Auszug:
8. Gespräch
Loslösung von „Mein und Dein“
Das kleinliche Hängen am
„Mein und Dein“ ist noch ein Überbleibsel von der Welt, die nichts Kostbareres
kennt und darin ihr höchstes Glück sieht. Ursache ist die Selbstüberschätzung.
Wir halten uns für etwas so Hervorragendes, daß alle Dinge für uns im Wert
steigen, wenn sie mit uns in Berührung kommen, aber im Wert sinken, wenn sie
unseren Mitmenschen dienen, für die wir eben nicht viel übrig haben. Wären wir
demütig, wären wir losgelöst von uns selbst und überzeugt, daß wir vor Gott ein
Nichts sind, dann würden wir es für ganz unwichtig halten, ob die Sachen uns
gehören, ja wir würden es uns zur Ehre anrechnen, Dinge zu benützen, die anderen
gedient haben.
Wie in allem, so muß man auch
hier unterscheiden zwischen Neigung und Anhänglichkeit.2 Wo es sich nämlich um
eine bloße Neigung handelt, liegt kein Grund zur Beunruhigung vor; es hängt ja
nicht von uns ab, ob wir schlechte Neigungen haben oder nicht. – Ein Beispiel:
Beim Wechseln der Kleider3 bekommt eine Schwester einen minderen Habit. Fühlt
sie darüber eine kleine Verstimmung, so ist dies noch keine Sünde,
vorausgesetzt, daß sie es im höheren Seelenbereich gerne annimmt. Das gleiche
gilt auch von anderen ähnlichen Gefühlen, die in uns aufsteigen. Wenn man mir z.
B. hinterbringt, daß jemand über mich geschimpft hat – oder wenn mir etwas in
die Quere kommt, dann steigt wohl der Zorn in mir auf, das Blut kocht und alles
empört sich in mir; schaue ich aber dabei auf den Heiland und bete für den, der
mich gekränkt hat, so habe ich in keiner Weise gesündigt. Selbst wenn noch
tagelang nachher immer wieder bittere Gedanken gegen diese Person in mir
auftauchen, so brauche ich mir nichts vorzuwerfen, wenn ich nur von Zeit zu Zeit
diese Gedanken ablehne; denn es liegt nicht in meiner Macht, diese Gefühle zum
Schweigen zu bringen. – Würde aber die oben erwähnte Schwester ihrer Verstimmung
über das minder gute Kleid, das sie erhalten hat, nachgeben, so wäre das ohne
Frage ein großer Fehler, denn ihr Verhalten wäre Untreue gegen Gott und gegen
ihre Verpflichtung, nach Vollkommenheit zu streben.
2. Ein solches Versagen kommt
dann vor, wenn der eigene Wille nicht im gemeinsamen Willen aufgegangen ist, wie
es doch Pflicht eines jeden Menschen ist, der in ein Kloster eintritt. Es sollte
für jede Schwester etwas ganz Selbstverständliches sein, ihren eigenen Willen
draußen zu lassen und nur mehr nach dem Willen Gottes zu leben. Glücklich die
Seele, die keinen anderen Willen mehr hat als den der Ordensgemeinde, die alles
eigene Wollen Tag für Tag aus dem gemeinsamen Wollen schöpft.4
In diesem Sinn müssen wir
auch das Heilandswort: „Sorgt nicht ängstlichfür den morgigen Tag“ (Mt 6,34)
verstehen. Es bezieht sich nichtnur auf Nahrung und Kleidung, sondern auch auf
die geistlichen Übungen.– Fragt euch also jemand: „Was wollt ihr morgen tun?“,
dann sollt ihr antworten: „Heute tu ich das, was mir für heute aufgetragen ist;
was ich morgen tun werde, weiß ich nicht, weil mir nicht bekannt ist, welchen
Auftrag ich morgen erhalten werde.“ Wer so handelt, kann sich über nichts
ärgern; denn wo diese echte Gelassenheit herrscht, kann es keine Unzufriedenheit
und keine Vergrämtheit geben. Freilich, in fünf Jahren lernt man dies nicht, man
braucht schon seine zehn Jahre dazu. Wundern wir uns also nicht, wenn unsere
Schwestern noch nicht so weit sind; sie sind aber alle aufrichtig gewillt, diese
Tugendhöhe zu erreichen. – Bestünde jedoch eine Schwester auf diesem „Mein und
Dein“, so müßte sie es sich schon außerhalb der Klosterpforte holen, denn
innerhalb des Klosters kommt so etwas nicht in Frage.
3. Die Loslösung vom „Mein
und Dein“ muß jedoch nicht nur im großen und ganzen, sondern bis ins einzelne
durchgeführt werden. Es ist recht einfach zu sagen: „Ich trete ins Kloster der
Heimsuchung ein.“ Und heißt es dann, man müsse sich selbst verleugnen und den
eigenen Willen aufgeben, so antwortet man recht schön: Ja, man wolle es gerne
tun. – Aber wenn es ernst wird, wenn der Verzicht im einzelnen von uns verlangt
wird, dann gehen die Schwierigkeiten an. Darum erwäge man wohl alles, was den
eigenen Stand betrifft, und alles, was damit zusammenhängt.
Franz von Sales - Geistliche Gespräche