Alfons von Ligouri
(1)
Lebensordnung
eines Christen
Im Lichte dieser Empfehlung übergeben
wir dem Leser das vorliegende Werk des Heiligen. Sicherlich entspränge es einer
allzu engen und ängstlichen Haltung, wollte man sich verpflichtet fühlen, alle
Details der vorliegenden “Lebensordnung eines Christen” unbesehen auf sich
selbst anzuwenden. Alfons zeichnet ein hohes Idealbild des christlichen Lebens,
und der mündige Leser wird fähig sein, dort Abstriche zu machen, wo die
objektiven Lebensumstände eine wörtliche Umsetzung nicht erlauben. Ich denke
etwa an die Empfehlung der vielen täglichen Frömmigkeitsübungen, die
zusammengenommen ein Ausmaß an Zeit beanspruchen, das nicht jedem zur Verfügung
steht. Der unkluge Versuch einer unflexiblen Anwendung auf die eigenen
Verhältnisse könnte zur Entmutigung und schließlich zur gänzlichen Aufgabe des
religiösen Lebens führen, was den Intentionen des Heiligen gerade
entgegengesetzt wäre. Auf der anderen Seite darf man sicherlich ohne Gefahr, den
Leser zu beleidigen, annehmen, dass die meisten Gläubigen eher der umgekehrten
Versuchung ausgesetzt sind, nämlich das religiöse Leben zu vernachlässigen. Man
braucht sich nur die Stichfrage zu stellen, wem man mehr Zeit schenkt, dem
lieben Gott oder dem Fernseher, um schlagartig zu erkennen, wo man steht. In
dieser Beziehung kann uns der hl. Alfons mit seiner Schrift ein heiliger Ansporn
zur Großmut sein, auf dass wir Gott wirklich an die erste Stelle in unserem
Leben setzen und ihm das Ausmaß an Zeit schenken, das ihm im Rahmen unserer
Lebensverhältnisse gebührt. Das vorliegende Werk ist nichts anderes als ein
Reflex der Hochherzigkeit und des glühenden Seeleneifers des Heiligen selber,
der den Ehrennamen “Doctor zelantissimus” trägt.!“
Auszug:
Im Verlaufe des Tages soll man, sobald es geschehen
kann, durch eine halbe Stunde das innerliche oder betrachtende Gebet üben. Die
Betrachtung ist zwar nicht unbedingt notwendig, um sich im Stande der Gnade zu
erhalten, aber sie ist moralisch notwendig, das heißt: diejenigen, die sie nicht
üben, werden schwer im Stande der Gnade ausharren, und zwar aus einem doppelten
Grunde. Der erste Grund ist: weil man die ewigen Wahrheiten nicht mit den
leiblichen Augen sehen kann, sondern nur mit den Augen des Geistes, wenn man
sich nämlich daran erinnert, sie erwägt und so auf geistliche Weise sich vor
Augen stellt. Wer also nicht betrachtet, sieht diese Wahrheiten nicht, und weil
er sie nicht sieht, sieht er auch nicht, wie wichtig das Geschäft seines ewigen
Heiles ist, und er sieht weder die Hindernisse und Gefahren, die ihn umgeben,
noch die Mittel, die er dagegen anzuwenden lernt: und so wird es ihm sehr schwer
sein, sein Heil zu wirken. Der zweite Grund ist: weil eine Seele, welche nicht
betrachtet, auch das Bittgebet nicht übt, das Bittgebet aber zu unserem Heile
unbedingt notwendig ist, nicht bloß, weil es uns Gott geboten hat, sondern auch,
weil es an und für sich ein unerlässliches Mittel ist, um die göttlichen Gebote
zu erfüllen. Denn nach dem gewöhnlichen Wege der göttlichen Vorsehung gewährt
der Herr seinen Beistand den Erwachsenen nur dann, wenn Er darum gebeten wird.
Wer aber nicht betrachtet, erkennt nur wenig oder gar nicht seine geistlichen
Bedürfnisse und die Notwendigkeit des Gebetes, um den Versuchungen zu
widerstehen und sein Heil zu wirken: er betet deshalb wenig oder gar nicht, und
wenn er nicht betet, wie er soll, wird er ganz gewiss zu Grunde gehen. Der
gottselige Bischof Palafor sagt: “Wie wird uns der Herr die Beharrlichkeit
verleihen, wenn wir Ihn nicht darum bitten? Wie werden wir Ihn aber darum
bitten, wenn wir nicht betrachten?” Die heilige Theresia dagegen sagt, dass
derjenige, der das Gebet übt, nicht lange in der Sünde bleiben werde; denn er
werde entweder das Gebet oder die Sünde lassen, weil Gebet und Sünde nicht
nebeneinander bestehen können.
Alfons von Ligouri - Lebensordnung eines
Christen
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