die nunmehr mit Aromen getränkten Rollen der Bandagen zurechtlegen.
Maria macht zwei Schritte. Sie hat ihren Sohn auf den Stein zurückgelegt mit
der Sorgfalt, mit der man ein Neugeborenes in die Wiege legt. Nun geht sie
zwei Schritte, neigt sich am Fußende des Totenbettes, wo Magdalena auf den
Knien weint, faßt sie an den Schultern, schüttelt sie und ruft: «Maria,
antworte! Diese beiden hier glauben, daß Jesus nicht auferstehen kann, weil er
ein Mensch und an seinen Wunden gestorben ist. Aber ist denn dein Bruder nicht
älter als er?»
«Ja.»
«Und war nicht sein ganzer Leib
von Wunden bedeckt?»
«Ja.»
«War er nicht schon verwest,
bevor er ins Grab gelegt wurde?»
«Ja.»
«Und ist er nicht nach vier Tagen
der Atemlosigkeit und der Verwesung auferstanden?»
«Ja.»
«Also?»
Es folgt ein langes, bedrückendes
Schweigen. Dann ein unmenschlicher Schrei. Maria wankt und führt eine Hand zum
Herzen. Man will sie stützen, doch Maria weist alle zurück. Es sieht aus, als
würde sie die Barmherzigen abweisen. In Wirklichkeit aber weist sie den von
sich, den nur sie allein sieht. Und sie schreit: «Zurück! Zurück, du
Grausamer! Nicht diese Rache! Schweige! Ich will dich nicht hören! Schweige!
Ach, er trifft mich mitten ins Herz!»
«Wer, Mutter?»
«0 Johannes! Satan ist es. Satan,
der sagt: "Er wird nicht auferstehen. Kein Prophet hat es gesagt." O
allmächtiger Gott! Helft mir alle, ihr seligen Geister und ihr guten Menschen!
Ich verliere den Verstand! Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Was sagen
die Propheten? Was steht in den Psalmen? Oh, wer wiederholt mir die Stellen,
die von meinem Jesus handeln ?»
Und Maria Magdalena spricht mit
ihrer vollen, schönen Stimme den Psalm Davids über das Leiden des Messias.
296
Die Mutter weint, von Johannes
gestützt, noch stärker, und ihre Tränen fallen auf den toten Sohn, der ganz
naß davon ist. Maria sieht es, trocknet ihn ab und sagt mit leiser Stimme: «So
viele Tränen! Und als du so durstig warst, konnte ich dir keine einzige geben.
Nun... wasche ich dich damit. Du gleichst einem von schwerem Tau bedeckten
Strauch. Laß dich von deiner Mutter abtrocknen. Du hast schon so viel
Bitterkeit verkostet! Auf deine Lippen sollen nicht auch die Bitterkeit und
das Salz der mütterlichen Tränen fallen... !»
Dann ruft sie laut: «Maria, David
sagt es nicht... Kennst du Isaias? Wiederhole mir seine Worte...»
Magdalena sagt den Abschnitt über
die Passion auf und endet mit einem Schluchzen: «... er gab sein Leben in den
Tod dahin und ward unter die Übeltäter gezählt. Er, der die Schuld der Welt
trug und für die Sünder eintrat.»
«Oh, schweige! Nicht Tod! Nicht
dem Tod dahingegeben! Nein! Nein! Oh, euer Unglaube verbündet sich mit der
Versuchung durch Satan und will mir Zweifel ins Herz streuen! Sollte ich dir
nicht glauben, o Sohn? Deinem heiligen Wort nicht glauben? Oh, sage es meiner
Seele! Sprich! Von den fernen Ufern, zu denen du gegangen bist, um die auf
dein Kommen Wartenden zu erlösen, sende die Stimme deiner Seele meiner
sehnsüchtig wartenden Seele; sie ist hier, weit offen, um deine Stimme zu
vernehmen. Sage deiner Mutter, daß du zurückkommst. Sage: "Am dritten Tag
werde ich auferstehen." Ich bitte dich, Sohn und Gott! Hilf mir, meinen
Glauben zu bewahren. Satan versucht, ihn zu erschüttern und zu erwürgen. Satan
hat mit seinem Schlangenmaul abgelassen vom Fleisch des Menschen, da du ihm
diese Beute entrissen hast, und schlägt nun seine giftigen Fangzähne in mein
Herz, lähmt seinen Schlag und seine Kraft, nimmt ihm seine Wärme. Gott! Gott!
Gott! Laß nicht zu, daß ich dir mißtraue. Laß nicht zu, daß der Zweifel mich
erstarren läßt. Gewähre Satan nicht die Freiheit, mich in die Verzweiflung zu
treiben. Sohn! Sohn! Lege mir deine Hand aufs Herz. Sie wird Satan vertreiben.
Lege sie mir aufs Haupt. Sie wird mir das Licht zurückbringen. Heilige mit
einem Kuß meine Lippen, damit sie stark werden und sagen: "Ich glaube", auch
gegen eine ganze Welt, die nicht glaubt. Oh, welch ein Schmerz ist es, nicht
zu glauben! Vater! Denen, die nicht glauben, muß man viel verzeihen. Denn wenn
man nicht mehr glaubt... wenn man nicht mehr glaubt... ist man allen
Schrecknissen ausgesetzt. Ich sage es dir... ich, die ich diese Qual am
eigenen Leib erfahre. Vater, habe Mitleid mit den Glaubenslosen. Gib ihnen,
heiliger Vater, gib ihnen für diese dargebrachte Hostie und für mich, die
Hostie, die noch dargebracht wird, gib deinen Glauben den Ungläubigen.»
Ein langes Schweigen.
Dann geben Nikodemus und Joseph,
Johannes und Magdalena ein Zeichen.
297
«Komm, Mutter.» Magdalena hat das
Wort ergriffen und versucht, Maria von ihrem Sohn wegzuführen, die Finger Jesu
aus denen der Mutter zu lösen, die sie immer noch küßt und weint.
Die Mutter richtet sich feierlich
auf. Ein letztes Mal streckt sie die armen, blutleeren Finger aus und legt die
leblose Hand in die Seite des Leichnams. Dann läßt sie die Arme sinken, steht
sehr gerade und mit leicht zurückgeneigtem Haupt und betet und opfert. Man
hört kein Wort. Aber ihr ganzes Aussehen läßt erkennen, daß sie betet. Sie ist
wahrlich die Priesterin am Altar, die Priesterin im Augenblick der Opferung.
«Offerimus praeclarae majestati tuae de tuis donis, ac datis, hostiam puram,
hostiam sanctam, hostiam immaculatam ...»
Dann wendet sie sich um: «Fangt
also an. Aber er wird auferstehen. Es ist unnütz, daß ihr meinem Verstand
mißtraut und taub seid für die Wahrheit, die er euch gesagt hat. Vergebens
versucht Satan, meinen Glauben zu trüben. Um die Welt zu erlösen, ist auch die
meinem Herzen vom besiegten Satan zugefügte Qual nötig. Ich ertrage sie und
opfere sie für die zukünftigen Menschen auf. Leb wohl, Sohn! Leb wohl, mein
Geschöpf! Leb wohl, mein Kind! Leb wohl... Leb wohl... Heiliger... Guter...
Geliebtester und Liebenswertester... Schönheit... Freude ... Quelle des
Heils... Leb wohl... Auf deine Augen... auf deine Lippen ... auf dein goldenes
Haar... auf deine erkalteten Glieder... auf dein durchbohrtes Herz... oh, auf
dein durchbohrtes Herz... meinen Kuß... meinen Kuß... meinen Kuß... Leb
wohl... Leb wohl! ... Herr! Erbarme dich meiner!»
Jesus sagt:
«Und diese Qual hat in
periodischen Anfällen bis zum Sonntagmorgen fortgedauert. Für mich gab es bei
der Passion eine einzige Versuchung. Die Mutter hingegen, die Frau, mußte für
die Frau, die an allem Bösen schuldig war, immer wieder büßen. Und Satan hat
sich auf die Siegerin mit hundertfacher Grausamkeit gestürzt. Maria hatte ihn
besiegt. Deshalb wartete auf Maria die schrecklichste Versuchung. Die
Versuchung des Fleisches der Mutter. Die Versuchung des Herzens der Mutter.
Die Versuchung des Geistes der Mutter. Die Weit glaubt, die Erlösung sei bei
meinem letzten Atemzug vollendet gewesen. Nein. Die Mutter hat sie vollendet
durch die Hinzufügung ihrer dreifachen Qual, um von der dreifachen
Begierlichkeit zu erlösen. Drei Tage hat sie Satan bekämpft, der sie dazu
bringen wollte, mein Wort zu verleugnen und nicht an meine Auferstehung zu
glauben. Maria war die einzige, die weiterhin geglaubt hat. Sie ist groß und
heilig auch dieses Glaubens wegen.
Nun hast du auch dies
kennengelernt. Die Qual, die das Gegenstück zur Qual meines Gethsemane ist.
Die Welt wird diese Seite nicht verstehen; doch jene, "die in der Welt sind,
aber nicht von der Welt, werden sie verstehen und ihre Liebe zur
Schmerzensmutter wird dadurch wachsen. Dazu habe ich sie gegeben. Geh in
Frieden mit unserem Segen.»
Die beiden Männer sind nun fertig
mit der Vorbereitung der Binden. Sie treten an den steinernen Tisch und nehmen
das Lendentuch Jesu ab. In großer Eile wischen sie die überall tropfenden
Glieder ab, wie mir scheint mit einem Schwamm oder einem Leinenbausch. Dann
bestreichen sie den ganzen Körper mit Salben. Sie begraben ihn geradezu unter
einer
298
dicken Schicht Salbe. Zuvor noch
haben sie ihn hochgehoben und auch den steinernen Tisch gereinigt und das
Grabtuch darübergebreitet, von dem mehr als die Hälfte am Kopfende
hinunterhängt. Sie legen ihn auf den Bauch und salben den ganzen Rücken, die
Schenkel, die Beine, die ganze Rückseite. Dann drehen sie ihn vorsichtig um
und achten darauf, daß der duftende Balsam nicht abgewischt wird, und salben
nun auch die Vorderseite. Zuerst den Rumpf, dann die Glieder. Sie beginnen an
den Füßen und enden mit den Händen, die sie über dem Unterleib zusammenlegen.
Die Salbenmischung muß klebrig wie Leim sein, denn ich sehe, daß die Hände an
ihrem Platz bleiben, während sie vorher durch das Gewicht des toten Fleisches
immer hinuntergerutscht sind. Die Füße nicht. Sie bleiben an ihrem Platz, der
eine etwas gerader, der andere leicht gestreckt. Zum Schluß kommt das Haupt.
Nachdem sie es sorgfältig gesalbt haben, so daß die Züge unter der
Salbenschicht verschwinden, binden sie das Kinn auf, um den Mund geschlossen
zu halten.
Maria stöhnt lauter. Dann heben
sie das herunterhängende Stück des Grabtuchs auf und schlagen es über Jesus.
Er verschwindet unter dem dicken Grableinen, ist nur noch eine stoffbedeckte
Form.
Joseph gibt acht, daß alles
richtig an seinem Platz ist, breitet noch ein Schweißtuch über das Gesicht und
weitere Tücher – kurze und lange rechteckige Streifen – von rechts nach links
über den Körper, die das Grabtuch eng anliegend um den Leichnam festhalten
sollen. Es ist nicht die typische Bandagierung, die man von den Mumien kennt,
und nicht einmal die, die ich bei der Auferstehung des Lazarus gesehen habe.
Es ist nur ein Ansatz von Bandagierung.
Jesus ist nicht mehr. Auch die
Gestalt löst sich auf unter den Leinentüchern. Sie gleicht einem langen Haufen
weißer Tücher, schmäler an den beiden Enden und in der Mitte etwas breiter,
auf dem grauen Stein. Maria weint lauter.
672. DIE RÜCKKEHR ZUM
ABENDMAHLSAAL
Joseph von Arimathäa löscht eine
der Fackeln, wirft noch einen prüfenden Blick um sich und begibt sich dann zur
Öffnung des Grabes, wobei er die andere Fackel in die Höhe hält.
Maria neigt sich noch einmal, um
den Sohn durch seine Bandagen hindurch zu küssen. Und sie will dabei ihren
Schmerz beherrschen, eine respektvolle Haltung bewahren vor dem Leichnam, der
schon einbalsamiert ist und ihr nicht mehr gehört. Doch als sie sich dem
verhüllten Gesicht nähert, kann sie sich nicht mehr beherrschen und wird von
einer neuen Krise der Verzweiflung überwältigt.
299
Nur mit Mühe gelingt es, sie
aufzuheben, und mit noch größerer Mühe führen sie sie fort vom Totenbett. Sie
bringen die durcheinandergeratenen Tücher wieder in Ordnung und müssen die
arme Mutter mehr forttragen als stützen, während sie zurückblickt, um ihren
Jesus zu sehen, noch einmal zu sehen, der dort im Dunkel des Grabes allein
zurückbleibt.
Im Abendschein verlassen sie den
stillen Garten. Das schwache Tageslicht, das nach der Tragödie von Golgotha
wiedergekehrt ist, weicht nun der einbrechenden Nacht. Und hier, unter dem
dichten Geäst – das noch keine Blätter und gerade erst die noch nicht
erblühten rosaroten und weißen Apfelknospen trägt, die sich in diesem Garten
des Joseph so seltsam verspätet haben, während sie anderswo längst in voller
Blüte stehen oder sogar schon befruchtet und zu winzigen Äpfelchen geworden
sind – hier ist es noch dunkler als draußen.
Der schwere Stein wird vor das
Grab gewälzt. Lange Zweige eines zerzausten Rosenbusches hängen von der Höhe
der Höhle auf den Boden und scheinen an die steinerne Pforte zu klopfen und zu
sagen: «Warum verschließt du dich vor einer Mutter, die weint?» Und auch sie
scheinen blutige Tränen zu weinen mit ihren roten, abfallenden
Blütenblättchen, mit ihren Blüten, die sich über den dunklen Stein legen, mit
ihren verschlossenen Knospen, die an das unerbittliche Tor pochen. Doch bald
benetzen andere Tränen und anderes Blut dieses Tor des Todes.
Maria, die Johannes bisher
gestützt und deren Schluchzen sich ziemlich beruhigt hat, macht sich von dem
Apostel los und wirft sich mit einem Schrei, der, glaube ich, sogar die
Gewächse in ihrem Innersten erzittern läßt, auf die Tür, hängt sich an einen
Vorsprung und will sie zur Seite schieben. Sie reibt sich die Finger wund und
zerbricht sich die Nägel, ohne etwas zu erreichen, und stemmt sogar den Kopf
gegen den rauhen Vorsprung. Und ihr Stöhnen erinnert an das Brüllen einer
Löwin, die sich vor der Falle, in der ihre Jungen gefangen sind, in ihrer
mitleidigen, wilden Mutterliebe verzehrt.
Sie hat nichts mehr von der
sanftmütigen Jungfrau von Nazareth, von der geduldigen Frau, als die man sie
bisher kannte. Sie ist die Mutter. Ganz einfach die Mutter, die mit allen
Fasern und Nerven des Fleisches und der Liebe an ihrem Geschöpf hängt. Sie ist
die wahre «Besitzerin» dieses Fleisches, das sie geboren hat, die einzige
Besitzerin nach Gott, und sie duldet nicht, daß man sie dieses Eigentums
beraubt. Sie ist die «Königin», die ihre Krone verteidigt: den Sohn, den Sohn,
den Sohn.
Alle Auflehnung und aller
Widerstand, die jede andere Frau in dreiunddreißig Jahren gegen die
Ungerechtigkeit der Welt gegenüber ihrem Kind gezeigt hätte, alle heilige und
erlaubte Wildheit, mit der sich jede andere Mutter während dieser letzten
Stunden gegen die Mörder ihres Sohnes gewandt hätte, um sie mit Händen und
Zähnen zu verletzten und zu töten, all das, was sie aus Liebe zum
Menschengeschlecht immer bezähmt
300
hat, rührt sich nun in ihrem
Herzen und kocht in ihrem Blut. Aber selbst in diesem Schmerz, der sie fast
den Verstand verlieren läßt, verwünscht sie nicht und lehnt sich nicht auf,
sondern fleht nur den Stein an, sich zu öffnen und ihr den Weg freizugeben;
denn ihr Platz ist dort drinnen, wo er ist. Sie bittet nur die Menschen, die
unbarmherzig in ihrer Barmherzigkeit sind, ihr zu gehorchen und zu öffnen.
Nachdem sie sich Lippen und Hände
an dem unnachgiebigen Stein verletzt und blutig geschlagen hat, wendet sie
sich um, lehnt sich mit ausgebreiteten Armen an, hält dabei die beiden Ränder
des Steines fest und befiehlt mit der furchterregenden Würde der Mater
Dolorosa: «Öffnet! Ihr wollt nicht? Gut, dann bleibe ich hier. Nicht drinnen?
Hier draußen also. Hier ist mein Brot und mein Lager. Hier ist meine Bleibe.
Ich habe kein anderes Haus mehr und kein anderes Ziel. Geht nur. Geht zurück
in die Welt, die ein Abscheu ist. Ich bleibe hier, wo es keine Begierde und
keinen Blutgeruch gibt.»
«Du kannst nicht, Frau!»
«Du kannst nicht, Mutter!»
«Du kannst nicht, Maria, Liebe!»
Sie versuchen, ihre Hände vom
Fels zu lösen und sind verängstigt durch diese Augen, deren Blitzen, das sie
hart, beherrschend, gläsern und phosphoreszierend macht, sie noch nicht
kennen.
Die Sanftmütigen sind nicht
herrschsüchtig, und die Demütigen können nicht im Hochmut verharren... Und bei
Maria legt sich die Heftigkeit des Wollens und das Befehlende sofort. Sie
bekommt wieder den sanften Blick der gequälten Taube, verliert den gebietenden
Ausdruck, beugt sich wieder flehend vor und bittet mit gefalteten Händen: «Oh,
laßt mich doch! Um eurer Toten willen, um deretwillen, die ihr unter den
Lebenden liebt, habt Erbarmen mit einer armen Mutter! ... Hört... hört mein
Herz. Es braucht Frieden, damit dieses grausame Klopfen aufhört. Dort oben,
auf dem Kalvarienberg, hat es begonnen, so zu klopfen. Der Hammer ging bumm,
bumm, bumm... und jeder Schlag verletzte mein Kind... und drang mir ins Hirn
und ins Herz... Und mein Kopf ist voll von diesen Schlägen, und das Herz
schlägt rasch, wie der Hammer auf die Hände und auf die Füße meines Jesus,
meines kleinen Jesus... Mein Kind! Mein Kind... !»
Der ganze Schmerz kehrt wieder,
nachdem er sich bei dem Gebet zum Vater am Tisch der Einbalsamierung beruhigt
zu haben schien. Alle weinen.
«Ich kann keine Schreie und keine
Schläge mehr hören. Und die Welt ist voller Stimmen und Geräusche. Jede Stimme
ist für mich "der große Schrei", der mir das Blut in den Adern gerinnen ließ,
und jedes Geräusch ist für mich wie ein Hammerschlag auf den Nagel. Ich kann
keine Menschengesichter mehr sehen. Und die Welt ist voller Gesichter... Seit
fast
301
zwölf Stunden sehe ich nur
Mördergesichter... Judas... die Henker... die Priester... die Juden... Alle,
alle Mörder! ... Weg! Weg! Ich will niemanden mehr sehen... In jedem Menschen
steckt ein Wolf und eine Schlange. Ich empfinde Angst und Abscheu vor den
Menschen... Laßt mich hier, unter diesen ruhigen Bäumen, auf diesem blühenden
Rasen... Bald werden die Sterne erscheinen... Sie sind immer seine Freunde und
meine Freunde gewesen... Gestern abend haben sie uns Gesellschaft geleistet in
unserer einsamen Todesangst... Sie wissen so viele Dinge... Sie kommen von
Gott! ... Oh! Gott! Gott!» Sie weint und kniet nieder. «Frieden, mein Gott.
Ich habe nur noch dich!»
«Komm, Kind. Gott wird dir
Frieden schenken. Aber komm. Morgen ist der Passahsabbat. Wir können nicht
herkommen und dir Speisen bringen.»
«Nichts! Nichts! Ich will keine
Speisen! Ich will meinen Sohn! Ich nähre mich von meinem Schmerz und stille
meinen Durst mit den Tränen... Da... Hört ihr, wie das Käuzchen klagt? Es
weint mit mir, und bald werden auch die Nachtigallen klagen. Und morgen bei
Sonnenaufgang werden die Lerchen und die Schwarzköpfchen klagen und alle
Vögel, die er liebgehabt hat; und die Turteltauben werden mit mir an diesen
Fels klopfen und sagen: "Steh auf, mein Geliebter, und komm! Mein Geliebter,
der du ruhst in felsigen Klüften, im Versteck am Felsensteig, laß mich dein
Antlitz sehen, laß mich deine Stimme hören." Ach, was sage ich! Auch sie, auch
sie, die tückischen Mörder, haben ihm die Worte des Hohenliedes zugerufen! Ja,
kommt, ihr Töchter Jerusalems, und schaut den König mit der Krone, mit der
sein Vaterland ihn krönte am Tag seiner Hochzeit mit dem Tod, am Tag seines
Sieges als Erlöser!»
«Schau, Maria! Die Tempelwachen
kommen. Komm, damit sie dich nicht schmähen.»
«Die Tempelwachen? Mich schmähen?
Nein, sie sind feige. Feige sind sie. Und wenn ich, furchtbar in meinem
Schmerz, auf sie zugehen würde, dann würden sie fliehen wie Satan vor Gott.
Aber ich vergesse nicht, daß ich Maria bin... und ich werde mich nicht an
ihnen rächen, wie es mein Recht wäre. Ich werde gut sein... Sie werden mich
nicht einmal sehen. Und wenn sie mich sehen und mich fragen: "Was willst du
hier?", dann werde ich antworten: "Das Almosen, die balsamgetränkte Luft atmen
zu dürfen, die aus diesem Spalt dringt." Ich werde sagen: "Im Namen eurer
Mutter." Alle haben eine Mutter... Auch der reuige Schächer hat es gesagt...»
«Aber diese sind schlimmer als
Räuber. Sie werden dich beschimpfen.»
«Oh, gibt es denn eine Schmähung,
die ich noch nicht kenne nach den heutigen?»
Es ist Magdalena, die einen Grund
findet, der überzeugend genug ist, die Schmerzenreiche zum Gehorsam zu
bewegen. «Du bist gut, heilig bist
302
du, und glaube es nur, du bist
auch stark. Aber wir, was sind wir? ... Du siehst es! Die meisten sind
weggelaufen. Die Übriggebliebenen fürchten sich. Der Zweifel, der schon in uns
wühlt, würde uns aufgeben lassen. Du bist die Mutter. Du hast nicht nur Rechte
und Pflichten deinem Sohn gegenüber, sondern auch Pflichten und Rechte
gegenüber dem Eigentum deines Sohnes. Du mußt mit uns zurückkehren, unter uns
zurückkehren, um uns zu sammeln, uns Gewißheit zu geben, um uns deinen Glauben
einzuflößen. Du selbst hast doch gesagt, nach deinem gerechten Tadel unserer
Furchtsamkeit und unseres mangelnden Glaubens: "Es wird einfacher für ihn sein
aufzuerstehen, wenn ihn diese unnötigen Binden nicht behindern." Ich sage dir:
Wenn es uns gelingt, uns im Glauben an seine Auferstehung zu vereinen, wird er
um so rascher auferstehen. Wir würden ihn durch unsere Liebe erwecken...
Mutter, Mutter meines Erlösers, komm mit uns. Komm mit uns, du, die Geliebte
Gottes, um uns diese deine Liebe zu schenken. Willst du vielleicht, daß die
arme Maria Magdalena erneut verlorengeht, nachdem er sie in seiner großen
Barmherzigkeit gerettet hat?»
«Nein, er würde mich tadeln. Du
hast recht. Ich muß zurückkehren... die Apostel suchen... die Jünger... die
Verwandten... alle... sagen... ihnen sagen: "Glaubt... Er verzeiht euch..."
Wem habe ich dies schon gesagt? ... Ach! Dem Iskariot... Man muß... ja, man
muß auch ihn suchen... denn er ist der größte Sünder...» Maria läßt das Haupt
auf die Brust sinken, zitternd vor Abscheu, und sagt dann: «Johannes, du wirst
ihn suchen. Und wirst ihn zu mir bringen. Du mußt es tun. Und ich muß es tun.
Vater, auch dies soll geschehen, damit die Menschheit erlöst werde. Gehen
wir.»
Sie steht auf. Alle verlassen den
halbdunklen Garten. Die Wachen sehen sie hinausgehen, sagen aber kein Wort.
Die staubige und durch die Füße,
Steine und Knüttel der Volksmengen aufgewühlte Straße macht einen Bogen um den
Kalvarienberg und führt zur Hauptstraße, die parallel zur Stadtmauer verläuft.
Hier sind die Spuren des Vorgefallenen noch deutlicher. Zweimal schreit Maria
auf und bückt sich, um bei dem schwachen Licht den Boden genauer zu
betrachten, denn sie meint, Blut zu sehen, und glaubt, daß es von ihrem Jesus
stammen könnte. Aber es sind nur Fetzen von zerrissenen Stoffen, die bei dem
Durcheinander der Flucht dort liegengeblieben sind, wie mir scheint.
Das Bächlein, das längs der
Straße verläuft, murmelt leise in dem großen Schweigen, das über allem liegt.
Die Stadt scheint verlassen, so still ist es. Hier ist die kleine Brücke, die
zum steilen Weg auf den Kalvarienberg führt. Und ihm gegenüber liegt das
Gerichtstor. Bevor sie durch dieses Tor verschwinden, wendet sich Maria noch
einmal um, um den Gipfel des Kalvarienberges zu sehen... und weint
untröstlich. Dann sagt sie: «Gehen wir. Doch ihr müßt mich führen. Ich will
Jerusalem mit seinen Straßen und Bewohnern nicht sehen.»
303
«Ja, ja. Aber beeilen wir uns.
Sie sind schon dabei, die Tore zu schließen, siehst du? Und die Torwachen sind
verstärkt worden. Rom fürchtet Aufruhr.»
«Da haben sie nicht unrecht.
Jerusalem ist eine Tigerhöhle. Ein Volk von Mördern! Eine Räuberbande. Nicht
nur nach Hab und Gut, sondern nach dem Leben strecken diese Übeltäter ihre
räuberischen Klauen aus. Seit dreiunddreißig Jahren trachten sie nach dem
Leben meines Kindes... Es war ein Lämmlein aus Milch und Rosen, ein Lämmlein
mit goldenen Locken... Kaum konnte es "Mama" sagen, die ersten Schrittchen
machen und mit wenigen Zähnchen zwischen den Korallenlippen lächeln, kamen sie
schon, um es zu töten... Nun sagen sie, daß er Gott gelästert, den Sabbat
geschändet und zum Widerstand aufgerufen hat, daß er nach dem Thron getrachtet
und mit Frauen gesündigt hat... Aber damals, was hatte er da getan? Welche
Gotteslästerung konnte er ausgesprochen haben, als er noch kaum die Mama rufen
konnte? Wie hätte er das Gesetz übertreten können, da er, der
Ewig-Unschuldige, noch ein kleines unschuldiges Menschenkind war? Welchen
Aufstand hätte er anzetteln können, da er nicht zum geringsten Ungehorsam
fähig war! Nach welchem Thron hätte er trachten sollen? Er hatte seinen Thron
auf Erden und im Himmel und verlangte nach keinem anderen: Im Himmel hatte er
den Schoß des Vaters und auf der Erde meinen Schoß. Nie hat er Augen für
Sinnliches gehabt, und ihr, ihr schönen, jungen Frauen, könnt es bezeugen.
Aber damals... damals... beschränkte sich seine Sinnlichkeit auf das Bedürfnis
nach Wärme und Nahrung, und er liebelte, ja, aber mit meiner warmen Brust, um
sein Gesichtlein daran zu schmiegen und so zu schlafen an dem runden Kissen,
aus dem meine Liebe als Milch floß...
Oh, mein Kind! Und sie wollten
dich tot! Das Leben wollten sie dir nehmen! Deinen einzigen Besitz! Die Mutter
dem Sohn und den Sohn der Mutter wollten sie nehmen, um uns zu den Elendsten
und Unglücklichsten des Universums zu machen. Warum dem Lebendigen das Leben
nehmen? Warum sich das Recht anmaßen, diesen Besitz, das Leben, zu entreißen:
das Gut der Blume und des Tieres, und das Gut des Menschen? Mein Jesus
verlangte nichts von euch. Weder Geld, noch Schmuck, noch Häuser. Ein Haus
hatte er, klein und heilig, und er verließ es aus Liebe zu euch menschlichen
Hyänen. Auf das, was das Tierjunge besitzt, hat er euretwegen verzichtet; er
ist arm und allein durch die Welt gezogen, ohne das Bett, das der Gerechte für
ihn gemacht hatte, ohne das Brot, das die Mutter für ihn bereitete, und er hat
geschlafen und gegessen, wo und wie er konnte. In den Häusern der Guten, wie
jedes Menschenkind, oder auf dem Graslager der Wiesen, bewacht von den
Sternen. An einem Tisch sitzend oder mit den Vöglein Gottes die Körner und die
Früchte der wilden Brombeere teilend. Und er hat nichts von euch verlangt. Im
Gegenteil, er hat euch beschenkt. Er wollte nur sein Leben, um euch durch sein
Wort
304
das Leben zu geben. Und ihr, und
du, Jerusalem, ihr habt ihm das Leben geraubt. Bist du nun gesättigt von
seinem Fleisch, und hast du nun deinen Durst gestillt an seinem Blut? Oder
hast du noch nicht genug? Willst du dich als Hyäne – nachdem du Vampir und
Geier warst – nun an seinem Leichnam weiden? Hast du noch nicht genügend
geschmäht und gequält, und willst du ihm nun noch mehr antun und dich
ergötzen, indem du seine sterbliche Hülle entehrst und noch einmal seine
Krämpfe, sein Zittern, seine Tränen und Zuckungen bei mir, bei der Mutter des
Getöteten betrachtest? ... Sind wir schon angekommen? Warum bleibt ihr stehen?
Was will dieser Mann von Joseph? Was sagt er?»
Joseph ist in der Tat von einem
der seltenen Vorübergehenden aufgehalten worden, und in der absoluten Stille
der verlassenen Stadt kann man ihre Worte sehr gut verstehen.
«Es ist bekannt, daß du das Haus
des Pilatus betreten hast. Du entweihst das Gesetz. Du wirst Rechenschaft
ablegen müssen, und es ist dir nicht erlaubt, am Passahfest teilzunehmen. Du
hast dich verunreinigt.»
«Auch du, Elchias. Du hast mich
berührt, und ich bin voll vom Blut des Christus und seinem Todesschweiß.»
«Wie schrecklich! Fort! Fort!
Dieses Blut, fort!»
«Habe keine Angst, es hat dich
schon verlassen. Und verflucht.»
«Auch du bist verflucht. Und
glaube nur nicht, nun da du mit Pilatus liebäugelst, daß du den Leichnam
unterschlagen kannst. Wir haben vorgesorgt, und das Spiel wird ein Ende
haben.»
Nikodemus hat sich langsam
genähert, während die Frauen mit Johannes sich an ein tief in der Mauer
liegendes, verschlossenes Tor drücken.
«Wir haben es gesehen», antwortet
Joseph. «Ihr Feiglinge! Ihr habt sogar vor einem Toten Angst! Aber in meinem
Garten und mit meinem Grab mache ich, was ich will.»
«Wir werden sehen.»
«Wir werden sehen. Ich werde mich
an Pilatus wenden.»
«Ja, treibe jetzt nur Unzucht mit
Rom!»
Nikodemus tritt vor: «Besser mit
Rom als mit Teufeln wie euch, ihr Gottesmörder! Und übrigens, sag einmal: Wie
kommt es, daß du schon wieder die Stimme erhebst? Eben erst bist du voller
Schrecken geflohen. Ist schon wieder alles vorbei? Hat dir das noch nicht
gereicht? Ist keines deiner Häuser abgebrannt? Zittere! Die Strafe ist noch
nicht vorüber, sie kommt erst. Wie die Nemesis der Heiden schwebt sie über
dir. Weder Wachen noch Siegel werden den Rächer hindern, zu erscheinen und zu
bestrafen.»
«Verfluchter!» Elchias flieht und
stößt mit den Frauen zusammen. Er erkennt sie und schleudert Maria ein
furchtbares Schimpfwort ins Gesicht.
Johannes sagt kein Wort. Mit
einem Panthersprung stürzt er sich auf
305
ihn und wirft ihn zu Boden, hält
ihn mit den Knien nieder, drückt ihm den Hals zu und sagt: «Bitte sie um
Verzeihung, oder ich bringe dich um, du Teufel!» Und er läßt ihn nicht los,
bis der andere, von den Händen des Johannes gedrückt und halb erwürgt,
krächzt: «Verzeihung.»
Aber sein Schrei hat die
Aufmerksamkeit der Militärstreife auf sie gezogen. «Halt! Was geschieht hier?
Neuer Aufruhr? Steht alle, oder wir schlagen zu. Wer seid ihr?»
«Joseph von Arimathäa und
Nikodemus. Wir hatten die Erlaubnis des Prokonsuls zur Beisetzung des
getöteten Nazareners und befinden uns auf dem Rückweg vom Grab mit der Mutter,
dem Sohn, den Verwandten und Freunden. Dieser hier hat die Mutter beleidigt
und ist gezwungen worden, sich zu entschuldigen.»
«Nur das? Ihr hättet ihn
umbringen sollen. Geht weiter. Soldaten, nehmt diesen dort fest. Was wollen
diese Blutsauger denn noch? Das Herz der Mütter? Salve, ihr Juden.»
«Wie schrecklich! Das sind doch
keine Menschen mehr... Johannes, sei gut zu ihnen. Denke an meinen und deinen
Jesus. Er hat Vergebung gepredigt.»
«Mutter, du hast recht. Aber sie
sind Verbrecher, und sie bringen mich um den Verstand. Sie sind
Gotteslästerer, und sie beleidigen dich. Das kann ich nicht erlauben.»
«Ja, sie sind Verbrecher. Und sie
wissen, daß sie es sind. Sieh, wie wenige von ihnen auf den Straßen sind. Und
diese wenigen stehlen sich heimlich davon. Nach dem Verbrechen haben die
Verbrecher Angst. Es ist schrecklich für mich, sie so fliehen zu sehen; zu
sehen, wie sie sich aus Angst in ihren Häusern einsperren. Ich fühle, daß sie
alle des Gottesmordes schuldig sind. Schau dort, Maria, der Alte. Er steht
schon mit einem Fuß im Grab, und doch glaube ich, nun da er die Tür öffnet und
das Licht auf ihn fällt, ihn gesehen zu haben, als er auf dem Kalvarienberg
vorüberging und meinen Jesus anklagte... Er nannte ihn einen Räuber... Einen
Räuber, meinen Jesus! ... Und dieser Jüngling, noch ein halbes Kind, hat
unflätig gelästert und das Blut über sich herabgerufen... Oh, der
Unglückliche! ... Und der Mann dort? Stark und kräftig wie er ist, wird er
sich gewiß nicht zurückgehalten und ihn geschlagen haben. Oh, ich will nichts
sehen. Hinter ihren eigentlichen Gesichtern, erkennt man das Gesicht der
Seelen und... und sie gleichen nicht mehr Menschen, sondern Dämonen ... So
mutig waren sie im Angesicht des Gefesselten, des Gekreuzigten ... Und nun
fliehen sie, verbergen sich, schließen sich ein und haben Angst. Sie haben
Angst. Vor wem? Vor einem Toten. Für sie ist er ja nichts als ein Toter, da
sie leugnen, daß er Gott ist. Wovor haben sie also Angst? Vor wem verschließen
sie die Türen? Vor den Gewissensbissen. Vor der Bestrafung. Doch es nützt
nichts. Die Gewissensbisse sind in euch. Und sie werden euch in alle Ewigkeit
verfolgen. Und die Strafe wird
306
keine menschliche sein. Schlösser
und Prügel, Türen und Barrikaden helfen nichts gegen sie. Sie kommt vom
Himmel, von Gott, dem Rächer des Geopferten, und dringt durch Mauern und
Türen, und mit ihrer himmlischen Flamme zeichnet sie euch für die
übernatürliche Strafe, die euch erwartet. Die Welt wird zu Christus kommen,
zum Sohn Gottes und meinem Sohn, sie wird zu dem kommen, den ihr durchbohrt
habt, aber ihr werdet auf ewig die Gezeichneten, die Kaine eines Gottes sein
und als Abschaum des menschlichen Geschlechtes gebrandmarkt sein. Ich, die ich
aus euch geboren bin, ich, die ich die Mutter aller bin, muß sagen, daß ihr
euch mir, eurer Tochter, gegenüber schlimmer als Stiefväter benommen habt, und
daß ihr in der unbegrenzten Zahl meiner Kinder diejenigen seid, die es mir am
schwersten machen, sie aufzunehmen; denn ihr seid mit dem Verbrechen an meinem
Kind besudelt. Und ihr bereut es auch nicht und sagt nicht: "Du warst der
Messias. Wir anerkennen dich und beten dich an." Da kommt eine zweite römische
Militärstreife. Die Liebe ist nicht mehr auf der Erde. Der Friede ist nicht
mehr unter den Menschen. Und der Haß und der Krieg flammen auf wie diese
rauchenden Fackeln. Die Herrschenden haben Angst vor der aufgebrachten Menge.
Sie wissen aus Erfahrung, daß die Bestie Mensch, wenn sie Blut gerochen hat,
mordgierig wird... Aber fürchtet euch nicht vor diesen. Sie sind weder Löwen
noch Panther, sie sind feige Hyänen. Sie überfallen nur das wehrlose Lamm.
Aber sie fürchten den mit Lanzen und Autorität bewaffneten Löwen. Fürchtet
nicht diese schleichenden Schakale. Euer eisenklirrender Schritt treibt sie in
die Flucht, und das Aufblitzen eurer Lanzen läßt sie zahmer als Kaninchen
werden. Diese Lanzen! Eine hat das Herz meines Sohnes geöffnet! Welche von
ihnen? Sie zu sehen, durchbohrt mein Herz... Und doch möchte ich sie alle in
meine zitternden Hände nehmen, um die zu finden, an der noch Blut klebt, und
zu sagen: "Diese ist es! Gib sie mir, Soldat! Gib sie der Mutter im Gedanken
an deine ferne Mutter, und ich werde für dich und für sie beten." Kein Soldat
würde sie mir verweigern; denn sie, die Krieger, waren die Besten angesichts
des Todeskampfes des Sohnes und der Mutter! Oh, warum habe ich dort oben nicht
daran gedacht? Ich war, als hätte man mich auf den Kopf geschlagen. Ich war
betäubt von den Hammerschlägen... Oh, diese Schläge! Wer entfernt sie aus
meinem armen Kopf, hier, damit ich sie nicht mehr fühle? Die Lanze... Wie
gerne möchte ich sie haben...»
«Wir können sie suchen, Mutter.
Mir scheint, der Hauptmann ist sehr gut zu uns gewesen. Ich denke, er wird sie
uns nicht verweigern. Morgen gehe ich zu ihm.»
«Ja, ja, Johannes. Ich bin arm.
Ich habe nur wenig Geld. Aber ich gebe alles her bis zum letzten Heller, um
dieses Eisen zu erhalten... Warum habe ich nicht sofort darum gebeten?»
307
«Maria, Teuerste, keiner von uns
hat von dieser Wunde gewußt... Als du sie entdeckt hast, waren die Soldaten
schon gegangen.»
«Das ist wahr... Ich bin ganz
benommen vor Schmerz. Und die Kleider? Ich habe nichts von seinen Sachen! Ich
würde mein Blut geben, um sie zu bekommen ...» Maria weint wieder ganz
untröstlich.
Und so erreichen sie die Straße,
in der sich der Abendmahlsaal befindet. Es ist höchste Zeit, denn sie ist
erschöpft und schleppt sich wie eine hinfällige Greisin vorwärts. Und sie sagt
es auch.
«Nur Mut! Wir sind schon da.»
«Schon da? So kurz ist der Weg,
der mir heute morgen endlos erschien? Heute morgen? Ist es wirklich heute
morgen gewesen? Nicht früher? Wie viele Stunden oder wie viele Jahrhunderte
sind vergangen, seit ich gestern abend hier eingetreten und heute früh von
hier fortgegangen bin? Bin ich es wirklich, die fünfzigjährige Mutter, oder
bin ich eine hundertjährige Alte, eine noch ältere Frau mit hunderten von
Jahren auf dem gebeugten Rücken und auf dem ergrauten Haupt? Es scheint mir,
daß ich allen Schmerz der Welt erlitten habe und daß aller Schmerz auf meinen
Schultern lastet und sie beugt unter seinem Gewicht. Kein materielles Kreuz,
aber so schwer! Ein Kreuz aus Stein. Vielleicht noch schwerer als das meines
Jesus. Denn ich trage das meine und das seine mit der Erinnerung an seine
Qualen und der Wirklichkeit meiner Qualen. Gehen wir hinein. Denn wir müssen
hineingehen. Aber es wird kein Trost sein, sondern nur Vermehrung der Qual.
Durch diese Tür ist mein Sohn eingetreten zu seiner letzten Mahlzeit. Und
durch diese Tür ist er hinausgegangen, um dem Tod entgegenzugehen. Und er
mußte seinen Fuß in die Fußstapfen seines Verräters setzen, der hinausgegangen
war, um die Häscher des Unschuldigen zu rufen. An dieser Tür habe ich Judas
gesehen... Judas habe ich gesehen! Und ich habe ihn nicht verflucht, sondern
habe als betrübte Mutter zu ihm gesprochen. Betrübt wegen des guten und wegen
des bösen Sohnes... Ich habe Judas gesehen! Den Satan habe ich in ihm gesehen!
Ich, die ich immer Luzifer unter meiner Ferse zertreten, die Augen zu Gott
erhoben und nie den Blick zu ihm gesenkt habe, ich habe sein Gesicht erkannt,
als ich den Verräter ansah. Ich habe mit Satan gesprochen... Und er ist
geflohen, denn er kann meine Stimme nicht ertragen. Ob er nun aus ihm
ausgefahren ist? So daß ich mit diesem Toten reden und – ich, die Gebärerin –
ihn durch das Blut eines Gottes erneut empfangen und der Gnade gebären kann?
Johannes, schwöre mir, daß du ihn suchen und nicht grausam zu ihm sein wirst.
Ich bin es nicht, obwohl ich ein Recht dazu hätte... Oh, laßt mich in den Saal
hineingehen, in dem mein Sohn sein letztes Mahl eingenommen hat; in dem mein
Kind seine letzten Worte in Frieden gesprochen hat.»
«Ja, wir werden hineingehen. Aber
nun, sieh, komm hier herein, wo wir gestern waren. Ruhe dich aus. Verabschiede
dich von Joseph und Nikodemus, die sich zurückziehen.»
308
«Ich will mich verabschieden, ja.
Oh, ich grüße sie. Ich danke ihnen. Ich segne sie!»
«Aber komm, komm. Dort kannst du
es mit mehr Ruhe tun.»
«Nein, hier. Joseph... Oh, ich
habe niemanden dieses Namens kennengelernt, der mich nicht geliebt hätte...»
Maria des Alphäus bricht in
heftiges Weinen aus.
«Weine nicht... Auch Joseph...
Dein Sohn hat nur aus Liebe gefehlt. Er wollte mir auf menschliche Weise
Frieden verschaffen... Aber heute! ... Du hast es gesehen... Oh, alle, die
Joseph heißen, sind gut zu Maria ... Joseph, ich danke dir. Und auch dir,
Nikodemus. Mein Herz wirft sich zu euren Füßen nieder, die müde sind, weil ihr
seinetwegen so viel gegangen seid... um ihm die letzten Ehren zu erweisen...
Ich habe nichts als mein Herz, um es euch zu geben... Und ich gebe es euch,
ihr treuen Freunde meines Sohnes... und... und verzeiht der armen Mutter, was
sie euch am Grab gesagt hat.»
«Oh, Heilige! Du mußt verzeihen!»
sagt Nikodemus.
«Sei nun brav. Ruhe dich aus in
deinem Glauben. Morgen werden wir wiederkommen», fügt Joseph hinzu.
«Ja, wir werden kommen. Wir
stehen dir zu Diensten.»
«Morgen ist Sabbat», bemerkt die
Hausherrin.
«Der Sabbat ist tot. Wir werden
kommen. Leb wohl. Der Herr sei mit euch.» Und sie gehen.
«Komm, Maria.»
«Ja, Mutter, komm.»
«Nein, macht auf. Ihr habt mir
versprochen, es zu tun nach der Verabschiedung. Öffnet mir diese Türe! Ihr
könnt das einer Mutter nicht verwehren. Einer Mutter, die in der Luft den Duft
des Atems, des Körpers ihres Kindes riechen möchte. Wißt ihr denn nicht, daß
ich ihm den Atem und den Leib gegeben habe? Ich, die ihn neun Monate getragen
und dann geboren, genährt, aufgezogen und gepflegt habe? Dieser Atem gehört
mir! Dieser Duft des Körpers gehört mir! Laßt ihn mich noch einmal einatmen.»
«Aber ja, Liebste. Morgen. Jetzt
bist du müde. Du glühst vor Fieber. Jetzt kannst du nicht. Es geht dir
schlecht.»
«Ja, schlecht. Aber nur, weil ich
sein Blut immer vor Augen habe und den Geruch seines verwundeten Körpers
rieche. Laßt mich den Tisch sehen, an dem er lebend und gesund gesessen ist,
damit ich den Duft seines jugendlichen Körpers rieche. Öffnet! Begrabt ihn mir
nicht ein drittes Mal! Ihr habt ihn mir schon unter dem Balsam und den Binden
verborgen; dann habt ihr ihn mit einem Stein eingeschlossen. Warum, warum
wollt ihr jetzt einer Mutter verweigern, die letzte Spur von ihm in dem Atem
zu finden, den er hinter dieser Tür hinterlassen hat? Laßt mich hinein. Ich
werde am Boden, auf dem Tisch und auf den Sitzen die Spuren
309
seiner Füße und seiner Hände
suchen. Und ich werde sie küssen, sie immer wieder küssen, bis meine Lippen
wund werden. Ich werde suchen, suchen... Vielleicht finde ich ein Haar seines
blonden Hauptes. Ein Haar, an dem kein Blut klebt. Wißt ihr überhaupt, was ein
Haar des Sohnes für eine Mutter ist? Du, Maria des Kleophas, und du, Salome,
ihr seid Mütter. Und ihr begreift das nicht? Johannes! Johannes! Höre mich an.
Ich bin deine Mutter. Er hat mich dazu gemacht. Er! Du bist mir Gehorsam
schuldig. Öffne! Ich liebe dich, Johannes. Ich habe dich immer geliebt, denn
du hast ihn geliebt. Ich werde dich noch mehr lieben. Aber öffne! Mach auf,
sage ich! Du willst nicht? Du willst nicht? Dann habe ich also keinen Sohn
mehr? Jesus hat mir nie etwas verweigert, denn er war mein Sohn. Du
verweigerst es mir. Du bist es also nicht. Du verstehst meinen Schmerz
nicht... Oh, Johannes! Verzeih, verzeih... Öffne... Weine nicht... Öffne...
Oh, Jesus! Jesus! ... Höre mich an... Dein Geist möge ein Wunder wirken! Öffne
du deiner Mutter diese Tür, die keiner aufmachen will. Jesus! Jesus!»
Maria schlägt mit den zu Fäusten
geballten Händen an die wohlverschlossene Tür. Sie ist außer sich vor Schmerz.
Bis sie schließlich erbleicht und flüstert: «Oh, mein Jesus, ich komme! Ich
komme!» Sie fällt kraftlos in die Arme der weinenden Frauen, die sie
auffangen, um zu verhindern, daß sie an der Schwelle der Tür zusammenbricht,
und sie in das Zimmer gegenüber tragen.
673. DIE NACHT DES KARFREITAGS
Maria kommt mit Hilfe der
weinenden Frauen wieder zu sich und weint, hat nur noch die Kraft, zu weinen
und weinen. Es scheint wirklich, daß ihr Leben sie in diesen Tränen verläßt
und sich verbraucht.
Die Frauen wollen ihr eine
Erfrischung reichen. Martha bietet ihr etwas Wein an. Die Hausherrin möchte,
daß Maria wenigstens etwas Honig zu sich nimmt. Maria des Alphäus kniet vor
ihr nieder, bietet ihr eine Schale lauwarmer Milch an und sagt: «Ich selbst
habe die Ziege der kleinen Rachel gemolken» (anscheinend die Tochter der
Bewohner dieses Hauses des Lazarus, von denen ich nicht weiß, ob sie Mieter
oder Verwalter sind). Aber Maria will nichts. Sie will nur weinen, nur
weinen... Und bitten und das Versprechen hören, daß die Apostel und die Jünger
gesucht werden, daß die Lanze und die Kleider gesucht werden und daß sie,
sobald der Tag angebrochen ist, in den Abendmahlsaal gehen darf, da man es ihr
jetzt nicht erlauben will.
«Ja. Wenn du dich etwas
beruhigst, wenn du dich etwas ausruhst, gehe ich mit dir hinein», sagt die
Schwägerin. «Wir werden hineingehen, und
310
ich werde dir auf den Knien jede
kleinste Spur von Jesus suchen...» und Maria des Alphäus schluchzt. «Aber
siehst du? Hier hast du den Kelch und das von ihm gebrochene Brot, das er für
die Eucharistie verwendet hat. Gibt es heiligere Andenken? Siehst du? Johannes
hat sie schon heute morgen für dich gebracht, damit du sie heute abend
siehst... Der arme Johannes. Er hat Angst und weint...»
«Angst? Warum? Komm, Johannes.»
Johannes tritt hervor aus der
Dunkelheit, denn im Raum brennt eine einzige kleine Lampe auf dem Tisch neben
den Leidenswerkzeugen. Er kniet vor Maria nieder, die ihn liebkost und fragt:
«Warum hast du Angst?»
Und Johannes küßt ihre Hände und
sagt weinend: «Weil du dich nicht wohlfühlst. Weil du Fieber hast und krank
bist... Weil du dich nicht beruhigen kannst. Und wenn du so weitermachst,
wirst du sterben, wie er gestorben ist...»
«Oh, wenn das nur wahr wäre!»
«Nein! Mutter! Mama! Oh, es ist
viel schöner, "Mama" zu sagen, wie ich es zu meiner Mama sage... Laß es mich
sagen... Ich finde keinen Unterschied zwischen meiner Mutter und dir, und ich
liebe dich sogar noch mehr als sie, denn du bist die Mama, die er mir gegeben
hat, und du bist seine Mama. Und du darfst keinen zu großen Unterschied
zwischen dem von dir geborenen Sohn und dem dir übergebenen Sohn machen...
Liebe mich ein wenig, wie du ihn liebst... Wenn er zu dir sagen würde: "Ich
habe Angst, daß du sterben wirst" ' würdest du dann antworten: "Oh, wenn das
nur wahr wäre!"? Nein, du würdest nicht so reden. Es würde dich schmerzen,
gehen zu müssen und ihn in einer Welt von Wölfen zurückzulassen. Ihn, dein
Lamm... Und um mich sorgst du dich nicht? ... Ich bin viel mehr Lamm als er.
Nicht was Güte und Reinheit betrifft, sondern hinsichtlich Dummheit und Angst.
Wenn du mir fehlst, wird der arme Johannes von den Wölfen zerrissen, ohne auch
nur ein Blöken von sich geben zu können, das von seinem Meister spricht...
Willst du, daß er so stirbt, ohne ihm gedient zu haben? Dumm im Sterben wie im
Leben? Nein, nicht wahr? Darum, Mama, versuche dich zu beruhigen... Tue es für
ihn... Oh! Sagst du nicht, daß er aufersteht? Ja, du sagst es, und es ist
wahr. Und du willst also, daß du fehlst im Haus, wenn er aufersteht? Denn ganz
gewiß wird er hierher kommen... Oh, armer, armer Jesus, wenn er anstelle des
Ausrufes deiner Liebe unsere Klagelieder hören muß, wenn er sein gemartertes,
glorreiches Haupt nicht an deine Brust legen kann und nur dein verschlossenes
Grab vorfindet. Du mußt leben. Um ihn zu begrüßen, wenn er wiederkehrt... Ich
sage nicht "uns zuliebe". Wir verdienen nur Tadel für unser Verhalten. Aber
ihm und dir zuliebe. Oh, wie wird die Begegnung sein? Und er, wie wird er
sein? Mutter der Weisheit, Mama des törichten Johannes, du, die du alles
weißt, sage uns, wie er sein wird, wenn er uns nach der Auferstehung
erscheint.»
311
«Die Wunden an den Beinen von
Lazarus hatten sich geschlossen, aber man konnte noch die Narben sehen. Und
die Bandagen waren voller Fäulnis», sagt Martha.
«Wir mußten ihn waschen...» fügt
Maria hinzu.
«Und er war schwach, und wir
mußten ihm zu essen geben auf Anordnung des Meisters», sagt wiederum Martha.
«Der Sohn der Witwe von Naim war
verstört und glich einem Kind, das noch nicht richtig gehen und sprechen kann,
und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück, die ihn lehren sollte, wieder zu
leben. Und das Töchterlein des Jairus hat er selbst die ersten Schritte machen
lassen ...» sagt Johannes.
«Ich denke, daß mein Herr uns
einen Engel senden wird, um uns sagen zu lassen: "Kommt und bringt ein
sauberes Gewand." Und meine Liebe hat es schon vorbereitet. Es ist im Palast.
Ich konnte es nicht selbst weben. Aber ich habe es von meiner Amme weben
lassen, die nun hinsichtlich meiner Zukunft beruhigt ist und nicht mehr weint.
Ich habe das kostbarste Linnen genommen und von Plautina den Purpur bekommen.
Noemi hat ihn in die Borte gewebt, und ich habe den Gürtel, die Börse und das
Talith gefertigt und bei Nacht bestickt, um nicht gesehen zu werden. Ich habe
von dir gelernt, Mutter. Es ist keine vollkommene Arbeit; aber mehr als die
Perlen, aus denen sein Name auf dem Gürtel und auf der Börse besteht,
schmücken sie die Diamanten der Tränen meiner Liebe und meine Küsse. Jeder
Stich ist ein Herzschlag der Verehrung für ihn. Und ich werde sie ihm bringen.
Das erlaubst du doch, nicht wahr?»
«Oh! ... Ich hätte nie gedacht,
daß sie ihm sein Gewand nehmen würden... Ich kenne die Bräuche und die Härte
der Welt nicht... Ich glaubte, sie zu kennen... (und Tränen rinnen wieder über
die wachsbleichen Wangen) aber nun sehe ich, daß ich noch nichts wußte... Ich
dachte: "Er wird das Kleid seiner Mutter auch nachher tragen können." Es hat
ihm so gut gefallen. Er hatte es sich so gewünscht. Schon vor langer Zeit hat
er mir gesagt: "Du sollst ein Kleid anfertigen, das so und so aussieht, und es
mir für das Passahfest bringen. Denn Jerusalem soll mich im Purpurgewand des
Königs sehen..." Oh, diese Wolle, die weißer war als Schnee, wurde vor den
Augen Gottes und vor meinen Augen rot, während ich sie spann, denn mein Herz
wurde bei diesen Worten erneut verwundet... Die anderen Wunden hatten sich
nach Jahren und Monaten zwar noch nicht geschlossen, aber sie bluteten nicht
mehr. Aber diese! Jeden Tag, jede Stunde hat sich das Schwert in meinem Herzen
gedreht: "Ein Tag weniger! Eine Stunde weniger! Dann wird er tot sein!" Oh!
Oh! ... Und das Gespinst an der Spindel oder auf dem Webstuhl erschien mir
rot... Es wurde dann in Farbe getaucht, für die Weit... Aber es war schon
vorher rot...» Maria weint wieder.
Sie versuchen sie aufzumuntern,
indem sie von der Auferstehung sprechen. Susanna fragt. «Was sagst du? Wie
wird er sein nach der Auferstehung? Und wie wird er auferstehen?»
312
Und Maria, verwirrt und blind in
dieser Stunde des Martyriums der Erlösung, antwortet: «Ich weiß es nicht...
Ich weiß nichts mehr... Nur, daß er tot ist... !» Und sie weint wieder heftig,
küßt die Leinwand, die die Lenden ihres Sohnes bedeckt hat, drückt sie an ihr
Herz und wiegt sie, als wäre es ein Kind...
Sie berührt die Nägel, die
Dornen, den Schwamm und schreit auf: «Dies! Diese Dinge hat dir dein Vaterland
gegeben! Eisen, Dornen, Essig und Galle! Und Beleidigungen, Schmähungen,
Beschimpfungen! Und unter allen Söhnen Israels mußte es ein Cyrenäer sein, der
dir das Kreuz trug. Dieser Mensch ist mir heilig wie ein Bräutigam. Und wenn
ich einen anderen kennen würde, der meinem Sohn zu Hilfe gekommen ist, würde
ich ihm die Füße küssen. Aber hat denn niemand Mitleid gehabt? Geht hinaus!
Geht! Es schmerzt mich auch, euch zu sehen. Denn ihr alle, ihr alle konntet
nicht einmal eine weniger grausame Folter erlangen. Ihr unnützen und faulen
Knechte eures Königs! Hinaus!» Maria ist furchtbar bei diesem Ausbruch.
Aufrecht und starr steht sie da und erscheint größer als sie ist mit ihren
gebieterischen Augen und dem ausgestreckten Arm, der zur Tür weist. Sie
befiehlt wie eine Königin auf dem Thron.
Alle gehen ohne Widerrede hinaus,
um sie nicht noch mehr zu erregen. Sie setzen sich vor die geschlossene Tür
und horchen auf ihre Klagen und jeglichen Ton, der von ihr kommen könnte. Aber
nach den Geräuschen des zurückgeschobenen Stuhles und ihrer auf den Boden
fallenden Knie – denn sie kniet nieder und lehnt das Haupt an den Tisch, auf
dem die Gegenstände der Passion liegen – ist nichts mehr zu hören als ihr
unaufhörliches, trostloses Weinen.
Sie spricht leise, so leise, daß
die draußen ihre Worte nicht hören können: «Vater, Vater, Verzeihung! Ich
werde stolz und böse. Aber du siehst, es ist wahr, was ich sage. Es war eine
so große Menge um ihn. Ganz Palästina ist an diesem Fest in den heiligen
Mauern versammelt... Heilig? Nein, sie sind nicht mehr heilig... Sie wären es
geblieben, wenn er in ihnen gestorben wäre. Aber Jerusalem hat ihn ausgespien
wie ekelerregenden Auswurf. Deshalb ist in Jerusalem nur das Verbrechen... Und
in der großen Menge, die ihm folgte, fand sich nicht einmal eine Handvoll, die
Druck ausgeübt hätte, ich sage nicht, um ihn zu retten. Denn er mußte sterben,
um zu erlösen. Aber um ihm einen weniger qualvollen Tod zu erlangen. Sie haben
sich verborgen gehalten oder sind geflohen... Mein Herz bäumt sich auf vor so
viel Feigheit. Ich bin die Mutter. Deshalb verzeih meine Sünde der stolzen
Härte...» und sie weint.
Draußen sitzen die anderen wie
auf Kohlen, und dies aus verschiedenen Gründen.
Der Hausherr, der ausgegangen
war, um sich in der Stadt umzuhören, ist mit schrecklichen Nachrichten
zurückgekehrt. Man sagt, daß viele bei dem Erdbeben umgekommen sind, daß viele
bei Zusammenstößen
313
zwischen den Anhängern des
Nazareners und den Juden verletzt wurden, daß viele verhaftet wurden, daß es
neue Hinrichtungen geben wird nach Aufständen und Drohungen gegen Rom, und daß
Pilatus die Gefangennahme aller Jünger des Nazareners und der Vorsteher des
Synedriums, die entweder in der Stadt geblieben oder schon irgendwohin in
Palästina geflüchtet sind, angeordnet hat, daß Johanna sterbend in ihrem
Palast liegt, und daß Manaen von Herodes eingesperrt wurde, weil er ihn vor
dem ganzen Hof als Komplizen der Gottesmörder angeklagt hat. Ein ganzer Haufen
katastrophaler Nachrichten...
Die Frauen stöhnen. Sie fürchten
nicht so sehr für sich selbst, sondern für die Kinder und die Ehemänner.
Susanna denkt an ihren Mann, der in Galiläa als Jünger Jesu bekannt ist. Maria
des Zebedäus denkt an den ihren, der als Gast bei einem Freund weilt, und an
den Sohn Jakobus, von dem sie seit dem Abend zuvor keine Nachricht mehr hat.
Und Martha schluchzt: «Sie sind sicher schon nach Bethanien gegangen! Wem ist
nicht bekannt, was Lazarus für den Meister war?»
«Aber er wird doch von Rom
beschützt», entgegnet Maria Salome.
«Oh! Beschützt! Wer weiß, welche
Anschuldigungen die Vorsteher Israels gegen ihn bei Pilatus vorbringen bei dem
Haß, den sie gegen uns hegen... Oh! Gott!» Martha rauft sich die Haare und
schreit: «Die Waffen! Die Waffen! Das Haus ist voll davon... und auch der
Palast! Ich weiß es. Heute morgen bei Sonnenaufgang ist Levi, der Verwalter,
gekommen und hat mir gesagt... Aber du weißt das ja auch schon! Und du hast es
den Juden auf dem Kalvarienberg gesagt... Törichte! Du hast den Grausamen
damit die Waffe in die Hand gegeben, um Lazarus zu töten... !»
«Ich habe es gesagt, ja. Ich
habe, ohne es zu wissen, die Wahrheit gesagt. Aber so schweig doch, du
verschrecktes Huhn! Was ich gesagt habe, ist die sicherste Garantie für
Lazarus. Sie werden sich wohl hüten, sich in Gefahr zu begeben und dort zu
suchen, wo sie wissen, daß Bewaffnete sind! Sie sind feige!»
«Die Juden, ja. Aber die Römer
nicht!»
«Ich fürchte Rom nicht. Es ist
gerecht und klug in seinen Anordnungen.»
«Maria hat recht», sagt Johannes.
«Longinus hat zu mir gesagt: "Ich hoffe, daß man euch in Frieden läßt. Wenn
dem aber nicht so ist, so komm oder schicke jemanden zum Prätorium. Pilatus
ist den Jüngern des Nazareners wohlgesinnt. Er war es auch ihm. Wir werden
euch verteidigen."»
«Aber wenn die Juden selbst
handeln? Gestern abend waren sie die Häscher Jesu! Und wenn sie sagen, daß wir
Gotteslästerer sind, dann haben sie das Recht, uns gefangenzunehmen. Oh, meine
Söhne! Vier Söhne habe ich! Wo können Joseph und Simon sein? Sie waren auf dem
Kalvarienberg und sind weggegangen, als Johanna es nicht mehr aushielt. Sie
314
wollten den Frauen helfen und sie
verteidigen. Sie, die Hirten, Alphäus... alle! Oh, man hat sie gewiß schon
getötet. Hast du gehört, daß Johanna im Sterben liegt? Sicher durch eine
Verletzung. Und damit der Pöbel sich nicht an einer Frau vergreift, werden
meine Söhne sie verteidigt haben und nun tot sein! ... Und Judas und Jakobus?
Mein kleiner Judas! Mein ein und alles! Und Jakobus, der so sanft ist wie ein
Mädchen! Oh, ich habe keine Söhne mehr! Nun geht es mir wie der Mutter der
Makkabäer... !»
Sie weinen alle verzweifelt.
Alle, mit Ausnahme der Hausherrin, die gegangen ist, um ein Versteck für ihren
Mann zu suchen, und Maria Magdalena, die nicht weint. Aber ihre Augen sprühen
Feuer, und sie ist wieder die herrschsüchtige Frau von einst geworden. Sie
sagt nichts. Aber sie schaut die niedergeschlagenen Gefährtinnen verächtlich
an, und ihre Augen sagen ganz klar: «Ihr Memmen!»
So vergeht die Zeit... Ab und zu
steht jemand auf, öffnet leise die Tür, schaut hinein und macht die Tür wieder
zu.
«Was tut sie?» fragen die
anderen.
Und die, die gerade nachgesehen
hat, antwortet: «Sie kniet immer noch und betet», oder: «Es sieht so aus, als
rede sie mit jemandem», oder aber: «Sie ist aufgestanden und geht
gestikulierend im Zimmer auf und ab.»
674. DIE KLAGE DER JUNGFRAU
«Jesus! Jesus! Wo bist du? Hörst
du mich noch? Hörst du deine arme Mutter, die deinen heiligen, gepriesenen
Namen ruft, nachdem sie ihn so viele Stunden nur im Herzen genannt hat? Deinen
heiligen Namen, der meine Liebe war, die Liebe meiner Lippen; meiner Lippen,
die Honigsüße verspürten beim Nennen deines Namens; meiner Lippen, die nun,
wenn sie ihn nennen, nur die Bitterkeit zu trinken scheinen, die auf deinen
Lippen zurückgeblieben ist. Die Bitterkeit der furchtbaren Mischung... Dein
Name, die Liebe meines Herzens, das vor Freude schwoll, wenn es ihn aussprach,
so wie es sich weitete, um dir sein Blut zu geben, um dich zu empfangen und
dich mit ihm zu bekleiden, als du vom Himmel zu mir kamst, so klein, so
winzig, daß du im Blütenkelch der wilden Minze Platz gefunden hättest.
Du, der du so groß bist, du, der
Mächtige, hast dich für das Heil der Welt gedemütigt und bist Mensch geworden.
Dein Name, der Schmerz meines Herzens, nun, da sie dich den Liebkosungen
deiner Mutter entrissen haben, um dich den Händen der Henker auszuliefern, die
dich bis zum Tod gemartert haben. Mein Herz ist zermalmt von diesem deinen
Namen, den ich so lange in mir verschließen mußte und der immer lauter
315
schrie, je größer dein Schmerz
wurde, bis es zermalmt war wie unter dem Tritt eines Riesen. O ja, mein
Schmerz ist riesengroß und zermalmt und zerreißt mich, und es gibt nichts, was
ihn lindern könnte.
Wem soll ich deinen Namen sagen?
Nichts antwortet meinem Schrei. Selbst wenn ich so laut schreien würde, daß
der Stein, der dein Grab verschließt, zerspringt, du würdest mich nicht hören,
denn du bist tot. Hörst du deine Mutter nicht mehr? Wie oft hat sie dich, mein
Sohn, in diesen vierunddreißig Jahren gerufen! Seit ich wußte, daß ich Mutter
sein und daß der Name meines Kindes Jesus sein würde. Du warst noch nicht
geboren, da streichelte ich meinen Leib, in dem du heranwuchsest, und rief
dich leise: "Jesus", und es schien mir, als würdest du dich bewegen, um mich
"Mama" zu nennen! Für mich hattest du schon eine Stimme, ich erträumte sie
mir, deine Stimme. Ich hörte deine Stimme schon, bevor sie war. Und als ich
sie dann vernahm, zart wie die Stimme eines neugeborenen Lämmchens und
zitternd in der Kälte der Geburtsnacht, da lernte ich die höchste Freude
kennen... Und ich glaubte, den Abgrund des Schmerzes kennengelernt zu haben,
da ich die Tränen meines Kindes sah, das fror und sich nicht wohlfühlte, das
seine ersten Erlösertränen weinte, und ich hatte weder Feuer noch Wiege und
konnte nicht an deiner Statt leiden, Jesus. Ich hatte nur meine Brust, um dich
zu wärmen und zu betten, und meine Liebe, um dich anzubeten, mein heiliges
Kind.
Ich glaubte, den Abgrund des
Schmerzes kennengelernt zu haben... Aber es war erst das Morgengrauen, der
Beginn dieses Schmerzes. Nun ist es Mittag. Nun habe ich die Tiefe des
Abgrunds erreicht, nach einem Abstieg von vierunddreißig Jahren. So vieles hat
mich hinabgestoßen und mich heute niedergestreckt in dieser furchtbaren Tiefe
deines Kreuzes.
Als du klein warst, da habe ich
dich gewiegt und gesungen: "Jesus! Jesus!" Gibt es eine schönere und heiligere
Harmonie als diesen Namen, der die Engel des Himmels lächeln macht? Dein Name
war für mich schöner als der süße Gesang der Engel in der Nacht deiner Geburt.
Ich sah durch ihn in den Himmel... den ganzen Himmel sah ich in diesem Namen.
Und nun, da du tot bist und mich nicht hörst und mir nicht mehr antwortest,
als ob du nie gewesen wärest, sehe ich die Hölle, wenn ich ihn ausspreche. Die
ganze Hölle. Nun weiß ich, was es heißt, verdammt zu sein. Nicht mehr sagen zu
können: "Jesus"! Schrecklich! Schrecklich! Schrecklich! ...
Wie lange wird diese Hölle für
deine Mutter dauern? Du hast gesagt: "In drei Tagen werde ich diesen Tempel
wieder aufrichten." Den ganzen Tag schon wiederhole ich mir diese Worte, damit
ich nicht tot umfalle; um bereit zu sein, dich bei deiner Rückkehr zu begrüßen
und dir wieder dienen zu können... Aber wie werde ich drei Tage lang deinen
Tod ertragen können? Drei Tage lang tot, du mein Leben?
Wie ist es möglich, daß du, der
du alles weißt, weil du die unendliche
316
Weisheit bist, nichts von der
Verzweiflung deiner Mutter weißt? Kannst du es dir nicht vorstellen, wenn du
dich erinnerst, wie ich dich in Jerusalern verlor und du mich sahst, wie ich
die dich umgebende Menge teilte mit dem Gesicht einer Schiffbrüchigen, die
nach endlosem Kampf mit den Wellen und dem Tod den Strand erreicht, mit dem
Gesicht einer erschöpften, ausgebluteten, gealterten, zerschmetterten
Gefolterten? Und damals konnte ich dich nur verloren glauben. Ich konnte mich
der Hoffnung hingeben, daß es nur das war. Heute nicht. Heute nicht. Ich weiß,
daß du tot bist. Es gibt keine Hoffnung. Ich habe gesehen, wie man dich
umgebracht hat. Hier ist der Beweis. Selbst wenn der Schmerz mein Gedächtnis
trüben würde, hier ist dein Blut auf meinem Schleier, das mir sagt: "Er ist
tot. Er hat kein Blut mehr! Dies ist der letzte Tropfen aus seinem Herzen!"
Aus seinem Herzen! Aus dem Herzen meines Kindes. Meines Sohnes! Meines Jesus!
Oh, Gott! Barmherziger Gott, erinnere mich nicht daran, daß sie ihm das Herz
durchbohrt haben...
Jesus, ich kann nicht allein hier
bleiben, während du allein dort bist. Ich, die ich nie die Wege der Welt und
die Menschenmengen geliebt habe, und du weißt es, bin dir immer häufiger
gefolgt, seit du Nazareth verlassen hast, um nicht fern von dir leben zu
müssen. Ich habe Neugier und Spott ertragen, und ich zähle die Mühen nicht
auf, denn sie wurden bei deinem Anblick zu nichts. Ich wollte nur dort leben,
wo du warst. Und nun bin ich hier allein. Und du bist dort allein. Warum haben
sie mich nicht in deinem Grab gelassen? Ich hätte mich neben dein kaltes Bett
gesetzt, eine deiner Hände in meinen Händen, um dich fühlen zu lassen, daß ich
in deiner Nähe bin... Nein, um zu fühlen, daß du in meiner Nähe bist. Du
fühlst nichts mehr. Du bist tot!
Wie viele Nächte habe ich an
deiner Wiege verbracht, betend, liebend, von deinem Anblick beseligt. Willst
du, daß ich dir sage, wie du geschlafen hast und deine Fäustchen wie zwei
Blütenknospen neben dem heiligen Gesichtlein lagen? Soll ich dir sagen, wie du
im Schlaf gelächelt, dich gewiß an die Milch deiner Mama erinnert und
schlafend den Mund bewegt und gesaugt hast? Soll ich dir sagen, wie du dann
erwacht bist, die Äuglein geöffnet und gelacht hast, als du mich über dich
geneigt sahst, wie du die Händchen in ungeduldiger Freude ausgestreckt hast,
um in die Arme genommen zu werden, und mit einem leisen Jauchzen, mit dem
Triller einer Mönchsgrasmücke deine Mahlzeit verlangt hast? Oh, wie selig war
ich, wenn du an meiner Brust lagst und ich die Wärme deiner Wange und die
Liebkosungen deiner kleinen Händchen fühlte!
Du wolltest nie ohne deine Mama
sein. Und nun bist du allein! Verzeih mir, Kind, daß ich dich allein gelassen
habe; daß ich nicht zum ersten Mal in meinem Leben aufbegehrt habe und bei dir
geblieben bin. Dort ist mein Platz. Ich würde mich nicht so untröstlich
fühlen, wenn ich an deinem Totenbett wäre, dich wie einst umwickeln und deine
Binden wechseln
317
könnte... Auch wenn du mich nicht
anlächeln und nicht mit mir sprechen könntest, es würde mir scheinen, als
wärst du wieder mein Kind. Ich würde dich an mein Herz drücken, damit du die
Kälte des Steins, die Härte des Marmors nicht fühlst. Habe ich dich nicht auch
heute in meinen Armen gehalten? Auf dem Schoß einer Mutter ist immer Platz für
ihren Sohn, auch wenn er schon ein Mann ist. Der Sohn ist immer das Kind für
seine Mutter, auch wenn er vom Kreuz abgenommen und von Wunden bedeckt ist.
Wie viele, wie viele Wunden! Wie
viele Schmerzen! Oh, mein Jesus, mein ganz von Wunden bedeckter Jesus! So
verwundet! So getötet! Nein. Nein. Nein, Herr, das kann nicht wahr sein! Ich
bin von Sinnen! Jesus tot? Ich fiebere. Jesus kann nicht sterben! Leiden, ja,
aber nicht sterben! Er ist das Leben! Er ist der Sohn Gottes. Er ist Gott. Und
Gott stirbt nicht.
Stirbt nicht? Aber warum hat er
dann "Jesus" geheißen? Was bedeutet "Jesus" ? Es bedeutet... Oh, es bedeutet
"Erlöser"! Er ist tot! Er ist tot, weil er der Erlöser ist. Er mußte alle
erlösen und sich selbst dahingeben... Ich fiebere nicht, o nein. Ich bin nicht
von Sinnen. Nein. Wäre ich es nur! Ich würde weniger leiden. Er ist tot. Hier
ist sein Blut. Hier ist seine Dornenkrone. Hier sind die drei Nägel. Mit
diesen, mit diesen haben sie ihn durchbohrt!
Menschen, seht, womit ihr Gott,
meinen Sohn, durchbohrt habt! Und ich muß euch verzeihen. Und ich muß euch
lieben. Denn auch er hat verziehen. Denn er verlangt von mir, daß ich euch
liebe. Er hat mich zu eurer Mutter gemacht, zur Mutter der Mörder meines
Sohnes! Eines seiner letzten Worte im Kampf gegen das Todesröcheln war:
"Mutter, siehe da deinen Sohn... deine Kinder." Selbst wenn ich nicht die
Gehorsame wäre, so hätte ich doch heute gehorchen müssen, denn es war der
Befehl eines Sterbenden.
Sieh, Jesus, ich verzeihe. Ich
liebe sie. Ach! Es zerreißt mir das Herz bei dieser Verzeihung, bei dieser
Liebe! Hörst du, daß ich ihnen verzeihe und sie liebe? Ich bete für sie.
Schau, ich bete für sie... Ich schließe die Augen, um diese Marterwerkzeuge
nicht zu sehen, damit ich ihnen verzeihen, damit ich sie lieben, damit ich für
sie beten kann. Jeder Nagel soll meinen Willen, sie nicht zu lieben, ihnen
nicht zu verzeihen und nicht für deine Henker zu beten, kreuzigen.
Ich will und muß denken, daß ich
an deiner Wiege weile. Auch damals habe ich für die Menschen gebetet. Doch
damals war es leicht. Du lebtest, und ich – obwohl ich wußte, daß die Menschen
grausam sind – hätte niemals geglaubt, daß sie so grausam gegen dich sein
könnten, der du ihnen so viel Gutes getan hast. Ich betete, da ich überzeugt
war, daß dein Wort sie bessern würde. In meinem Herzen sagte ich zu ihnen,
wenn ich sie betrachtete: "Ihr seid jetzt böse, krank. Doch bald wird er zu
euch
318
sprechen und Satan in euch
besiegen. Er wird euch das verlorene Leben zurückgeben." Das verlorene Leben!
Du, du hast ihretwegen dein Leben verloren, mein Jesus!
Hätte ich damals, als du noch in
den Windeln lagst, den Schrecken dieses Tages sehen können, wäre meine süße
Milch vor Schmerz zu Gift geworden! Simeon hat es gesagt: "Deine Seele wird
ein Schwert durchdringen." Ein Schwert? Eine Unzahl von Schwertern! Wie viele
Wunden haben sie dir geschlagen, Sohn? Wie viele Seufzer hast du ausgestoßen?
Wie viele Krämpfe hast du erlitten? Wie viele Blutstropfen hast du vergossen?
Sieh, jeder ist ein Schwert für mich. Es sind eine Unzahl von Schwertern. An
dir ist kein Flecken Haut, das nicht verwundet ist. An mir ist keine Stelle,
die nicht durchbohrt ist. Sie durchbohren mein Fleisch und dringen bis ins
Herz.
Als ich deine Geburt erwartete,
bereitete ich die Binden und Windeln vor und spann das weichste Leinen der
Erde. Ich achtete nicht auf den Preis, um das glatteste Garn zu erhalten. Wie
schön warst du in den Windeln deiner Mutter! Alle sagten zu mir: "Frau, dein
Kind ist schön!" Du warst schön. Aus dem weißen Linnen schaute dein rosiges
Gesichtlein hervor. Du hattest zwei Äuglein blauer als der Himmel, und dein
Köpfchen war von einem goldenen Flaum bedeckt, so leicht und blond waren deine
Haare. Sie dufteten nach frisch aufgesprungenen Mandelblüten. Alle glaubten,
ich würde dich parfümieren. Nein. Mein Kleinod hatte nur den Duft der von
seiner Mutter gewaschenen Windeln, die ihr Herz und ihre Lippen geküßt hatten.
Niemals wurde ich müde, für dich zu arbeiten.
Und nun? Nun kann ich nichts mehr
für dich tun. Seit drei Jahren bist du von zu Hause fort. Aber immer noch
warst du der einzige Inhalt meiner Tage. Ich dachte an dich, an deine Kleider,
an deine Nahrung. Ich rührte das Mehl und bereitete Brot, pflegte die Bienen,
um Honig für dich zu haben, und wachte über die Bäume, damit sie dir Obst
gaben. Wie hast du dich über die Dinge gefreut, die deine Mutter dir brachte!
Keine Speise einer reichen Tafel und kein Gewand aus kostbarem Tuch war dir so
lieb, wie die von den Händen deiner Mutter gewebten, genähten, gepflegten und
geernteten Dinge. Wenn ich dich besuchte, schautest du sofort auf meine Hände
wie damals, als du klein warst und Joseph und ich dir unsere armen Geschenke
gaben, um dir zu zeigen, daß du unser König warst. Du bist nie naschhaft
gewesen, mein Kind, aber du hast die Liebe gesucht; sie war deine Nahrung, und
in unserer Fürsorge hast du sie gefunden. Auch jetzt hast du sie gefunden und
gesucht, mein armer Sohn, der du von der Welt so wenig geliebt wirst!
Nun ist alles vorbei. Alles
vollbracht. Deine Mama kann nichts mehr für dich tun. Du brauchst nichts
mehr... Nun bist du allein... Und auch ich bin allein... Oh, glücklicher
Joseph, der du diesen Tag nicht erleben mußtest. Hätte doch auch ich ihn nicht
mehr erleben müssen! Aber dann
319
hättest du nicht einmal den Trost
gehabt, deine arme Mutter zu sehen. Du wärest am Kreuz allein gewesen, so wie
du nun im Grab allein bist. Allein mit deinen Wunden.
Oh! Gott! Gott, wie viele Wunden
hat dein Sohn, mein Sohn! Wie konnte ich sie ansehen, ohne darüber zu sterben,
ich, die ich zu Tode erschrak, wenn er sich 1 Kind verletzte?
Einmal bist du im Garten von
Nazareth gefallen und hast dich an der Stirn verletzt. Nur einige
Blutstropfen. Aber ich, die ich schon schwach wurde, als ich bei deiner
Beschneidung ein wenig Blut sah – und Joseph mußte mich stützen, da ich wie
eine Sterbende zitterte – hatte Angst, daß diese kleine Wunde dich töten
könnte, und mehr mit Tränen als mit Wasser und Öl habe ich sie behandelt. Und
ich habe mich erst zufrieden gegeben, als kein Blut mehr kam. Ein andermal,
als du zu arbeiten lerntest, hast du dich mit der Säge verletzt. Eine kleine
Wunde nur. Aber mir war, als hätte mich die Säge in zwei geteilt. Und ich
hatte keine Ruhe, bis nach sechs Tagen deine Hand wieder geheilt war.
Und nun? Und nun? Nun sind deine
Hände, deine Füße, deine Seite geöffnet. Nun ist dein ganzes Fleisch zerfetzt
und dein Antlitz zerschlagen. Dieses Antlitz, das ich kaum mit Küssen zu
berühren wagte, ist von der Stirne bis zum Nacken eine einzige Wunde. Und
niemand hat dir Arznei und Trost gegeben.
Sieh mein Herz, o Gott, das du in
meinem Kind getroffen hast! Sieh es an! Ist es nicht verwundet wie der Körper
deines und meines Sohnes? Die Geißeln haben mich wie Hagel getroffen, während
er geschlagen wurde. Was bedeutet die Entfernung für die Liebe? Ich habe die
Martern meines Sohnes erlitten. Hätte doch nur ich allein sie erlitten! Läge
doch ich auf dem Grabtisch! Sieh mich an, o Gott! Tropft etwa nicht Blut aus
meinem Herzen? Da ist die Dornenkrone. Ich fühle sie. Sie ist ein Reif, der
mich drückt und durchbohrt. Hier sind die Löcher der Nägel: drei Schwerter in
meinem Herzen.
Oh, diese Schläge! Diese Schläge!
Warum ist der Himmel nicht auf die Erde herabgestürzt bei diesen
sakrilegischen Schlägen in das Fleisch Gottes? Und ich durfte nicht schreien!
Ich durfte mich nicht auf sie stürzen, um den Mördern die Waffe zu entreißen
und damit mein sterbendes Kind zu verteidigen! Ich mußte zuhören, zuhören, und
durfte nichts tun! Ein Schlag auf den Nagel, und der Nagel dringt in das
lebendige Fleisch. Ein weiterer Schlag, und er dringt noch tiefer ein. Und
noch einer und wieder einer, und sie brechen die Knochen und zerreißen die
Nerven, und das Fleisch meines Kindes wird durchbohrt und gleichzeitig das
Herz seiner Mutter.
Und als sie dich am Kreuz
aufgerichtet haben? Wie sehr mußt du da gelitten haben! Heiliger Sohn! Ich
sehe immer noch deine Hand aufreißen bei der Erschütterung durch den Fall.
Mein Herz ist wie sie zerrissen.
320
Ich bin verwundet, zerschlagen,
gegeißelt, getroffen und durchbohrt wie du. Ich war nicht mit dir am Kreuz.
Aber schau sie an, deine Mutter! Ist sie anders als du? Nein, es gibt keinen
Unterschied in unserem Martyrium. Nur ist deines zu Ende, und meines dauert
noch an. Du hörst nicht mehr die verlogenen Anklagen. Ich aber höre sie. Du
hörst nicht mehr die schrecklichen Flüche. Ich aber höre sie immer noch. Du
spürst nicht mehr die Stiche der Dornen, den Schmerz der Nägel, den Durst und
das Fieber. Ich aber fühle überall die brennenden Stiche und sterbe vor Durst
im Fieberwahn.
Hätten sie mir wenigstens
erlaubt, dir einen Tropfen Wasser zu geben! Meine Tränen, wenn die Grausamkeit
der Menschen dem Schöpfer schon das von ihm geschaffene Wasser verweigerte.
Ich habe dir so viel Milch gegeben, denn wir waren arm, mein Sohn, und auf der
Flucht nach Ägypten haben wir so viel verloren. Wir mußten uns wieder ein Dach
über dem Kopf, Möbel, Kleider und Nahrung beschaffen, und wir wußten nicht,
wie lange das Exil dauern würde und was wir bei der Rückkehr in die Heimat
vorfinden würden. Ich habe dir länger als üblich Milch gegeben, um dich nicht
den Mangel an Nahrung spüren zu lassen. Bis wir die kleine Ziege hatten, war
ich, o Kind deiner Mutter, deine kleine Ziege... Du hast schon so viele
Zähnchen gehabt und damit zugebissen... Oh, welche Freude, dich bei deinen
kindlichen Spielen lachen zu sehen! ... Du wolltest gehen, denn du warst so
stark und gesund. Stundenlang habe ich dich gehalten, ohne daß mein Rücken
schmerzte, wenn ich über dich gebeugt war und dich das Laufen lehrte und du
bei jedem Schrittchen "Mama! Mama!" sagtest. Oh, welche Seligkeit, dich diesen
Namen singen zu hören.
Auch heute hast du gesagt: "Mama!
Mama!" Doch deine Mutter konnte dich nur sterben sehen. Nicht einmal deine
Füße konnte ich liebkosen! Die Füße? Oh, ich hätte sie nicht berührt, auch
wenn meine Hände sie hätten erreichen können, um deine Schmerzen nicht zu
vermehren. Wie mußten deine armen Füße leiden, o mein Jesus! Hätte ich doch zu
dir hinaufsteigen und mich zwischen deinen Körper und das Kreuz schieben
können, damit er nicht in den Krämpfen des Todeskampfes auf das Holz
aufschlägt. Ich höre noch deinen Kopf beim letzten Aufbäumen gegen das Kreuz
schlagen. Und dieser Klang, dieser Klang läßt mich den Verstand verlieren. Es
ist, als hätte ich einen Hammer in meinem Kopf.
Komm zurück, komm zurück, mein
lieber Sohn, mein heiliger Sohn! Ich sterbe. Ich halte diese Trostlosigkeit
nicht aus. Zeige mir wieder dein Antlitz. Rufe mich noch einmal. Ich kann mir
dich nicht vorstellen ohne Stimme und ohne Blick, eine kalte, leblose Hülle!
Oh, Vater, komm du mir zu Hilfe! Jesus, hörst du mich nicht! Ist denn die
Passion nicht zu Ende? Ist denn nicht alles vollbracht? Genügen denn diese
Nägel, diese Dornen, dieses Blut, diese Tränen nicht? Braucht es noch mehr, um
das Menschengeschlecht zu heilen?
321
Vater, ich nenne dir die
Werkzeuge seiner Schmerzen und meine Tränen. Aber das ist das wenigste. Was
ihm bei seinem Sterben einen übermenschlichen Schmerz bereitet hat, war das
Verlassensein von dir. Und was mich schreien macht, ist, daß ich mich von dir
verlassen fühle. Ich fühle deine Nähe nicht mehr. Wo bist du, heiliger Vater?
Ich war die "Gnadenvolle". Der Engel hat gesagt: "Gegrüßet seist du Maria,
voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen."
Nein. Nein, das ist nicht wahr! Ich bin wie eine von dir wegen ihrer Sünden
Verfluchte. Du bist nicht mehr mit mir. Die Gnade hat sich zurückgezogen, als
ob ich eine zweite sündige Eva wäre.
Aber ich bin dir immer treu
gewesen. Worin habe ich dir mißfallen? Du konntest mit mir machen, was du
wolltest, und ich habe immer gesagt: "Ja, Vater, ich bin bereit." Können denn
die Engel lügen? Und Anna, die mir versichert hatte, daß du mir in der Stunde
des Leidens einen Engel senden würdest? Ich bin allein. Ich finde keine Gnade
mehr in deinen Augen. Ich habe dich, die Gnade, nicht mehr in mir. Ich habe
keinen Engel mehr. Lügen also die Heiligen? Worin habe ich dir mißfallen, wenn
sie lügen und ich diese Stunde verdient habe?
Und Jesus? Worin hat dein reines,
sanftmütiges Lamm gefehlt? Womit haben wir dich beleidigt, daß wir, außer dem
von den Menschen zugefügten Martyrium, auch noch die unbeschreibliche Qual
deiner Abkehr von uns ertragen müssen? Ihn, ihn, der dein Sohn war und dich
mit einer Stimme rief, die die Erde erschauern machte und sie in mitleidigem
Aufschluchzen erbeben ließ, wie konntest du ihn in seiner großen Qual
verlassen?
Armes Herz Jesu, das dich so sehr
geliebt hat! Wo ist das Zeichen der Herzwunde? Hier ist es. Sieh, Vater,
dieses Zeichen. Hier ist der Abdruck meiner Hand, die in die Wunde der Lanze
eingedrungen ist. Hier, hier... Weder die Tränen noch der Kuß der Mutter,
deren Augen brennen vom Weinen und deren Lippen wund sind vom Küssen, löschen
es. Dieses Zeichen schreit und klagt an. Dieses Zeichen schreit lauter als das
Blut Abels von der Erde zu dir. Und du, der du Kain verflucht und dich an ihm
gerächt hast, du bist meinem von seinen Kainen schon so sehr verletzten Abel
nicht zu Hilfe gekommen und hast ihnen sogar das letzte Verbrechen erlaubt! Du
hast ihm das Herz zerrissen durch deine Abkehr und hast zugelassen, daß ein
Mensch es freilegt, damit ich es sehe und auch durch seinen Anblick zermalmt
werde. Aber nicht meinetwegen, sondern seinetwegen, seinetwegen rufe ich dich
und bitte dich um eine Antwort. Du hättest es nicht tun dürfen...
Du hättest es nicht tun dürfen...
Oh, Verzeihung, Vater! Verzeihung, heiliger Vater! Verzeih einer Mutter, die
ihr Kind beweint... Er ist tot! Mein Sohn ist tot! Mit durchbohrtem Herzen
gestorben... Oh, Vater, Vater, Erbarmen! Ich liebe dich! Wir haben dich
geliebt, und du hast uns so
322
sehr geliebt. Wie konntest du
zulassen, daß das Herz unseres Sohnes durchbohrt wurde? Oh, Vater! ... Habe
Mitleid mit einer armen Frau. Ich bin von Sinnen, Vater! Ich gehöre dir, ich
bin dein Nichts, und ich wage es, dich zu tadeln! Barmherzigkeit! Du bist gut
gewesen. Die Wunde, die einzige Wunde, die ihn nicht geschmerzt hat, ist
diese.
Deine Abkehr hat ihn noch vor
Sonnenuntergang sterben lassen und ihm so weitere Qualen erspart. Du bist gut
gewesen. Alles tust du aus Güte und Liebe. Wir sind Geschöpfe, die nichts
verstehen. Du bist gut gewesen. Gut bist du gewesen. Sprich diese Worte, meine
Seele, um meinem Leiden den Stachel zu nehmen. Gott ist gut und hat dich immer
geliebt, meine Seele. Von der Wiege bis zum heutigen Tag hat er dich immer
geliebt. Er hat dir alle Freuden des irdischen Lebens geschenkt. Er hat dir
sich selbst geschenkt. Er ist gut gewesen, gut, gut. Danke, Herr. Sei
gepriesen für deine unendliche Güte.
Danke, Jesus. Ich danke auch dir.
Ich allein habe sie in meinem Herzen gefühlt, als ich dein geöffnetes Herz
gesehen habe. Nun ist deine Lanze in meinem Herzen und bohrt und wühlt. Doch
es ist besser so. Du spürst sie nicht.
Aber, habe Erbarmen, Jesus. Gib
ein Zeichen! Eine Liebkosung, ein Wort für deine arme Mutter mit dem
verwundeten Herzen! Ein Zeichen, ein Zeichen, Jesus, wenn du mich bei deiner
Rückkehr noch lebend antreffen willst.»
Ein energisches Klopfen an der
Tür läßt alle aufschrecken. Der tapfere Hausherr flieht. Maria des Zebedäus
möchte, daß ihr Johannes ihm folgt und schiebt ihn in Richtung Hof. Die
anderen, außer Maria Magdalena, drängen sich zusammen und jammern. Maria
Magdalena geht aufrecht und mutig zur Tür und fragt: «Wer klopft?»
Eine Frauenstimme antwortet: «Ich
bin Nike. Ich muß der Mutter etwas bringen. Öffnet schnell, die Militärstreife
ist unterwegs.»
Johannes, der sich von seiner
Mutter losgerissen hat und zu Magdalena geeilt ist, macht sich an den vielen
Riegeln zu schaffen, die heute abend alle sorgfältig vorgeschoben sind. Er
öffnet, und Nike kommt mit einer Dienerin und einem kräftigen Begleiter
herein. Die Tür wird wieder geschlossen.
«Ich habe etwas», sagt Nike
weinend, und die Stimme versagt ihr...
«Was? Was?» Alle drängen sich
neugierig heran.
«Auf dem Kalvarienberg... Ich
habe den Erlöser in diesem Zustand gesehen... Ich hatte den Schleier für die
Lenden vorbereitet, damit er die Lappen der Henker nicht braucht... Aber er
war so verschwitzt, mit Blut in den Augen, daß ich ihm den Schleier geben
wollte, damit er sich abtrocknen konnte. Und er hat es getan ... und mir den
Schleier zurückgegeben. Ich habe ihn nicht mehr benützt ... Ich wollte ihn mit
seinem Schweiß
323
und seinem Blut als Reliquie
aufbewahren. Und als wir kurz darauf die Gehässigkeit der Juden gegen Plautina
und die anderen Römerinnen, Lydia und Valeria, sahen, beschlossen wir,
zurückzukehren, aus Furcht, daß man uns dieses Tuch wegnehmen könnte. Die
Römerinnen sind tapfere Frauen. Sie haben uns in ihre Mitte genommen, mich und
die Dienerin, und haben uns beschützt. Obwohl sie eine Verunreinigung für
Israel darstellen... und es gefährlich ist, Plautina zu berühren. Aber daran
denkt man in ruhigen Zeiten. Heute waren alle in einem Rausch... Zu Hause habe
ich geweint... stundenlang... Dann ist das Erdbeben gekommen, und ich bin
ohnmächtig geworden... Als ich wieder zu mir kam, wollte ich den Schleier
küssen und habe gesehen... Oh! ... Das Antlitz des Erlösers ist darauf! ...»
«Laß sehen! Laß sehen!»
«Nein, zuerst die Mutter! Es ist
ihr Recht!»
«Sie ist völlig am Ende! Sie wird
es nicht ertragen ...»
«Oh, sagt das nicht. Es wird ihr
im Gegenteil ein Trost sein. Benachrichtigt sie!»
Johannes klopft leise an die Tür.
«Wer ist da?»
«Ich, Mutter. Nike ist draußen...
Sie ist bei Nacht gekommen... Sie hat dir ein Andenken... ein Geschenk
gebracht. Sie hofft, daß es dir ein Trost sein wird.»
«Oh, ein einziges Geschenk könnte
mich trösten: das Lächeln seines Gesichtes ...»
«Mutter!» Johannes umarmt sie,
aus Furcht, daß sie fallen könnte, und sagt, als würde er ihr den wahren Namen
Gottes anvertrauen: «Das ist es. Sein Lächeln ist auf dem Tuch, mit dem Nike
auf dem Kalvarienberg sein Antlitz getrocknet hat.»
«Oh, Vater! Allmächtiger Gott!
Heiliger Sohn! Ewige Liebe! Seid gepriesen! Das Zeichen! Das Zeichen, um das
ich euch gebeten habe! Laß sie, laß sie eintreten!»
Maria muß sich setzen, denn sie
kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, und während Johannes den Frauen
ein Zeichen gibt, Nike hereinzuschicken, beruhigt sich die Jungfrau wieder.
Nike kommt herein und kniet mit
ihrer Dienerin vor Maria nieder. Johannes steht neben Maria und legt einen Arm
um ihre Schultern, wie um sie zu stützen. Nike sagt kein Wort. Sie öffnet das
Kästchen, nimmt das Tuch heraus und faltet es auseinander. Und das Antlitz
Jesu, das lebendige Antlitz Jesu, das schmerzerfüllte und doch lächelnde
Antlitz Jesu sieht die Mutter an und lächelt ihr zu.
Maria schreit in schmerzlicher
Liebe auf und streckt die Arme aus. Ein Echo ertönt aus dem Vorraum, wo sich
die Frauen an der Tür versammelt haben. Und alle knien wie die Mutter vor dem
Antlitz des Erlösers nieder.
324
Nike findet keine Worte. Sie läßt
das Tuch aus ihren Händen in die Hände der Mutter gleiten und neigt sich dann,
um seinen Saum zu küssen. Schließlich geht sie rückwärts aus dem Raum, ohne
abzuwarten, daß Maria aus ihrer Ekstase erwacht.
Sie geht in die Nacht hinaus und
ist schon verschwunden, bevor die anderen dessen gewahr werden. Es bleibt
ihnen nichts anderes übrig, als das Tor wie zuvor zu schließen.
Maria ist wieder allein, in ein
Gespräch der Seele mit dem Bild ihres Sohnes vertieft, denn die anderen haben
sich alle zurückgezogen.
Einige Zeit vergeht. Dann sagt
Martha: «Wie machen wir es mit den Salben? Morgen ist Sabbat ...»
«Und wir werden nichts kaufen
können...» sagt Salome.
«Und doch muß es getan werden.
Viele Pfund Aloe und Myrrhe... Aber er war so schlecht gewaschen...»
«Auf jeden Fall muß alles bereit
sein bei Sonnenaufgang des ersten Tages nach dem Sabbat», bemerkt Maria des
Alphäus.
«Und die Wachen? Wie werden wir
es anstellen?» fragt Susanna.
«Wir werden es Joseph sagen, wenn
sie uns nicht hineinlassen», antwortet Martha.
«Wir können den Stein nicht
allein wegrücken.»
Maria Magdalena sagt: «Oh, du
meinst, zu fünft können wir das nicht? Wir sind alle kräftig... und die Liebe
tut das übrige.»
«Und auch ich werde mit euch
gehen», sagt Johannes.
«Du auf keinen Fall. Ich will
nicht auch noch dich verlieren, Sohn.»
«Mache dir keine Sorgen. Wir
genügen.»
«Nun gut... aber wer gibt euch
die Salben?»
Alle sind niedergeschlagen...
Dann sagt Martha: «Wir hätten Nike fragen können, ob es wahr ist, was wir über
Johanna und von den Unruhen gehört haben...»
«Das ist wahr! Aber wir sind
töricht. Wir hätten auch die Salben holen können. Isaak war auf der Schwelle,
als wir zurückkamen ...»
«Im Palast sind viele Gefäße mit
Essenzen, und auch feinen Weihrauch haben wir dort. Ich werde sie holen.»
Maria Magdalena steht von ihrem Platz auf und legt ihren Mantel um.
Martha schreit: «Du gehst nicht!»
«Ich gehe!»
«Du bist von Sinnen! Sie werden
dich gefangennehmen!»
«Deine Schwester hat recht. Geh
nicht!»
«Oh, was seid ihr für unnütze,
heulende Frauenzimmer! Jesus hatte wahrhaftig eine schöne Schar von Anhängern.
Ist euer Vorrat an Mut schon erschöpft? Bei mir ist es umgekehrt. Je mehr ich
davon verbrauche, desto größer wird er.»
«Dann werde ich mit ihr gehen.
Ich bin ein Mann.»
325
«Und ich bin deine Mutter und
verbiete es dir!»
«Beruhige dich, Maria Salome. Und
du sei brav, Johannes. Ich gehe allein. Ich habe keine Angst. Ich weiß, was es
heißt, bei Nacht auf den Straßen zu sein. Ich war der Sünde wegen tausendmal
unterwegs... Und nun sollte ich Angst haben, da ich gehe, um dem Sohn Gottes
zu dienen?»
«Aber heute ist es unruhig in der
Stadt. Du hast den Mann gehört.»
«Der ist ein Angsthase. Und ihr
ebenfalls. Ich gehe.»
«Und wenn dich die Soldaten
sehen?»
«Dann werde ich sagen: "Ich bin
die Tochter von Theophilus dem Syrer, dem treuen Diener Caesars." Und sie
werden mich laufen lassen. Und außerdem... ein Mann ist für eine junge, schöne
Frau ein geringeres Hindernis als ein Strohhalm. Ich weiß es, zu meiner
Schande ...»
«Aber wo willst du im Palast
Salben finden, da er doch seit Jahren unbewohnt ist?»
«Glaubst du das? Oh, Martha! Hast
du vergessen, daß Israel euch gezwungen hat, ihn zu verlassen, weil er einer
der Orte war, an denen ich meine Liebhaber traf? In dem Palast war alles, was
ich brauchte, um den Männern noch mehr die Köpfe zu verdrehen. Als ich durch
meinen Erlöser gerettet wurde, habe ich die Alabastergefäße und den Weihrauch,
die ich für meine Liebesorgien gebraucht hatte, an einem nur mir bekannten Ort
versteckt. Und ich habe geschworen, daß nur die Tränen über meine Sünden und
die Anbetung des allerheiligsten Jesus die Essenzen und der Weihrauch der
büßenden Maria sein würden, und daß ich diese Zeichen des Dienstes der Sinne
und des Fleisches nur verwenden würde, um sie zu heiligen und ihn zu salben.
Nun ist die Zeit dazu gekommen. Ich gehe. Bleibt. Und seid ruhig. Der Engel
Gottes begleitet mich, und es wird mir nichts Böses zustoßen. Lebt wohl. Ich
werde euch Nachrichten bringen. Doch Maria solltet ihr nichts sagen... Sie
würde sich nur noch größere Sorgen machen...»
Und Maria von Magdala geht mit
beeindruckender Selbstsicherheit fort.
«Mutter, laß dir das eine Lehre
sein... Es möge dir sagen: Handle nicht so, daß die Welt deinen Sohn einen
Feigling nennt. Morgen, nein heute, denn es ist bereits die zweite Nachtwache,
werde ich gehen und die Gefährten suchen, wie sie es wünscht...»
«Es ist Sabbat... Du kannst nicht
gehen...» entgegnet Salome, um ihn zurückzuhalten.
«"Der Sabbat ist tot", sage auch
ich mit Joseph. Die neue Zeit hat begonnen. Andere Gesetze, andere Opfer und
andere Zeremonien wird es in ihr geben.»
Maria Salome neigt das Haupt auf
die Knie und weint, ohne weiter zu widersprechen.
«Oh, könnten wir doch etwas über
Lazarus erfahren!» jammert Maria des Kleophas.
326
«Wenn ihr mich gehen laßt, werdet
ihr etwas erfahren. Denn die Gefährten wurden zu Lazarus gebracht von Simon
dem Kananiter, der den Auftrag dazu erhalten hatte. Jesus hat es Simon in
meiner Gegenwart gesagt.»
«0 weh! Alle dort? Dann sind sie
alle verloren!» Maria des Kleophas und Salome weinen untröstlich.
Die Zeit vergeht. Man wartet, und
viele Tränen werden vergossen. Dann kehrt Maria Magdalena triumphierend und
mit Taschen beladen zurück, die kostbare Gefäße enthalten.
«Seht ihr, daß nichts passiert
ist? Hier: Öle aller Art, und Narden, Lavendel und Benzoeharz. Myrrhe und Aloe
sind nicht dabei... Ich wollte nichts Bitteres... Bitterkeit verkoste ich
jeden Augenblick... Wir werden vorerst dies verwenden, und morgen holen wir...
Oh, Isaak wird für Geld auch am Sabbat verkaufen... Bei ihm kaufen wir dann
Myrrhe und Aloe.»
«Hat man dich gesehen?» «Niemand.
Nicht einmal eine Fledermaus ist unterwegs.»«Und die Soldaten?»«Die Soldaten?
Ich denke, die schnarchen in ihren Betten.» «Aber der Aufruhr... die
Verhaftungen ...»«Die hat nur die Angst dieses Mannes gesehen ...»«Wer ist im
Palast?»
«Nun, Levi und seine Frau.
Unbesorgt wie Kinder. Die Bewaffneten sind geflohen. Ha, ha, schöne Helden
haben wir, das muß ich schon sagen... Sie sind geflohen, als sie von der
Verurteilung gehört haben. Es ist wahr, Rom ist streng und gebraucht die
Peitsche... Aber dadurch erreicht es, daß man es fürchtet und ihm dient. Und
Rom hat Männer, keine Hasen... O ja, er hat gesagt: "Meine Jünger werden
dasselbe Schicksal wie ich erleiden." Wenn viele Römer Jesus nachfolgen, dann
ist das schon möglich. Aber wenn es Märtyrer unter den Israeliten braucht,
wird er allein bleiben... Hier, das ist meine Tasche. Und die ist von Johanna,
die... Ja, nicht nur feige, sondern Lügner sind wir. Johanna ist nur sehr
niedergeschlagen. Sie und Elisa haben sich auf Golgotha übel gefühlt. Die eine
ist eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, und so wurde ihr übel, als sie
Jesus röcheln hörte. Die andere ist zart und so lange Wege unter der Sonne
nicht gewohnt. Aber keine ist verletzt oder liegt im Sterben. Johanna weint
wie wir alle, gewiß; aber mehr nicht. Sie bedauert, daß man sie weggebracht
hat. Morgen wird sie zu uns kommen. Sie schickt diese Aromen, alle, die sie im
Haus hatte. Valeria ist auf Anordnung von Plautina bei ihr geblieben, und nun
ist sie mit den Sklaven zum Haus Claudias gegangen, denn dort haben sie viel
Weihrauch. Wenn sie kommt – denn auch sie ist, dem Himmel sei Dank, kein immer
zitternder Angsthase – dann schreit nicht alle, als ob man euch ein Messer an
die Kehle setzen würde. Los, steht auf. Holen wir die Mörser. Arbeiten wir.
327
Weinen nützt nichts. Oder
arbeitet wenigstens, während ihr weint. Unser Balsam soll mit unseren Tränen
vermischt sein. Er wird es fühlen ... Er wird unsere Liebe spüren.» Sie beißt
sich auf die Lippen, um nicht selbst zu weinen und den anderen, die so sehr
betrübt sind, Mut einzuflößen.
Sie arbeiten eifrig.
Maria ruft Johannes.
«Mutter, was möchtest du?»
«Diese Schläge...»
«Sie zerstoßen den Weihrauch.»
«Ach... Aber... Verzeiht mir...
Macht nicht so ein Geräusch... Es erinnert mich an die Hämmer ...»
Die Bronzestößel, die auf den
Marmor der Mörser schlagen, klingen tatsächlich wie Hämmer.
Johannes sagt es den Frauen, und
diese gehen in den Hof hinaus, um weniger gehört zu werden.
Johannes kehrt zur Mutter zurück.
«Wo haben sie das bekommen?»
«Maria des Lazarus ist in ihr
Haus und zu Johanna gegangen... Man wird noch mehr bringen...»
«Ist niemand gekommen?»
«Außer Nike niemand.»
«Sieh ihn an, Johannes, wie schön
er auch in seinem Schmerz ist.» Maria verliert sich mit gefalteten Händen in
der Betrachtung des Schleiers, den sie über eine Truhe gehängt und mit
Gewichten befestigt hat.
«Ja, Mutter, schön. Und er
lächelt dir zu... Nun weine nicht mehr... Es sind schon einige Stunden
vergangen, und wir müssen nicht mehr so lange auf seine Rückkehr warten...»
und Johannes weint.
Maria streichelt seine Wange,
ohne die Augen von dem Bildnis ihres Sohnes abzuwenden. Johannes geht mit
tränenverschleiertem Blick hinaus.
Auch Magdalena, die
zurückgekommen ist, um Amphoren zu holen, ist in derselben Verfassung. Aber
sie sagt dem Apostel: «Es ist nicht gut, daß sie uns weinen sehen. Sonst tun
die dort nichts anderes mehr. Und wir müssen etwas tun ...»
«... und wir müssen glauben»,
fügt Johannes hinzu.
«Ja, glauben. Wenn man nicht
glauben könnte, würde man verzweifeln. Ich glaube. Und du?»
«Ich auch ...»
«Du scheinst nicht sehr
überzeugt. Du liebst noch nicht genug. Wenn du mit deinem ganzen Sein lieben
würdest, könntest du nicht anders als glauben. Die Liebe ist Licht und Stimme.
Auch gegen das Dunkel der Ablehnung und das Schweigen des Todes sagt sie: "Ich
glaube."»
Herrlich ist diese Magdalena bei
ihrem Glaubensbekenntnis, eine hohe, eindrucksvolle, gebieterische Gestalt!
Sie muß ein wundes Herz haben.
328
Ihre vom Weinen brennenden Augen
verraten es. Doch die Seele ist unbezwingbar.
Johannes betrachtet sie voller
Bewunderung und murmelt: «Du bist stark!»
«Immer. Ich war es so sehr, daß
ich die Welt herausgefordert habe. Und damals war ich ohne Gott. Nun, da ich
Gott besitze, fühle ich, daß ich selbst der Hölle trotzen würde. Du, der du
gut bist, müßtest viel stärker sein als ich. Denn die Sünde schwächt, weißt
du? Mehr als die Schwindsucht. Aber du bist unschuldig... Daher hat er dich so
sehr geliebt...»
«Auch dich hat er geliebt...»
«Und ich war nicht unschuldig.
Aber ich war seine Eroberung und ...»
Jemand klopft kräftig an die Tür.
«Es wird Valeria sein. Mach auf.»
Johannes öffnet ohne Furcht, da
die Ruhe Marias sich auf ihn überträgt.
Es ist tatsächlich Valeria mit
ihren Sklaven, die die Sänfte tragen, aus der sie gerade gestiegen ist. Sie
tritt ein mit dem römischen Gruß: «Salve.»
«Der Friede sei mit dir,
Schwester. Tritt ein», sagt Johannes.
«Kann ich der Mutter das Geschenk
Plautinas bringen? Auch Claudia hat beigesteuert. Aber nur, wenn es ihr nicht
unangenehm ist, mich zu sehen.»
Johannes geht zu Maria.
«Wer hat geklopft? Petrus? Judas?
Joseph?»
«Nein, es ist Valeria. Sie hat
kostbare Harze gebracht. Sie möchte sie dir übergeben... wenn es dir nicht
unangenehm ist.»
«Ich muß meine Abneigung
überwinden. Er hat zu seinem Reich die Kinder Israels und die Heiden berufen.
Er hat alle berufen. Nun... ist er tot... Aber ich bin an seiner Stelle hier.
Und ich empfange alle. Sie soll hereinkommen.»
Valeria tritt ein. Sie hat den
dunklen Mantel abgelegt und ist nun ganz in Weiß in ihrer Stola. Sie verneigt
sich tief, grüßt und sagt: «Domina, du weißt, wer wir sind. Die ersten aus der
Finsternis des Heidentums Erlösten. Finsternis und Schmutz waren wir. Dein
Sohn hat uns Flügel und Licht gegeben. Nun ist er... in Frieden entschlafen.
Wir kennen eure Bräuche und wollen, daß auch die Salben Roms über den Sieger
ausgegossen werden.»
«Gott segne euch, Töchter meines
Herrn. Und... verzeiht, wenn ich nicht mehr sagen kann ...»
«Bemühe dich nicht, Domina. Rom
ist stark. Aber es versteht auch den Schmerz und die Liebe. Es versteht dich,
Mater Dolorosa. Leb wohl.»
«Der Friede sei mit dir, Valeria.
Plautina und euch allen meinen Segen.»
Valeria zieht sich zurück,
nachdem sie den Weihrauch und die Essenzen vor Maria gestellt hat.
329
«Siehst du, Mutter? Die ganze
Welt gibt etwas für den König des Himmels und der Erde.»
«Ja», sagt Maria, «die ganze
Welt. Und die Mutter wird ihm nur Tränen gegeben haben.»
Ein Hahn kräht fröhlich irgendwo
in der Nähe, und Johannes zuckt zusammen.
«Was hast du, Johannes?» fragt
die Jungfrau.
«Ich muß an Simon Petrus denken
...»
«Aber ist er nicht mit dir
zusammengewesen?» fragt Magdalena, die wieder ins Zimmer gekommen ist.
«Ja, im Haus des Annas. Dann habe
ich verstanden, daß ich hierher kommen mußte. Und seither habe ich ihn nicht
mehr gesehen.»
«Es wird bald Morgen.»
«Ja, öffnet die Fenster.»
Sie öffnen die Läden, und die
Gesichter erscheinen im grünlichen Morgenlicht noch fahler.
Die Nacht des Karfreitags ist zu
Ende...
675. DER TAG DES KARSAMSTAGS
Nur langsam, mühsam bricht der
Tag an. Es ist ein eigenartig verspäteter Sonnenaufgang, trotz des wolkenlosen
Himmels. Doch es scheint, daß die Himmelskörper all ihre Leuchtkraft verloren
haben. Und ebenso blaß wie der nächtliche Mond ist nun auch die aufgehende
Sonne. Trübe. Haben vielleicht auch sie geweint, daß sie trüb sind wie die
Augen der Guten, die den Tod des Herrn beweint haben und noch beweinen?
Sobald Johannes bemerkt, daß die
Tore geöffnet worden sind, geht er trotz der mütterlichen Bitten fort. Die
Frauen schließen sich wieder im Haus ein und sind noch mehr verängstigt, nun,
da der Apostel gegangen ist.
Maria, immer noch in ihrem
Zimmer, die Hände im Schoß gefaltet, schaut durch das Fenster in den Garten,
der zwar nicht sehr, aber doch ziemlich groß ist und voll blühender Rosen
entlang den Mauern und auf den Beeten. Die Lilienbüschel hingegen haben noch
nicht den Stengel der künftigen Blüte: Sie sind dicht und schön, bestehen aber
nur aus Blättern. Maria schaut und schaut, doch ich glaube, daß sie nichts
sieht. Sie sieht nur, worum sich ihre armen, müden Gedanken drehen: die Agonie
ihres Sohnes.
Die Frauen kommen und gehen. Sie
nähern sich Maria, liebkosen sie und bitten sie, eine Erfrischung
anzunehmen... und jedesmal bringen sie eine Welle schwerer, mannigfaltiger,
betäubender Düfte mit in den Raum.
330
Maria schaudert jedesmal. Sonst
nichts. Kein Wort. Keine Bewegung. Nichts. Sie ist erschöpft. Sie wartet. Sie
wartet nur. Sie wartet auf ihn.
Ein Klopfen an der Tür... Die
Frauen eilen herbei, um zu öffnen. Maria dreht sich auf ihrem Sessel um, ohne
aufzustehen, und schaut zur halb geöffneten Tür.
Magdalena tritt ein: «Manaen ist
gekommen... Er möchte irgendwie dienlich sein ...»
«Wen hattest du erwartet, Mutter
... ?»
«Später... später. Laß ihn
hereinkommen.»
Manaen kommt herein. Er ist nicht
wie sonst prunkvoll gekleidet, sondern trägt ein ganz gewöhnliches
schwarzbraunes Gewand und einen passenden Mantel. Keinen Schmuck und kein
Schwert. Er gleicht einem wohlhabenden Mann aus dem Volk.
Manaen verneigt sich zuerst mit
über der Brust gekreuzten Armen zum Gruß; dann kniet er nieder, wie vor einem
Altar.
«Steh auf. Und verzeih, wenn ich
deine Verneigung nicht erwidere. Ich kann nicht...»
«Du sollst auch nicht. Ich würde
es nicht zulassen. Du weißt, wer ich bin. Deshalb bitte ich dich, mich als
deinen Diener zu betrachten. Brauchst du mich? Ich sehe, es ist kein Mann bei
euch. Ich weiß von Nikodemus, daß alle geflohen sind. Es war nichts zu machen,
das ist wahr. Aber sie hätten sich wenigstens sehen lassen können, um ihn zu
trösten. Ich ... ich habe ihn beim Xystos gegrüßt. Dann war es nicht mehr
möglich, weil ... Aber es ist unnütz, darüber zu reden. Auch dies war von
Satan gewollt. Nun bin ich frei und komme, um dir zu Diensten zu sein.
Befiehl, Frau.»
«Ich möchte etwas über Lazarus
erfahren und es auch den anderen sagen... Die Schwestern sind in Sorge, und
meine Schwägerin und die andere Maria auch. Wir möchten wissen, ob Lazarus,
Jakobus, Judas und der andere Jakobus in Sicherheit sind.»
«Judas ? Iskariot? Aber er hat
ihn doch verraten!»
«Judas, der Sohn des Bruders
meines Bräutigams.»
«Ach so! Ich gehe.» Und er steht
auf. Aber beim Aufstehen verzerrt er vor Schmerz das Gesicht.
«Bist du verletzt?»
«Nun ja... Nicht der Rede wert.
Ein Arm tut mir ein wenig weh.»
«Vielleicht unseretwegen? Warst
du deshalb nicht dort oben?»
«Ja, deshalb. Und nur dies
schmerzt mich. Nicht die Wunde. Der Rest des Pharisäertums, des Hebräismus,
des Satanismus – denn Satanskult ist der Kult Israels geworden – der noch in
mir war, ist mit diesem Blut aus meinen Adern geflossen. Ich bin wie ein Kind,
das nach der Durchtrennung der Nabelschnur keine Verbindung mit dem Blut der
Mutter mehr hat; die wenigen Tropfen, die noch in der abgetrennten Schnur
sind,
331
können nicht eindringen, da sie
durch das Leinenband abgebunden sind. Sie fallen zu Boden, sind nun nutzlos.
Das Neugeborene lebt mit seinem eigenen Herzen und seinem eigenen Blut. So
ergeht es mir. Bisher war ich noch etwas unfertig. Nun bin ich am Ende meiner
Entwicklung angelangt und dem Licht geschenkt und komme. Gestern wurde ich
geboren. Meine Mutter ist Jesus von Nazareth. Er hat mich geboren, bei seinem
letzten Schrei. Ich weiß es... denn ich bin heute nacht ins Haus des Nikodemus
geflohen. Ich möchte ihn nur sehen ... Oh, wenn ihr zum Grab geht, dann sagt
es mir. Ich werde mitkommen ... Ich kenne sein Antlitz als Erlöser noch
nicht.»
«Er sieht dich an, Manaen. Dreh
dich um.»
Der Mann, der gesenkten Hauptes
eingetreten ist und dann nur Augen für Maria gehabt hat, wendet sich fast
erschrocken um und sieht das Schweißtuch. Er wirft sich anbetend zu Boden...
Und weint. Dann steht er auf,
verneigt sich vor Maria und sagt: «Ich gehe.»
«Aber es ist Sabbat. Du weißt es.
Sie beschuldigen uns schon, durch ihn Gesetzesbrecher geworden zu sein.»
«Dann sind wir ihnen gleich, denn
sie übertreten das Gebot der Liebe. Das erste und größte Gebot. Er hat es
gesagt. Der Herr möge dich trösten.» Er geht hinaus.
Die Stunden vergehen. Wie langsam
vergehen sie doch für jene, die warten...
Maria steht auf, hält sich an den
Möbeln und geht zur Tür. Sie versucht, die große Eingangshalle zu durchqueren.
Doch als sie sich nirgends mehr stützen kann, beginnt sie zu wanken. Martha,
die es vom gegenüber dem Ausgang liegenden Hof aus bemerkt, eilt ihr zu Hilfe.
«Wo willst du hin?»
«Dort hinein. Ihr habt es mir
versprochen.»
«Warte auf Johannes.»
«Ich habe genug gewartet. Ihr
seht, daß ich ruhig bin. Geht, da ihr von innen habt abschließen lassen, und
laßt öffnen. Ich warte hier.»
Susanna – denn alle sind
herbeigekommen – holt den Hausherrn mit den Schlüsseln. Maria lehnt sich
indessen an das Türchen, als wolle sie es durch die Kraft ihres Willens
öffnen. Hier ist nun der Mann. Ängstlich, verzagt schließt er auf und zieht
sich wieder zurück. Und Maria betritt, von Martha und Maria des Alphäus
gestützt, den Abendmahlsaal.
Alles ist noch, wie es am Ende
des Abendmahles war. Der Verlauf der Dinge und der von Jesus erteilte Befehl
haben Veränderungen verhindert. Nur die Liegen hat man an ihren Platz
zurückgebracht. Und Maria geht, obwohl sie nicht dabei war, doch direkt auf
die Liege zu, auf der Jesus gelegen ist. Es scheint, als würde eine Hand sie
führen. Und sie gleicht fast einer Mondsüchtigen, so steif ist ihr mühsamer
Gang... Sie geht um
332
die Liege herum und bleibt
zwischen ihr und dem Tisch einen Augenblick stehen. Dann wirft sie sich in
einem erneuten Aufschluchzen über den Tisch. Schließlich beruhigt sie sich und
betet mit an den Rand des Tisches gelehntem Kopf. Sie streichelt das
Tischtuch, die Liege, das Geschirr, den Rand der großen Platte, auf der das
Osterlamm gelegen ist, das große Tranchiermesser und den an diesem Platz
stehenden Krug. Sie weiß nicht, daß sie berührt, was auch Iskariot berührt
hat. Dann legt sie wie betäubt den Kopf auf die auf dem Tisch liegenden Arme
und bleibt so.
Alle schweigen, bis die
Schwägerin sagt. «Komm, Maria. Wir fürchten die Juden. Möchtest du vielleicht,
daß sie hier hereinkommen?»
«Nein, nein, dies ist ein
heiliger Ort. Gehen wir. Helft mir... Es war gut, daß du mich daran erinnert
hast. Ich hätte gerne eine schöne, große verschließbare Truhe, um darin alle
meine Schätze aufzubewahren.»
«Morgen lasse ich dir eine aus
dem Palast bringen. Die schönste Truhe des Hauses. Stark und sicher. Ich
schenke sie dir mit Freuden», verspricht Magdalena.
Sie gehen hinaus. Maria ist
völlig erschöpft. Sie wankt, als sie die wenigen Stufen hinaufsteigt. Und wenn
ihr Schmerz jetzt weniger dramatisch zum Ausdruck kommt, so nur deshalb, weil
sie weniger Kraft hat. Aber in ihrer Ruhe liegt noch mehr Tragik.
Sie kehren in den Raum von zuvor
zurück. Und bevor Maria sich wieder an ihren Platz begibt, liebkost sie das
Schweißtuch mit dem heiligen Antlitz, als ob es ein Gesicht aus Fleisch und
Blut wäre.
Wieder klopft jemand an die Tür.
Die Frauen eilen hinaus und öffnen die Tür einen Spalt. Mit ihrer müden Stimme
sagt Maria: «Wenn es die Jünger sein sollten, besonders Simon Petrus und
Judas, sollen sie sofort zu mir kommen.»
Aber es ist der Hirte Isaak. Er
kommt nach einigen Minuten weinend herein und wirft sich sogleich vor dem
Schweißtuch und dann vor Maria nieder. Er weiß nicht, was er sagen soll. So
ist es Maria, die sagt: «Danke. Er hat dich gesehen, und auch ich habe dich
gesehen. Er schaute euch an, solange er konnte.»
Isaak weint heftiger. Er kann
erst sprechen, als er zu weinen aufhört. «Wir wollten nicht fortgehen. Aber
Jonathan hat uns darum gebeten. Die Juden haben die Frauen bedroht... und
danach konnten wir nicht zurückkehren. Alles... war zu Ende... Wo sollten wir
also hingehen? Wir haben uns über die Felder zerstreut, und als die Nacht kam,
trafen wir uns auf halbem Weg zwischen Jerusalem und Bethlehem. Wir glaubten,
wir würden weniger an seinen Tod denken, wenn wir zu seiner Höhle gingen...
Aber dann fühlten wir, daß es nicht recht wäre, dorthin zu gehen. Es wäre
Egoismus gewesen, und so sind wir zur Stadt zurückgekehrt... Und ohne zu
wissen wie, waren wir in Bethanien...»
«Und meine Söhne?»
333
«Und Lazarus?»
«Und Jakobus?»
«Sie sind alle dort. Die Felder
des Lazarus waren bei Sonnenaufgang voll von weinenden Herumirrenden... Seinen
unnützen Freunden und Jüngern! Ich... bin zu Lazarus gegangen in der Meinung,
der erste zu sein. Es waren aber schon deine Söhne dort, Frau, und auch der
deine, zusammen mit Andreas, Bartholomäus und Matthäus. Simon der Zelote hatte
sie überredet, dorthin zu gehen. Und Maximinus, der am frühen Morgen auf die
Felder gegangen ist, hat noch andere gefunden. Lazarus hat allen geholfen. Und
er tut es noch. Er sagt, daß der Meister es ihm befohlen hat. Und auch der
Zelote sagt es.»
«Aber wo sind meine anderen
Söhne, Simon und Joseph?»
«Ich weiß es nicht, Frau. Wir
waren bis zum Erdbeben alle zusammen. Danach... weiß ich nichts Genaueres. In
der immer größeren Finsternis, bei den Blitzen und den aus den Gräbern
auferstandenen Toten, bei dem Beben der Erde und dem wilden Sturm habe ich den
Verstand verloren. Ich fand mich im Tempel wieder. Und ich frage mich immer
noch, wie ich dort hineinkam, ins Innere der heiligen Abgrenzung. Stelle dir
vor, zwischen mir und dem Rauchopferaltar war vielleicht eine Elle... Stelle
dir vor, ich an dem Ort, den sonst nur die diensthabenden Priester betreten
dürfen! Und ich habe das Allerheiligste gesehen! Ja... denn der Vorhang des
Allerheiligsten ist von oben bis unten zerrissen, wie von der Hand eines
Riesen... Hätten sie mich dort gesehen, wäre ich gesteinigt worden. Aber
keiner schien mehr etwas zu sehen. Ich bin nur Geistern von Toten und Geistern
von Lebenden begegnet. Denn wir glichen alle Gespenstern mit entsetzten
Gesichtern im Flammen der Blitze und im Schein der Brände...»
«Oh, mein Simon, mein Joseph!»
«Und Simon Petrus? Und Judas
Iskariot? Und Thomas und Philippus?»
«Ich weiß nicht, Mutter...
Lazarus hat mich geschickt, damit ich nach euch sehe, denn jemand hatte ihm
gesagt, daß... man euch getötet habe.»
«Dann geh sofort zurück und
beruhige ihn. Ich habe schon Manaen gesandt. Aber geh auch du und sage...
sage, daß nur er getötet wurde. Und ich mit ihm. Und wenn du andere Jünger
triffst, dann nimm sie mit dorthin. Aber Iskariot und Simon Petrus, die
schicke zu mir.»
«Mutter... Verzeih uns, daß wir
nicht mehr getan haben.»
«Ich verzeihe alles... Geh.»
Isaak geht hinaus, und Martha,
Maria, Salome und Maria des Alphäus überhäufen ihn mit Bitten, Empfehlungen
und Aufträgen. Susanna weint leise, denn niemand spricht von ihrem Mann. Da
erinnert sich Salome, daß auch sie einen Mann hat, und beginnt ebenfalls zu
weinen.
Nun herrscht wieder Stille, bis
erneut am Tor geklopft wird.
334
Da die Stadt ruhig ist, sind die
Frauen nicht mehr so ängstlich. Aber als sie durch den Türspalt das bartlose
Gesicht des Longinus erblicken, fliehen sie alle, als hätten sie einen Toten
in seinem Leichentuch oder den Teufel in Person gesehen. Der Herr des Hauses,
der neugierig in der Vorhalle auf- und abgegangen ist, läuft als erster davon.
Magdalena, die bei Maria war,
eilt herbei. Longinus ist mit einem unwillkürlich amüsierten Lächeln auf den
Lippen eingetreten und hat selbst das schwere Tor hinter sich geschlossen. Er
ist nicht in Uniform, sondern trägt ein graues, kurzes Gewand unter einem
dunklen Mantel.
Maria Magdalena schaut ihn an,
und er schaut sie an. Dann fragt Longinus, immer noch an die Tür gelehnt:
«Darf ich eintreten, ohne daß jemand verunreinigt wird? Und auch ohne jemanden
zu erschrecken? Ich habe heute früh den Bürger Joseph gesehen, und er hat mir
den Wunsch der Mutter mitgeteilt. Ich bitte um Verzeihung, daß ich nicht
selbst darauf gekommen bin. Hier ist die Lanze. Ich hatte sie behalten als
Andenken... an... den Heiligen der Heiligen. O ja, das ist er! Doch es ist nur
recht und billig, daß die Mutter die Lanze bekommt. Was die Kleider
betrifft... wird es schwieriger sein. Sage es ihr nicht ... aber
wahrscheinlich sind sie schon für wenige Denare verkauft worden ... Das ist
das Recht der Soldaten. Doch will ich versuchen, sie zu finden...»
«Komm, sie ist dort drüben.»
«Aber ich bin ein Heide!»
«Das macht nichts. Ich werde dich
anmelden, wenn du es wünschst.»
«Oh! ... Ich dachte nur, dessen
nicht würdig zu sein.»
Maria Magdalena geht zur
Jungfrau. «Mutter, Longinus ist draußen. Er schenkt dir die Lanze.»
«Laß ihn eintreten.»
Der Hausherr, der am Tor steht,
murrt: «Aber er ist doch ein Heide.»
«Ich bin die Mutter aller, Mann,
so wie er der Erlöser aller ist.»
Longinus tritt ein, nachdem er
auf der Schwelle auf römische Art mit ausgestrecktem Arm gegrüßt hat (er hat
den Mantel abgelegt), und sagt: «Ave, Domina. Ein Römer grüßt dich, Mutter des
Menschengeschlechtes. Du bist die wahre Mutter. Ich wollte nicht bei... bei
dieser Sache... dabei sein. Aber es war ein Befehl. Und wenn es dazu gedient
hat, daß ich dir nun bringen kann, was du wünschst, dann verzeihe ich dem
Schicksal, das mich für dieses furchtbare Geschehen bestimmt hat. Hier», und
er überreicht ihr die in ein rotes Tuch gewickelte Lanze. Nur das Eisen, nicht
den Schaft.
Maria nimmt sie und wird noch
bleicher. Selbst die Lippen heben sich fast nicht mehr von der blassen
Gesichtshaut ab. Die Lanze scheint ihr die Adern zu öffnen. Selbst ihre Lippen
zittern, als sie sagt: «Er möge dich an sich ziehen. Deiner Güte wegen.»
«Er war der einzige Gerechte, dem
ich im großen römischen Reich
335
begegnet bin. Es tut mir leid,
daß ich ihn nur durch die Worte der Kameraden kennengelernt habe. Nun... ist
es zu spät!»
«Nein, Sohn. Er hat aufgehört zu
predigen. Aber sein Evangelium bleibt. In seiner Kirche.»
«Wo ist seine Kirche?» fragt
Longinus leicht ironisch.
«Hier ist sie. Heute ist sie
verfolgt und zerstreut. Doch morgen wird sie sich vereinigen wie ein Baum, der
seinen Wipfel nach einem Sturm wieder aufrichtet. Und wenn auch sonst niemand
mehr da wäre, ich bin da. Und das Evangelium Jesu Christi, der der Sohn Gottes
und mein Sohn ist, steht in meinem Herzen geschrieben. Ich brauche nur in mein
Herz zu sehen, um es euch wiederholen zu können.»
«Ich werde kommen. Eine Religion,
die als Oberhaupt einen solchen Helden hat, kann nur göttlich sein. Ave,
Domina!»
Und auch Longinus geht wieder.
Maria küßt die Lanze, an der noch
das Blut des Sohnes klebt... Sie will dieses Blut auch nicht entfernen,
sondern läßt es als «Rubin Gottes auf der grausamen Lanze», wie sie sagt.
Der Tag vergeht, während der
Himmel sich abwechselnd aufhellt und mit dunklen Gewitterwolken bedeckt.
Johannes kehrt erst zurück, als
die im Zenith stehende Sonne anzeigt, daß es Mittag ist.
«Mutter, ich habe keinen
gefunden, außer... Judas von Kerioth.»
«Wo ist er?»
«Oh, Mutter! Wie schrecklich! Er
hängt an einem Ölbaum, schwarz und aufgedunsen, als ob er schon seit Wochen
tot wäre. Verwest. Schrecklich... Über ihm fliegen mit schauerlichem Krächzen
die Geier und Raben. Ihr Geschrei hat mich an die Stelle geführt. Ihr Geschrei
hat meine Aufmerksamkeit erregt. Ich war auf dem Weg zum Ölberg; da sah ich
auf einmal Schwärme von schwarzen Vögeln. Ich bin hingegangen... Warum? Ich
weiß es nicht. Und so habe ich ihn gesehen. Wie schrecklich ...»
«Wie schrecklich! Du hast recht.
Doch über der Güte stand die Gerechtigkeit. Wahrlich, die Güte ist jetzt
abwesend... Aber Petrus... Petrus! ... Johannes, ich habe die Lanze. Aber die
Kleider... Longinus hat nicht davon gesprochen.»
«Mutter, ich möchte nach
Gethsemane gehen. Er ist ohne Mantel gefangengenommen worden. Vielleicht ist
er noch dort. Dann werde ich nach Bethanien gehen.»
«Geh. Geh wegen des Mantels...
Die anderen sind bei Lazarus. Du brauchst also nicht zu ihm zu gehen. Geh, und
dann komm hierher zurück.»
Johannes eilt davon, ohne eine
Stärkung zu sich zu nehmen. Auch Maria hat noch nichts gegessen. Die Frauen
haben stehend Brot und Oliven gegessen und nebenbei weiter an den Salben
gearbeitet.
336
Und dann kommen Jonathan und
Johanna des Chuza. Vom vielen Weinen ist ihr Gesicht zur Maske geworden. Als
sie Maria sieht, sagt sie: «Er hat mich gerettet. Mich hat er gerettet, und er
ist tot. Nun wünsche ich, ich wäre nie gerettet worden.»
Und die Schmerzensmutter muß
dieses geheilte Geschöpf trösten, das von einer krankhaften Empfindsamkeit
geblieben ist. Sie tröstet und stärkt sie und sagt: «Wenn du ihn nicht gekannt
und geliebt hättest, könntest du ihm jetzt nicht dienen. Wieviel wird es in
Zukunft zu tun geben! Und wir werden es tun müssen, denn du siehst... Wir sind
geblieben, während die Männer geflohen sind. Die Frau ist immer die wahre
Gebärerin, im Guten wie im Bösen. Wir werden den neuen Glauben gebären. Wir
sind von ihm erfüllt. Er wurde vom göttlichen Bräutigam in uns gelegt. Und wir
werden ihn der Erde gebären. Zum Heil der Welt. Sieh, wie schön er ist! Wie er
lächelt und bittet um dieses unser heiliges Werk! Johanna, ich liebe dich, du
weißt es. Weine nicht mehr.»
«Aber er ist tot! Ja, hier auf
dem Tuch gleicht er noch einem Lebenden. Doch nun lebt er nicht mehr. Was ist
die Welt ohne ihn?»
«Er wird zurückkommen. Geh. Bete
und warte. Je mehr du glaubst, desto eher wird er auferstehen. Dieser Glaube
ist meine Stärke... Und nur ich, Gott und Satan wissen, wie viele Angriffe auf
diesen meinen Glauben an seine Auferstehung es gibt.»
Auch Johanna geht, zart und
gebeugt wie eine verregnete Lilie. Aber als sie fort ist, überkommt Maria
wieder eine große Trostlosigkeit.
«Allen, allen muß ich Kraft
geben. Und wer gibt sie mir?» Und sie weint und liebkost das Antlitz auf dem
Bild, denn sie hat sich jetzt neben die Truhe gesetzt, auf der das Schweißtuch
ausgebreitet ist.
Joseph und Nikodemus kommen. Die
Frauen müssen nun nicht mehr fortgehen, um Myrrhe und Aloe zu kaufen, denn sie
bringen beides in kleinen Säckchen. Doch ihre Kräfte verlassen sie, als sie
das Antlitz auf dem Linnen und das verzweifelte Gesicht der Mutter sehen.
Sie setzen sich in eine Ecke,
nachdem sie gegrüßt haben, und schweigen, ernst und traurig... Dann gehen sie
wieder. Auch Maria hat nicht mehr die Kraft zu sprechen. Je weiter die wegen
der drückenden Wolken vorzeitige Abenddämmerung fortschreitet, desto mehr ist
sie nur noch das arme, schmerzzerrissene Geschöpf. Die Schatten des Abends
sind für sie, wie für alle Betrübten, Quelle noch größerer Schmerzen.
Auch die anderen werden
trauriger. Besonders Salome, Maria des Alphäus und Susanna. Doch für sie kommt
endlich ein Trost, denn in einer Gruppe erscheinen Zebedäus, der Mann der
Susanna, Simon und Joseph des Alphäus. Die beiden ersteren bleiben in der
Vorhalle und erzählen, daß Johannes sie gefunden hat, als er durch den Vorort
Ophel gegangen ist. Die beiden anderen hingegen hat Isaak gefunden, während
sie auf den Feldern umherirrten und nicht wußten, ob sie in die Stadt
zurückkehren
337
oder zu den Brüdern gehen
sollten, von denen sie annahmen, daß sie in Bethanien seien.
Simon sagt: «Wo ist Maria? Ich
will sie sehen», und er geht hinter seiner Mutter zu Maria hinein und küßt die
schmerzerfüllte Verwandte.
«Bist du allein? Warum ist Joseph
nicht bei dir? Warum habt ihr euch getrennt? Seid ihr immer noch miteinander
im Streit? Das sollt ihr nicht. Ihr seht, die Ursache der Zwietracht ist tot.»
Und sie zeigt auf das Antlitz des Schweißtuches.
Simon betrachtet es und weint. Er
sagt: «Wir haben uns nicht mehr getrennt. Und wir werden uns nicht trennen.
Ja, die Ursache der Zwietracht ist tot. Aber nicht so, wie du glaubst. Sie ist
tot, weil Joseph nun begriffen hat... Joseph ist dort draußen... er getraut
sich nicht hereinzukommen.»
«0 nein. Vor mir fürchtet sich
niemand. Ich bin nur Erbarmen. Und ich hätte auch dem Verräter verziehen. Aber
nun kann ich es nicht mehr. Er hat sich umgebracht.»
Maria steht auf. Sie geht gebeugt
und ruft: «Joseph! Joseph!»
Aber Joseph ist ganz in Tränen
aufgelöst und antwortet nicht.
Sie geht zur Tür, wie sie es
getan hat, um mit Judas zu reden, hält sich am Türrahmen und legt die andere
Hand auf den Kopf des ältesten und hartnäckigsten der Neffen. Sie liebkost ihn
und sagt: «Ich möchte mich auf einen Joseph stützen. Alles war Frieden und
Ruhe, solange ich diesen Namen als König in meinem Haus hatte. Dann ist mein
Heiliger gestorben... Und all das menschliche Gut der armen Maria ist
ebenfalls gestorben. Nur das übernatürliche Gut meines Gottes und Sohnes ist
mir geblieben... Nun bin ich die Schmerzenreiche... Aber wenn ich in den Armen
eines Joseph sein kann, den ich liebe, und du weißt, daß ich dich liebe, fühle
ich mich weniger traurig. Dann glaube ich, die alte Zeit kehrt wieder. Dann
kann ich sagen: "Jesus ist nicht da, aber er ist nicht tot. Er ist in Kana, in
Naim bei der Arbeit, aber er kommt bald zurück..." Komm, Joseph, wir wollen
zusammen hineingehen, wo er auf dich wartet, um dir zuzulächeln. Er hat uns
sein Lächeln hinterlassen, um uns zu sagen, daß er keinen Groll gegen uns
hegt.»
Joseph geht hinein, und Maria
hält ihn dabei an der Hand; und als er sieht, daß sie sich gesetzt hat, kniet
er nieder, legt seinen Kopf in ihren Schoß und schluchzt: «Verzeihung!
Verzeihung!»
«Nicht von mir, von ihm mußt du
sie erbitten.»
«Er kann sie mir nicht geben. Auf
dem Kalvarienberg habe ich versucht, seinen Blick auf mich zu lenken. Alle hat
er angesehen, nur mich nicht... Er hat recht... Ich habe ihn zu spät als
Meister erkannt und geliebt. Nun ist es zu Ende...»
«Nun beginnt es erst. Du wirst
nach Nazareth gehen und sagen: "Ich glaube." Dein Glaube wird einen
unendlichen Wert haben. Du wirst ihn
338
mit der Vollkommenheit der
zukünftigen Apostel lieben, die das Verdienst haben werden, Jesus nur im Geist
gekannt zu haben. Wirst du das tun?»
«Ja! Ja! Um wiedergutzumachen.
Aber ich möchte ein Wort von ihm hören. Und ich werde nie wieder eines hören
...»
«Am dritten Tag wird er
auferstehen und zu denen sprechen, die er liebt. Die ganze Welt wartet auf
seine Stimme.»
«Du Gesegnete, die du glauben
kannst ...»
«Joseph! Joseph! Mein Bräutigam
war dein Onkel. Und er hat etwas geglaubt, was weit schwerer zu glauben war
als dies. Er hat geglaubt, daß die arme Maria von Nazareth die Braut und
Mutter Gottes war. Warum kannst du, der Neffe dieses Gerechten, der seinen
Namen trägt, nicht glauben, daß Gott dem Tod gebieten kann: "Genug!" und dem
Leben: "Kehre zurück!?»
«Ich verdiene diesen Glauben
nicht, weil ich schlecht gewesen bin. Ich bin ungerecht gegen ihn gewesen.
Aber du... du bist die Mutter. Segne mich ... Verzeih mir... Gib mir Frieden
...»
«Ja ... Frieden... Verzeihung...
Oh, Gott! Einmal habe ich gesagt: "Wie schwer ist es, der Erlöser zu sein."
Nun sage ich: "Wie schwer ist es, die Mutter des Erlösers zu sein." Erbarmen,
mein Gott! Erbarmen! ... Geh, Joseph. Deine Mutter hat in diesen Stunden so
sehr gelitten. Tröste sie... Ich bleibe hier... mit allem, was ich von meinem
Kind habe... Und meine einsamen Tränen werden dir den Glauben erlangen. Leb
wohl, mein Neffe. Sage allen, daß ich schweigen... nachdenken... beten will.
Ich bin eine arme Frau, die an einem Faden über einem Abgrund hängt... Der
Faden ist mein Glaube... Und euer Unglaube – denn keiner versteht es,
bedingungslos und heiligmäßig zu glauben – reißt unaufhörlich an diesem Faden.
Ihr wißt nicht, welche Mühe ihr mich kostet... Ihr wißt nicht, daß ihr Satan
helft, mich zu beunruhigen und zu quälen. Geh ...»
Und Maria bleibt allein...
Sie kniet vor dem Schweißtuch
nieder. Sie küßt die Stirn, die Augen, den Mund des Sohnes und sagt: «So! So!
Um Kraft zu erlangen... Ich muß glauben. Ich muß glauben. Für alle.»
Die Nacht ist hereingebrochen.
Eine sternenlose Nacht. Es ist finster und schwül. Maria bleibt mit ihrem
Schmerz im Dunkeln.
Der Tag des Karsamstags ist zu
Ende.
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676. DIE NACHT DES KARSAMSTAGS
Maria des Alphäus kommt
vorsichtig herein und lauscht. Vielleicht glaubt sie, daß die Jungfrau
eingeschlafen ist. Sie nähert sich und neigt sich vor. Und sieht sie auf den
Knien, das Gesicht auf dem Schweißtuch. Sie flüstert: «Oh, die Unglückliche!
So ist sie geblieben...»
Sie muß der Meinung sein, daß sie
in dieser Stellung eingeschlafen oder ohnmächtig geworden ist. Aber Maria
beendet ihr Gebet und sagt: «Nein, ich habe gebetet.»
«Aber auf den Knien! Im Dunkeln!
In dieser Kälte! Bei offenem Fenster! Merkst du nicht, daß du eiskalt bist?»
«Aber es geht mir so viel besser,
Maria. Während ich betete – und nur der Ewige weiß, wie erschöpft ich war,
nachdem ich so viele im Glauben Wankende stärken und so viele Seelen
erleuchten mußte, die nicht einmal sein Tod erleuchtet hatte – war mir, als
umgebe mich der Duft der Engel und die Frische des Himmels, als fühlte ich die
Liebkosung von Flügeln... Einen Augenblick... nicht länger. Aber mir schien,
daß in das Meer der Bitterkeit, das mich seit drei Tagen zornig überflutet,
ein Tropfen friedvoller Süßigkeit gefallen sei. Das verschlossene Gewölbe des
Himmels schien sich einen Spalt geöffnet zu haben, und ein Strahl leuchtender
Liebe fiel auf die Verlassene. Ich glaubte, daß aus unendlichen Fernen eine
unirdische Stimme flüsterte: "Es ist wirklich vollbracht." Und mein zuvor
untröstliches Gebet wurde ruhig. Es wurde in den leuchtenden Frieden getaucht
– oh, nur einen Widerschein des leuchtenden Friedens – der meine Berührung mit
Gott im Gebet war... Meine Gebete! ... Maria, hast du deinen Alphäus sehr
geliebt, als du die bräutliche Jungfrau warst?»
«Oh, Maria! ... Ich jubelte jeden
Morgen und sagte: "Eine Nacht ist vorüber. Eine Nacht des Wartens weniger." Am
Abend jubelte ich und sagte: "Ein weiterer Tag ist vergangen. Mein Einzug
unter sein Dach ist nähergerückt." Und beim Sinken der Sonne sang ich wie eine
Lerche und dachte: 'Bald wird er kommen." Und wenn ich ihn kommen sah, schön
wie mein Judas – daher ist Judas auch mein Lieblingssohn – aber mit den Augen
eines verliebten Rehes, wie mein Jakobus, oh, dann war ich wie von Sinnen. Und
wenn er mich grüßte und sagte: "Süße Braut", und ich antworten konnte: "Mein
Herr"... Ich glaube, wenn ich im gleichen Augenblick von einem schweren Wagen
überfahren oder von einem Pfeil getroffen worden wäre, ich hätte keinen
Schmerz empfunden. Und später... als ich seine Frau geworden war... Ach... !»
Maria verliert sich in der Ekstase der Erinnerung. Dann fragt sie: «Aber warum
diese Frage?»
«Um dir zu erklären, was meine
Gebete für mich waren. Verhundertfache deine Gefühle, vervielfache sie
tausendmal und abertausendmal, dann wirst du verstehen, was das Gebet immer
für mich war, die Erwartung jener Stunde. Ja, ich glaube, auch wenn ich nicht
im Frieden der
340
Grotte oder meines Zimmers
gebetet, sondern die Arbeiten der Frauen verrichtet habe, hat meine Seele
pausenlos gebetet. Aber wenn ich sagen konnte: "Nun kommt die Stunde, in der
ich mich in Gottes Gegenwart versenke", dann brannte mein Herz und klopfte
rascher. Und wenn ich mich in Gott verloren hatte... dann... Nein, das kann
ich dir nicht erklären. Wenn du einst im Licht Gottes sein wirst, wirst du es
verstehen... All dies war seit drei Tagen verloren. Und es war schmerzlicher,
als keinen Sohn mehr zu haben. Und Satan wühlte in diesen beiden Wunden, die
der Tod meines Kindes und die Gottverlassenheit mir geschlagen hatten, und
schlug die dritte Wunde: die furchtbare Angst vor dem Unglauben. Maria, ich
habe dich lieb, und du bist meine Verwandte. Du wirst es später deinen Söhnen,
den Aposteln, sagen, damit sie in ihrem Apostolat ausharren und über Satan
triumphieren können. Ich bin sicher, daß die ganze Erlösung hinfällig gewesen
wäre, wenn ich dem Zweifel unterlegen wäre, wenn ich der Versuchung durch
Satan nachgegeben, Gott geleugnet und gesagt hätte: "Es ist nicht möglich, daß
er aufersteht"; denn dies zu sagen, wäre einer Leugnung Gottes mit seiner
Macht und Wahrheit gleichgekommen. Ich, die neue Eva, hätte wieder in den
Apfel des Stolzes und der geistigen Sinnlichkeit gebissen und das Werk meines
Erlösers zerstört. Die Apostel werden unaufhörlich auf diese Weise versucht
werden, von der Welt, dem Fleisch, der Macht und dem Satan. Sie müssen
standhaft bleiben, trotz aller Qualen – und die körperlichen werden noch die
geringsten sein – um nicht zu zerstören, was Jesus geschaffen hat.»
«Sage du es meinen Söhnen,
Maria... Wie soll deine arme Schwägerin es ihnen sagen können?! Oh, wären sie
doch gekommen! Die Flucht in der ersten Stunde, das verstehe ich noch. Aber
dann!»
«Du siehst, daß Lazarus und Simon
den Befehl erhalten hatten, sie nach Bethanien zu führen. Jesus weiß alles
...»
«Ja... Aber... Oh! Wenn ich sie
sehe, werde ich ihnen ordentlich die Meinung sagen. Sie sind feige gewesen.
Alle anderen können feige sein, aber nicht sie: meine Söhne! Ich werde es
ihnen nie verzeihen ...»
«Verzeih, verzeih... Es war nur
ein Augenblick der Verwirrung... Sie glaubten nicht, daß er gefangengenommen
werden könnte. Er hatte es gesagt...»
«Dann ist es also richtig, wenn
ich ihnen nicht verzeihe. Sie haben es gewußt. Sie waren also vorbereitet.
Wenn man etwas weiß und dem glaubt, der es sagt, darf man doch nicht mehr
überrascht sein!»
«Maria, auch zu euch hat er
gesagt: "Ich werde auferstehen." Und doch... Könnte ich in eure Brust und in
euren Kopf schauen, würde ich in eurem Herzen und in eurem Gehirn lesen: "Es
ist nicht möglich."»
«Aber wenigstens... Ja... Es ist
schwer, zu glauben... Aber wir sind auf dem Kalvarienberg geblieben.»
«Durch die von Gott geschenkte
Gnade. Sonst wären auch wir geflohen.
341
Hast du gehört, was Longinus
gesagt hat: "Ein furchtbares Geschehen"? Und er ist ein Krieger. Wir Frauen,
allein mit einem Jüngling, haben nur dank der direkten Hilfe Gottes
ausgeharrt. Rühme dich daher nicht. Es ist nicht unser Verdienst.»
«Und warum hat Gott ihnen diese
Hilfe nicht gewährt?»
«Weil sie die Priester von morgen
sind. Sie müssen daher wissen, aus eigener Erfahrung wissen, wie leicht ein
Glaubender vom Glauben abfallen kann. Jesus will keine Priester, die es so
wenig und so schlecht sind wie jene, die seine schlimmsten Feinde waren.»
«Du sprichst von Jesus, als ob er
schon zurückgekehrt wäre.»
«Siehst du? Auch du gestehst
damit ein, daß du nicht glaubst. Wie willst du also deine Söhne tadeln?»
Maria des Alphäus kann ihr nicht
widersprechen. Sie neigt den Kopf und schiebt mechanisch Gegenstände umher.
Dann findet sie die Lampe und trägt sie aus dem Zimmer, um bald darauf mit
derselben, nun brennenden Lampe zurückzukehren und sie an den üblichen Platz
zu stellen.
Maria hat sich wieder neben das
ausgebreitete Schweißtuch gesetzt. Das Antlitz auf dem Schweißtuch scheint im
gelben Schein der Öllampe mit dem flackernden Flämmchen lebendig zu werden und
den Mund und die Augen zu bewegen.
«Möchtest du nichts essen?» fragt
die Schwägerin beschämt.
«Nur ein wenig Wasser... Ich habe
Durst.»
Maria geht und kommt mit Milch
zurück.
«Bestehe nicht darauf. Ich kann
nicht. Nur Wasser. Ich habe keine Flüssigkeit mehr in mir... Ich glaube, ich
habe nicht einmal mehr Blut. Aber ...»
Man klopft ans Tor. Maria des
Alphäus geht hinaus. Eine Unterredung in der Vorhalle, dann steckt Johannes
den Kopf ins Zimmer.
«Johannes, du bist zurück? Immer
noch nichts?»
«Doch... Simon Petrus... und der
Mantel Jesu ... in Gethsemane. Der Mantel...» Johannes kniet nieder und sagt:
«Hier ... Aber er ist ganz zerrissen und blutverschmiert. Die Handabdrücke
sind von Jesus. Nur er hatte so lange und schlanke Hände. Aber die Risse
stammen von Zähnen. Man sieht genau, daß es das Gebiß eines Menschen war. Ich
vermute, daß es... Judas Iskariot gewesen ist, denn am gleichen Ort, an dem
Petrus den Mantel gefunden hat, lag ein Fetzen des gelben Gewandes von Judas.
Er ist dorthin zurückgekehrt... später, bevor er sich umgebracht hat. Schau,
Mutter.»
Maria hat den schweren, roten
Mantel des Sohnes nur gestreichelt und geküßt; doch auf Drängen des Johannes
entfaltet sie ihn und sieht die dunklen Blutflecken auf dem Rot und die Spuren
der Zähne. Sie zittert und flüstert: «Wieviel Blut!» Es scheint, daß sie nur
dies sieht.
«Mutter... der Boden ist ganz
rot. Simon, der in den ersten
342
Morgenstunden hinaufgeeilt ist,
sagt, daß noch frisches Blut an den Grashalmen war... Jesus... Ich weiß
nicht... Mir schien er nicht verletzt zu sein... Woher das viele Blut?»
«Von seinem Körper. In der
Todesangst... Oh, Jesus... vollständiges Opfer! Oh, mein Jesus!» Maria weint
so bitterlich und unter schwachen Klagen, daß die Frauen an die Tür kommen, um
nach ihr zu sehen und sich dann wieder zurückzuziehen. «Dies, während alle
dich verließen... Was habt ihr getan, während er seine erste Todesangst
durchlitt?»
«Wir haben geschlafen, Mutter
...» Johannes weint.
«Und du hast Simon dort
angetroffen? Erzähle.»
«Ich war gegangen, um den Mantel
zu suchen. Ich wollte Jonas und Markus danach fragen... Aber sie sind
geflohen. Das Haus ist jetzt verschlossen und verlassen. Also ging ich an der
Mauer entlang den ganzen Weg, den wir am Donnerstag zurückgelegt haben... Ich
war so erschöpft und so betrübt an jenem Abend, daß ich mich jetzt nicht mehr
erinnern konnte, wo Jesus den Mantel abgelegt hatte. Mir schien, daß er ihn
anhatte, und später dann nicht mehr... Auf dem Platz der Gefangennahme war
nichts... Wo wir drei waren, auch nichts... Ich bin dem Pfad gefolgt, den der
Meister eingeschlagen hatte... Und ich glaubte, vielleicht sei auch Simon
Petrus tot, denn ich sah ihn dort ganz zusammengekauert an einem Felsen. Ich
rief ihn, und er hob den Kopf... Er war so verändert, daß mir schien, er habe
den Verstand verloren. Und mit einem Schrei versuchte er zu entfliehen. Aber
er strauchelte, denn die Tränen trübten seine Augen, und ich hielt ihn fest.
Er sagte mir: "Laß mich. Ich bin ein Dämon. Ich habe ihn verleugnet. So, wie
er es vorhergesagt hatte... Der Hahn hat gekräht, und er hat mich angesehen.
Ich bin geflohen... Ich bin auf den Feldern hin- und hergerannt, und dann war
ich auf einmal hier. Und siehst du? Hier hat Jahwe mich sein Blut finden
lassen, um mich anzuklagen. Überall Blut! Überall Blut! Auf dem Felsen, auf
der Erde, auf dem Gras. Ich habe es ihn vergießen lassen. Wie du, wie alle.
Aber ich habe dieses Blut verleugnet." Er schien mir von Sinnen zu sein. Ich
habe alles versucht, um ihn zu beruhigen und fortzuführen. Aber er wollte
nicht. Er sagte: "Hier, hier will ich bleiben, um dieses Blut und diesen
Mantel zu bewachen. Mit meinen Tränen will ich ihn waschen. Wenn kein Blut
mehr an dem Mantel ist, werde ich vielleicht zu den Lebenden zurückkehren, an
meine Brust schlagen und sagen: "Ich habe den Herrn verleugnet." Ich habe ihm
gesagt, daß du ihn sehen willst, daß du mich auf die Suche nach ihm geschickt
hast. Aber er wollte mir nicht glauben. Also habe ich ihm gesagt, daß du auch
Judas sehen wolltest, um ihm zu verzeihen, und daß du sehr leidest, weil du es
durch seinen Selbstmord nicht mehr tun kannst. Erst dann hat sich sein Weinen
etwas beruhigt. Und er wollte alles wissen und hat mir auch erzählt, daß noch
frisches Blut im Gras war und daß Judas, von dessen Gewand er einen Fetzen
gefunden hatte, den Mantel zerrissen
343
hat. Ich habe ihn lange reden
lassen und dann gesagt: "Komm mit zur Mutter." Oh, wie mußte ich bitten und
betteln, um ihn zu überzeugen. Und als ich glaubte, es sei mir gelungen, und
aufstand um zu gehen, wollte er nicht mehr. Erst gegen Abend haben wir uns auf
den Weg gemacht. Aber kurz vor der Tür hat er sich wieder in einem verlassenen
Garten versteckt und gesagt: "Ich will nicht, daß die Leute mich sehen. Auf
meiner Stirn steht geschrieben: Gottesleugner." Erst als es ganz dunkel wurde,
ist es mir gelungen, ihn hierherzuschleppen.»
«Wo ist er?»
«Hinter der Tür.»
«Laß ihn hereinkommen.»
«Mutter...»
«Johannes ...»
«Tadle ihn nicht. Er bereut.»
«Kennst du mich immer noch so
wenig? Laß ihn hereinkommen.»
Johannes geht hinaus. Doch er
kommt allein zurück und sagt: «Er hat nicht den Mut... Versuche du, ihn zu
rufen.»
Und Maria sagt sanft: «Simon des
Jonas, komm.» Nichts. «Simon Petrus, komm.» Nichts. «Petrus von Jesus und
Maria, komm.» Ein lautes, bitterliches Weinen. Aber er kommt nicht herein.
Maria steht auf. Sie legt den Mantel auf den Tisch und geht zur Tür.
Petrus hat sich draußen
zusammengekauert. Wie ein herrenloser Hund. Er weint so laut, daß er das
Geräusch der sich öffnenden, quietschenden Tür nicht hört, und auch nicht das
Knirschen der Sandalen Marias. Er bemerkt sie erst, als sie vor ihm steht,
sich über ihn neigt, eine seiner auf die Augen gedrückten Hände ergreift und
ihn auffordert, aufzustehen. Sie geht in das Zimmer und zieht Petrus hinter
sich her wie ein Kind. Dann verriegelt sie die Tür und kehrt, gebeugt in ihrem
Schmerz, wie Petrus in seiner Scham, an ihren Platz zurück.
Petrus geht zu ihr, kniet zu
ihren Füßen nieder und weint hemmungslos. Maria streichelt das ergraute und
vor Schmerz schweißnasse Haar. Sonst nichts, nur diese Liebkosung, bis er
ruhiger geworden ist. Dann, als Petrus schließlich sagt: «Du kannst mir nicht
verzeihen. Streichle mich also nicht. Denn ich habe ihn verleugnet», entgegnet
Maria: «Petrus, du hast ihn verleugnet. Das ist wahr. Du hast den Mut gehabt,
ihn öffentlich zu verleugnen, den feigen Mut, es zu tun. Die anderen... Alle,
außer den Hirten, Manaen, Nikodemus, Joseph und Johannes, sind nur feige
gewesen. Alle haben sie ihn verleugnet, die Männer und die Frauen Israels, mit
Ausnahme einiger Frauen... Ich spreche nicht von den Neffen und Alphäus der
Sara. Sie waren Verwandte und Freunde. Aber die anderen! ... Sie hatten nicht
einmal den satanischen Mut, zu lügen, um sich zu retten; und sie hatten weder
den geistigen Mut, zu bereuen und zu weinen, noch den noch größeren Mut,
öffentlich ihren Fehler einzugestehen. Du bist ein
344
armer Mensch. Du bist es vielmehr
gewesen, solange du auf dich selbst vertraut hast. Nun bist du ein Mensch. Und
morgen wirst du ein Heiliger sein. Aber selbst, wenn du nicht so wärest, wie
du bist, ich hätte dir trotzdem verziehen. Ich hätte Judas verziehen, um seine
Seele zu retten; denn um eine Seele zu retten, selbst eine einzige Seele,
sollte man keine Mühe scheuen und jeden Ekel und allen Widerwillen und allen
Groll überwinden, auch wenn es einem das Herz zerreißt. Denke daran, Petrus.
Ich wiederhole dir: "Der Wert einer Seele ist so groß, daß man sie – selbst
auf die Gefahr hin, ihre Nähe nicht zu ertragen und daran zu sterben – mit den
Armen umfassen und festhalten muß, so wie ich jetzt dein ergrautes Haupt
halte, wenn man verstanden hat, daß man sie durch dieses Festhalten retten
kann." So wie eine Mutter, die nach der väterlichen Züchtigung das Haupt ihres
schuldigen Sohnes an ihr Herz zieht und mit den Worten ihres gequälten, in
Liebe und Schmerz schlagenden Herzens mehr gutmacht und erreicht als der Vater
mit seiner Strenge. Petrus meines Sohnes, armer Petrus, der du wie alle in
dieser Stunde der Finsternis in die Hand Satans geraten und dir dessen nicht
bewußt gewesen bist, der du glaubst, alles allein getan zu haben, komm, komm
an das Herz der Mutter der Söhne meines Sohnes. Hier kann Satan dir nichts
anhaben. Hier beruhigen sich die Gewitter in Erwartung der Sonne, meines
Jesus, der auferstehen und dir sagen wird: "Friede, mein Petrus." Der
Morgenstern erscheint, rein und schön, und sein Kuß verleiht Reinheit und
Schönheit, wie es auf dem klaren Wasser unseres Meeres an den kühlen
Frühlingsmorgen geschieht. Deshalb habe ich so sehr nach dir verlangt. Am Fuß
des Kreuzes wurde ich seinetwegen und euretwegen gemartert, und – wie konntest
du mich nicht hören? – ich habe eure Seelen so laut gerufen, daß ich glaube,
sie sind wahrhaftig zu mir gekommen. Und, verschlossen in meinem Herzen, nein,
vielmehr auf meinem Herzen, wie die Schaubrote, habe ich sie emporgehoben,
damit sie in seinem Blut und seinen Tränen gewaschen werden. Ich durfte es
tun, denn er hat mich in Johannes zur Mutter seiner ganzen Nachkommenschaft
gemacht... Wie sehr habe ich nach dir verlangt! ... An jenem Morgen, am
Nachmittag, in der Nacht und am nächsten Tag ... Warum hast du eine Mutter so
lange warten lassen, armer, von Satan verwundeter und getretener Petrus? Weißt
du nicht, daß es die Aufgabe der Mütter ist, wiedergutzumachen, zu heilen, zu
verzeihen, zu führen? Ich führe dich zu ihm. Möchtest du ihn sehen? Möchtest
du sein Lächeln sehen, um dich zu überzeugen, daß er dich immer noch liebt?
Ja? Oh, dann löse dich aus den Armen der armen Frau und lege deine Stirn an
die gekrönte Stirn, deinen Mund auf die wunden Lippen, und küsse deinen
Herrn.»
«Er ist tot... Ich werde es nie
mehr tun können.»
«Petrus, antworte mir. Welches,
glaubst du, ist das letzte Wunder deines Herrn?»
345
«Das der Eucharistie. Nein,
vielmehr das des geheilten Soldaten... Oh, ich erinnere mich nicht daran... !»
«Eine treue, liebevolle und
starke Frau ist auf dem Kalvarienberg zu ihm gekommen und hat sein Antlitz
abgetrocknet. Und er, um zu zeigen, was die Liebe vermag, hat dem Linnen sein
Antlitz aufgeprägt. Hier, Petrus. Das hat eine Frau erreicht, in der Stunde
der höllischen Finsternis und des göttlichen Zornes. Nur weil sie geliebt hat.
Denke immer daran, Petrus! In den Stunden, da du meinst, Satan sei stärker als
Gott. Gott war der Gefangene der Menschen. Er war unterdrückt, verurteilt und
gegeißelt worden und dem Tod schon nahe... Und doch, selbst in den schwersten
Verfolgungen ist Gott immer Gott. Und wenn auch die Idee getroffen wird, Gott,
der sie erweckt hat, ist unangreifbar und antwortet daher ohne Worte, mit
diesem Tuch, den Gottesleugnern, den Ungläubigen, den Menschen mit dem
törichten "Warum", dem sündhaften "Es ist nicht möglich" und dem
gotteslästerlichen "Was ich nicht verstehe, das kann nicht wahr sein". Schau
es an, das Linnen. Einmal, du selbst hast es mir erzählt, hast du zu Andreas
gesagt: "Der Messias soll sich dir geoffenbart haben? Das kann nicht wahr
sein." Und dann mußte sich dein menschlicher Verstand der Kraft des Geistes
beugen, der den Messias dort sah, wo der Verstand ihn nicht gesehen hatte. Ein
anderes Mal hast du im Sturm auf dem Meer gefragt: "Soll ich kommen,
Meister?", und dann hast du auf halbem Weg, auf den tobenden Wellen zu
zweifeln begonnen und gesagt: "Das Wasser kann mich nicht tragen", und mit dem
Zweifel als Ballast wärest du beinahe ertrunken. Erst als der Glaube des
Geistes, entgegen dem menschlichen Verstand, die Oberhand gewann, hast du
Hilfe bei Gott gefunden. Ein anderes Mal hast du gesagt: "Wenn Lazarus schon
seit vier Tagen tot ist, warum sind wir dann gekommen? Um sinnlos zu sterben?"
Denn du konntest mit deinem menschlichen Verstand zu keinem anderen Ergebnis
kommen. Und dein Verstand wurde vom Geist beschämt, der dir in dem
Auferweckten die Herrlichkeit des Erweckers bewies und dir zeigte, daß ihr
nicht umsonst dorthin gegangen wart. Ein andermal, ja, sogar mehrmals hast du
gesagt, wenn du deinen Herrn vom Tod, vom schrecklichen Tod sprechen hörtest:
"Das wird dir niemals zustoßen." Und du siehst, wie dein Verstand Lügen
gestraft wurde. Ich erwarte nun das Wort deines Geistes zu diesem letzten
Geschehnis ...»
«Verzeihung.»«Nicht dieses. Ein
anderes Wort.»«Ich glaube.»«Ein anderes.»«Ich weiß nicht ...»
«Ich liebe. Petrus, liebe! Es
wird dir verziehen werden. Du wirst glauben. Du wirst stark sein. Du wirst der
Priester sein und nicht der Pharisäer, der unterdrückt und statt des
lebendigen Glaubens nur Äußerlichkeiten
346
kennt. Sieh ihn an. Finde den
Mut, ihn anzusehen... Alle haben ihn angeschaut und verehrt. Auch Longinus...
Und du solltest es nicht können? Du hast ihn doch verleugnen können! Wenn du
ihn jetzt nicht ansiehst, durch das Feuer meines mütterlich-liebenden
Schmerzes, der euch vereint, der euch versöhnt, dann wirst du es nie wieder
tun können. Er wird auferstehen. Wie wirst du ihn in seiner neuen Herrlichkeit
ansehen können, wenn du nicht sein Antlitz kennst im Übergang vom Meister, den
du kennst, zum Sieger, den du nicht kennst? Denn der Schmerz, aller Schmerz
der Jahrhunderte und der Welt, hat ihn mit Meißel und Hammer bearbeitet in den
Stunden von der Vesper des Donnerstags bis zur neunten Stunde des Freitags.
Und er hat sein Antlitz verändert. Zuerst war er nur der Meister und Freund.
Nun ist er der Richter und König. Er hat seinen Thron bestiegen, um zu
richten. Und er hat seine Krone aufgesetzt. So wird er bleiben. Nur wird er
nach seiner glorreichen Auferstehung nicht mehr der menschliche Richter und
König, sondern der göttliche Richter und König sein. Sieh ihn an. Schau ihn
an, solange noch die Menschheit und der Schmerz ihn verschleiern, um ihn
betrachten zu können, wenn er in seiner Gottheit triumphieren wird.»
Petrus hebt endlich das Haupt vom
Schoß der Mutter und betrachtet sie mit vom Weinen geröteten Augen und dem
Gesicht eines alten Kindes, das über das angerichtete Übel verzweifelt und
über die ihm entgegengebrachte Güte verwundert ist.
Maria zwingt ihn, seinen Herrn
anzusehen. Und nun stöhnt Petrus wie vor einem lebendigen Antlitz:
«Verzeihung! Verzeihung! Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte... was es
war. Ich bin es nicht gewesen. Etwas hat mich verändert, und ich war nicht
mehr ich selbst. Aber ich liebe dich, Jesus! Ich liebe dich, mein Meister!
Komm zurück. Komm zurück! Geh nicht fort, ohne mir zu sagen, daß du mich
verstanden hast!»
Maria wiederholt die Geste, die
sie schon in der Grabkammer gemacht hat. Mit ausgestreckten Armen und aufrecht
stehend gleicht sie der Priesterin im Augenblick der Opferung. Und wie sie
dort die unbefleckte Hostie geopfert hat, so opfert sie hier den reuigen
Sünder. Sie ist wahrlich die Mutter der Heiligen und der Sünder. Dann hilft
sie Petrus beim Aufstehen und tröstet ihn wiederum. Sie sagt zu ihm: «Nun, da
du hier bist, geht es mir besser. Geh jetzt hinüber zu den Frauen und
Johannes. Ihr braucht Ruhe und Nahrung. Geh, sei gut...» Sie spricht wie zu
einem Kind.
Und während das Haus, das nun in
dieser zweiten Nacht nach seinem Tod ruhiger geworden ist, zu den menschlichen
Gewohnheiten des Schlafens und Essens zurückkehrt und das müde und ergebene
Aussehen von Räumen hat, in denen die Hinterbliebenen nach dem Schock dieses
Todes langsam wieder zu sich kommen, will nur Maria allein wachen. An ihrem
Platz. In der Erwartung. Im Gebet. Immer. Immer. Immer. Für die Lebenden und
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die Toten. Für die Gerechten und
die Schuldigen. Für die Wiederkehr. Die Wiederkehr. Die Wiederkehr des Sohnes.
Die Schwägerin wollte bei ihr
bleiben. Aber nun schläft sie tief, sitzt in einer Ecke und lehnt den Kopf an
die Wand. Martha und Maria kommen zweimal nachsehen; doch dann ziehen sie sich
müde in ein nahes Zimmer zurück, und nach einigen Worten fallen auch sie in
einen bleiernen Schlaf... Etwas abseits schlafen Salome und Susanna in einer
winzigen Kammer, während auf zwei auf den Boden geworfenen Matten Petrus und
Johannes schnarchen. Ersterer schluchzt ab und zu immer noch unwillkürlich.
Johannes lächelt wie ein Kind, das irgend etwas Erfreuliches träumt.
Das Leben kehrt wieder, und das
Fleisch macht seine Rechte geltend.. Nur der Morgenstern leuchtet schlaflos
mit seiner Liebe, die bei dem Bildnis des Sohnes wacht.
So vergeht die Nacht des
Karsamstags, bis im ersten schwachen Schein des Morgens ein Hahn kräht und
Petrus mit einem Schrei auf die Füße springt. Sein angstvoller Schrei weckt
auch die anderen Schlafenden.
Die Nachtruhe ist zu Ende. Das
Leid beginnt wieder, während für Maria die Qual des Wartens nur noch größer
wird.
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Gepriesen sei Gott unser
Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus
Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,
Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.
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