Auszug:
19. Kapitel
Buße ohne Liebe ist noch
unvollkommen.
1. Alle diese Beweggründe
lehrt uns der Glaube und die christliche Religion. Daher ist auch die daraus
folgende Reue höchst wertvoll, wenngleich noch unvollkommen. Sie ist in Wahrheit
wertvoll. Die Heilige Schrift und die Kirche würden uns mit solchen Motiven
nicht zur Reue auffordern, wenn die daraus entspringende Buße nicht gut wäre.
Außerdem ist es klar ersichtlich, daß es ganz vernünftig ist, aus diesen
Beweggründen heraus seine Sünden zu bereuen, ja, daß es fast unmöglich ist,
seine Sünden nicht zu bereuen, wenn man sie aufmerksam überdenkt. Sie ist aber
trotzdem unvollkommen, weil ihr das Motiv der Gottesliebe noch fehlt. Siehst du
nicht, Theotimus, daß all dieses Bereuen nur den eigenen Nutzen, das eigene
Glück, die Schönheit der Seele, ihre Ehre und Würde, mit einem Wort, die Liebe
zu uns selbst im Auge hat, wenn auch in durchaus rechtmäßiger, gerechter und
geordneter Weise? Verstehe mich hier aber wohl: Ich sage nicht, daß all dieses
Bereuen die Liebe Gottes verwirft, sondern nur, daß es die Gottesliebe nicht
umfaßt; es stößt sie nicht zurück, enthält sie aber auch nicht; es ist ihr nicht
entgegengesetzt, aber es ist noch ohne sie; es schließt sie nicht aus, aber auch
nicht ein.
2. Der Wille, der das Gute
anstrebt, ist sehr gut. Strebt er aber nur das Gute an und verwirft gleichzeitig
das Bessere, so ist er doch offenbar ungeordnet, nicht weil er das Gute
anstrebt, sondern weil er das Bessere verwirft. So ist z. B. der Vorsatz, heute
Almosen zu geben, gut. Der Vorsatz aber, nur heute Almosen zu geben, wäre
schlecht, weil er das Bessere ausschließt, nämlich heute und morgen und immer
Almosen zu geben, wo es möglich ist.
Niemand kann leugnen, daß es
ganz sicher gut ist, seine Sünden zu bereuen, um der Höllenpein zu entgehen und
den Himmel zu erlangen. Aber es wäre offenbar eine große Sünde, niemals seine
Sünden aus einem anderen Grund bereuen zu wollen. Hier würde das Bessere
absichtlich ausgeschlossen, das in der Reue aus Liebe zu Gott besteht. Wo ist
der Vater, der es seinem Sohn nicht übel nähme, wollte dieser ihm zwar dienen,
jedoch nie mit Liebe und aus Liebe.
Der Anfang guter Dinge ist
gut; ihr Fortschritt besser, ihre Vollendung sehr gut. Die Bezeichnung „gut“
kommt dem Anfang zu, insofern er ein „Anfang“ ist, und dem Fortschritt, insofern
er ein Fortschritt ist. Wollte man aber das Werk mit dem Anfang oder Fortschritt
beendigen, so hieße dies, die Ordnung auf den Kopf stellen. So ist z. B. das
Kindsein gut, aber immer ein Kind bleiben, wäre schlecht, das „hundertjährige
Kind“ (Jes 65,20) wird verachtet. – Zu lernen beginnen ist löblich, jedoch
widersinnig wäre es, wollte man in der Absicht beginnen, nie weitere
Fortschritte zu machen. So sind also die Furcht und alle anderen Motive zur
Reue, von denen wir gesprochen haben, gut für den Anfang christlicher Weisheit,
der in der Buße besteht. Wollte aber jemand absichtlich nicht fortschreiten, um
zur Vollkommenheit wahrer Reue und Buße zu gelangen, die in der Liebe besteht,
so würde er aufs höchste denjenigen beleidigen, der alles für seine Liebe als
das Ziel aller Dinge bestimmt hat.
3. Aus all dem ziehe ich
folgenden Schluß: Die Reue, die die Liebe Gottes ausschließt, ist teuflisch; sie
gleicht jener der Verdammten in der Hölle. Die Reue hingegen, die zwar die Liebe
Gottes nicht ausschließt, aber auch noch nicht einschließt, ist zwar gut und
wünschenswert, aber noch unvollkommen. Sie genügt zum Heil erst, wenn sie bis
zur Gottesliebe vorgestoßen ist und sich mit ihr verschmolzen hat. Deshalb sagt
ja der Apostel: „Gäbe ich auch meinen Leib den Flammen preis und all meine Habe
den Armen, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts“ (1 Kor 13,3). So
können also auch wir in Wahrheit sagen: Wäre unsere Reue so groß, daß sie uns
Tränen erpreßte und unser Herz von Leid durchbohrt wäre – ohne die heilige
Gottesliebe nützt uns das alles nichts für das ewige Leben.
Franz von Sales - Abhandlung über die
Gottesliebe I