Vision
Maria Valtortas: Die Auferstehung Jesu. Das »Ich will!« des göttlichen
Geistes zu seinem erkalteten Fleisch erfolgt lautlos. Es wird von der
Wesenheit zur unbeweglichen Materie gesprochen, aber das menschliche
Ohr hört kein Wort.Das Fleisch erhält den Befehl und gehorcht mit einem tiefen Atemzug . . ....
Im Garten herrscht tiefe Stille, und alles glänzt von Tau. Der
saphirblaue Himmel darüber wird immer heller, und das sternenfunkelnde
Schwarzblau, das die ganze Nacht über der Erde gewacht hat, verliert
sich. Das Morgengrauen schiebt die Dunkelheit vor sich her, von Osten
nach Westen, wie die Wellen bei der Flut beständig steigen und den
dunklen Strand bedecken, wie das blaue Wasser des Meeres das
Schwarzgrau des feuchten Sandes und der Klippen überflutet.
Das eine oder andere Sternlein möchte noch nicht erlöschen und blinkt
immer schwächer in dieser Woge aus grünlichweißem, grau überhauchtem,
milchigem Morgenlicht, ähnlich der Farbe der schläfrigen Zweige der
Ölbäume, die den nahen Hügel krönen. Doch dann versinken sie in dieser
Welle, wie Land vom Wasser überflutet wird.
Nun fehlt schon eines . . . und noch eines, und noch eines. Der Himmel
verliert seine Sternenherden, und nur dort, im äußerstenWesten, bleiben
noch drei, dann zwei, dann einer in Betrachtung des täglich neuen
Wunders eines Sonnenaufganges.
Und nun, da sich ein Rosastreifen auf der türkisfarbenen Seide des
orientalischen Himmels zeigt, säuselt ein Windhauch über die Wipfel und
Gräser und flüstert: »Erwacht. Der Tag ist auferstanden.«
Aber er weckt nur die Wipfel und die Gräser, die unter den Diamanten
des Taus schaudern und leise rauschen, begleitet von den Harfentönen
fallender Tropfen.
Die Vöglein rühren sich noch nicht, weder in den dichten Zweigen der
riesigen Zypresse, die wie ein Gebieter ihr Reich zu beherrschen
scheint, noch in der dichten, verschlungenen Lorbeerhecke, die den
Ostwind abhält.
Die gelangweilten, fröstelnden und verschlafenen Wachen stehen in den
verschiedensten Haltungen vor dem Grab, dessen steinerne Tür an den
Rändern mit einer dicken Schicht Kalk, ähnlich Strebepfeilern,
verstärkt worden ist. Auf ihrem matten Weiß leuchten große Rosetten aus
rotem Wachs und andere, die man direkt in den frischen Kalk gedrückt
hat – die Siegel des Tempels.
Die Wachen müssen in der Nacht ein Feuerchen angezündet haben, denn am
Boden liegen Asche und verkohlte Holzscheite, und sie müssen auch ein
Spiel gemacht und gegessen haben, denn da und dort liegen Speisereste
und kleine polierte Knochen, die man sicher zu irgendeinem Spiel
benützt – wie unser Domino oder die Glaskugeln der Kinder – und mit
denen sie auf einem einfachen, auf den Boden gezeichneten Brett
gespielt haben. Irgendwann hatten sie genug, haben alles liegengelassen
und sich eine mehr oder weniger bequeme Lage gesucht, um zu schlafen
oder zu wachen.
Die Röte im Osten breitet sich immer mehr am heiteren Himmel aus, an
dem aber noch kein Sonnenstrahl zu sehen ist. Da taucht plötzlich aus
unbekannten Tiefen ein strahlender Meteor auf, ein Feuerball von
unerträglicher Helligkeit mit einem funkelnden Schweif, der aber
vielleicht nur die Erinnerung an seinen Glanz auf unserer Netzhaut ist.
Er saust auf die Erde herab und strahlt ein so mächtiges, zauberhaftes
und zugleich in seiner Schönheit beängstigendes Licht aus, daß das
rosige Licht des Morgens in dieser weißen Glut verblaßt.
Die Wächter erheben erstaunt ihre Köpfe, auch weil die Helligkeit von
einem mächtigen, harmonischen, feierlichen Klang begleitet wird, der
die ganze Schöpfung erfüllt. Er kommt aus paradiesischen Tiefen und ist
das Halleluja, das Gloria der Engel, das dem Geist Christi folgt, der
in seinen verherrlichten Leib zurückkehrt.
Der Meteor prallt gegen den nutzlosen Verschluß des Grabes, bricht ihn
auf, wirft ihn zu Boden und schleudert mit seinem Dröhnen auch die
entsetzten Wächter, die man als Gefangenenwärter des Herrn des Weltalls
aufgestellt hat, zu Boden. Und die Erde bebt bei seiner Rückkehr wie
damals, als der Geist des Herrn sie verlassen hat. Er dringt in das
dunkle Grab, das ganz hell wird von seinem unbeschreiblichen Licht; und
während das Licht in der reglosen Luft schwebt, senkt sich der Geist in
den unbeweglichen Körper unter den Totenbinden.
All das geschieht nicht in einer Minute, sondern in Sekundenschnelle:
das Erscheinen, das Herabsteigen, das Eindringen und das Verschwinden
des Lichtes Gottes . . .
Das »Ich will!« des göttlichen Geistes zu seinem erkalteten Fleisch
erfolgt lautlos. Es wird von der Wesenheit zur unbeweglichen Materie
gesprochen, aber das menschliche Ohr hört kein Wort.
Das Fleisch erhält den Befehl und gehorcht mit einem tiefen Atemzug . . .
Nichts anderes für einige Minuten. Unter dem Schweißtuch und dem
Leichentuch ersteht das glorreiche Fleisch in ewiger Schönheit, erwacht
aus dem Todesschlaf, kehrt aus dem »Nichts« zurück, in dem es war, und
lebt, nachdem es tot gewesen ist. Gewiß erwacht das Herz, treibt mit
seinem ersten Schlag das noch übrige, eisige Blut durch die Adern und
erschafft in einem Augenblick das volle Maß in den leeren Blutgefäßen,
der reglosen Lunge, dem verdunkelten Gehirn und läßt Wärme, Gesundheit,
Kraft und Gedanken wiederkehren.
Wieder ein Augenblick, und dann eine plötzliche Bewegung unter dem
schweren Leichentuch. Eine so plötzliche Bewegung, daß dem Auge keine
Zeit bleibt, die verschiedenen Phasen zu verfolgen zwischen dem Moment,
in dem er gewiß seine gekreuzten Hände bewegt, und dem Moment, in dem
er dasteht – eindrucksvoll, strahlend in seinem Gewand aus unirdischem
Gewebe, in übernatürlicher Schönheit und Majestät, mit einer Würde, die
ihn verändert und erhöht, obwohl er doch er selbst bleibt.
Und nun betrachtet ihn das Auge voll Bewunderung: Er ist so ganz anders
als in der Erinnerung. Wieder schön, ohne Wunden und Blut, nur noch
strahlend im Licht, das in Strömen aus den fünf Wunden bricht und aus
allen Poren seiner Haut dringt.
Als er den ersten Schritt tut – und bei dieser Bewegung umgeben ihn die
aus Händen und Füßen dringenden Strahlen mit einer Aureole von Glanz:
vom Haupt, das gekrönt ist vom Glorienschein der unzähligen kleinen
Wunden der Dornenkrone, die nun nicht mehr bluten, sondern leuchten,
bis zum Saum seines Gewandes, als er die über der Brust gekreuzten Arme
öffnet und damit die Stelle auf der
Höhe des Herzens sichtbar wird, an der eine helle Sonne durch das
Gewand strahlt – da ist er wirklich das verkörperte Licht. Nicht das
arme Licht der Erde, nicht das arme Licht der Sterne, nicht das arme
Licht der Sonne, sondern das Licht Gottes. Der ganze Glanz des Himmels,
der sich in einem einzigen Wesen vereint und ihm sein unvorstellbares
Blau als Pupillen, sein feuriges Gold als Haar, seine engelgleiche
Weiße als Gewand und Hautfarbe verleiht. Und all das, was mit
menschlichenWorten nicht zu beschreiben ist – die überwältigende Glut
der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, neben deren feuriger Gewalt
jegliches Feuer des Paradieses verblaßt, die jegliches Feuer in sich
aufnimmt und es in jedem Augenblick der ewigen Zeit neu hervorbringt;
das Herz des Himmels, das sein Blut anzieht und verströmt, die
unzähligen Tropfen seines nicht körperlichen Blutes: die Seligen, die
Engel, alles das, was das Paradies ist: die Liebe Gottes, die Liebe zu
Gott, das alles ist das Licht, das den auferstandenen Christus bildet,
das Licht, das er ist.
Als er sich dem Ausgang nähert, sehe ich außer seinem Glanz zwei
wunderschöne strahlende Gestalten, die jedoch wie Sterne sind im
Vergleich zur Sonne. Sie haben sich links und rechts der Graböffnung
niedergeworfen, um ihren Gott anzubeten, der in seinen Glanz gehüllt
und mit beseligendem Lächeln herauskommt, die Grabhöhle verläßt und
seinen Fuß wieder auf die Erde setzt, die freudig erwacht und glänzt
und gleißt in ihrem Tau, in den Farben der Gräser und der
Rosensträucher, in den unzähligen Blüten der Apfelbäume, die sich durch
ein Wunder unter dem ersten Kuß der Sonne öffnen, und in der ewigen
Sonne, die unter ihnen dahinschreitet.
DieWachen sind immer noch an ihren Plätzen, betäubt . . . Die
verdorbenen Sinne des Menschen sehen Gott nicht, während die reinen
Kräfte des Universums, die Blumen, die Kräuter und die Vöglein
den Mächtigen, der vorübergeht im Glorienschein seines eigenen Lichtes und im Glanz des Sonnenlichtes, bewundern und verehren.
Sein Lächeln, sein Blick, der sich auf die Blüten und die Zweige richtet und sich zum heiteren Himmel erhebt, verschönt alles.
Weicher und von seidigerem Rosa erscheinen die Millionen Blütenblätter,
die gleich blühendem Schaum über dem Haupt des Siegers schweben, und
lebhafter blitzen die Diamanten der Tautropfen. Und blauer leuchtet der
Himmel, der seine glänzenden Augen widerspiegelt, und festlicher
strahlt die Sonne und bemalt in ihrer Freude ein Wölkchen, das
daherschwebt im leichten Wind, der gekommen ist, um seinen König
mit in den Gärten geraubten Düften zu küssen und mit seidenen
Blütenblättern zu liebkosen.
Jesus hebt die Hand und segnet. Und während die Vöglein lauter singen
und derWind stärker duftet, entschwindet er meinen Blicken und läßt
eine Freude in mir zurück, die auch die leiseste Erinnerung an
Traurigkeit und Leiden und alle Sorgen um die Zukunft auslöscht . . .
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