Auszug:
10 VOLLKOMMENHEIT
1. Die Naturgesetze schreiben vor: wer Vollkommenheit erreichen will, der muss
allmählich, stufenweise, wachsen. Auf diese Weise allein können wir uns auf die
Bestimmung vorbereiten, für die wir geschaffen worden sind. Plötzlicher oder
übereilter Fortschritt macht uns nur schwach und unvollkommen. Der Hafer, der in
Lappland in wenigen Wochen wächst, hat nicht denselben Nährwert wie der Weizen,
der sechs Monate zum Reifen braucht. Der Bambus wächst täglich drei Fuß und
schießt 120 Fuß hoch empor, aber er bleibt innen leer und hohl. Zur
Vollkommenheit können wir deshalb nur langsam und allmählich fortschreiten.
2. Es ist wahr,
Vollkommenheit können wir nur in einer vollkommenen Umgebung erreichen. Bevor
wir aber in eine vollkommene Umgebung eintreten, müssen wir eine unvollkommene
durchschreiten, wo wir uns abmühen und kämpfen müssen. Dieser Kampf stärkt uns
und bereitet uns auf die vollkommene Umgebung vor. Das ist ganz ähnlich wie bei
der Seidenraupe: sie muss sich im Kokon abmühen und entschlüpft ihm deshalb als
schöner Schmetterling. Wenn wir den vollkommenen Zustand erreichen, werden wir
sehen, wie diese Dinge, die zuerst als Hindernis erschienen, uns in Wirklichkeit
- wenn auch auf geheimnisvolle Weise - geholfen haben, die Vollkommenheit zu
erreichen.
3. Der Mensch trägt in sich
die Keime zahlloser Fähigkeiten; aber er kann sie in dieser Welt nicht
entwickeln, weil hier die Hilfen fehlen, die ihr Wachstum und ihre Entwicklung
zur Vollkommenheit fördern. In der künftigen Welt werden sie die Umgebung
finden, die sie brauchen, um Vollkommenheit zu erlangen. Doch zu wachsen
beginnen müssen sie schon hier. Es ist jedoch noch zu früh, als dass wir schon
im Einzelnen sagen könnten, was wir sein werden, wenn wir die Vollkommenheit
erreichen. Aber wir werden vollkommen sein, gleich wie unser Vater im Himmel
vollkommen ist (Matth. 5, 48).
4. In dieser Welt gibt es
keinen wirklichen Frieden. Der Friede in dieser Welt ist wegen der Sünde
vernichtet. Wirklicher und dauerhafter Friede ist nur im „Friedefürsten" zu
finden. Wasser fließt von den Höhen hernieder oder spritzt aus den Tiefen empor,
denn es sucht Gleichgewicht und Ruhe. Ebenso muss der Mensch von den Höhen
seines Stolzes herabsteigen und sich aus den Tiefen seiner Sünde erheben, damit
er sein Gleichgewicht findet und in Frieden und Stille verweilen kann. 5.
Obgleich die Jünger noch nicht die Vollkommenheit erreicht hatten, erfreuten sie
sich auf dem Berg der Verklärung doch so sehr der Nähe unseres Herrn sowie Elias
und Moses, dass sie drei Hütten errichten und dort wohnen bleiben wollten (Matth.
17, 3-4). Wieviel mehr werden wir, wenn wir vollkommen sind, uns der
Gemeinschaft unseres Herrn und Seiner Heiligen und Engel im Himmel auf ewig
erfreuen!
Sadhu Sudar Singh - Wirklichkeit und
Religion