Auszug:
14. Kapitel
Erläuterung über das Sterben
unseres Willens.
1. Die heiligste Jungfrau
fand wohl eine solche Freude daran, ihren lieben kleinen Jesus in ihren Armen zu
tragen, daß diese Freude ihr jede Müdigkeit nahm oder wenigstens ihr die
Müdigkeit liebenswert machte. Denn wenn schon das Tragen eines Zweigleins des
Agnus castus den Wanderer erquickt und ihm die Müdigkeit nimmt (s. VIII,5),
welche Linderung bereitete es erst der glorreichen Mutter, das unbefleckte Lamm
Gottes (Joh 1,36; 1 Petr 1,19) zu tragen! Ließ sie ihr Kind auch manchmal auf
den eigenen Füßen gehen, indem sie es bei der Hand hielt, so geschah dies nicht
deshalb, weil sie es nicht gerne trug, denn sicher hätte sie es lieber an ihrer
Brust getragen und seinen Arm um ihren Hals geschlungen gehabt. Sie tat es
vielmehr, damit es sich darin übe, allein seine Schritte zu machen und selbst zu
gehen.
2. Und wir, Theotimus, können
als kleine Kinder des himmlischen Vaters auf zweierlei Weise mit ihm gehen.
Erstens können wir mit den Schritten unseres eigenen Wollens gehen, das wir dem
seinen anpassen, indem wir immer mit der Hand unseres Gehorsams die der
göttlichen Absicht halten und ihr überallhin folgen, wohin sie uns führt. Das
ist das, was Gott von uns durch die Offenbarung seines Willens fordert. Denn
will er, daß ich das tue, was er befiehlt, so will er auch, daß ich den Willen
habe, es zu tun. Gott hat mir seinen Willen kundgetan, daß ich den Tag der Ruhe
heilige. Da er will, daß ich das tue, will er auch, daß ich es tun will, daß ich
folglich mein eigenes Wollen habe, mit dem ich seinem Wollen folge und diesem
gleichforme und anpasse.
3. Aber wir können auch mit
dem Herrn gehen, ohne ein eigenes Wollen zu haben; wir können uns, wie ein
kleines Kind in den Armen seiner Mutter, ganz einfach von seinem göttlichen
Wohlgefallen tragen lassen durch eine bestimmte Art wundersamer Einwilligung,
die man Vereinigung oder besser noch Einheit unseres Willens mit dem Willen
Gottes nennen kann. Und das ist die Weise, wie wir trachten sollen, uns im
Willen des göttlichen Wohlgefallens zu verhalten. Denn die Wirkungen dieses
Willens entspringen einzig der Vorsehung Gottes; sie kommen, ohne daß wir etwas
dazu tun. Freilich können wir wollen, daß sie dem Willen Gottes gemäß geschehen,
und dieses Wollen ist sehr gut. Wir können aber auch diese Fügungen des
göttlichen Wohlgefallens durch eine ganz einfache Stille unseres Willens
entgegennehmen, der gar nichts will, sondern einfach allem zustimmt, was Gott in
uns, an uns und aus uns machen will.
Franz von Sales - Abhandlung über die
Gottesliebe II